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German Pages [191] Year 2007
Nicole Burzan
Soziale Ungleichheit Eine Einführung in die zentralen Theorien 3., überarbeitete Auflage
HAGENER STUDIENTEXTE ZUR SOZIOLOGIE
Hagener Studientexte zur Soziologie Herausgeber: Heinz Abels, Wemer Fuchs-Heinritz Wieland Jager, Uwe Schimank
Die Reihe,,HagenerStudientexte zur Soziologie" will eine grOl3ereOffentlichkeit fc~rThemen, Theorien und Perspektiven der Soziologie interessieren. Die Reihe ist dem Anspruch und der langen Erfahrung der Soziologie an der FernUniversitat Hagen verpflichtet. DerAnspruch ist, sowohl in soziologische Fragestellungen einzufOhren als auch differenzierte Diskussiohen zusammenzufassen. In jedem Fall soil dabei die Breite des Spektrums der soziologischen Diskussion in Deutschland und darOber hinaus reprasentiert wetden. Die meisten Studientexte sind @berviele Jahre in der Lehre erprobt. Alle Studientexte sind so konzipiert, dass sie mit einer verstandlichen Sprache und mit einer unaufdringlichen, abet lenkenden Didaktik zum eigenen Studium anregen und for eine wissenschaftliche Weiterbildung auch aul3erhalb einer Hochschule motivieren.
Nicole Burzan
oziale U ngleich heit Eine EinfOhrung
in die zentralen Theorien 3., 0berarbeitete Auflage
VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet [Jber abrufbar.
1. Auflage 2004 2. Auflage 2005 3. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehdten 9 VS Verlag flit Sozialwissenschaften I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VSVerlag for Sozialwissenschaften Hstein Untemehmen yon Springer Science+BusinessMedia. www.vs-verlag.de /gr~ ~; ~/"~ / ~ - i/~ ~ ' ~ g~/' \~#~->L~:~.~' ~L 7~"
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Inhalt
1
E i n l e i t u n g ................................................................................................... 7
Teil I: A l t e r e Ans~itze z u r sozialen Ungleichheit
2
D i e E n t s t e h u n g der Klassen- und S c h i c h t m o d e l l e ................................ 15 2.1 Karl Marx: Das ,,klassische" Klassenmodell ...................................... 15 2.2 M a x Weber: Klassen und St~inde ........................................................ 20 2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers .................................................. 26 2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie .......................................... 31
3
K l a s s e n u n d Schichten in der Diskussion .............................................. 41 3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft ................. 41 3.2 R a l f D a h r e n d o r f : Ausbau der Konflikt-Perspektive ............................ 43 3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status ...................... 47 3.4 Neomarxistische Ans~itze in den siebziger Jahren .............................. 58 3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- und Schichtmodellen .................................................................................. 64 3.6 Kritik an den ,,alten" Klassen- und Schichtmodellen .......................... 66
Teil II: N e u e r e Ans~itze z u r sozialen Ungleichheit 4
M o d i f i z i e r t e Klassen- u n d S c h i c h t m o d e l l e ............................................ 73 4.1 Neuere Schichtans~itze ........................................................................ 73 4.2 Neuere Klassenmodelle ....................................................................... 78
L e b e n s s t i l e u n d M i l i e u s ..........................................................................
89
5.1 L e b e n s s t i l e ..........................................................................................
89
5.2 M i l i e u s ..............................................................................................
103
5.3 K r i t i s c h e F r a g e n , Z u s a m m e n f a s s u n g ................................................
120
K l a s s e u u n d L e b e n s s t i l e in e i n e m M o d e l h D e r s o z i a l e R a u m b e i B o u r d i e u ................................................................................................
127
6.1 S o z i a l e P o s i t i o n e n u n d K l a s s e n ........................................................
127
6.2 D e r R a u m d e r L e b e n s s t i l e .................................................................
131
6.3 E i n o r d n u n g u n d Kritik ......................................................................
136
S o z i a l e L a g e n .........................................................................................
141
7.1 S o z i a l e L a g e n als U n g l e i c h h e i t s k o n z e p t ...........................................
141
7.2 P r e k ~ r e L a g e n u n d E x k l u s i o n ...........................................................
149
8
Individualisierung
9
Z u m W a n d e l s o z i a l e r U n g l e i e h h e i t e n ..................................................
171
10
F a z i t ........................................................................................................
177
Literaturverzeichnis
- Entstrukturierung
s o z i a l e r U n g l e i e h h e i t ? ....... 157
.......................................................................................
Abbildungsverzeichnis
...................................................................................
181 200
1 Einleitung
Was ist das Thema der ,,Sozialen Ungleichheit"? Ein erster Anhaltspunkt besteht darin, dass es keinesfalls um beliebige Andersartigkeiten geht, sondern um die ungleiehe Verteilung von Lebenschancen. So ist es nicht die Schuhgr~SBe oder die Haarfarbe, die soziale Ungleichheit ausmacht (obwohl sich selbst in k6rperlichen Merkmalen Ungleichheiten widerspiegeln k6nnen), sondern z.B. ein h6heres oder niedrigeres Einkommen oder ungleich verteilte Chancen je nach Geschlecht. Gerade in modernen, differenzierten Gesellschaften sind die ,,Unterschiedlichkeiten" recht groB. Welche Verschiedenheiten auch soziale Ungleichheit bedeuten, ist bereits eine wichtige Frage, die sich theoretische Ans~itze zur sozialen Ungleichheit stellen. Die zentralen Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit k6nnen n~mlich im Zeitverlauf und in verschiedenen Gesellschaften durchaus variieren und werden selbst in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt je nach theoretischem Hintergrund unterschiedlich gesehen. Sind z.B. die Nationalit~it, der Stadt-Land-Unterschied oder die Wohnverh~ltnisse eigenstfindige Kriterien sozialer Ungleichheit, oder sind sie eher abgeleitet yon solehen Merkmalen, mit denen sie gegebenenfalls einhergehen, z.B. mit der Bildung oder dem Beru~ Die Definition im Lexikon zur Soziologie, soziale Ungleichheit sei jede Art verschiedener M6glichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft bzw. der Verftigung tiber gesellschaftlich relevante Ressourcen (Krause 1994: 697), erfasst diese Mehrdimensionalit~it und Relativit~it von Ungleichheit, denn was ,,gesellschaftlich relevant" ist, muss durchaus nicht konstant bleiben, ebenso wenig die Formen der gesellschaftlichen Teilhabe. Soziale Ungleichheit ist somit eine gesellschaftliche Konstruktion, die an ihre historische Zeit gebunden ist und nie ,,objektiv" sein kann. Modelle sozialer Ungleichheit geben ihre jeweilige Sichtweise davon wieder, welches wichtige Ursachen und Merkmale sozialer Ungleichheit sind (materielle wie Besitz und immaterielle wie z.B. Macht). Sie beantworten aber auch die Frage, ob sich nach diesen Kriterien eine bestimmte Struktur abgegrenzter Gruppierungen ergibt, und falls ja, welche. Gibt es zum Beispiel zwei sich feindlich gegentiberstehende Klassen, sieben hierarchisch angeordnete Schichten oder ein komplexes Gebilde aus fiber- und nebeneinander stehenden Milieus, die sich fiberschneiden k6nnen? Solche Modelle abstrahieren nattirlich immer von den Differenzierungen der
8
1 Einleitung
Realit~t, dies gilt t'fir zwei Gruppen ebenso wie far zehn. Dennoch beanspruchen sie, wichtige Prinzipien z.B. der 121ber- und Unterordnung oder der gesellschaftlichen Entwicklung (hier sind die Schwerpunkte je nach Ansatz verschieden) durch ihre spezifische Einteilung abbilden zu k6nnen. Die soziologische Perspektive, soziale Ungleichheit als ein ver~inderbares Konstrukt anzusehen und in der Konsequenz nach Ursachen far bestimmte Ungleichheitsstrukturen und ihren Wandel zu forschen, ist nicht selbstverst~indlich. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass man im antiken Griechenland Ungleichheit durchaus als ,,nattMich" ansah. Beispielsweise legt Aristoteles (in seiner ,,Politik") dar, dass Herren und Sklaven oder M~inner und Frauen von Natur aus besser/schlechter bzw. zum Herrschen/zum Dienen bestimmt seien - und das sei nicht nut notwendig, sondern auch nfitzlich. In den Uber- und Unterordnungsverhfiltnissen verwirklicht sich danach die Natur des Menschen, was soziale Ungleichheit legitimiert. Eine Variante dieser Legitimierung von Herrschaftsverh~iltnissen ist eine gottgegebene Ungleichheit. In einer strengen Form tritt die religi6se Begfilndung in der Kastengesellschaft auf, die den hierarchischen Aufbau der Gesellschaft als nicht ver~inderlich ansieht und dies fiber strenge Endogamie und Kommunikationsschranken kontrolliert. Aber auch in der feudalistischen St~indegesellschaft hatten Menschen einen bestimmten Rang durch Geburt und Herkunft inne (z.B. Adel, Klerus, BUrger oder Bauer). Dieser wurde zudem rechtlich gesfiitzt, z.B. durch die Rechte und Pflichten, die mit dem Lehnswesen verbunden waren. Die Kasten und St~inde weisen ein Merkmal auf, das sp~ter in milderer Form auch f'tir andere Gruppierungen wie Klasse oder Schicht zumindest unterstellt wird: Die Zugeh6rigkeit zu einer Statusgruppe bestimmt eindeutig die gesamte Lebensweise der Individuen. In modernen Gesellschafien geht man nicht mehr yon ,,nat~irlichen" oder ,,gottgegebenen" Ursachen sozialer Ungleichheit aus. ,,Angeborene" Merkmale wie das Geschlecht oder die Rasse spielen zwar eine Rolle flit die Lebenschancen, aber sie sind keine Legitimation mehr f'tir soziale Ungleichheiten. Der Wandel vollzog sich - das sei bier nur in Stichworten angedeutet durch gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen seit der Aufkl~irung, sp~iter mit der Aufl6sung der St~indegesellschafl und der Industrialisierung. Das Gleichheitspostulat, das in der zweiten Hglfte des 18. Jahrhunderts Eingang in die amerikanische Unabh~ingigkeitserklgmng und in Schlagworte der franzOsischen Revolution fand, markiert eine Vergnderung der Sichtweise, die man jetzt erst als soziologisch bezeichnen kann: Wenn Ungleichheit nicht natfirlich, sondem durch Menschen formbar und ver~,nderbar ist, stellt sich erst die Frage nach ihren Ursachen und Mechanismen.
1 Einleitung
9
J. J. Rousseau liefert 1754 eine frtihe und f'tir seine Zeit durchaus revolution~ire Antwort auf die Frage: ,,Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen?" (so ein Aufsatztitel) aus dieser Sichtweise. Sie lautet (nicht ohne Dramatik): ,,Der erste, welcher ein Stiick Landes umz~iunte, sich in den Sinn kommen lies zu sagen: dieses ist mein, und einF~,ltige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifler der btirgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel Mord, Elend und Gr~iuel h~itte einer nicht verhtiten k6nnen, der die Pf~ihle ausgerissen, den Graben verschtittet und den Mitmenschen zugerufen hfitte: ,Glaubt diesem Betrtiger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Frtichte euch allen, der Boden aber niemandem geh6rt'." (Rousseau 1981 (zuerst 1754): 93). 1 Mit anderen Worten: Der Ursprung der Ungleichheit lag ftir Rousseau prim~ir im Eigentum - ein Gedanke, den auch einige sp~itere Ansgtze, insbesondere Klassenmodelle, aufgreifen. Gleichheitspostulate bedeuten selbstverstgndlich nicht realisierte Gleichheit, selbst auf einer rechtlichen Ebene nicht (z.B. gab es bis 1918 in PreuBen das Drei-Klassen-Wahlrecht). Und zu allen Zeiten, in denen man tiberhaupt tiber die Legitimit~it sozialer Ungleichheit diskutierte, gab es dazu unterschiedliche Positionen. So sah beispielsweise der Liberalismus ab dem 18. Jahrhundert Eigentum keineswegs als Sfindenfall, sondern eher als Grundrecht an und lehnte soziale Ungleichheit nach dem Leistungsprinzip unter der Voraussetzung von Chancengleichheit nicht ab. Diese frtihe Kontroverse weist auf eine weitere Frage hin, die sich auch sp~itere Forscher stellten: Ist soziale Ungleichheit ungerecht und muss sie m6glichst tiberwunden werden, oder ist sie mindestens teilweise, unter bestimmten Bedingungen gerecht und sogar notwendig ftir das gesellschaftliche Zusammenleben? (vgl. zum Zusammenhang von Ungleichheit und Gerechtigkeit auch Mtiller/Wegener 1995). Diese Frage haben Theoretiker unterschiedlich und auch abh~ngig vom jeweiligen historischen Kontext beantwortet. So entwarf etwa Marx seine Klassentheorie, die die Ausbeumngsverh~iltnisse hervorhebt, im 19. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung soziale Ungleichheiten deutlich sichtbar hervortraten und insbesondere die soziale Lage der Arbeiter im Allgemeinen schlecht war. Der folgende lJberblick fiber Theorien sozialer Ungleichheit von Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Analysen der Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts soil die Ans~itze daraufhin vergleichen, welche Fragen und Pro-
Die Zitate wurden der geltenden Rechtschreibung angepasst.
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1 Einleitung
bleme sie in den Vordergrund ste|lten und wie sie sie beantworteten. Solche Fragen sind etwa: 9 9 9
9
9 9 9
Welche Ursachen hat soziale Ungleichheit? Durch welche Merkmale tritt sie in Erscheinung, nach welchen zentralen Kriterien ordnen Menschen andere einem bestimmten Rang zu? Gibt es eine bestimmte (z.B. hierarchische oder andere) Struktur sozialer Ungleichheit, die sich flir eine bestimmte Gesellschaft zu einem Zeitpunkt anhand spezifischer Begriffe (wie Stand, Klasse oder Schicht)' zu einem Model| verdichten lfisst? Welche Auswirkungen hat die Zugeh6rigkeit zu einer Statusgruppe im weiteren Sinne auf die Lebensweise, auf Verhalten und Einstellungen, das Bewusstsein und gegebenenfalls auf die Bildung kollektiver Akteure? Gibt es hier tiberhaupt kausale Zusammenhfinge? Welche Folgen hat soziale Ungleichheit flir die Integration einer Gesellschaft? Wie sehen Beziehungen zwischen verschiedenen Statusgruppen aus? Was l~sst sich fiber Verfinderungsprozesse aussagen, sowohl im Sinne individueller Mobilit~it als auch im Sinne des Wandels von Strukturen?
Bei der Erlfiuterung der Ans~itze werden diese Fragen nicht systematisch abgehandelt, sondern sie stehen als Leitfragen im Hintergrund. Sie stellen damit eine Verbindung zwischen Nteren und neueren Ans~itzen her. Denn die glteren Ans~itze sind nicht nur flir an der Geschichte der Theorieentwicklung Interessierte Bestandteil der Darstellung. Dutch die Diskussion, welche Fragen und Antworten ffir frfihere Modelle wichtig waren, l~sst sich im Vergleich zeigen, w o u n d wie spfitere Modelle bestimmte Elemente wieder aufgenommen haben. Weil es bis heute - dies kann man durchaus vorwegnehmen - nicht den ,,K6nigsweg" der Ungleichheitstheorie gibt, der alle genannten Fragen umfassend beantwortet, lassen sich im Vergleich die jeweiligen Schwerpunkte sowie die St~rken und Schwgchen der Ans~tze besser erkennen. Aul3erdem soll Pauschalurteilen entgegengewirkt werden, die sich aus einer verkfirzten Sichtweise ~lterer Theorien aus der flfichtigen Retrospektive ergeben k6nnten (als Beispiele: Marx hatte Unrecht, daher ist seine Theorie nur noch von historischem Interesse; oder: wie konnte Schelsky nur annehmen, dass al|e Gesellschaftsmitglieder sich auf einem mittleren (Rang-)Niveau einpendeln?). Die folgenden Kapitel k6nnen nicht umfassend al|e Theorien und Modelle behandeln, die es zum Thema der sozialen Ungleichheit gegeben hat und gibt. Eine zentrale Einschr~inkung besteht beispielsweise darin, dass der Schwerpunkt auf der deutschen Diskussion liegt, das heigt auf Ans~itzen deutscher Autorinnen
1 Einleitung
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und Autoren und solchen, die in der deutschen Rezeption vergleichsweise bedeutsam waren oder sind (als Oberblick fiber wichtige Werke zur internationalen Ungleichheitsforschung s. Mfiller/Schmid 2003). Auch mit dieser Einschr~inkung besteht jedoch kein Vollst~indigkeitsanspruch. Die Arbeit dient als Einf'tihrung, v o n d e r aus man im n~ichsten Schritt sowohl in die Tiefe als auch in die Breite weiter lesen kann. Welche Ans~itze wurden nun ausgew~ihlt? Grob wird unterschieden zwischen ,,~ilteren" und ,,neueren" Ans~itzen, wobei der ,,Schnitt" Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gesetzt wurde. Die ,,~ilteren" Ansgtze zeichnen sich (in den meisten F~illen) dadurch aus, dass sie entweder Klassen- oder Schichtmodelle (zum Teil auch Zwischenpositionen) vertreten und dabei nicht selten die Argumente des jeweils ,,anderen" Lagers heftig ablehnen (Kap. 2, 3). Erst mit den ,,neuen" Ans~itzen stellten Ungleichheitsforscher sowohl Klassen als auch Schichten radikaler in Frage (N/iheres zu diesem Prozess in Kap. 3.6). Die theoretische Landschaft differenzierte sich (ebenso wie die soziale Ungleichbelt?): 9 9 9
Zum einen gibt es weiterhin KIassen- und Schichtmodelle in einer modifizierten Form (Kap. 4). Zweitens gibt es Modelle, die andere Begriffe w~ihlen, um die Sozialstruktur zu kennzeichnen, z.B. Lebensstile, Milieus oder die soziale Lage (Kap. 5-7). Schliel31ich gibt es Ans~itze, die ganz davon absehen, ein bestimmtes Strukturmodell sozialer Ungleichheit zu entwerfen, was andere Autoren teilweise als radikale ,,Entstrukturierung" interpretieren (Kap. 8).
Im Oberblick handelt es sich um folgende Ansgtze, die entweder eng mit einem bestimmten Theoretiker verkntipft sind oder Dr die beispielhaft ein Vertreter genannt wird. Der Oberblick soll eine grobe Einordnung der Ans~itze erm6glichen, ohne sie in ihren Nuancen angemessen wiederzugeben. Die Darstellung folgt ungef~ihr einer zeitlichen Achse nach der Entstehungszeit der Ans~itze.
12 Abbildung 1:
1 Einleitung I]berblick tiber Ans~tze zur sozialen Ungleichheit
Bis Ende tier siebziger Jahre: Klassen
Schichten
Andere Ansdtze
Marx Weber Geiger Funktionalistische Schichtungstheorie (z.B. Parsons) Prestigemodelle (z.B. Warner, Scheuch)
Nivellierte Mittelstandsgesellschaft (Schelsky)
Dahrendorf Neomarxismus
Ab etwa Anfang der achtziger Jahre: Klassen Schichten Lebensstile und Milieus
Soziale Lagen
Individualisierung
z.B. Wright, Gotdthorpe, Bourdieu
z.B. Hradil, Schwenk
z.B. Beck
z.B. GeiBler
z.B. Bourdieu, Schulze
Die folgenden Kapitel sollen nun die Charakteristika der einzelnen Ans~itze aufzeigen und mit Blick auf die genannten Leitfragen ihre St~,rken und ausgew~ihlte Kritikpunkte herausarbeiten.
Teil I: Altere Ans~itze zur sozialen Ungleichheit
2
Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
2.1
Karl Marx: Das ,,klassische" Klassenmodell
Karl Marx (1818-1883) entwarf seine Klassentheorie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar ist er nicht der ,,Erfinder" des Klassenbegriffs oder seiner Verwendung im 6konomischen Bereich. 2 Wohl aber ist sein Konzept - und insgesamt sein Gedanke, Gesellschaft als Klassengesellschaft zu begreifen - grundlegend und bis heute einflussreich geblieben. M a r x begreift die gesamte historische Entwicklung als Geschichte von Klassenk~mpfen: ,,Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaff ist die Geschichte yon Klassenkgmpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftb~frger und Gesell, kurz, Unterdriicker und Unterd~ckte standen in stetem Gegensatz zueinander, fiihrten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutiongren Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kNnpfenden Klassen" (Marx/Engels 1974 (zuerst 1848): 23f.). Die verschiedenen Stufen dieser Klassenk~impfe zeichnen sich durch j e spezifische Produktivkrgfte und Produktionsverh[iltnisse aus. Besitzer von Produktionsmitteln herrschen dabei fiber Nichtbesitzende. 3 Das zeigt erstens, dass nach dieser Vorstellung die Arbeit bzw. der Bereich der Produktion die Grundlage des menschlichen Daseins und Zusammenlebens darstellt und zweitens, dass Marx eindeutig alas Privateigentum (an Produktionsmitteln) als Ursache sozialer Ungleichheit ansieht (ein Gedanke, der ~ihnlich bereits bei Rousseau zu finden war). 2 ZB. hatten bereits die Physiokraten (zB. Quesnay, 1694-1774) im Rahmen volkswirtschaftlicher 13berlegungen Klasseneinteilungen vorgenommen, und der franz0sische Sozialphilosoph SaintSimon (1760-1825) unterschied zwischen einer produktiven und einer mal3iggehendenKlasse. 3 Zur Begriffsklftrung: Produktivkr~ifie heigen die materiellen und personellen Faktoren, die die Produktion gew~thrleisten.Dazu geh6ren z.B. die menschliche Arbeitskraft oder die Kenntnisse und Ffihigkeiten, die unter anderem je nach dem Stand des technisch-naturwissenschaftlichenWissens variieren. ProduktionsverhMtnissesind Verh~lmisse,die Menschen im Produktionsprozess eingehen - j e nach dem historischen Stand der Produktivkrafte -, vor allem Rechts-, Eigentums- und damit Herrschaftsverhftltnisse. Produktionsmittel sind z.B. Grundstacke und Energiequellen, Maschinen, Werkzeuge und Werkstoffe.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Eine Klasse ist entsprechend bestimmt durch ihr VerhNtnis zu den Produktionsmitteln. A u f dieser Basis lautet Marx' Diagnose der bfirgerlichen oder kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert: ,,Die ... moderne btirgerliche Gesellschaft hat die Klassengegens~itze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Ktassen, neue Bedingungen der Unterdriickung, neue Gestalmngen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt .... Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei grol3e feindliche Lager, in zwei groge, einander direkt gegentiberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat." (a.a.O.: 24). Die Bourgeoisie zeichnet sich durch den Besitz von Produktionsmitteln aus. Die nicht besitzenden Arbeiter erarbeiten einen Mehrwert, fiber den ausschliel31ich die Produktionsmittelbesitzer verNgen k6nnen. So h~iufen sie, etwa durch die Ausbeutung der Arbeiter, Kapital an und gewinnen zunehmend Mittel zur Erlangung 6konomischer und damit gesellschaftlicher Macht. Die Bourgeoisie stellt also die herrschende Klasse dar. Das Proletariat, das keine Produktionsmittel besitzt, ist die Klasse der Arbeiter, die zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen mfissen: ,,Die Arbeiter, die sich sttickweis verkaufen mtissen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel" (a.a.O.: 31). Sie erhalten nur einen geringen Lohn und sind nicht nur materiell von Verelendung bedroht, sondern werden auch sozial und politisch unterdrfickt. Dadurch, dass Selbstbestimmung nicht m(Sglich ist, werden sie zunehmend zu entfremdeten Individuen. Zwischenklassen 16sen sich zugunsten der dichotomen Gegenfiberstellung dieser zwei Klassen zunehmend auf, weil z.B. kleine Industrielle oder Kaufleute nicht gentigend Kapital zur Verftlgung haben, um dem Konkurrenzkampf standzuhalten und schliel~lich zum dadurch wachsenden Proletariat stoBen (zur Beschreibung sozialer Ungleichheitsverh~iltnisse im 19. Jahrhundert aus historischer Perspektive vgl. z.B. Kaelble 1983, Rothenbacher 1989). Es sei noch einmal betont, dass die Herrschaft der ,,herrschenden" Klasse zwar auf 6konomischen Ursachen basiert, sich aber nicht allein auf den 6konomischen Bereich erstreckt, sondern auch auf Bereiche wie Politik, Kultur, Recht und Religion, den ,,Llberbau". Nach Marx pr~igt ,,das Sein das Bewusstsein", die 6konomische Lage wirkt sich urs~ichlich auf die Lebensverh~iltnisse der Einzelnen und die gesellschaftlichen VerMltnisse aus. Unter anderem bedingt wirtschaftliche Macht politische Macht. Deshalb reicht es auch aus, Klassen nach dem Kriterium des Besitzes oder Nichtbesitzes von Produktionsmitteln einzuteilen. Nochmals in den Worten von Marx heil3t es zur Klassenlage: ,,Insofem Millionen von Familien unter 6konomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der anderen Klas-
2.1 Karl Marx: Das ,,klassische" Klassenmodell
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sen trennen und ihnen feindlich gegentiberstellen, bilden sie eine Klasse." (Marx 1973 (zuerst 1852): 198). Und weiter: ,,Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer 121berbauverschiedener und eigentfimlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen." (a.a.O.: 139). Solange sich die Mitglieder einer Klasse allein objektiv in der gleichen Klassenlage befinden (das heii3t Produktionsmittel besitzen oder nicht), bilden sie in der Terminologie von Marx eine Klasse an sich. Wenn mit der Klassenlage ein gemeinsames Klassenbewusstsein und daraus folgend solidarische Handlungsweisen verbunden sind, wird die Klasse zu einer auch subjektiv bestehenden Klasse far sich. Der objektive Interessengegensatz, der mit den gegens~itzlichen Klassenlagen verbunden ist (die Bourgeoisie will die bestehenden VerhNtnisse bewahren, das Proletariat will sie tiberwinden), f'dhrt im Laufe der Entwicklung zu einem versch~irften Klassenkonflikt, weil die schrumpfende Bourgeoisie immer reicher wird und das wachsende Proletariat immer mehr verelendet. Der Klassenkonflikt ist also keine kurzfristige l]bergangserscheinung im Entwicklungsprozess der Industriegesellschaft. Die Klassengegensfitze laufen dann - als immanente Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise - auf die Revolution des Proletariats hinaus, das zu diesem Zeitpunkt eine Klasse f'tir sich geworden ist. In diesem Szenario wird das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft, eine gerechte soziale Ordnung, die klassenlose Gesellschafi, entsteht. Der Klassenkonflikt fungiert damit als Motor des gesellschaftlichen Wandels insgesamt. Die Prinzipien des Klassenbegriffs nach der Klassentheorie von Marx, die f't~r sptitere Klassenmodelle einflussreich waren, sollen nun noch einmal zusammengefasst werden: 9
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Sein Klassenbegriff hat eine 6konomische Basis. Der Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln ist entscheidend fiir die Klassenzugeh6rigkeit und damit far die soziale Lage in einem umfassenden Sinne sowie f'tir MachtverhNtnisse in der Gesellschaft. Soziale Ungleichheit l~isst sich so mittels des Klassenbegriffs erkltiren. Klassen stehen sich antagonistisch gegentiber: Aufgrund gegens~itzlicher Interessen besteht ein Klassenkonflikt, wobei sich das Hauptaugenmerk auf zwei relevante Klassen richter, die sich im Klassenkampf dichotom gegentiberstehen. Allgemein kommt der Betrachtung der Beziehungen zwischen den Klassen in der Klassentheorie damit groi3e Bedeutung zu.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle Unter bestimmten Bedingungen zeichnen sich die Mitglieder einer Klasse auch durch ein gemeinsames (Klassen-) Bewusstsein aus, das solidarisches Handeln erm6glicht. Klassen sind damit keinesfalls nur sozialstatistische Kategorien, sondern ,,Akteure im gesellschaftlichen Krgftespiel" (Kreckel 1990: 55). Die Analyse der Dynamik des Klassenkonflikts kann sozialen Wandel erkl~iren.
Marx' Klassenmodell ist in allen erw~ihnten Punkten Basis ftir Auseinandersetzungen und Kritik geworden. Zungchst ist eine Besch~iftigung mit seinem Klassenbegriff schon aus dem Grunde nicht einfach, weil Marx keine eindeutige formale Definition des Begriffs liefert (z.B. bricht ein Kapitel Uber ,,die Klassen" bereits nach wenigen Zeilen ab; Marx 1974 (zuerst 1894): 892f.) und weil seine Klassentheorie laut Dahrendorf ,,das problematische Bindeglied zwischen soziologischer Analyse und philosophischer Spekulation [bildet]" (Dahrendorf 1957: 6). Inhaltlich stellen Kritiker in Frage, ob 6konomische Bestimmungsgrande allein die Phfinomene der Lebenslage sowie der Machtverh~iltnisse in der Gesellschaft und in gesellschaftlichen Teilbereichen erkl~iren. Sie bezweifeln weiterhin, dass die Berticksichtigung von zwei Hauptklassen ausreiche, um eine sinnvolle Sozialstrukturanalyse durchzufiihren. Ein Kritikpunkt lautet ferner, dass Marx zwar die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer Struktur erkl~ire, dass sich aber die weitere Entwicklung nicht mehr mit dem Marxschen Modell vereinbaren lasse: Unter anderem begrtinden die Kritiker dies mit der Existenz ,,neuer" Mittelklassen, die sich z.B. mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und damit der Gruppe der Angestellten herausgebildet haben. Der Hinweis auf soziale Mobilit~it und auf die allgemeine Wohlstandszunahme zeigt, dass die Verelendung breiter Massen nicht stattgefunden hat. Geiger formuliert beispielsweise: ,,Oft~nbar ist im Gegenteil die Lage und Stellung des Arbeiters innerhatb der kapitalistischen Gesellschaft erheblich gfinstiger geworden. Die Verelendungstheorie wurde daher schon vor dem Ersten Weltkrieg von den sozialdemokratischen Revisionisten (E. Bernstein) preisgegeben ... Marx [hat] die Verelendungstheorie rein deduktiv dem Kapitalismus angedichtet. Sie liegt nicht in der Wirklichkeit des Kapitalismus, sondern in Marx' Idee des Kapitalismus" (Geiger 1975 (zuerst 1949): 58f., Hervorhebung i. O.). Ein anderes Argument lautet: Nicht nur durch die ausgebliebene Verelendung, sondem auch dadurch, dass Klassenkonflikte institutionalisiert wurden, sind sie insgesamt stark abgeflaut (z.B. regeln heute meist Tarifvertr~ige das Lohnniveau). Die Prognosen - die der proletarischen Revolution und der daraus folg-
2.1 Karl Marx: Das ,,klassische" Klassenmodell
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enden klassenlosen Gesellschaft - bieten eine besondere Angriffsflgche, weil man Jahrzehnte sp~iter leicht diagnostizieren konnte, die klassenlose Gesellschaft sei nicht realisiert worden, und zwar auch nicht in den ,,sozialistischen L~indem", in denen eine formale (weitgehende) Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht zur Oberwindung von Herrschaft und Unterdrfickung geffihrt hatte. Schlie61ich hat auch die Annahme des entstehenden Klassenbewusstseins und damit des solidarischen Klassenhandelns zu Diskussionen gefahrt. Damit einher ging die Frage, ob man sich unter Klassen fiberhaupt eine konkrete Menschengruppe vorstellen dfirfe oder ob sie nicht eher als theoretisches Konstrukt anzusehen seien. Elster bezweifelt, dass die Klassenstruktur in allen Gesellschaften die Haupterkl~irung ffir soziale Konflikte zwischen organisierten Gruppen darstelle (Elster 1985). A. Giddens begegnet einigen dieser Probleme - z.B. der Frage nach der Anzahl der Klassen - mit dem Hinweis darauf, dass bei Marx ein abstraktes und ein konkretes Klassenmodell nebeneinander existieren. Es gibt nach seiner Darstellung auch bei Marx mehrere Klassen (z.B. Klassen, die in einer lJbergangszeit bestehen oder Untergruppen von Hauptklassen), die zwar far die Beschreibung einer bestimmten Gesellschaft wichtig sein k6nnen, in dem abstrakten Modell der Klassengesellschaft und ihrer Entwicklung jedoch keine zentrale Rolle spielen (1979:34 f.). Damit kann man Marx nicht vorwerfen, gesellschaftliche Phgnomene wie Zwischenklassen einfach tibersehen zu haben. Ahnlich argumentiert T. Geiger, der seiner Kritik an Marx einige ,,unbegrfindete Einw~inde gegen die Lehre des Marxismus" voranstellt (1975 (zuerst 1949): Kap. III). Dazu geh6rt die Konzentration auf zwei Klassen, durch die Marx das dominante Schichtungsprinzip (vgl. dazu Geigers Ansatz in Kap. 2.3) abbildet, aber nicht den Anspruch erhebt, eine vollstfindige Zustandsbeschreibung mit weiteren Trennungslinien und inneren Konflikten zu liefern. Dies ist auch deshalb der Fall, well Marx einen Schwerpunkt auf die dynamische Analyse von Gesellschaftsentwicklungen legt.
Zusammenfassung Nach Marx bestimmt der Besitz von Produktionsmitteln die konflikthaflen MachtverhNtnisse in einer Gesellschaft. Die Analyse des Klassenkampfs und seiner Rolle flir den sozialen Wandel ist ein wichtiges Element des Ansatzes. Trotz verschiedener Kritikpunkte an Marx' Modell (z.B. es sei zu undifferenziert und seine Prognose sei nicht eingetreten) ist es in der Folgezeit nicht einfach ,,ad acta" gelegt worden. Die Vorstellung sp~iterer Ungleichheitsansfitze zeigt, dass sich andere Forscher mit seinen Argumenten auseinandergesetzt und einzelne
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Elemente aufgenommen oder verworfen haben. Somit spielen Klassen auch in der spateren Diskussion eine bedeutsame Rolle.
Lesehinweise: Marx, Karl; Friedrich Engels (1848): Manifest der kommunistischen Partei, Stuttgart: Reclam 1974, Kap. I (S. 23-37) Dahrendorf 1957, Kap I: Das Modell der Klassengesellschafi bei Karl Marx, S. 1-33, unter anderem fasst Dahrendorf die Hauptgedanken Marx' zur Klassentheorie zusammen, indem er das Kapitel for Marx anhand vieler Zitate von ihm ,,zu Ende" schreibt (S. 7-16).
2.2 Max Weber: Klassen und St~inde
Auf das Konzept yon Max Weber (1864-1920) sttitzen sich spater Vertreter einer ,,gem~if3igten" Klassentheorie (Kreckel 1990), aber auch Vertreter yon Schichtund Lebensstilansatzen. Es ist also f'tir die weitere Konzeptionierung sozialer Ungleichheit stark anschlussf~ihig. Ein zentraler Unterschied zu Marx besteht darin, dass Weber ein differenziertes, mehrdimensionales Modell vorlegt, das heifbt er betont nicht allein den 6konomischen Aspekt und gibt auch die Beschr~inkung auf zwei relevante Klassen - Bourgeoisie und Proletariat - auf. Weber spricht nicht allein von ,,Klassen", sondern zieht zur Charakterisierung der Sozialstruktur, der Machtverteilung in einer Gesellschafi, zus~itzlich ,,St~inde" und ,,Parteien" heran. Zudem teilt er Klassen auf: Er unterscheidet verschiedene Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen.
Klassen Weber spricht dann yon Klassen, wenn ,,1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische urs~ichliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente lediglich durch 6konomische Gtiterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Gtiter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird (,Klassenlage')" (1980 (zuerst 1922): 531).
2.2 Max Weber: Klassen und S t ~ d e
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Eine Klasse ist also gekennzeichnet durch die Art der Verfagung fiber Besitz und des Erwerbs von Gfitern sowie die Chancen, die sie dadurch auf dem Markt hat. Klassenlage heigt dann ,,die typische Chance 1. der Gfiterversorgung, 2. der fiugeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals ..., welche aus Art und MaB der Verf:igungsgewalt (oder des Fehlens solcher) fiber Gfiter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit fiber die Erzielung von Einkommen oder Einkfinften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt" (a.a.O.: 177). Und welter hei6t es: ,,,Klassenlage' ist in diesem Sinn letztlich: ,Marktlage'." (a.a.O.: 532). 4 Auch bei Weber basieren Klassen nach diesen Ausft~hrungen zentral auf Besitz. T. Herz betont, dass Weber mit dem Merkmal der Verfagungsgewalt auch fiber Leistungsqualifikationen (nicht allein fiber Gfiter) die Basis der Klassenbildung erweitere (1983: 34). Weitere Differenzierungen ergeben sich nun dadurch, dass Weber Klassen unterteilt in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen. Bei Besitzklassen bestimmen prim~ir Besitzunterschiede die Klassenlage (Weber a.a.O.: 177). ,,Positiv privilegierte Besitzklassen" (a.a.O.: 178) sind z.B. Besitzer von Arbeitsanlagen und Apparaten, Bergwerken etc., negativ privilegierte z.B. Verschuldete und Anne. Dazwischen gibt es ,,Mittelstandsklassen" (ebd.). Diese Durchbrechung der Dichotomie ist auch bei den Erwerbsklassen zu finden, in denen prim/ir ,,die Chancen der Marktverwertung von Gfitern oder Leistungen" die Klassenlage bestimmen (a.a.O.: 177). Als entgegengesetzte Beispiele f'fihrt Weber hier Untemehmer (z.B. H~indler) bzw. Arbeiter an. Soziale Klassen, so lautet die Definition, ,,soil die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen hei6en, zwischen denen ein Wechsel a) pers6nlich, b) in der Generationenfolge leicht mOglich ist und typisch stattzufinden pflegt." (a.a.O.: 177) Soziale Klassen bfindetn also die Klassenlagen, innerhalb derer man wechseln kann, fiber die hinaus Mobilit~it jedoch typischerweise weniger stattfindet. Ftir seine Zeit ffihrt Weber vier soziale Klassen an: die Arbeiterschaft, das Kleinbfirgertum, die besitzlose Inteltigenz und Fachgeschultheit sowie die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten (a.a.O.: 179).
4 Ritsert macht darauf aufmerksam, dass sich Webers Begriffsbestimmungenyon ,,Klasse" an den verschiedenen Stellen in ,,Wirtschaft und Gesellschaft"nicht v611igentsprechen. So werde in der zweiten Definition (Weber 1980: 531f.) die Bedeutung des Marktes als definiens fox Klasse noch st/~rkerhervorgehoben(Ritsert 1998: 77, 82).
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Soziale Klassen weisen zum einen auf das Phfinomen der sozialen Mobilit~it hin, zum anderen btindelt dieser Begriff in gewisser Weise die untibersichtliche Vielfalt der unterschiedlichen Besitz- und Erwerbsklassen. Im Unterschied zu Marx fuhrt die Zugeh6rigkeit zu einer Klasse (bzw. zu einer sozialen Klasse) im Zuge sozialen Wandels nicht notwendig zu einem Klassenbewusstsein oder gemeinsamem Handeln: ,,Eine universelle Erscheinung ist das Herauswachsen einer Vergesellschaftung oder selbst eines Gemeinschaftshandelns aus der gemeinsamen Klassenlage keineswegs." (a.a.O.: 532 f.) Die Entwicklung zu einer ,,Klasse for sich" (in Marx' Terminologie) ist nur eine potentielle, nicht einmal besonders wahrscheinliche M6glichkeit. Klassenlagen und daran ankntipfende Interessenlagen sind bei Weber insgesamt weitaus vielfNtiger und uneindeutiger als bei Marx (vgl. Kreckel 1982). Bedingungen, die Klassenhandeln begfinstigen, sind z.B. eine massenhaft ~ihnliche Klassenlage, r~tumliche Nfihe, Fahrung auf einleuchtende Ziele und ein Handeln gegen einen unmittelbaren Interessengegner, z.B. einen konkreten Untemehmer im Gegensatz zu Aktion~iren (Weber a.a.O.: 179). Stdnde Wie lassen sich nun nach Weber Stgnde von diesem Verst~indnis der Klassen absetzen? W~ihrend Klassen in der Sph~ire der Wirtschaft angesiedelt sind, geben St~inde eher eine ,,soziale" Ordnung im engeren Sinne wider. Weber definiert ,,st~ndische Lage" als ,jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einsch~itzung der ,Ehre' bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler kntipft." (a.a.O.: 534) Der Stand basiert also auf Ehre, auf sozialem Prestige und drfickt sich prim~ir in einer bestimmten Lebensfahrung 5 aus. Dazu gehOren unter anderem die Personenkreise, mit denen man Umgang pflegt (was auch zur ,,Schliegung" gegentiber anderen Gruppen fahrt; zu diesem Begriff vgl. Weber a.a.O.: 23-25, weiterf'uhrend die Beitrgge in Mackert 2004) oder die Befolgung spezifischer Werte. Durch das Element der Lebensf'0hmng berticksichtigt Weber eine subjektive Komponente ftir die Erklfirung der Sozialstruktur. St~inde sind in der Regel Gemeinschaften, allerdings amorphe Gemeinschaften, das heigt die Mitglieder mtissen sich nicht pers6nlich kennen (a.a.O.: 534). St~inde k6nnen beispielsweise Berufsst~inde (Offiziere, Arzte etc.), Geburtsst~nde (aufgrund der Abstammung, s Dies ist ein Elementin WebersKonzept,an das spatereLebensstilans~itzeankn0pfen,vgl. Kap. 5.1.
2.2 Max Weber: Klassen und St~nde
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z.B. der Adel) oder politische St~nde sein (a.a.O.: 180). Im Unterschied zur sozialen Klasse gibt Weber keine bestimmte Anzahl charakteristischer Stgnde ftir seine Zeit an. Giddens stellt zum Verh~iltnis von Klasse und Stand fest, dass es sich nicht allein um eine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten der Differenzierung handelt, sondem dass auch der Unterschied zwischen Produktion (Klassen) und Konsumtion (in Form einer spezifischen Lebensftihrung bei den St~tnden) relevant ist (1979: 49; Weber a.a.O.: 538). Kann man so einerseits von zwei getrennten Prinzipien, dem Markt- und dem stgndischen Prinzip, sprechen, die jeweils ftir sich die Struktur sozialer Ungleichheit beeinflussen und quer zueinander liegen k6nnen, so sind andererseits VerknUpfungen keinesfalls ausgeschlossen: ,,St~indische Lage kann auf Klassenlage ... ruhen. Aber sie ist nicht durch sie allein bestimmt: Geldbesitz und Unternehmerlage sind nicht schon an sich st~indische Qualifikationen, - obwohl sie dazu f'tihrenk6nnen." (Weber a.a.O.: 180). Verknapfungen zwischen Klasse und Stand sind insgesamt weder unm6glich noch zwangslgufig. Offiziere, Beamte und Studenten k6nnen z.B. dem gleichen Stand angeh6ren, ohne sich in der gleichen Klassenlage zu befinden. Off ist jedoch eine bestimmte st~indische Lebensfuhrung doch 6konomisch mit bedingt, weil sie sich zumindest unter anderem im Konsum ausdrtickt. Wenn man Webers begrifflichen Differenzierungen folgt, liege sich zudem hinzuffigen, dass soziale Klassen den st~indischen Gemeinschaflen n~iher kommen als z.B. die Erwerbsklassen. Die m6glichen Beziehungen zwischen Klasse und Stand behandelt Weber j edoch nicht eingehend im Einzelnen. Hradil betont das Spannungsverh~iltnis beider Prinzipien, wenn er darauf hinweist, dass ausgepr~gte St~ndebildungen die freie Marktkonkurrenz, eine Grundlage der Klassengliederung, behindern (Hradil 1987: 75; vgl. Weber a.a.O.: 538). Ober die Dominanz eines der beiden Prinzipien sagt Weber, dass eine ,,(relative) Stabilit~it der Grundtagen von Gfitererwerb und Gfiterverteilung" (a.a.O.: 539) eine st~indische Gliederung begt~nstigt, w~hrend in Zeiten technisch-6konomischer Erschfitterung und Umw~ilzung die Klassenlage in den Vordergrund rtickt (ebd.). Kreckel ist der Ansicht, dass das st~indische Prinzip zwar ,,ein Erbe aus vorkapitalistischer Zeit" sei (1982: 623), aber nicht mit ihr zusammen sterbe, sondern weiter bestehe. Wenn Jahrzehnte sp~iter Ungleichheitsforscher darauf hinweisen, dass nicht nur 6konomische Faktoren ftir soziale Ungleichheit maggeblich seien (vgl. Kap. 3.6, Tell II), k6nnen sie sich damit auf Webers Ausfuhrungen berufen, die bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Parteien Eine weitere Differenzierung trifft Weber mit dem Begriff der ,,Partei". Parteien sind ,,primfir in der Sphgre der ,Macht' zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale ,Macht', und das heif3t: Einfluss auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts ausgerichtet: es kann Parteien prinzipiell in einem geselligen ,Klub' ebensogut geben wie in einem ,Staat'. Das ,parteimN3ige' Gemeinschaftshandeln enthNt, im Gegensatz zu dem von ,Klassen' und ,St~tnden', bei denen dies nicht notwendig der Fall ist, stets eine Vergesellschaftung." (Weber 1980: 539) Man kann sagen, dass mit ,,Partei" eine institutionalisierte Interessengruppe gemeint ist. Hradil stellt ,,Partei" gleichrangig neben ,,Klasse" und ,,Stand", well sie nach der 6konomischen und sozialen nun die politische Dimension sozialer Ungleichheit vertrete (1987: 62f.). Kreckel sowie Giddens machen aber auch darauf aufmerksam, dass man Macht nicht als dritte Dimension oder drittes Prinzip sozialer Ungleichheit sehen dtirfe. Macht sei eher Oberbegriff, weil sowohl Klassen als auch Stfinde und Parteien Phfinomene der Machtverteilung sind. Macht ist somit weder auf/Skonomische, nocb soziale oder politische Aspekte beschr~inkt (Kreckel 1982: 620; Giddens 1979: 49). Als Unterschied zu Marx kann man aus den Differenzierungen, die Weber vorgenommen hat, folgern, dass nach Webers Verst~indnis nicht der Klassencharakter das entscheidende Merkmal des modernen Kapitalismus darstellt, sondern die wachsende Bedeutung der Zweckrationalitgt mit bfirokratischen Organisationen als ihrem Rahmen. Wenn man (wie Marx) den Klassenkampf als wichtigsten dynamischen gesellschaftlichen Prozess ansieht, vemachlgssigt man nach Weber die Bedeutung der st~indischen Lage (wenngleich die Klassenlage im modernen Kapitalismus der vorherrschende Faktor ist) und tibersch~tzt gleichzeitig die Rolle der Okonomie, wenn man aus ihr z.B. auch politische Konstellationen als sekund~ir ableitet (vgl. auch Giddens 1979: 58-60). Die Bedeutung von Webers Ausft~hrungen wird h~iufig darin gesehen, dass er Wegbereiter war far mehrdimensionale (empirische) Analysen sozialer Ungleichheit. Einige heben sein Konzept als Etappe in der Entwicklung des Schichtkonzepts hervor, unter anderem durch die Berficksichtigung von Prestige (vgl. Kap. 3.3). Positiv werden ebenfalls seine prfizisen begrifflichen Kl~irungen bewertet (z.B. von Giddens 1979: 50). Abet es gibt auch Kritik, die sich h~iufig auf den geringen Erkl~irungsbeitrag des Konzepts richtet. Hradil bem~ingelt beispielsweise, dass Weber keinen hin-
2.2 Max Weber: Klassen und Stgnde
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reichenden Zusammenhang zwischen objektiven und subjektiven Aspekten, zwischen sozio-~Skonomischen, -kulturellen und -politischen Ph~inomenen sozialer Ungleichheit herstellt (1987: 64). Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich auf eine mangelnde Ursachenhinterfragung. Giddens weist darauf hin, dass Weber keine systematischen Hinweise auf die Bedingungen gibt, die z.B. Klassenbewusstsein hervorrufen (1979: 95). Webers abstrakte begriffliche Er6rtemngen sind lediglich unfertige Entwt~rfe, denen er eher in seinen historischen Arbeiten weiter nachgeht (a.a.O.: 50). Solche Entwfirfe setzen sich damit weniger der Kritik aus als systematische Modelle eines Ungleichheitsgeffiges mit seinen Ursachen und Dynamiken. G. Berger fasst zusammen: Weber habe weniger das Ziel, ,,eine Theorie fiber Ursachen und Formen der Ungleichheit im sozialen Wandel (vorzulegen), sondem eher einen konzeptionellen Rahmen far deren multidimensionale Analyse." (1989: 336).
Zusammenfassung Weber entwickelt einen differenzierten Ansatz, in dem er vornehmlich 6konomisch definierte Klassen (Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen) und auf sozialer Ehre beruhende Stfinde, daneben Parteien unterscheidet. Diese Differenzierungen stellen den Ausgangspunkt far viele sp~itere mehrdimensionale Analysen sozialer Ungleichheit dar. Neuere Ans~tze zur sozialen Ungleichheit sind jedoch nicht nur von den klassischen Theorien Marx' und Webers beeinflusst, sondern mtissen sich ebenfalls mit der Schichtungsforschung auseinandersetzen, die zunehmend an Bedeutung gewann. Zwei Ans~itze dazu aus der ersten H~ilfte des 20. Jahrhunderts werden daher im Folgenden vorgestellt.
Lesehinweis: Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, besorgt yon Johannes Winckelmann, Ttibingen, 5., revidierte Auflage 1980 (14.-18. Tsd), S. 177-180 (,,St~inde und Klassen"); 531-540 (,,Klassen, St~nde, Parteien")
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers
Die Themen Klassen- und Schichtstruktur sowie Mobilit~it bildeten einen Schwerpunkt der Arbeit Theodor Geigers (1891-1952), weitere Felder waren z.B. die Rechtssoziologie, die Ideologiekritik und die Analyse von Werbung und Propaganda (vgl. als Uberblick Geif31er/Meyer 1999, ausNhrlicher Meyer 2001b). Geiger grenzt sich ausftihrlich gegen Marx ab, am Rande gegen Weber und setzt bisherigen Klassenbegriffen und -modellen (auch anderer Autoren, z.B.W. Sombart oder G. Schmoller) ein eigenes Schichtmodell entgegen, das S. Hradil als ,,nicht-marxistisches Klassenmodell" einordnet (1999:118). Was versteht Geiger unter einer Schicht? ,,Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares Merkmal gemein haben und als Trfiger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verh/iltnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff des Status umfasst Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glt~cksmOglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und 6ffentliches Ansehen." (1955:186, Hervorhebungen im Original). Eine Schicht beschreibt damit eine bestimmte soziale Lage und dient bei Geiger als Oberbegriff, der die Sozialstruktur einer Gesellschaft kennzeichnet. Andere Begriffe, z.B. Kaste, Stand oder Klasse, sind nur Beispiele ftir historische Sonderffille einer Schichtung. Auch die Klasse ist also eine spezielle Form der Schichtung, und zwar eine Form, bei der die Produktionsverh~iltnisse das ,,dominante Schichtungsprinzip" darstellen. Zwei Aspekte dieser Sichtweise sollen far ein genaueres Verst~indnis weiter erl/~utert werden: a. b.
Stellt Geiger eine Verbindung her von Schichten, also yon den sozialen Lagen, zu bestimmten subjektiven Haltungen bzw. zu einem gemeinsamen Bewusstsein? Was ist mit dem ,,dominanten Schichtungsprinzip" gemeint?
Ad a) Geiger nimmt eine Unterscheidung auf, die differenziert zwischen ,,objekriven" und ,,subjektiven" Schichtbegriffen (z.B. 1930: 213; 1955: 192-194). ,,Objektive" Begriffe richten sich ausschlieglich auf/~uBere Merkmale der sozialen Lage, z.B. das Einkommen. Geiger kritisiert eine solche Vorgehensweise als sozialstatistische Klassifikation, die kaum eine soziologische Aussagekraft hat, weil man recht beliebig Personengruppen nach Kriterien gruppieren kann. Die ,,subjektive" Ausrichtung konzentriert sich auf eine bestimmte gemeinsame
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers
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Haltung oder Denkweise, eine psychische Verfassung der Mitglieder, die nicht an Merkmale der sozialen Lage gebunden wird. ,,Gemischte" Begriffe schliel3lich stellen einen Zusammenhang zwischen Lage und Haltung her, doch in einer aus Geigers Sicht ebenfalls unbefriedigenden Weise, well zu den Schichten nur solche Personen einer gemeinsamen sozialen Lage geh6ren wtirden, die sich auch solidarisch ftihlen und so verhalten. Wie sieht Geigers L6sung demgegenfiber aus? ,,Indem man Lagen und Haltungen zuerst getrennt erfasst, dann aber die Verteilung der Lagen und die der Haltungen miteinander vergleicht, wird man gewisse Haltungen als typisch ftlr gewisse Lagen erkennen. Man hat dann die Haltung in einer Schicht lokalisiert." (1955:194). Die Haltung oder - in Geigers Terminologie - die ,,Mentalit~t" ordnet er eiher Schicht also quasi im Nachhinein zu. Solch eine Zuordnung ist nicht deterministisch, sondern sagt eher aus, dass viele, aber nicht alle Schichtmitglieder eine bestimmte Mentalit~t haben (es ware zu diskutieren, ob es immer eine ,,vorherrschende" Mentalit/~t in einer Schicht gibt). Eine andere Mentalit~it ist nicht ,,falsches Bewusstsein" und fiihrt auch nicht dazu, die Betreffenden der Schicht nicht mehr zuzuordnen, sie ist lediglich nicht der Normaltypus. Diese Mentalit~it, die durch die soziale Lebenswelt gepr~gte ,,geistig-seelische Disposition" (1967 (zuerst 1932): 77) wiederum ist eine ,,bewegende Kraft in der Entwicklung des Wirtschaftslebens" (a.a.O.: 4).
Abbildung 2:
Verkni~pfung von Schicht und Mentalit~it nach Geiger
Dieses Konzept von Schichten und ihren Mentalit~ten hat Geiger in einer Studie umgesetzt, in der er Daten der Volksz~hlung von 1925 analysiert: ,,Die soziale Schichtung des deutschen Volkes" von 1932. Dolt stellt er ein Ftinf-SchichtenModell auf, zu dem folgende Schichten geh6ren: 9 9 9
Kapitalisten (0,9% der Berufszugeh/Srigen) mittlere und kleinere Unternehmer (,,alter Mittelstand", 17,8%) Lohn- und Gehaltsbezieher h6herer Qualifikation (,,neuer Mittelstand", 17,9%)
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle Tagewerker far eigene Rechnung (,,Proletaroide", 12,7%) sowie Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation (,,Proletariat", 50,7%; Geiger a.a.O.: 24, 73)
Eine exakte Erforschung der zugeh6rigen Mentalitgten kann Geiger nicht vornehmen, dazu hgtte er eine grol3e Ffille empirischen Materials fiber das Alltagsleben der Menschen ben6tigt, z.B. fiber ihre Freizeitverwendung, den Lesegeschmack, die Formen der Geselligkeit etc. (Geiger a.a.O.: 80). 6 Dennoch macht er einige Bemerkungen zu den Charakteristika der Schichten. So ist - dies sei nur als ein Beispiel herausgegriffen - far die mittleren und kleinen Untemehmer, also far Bauem, Handwerker und Hgndler, die hohe Zahl mithelfender Familienangeh6riger bezeichnend, damit bestimmt die ,,Familien- und Heimkultur ... noch weitgehend den gesamten Lebensduktus", was sich beispielsweise in einer religi6sen Haltung ~ul3ert (1967 (zuerst 1932): 85). Diese Unternehmer befinden sich im ,,Verteidigungszustand" nicht allein gegen wirtschaftliche Bedr~ngnis, sondern auch gegen drohenden Prestigeverlust (a.a.O.: 87). In ~ihnlicher Weise charakterisiert Geiger auch die anderen, in sich differenzierten Schichten und beracksichtigt dabei kritisch, welche Schichten anf~llig far die Ideologie des Nationalsozialismus sind (beispielsweise geh6ren die kleineren Hgndler dazu; a.a.O.: 86). Ad b) Was ist mit dem ,,dominanten Schichtungsprinzip" gemeint? Geiger stellt sich den Begriff der Schichtung zun~ichst so allgemein vor, dass man unterschiedliche Schichten nach unterschiedlichen Merkmalen bilden kann. So wfirde sich eine andere Schichtung nach dem Einkommen als nach dem Beruf oder nach der Religionszugeh6rigkeit ergeben. Diese Schichtstrukturen ,,fiberkreuzen, durchdringen und fiberdecken einander" (1967 (zuerst 1932): 5). Es sind jedoch nicht alle Schichtmerkmale gleichermaBen in einer Gesellschaft wichtig. In einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist vielmehr eine Schichtung dominant, andere sind subsidi~ir. In einer st~indischen Gesellschaft ist dann etwa die Schichtung nach der Berufsart dominant. Mit Hilfe dieser Trennung von dominanter und subsidi~irer Schichtung gelingt es auch, das Schichtmodell zu einem dynamischen zu machen, das heiBt Prozesse zu analysieren, denn eine dominante Schichtung muss im Zeitverlauf nicht gleich bleiben, sondern kann in den Hintergrund treten, w~ihrend andere an Bedeutung gewinnen. Nach dieser Sichtweise k6nnte man z.B. sagen, die st~indische Gesellschaft mit einer Schichtung nach Berufsarten sei abgel6st worden von einer Klassengesellschaft mit einer SchichSo geht sp~terBourdieuvor, docherforschter nach seinerTerminologienicht Mentalit~ten,sondern Lebensstile(vgl. Kap. 6).
2.3 Das Schichtmodell Theodor Geigers
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tung durch das ProduktionsverhNtnis und wandelte sich von da aus wiederum weiter. Diese Sichtweise Geigers stellt eine wichtige Abgrenzung zu Marx dar. R. Geil31er stellt fest, dass Geiger im Laufe seines wissenschaftlichen Arbeitens immer gr6Bere Distanz zu Marx gewonnen habe. W~hrend Geiger in den allerersten Arbeiten noch das Zweiklassenmodell vertreten habe, stellt er in der genannten Studie von 1932 das Ftinf-Schichten-Modell vor, in dem Buch ,,Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel" von 1949 ~iuBert er schliel31ich starke, teilweise auch recht polemisch formulierte Kritik an Marx' Theorie; GeiBler bezeichnet das Buch daher als ,,den ,Anti-Marx' Geigers" (GeiBler 1985: 390, 398-401). Geiger kritisiert dort beispielsweise, dass eine Verelendung der Arbeiterklasse nicht eingetreten sei, dass die Klassen sich zunehmend differenziert und schon gar nicht ein kollektives Klassenbewusstsein entwickelt h~itten. Er schlieBt daraus: ,,Das marxistische Modell der industriellen Klassengesellschaft war vermutlich der Periode des Hochkapitalismus nicht unangemessen ... Es ist nun aber zu bedenken, dass die Gesellschaft seit dem Durchbruch des Industrialismus von tiefer Unrast ergriffen ist" (Geiger 1975 (zuerst 1949): 156). Abgesehen yon einigen prinzipiellen Einw~nden gegen Marx hat dieser aus Geigers Sicht also ein recht angemessenes Bild einer bestimmten Epoche entworfen, doch Nhrt der soziale Wandel dahin, dass man nun andere Schichtungen als dominant herausarbeiten muss, um die Sozialstruktur der Gesellschaft zu charakterisieren. Stellt Geigers Ansatz die L6sung der Sozialstrukturanalyse dar? Obwohl er ffir einige sp~itere Modelle einflussreich war, gibt es auch an seinem Modell Kritikpunkte. Unter anderem stellt sich die Frage, wie man denn die bedeutsamsten Unterscheidungsmerkmale, die dominante Schichtung unter allen anderen Schichtungen einer Gesellschaft erkennen kann. Bei Geiger h6rt es sich so an, als ob sich, falls der Forscher nur gent~gend unvoreingenommen sei, die dominante Schichtung fast naturwachsig herausschNe, z.B. m6chte er zun~ichst alle Erscheinungen gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, ,,wie sie sind" (1955: 199). 7 Seiner Meinung nach dr~ingen sich gewisse Unterschiede der Lage als schicksalsbestimmend auf (1955: 195) - und dies sagt er, obwohl er andererseits zwei Schwierigkeiten selbst benennt: ,,Je n~iher der Betrachter insbesondere seiner eigenen Zeit kommt, desto schwerer fallt ihm die Unterscheidung zwischen typischen Perioden und den Obergangszustgnden zwischen ihnen ... ein anderer Umstand aber dfirfte welt wichtiger sein. Die 7 Im Gegensatz dazu bestimmt z.B. Weber Mobilit~tt als Kriterium fox die Bandelung zahlreicher Besitz- und Erwerbsklassenzu ,,sozialen Klassen".
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle neuzeitlichen Gesellschaften sind tatsfichlich in h6herem Grade labil, sind hektischeren Ver~inderungen unterworfen als die Gesellschaften der Vorzeit" (1975 (zuerst 1949): 151f.).
Daher findet er es auch ,,zweifelhaft, ob der Augenblick f'tir die Durchftihrung solcher Untersuchungen [zur gesellschaftlichen Struktur, N.B.] gfinstig w~e. Alles scheint heute im Gleiten zu sein, eine klar sich abzeichnende Strukmr ist kaum zu finden. Wohl aber lassen gewisse Tendenzen einer Schichtverlagerung sich aufzeigen." (a.a.O.: 147). Es stellt sich die Frage, ob angesichts der oben genannten Schwierigkeiten der Augenblick tiberhaupt einmal wieder gfinstig werden kann, ob man das Modell angesichts des schnellen sozialen Wandels nicht modifizieren muss. So stellt auch Geigler lest, dasses Geiger insgesamt nicht gelingt, einen Begriff far das dominante Schichtungsprinzip seiner Zeit zu pr~igen und damit ,,den Kern des Wandels begriffiich und theoretisch zu erfassen" (1985: 399). Eine Anwendung auf Geigers Gegenwartsgesellschaft ist diesem selbst also nicht gelungen, der oft positiv bewertete Hinweis auf dynamische Aspekte bleibt damit recht vage. Trotz dieser Kritik ist Geigers Modell nicht ohne Einfluss geblieben. Zwar wirkte er nicht schulbildend, undes gibt keine umfassende systematische Weiterentwicklung seines Werkes (GeiBler/Meyer 1999: 290). Jedoch beruft sich beispielsweise R. Dahrendorf (dessert Konzept in Kap. 3.2 behandelt wird) auf ihn, und auch R. Geigler betont, dass viele Punkte, die Kritiker gegen sp~itere Schichtmodelle vorbrachten, auf Geigers Konzept nicht zutr~ifen, und nimmt daher Gesichtspunkte aus Geigers Modell auf (Kap. 4. I). Zudem betont GeiNer 1985, dass sich die Ungleichheitsforschung nicht wesentlich weiterentwickelt habe. Bisher sei es ,,nicht gelungen, die Strukturen und die Dynamik der sozialen Ungleichheit in sp~itkapitalistischen Gesellschaften auf den Begriff zu bringen. Der Marx der zweiten H~lfte des 20. Jahrhunderts ist nicht in Sicht." (1985: 407). Daher m6chte er den Schichtbegriff, insbesondere den Schichtbegriff Geigers, nicht voreilig verabschieden. Auch Schroth betont Geigers Aktualit~t, er liege ,,voll im Trend der gegenw~trtigen Sozialstrukturforschung" (1999: 32) und erf'fille in jeder Hinsicht die Anforderungen, die an eine gegenw~irtige Schichtanalyse zu stellen seien (1999: 34).
Zusammenfassung In Abgrenzung insbesondere zu Marx entwirft T. Geiger ein Schichtmodell, das aus mehreren Schichten besteht. Das ,,dominante Schichtungsprinzip", das far
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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die Einteilung der Schichten, der spezifischen sozialen Lagen, besonders bedeutsam ist, kann sich allgemein je nach Gesellschaft und auch im Zeitverlauf wandeln. Zudem bleibt Geigers Ansatz nicht bei der begrtindeten Klassifikation sozialer Lagen stehen, sondern verkntipft diese im n~ichsten Schritt mit typischen Mentalit~iten. Allerdings ist es Geiger nicht gelungen, die Schichtungsstruktur seiner Gesellschaft in der ersten H~ilfte des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen, das dominante Schichtungsprinzip herauszuarbeiten, das historisch laut Geiger die Klassengesellschaft abgel6st hat. Lesehinweise:
Geiger, Theodor (1955 erschienen): Theorie der sozialen Schichtung; in: ders. (1962): Arbeiten zur Soziologie, hg. von Paul Trappe, Neuwied/Berlin: Luchterhand, S. 186-205 Als Oberblick in der Sekund~irliteratur: Geil31er, Rainer (1985): Die Schichtungssoziologie yon Theodor Geiger. Zur Aktualit~it eines fast vergessenen Klassikers; in: K~lner Zeitschrift f'tir Soziologie und Sozialpsychologie 37, S. 387-410 2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie Die funktionalistische Sicht der sozialen Schichtung nimmt eine ganz andere Perspektive auf soziale Ungleichheit ein. Sie wurde in den Grundlagen in den USA von T. Parsons (1902-1979) entwickelt (z.B. 1940, 1949). Die deutsche Rezeption hat sich zudem auch auf einen Aufsatz yon K. Davis und W.E. Moore von 1945 konzentriert, der 1967 in deutscher Sprache erschien. Diese Perspektive fragt nicht, wie man mOglicherweise Ungerechtigkeit oder Unterdrtickung beseitigen k6nnte, sondern sie denkt da~ber nach, wofiir soziale Schichtung wohl niitzlich sein k~nnte, ob sie f'tir ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben einen - vielleicht sogar notwendigen - Beitrag leistet. In der deutschen Diskussion um soziale Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg war insbesondere ab Anfang der sechziger Jahre der Strukturfunktionalismus einflussreich, aber auch die Auseinandersetzung mit der Klassentheorie verschwand nicht ganz, so dass die funktionalistische Schichtungstheorie schnell auch Kritik hervorrief (z.B. Mayntz 1961). Ein Kritikpunkt bestand gerade darin, dass Elemente wie Macht und soziale Konflikte in der Theorie vernachl~issigt wtirden. Doch sollen vor der Kritik einige Grundztige der funktionalistischen Sichtweise sozialer Ungleichheit dargestellt werden.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
Z Parsons
T. Parsons versteht in seiner strukturfunktionalistischen Theorie Gesellschaft als ein System mit verschiedenen Subsystemen, die far die Gesellschaft bestimmte Funktionen erfallen, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Beispielsweise ist, wenn man gesellschaftliche Institutionen betrachtet, die Politik unter anderem dafar zustgndig, gemeinsame Handlungsorientierungen, z.B. in Form von Gesetzen, zu formulieren und zwischen verschiedenen Interessengruppen zu vermitteln (vgl. als einfahrende Sekund~irliteratur zu Parsons z.B. Korte 1992: Kap. 10 oder Mfinch 1999). Im Zusammenhang mit sozialer Schichtung fragt Parsons entsprechend, inwiefem sie dazu beitr~igt, dass gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert. Soziale Schichtung bedeutet far Parsons ,,die differentielle Rangordnung ..., nach der die Individuen in einem gegebenen sozialen System eingestuft werden und die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial bedeutsamen Zusammenh~ngen als einander tiber- und untergeordnet behandelt werden" (Parsons 1940: 180). Stabile soziale Systeme brauchen Normen, die diese Beziehungen der Uber- und Unterordnung regeln, und die soziale Schichtung stellt ein solches Regelsystem, eine solche Ordnung dar, tr~igt damit zur Systemstabilit~it bei. An diese Aussage schlieBen sich zwei Fragen an. Erstens: Warum sollten sich die Menschen in eine solche Ordnung einfagen (anstatt sich, wie in den Vorstellungen von Marx, zusammenzuschlieBen und gegen H6hergestellte aufzubegehren)? Und zweitens: Nach welchen Merkmalen erfolgt eine Bewertung als fiber- oder untergeordnet? Zum ersten Punkt: Hierzu lautet Parsons' These, grob gesagt, dass sich die Motive und BewertungsmaBst~ibe Einzelner einerseits und gesellschaftliche Normen andererseits im Wesentlichen entsprechen: ,,Wenn das Individuum also den institutionellen Normen nicht entspricht, so handelt es damit seinem eigenen Interesse entgegen." (Parsons 1940: 185). Diese Obereinstimmung kommt dadurch zustande, dass man bestimmte moralische Muster bereits in der Kindheit verinnerlicht, auBerdem gibt es Sanktionen dutch die soziale Umwelt, die das Handeln kontrollieren (was andeutet, dass keine vollkommenen Harmonievorstellungen angebracht sind fiber die Verknfipfung zwischen Individuum und ,,Gesellschaft"). Ein wichtiges Handlungsmotiv besteht darin, die Anerkennung anderer zu erlangen, was durch die Befolgung sozialer Normen gelingen kann. Schichtung ist daher auch ein wichtiges Mittel zur Handlungsorientierung: ,,Die soziale Schichtung bildet also einen der Zentralpunkte far die Strukturierung des Handelns in sozialen Systemen" (a.a.O.: 186).
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
33
An welchen Merkmalen k6nnen sich die Individuen nun orientieren, um sich und andere in einer Schichtungsskala einzuordnen? Parsons nennt sechs Grundelemente: 9 9 9 9 9 9
Die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe (das heigt eine Position, die man durch die Herkunftsfamilie innehat oder durch Heirat erlangt) Pers6nliche Eigenschaften (z.B. das Geschlecht oder das Alter) Leistungen (im Unterschied zu den Eigenschaften Ergebnisse von Handlungen, z.B. beruflicher Erfolg) Eigentum (wobei z.B. Reichtum selten ein primfires Statuskriterium darstellt, sondern eher ein Symbol far den Leistungserfolg ist) Autorit~it (das institutionell anerkannte Recht auf Einfluss, z.B. als Inhaber eines Richteramtes oder als Eltern) Macht (im Unterschied zur Autoritgt handelt es sich hier um nicht institutionell anerkannten Einfluss). ,,Der Status eines jeden Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann als Resultante der gemeinsamen Wermngen betrachtet werden, nach denen ihm sein Status in diesen sechs Punkten zuerkannt wird" (a.a.O.: 189).
Jemand ist also z.B. ledig, mfinnlich und Krankenpfleger mit einem bestimmten Einkommen etc. und wird entsprechend eingeordnet. Welche Merkmale besonders gewichtet werden, wie sie im Einzelnen bewertet werden, ist je nach Gesellschaft und Zeitpunkt verschieden. Beispielsweise w~ire der erste Punkt, die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe, in einer Kastengesellschaft das eindeutig dominierende Rangkriterium. Fiir die Schichmngsskala der USA, also einer modernen, industrialisierten Gesellschaft, h~ilt Parsons (1940, 1949) zwei Grundelemente fest: zum einen Leistungen im Berufssystem (was ein Mindestmag an Chancengleichheit voraussetzt) und zum anderen bestimmte Verwandtschaftsbande, und zwar Solidarit~it in einer Kernfamilie mit klarer Geschlechtsrollentrennung, in der vor allem der Mann den beruflichen Status der gesamten Familie festlegt. Uber die offensichtliche zeitliche Gebundenheit des konkreten Beispiels hinaus will Parsons durch die sechs Bewertungskriterien ein analytisches Instrument entwerfen, mit dem man die Schichtung verschiedener Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten beschreiben kann. Diese Sichtweise betrachtet er als eine Weiterentwicklung yon Marx' Ansatz, dem er zwar eine wichtige Rolle in der soziologischen Theorieentwicklung zugesteht, der aber
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle ,,die Tendenz [haRe], die sozio6konomische Strukmr der kapitalistischen Wirtschafl als eine einzige, unteilbare Einheit zu behandeln, statt analytisch zwischen einer Reihe verschiedener Variablen zu unterscheiden" (Parsons 1949: 207).
So dt~rfe eine zeitgemfi6e Sozialstrukturanalyse nicht allein die Gewinnorientierung und die Ausbeutung durch kapitalistische Unternehmer berficksichtigen, sondern an zentraler Stelle z.B. auch die Berufsrollenstruktur. Auch der Klassenkonflikt erscheine so nicht mehr unvermeidlich, sondern sei an bestimmte Bedingungen gebunden. K. Davis/W.E. Moore
Auch K. Davis und W. E. Moore stellen in ihrer Arbeit von 1945 deutlich heraus, dass aus ihrer Sicht die Schichtung jeder Gesellschaft eine funktionale Notwendigkeit darstellt. Schichtung ist also grunds~itzlich aus gesellschaftlichem Blickwinkel etwas Positives, nicht etwas, das man tiberwinden mtisste. Da sich die Argumente auf das allgemeine System der Positionen in einer Gesellschaft richten und nicht auf die einzelnen Individuen, sagen sie in keiner Weise, wie die Autoren selbst betonen, etwas dadiber aus, ob die Lebenslage eines Einzelnen beispielsweise gerecht oder beklagenswert ist und wie er seine Chancen gegebenenfalls verbessem kann. Nach einer Unterscheidung von R.K. Merton k6nnte man sagen: Trotz manifester Unzufriedenheit mit bestehenden Ungleichheiten gibt es eine latente Funktionalit~it sozialer Schichtung. Analytisch trennt diese theoretische Perspektive dadurch zwischen Motiven und objektiven Folgen sozialen Handelns (Merton 1995: Kap. 1). Mit den Worten von Davis/Moore ist soziale Ungleichheit ,ein unbewusst entwickeltes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstellt, dass die wichtigsten Positionen von den f~ihigsten Personen gewissenhaft ausgef'tillt werden" (1973 (zuerst 1945): 398). Was bedeutet das genauer? Eine Gesellschaft muss bestimmte Positionen besetzen, als wichtige Hauptfunktion nennen die Autoren beispielsweise die Aufgaben yon Staat und Regierung, die Normen durchsetzen, Entscheidungen treffen, insgesamt planen und lenken sollen, oder die Integrationsfunktion, der z.B. die Religion dient. Geeignete Personen massen nun dazu motiviert werden, diese Positionen zu besetzen und die Aufgaben zu erftillen, daher sind die Positionen mit entsprechenden Belohnungen verkntipft (z.B. Einkommen oder Ansehen). Wann hat nun eine Position welchen Rang inne? Die zwei Determinanten, die Davis und Moore nennen, sind erstens die Bedeutung oder die Funktion der
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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Position Dr die Gesellschaft und zweitens die erforderliche Begabung und/oder Ausbildung, die zur angemessenen Austibung der Position notwendig ist.
Abbildung 3:
Einflussfaktoren ftir den Rang einer Position nach Davis/Moore
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Die Bedeutung der Position ist dabei eine notwendige, aber nicht allein hinreichende Bedingung. Beispielsweise ist es ganz sicherlich eine notwendige gesellschaftliche Aufgabe, den Hausmtill regelmW3ig zur Entsorgung abzutransportieren, aber die Posten bei der Mallabfuhr rangieren im Belohnungssystem nicht gerade besonders weit oben. Die Autoren erkl~iren dies so: Die Gesellschaft ,,muss diese Positionen lediglich mit so starken Anreizen ausstatten, dass eine angemessene Besetzung gew~ihrleistet ist ... wenn eine Position ohne Schwierigkeiten besetzt werden kann, brancht sie trotz ihrer Bedeutung nicht hoch belohnt zu werden." (1973 (zuerst 1945): 399). Weil die meisten wichtigen Positionen spezielle F~ihigkeiten erfordern, sieht der Normalfall so aus, dass geeignete Personen daftir knapp sind, weil nicht jeder die gleichen Begabungen hat und Ausbildungen Zeit, Geld und Mtihe erfordern. Um die entsprechend Begabten z.B. ftir eine technische Expertenposition zu ,,locken" und f'tir eine langwierige Ausbildung zu interessieren, sind mit solchen Positionen dann relativ hohe Belohnungen verbunden. Auch Davis und Moore beanspruchen, auf diese Weise ein allgemeines Modell aufzustellen, das nicht nur ftir eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt. Die beiden Determinanten Dr den Rang einer Position halten sie ftir universal, aber einer Position kann in verschiedenen Gesellschaften (etwa mit unterschiedlichem Spezialisierungsgrad) unterschiedliche Bedeutung zukommen. So k6nnte z.B. die Integrationskraft der Religion im Vergleich zweier Gesellschaften unterschiedlich wichtig sein. Wie oben bereits angedeutet, gab es zu diesem Ansatz verschiedene Kritikpunkte. In der Kontroverse, die hier nicht nachvollzogen werden kann (vgl. z.B. die Beitdige in Bendix/Lipset 1966: 47-96, unter anderem yon M. Tumin), mischen sich dabei Gesichtspunkte, die sich speziell auf die funktionalistische Schichtungstheorie richten, und solche, die den Strukturfunktionalismus generell betreffen. Hier sei beispielhaft auf zwei wichtige Kritikpunkte hingewiesen.
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
1.
R. Mayntz fahrt an, dass das Modell stillschweigend von Voraussetzungen ausgeht, die die Autoren (sie bezieht sich vorwiegend auf Davis bzw. Davis/Moore) nicht explizit genug machen und deren Galtigkeit anzuzweifeln ist. Diese Voraussetzungen lauten, ,,dass erstens Talent angeboren und knapp ist, dass zweitens niemand ohne Aussicht auf besondere Belohnung nach schwierigeren Aufgaben strebt, und dass drittens soziale Positionen im freien Wettbewerb errungen werden" (1961: 13). Wenn dagegen beispielsweise Ffihrungsqualitgten im politischen Bereich gar nicht so knapp w~iren oder diejenigen mit entsprechenden F~ihigkeiten solche Aufgaben auch ohne besondere Belohnungen gem, etwa aus sachlichem Interesse oder sozialem Pflichtgefahl tibern~ihmen, w~ire das Modell von Davis und Moore weit weniger plausibel. Selbst wenn man z.B. das Handeln aus sozialem Pflichtgefahl als unwahrscheinlich oder illusion~ir annimmt, zeigt sich an diesem Sachverhalt doch, dass hinter dem funktionalistischen Modell ein ganz bestimmtes Menschenbild steht (Mayntz: ebd.). Auf den ersten Blick scheint es nicht unlogisch, unter der Voraussetzung von weitgehender Chancengleichheit vie|leicht auch gerecht, wenn bedeutsamere Leistungen h(Sher belohnt werden (teilweise hat sich diese Vorstellung eines Leistungsprinzips ja bis heute erhalten). Bei genauerem Nachdenken tauchen dann aber doch einige Fragen auf, die die Bewertung von Positionen betreffen: Nach welchem MaBstab beurteilt man, ob eine Position funktional bedeutsam ist? Gibt es Magst~ibe oder zumindest Einigkeit daraber, welche Funktionen far das Bestehen des Systems relevant sind, welcher Zielzustand far das System anzustreben ist? Wer wertet aberhaupt und teilt Positionen zu? Kommt man zu der Antwort, dass die herrschenden Gruppen in einer Gesellschaft solche Bewertungen vomehmen oder zumindest grogen Einfluss darauf haben, setzt sich der theoretische Ansatz dem Vorwurf aus, bestehende Ungleichheitsverhgltnisse nicht nur hinsichtlich Macht und Ungerechtigkeiten zu ignorieren (ganz im Gegensatz zu Klassentheorien), sondern diese Verh~iltnisse sogar zu legitimieren.
2.
G. Lenski
In einer Ver6ffentlichung von 1966 (im amerikanischen Original) versucht Gerhard Lenski, yon ,,konservativen" und ,,radikalen" Ungleichheitstheorien ausgehend, man kCSnnte in der bier verwendeten Terminologie sagen: von funktionalistischer Schichtungstheorie und Klassentheorie ausgehend, einen Schritt in Richtung einer Synthese zu unternehmen. Dies tut er dadurch, dass er zun~chst
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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Schichtung umdefiniert als ,,den Verteilungsprozess in menschlichen Gesellschaften, den Prozess, durch den knappe Werte verteilt werden" (Lenski 1977: 12). Im n~ichsten Schritt stellt er dann zwei Prinzipien dieses Verteilungsprozesses zur Kl~irung der Ursachen sozialer Ungleichheit heraus: Bedfirfnis und Macht. Diese Prinzipien konkretisiert er in zwei Verteilungsgesetzen. Das erste lautet: Die Menschen teilen das Produkt ihrer Arbeit insoweit, als es zur Sicherung ihres Oberlebens und der kontinuierlichen Produktivit~it jener notwendig ist, deren Handlungen far sie selbst notwendig oder nfitzlich sin& Dieses Gesetz beruht auf der Annahme, dass Menschen in erster Linie aus Eigeninteresse handeln, dieses aber meist nur durch Kooperation realisieren k6nnen. Die Verteilung der Gfiter auf dieser Stufe verursacht, so Lenskis Annahme, keine bedeutsamen Verteilungskonflikte, denn an einer weiteren Kooperation zur l~lberlebenssicherung ist jeder interessiert. Das gndert sich mit der Produktion eines Mehrwerts, also yon Giitern, die nicht unmittelbar zum Uberleben dienen. Dadurch dass erstrebenswerte Grater immer knapp sind, kommt es zu Konflikten. Das zweite Verteilungsgesetz sagt entsprechend aus: ,,Macht [bestimmt] weitgehend darfiber, wie der Surplus einer Gesellschaft verteilt wird" (a.a.O.: 71). Macht ist in der Folge auch ein bedeutsamer Einflussfaktor, die ,,Schlfisselvariable", far Privilegien (der Besitz oder die Kontrolle eines Teils des Surplus) und ftir Prestige (a.a.O.: 73). Die Bedeutung des Verteilungsprinzips durch Macht w~,chst indes mit dem technologischen Fortschritt einer Gesellschaft (a.a.O.: 74). Lenskis Schwerpunkt liegt auf diesen dynamischen Aspekten von Ungleichheit, doch macht er auch Aussagen fiber die Struktur yon Verteilungssystemen. Mitglieder einer Klasse befinden sich im Hinblick auf Macht (und auch im Hinblick auf Privilegien und Prestige) in einer ~hnlichen Position, sie haben ~ihnliche Interessen, die jedoch nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein flihren mfissen (a.a.O.: 109-112). Das Verteilungssystem einer Gesellschaft insgesamt besteht aus mehreren Klassensystemen mit unterschiedlicher Gewichtung, denen jeweils ein bestimmtes Klassenkriterium zugrunde liegt, z.B. aus einem politischen Klassensystem und nachrangig aus einem Besitz-, Berufs- und ethnischen Klassensystem. Jedes Klassensystem teilt sich in verschiedene Klassen auf. Ein Individuum hat in jedem Klassensystem eine Position, erh~lt so ein spezifisches Profil, ist z.B. unpolitisch, Kaufmann aus dem Mittelstand und spanischer Herkunft (a.a.O.: 116f.). Wenn man nun noch die Klassensysteme unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleicht - Lenski nennt z.B. Bedeutung, Spannweite, Mobilitgtsgrad, Gegnerschaft etc. (a.a.O.: 118-120) - ergibt sich ein komplexes Geftige, das zwar viele Dimensionen berficksichtigt, aber auch Gefahr Fiuft, unfibersichtlich zu werden. Kritische Stimmen haben sich jedoch eher auf Lenskis Schwerpunkt, den Syntheseversuch, gerichtet. Beispielsweise bezweifelt Wiehn, dass es eine Ge-
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2 Die Entstehung der Klassen- und Schichtmodelle
sellschaft ohne Mehrwert geben k6nne. Viele Gesichtspunkte bleiben unklar, z.B. wie teilen die Menschen in einer Gesellschaft ohne Mehrwert (Gleichverteilung?), oder wo kommt mit dem Mehrwert die Macht her? (z.B. Wiehn 1968: 132, 136f.). Wiehn h~lt die Synthese letztlich far misslungen, doch habe Lenski auf wichtige Punkte aufmerksam gemacht, die t~ber bisherige Ans~itze hinausf'lihren (z.B. Macht als Zentralkriterium; 1968: 137). Es sind also eher einzelne Aspekte als der Gesamtansatz Lenskis, die ftir spgtere Ans~itze Anregungen gaben (z.B. auch bei Dahrendorf 1966a: 346), doch ist er ein vergleichsweise frfihes Beispiel Dr einen Versuch, durch ein mehrdimensionales Modell Einseitigkeiten anderer Theorien zu fiberwinden.
Zusammenfassung Der funktionalistische Schichtungsansatz geht davon aus, dass die soziale Schichtung dazu beitr~igt, dass Gesellschaft ,,funktioniert", dass eine stabile soziale Ordnung m6glich ist. Je mehr eine Position solche Leistungen erbringt, desto h6her ist sie in der Rangordnung angesiedelt. Wenngleich konkrete Schichtungen je nach Gesellschaft variieren k6nnen, stehen doch bestimmte Elemente fest, die die Einordnung in die Schichtungsskala bedingen (s. die sechs Punkte bei Parsons) bzw. die den Rang einer Position beeinflussen (Davis/Moore). Einen im Versuch positiv zu wardigenden, im Ergebnis jedoch fraglichen Ansatz zur Verbindung von funktionalistischer Schichtungstheorie und konfliktorientierter Ktassentheorie hat Lenski vorgelegt. Der funktionalistische Ansatz hat mit Geigers Schichtungsmodell gemeinsam, dass beide von mehrdimensionalen Schichtungen ausgehen, deren zentrale Merkmale nach Gesellschaft und Zeit variieren k6nnen. Ein Klassenkonflikt ist bei beiden keineswegs zwingend. Dar~ber hinaus haben sie jedoch ein unterschiedliches Erkenntnisinteresse: Bei Geiger ist es die Verknt~pfung von Schichtung und Mentalit~it, beim funktionalistischen Ansatz der Beitrag der Schichtung zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Sowohl Klassen- als auch Schichtmodelle in ihren unterschiedlichen Ausflihrungen sahen sich nach wie vor jeweils verschiedenen Kritikpunkten ausgesetzt. Sie bildeten abet in der folgenden Zeit - noch bis etwa Anfang der achtziger Jahre - die Grundlage, auf der theoretische Modelle und Kontroversen zur sozialen Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse aufbauten, wie das folgende Kapitel zeigt.
2.4 Die funktionalistische Schichtungstheorie
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Lesehinweis:
Davis, Kingsley; Wilbert E. Moore (1945): Einige Prinzipien der sozialen Schichtung; in: Heinz Hartmann (Hg.) (1967): Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart: Enke, 2., umgearbeitete Auflage 1973, S. 396-410
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Klassen und Schichten in der Diskussion
Die Konkurrenz verschiedener Klassen- und Schichtmodelle von den fiinfziger Jahren bis in die siebziger Jahre
Zwischen den 1950er und 1970er Jahren gab es keine eindeutige Vorherrschaft eines bestimmten Autors oder Modells (wenngleich Autoren immer wieder auf das unten beschriebene ,,Zwiebelmodell" als ftir die sechziger Jahre angemessen verweisen), aber mit wenigen Ausnahmen betrachten die verschiedenen Modelle einen der Begriffe Klasse oder Schicht als angemessen. Eine Auswahl von in Westdeutschland st~irker diskutierten Ans/itzen soil hier vorgestellt werden.
3.1 Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft In den ftinfziger Jahren entstand eine These, die sowohl den Klassen- und Schichtbegriff ablehnte als auch tiberhaupt Modelle der vertikalen Strukturierung zur Charakterisierung der Sozialstruktur. Laut dieser These war die Gesellschaft n~imlich auffiillig ,,nivelliert". Obwohl diese Perspektive bald ihre Kritiker land, ist das Schlagwort yon der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eines, das nicht in seiner Geltung, wohl aber in seinem Bekanntheitsgrad bis heute erhalten geblieben ist. In einem Aufsatz von 1953 stellt Schelsky seine Auffassung in einigen Thesen vor: l.
In den letzten zwei Generationen hat es umfangreiche Auf- und Abstiegsprozesse gegeben, insbesondere Aufstiege von Industriearbeitern und zum Tei! yon Verwaltungsangestellten in den ,,neuen Mittelstand" und andererseits Abstiege des ehemaligen Besitz- und Bildungsbtirgertums (z.B. durch Vertreibungen). Diese Mobilit~it ftihrte ,,zu einem relativen Abbau der Klassengegens~itze, einer Entdifferenzierung der alten, noch standisch gepr~igten Berufsgruppen und damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verh~iltnism~i6ig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie btirgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird." (1953: 332). Staatliche Regulierungen wie die Sozial- und Steuerpolitik untersttitzen diese Nivellierung.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
2.
Der Nivellierung folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen, die Schelsky als ,,kleinbfirgerlich-mittelstandisch" bezeichnet. Soziale Mobilit~t ist damit kein Umschichtungsvorgang mehr, sondern vorrangig eine Entschichtung. Schelsky ist nicht so naiv anzunehmen, dass alle Unterschiede eingeebnet w~iren: ,,Selbstverst~ndlich bleibt eine Analyse der sozialen Schichtung auch in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nach den alten Kriterien m6glich, da deren Kennzeichen ja nicht ganz verwischt sind." (1953: 333). Allerdings glaubt er nicht, dass man aus solchen Gmppierungen einheitliche Interessen und Bedfirfnisse ableiten k6nne. Schon gar nicht stehen sich zwei grol3e feindliche Klassen gegeniiber, wie es als Betrachtungsweise der fdihindustriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert noch angemessener war. Eher schon gibt es im Produktionssystem Konflikte der Arbeiter mit einem anonymen Nirokratischen System oder zwischen organisierten Interessenvertretungen (vgl. auch Schelsky 1956: 339-342). Das Bewusstsein der Menschen h~ilt dagegen noch oft an der Rangfolge der Prestigeschichtung fest, wie sie der fraheren Klassengesellschaft entsprach, oder betont sie sogar besonders. Die Ursache sieht Schelsky in Sicherheitsund Geltungsbedtirfnissen, die eine in hohem Ma6e mobile Gesellschaft nicht befriedigen kann. Auch Organisationen wie Gewerkschaften oder Untemehmerverbande erhalten die Ideologie eines Klassenkonflikts zu ihrer Legitimierung teilweise aufrecht (1956: 343f., 1961). In der nivellierten Gesellschaft sind den Aufstiegsbedtirfnissen definitionsgemfig relativ enge Grenzen gesetzt, well die ,,soziale Leiter" insgesamt ktirzer geworden ist. Soziale Unsicherheiten bleiben so bestehen, auch k/Snnen daraus soziale Spannungen erwachsen. Die Nivellierung bedeutet also nicht ein harmonisches Zusammenleben. Das so genannte ,,Mittelstandsproblem" einer unklaren Klassenzuordnung mittlerer Schichten (insbesondere Angestellter) stellt sich kaum mehr, weil es in der nivellierten Gesellschaft zu einer Problematik der Gesamtgesellschaft geworden ist.
3.
4.
5.
6.
Obwohl Schelskys These fast einhellig abgelehnt wurde, diente sie oft als willkommene Folie, um sich abzugrenzen. Beispielsweise kann Dahrendorf die Behauptung der Angleichung wirtschaftlicher Positionen (welcher Maf3stab liegt hier zugrunde?) nicht nachvollziehen, auch groge Mobilitat halt er for fraglich, wenn allenfalls jedes zehnte Arbeiterkind Aufstiegschancen habe (Dahrendorf 1965: 148). Ebenso halten Bolte et al. (1967) die Nivellierungstendenzen ftir ,,zweifellos ~iberbetont" (1967: 284). Zudem bleibt wie beim funktionalistischen
3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive
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Schichtungsansatz die Frage nach Konflikten unterbelichtet, Dahrendorf spricht die Gefahr der Zementierung von Herrschaftsverhaltnissen durch eine solche Sichtweise an (1965: 148). Sein eigenes Modell (s.u.) halt Konflikte dagegen far zentral. lSlber dreigig Jahre spater stellte sich emeut die Frage, inwiefern es tiberhaupt noch Schichten gebe und ob soziale Lagen mit spezifischen Interessen verkntipft seien. Es handelt sich jedoch nicht um eine Reaktualisierung Schelskys, weft das (weiterhin kontrovers diskutierte) Thema unter ver~inderten Ungleichheitsbedingungen aufkam (vgl. dazu insbesondere Kap. 8). Lesehinweis."
Schelsky, Helmut (1953): Die Bedeutung des Schichtungsbegriffes far die Analyse der gegenwartigen deutschen Gesellschafl; in: Schelsky, Helmut: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsatze, Dtisseldorf/K61n: Diederichs 1965, S. 331-336 3.2 Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive
Wenn R. Dahrendorf in den sechziger Jahren nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen sucht, findet er nattirlich bereits mehrere Antworten auf diese Frage: das Privateigentum, die Arbeitsteilung und die funktionale Notwendigkeit der Schichtung. Dahrendorf selbst bietet eine andere L6sung an: ,,Der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen liegt also in der Existenz von mit Smaktionen versehenen Normen des Verhaltens in allen menschlichen Gesellschaflen" (1966b: 370). Was bedeutet das genauer? Dahrendorf geht davon aus, dass jedes gesellschaftliche Zusammenleben mit der Regelung des Verhaltens durch verfestigte Erwartungen (Normen) verbunden ist, die durch Sanktionen verbindlich werden. Daraus folgt f'tir ihn, ,,dasses stets mindestens jene Ungleichheit des Ranges geben muss, die sich aus der Notwendigkeit der Sanktionierung von normgem~if3emund nicht-normgem~ifSem Verhalten ergibt" (a.a.O.: 368). Er betont, dass er damit keine zufiillige individuelte Ungleichheit je nach pers6nlichen FNaigkeiten und dem Willen zur Normerfallung meint, sondern eine
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Ungleichheit sozialer Positionen. Normenkonformit~it wird belohnt, 8 die F~ihigkeit dazu h~ngt v o n d e r Position ab. Hradil nennt als Beispiel, d a s s - angenommen, Verhaltensautonomie und Grad der ,,Geistigkeit" einer Arbeit seien zentrale Bewertungsmagst~ibe - ein Landarbeiter auch dann, wenn er seine Arbeit gut verrichtet, nicht hoch in der gesellschaftlichen Wertung stehen wird, well diese Arbeit zu unselbst~.ndig und zu ungeistig ist (Hradil 1999: 120). 9 Mit den Worten Dahrendorfs: ,,Derjenige [wird] die g~nstigste Stellung in einer Gesellschaft erringen, dem es kraft sozialer Position am besten gelingt, sich den herrschenden Normen anzupassen und umgekehrt ... [sind] die geltenden oder herrschenden Werte einer Gesellschaft an ihrer Oberschicht ablesbar" (1966b: 376). Der letzte Teil des Zitats weist darauf hin, dass in dem zentralen Begriffs-Dreigespann Norm - Sanktion - H e r r s c h a f t (a.a.O.: 375) die Herrschaft den Strukturen sozialer Schichtung logisch vorausgeht. Die Herrschenden setzen die geltenden Normen fest, die durch entsprechende Sanktionen durchgesetzt werden. Schichtung bildet daher mindestens prinzipiell die Herrschaftsstruktur ab (nicht im Detail, weil z.B. auch Traditionen eine Rolle spielen; 1966a: 347). Im Zusammenhang rnit der Herrschaftsstruktur spricht Dahrendorf zwar wie Marx von herrschenden und beherrschten Klassen, die im Konflikt zueinander stehen. In Abgrenzung zu Marx argumentiert er aber, dass der KlassenkonHikt in der Industrie an Intensit~it und Sch~irfe verloren habe, unter anderem durch die Institutionalisierung der Interessengegens~itze. Zudem stellt er fest, dass ,,der industrielle Klassenkonflikt in entwickelten Industriegesellschaflen zunehmend nicht mehr die gesamte Gesellschaft [beherrscht], sondern ... auf den Bereich der Industrie beschr~inkt [bleibt]" (1957: 234f.). Daraus folgt, dass ,,herrschende und beherrschte Klassen der Industrie nicht mehr Teil der entsprechenden Klassen im politischen Bereich sein mfissen. Die Klassentheorie erlaubt den Schluss, dass in einer Gesellschaft so viele diskrete herrschende bzw. beherrschte Klassen bestehen k6nnen, wie es Herrschaftsverbfinde gibt" (a.a.O.: 238).
8 Die Normenkonformit~ttverweist auf das allgemeine Modell des homo sociologicus, in dem der (in Rollen) Handelnde seine Handlungsorientierungen zentral durch Normen erhNt (vgl Dahrendorf 1958, Schimank2000). 9 Ein Problem besteht laut Hradil allerdings dann, wenn eine Position nicht konsistent bewertet wird, wenn mit ihr z.B. ein hohes Einkommen, aber wenig Ansehen verbunden ist (1999: 120).
3.2 RalfDahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive
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Vielf'~iltige Herrschaftsverb~inde haben also den einen ausschlaggebenden Herrschaftsverband, der sich bei Marx aus dem Besitz an Produktionsmitteln ergab, abgel6st. Trotz dieser Modifikation von Marx grenzt sich Dahrendorf selbst aber dadurch, dass die Konfliktperspektive allgemein ftir ihn wichtig ist, von einer funktionalistischen ,,Integrationstheorie" der Sozialstruktur (1957: 159, 218) ab. 1~ Aus der Sicht dieser Konfliktperspektive ist soziale Ungleichheit dann beispielsweise auch der ,,Stachel, der soziale Strukturen in Bewegung h~lt" (1966b: 379). Bei diesen sozialen Konflikten geht es um die Verteidigung oder Vergr6gerung von Lebenschancen. Darunter versteht Dahrendorf eine Funktion aus Optionen und Ligaturen. Das heigt, dass die Lebenschancen nicht allein aus einer spezifischen Kombination aus Angeboten und Anrechten (z.B. beruflichen M6glichkeiten) bestehen, sondem auf der anderen Seite auch aus kulturellen Bindungen (etwa in der Familie oder in der Gemeinde), die dem Einzelnen Orientierung bieten (Dahrendorf 1979, 1992). Etwas unklar bleibt allerdings, wie sich durch den sozialen Konflikt ein Wandel von herrschenden Gruppen und Normen vollzieht. Wie kommen neue Gruppen in eine herrschende Position, wenn die Konformit~t mit geltenden Normen belohnt wird? Insgesamt l~isst Dahrendorf sich so einordnen, dass er - mit den genannten Modifikationen - einerseits vom Marxismus beeinflusst ist (auch in spgteren Arbeiten betont er, dass man den sozialen Wandel durch Klassenkonflikt als einen der st~rksten makrosoziologischen Ansgtze nicht leichtfertig aufgeben solle (1987: 27)), abgesehen von seinen Kritikpunkten an der funktionalistischen Sichtweise andererseits abet auch etwas von dieser tibemimmt, indem er Ungleichheit dutch die Existenz von Normen und daran gekntipfte Sanktionen erklfirt. Seine allgemeine Argumentation zur Schichtung hat Dahrendorf durch ein konkretes Modell der Schichtung in Deutschland (mit dem Anspruch auf !21bertragungsm6glichkeiten far andere westliche Gesellschaften) erg~nzt (1965). Dazu lehnt er sich an die Studie Geigers von 1932 an, die er flit ,,lebendiger" (1965: 104) h~lt als einige zeitgen6ssische Schichtungsmodelle (z.B. Moore/ Kleining 1960, Scheuch 1961). Allerdings mtisse man die Studie t't~r die gegenw~.rtige Schichtung modifizieren. Der Rfickgriff auf Geiger erkl~rt auch, dass Dahrendorf im Kontext seines Modells yon Schichten (ohne eingehende Abgrenzung zu Klassen) spricht. Dahrendorfs eigenes Modell sieht so aus:
10 Zur Einordnung und (relativ negativen) Beurteilungder ,,gegenwfirtigenLage der Theorie der sozialen Schichtung"vgl. auch den so lautendenAufsatzDahrendorfs(1966a).
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Abbildung 4:
3 Klassen und Schichten in der Diskussion Die soziale Schichtung in Deutschland nach Dahrendorf
F Un~er~ht~,ht5 %
Quelle: Dahrendorf 1965:105 Die Eliten sind eine heterogene Gruppe f[ihrender Positionen (die Idee der vielf~iltigen Herrschaftsverb~inde findet sich bier wieder). Die Dienstklasse bilden Beamte und Verwaltungsangestellte aller R~inge, die im ,,Dienst" der Herrschenden stehen und ftir die individuelle Konkurrenz prggender ist als kollektive Solidarit~iten. Der Mittelstand besteht aus Selbst~tndigen, die aufgrund ihrer defensiven Haltung keine pr~igende Schicht (mehr) sein k6nnen. Letzteres gilt auch far die Arbeiterelite (z.B. Meister). Im ,,falschen" Mittelstand finder man ausftihrende Berufe im Dienstleistungsbereich, z.B. Kellner oder Chauffeure, deren AngehOrige sich von ihrem Selbstbewusstsein her jedoch eher zur Mittelschicht z~hlen. Die Arbeiter sind in sich vielfach gegliedert (z.B. nach Branche oder Qualifikation), haben aber eine eigene Mentalit~it, was far die Unterschicht (z.B. Dauererwerbslose, Kriminelle) nicht gilt (1965:105-115). Das Modell beansprucht nicht, Schichtung im Detail abzubilden, z.B. beruhen die Gr/SBenangaben auf ,,informierter Willktir" (1965: 104). Sieht man das Modell als Geb~ude an, finden sich in jedem ,,Zimmer" noch Ecken und Nischen, Wgnde zwischen den Zimmern sind verstellbar und durchl~issig (a.a.O.: 114). Doch ist es ein Versuch, eine absichtlich recht allgemein gehaltene Argu-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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mentation zur Schichtungstheorie durch ein konkretes Modell zu erg~inzen (das allerdings zu dieser Argumentation in keinem sehr engen Zusammenhang steht). Dieses Modell bildete Anfang der neunziger Jahre die Vorlage fiir eine modernisierte Variante durch R. Geil31er (vgl. Kap. 4.1). Den Prototyp fiir die Schichtung der sechziger Jahre bildete allerdings ein anderes Modell: die ,,Zwiebel" von Bolte et al. (1967), die im folgenden Abschnitt erl~iutert wird. Lesehinweis." Dahrendorf, Ralf (1966b): l~lber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen; in: ders. (1974): Pfade aus Utopia, Mfinchen: Piper, S. 352-379; 2., t~berarbeitete und erweiterte Auflage des Aufsatzes von 1961 (Abschnitt I-VI: theoriehistorische Skizze, danach eigener Ansatz) 3.3 Sehiehtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status In den ffinfziger und sechziger Jahren wurde das Ungleichheitsgef'tige hfiufig durch Prestigemodelle charakterisiert. Unter ,,Prestige" ist laut Lexikon zur Soziologie die ,,Bezeichnung f~ir die Wertschatzung, die eine Person oder eine Gruppe (z.B. eine Berufsgruppe) bzw. die Inhaber eines sozialen Status geniel3en"zu verstehen (Klima 1994: 512). Prestige ist damit dem Status recht nahe, der die Stellung eines Positionsinhabers ausdrfickt. Der Status z.B. einer Berufsposition wie der des Polizisten kann beispielsweise auf Prestige (also auf der Wertsch~itzung) beruhen, aber z.B. auch auf der Qualifikation oder dem Einkommen. Das Prestige ist das soziale Ansehen, das man nicht verwechseln darf mit einem Ansehen aufgrund pers6nlicher Merkmale. Das Prestige des Polizisten ist also unabhangig davon, ob ein einzelner, mir bekannter Polizist besonders fleiBig, fiihig usw. ist oder nicht. Ein weiteres begriffiiches Problem ist die Einordnung yon ,,Prestige" als objektives oder subjektives Ungleichheitsmerkmal. Einerseits kann man Prestige als objektive Ressource ansehen, die ebenso wie z.B. das Einkommen in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Andererseits ist Prestige immer das Ergebnis einer subjektiven Wertung, ist nicht nach einem festen Ma/3stab z~ihlbar wie z.B. das monatliche Einkommen in Euro. F~ir Wegener sind beide Aspekte des Be-
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
griffs ,,Prestige" untrennbar verkntipft: ,,Sein Spezifikum ist, dass es sowohl subjektive Meinungsbildung als auch Abbild einer sozialen Strukturkomponente ist" (Wegener 1988: 22).
E x k u r s z u m ,, S t a t u s "
Auf die N~ihe zwischen dem Status und dem Prestige wurde bereits hingewiesen. Das Lexikon zur Soziologie definiert ,,Status" als ,,mehr oder minder hohe Position in der Schichtungshierarchie ... hinsichtlich eines beliebigen hierarchiebildenden Schichtkriteriums" (Laatz 1994: 644). Der Autor fagt jedoch hinzu, dass der Begriff aberwiegend auf Hierarchien sozialer Wertsch~tzung angewandt werde (anhand eines Kriteriums, z.B. Besitz, Beruf oder Macht; ebd.). Hradil erg~inzt, der Bezug auf die Stellung im Prestigegef'tige sei vor allem ffir die - in diesem Kapitel behandelte - ~ltere Schichtungsforschung charakteristisch, die neuere Literatur sehe Status als bessere oder schlechtere Stellung im Oben oder Unten verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit an. Dies ist indes nicht immer ganz unproblematisch, etwa bei vieldimensionalen Aspekten wie ,,Arbeitsbedingungen" oder Beziehungsungleichheiten, z.B. anhand von ,,Sozialintegration". Hinzu kommt, wie sp~ter noch zu zeigen sein wird, das Problem einer zunehmenden Statusinkonsistenz, dass also beispielsweise jemand mit einem hoben Einkommen eine niedrige Bildung hat, dass allgemein sein Status nach verschiedenen Ungleichheitsmerkmalen keine fihnlichen Auspr~igungen aufweist (Hradil 1999: 29). Auch unabh/ingig von dieser Entwicklung variieren Statuskriterien je nach Gesellschaft und innerhalb einer Gesellschaft nach Milieu, Zeitpunkt etc. So kann in einem Milieu der Besitz eines besonders schnellen und teuren Autos als Statussymbol fungieren, was Mitglieder eines anderen Milieus vielleicht h6chstens milde bel~cheln. Die Variation von Statuskriterien im Zeitverlauf hat wiederum etwas damit zu tun, dass sich Statussymbole, die die soziale Umwelt als solche wahrnehmen und anerkennen muss, wandeln. Wenn sich viele Menschen einen Mittelklassewagen leisten k6nnen oder das Abitur machen, verliert das Statussymbol durch diese ,,Inflation" an Exklusivit~it, an Wert (vgl. auch Abels 2001: Kap. 7). In den bisher dargestellten Ans~tzen ist der Status, mindestens indirekt, bereits bei Weber zur Sprache gekommen in dem Begriff des Standes, der eine soziale Statusgruppe beschreibt (allerdings bedicksichtigt der Begriff des Standes Beziehungen zwischen Gruppen vielleicht noch etwas st~irker als die oft auf Verteilungsungleichheiten konzentrierten Stamsgruppen). Parsons nennt ausdrficklich Kriterien (Eigentum, Leistungen, Autorit~t etc.), aus denen der Ge-
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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samtstatus eines Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft resultiert. Auch spfitere Ans~itze thematisieren den Status zumindest implizit. Abels bemerkt beispielsweise, dass man Bourdieu (vgl. Kap. 6) auch als ,,Schilderung eines Klassenkampfes um den sozialen Status" lesen k6nne (a.a.O.: 252). Status spielt schlieBlich eine Rolle in theoretischen Ans~itzen, die sich nicht in erster Linie mit sozialer Ungleichheit besch~iftigen. Beispielsweise sieht der Symbolische Interaktionismus die wechselseitige Statusbestimmung als ein Element zur Definition der Situation an. In der Rollentheorie ist die Rolle der dynamische Aspekt eines Status, also eines Platzes, den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten System einnimmt (Linton 1973 (zuerst 1945)). Dabei kann man zwischen zugeschriebenem (z.B. aufgrund von Alter oder Geschlecht) und erworbenem Status (aufgrund von Leistung) unterscheiden (vgl. Abels 2001 : Kap. 7). Vor weiteren begriffiichen und kritischen Anmerkungen soll nun an einigen Beispielen gezeigt werden, wie Prestigemodelle das gesellschaftliche Ungleichheitsgefage in den ft~nfziger/sechziger Jahren darstellten. Dieses Geffige verstehen die Autoren als Schichtung (nicht etwa als Klasse). Far einige dieser Studien dienten US-amerikanische Forschungen als Vorbild, z.B. yon W.L. Warner et al., die in den dreiBiger und vierziger Jahren vor allem Gemeinden - als eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft - auf ihre Ungleichheitsstrukturen untersuchten (vgl. z.B. Warner et al. 1963). Warner verwendet den Begriff ,,class" recht often im Sinne von Schichten, die sich dutch bewertende Einstufungen konstituieren: ,,By social class is meant two or more orders of people who are believed to be, and are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and inferior positions" (1963: 36). Prestige ist damit das zentrale Kriterium. An die Schicht sind weitere Merkmale gebunden, z.B. Heiratskreise oder allgemein Vor- und Nachteile far die Mitglieder. Nach der Verwendung von zun/ichst aufwgndigeren Erhebungsmethoden arbeiteten Warner et al. mit einem Index zur Feststellung von Prestige, der die Merkmale Beruf, Art des Einkommens, Haustyp und Wohngegend enthielt. Im Ergebnis fand Warner drei iibereinander liegende Schichten, die jeweils zweigeteilt sind. Die Mehrheit der Bev61kerung ist dabei in der unteren Mitte/dem oberen Unten angesiedelt (in der Gemeinde ,,Yankee City" z.B. zusammen fiber 60%; Warner 1963: 43). Herzog betont, dass Warner auf diese Weise ,,reale" Schichten voneinander abgrenzen will, mit denen entsprechende Verhaltens-
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
muster und ein Bewusstsein von den sozialen Unterschieden einhergehen (1965: 79). Wie kam es dazu, dass gerade diese amerikanischen Forschungen als Vorbild for deutsche Untersuchungen ab den ftinfziger Jahren dienten? Hradil nennt mehrere Grt~nde (1987: 80f.): Abgesehen von finanziellen Hilfen der USA far empirische Erhebungen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Klima des Strebens nach gleichen Wettbewerbschancen in der sozialen Marktwirtschaft, zu dem die relativ ,,konfliktfreien" Prestigemodelle besser passten als z.B. den Konflikt oder die 6konomischen Ungleichheiten betonenden Klassenmodelle. Zudem spielte eine allgemeine Hegemonie des Strukturfunktionalismus eine Rolle (vgl. Kap. 2.4), mit dem Prestigekonzepte verbunden sind, unter anderem, weil sie einen relativen Wertekonsens (z.B. Prestigeeinstufungen betreffend) unterstellen. Auch bei der funktionalistischen Schichtungstheorie geht es darum, gesellschaftliche Bewertungen von Positionen als Grundlage flir ein hierarchisches Belohnungssystem, das SchichtgefiJge, anzusehen. Nach dieser Einordnung von Prestigemodellen im weiteren Sinne zu amerikanischen Vorbildem sollen folgende Beispiele genauer dargestellt werden: 1. 2. 3.
H. Moore / G. Kleining (1960): Gesellschaftsschichten nach sozialer Selbsteinstufung E.K. Scheuch (unter Mitarbeit von H. Daheim) (1961): Prestigeschichten durch Indexbildung K.M. Bolte et al. (1967): Das ,,Zwiebel"-Modell
H. Moore / G. Kleining In dem Ansatz von Moore und Kleining ist - wie in vielen Untersuchungen - der Beruf fOr die Schichteinstufung zentral, und zwar w~ihlten sie als methodisches Verfahren die soziale Selbsteinstufung (SSE). Die Befragten erhielten eine Liste mit neun Gruppen zu je vier Berufen als Beispiel und sollten sich selbst in die Gruppe einordnen, die dem eigenen Beruf am n~ichsten kam. Die Forscher schlossen dann von dieser Eingruppiemng auf die soziale Schicht (die Zuordnungen hatten sie zuvor durch eine Reihe von Tests und durch Anlehnung an die Untersuchungen von Warner et al. entwickelt). Die Schichteinstufung, die sich ergibt, hat nach dem Anspruch der Autoren einen Erkenntnisgewinn fiber die Berufsgliederung hinaus. Anhand der Berufe und ihrer Rangfolge l~isst sich die Schicht bestimmen, diese wiederum hat Einfluss auf andere Lebensbereiche:
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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,,Wir finden ganz fihnliche Differenzierungen [wie f'tir den Berufsaspekt, N.B.] auch auf vielen anderen Gebieten, zum Beispiel im Sektor der Familie (etwa der Kindererziehung), des Konsums, der Meinungen ... der Kleidung, der Sprache und so weiter" (1960: 92). Ftir die obersten und die untersten Schichten gelte dies allerdings nur eingeschr~nkt, weil sich diese Menschen nicht in erster Linie durch ihre berufliche T~itigkeit definierten. AuBerdem gilt f'tir die Schichteinstufung, dass sie vom Mann und seinem Beruf ausgeht und dann auf seine Familie tibertragen wird, weil man davon ausgeht, dass die Familie die kleinste Einheit der Gesellschaftsordnung und daher einheitlich einer Schicht zuzuordnen ist. Danach ist die Einstufung des Mannes auch auf die Frau und gegebenenfalls Kinder tibertragbar. Das Ergebnis lautet, dass es eine breite Mitte gibt: Die untere Mittelschicht und die obere Unterschicht machen insgesamt 58% der Bev61kemng aus, die fibrigen verteilen sich gleichermagen darunter und darfiber. Sowohl die untere Mittelschicht als auch die obere Unterschicht untergliedern die Autoren nochreals in einen industriellen und einen nicht-industriellen Teil. Die Charakterisierung der einzelnen Schichten umfasst nicht allein die Angabe zugeh6riger Berufe, sondern auch weitere Charakteristika (die die Forscher durch offene Befragungen ermittelten). So geh6ren etwa zur mittleren Mittelschicht ,,mittlere" Angestellte wie Btirovorsteher, Fachschullehrer oder Inhaber mittelgroger Gesch~fte. Typisch ist beispielsweise ihre ,,bfirgerliche" Einstellung, sie sehen sich als fiber dem Durchschnitt der Bev01kerung platziert und sind gewissenhafte Spezialisten, die die bestehende Ordnung s~tzen. Insgesamt fanden Moore und Kleining eine recht grol3e 15bereinstimmung mit den Ergebnissen Warners, was sie so erklg,ren, dass es sich in beiden F~llen um die Untersuchung einer typisch industriellen Gesellschaft handele. Der Schichtenautbau in Deutschland sei allerdings noch differenzierter (a.a.O.: 90). Im 121berblick verteilen sich die Schichten wie folgt:
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Abbildung 5."
Schichtenaufbau in Deutschland nach Moore/Kleining
Schicht Oberschicht Obere Mittelschicht Mittlere Mittelschicht Untere Mittelschicht: nicht industriell industriell Obere Unterschicht: nicht-industriell industriell Untere Unterschicht Sozial Verachtete Quelle: Moore/Kleining 1960:91 -
-
-
-
Anteil 1% 5% 15% 17% 13% 10% 18% 17% 4%
Bis in die siebziger Jahre gab es Folgestudien mit Hilfe der Selbsteinstufung; die Resultate erwiesen sich dabei als relativ stabil (Kleining/Moore 1968: 546f.; Kleining 1975: 273).
E.K. Scheuch Eine andere Methode zur Messung von Prestige ist die Verwendung von Indizes (wie z.B. auch bei Warner et al.). Dabei sucht man nach Kriterien, nach Indikatoren, die in gebtindelter Form das Prestige anzeigen. Wiederum ist der Beruf bzw. ist die Berufsgruppe (z.B. anhand der Internationalen Standardklassifikation der Berufe ISCO) ein zentrales Kriterium. Teilweise berticksichtigt man jedoch auch mehrere Kriterien. Dabei ordnet der Forscher z.B. je nach Einkommensh6he, Nationalit~it usw. Punktwerte zu und addiert diese mit entsprechender Gewichtung zu einem Gesamtwert, der das Prestige anzeigt. Wie man die Punktwerte und Gewichtungen vergibt, ergibt sich aus Bewertungen, die man z.B. zuvor durch Befragungen erhoben hat (z.B. erhielten in der Untersuchung von Scheuch Personen t'tir ihre Schulbildung bei mittlerer Reife 9 Punkte und bei einem Hochschulabschluss 20 Punkte). Bei der Entwicklung des Instruments orientierte sich Scheuch ebenso wie Moore und Kleining an einigen amerikanischen Vorbildern, ohne diese ungepriift zu iJbertragen. Scheuch verwendete in einer ersten Fassung einen Index mit neun Variablen, reduzierte sie aber sp~iter auf drei Merkmale, die als ,,die" Merkmale schlechthin zur deskriptiven Bestimmung einer Schichtzugeh6rigkeit gelten: Schulbildung, Beruf und Einkommen (1961: 68).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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Ausdrficklich betont auch Scheuch, dass das Sozialprestige ,,ein besonders guter Zugang zur Erkl/irung der sozialen Schichtung" ist oder auch ,,ein Symptom far Prinzipien des hierarchischen Aufbaus der Gesellschaft" (a.a.O.: 66). Seine Einteilung /ihnelt, wenngleich methodisch auf einem etwas anderen Weg erhoben, den Ergebnissen von Moore und Kleining. Auch im Modell von Scheuch konzentrieren sich die meisten Menschen in der unteren Mittelschicht bzw. oberen Unterschicht.
Abbildung 6.
Soziale Schichtung nach Scheuch
Schicht
Anteil der Eingeordneten* Oberschicht 2,5% Obere Mittelschicht 6,1% Mittlere Mittelschicht 14,6% Untere Mittelschicht 20,7% Obere Unterschicht 36,6% Untere Unterschicht 19,5% * 18% liegen sich aufgrund unvollst/indiger Angaben nicht einordnen. Quelle: Scheuch 1961: 103, Hradil 1999:287
K.A~ Bolte Wenn man sich die beiden Tabellen zur Verteilung der Schichten anschaut, kann man sich durchaus das Bild einer Zwiebel mit schmalen Bereichen oben und unten sowie einer breiten ,,unteren Mitte" vorstellen. Bolte et al. ziehen diese Schlussfolgerung nach der Betrachtung auch weiterer Untersuchungen zum Thema (z.B. untersuchte Mayntz (1958) den Statusaufbau in Euskirchen l~ mit Hilfe eines multiplen Index, legte jedoch keine Schichtgrenzen fest, vgl. Bolte et al. 1967: 294f.). Zudem hatte Bolte selbst eine Untersuchung zu Statusunterschieden in norddeutschen Wohngemeinden durchgef'dhrt (Bolte 1963). Dort stellte er vier Typen von Statusdifferenzierungen auf, die sich insbesondere danach unterschieden, ob Schichten, soziale ,,Ballungen" oder eher Kontinua das Statusgefage pr/igten. Der Begriff der Schichten war hier far Gruppierungen vorbehalten, die sich hinsichtlich ihres Ranges als eigenst/indige Gruppe empfanden (anderen gegenaber also als h6her oder tiefer stehend), sich entsprechend verhielten und daher klar abgegrenzt werden konnten. Solche Abgrenzungen
:~Zur StrukturEuskirchensim Zeitvergleichs.a. Friedrichset al. 2002.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
verlaufen bei sozialen ,,Ballungen" fliel3end und sind bei einem Kontinuum gar nicht bestimmbar (1963: 157; Typen auch in Bolte et al. 1967: 285-293). Dadurch, dass das Zwiebelmodell eine zusammenfassende Sichtweise aus den Resultaten mehrerer Untersuchungen ist, verschwimmt der Unterschied, ob es sich hier um einen Statusaufbau oder - wie es in sp~teren Auflagen des Buches unpr~ziser und nichts ausschlief3end heil3t - einen ,,Prestigestatusautbau" (z.B. Bolte/Hradil 1988: 220) handelt. Prestige geht in die Betrachtung des Status jedenfalls ein. Statusgruppen bilden allein noch nicht ,,reale" Schichten, sondern diese werden im yon Bolte benutzten Wortsinn verwendet. Daraus ergibt sich, dass die ,,Zwiebel" nicht in vertikal fibereinander liegende Bereiche gegliedert ist, sondern es entstehen l~lberlappungen, die Abbildung 7 wiedergibt. Bolte et al. gehen davon aus, dass der Beruf in bestimmten Grenzen das Einkommen, den Lebensstil, den Umgang mit anderen etc. prfigt. Es gibt aber keine eindeutige Verknfipfung des Berufsstatus mit anderen Statuslagen. Entsprechend gilt: ,,In unserer Gesellschaft gibt es vielf~iltige Statusdifferenzierungen, aber der Statusaufbau der Gesellschaft ist nicht in klar abgegrenzte Schichten unterteilt. Am stgrksten sind Schichtungstendenzen oben und vor allem ganz unten im Statusaufbau. Zwischen diesen ... gibt es einen weitgehend flie/3enden 10bergang vom H6her zum Tiefer, in dem viele Gesellschaftsmitglieder nicht einmal einen prfizise bestimmbaren gesellschaftlichen Status haben ... Insgesamt ist die MiRe ... eine Art Sammelbecken der differenziertesten Bev61kerungsgruppen, die nicht nur fiber- und untereinander, sondern auch nebeneinander erscheinen" (1967:313f.).
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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Abbildung 7." Das Ungleichheitsgeffige Deutschlands in den 60er Jahren nach Bolte
-r
Bezeichnung der Statuszone
Anteil
OberscHcht
ca. 2 v. H.
obere Mitte
ca. 5 v, H.
mittlere Mitre
ca. 14 v.H,
untere MiRe unterste Mitte/ oberes Unten
ca. (29) } - 58 v.H. ca. (29)
Unten
ca. 1 7 v. H.
Sozial Verachtete
ca. 4 v.H.
Die Markierungen in der breRen Mitte bedeuten: D
Angeh6rige des so genannten neuen Mittelstandes Angeh6rige des so genannten alten Mittelstandes Angeh6rige der so genannten Arbeiterschaft
Punkte zeigen an, dass ein bestimrnter gesellschaftlicher Status fixiert werden kann. Senkrechte Striche weisen darauf hin, dass nut eine Zone bezeichnet werden kann, innerhalb deter jemand etwa im Statusaufbau liegt. Mitflere Mitte nach der VorsteHung der Bev61kerung Mitte nach der Verteilung der Bev61kerung. 50 v. H. liegen oberhalb bzw. im Statusaufbau.
unterhalb
Quelle: Bolte et al. 1967:316 Diese Nicht-Bestimmbarkeit von Status deutet zum einen auf das Problem des Ansatzes hin, wie mit (zunehmenden) Statusinkonsistenzen umzugehen ist, wenn jemand also z.B. eine niedrige Bildung, aber ein mittleres Einkommen und ein hohes Ansehen als ehrenamtlicher Vereinsvorsitzender hat. Die Unsch~rfe des Bildes zeigt aber auch, dass sich bereits in den sechziger Jahren die Diskussion andeutete, die etwa ab dem Ende der siebziger Jahre intensiver geffihrt wurde und in der man eine (rein) vertikale Gliederung der Gesellschaft in Schichten als nicht mehr angemessen ablehnte.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Hradil schreibt zum Steltenwert von Prestigemodellen, dass diese bis weit in die sechziger Jahre hinein so dominierten, dass ,,soziale Schichtung" weitgehend mit Prestigedifferenzierung gleichgesetzt wurde (1987: 81). Auch in den siebziger Jahren gab es noch weitere Untersuchungen zum Prestige, die dabei jedoch teilweise nicht allein auf allgemeine Merkmale (wie z.B. den Schulabschluss), sondem auf konkretere Kriterien zurfickgriffen. So land Pappi in einer Gemeindeuntersuchung drei Schichten dadurch, dass er nach dem Beruf und dem der drei engsten Freunde fragte (Pappi t973). Reuband (1975) untersuchte, wie eng Befragte mit bestimmten Berufsgruppen verkehren wollten. K.U. Mayer (1977) ordnete Prestigegruppen anhand des Heiratsverhaltens. Heiratsbarrieren zwischen Berufsgruppen wiesen auf Prestigeabstufungen der Berufe hin, im Gegensatz zu Pappi schliel3t Mayer von den Statusgruppierungen jedoch nicht auf klar abgegrenzte Schichten: ,,Sie [die Statusgruppen; N.B.] sind jedoch eher durch graduelle Distanzen und kleine Zwischengruppen als durch wenige hohe Schichtbarrieren voneinander getrennt." (1977: 224). In den siebziger Jahren ging jedoch insgesamt die Verwendung von Prestigemodellen zurtick. Die letzte umfassende Studie zu Berufsschichtungsskalen z.B. wurde 1979/80 durchget'tihrt (in dieser Skala stand der Arztberuf an erster Stelle vor dem des Richters und des Professors; It. Hradil 1999: 283). Verschiedene Kritikpunkte an den Modellen und auch soziale Wandlungsprozesse sind daftir verantwortlich. Zentrale Kritikpunkte richten sich auf a. b.
die Unsch~irfe des Begriffs ,,Prestige", den Erkl~irungswert des Prestigeaufbaus f'tir gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen.
Ada): Der Begriff ,,Prestige" bleibt fiber die Alltagsbedeumng der Wertsch~itzung hinaus oft unklar, so dass nicht immer deutlich wird, was die Forscher messen. Es wurde bereits erw~ihnt, dass Prestige ein subjektives oder ein objektives Ungleichheitsmerkmal sein kann. Oft ist beides verknfipft, wenn Ans~itze davon ausgehen, dass subjektive Bewertungen einen Reflex auf objektive soziale Ungleichheiten darstellen, wenn also etwa die Bewertung des Polizistenberufes auch etwas tiber die Qualifikation oder die Einflusschancen aussagt. O.D. Duncan zeigte beispielsweise, dass Prestige in hohem Mage mit der Einkommenslage und dem Schulabschluss einhergeht (lt. Wegener 1985: 210). Daraus schlossen Kritiker allerdings, dass man in dem Fall besser diese Merkmale selbst als ein Ersatzmerkmal messen sollte, sie sprechen dem Bewertungsprozess also keine
3.3 Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status
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eigenst~indige Bedeutung zu (vgl. Herz 1983: 145). Etwas vage bleibt oft auch die Abgrenzung zum Status als eher ,,objektiver" Dimension und insgesamt, wie die Ursache-Wirkungs-Zusammenh~nge von Prestige, Statusmerkmalen, Lebenslagen und Lebensffihrung aussehen. Die Begriffsunsch~irfe kommt auch zum Ausdruck, wenn kritische Stimmen vorbringen, dass Prestigemodelle die eigenst~indige Bedeutung ,,objektiver" Mermale jenseits ihrer Bewertung zu wenig beracksichtigen (unter anderem als Reaktion darauf, dass sich in den sechziger Jahren erste wirtschaftliche Rezessionen ankandigten und damit der Glaube an Chancengleichheit und das dazu ,,passende", relativ konfliktfreie Bild des Prestigeaufbaus hinterfragt wurden). Als ,,objektive" Kriterien wurden dann aber oft genau die gleichen Merkmale gemessen wie in den vorigen Modellen, also z.B. die Bildung oder das Einkommen.
Einerseits ist Prestige yore pers6nlichen Ansehen getrennt. An anderen Stellen geht dieses Ansehen aber doch mit ein, wenn die relationale Bedeutung yon Prestige, also sein Ausdruck in konkreten Interaktionen hervorgehoben wird. Orientiert man sich in Untersuchungen an solchen konkreteren Interaktionen (z.B. in Gemeindestudien), kann dies den Vorteil haben, eine ,,lebensn~ihere" Beschreibung zu liefern, andererseits lassen sich entsprechende Ergebnisse teilweise schlecht auf die gesellschaftliche Ebene fibertragen. Ad b): Gibt es eine Verbindung vom Prestigeaufbau (z.B. der Berufe) zu ,,realen" Schichten mit spezifischen Verhaltensmustern und Einstellungen, vielleicht auch einem Wir-Geffihl? Die Abgrenzung yon (dazu oft nur vertikalen) Unterteilungen empfinden Kritiker h~iufig als kiinstliche und willktirliche Unterscheidung, die mit realen Abgrenzungen nichts zu tun hat. Hier spielt auch das Unbehagen am methodischen Vorgehen eine Rolle: Wenn z.B. Berufe bewertet werden sollen, trifft der Forscher eine - m6glicherweise verzerrende - Auswahl an Berufen, die er als bekannt und eindeutig bewertbar voraussetzt. Bei einer Indexbildung ist m6glicherweise die Vergabe yon Punkten und Gewichtungen zur Ermittlung einer Gesamtzahl recht beliebig. Ist es zudem vergleichbar, wenn etwa hohes Einkommen und niedrige Bildung die gleiche Gesamtzahl ergeben wie umgekehrt hohe Bildung und niedriges Einkommen? Es ist also bereits schwierig, die Prestigeabstufung selbst zu ermitteln. Es ist im n~ichsten Schritt noch problematischer, Einschnitte in dieser Skala festzulegen, die eigenst~ndige Einheiten (Schichten) bilden. Entsprechend wurde oft die Kritik gegul3ert, dass f'tir solche Entscheidungen ein theoretischer Ansatz notwendig sei.
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3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Diese Kritikpunkte gelten for Prestigemodelle bereits unter den sozialstrukturelten und gesellschafllichen Bedingungen der sechziger Jahre. Der soziale Wandel f'tihrt zus~tzlich dazu, dass sich WertmaBst~be starker ausdifferenzieren, eine einheitliche Prestigeskala also kaum mehr gemessen werden kann. Weiterhin stellen Statusinkonsistenzen nicht mehr nur eine Ausnahme dar, sondern kommen h~iufiger vor. Eine bestimmte Bildung geht also z.B. nicht unbedingt mit einem bestimmten Einkommen oder Wohntyp einher. Damit ist das allgemeine Sozialprestige weniger eindeutig am Beruf ablesbar als zuvor. Auf diesen Punkt der Bedeutung des sozialen Wandels wird sp~iter im Zusammenhang mit der Kritik an den Klassen- und Schichtmodellen allgemein genauer zurtickzukommen sein. Zun~ichst blieben in den siebziger Jahren jedoch Schichten ein vorherrschendes Modell zur Abbildung von Ungleichheitsstrukturen, auBerdem gab es eine Renaissance von Klassenmodellen. Lesehinweis:
Bolte, Karl Martin; Stefan Hradil (1988): Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Leske + Budrich, 6. Auflage, Kap. 6.4: Ungleichheit des Prestiges, S. 190-224 3.4 Neomarxistische Ans~itze in den siebziger Jahren In den siebziger Jahren gab es als eine Nebenstr6mung des ,,mainstreams" der Schichtungsforschung ein Aufleben neomarxistischer Ans~itze, die kontr~ir zu Schichtans~itzen die Sozialstruktur durch Klassenmodelle besser erfasst und erkl~irt sahen. Diese StrOmung ergab sich aus der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verh~iltnissen ab den sp~iten sechziger Jahren (eine Rolle ats Tr~iger von Kritik spielte z.B. der studentische Protest 1968, unter anderem gegen die Notstandsgesetze und ftir eine Hochschulreform; zudem gab es erstmals seit Beginn des ,,Wirtschaftswunders" wieder sinkende Okonomische Wachstumsraten, 1966/67 auch eine Rezession, vgl. GOrtemaker 2002). Dieser allgemeinen Kritik entsprach eine Kritik an Schichtmodellen, die die nach wie vor bestehenden groBen sozialen Gegens~tze zwischen den Klassen vernachl~issigen wtirden. Im Unterschied zu bisherigen theoretischen Positionierungen ordnen sich Vertreter dieser Ans~tze meist eindeutig einer (linken) politisehen Richtung zu. Leisewitz etwa beginnt sein Buch tiber ,,Klassen in der Bundesrepublik Deutschland heute" (1977) damit, dass die Klassengesellschaft als zutreffendes
3.4 Neomarxistische AnsS.tze in den siebziger Jahren
59
Bild von Gesellschaft nicht nur von konservativen Publizisten, sondern auch von Nhrenden Sozialdemokraten abgelehnt werde (1977: 7), etwas sp~iter stellt er die marxistische Klassentheorie einem ,,bfirgerlichen Gesellschaftsbild" gegenfiber (a.a.O.: 17). In dieser Gegent~berstellung wird deutlich, worin Leisewitz die Unterschiede und damit - aus seiner Sicht - die Vorteile der Klassenanalyse auch in der zweiten H~ilfte des 20. Jahrhunderts sieht: Nur die Klassentheorie kann die Ursachen von l)ber- und Unterordnungen erklgren, und zwar aus den grundlegenden Verh/iltnissen in der btirgerlichen Gesellschaft: aus der Steltung in der Wirtschaft und dem Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt nicht nur unterschiedliche, sondem auch gegens/itzliche Klasseninteressen, was notwendigerweise zu Konflikten ~hrt. Klassenmodelle liefern nicht allein eine beschreibende Momentaufnahme, sondern sehen dynamisch den Klassenkampf als zentrale Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Dazu ist es allerdings notwendig, politische Unterstiitzung zu leisten, so mtisse man die Tatsache, dass die Bundesrepublik eine Klassengesellschaft sei, in der die Arbeiter und Angestellten ihre Interessen nur gegen die Untemehmer und ihren Staat durchsetzen kOnnten, unter den Arbeitern und Angestellten erst verbreiten (a.a.O.: 22). Zwei prominente Beispiele ftir neomarxistische Untersuchungen aus dieser Zeit sind die Analysen des Instituts ffir Marxistische Studien und Forschungen (IMSF 1974, Leisewitz 1977) und des Projekts Klassenanalyse (PKA; 1973, 1974; Bischoff et al. 1982). Ihre Ans~itze und Ergebnisse sollen bier kurz skizziert werden. Beiden Ans~itzen ist gemeinsam, dass sie neben der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse auch yon der Existenz von Mittelklassen ausgehen. Die Untersuchungen des IMSF und des PKA Das IMSF ziihlt, wie bereits Marx, Produktionsmittelbesitzer oder z.B. Manager zur Bourgeoisie. Es unterteilt die mittleren Klassen in selbst~indige Mittelschichten (ihre Produktionsmittel sind so gering, dass sie auch ihre eigene Arbeitskraft einsetzen mtissen und keine Kapitalakkumulation in grogem Stil betreiben k6nnen), die lohnabh~ingigen Mittelschichten (Leitungs- und Aufsichtspersonal, der Verkauf ihrer Arbeitskraft hat weniger entfalteten Warencharakter als bei den Arbeitern) sowie die selbst~indige und lohnabh~ingige Intelligenz (z.B. Arzte, Kiinstler, Spezialisten mit Hochschulabschluss). Leisewitz spricht ausdrficklich von Mittelschichten, weil es sich um Gruppierungen ban-
60
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
dele, die zwar in sozialen Beziehungen eine Rolle spielen k6nnen, beispielsweise als Bandnispartner far die beiden Klassen, die jedoch kaum selbst Initiative ergreifen oder eine eigenst/~ndige politische Position einnehmen, damit keinen Klassencharakter haben (Leisewitz 1977:150). Zur Arbeiterklasse geh6ren schlieBlich Lohnabhgngige, bei denen der Warencharakter der Arbeitskraft weitgehend entfaltet ist, die also nicht z.B. Spezialisten oder in einer leitenden Funktion sind, oder Arbeitslose. Zur Verteilung der Erwerbsbev61kerung auf die Klassen ergeben sich folgende Zahlen: 1950 betrug das Verhgltnis von Arbeiterklasse, Mittelschichten und Bourgeoisie 65% zu 32% zu 3%, 1974 dagegen 72% zu 22% zu 2% 12 (bei der Hochrechnung auf die Gesamtbev61kemng ergeben sich nur geringe Abweichungen, Leisewitz 1977:180-186, 193-196). Die ohnehin groge Arbeiterklasse hat sich hiernach im Wesentlichen auf Kosten der Mittelschichten - also nochmals erweitert. Erbsl6h et al., die die Prinzipien des IMSF auf Zahlen von 1985 anwenden, kommen t'dr diesen Zeitpunkt far die Erwerbsbev61kerung auf 73,5% zu 26,7% zu 0,8%, konstatieren also eine gleich bleibend sehr groBe Arbeiterklasse (Erbs16h et al. 1990: 70-72). Das Projekt Klassenanalyse (PKA) geht in erster Linie von ,,6konomischen Formbestimmungen" aus und definiert die Bourgeoisie ahnlich wie das IMSF als Produktionsmittelbesitzer (mit einem Mindestumfang an Produktionsmitteln, konkret bedeutet das, mindestens vier Besch~iftigte zu haben). Die Kapitalisten setzen sich zusammen aus aktiven, fungierenden Kapitalisten und Kapitaleigentfimern. In der Mitte gibt es Kleinuntemehmer mit nur geringem Profit (~ihnlich der selbstgndigen Mittelschicht beim IMSF) und die lohnabh~ingige Mittelklasse, zu der nach dieser Klassifizierung Arbeitnehmer geh6ren, deren Arbeitgeber nicht gewinnorientiert t~itig ist (z.B. der Staat oder Wohlfahrtsverb~nde). Die Lohnabh~ingigen dieser Klasse verkaufen zwar auch ihre Arbeitskraft, jedoch nicht an einen Kapitalisten im obigen Sinne. Zur Arbeiterklasse geh6ren neben den Arbeitslosen Arbeiter mit gewinnorientierten Arbeitgebem, die sich aufteilen in kommerzielle Lohnarbeiter (die mit bereits produzierten Waren umgehen, also im ,,Zirkulationsprozess des Kapitals arbeiten", PKA 1973: 263) und produktive Arbeiter, die direkt im Produktionsprozess t~itig sind. Innerhalb der Arbeiter gibt es nochmals eine hierarchische Schichtung nach ihrer Qualifikation (yon einfachen fiber technisch-wissenschaftliche T~tigkeiten bis zu Leitungsfunktionen). Diese Einteilung rechnet Personen mit hOherer Qualifikation also nicht per se zur
~zDass sich die Zahlen for 1974 nicht zu 100%addieren, ist ein Fehler, der bereits in den Angaben bei Leisewitz besteht, die Hochrechnungauf die Gesamtbev~51kemngsummiert sich dagegen auf 100%, hier ist das prozentuale Verh~ltnis von Arbeiter-, Mittelklasse und Kapitalisten 73:24:3 (Leisewitz 1977: 180-I86, 193-196)
3.4 Neomarxistische Ans~tze in den siebziger Jahren
61
Mittelklasse, was bei der Einteilung des IMSF durchaus ein bedeutsamer Faktor war. Die Zahlenverteilung zeigt hier Fdr t978 ebenfalls - wie beim IMSF - eine grol3e Arbeiterklasse von fast zwei Dritteln der Erwerbsbev61kerung] 3 31% gehOren zur Mittelklasse (20% lohnabh~ingige Mittelklasse, 11% Kleinbourgeoisie) und 3% zur Kapitalistenklasse (Bischoffet al. 1982: 72).
Abbildung 8:
Die Klassenstruktur der Erwerbsbev61kerung 1978 It. Modell des PKA [] Arbeiterklasse (kornmerzielle und produktive Arbeiter, Arbeitslose)
3%
31~
[] Mittelklassen (kleine Selbst~ndige oder Arbeitgeber ohne Gew innorientierung)
8%
[] Bourgeoisie
Quelle: Bischoff et al. 1982:72 Das PKA sch~itzt die Arbeiterklasse der siebziger Jahre etwas kleiner ein als das IMSF, und zwar zugunsten der Mittelklasse, wahrend die Bourgoisie bei beiden Ans~itzen etwa 2 bis 3% ausmacht. Der hohe Anteil der Arbeiterklasse setzt sich fort, wenn man die Fortschreibung der Kategorien des PKA durch Erbsl6h et al. f'tir 1985 betrachtet, allerdings expandiert auch die lohnabhangige Mittelklasse (Erbsl6h et al. 1990: 78s Alle neomarxistischen Klassenmodelle gehen also (wie Marx fiber ein Jahrhundert zuvor) von einer grogen Arbeiterklasse und einer nur sehr kleinen Bour~3Einen noch h0heren AnteiI der Arbeiterklasse berechnen TjaderdTjaden-Steinhauer mit t~ber 83% far 1970. Zur Arbeiterklasse geh0ren hier alle lohnabh~ngigenArbeiter, Angestellten und Beamten auger einer Spitzengruppe, die Kapitalisten machen knapp 2% der Erwerbsbev01kerung aus, for Sondergruppen (z.B. kleine Selbst~tndige)verbleiben etwa t5% (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 1973: 198-200).
62
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
geoisie aus. Graphisch vorgestellt sind die Modelle damit weit entfernt von dem Zwiebelmodell der Schichtungsforschung, eher handelt es sich um eine Pyramide oder einen sehr bauchigen Regentropfen; dabei muss man allerdings beriicksichtigen, dass die Modelle von unvereinbaren Interessengegens~itzen der Klassen ausgehen, eine auch nur graphische N~ihe damit dem Konzept m/Sglicherweise nicht angemessen ist. Wie sind diese Ans~itze zu bewerten? Die Bemerkung, dasses sich hier um eine Nebenstr6mung handelt, deutet Kritik von anderen Seiten bereits an. Sp~testens, wenn man Mittelklassen im Modell hinzuftigt und die Klassen in sich auch noch welter differenziert, gibt es ein Problem, das auch Schichtkonzepte haben: Wo sind Grenzlinien zu ziehen? Die Klassenans~itze wollen einerseits die theoretisch getroffene Vorannahme aufrechterhalten, dass die Produktionsverh~iltnisse der zentrale Faktor f'ur die Klassenbildung sind, andererseits wollen sie durch Differenzierungen die Lebensn~ihe ihres Modells demonstrieren. Die Beispiele zeigen, dass die L6sungen daf'tir, wer in welche Klasse geh6rt, durchaus recht unterschiedlich sein k6nnen. Lohnabh~ingige mit h6heren Qualifikationen k6nnen etwa laut PKA durchaus noch zur Arbeiterklasse z~ihlen, wghrend das 1MSF sie zur Mittelschicht z~hlen wtirde. Im Modell des PKA befinden sich durch die sehr weite Definition der Arbeiterklasse ungelernte Arbeiter und hochqualifizierte Angestellte in der Privatwirtschaft in der gleichen Klasse, w~thrend ein im 6ffentlichen Dienst Angestellter mit der gleichen Qualifikation zur Mittelklasse geh6rt. Ab wann die Arbeitskraft einen ,,weitgehend entfalteten" Warencharakter hat - dies ist eine Kategorie, nach der das IMSF einteilt -, ist kaum klar allgemein festzulegen. Die skeptische Frage, die sich ergibt, lautet, ob bei diesen - unterschiedlichen - Einteilungen der postulierte Interessengegensatz zwischen den Klassen deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Frage untersuchen auch Erbsl6h et al. anhand ihrer Fortschreibungen der Modelle. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Zuordnung zu einem Bewusstseinsindex (zwischen den Polen ,,pro Arbeit" und ,,pro Kapital") nicht vollst~indig stimmig ist (z.B. waren beim Modell des PKA die Mittelschichten weniger ,,kapitalistisch" eingestellt als die Gesamtgruppe der Arbeiter, beim Modell des IMSF war die Systematik innerhalb der Mittelschichten nicht ganz stimmig; Erbsl6h et al. 1990: 73, 81f.). Trotz der theoretischen Anbindung (deren Fehlen der Schichtungsforschung oft als Mangel vorgehalten wurde) gelingt es den neomarxistischen Klassenmodellen also anscheinend nicht, lebensnghere Modelle als die Schichtungsforschung zu entwickeln. Hradil betrachtet dies sogar als ,,das grunds~itzliche Dilemma marxistischer Ungleichheitstheoretiker, die zwischen der Marxschen Theorie einerseits und Lebensn~he andererseits zu wghlen haben" (1999: 356).
3.4 Neomarxistische Ans~itze in den siebziger Jahren
63
Zwar gibt es auch aus sp~iterer Sicht Stimmen, die die Vorteile dieser Analysen hervorheben. So schreibt M. Koch 1994: ,,Der Ansatz des Projekts Klassenanalyse (PICA) gilt als der bislang gelungenste Versuch, ausgehend von den Kategorien des Verwertungsprozesses, den 6konomischen Formbestimmungen, zu einer auch empirisch fundierten Differenzierung der Klassenstruktur vorzudringen" (1994: 42). Doch sind solche Bewertungen die Ausnahme, eher betonen Autoren, wie unergiebig die Auseinandersetzungen zwischen Klassen- und Schichttheoretikern schon in den siebziger Jahren waren (Hradil 1999: 357) oder dass die neomarxistischen Modelle zumindest heute kaum noch vertreten wtirden, weil sie wenig fiberzeugend seien (z.B. Geif31er 1992: 66). Dies heiBt allerdings nicht, dass der Klassenbegriff in der heutigen Ungleichheitsforschung vollst~indig obsolet geworden ist (vgl. Kap. 4.2), sondern nur, dass er in dieser vergleichsweise engen Auslegung Marxscher Theorie weniger verwendet wird. GeiBler macht zudem darauf aufmerksam, dass die Kontroverse zwischen Klassen und Schichten in den siebziger Jahren immerhin dazu geftihrt babe, dass auch Schichtungstheoretiker 6konomische Faktoren und die insgesamt weiterhin bestehenden markanten Unterschiede in den Lebensbedingungen verst~irkt berticksichtigt h~itten (1992: 66). Es lieBe sich hinzufagen, dass die Klassenforscher die genannten Vorteile, die sie f'tir sich beanspruchten (die theoretische Ausrichtung, keine Vemachl~issigung der Konfliktperspektive und lgngerfristiger Verl~iufe), zwar nicht in ein alle tiberzeugendes Modell umsetzen konnten, diese Aspekte aber in der ungleichheitstheoretischen Debatte zumindest in der Diskussion blieben. In den siebziger Jahren gab es keine L6sung in der Kontroverse um Klassen und Schichten. Die Suche nach einer L6sung innerhalb dieser theoretischen Richtungen wurde dann ab den achtziger Jahren davon abgel6st, beide zu kritisieren und nach anderen Mode|len zu suchen, die das Ungleichheitsgeftige in einer mittlerweile erheblich ver~tnderten Gesellschaft angemessen abbilden konnten. Lesehinweis." Erbsl6h, Barbara et al. (1990): Ende der Klassengesellschaft? Eine empirische Studie zu Sozialstruktur und Bewusstsein in der Bundesrepublik, Regensburg: Transfer, S. 65-82
64
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika von Klassen- und Schiehtmodellen
Die Diskussion um Ungleichheitsmodelle in den fanfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts umfasst verschiedene Ans~itze. Schelsky lehnt in den fiinfziger Jahren eine klare Schichtung zugunsten einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ganz ab. Dahrendorf geht davon aus, dass die Schichtstruktur von den Normen abh~ingt, die die Herrschenden mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen. Dabei gibt es nicht nur eine Klasse yon Herrschenden, sondern vielf~iltige Herrschaftsverb~inde. In seinem ,,Haus-Modell" konkretisiert er die soziale Schichtung in Deutschland Mitre der sechziger Jahre. Prestigemodelle betonen, dass Schichtstrukturen durch das soziale Ansehen, durch die Wertsch~itzung von Positionen erkennbar seien. Insbesondere die Wertsch~itzung des Berufes, Bildung und Einkommen spielen dabei eine zentrale Rolle. In den siebziger Jahren stellen neomarxistische Ansgitze eine Nebenstr6mung neben der Schichtungsforschung dar, die wiederum st~irker auf Herrschafts- und Unterdrfickungsverh~iltnisse aufmerksam machen will. Von den einzelnen Varianten und Entwicklungstendenzen abstrahierend, sind zusammenfassend folgende Merkmale fifr Klassenmodelle kennzeichnend: 9
9
9
9
()konomische Aspekte stehen im Vordergrund. Insbesondere die Stellung im Produktionsprozess und der Besitz oder der Nicht-Besitz yon Produktionsmitteln sind ffir die Klassenlage der Individuen verantwortlich, so dass sich als Hauptklassen das Proletariat und die Bourgeoisie ergeben. Zwischenklassen k6nnen aber zusgtzlich Berticksichtigung finden (z.B. bei Webers Verst~indnis von ,,Klasse" oder bei den neomarxistischen Modellen). Die Zugeh6rigkeit zu einer Klasse hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, auf innere Haltungen der Individuen und ihr Handeln. Spezifische Klasseninteressen k6nnen unter Umst~inden zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein ffihren. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Relationen zwischen den Klassen, deren Interessen die Forscher als gegens~itzlich ansehen: Die Modelte betonen den Klassenkonflikt, allerdings nicht iiberall in gleich scharfer Form (z.B. hebt Dahrendorf hervor, dass der Klassenkonflikt durch eine Institutionalisierung an Intensit~it verloren habe). Teilweise ergreifen die Autoren dabei die Partei der unterdrfickten Arbeiterklasse. Die Betrachtung dieser Relationen bringt es mit sich, dass das theoretische Interesse nicht nur auf eine Momentaufnahme gerichtet ist, sondem auf Prozesse. Damit sind weniger individuelle Mobilit~itsprozesse gemeint (im Klassenmodell hat z.B. das Proletariat wenig Aufstiegschancen), sondern
3.5 Zusammenfassung: Charakteristika yon Klassen- und Schichtmodellen
65
l~ingerfristig der Klassenkonflikt als der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung. Klassenmodelle wollen in erster Linie anhand des theoretischen Modells die Ursachen der sozialen Ungleichheit und den sozialen Wandel analysieren. Weniger geht es um eine mi3glichst genaue Beschreibung der Lebensbedingungen. Demgegentiber lassen sich Schichtmodelle im engeren Sinne auf entsprechend allgemeiner Ebene quasi spiegelbildlich so kennzeichnen: 9
9
9
9 9
Die Beschreibung ungleicher Lebensbedingungen, damit ungleicher Lebenschancen, steht im Vordergrund. Auch Vertreter von Schichtmodellen gehen davon aus, dass die Zugeh6rigkeit zu einer - in sich relativ homogen e n - Schicht Einfluss auf Einstellungen und Verhalten hat (z.B. auf Heiratskreise); eine Schicht stellt jedoch nicht automatisch eine Interessengruppe dar. Die Schichten mfissen sich nicht antagonistisch gegentiber stehen. Die Kriterien zur Zuordnung in eine bestimmte Schicht sind hgufig, theoretisch aber nicht notwendigerweise, sozio6konomisch orientiert, gegebenenfalls mit bestimmten soziokulturetlen Erg~inzungen: H~iufig zentral sind die ~ugeren Merkmale Beruf (bzw. Berufsprestige), Bildung und Einkommen (bei eindimensionalen Modellen ist meist die Stellung im Beruf das ausschlaggebende Kriterium; z.B. Hartfiel 1978: 99). Die Bedeutung der einzelnen Kriterien Dr die Schichtzugeh6rigkeit kann je nach Gesellschaft und betrachtetem Zeitraum variieren. Nach den ausgew~hlten Kriterien ergibt sich eine vorwiegend vertikale Abstufung yon mindestens drei Schichten. Es handelt sich also um einen hierarchischen Aufbau mit Untergliederungen, nicht etwa um die Vorstellung eines Kontinuums. Wie die Ans~,tze die genaue Abgrenzung von Schichten vornehmen, ist nicht theoretisch vorbestimmt, und an den 0berg~ingen k6nnen die an sich klar voneinander getrennten Schichten unscharf sein. Eine Prozessbetrachtung meint in der Schichtungsforschung eher die Auswirkungen individueller Mobilit~it, die als durchaus m6glich angesehen wird (indem z.B. der Einzelne mehr leistet und so beruflich aufsteigt). Aufgrund der Mobilitgtschancen geht es nicht in erster Linie darum, Ungleichheiten m6glichst zu beseitigen, sondem die Ansgtze sehen soziale Ungleichheit mindestens teilweise als notwendig f'tir die Aufrechterhalmng der gesellschaftlichen Ordnung an (so der funktionalistische Schichtungsansatz).
66
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
Im Vergleich dieser Charakteristika k6nnte ein Klassentheoretiker gegen Schichtungsans~itze - vielleicht etwas tiberspitzt formuliert - argumentieren, diese seien zu statisch und zu wenig theoretisch angelegt. Sie seien lediglich beschreibend mit willktirlichen Abgrenzungen, ohne die Ursachen der Ungleichheir und den sozialen Wandel angemessen zu bert~cksichtigen. Auf3erdem beachteten Schichtmodelle die sich aus den bedeutsamen sozialen Ungleichheiten ergebenden Konfliktpotentiate und Herrschaftsverh~ltnisse zu wenig, seien mehr aufHarmonie und Integration hin orientiert. Umgekehrt k6nnte ein Schichtungsforscher Klassenmodelle ablehnen mit dem Hinweis, diese seien zu undifferenziert, weil sie mit dem Hauptkriterium des Eigentums an Produktionsmitteln zu wenige Merkmale berticksichtigten. Auch Mobilit~itsprozesse warden vemachl~issigt. K6nnte die Analyse gerade noch fiir gesellschaftliche Verh~iltnisse im 19. Jahrhundert stimmig sein, so sei sie doch far die Gesellschaft im 20. Jahrhundert schlicht realit~itsfem, sowohl hinsichtlich der Konstruktion und Abgrenzung der Klassen als auch hinsichtlich der Annahme eines unvereinbaren Interessengegensatzes. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten von Klassen- und Schichtmodellen. Dazu geh6rt, dass beide Ans~itze die Gesellschaft vertikal in ungleichheitsrelevante Gruppen unterteilen, meist anhand von 6konomisch ausgerichteten Dimensionen. Die Zugeh6rigkeit zu einer Klasse oder Schicht ffihrt aul3erdem in der Regel zu typischen Handlungsorientierungen. 3.6 Kritik an den ,,alten" Klassen- und Schichtmodellen Die Kritik, die Ungleichheitsforscher ab den achtziger Jahren an den Klassenund SchichtmodeIlen ~iul3erten, geht fiber die theoretischen Probleme hinaus, fdr die diese Modelle bis in die siebziger Jahre keine L6sung gefunden hatten. Einschneidende Prozesse sozialen Wandels (insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren) lief3en die traditionellen Herangehensweisen zur Erfassung und Erkl/irung sozialer Ungleichheit noch weniger angemessen erscheinen. Ein wichtiger Aspekt des Wandels in Deutschland ist die soziale Differenzierung, die sich mit einem erh6hten Lebensstandard f'tir die Mehrheit der Bev61kemng, mit der Absicherung durch den Wohlfahrtsstaat und der Bildungsexpansion immer weiter ausbildete. Einen (allein allerdings noch nicht hinreichenden) Hinweis auf die Ausdifferenzierung stellt beispielsweise die ver~inderte subjektive Zuordnung dar: Die wenigsten identifizieren sich heute noch mit einer sozialen GroBgruppe wie z.B. der ,,Arbeiterklasse". Und auch die Vielfalt der Familien- und Haushaltsformen weist auf die Differenzierungsprozesse hin, die Beck zusammenfassend als ,,Individualisiemngsschub" kennzeichnet (vgl. Kap. 8).
3.6 Kritik an den ,,alten" Klassen- und Schichtmodellen
67
Verschiedene Autoren kritisieren die traditionelle Ungleichheitsforschung als unzureichend, weil sie eben diese Differenzierung und Pluralisierung von Lebensweisen nicht erfasse (als Beispiele Bolte 1990, Hradil 1999: 358t".). Pluralisierung schliegt - so z.B. Hradil (1992) - ein, dass ~hnliche objektive Lebensbedingungen (z.B. der gleiche Beruf) h~iufig mit sehr verschiedenen Lebensstilen und auch unterschiedlichen subjektiven Zuordnungen zu bestimmten Milieus (zu diesen Begriffen vgl. Kap 5) verbunden sind, wobei die Vielfalt von Gruppierungen mit je typischen Lebensweisen und Werthaltungen erheblich zugenommen hat. So k6nnte ein dreiNgj~riger Schlossergeselle einen Teil seiner Freizeit im Schrebergarten verbringen, w~ihrend sein gleichaltriger Kollege geme Punkkonzerte besucht. Eine einfache Zuordnung von einigen wenigen ,,objektiven" Merkmalen - wie z.B. dem formalen Bildungsabschluss - zu einer bestimmten Schicht oder Gruppierung oder zu subjektiven Zugeh6rigkeiten und Verhaltensweisen trifft hiernach den Kern der Sozialstruktur heute nicht mehr. Durch die genannten sozialen Prozesse ergeben sich zudem ,, neue" Ungleichheiten bzw. eine neue Aufmerksamkeit flir bestimmte Aspekte sozialer Ungleichheit in der 6ffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion. Viele Aspekte lassen sich nicht (mehr) auf die bislang tiblichen Dimensionen wie Bildung oder den Beruf zurfickft~hren. Dazu zfihlen z.B. Freizeit, soziale Sicherheit (z.B. Arbeitsplatzsicherheit) oder Wohnen. Allgemeiner gesagt treten die LebensverhNtnisse als Dimensionen neben Ressourcen (wie z.B. das Erwerbseinkommen). So kann man die Perspektive beispielsweise auch auf Nichterwerbst~tige oder auf die Ungleichverteilung (wohlfahrts-)staatlicher Leistungen und Einrichtungen erweitern. Ein h~iufiges Stichwort im Zusammenhang mit der Erweiterung von Ungleichheitsdimensionen sind ,,horizontale" Ungleichheiten. Hierbei handelt es sich um Merkmale, die far sich genommen keine Rangfolge implizieren, z.B. die Auspdigungen von Nationalit~t, Geschlecht, Region oder Kohorte (ira Gegensatz zu vertikalen Merkmalen wie z.B. mehr oder weniger Einkommen, h6here oder niedrigere Bildung etc.). Diese Ungleichheiten sind nicht neu, die Merkmale erhalten aber in neueren Modellen sozialer Ungleichheit eine eigenst~indige Bedeutung. Auch sie lassen sich nicht umstandslos auf wenige andere Merkmale (z.B. die Bildung) zurfickflihren. Die Nationalit~it oder das Geschlecht beispielsweise k6nnten die beruflichen Aufstiegschancen auch bei sonst gleicher Qualifikation positiv oder negativ beeinflussen. Mit horizontalen Ungleichheiten ist auf der Ebene des Ungleichheitsgefages aber damit zusammenh~ngend auch gemeint, dass sich mehrere Gruppen auf der gleichen vertikalen Stufe ausdifferenzieren k6nnen (z.B. bei Milieumodellen, die auf einer horizontalen Achse z.B. nach Altersgruppen oder Werten differenziert sind, vgl. Kap. 5.2). Mit der Berficksichtigung zahlreicher Ungleichheitsmerkmale ist die Annahme verbunden, dass Statusinkonsistenzen der Regelfall werden, die traditio-
68
3 Klassen und Schichten in der Diskussion
nelle Modelle kaum in ihr Konzept integrieren k6nnen. Ging man frfiher eher davon aus, dass der Status einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen gleich oder ~hnlich sei (so dass z.B. eine Person mit einer bestimmten Bildung auch ein bestimmtes Einkommen hat, sich in einer entsprechenden Wohnsituation befindet etc.), so sind heute h~iufiger Inkonsistenzen festzustellen, nicht allein aufgrund der Existenz neuer Dimensionen, sondern auch aufgrund ihrer vielfgltigen Kombinationen (vgl. dazu die Konsistenzberechnung bei Schwenk 1999: 24). In besonderem AusmaB sind Personen in mittleren Statuszonen yon Statusinkosistenzen betroffen, z.B. ein mittlerer Beamter mit einer hohen sozialen Sicherheit, aber relativ geringem Einkommen (s.a. Hradil 1987: Kap. 1; ders. 1992: 160). Die Kritik lautet also: Herk6mmliche Modelle konzentrieren sich zu stark auf wenige, meist 6konomische Ursachen und Dimensionen sozialer Ungleichheit (zentral z.B. auf den Beruf) und beracksichtigen damit vorwiegend vertikale Abstufungen von Gmppen Erwerbst~ttiger (die Einordnung anderer Personen nehmen sie oft nur abgeleitet vor, fiber den ,,Haushaltsvorstand" oder einen frfiheren Beruf). Von zusfitzlichen Merkmalen nehmen diese Modelle - f~ilschlicherweise - an, dass sie typischerweise mit den Klassen oder Schichten einhergehen. Zu solchen Merkmalen ztihlen weitere Lebensbedingungen wie Umweltbedingungen oder die ethnische Zugeh6rigkeit, aber auch Denk- und Handlungsmuster. Zudem betrachten die Analysen meist nur einen Nationalstaat ohne Vergleiche mit anderen L~ndem. Weitere Kritikpunkte an Klassen- und Schichtmodellen, die mit der dargestellten Vemachl~issigung von Differenzierung und ihren Konsequenzen zusammenh~ingen, lauten: Die Modelle sind zu abstrakt. Als kanstliche Konstruktion mit kfinstlichen Abgrenzungen besitzen sie keine Entsprechung in der Erfahrungswelt oder im Bewusstsein der Individuen. Diese ordnen sich und andere im Alltag nicht nach den Schemata dieser Modelle ein. Mit Bolte lieBe sich erg~inzen, dass das Fehlen eines dominanten und sichtbaren Kriteriums sozialer Ungleichheit (z.B. eindeutige Statussymbole) eine Einordnung in die GroBgruppe einer Schicht zus~itzlich erschwert (Bolte 1990: 40f.). Die Modelle (insbesondere der Schichtbegriff) sind zudem zu statisch. Den Wandel der Sozialstruktur und Bewegungen der Individuen innerhalb der Sozialstruktur erfassen sie nur unzureichend. Aufgrund dieser Argumente fehlt den herk6mmlichen Konzepten nach Meinung der Kritiker somit der notwendige theoretische Erkli~rungswert (vgl. auch Geigler 1994: 12-17). Diese M~ngel ffihrten unter anderem in der wissenschaftlichen Diskussion dazu, ,,Schichtung" oft durch ,,Ungleichheit" als neutraleren Oberbegriff ffir den zentralen Forschungsgegenstand zu ersetzen.
3.6 Kritik an den ,,alten" Klassen- und Schichtmodellen
69
Als Zusammenfassung soil zur Beurteilung der bisherigen Modelle folgendes Zitat dienen: ,,Vielleicht stellt die mit der Berufshierarchie verkn~ipfte Schichtungsstruktur nach wie vor den ,harten Kern' des Ge~ges sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften dar. Insgesamt kann es aber kaum mehr als Schichtungsgeffige beschrieben werden. Dazu spielen auBer6konomische Ursachen, auBerberufliche Determinanten, ,neue' Dimensionen, komplexe Soziallagen und nichtdeterminierte Milieu- und Lebensstilbindungen eine zu wichtige Rolle" (Hradil 1992: 162). Diese von fast allen Ungleichheitsforschern in dieser Zeit ge~iuf3erte Kritik flihrte dazu, nach der Aufkandigung des ,,Minimalkonsenses strukturierter sozialer Ungleichheit" (H.-P. Maller 1992: t 1) nach modifizierten oder neuen Modellen zur Darstellung und Erkl~irung sozialer Ungleichheitsph~inomene zu suchen. Die verschiedenen LOsungen sollen im folgenden Teil vorgestellt werden.
Teil II: Neuere Ans/itze z u r sozialen Ungleichheit
4
Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
4.1 Neuere Schichtansiitze AIs Vertreter dieser Position ist insbesondere Rainer GeiBler zu nennen. Er bestreitet keineswegs gesellschaftliche Ver~inderungen, die die Modifizierung und Erweiterung bisheriger Schichtmodelle notwendig machen. Er ist aber andererseits der Ansicht, dass viele neuere Ansgtze zur Erforschung sozialer Ungleichheit (die in den folgenden Kapiteln n~iher dargestellt werden) tiber das Ziel hinausgeschossen seien und nun die durchaus fortbestehende und fl~r die Lebenschancen relevante soziale Schichtung vemachl~ssigen w~irden, somit auch die sozialkritische Haltung einer solchen Theorieperspektive verloren gehe. Sein Haupteinwand gegen Modelle, die er als Mainstream der Sozialstrukturanalyse seit den achtziger Jahren ansieht, lautet zusammengefasst: ,,Mit der unkritischen Fokussiemng auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Btick ftir weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrfibt. Es besteht die Tendenz, dass vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden." (Geigler 1996: 323). Er selbst vertritt demgegent~ber die Position, dass ,,nicht die Aufl6sung der Klassen und Schichten ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses [ist], sondern die Herausbildung einer dynamischeren und pluraleren Schichtstrukmr" (a.a.O.: 332). Schicht versteht er im Sinne Geigers als Oberbegriff, der konkreter ,,Gruppierungen mit ~ihnlicher Soziallage und damit verknfipften typischen Subkulturen und Lebenschancen" meint (GeiBler 2002:11724). In f'anf Thesen nennt er weitere Kennzeichen einer modernen Klassen- und Schichtstruktur (1996: 332-335): 1.
Vertikale Strukturen sind nur eine Dimension in einem multidimensionalen Gef'tige, in dem auch z.B. Geschlecht oder Ethnie eine Rolle spielen.
~4Die vierte Auflage des Buchesvon 2006 weisthinsichttichdes Schichtmodellskeinewesentlichen Anderungen auf.
74
4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
2.
Die vertikale Dimension ist in diesem GeCtige weiterhin dominant. Die Bildung und der Beruf beeinflussen in hohem MaBe die Lebenschancen definiert als Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden (GeiBler 1994: 4) (w~ihrend z.B. die Lebensstilforschung das Alter als weiteren wichtigen Einflussfaktor hervorhebt, vgl. Kap. 5.1). Beispielsweise gibt es immer noch groBe schichtspezifische Unterschiede im schulischen Bildungsbereich, die die Reformen in den sechziger Jahren nicht beseitigt haben (weitere Beispiele zum Einfluss sozialer Schichtung auf verschiedene Lebensbereiche in GeiBler (Hg.) 1994, 2002). Schichten sind nicht durch klare Grenzen getrennt. Mit bestimmten Bildungs-Berufs-Kombinationen sind typisch, aber nicht notwendigerweise, Ressourcen, Haltungen und Lebenschancen verkntipft. Die moderne Schichtstruktur ist eher latent und einer Alltagsbeobachtung off entzogen. Jenseits dieser ,,lebensweltlichen Oberfl~che" (GeiBler 1996: 333) oder von Moden in der sozialwissenschafllichen und 6ffentlichen Diskussion bestehen sie in der ,,Tiefenstruktur" einer Gesellschafl jedoch weiter fort. Ein Kern von stark schichtspezifisch gepr~igten Segmenten der Sozialstruktur ist - wie in einem Modell konzentrischer Kreise - umgeben yon Zonen mittlerer oder nur sehr schwach schichtspezifischer Segmente. Damit beeinflusst die Schichtzugeh6rigkeit bestimmte Handlungsweisen stO.rker als andere: Etwa ist die Teilnahme an Bundestagswahlen relativ schichtneutral, w~hrend aktive Parteiarbeit in hohem MaBe durch die Schicht gepr~igt ist. Solche Modifizierungen stellen den schichtspezifischen Kern jedoch nicht in Frage.
3. 4.
5.
Gegent~ber einem Klassenmodell sieht GeiBler die Vorteile eines Schichtgeftiges darin, dass Schichten (im engeren Sinne) weniger auf die Stellung des Menschen im Wirtschaftsprozess fixiert seien (1994: 23). Geil31er weist darauf hin, dass bereits Theodor Geiger viele Kennzeichen eiher modernen Sozialstruktur erkannte (vgl. Kap. 2.3), z.B. die multidimensionale Sichtweise mit einer Offenheit ftir neue Formen sozialer Ungleichheit oder die Erkenntnis, dass sich Schichten ~berlappen k6nnen und dass sie Mentalit~iten typischerweise, aber nicht deterministisch pr~gen. Die Hauptstr6mungen der neueren Sozialstrukturanalyse h~tten Geigers Erkenntnisse danach zu Unrecht vemachl~issigt, sie h~itten Einseitigkeiten durch eine Berficksichtigung Geigers vermeiden k6nnen (vgl. auch GeiBler 1985: 404-406). Schroth stellt ebenfalls Geigers Aktualit~it heraus und nimmt eine empirische Untersuchung yon Geigers Schichtmodell mit Daten von 1993 und 1996 vor (Schroth 1999: Kap. 5). Es
4.1 Neuere Schichtansgtze
75
zeigten sich unter anderem deutliche Mentalit~itsunterschiede in einer unteren und in einer gehobenen Soziallage, weniger deutliche jedoch in den Mittellagen (a.a.O.: 103). Geil31er beruft sich bei der Erarbeitung eines konkreten Modells der sozialen Schichtung neben Geiger auf Dahrendorf (der seinerseits auf Geiger zurfickgreift und dessen Konzept ebenfalls den Begriff der Lebenschancen beinhaltet) und m6chte dessen Haus-Modell (vgl. Kap. 3.2) modemisieren. Eine wichtige Rolle bei der Schichteinteilung spielt der Beruf, der laut Geigler nach wie vor mit verschiedenen anderen Merkmalen einhergeht: Er ,,[btindelt] verschiedene Faktoren wie Funktion in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Qualifikation, Einkommen, Prestige und Einfluss" (2002:1 18)] s Weiter zieht er Mentalit~iten, Subkulturen, Lebenschancen und Ethnie heran (ohne dies genauer auszufl~hren). Es ergibt sich das in Abbildung 9 dargestellte Bild flir die soziale Schichtung der westdeutschen WohnbevNkerung im Jahr 2000.
~5 Demgegenaber hatte Geil31er 1994 vermutet, dass die Berufsdimension langfristig an strukturpragenderKrafteinbaf3e,die Bildungsdimensiondafar an Bedeutunggewinne(1994: 24).
76
4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Abbildung 9." Das Schichtmodell nach GeiBler Machteliten (unter 1%)
SelbststAndiger Mittelstand h6here Dienstleistungsschicht 23%
"
~
_
~,
,,
mittlere Dienstleistungsschicht 22 % ~ ........ ~ArbeitereliteS
~
2%
gelemt 6% ausfQhrende Dienstleistungsschicht un-, angelernt
,
Facharbeiter14%
_
~"
ausl~ndischer Mittelstand 2%
Bauern
1%
"u
n
ausl&ndische Facharbeiter
un-, angelernte Arbeiter 12%
3% i,,,. Armutsgrenze - unterhalb leben etwa 7 % der Deutschen und 21% der Ausl&nder
r---] Deutsche
Ausl~nder
1 Selbstst&ndige, mittlere und h6here Dienstleister Datenbasis: SOEP 2000; N = 17.850; berechnet von Stefan Weick.
Quelle: Geil3ler 2002:119 Im Vergleich zu Dahrendorfs Modell far die sechziger Jahre ,,hat sich das vergleichsweise einfache Wohnhaus ... inzwischen in eine ansehnliche Residenz mit Komfortappartements verwandelt ... zum anderen sind die Decken und W~inde noch durchl~ssiger geworden" (2002: 120). Im Vergleich zu den achtziger Jahren (GeiBler 1992: 76) hat vor allem die hShere Dienstleistungsschicht an Bedeutung gewonnen, w~ihrend sich der Anteil einiger anderer Schichten reduziert hat (z.B. sank der Anteil der Arbeiterelite yon 12% auf 2%). Fiir Ostdeutschland fehlt bislang der Entwurf eines differenzierten Schichtmodells. Nach der subjektiven Schichteinstufung ist dieser Teil Deutschlands bisher eine ,,Ar-
4.1 Neuere Schichtans~itze
77
beitergesellschaft" geblieben, eine Ann~iherung an die westdeutsche ,,Mittelschichtengesellschaft" l~isst sich vorsichtig als Tendenz formulieren (Geil31er 2002: 121f.). Allerdings ist eine subjektive Schichteinstufung allein kein Nachweis ftir die Existenz einer geschichteten Gesellschaft, Befragte h~itten sich vielleicht ebenfalls z.B. in vorgegebene Milieus eingeordnet. Kritisch ist gegen GeiBler einzuwenden, dass er andere Ans~itze zur sozialen Ungleichheit (abgesehen von einigen Ausnahmen) relativ pauschal abwertet. Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, geht es bei anderen neueren Ans~itzen durchaus nicht allein darum, sich an der bunten Vielfalt sozialer Erscheinungsformen zu erfreuen, sondem ebenfalls darum, differenzierte Zusammenh~inge zur Sozialstmktur festzustellen. Das schlieBt auch - abet nicht allein die Pr~gung durch vertikale Merkmale ein. Einige Milieumodelle (z.B. die SINUS-Milieus, vgl. Kap. 5.2) sind sogar ausdrficklich eng mit einem Schichtmodell verbunden, erweitern es aber um einige Dimensionen. Den Entwurf seines eigenen, modernisierten Haus-Modells macht Geigler femer nicht sehr transparent: Wie hat er die konstituierenden Merkmale miteinander verknt~pft? Wie sind im Ergebnis Schichtzugeh6rigkeit und Mentalit~ten miteinancler verbunden, und ist tatsgchlich noch davon auszugehen, dass mit dem Beruf viele andere Merkmale einhergehen? Der frtiheren Schichtungsforschung war unter anderem ja gerade vorgeworfen worden, zunehmende Inkonsistenzen nicht erfassen zu k6nnen. Zudem gibt GeiBler selbst an, die Schichtstruktur sei ,,latenter" geworden (wodurch er sich der empirischen Prfifung seiner Thesen ein struck weit entzieht). Auch die Zuordnung zu einer Schicht nach dem Status des Haushaltsvorstandes, die GeiBler vornimmt, ist umstritten. Er sollte gegebenenfalls genauer herausstellen, worin die Modernisierung seines Konzeptes (bei aller Betonung der nach wie vor dominanten vertikalen Dimension) in dem konkreten Modell besteht. Die Betonung der gesellschaftskritischen Absicht durch die Verkntipfung mit Lebenschancen stellt schlieBlich einen wichtigen Aspekt in GeiBlers Ansatz dar, den es im Laufe der Entwicklung der Ungleichheitsmodelle bereits einmal gegeben hat. Warfen frtiher Klassentheoretiker den Verfechtern yon Schichtans~itzen vor, die Themen Macht, Herrschaft und soziale Ungerechtigkeiten zu vemachl~issigen, wiederholt sich nun das Argument bei GeiBler als Vertreter eines modernisierten Schichtmodells gegenfiber anderen Ans~tzen sozialer Ungleichheit, die z.B. andere Begriffe zur Kennzeichnung eines Ungleichheitsgef(iges als Klasse oder Schicht benutzen.
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Zusammenfassung
In Anlehnung an das Schichtungsmodell Geigers betont Rainer GeiBler die Ntitzlichkeit eines dynamischen und pluralen Schichtmodells. Bei aller Modernisierung diirften for die Gegenwart angemessene Modelle sozialer Ungleichheit die Bedeumng vertikaler Strukturen nicht vernachl~ssigen. Lesehinweis :
GeiBler, Rainer (1996): Kein Abschied von Klasse und Schicht. Ideologische Gefahren der deutschen Sozialstrukturanalyse; in: K61ner Zeitschrift far Soziologie und Sozialpsychologie, 48. Jg., H. 2, S. 319-338
4.2 Neuere Klassenmodelle
So wie Schichtmodelle heben auch Klassenans~itze hervor, dass man bisherige Strukturierungen sozialer Ungleichheit bei allen Ver~inderungen und trotz berechtigter Kritikpunkte an den ~lteren Ans~itzen nicht leichtfertig aufgeben sollte. Dies beruht unter anderem auf der Ansicht, dass bestehende vertikale Ungleichheitsaspekte und Herrschaftsverh~iltnisse in anderen Modellen schnell unterbelichtet sein k6nnten (so stellt etwa Hadler (2003) fest, dass die Bev/31kerung in dreiBig yon ihm untersuchten L~indern nach wie vor vertikale Konflikte wahrnehme). Die Autoren versuchen in ihrer Argumentation daher, den weiterhin bestehenden Erkl~irungsbeitrag gerade von Klassenmodellen zu verdeutlichen. Klassenmodelle gibt es zum einen in der englischsprachigen Diskussion mit Einfluss auch auf deutsche Sozialstrukturans~itze. Als international beachtete Beispiele - auch in Form empirischer Umsetzungen - werden in diesem Zusammenhang 6fter z.B. die Ans~itze aus den achtziger Jahren von E.O. Wright oder J.H. Goldthorpe genannt. Dabei ist Wright (USA) einer marxistisch orientierten Richtung zuzuordnen, w~ihrend Goldthorpe (GB) eher eine Fortf'tihrung yon Webers Konzept zugeschrieben wird. Beide Ans~itze sollen in ihren Grundzagen kurz dargestellt werden. Als Beispiel far deutsche Autorinnen und Autoren, die mit dem Klassenbegriff operieren, soll im Anschluss daran die Argumentation von W. Mtfller skizziert werden, der unter anderem auf eine differenzierte Variante des Klassenschemas von Goldthorpe zurtickgreift. R. Kreckel benutzt eine andere Begrifflichkeit, die von ,,Zentrum" und ,,Peripherie", doch riJckt er durch die Betonung
4.2 Neuere Klassenmodelle
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der prim~ren Asymmetrie von Kapital und Arbeit ebenfalts in die N~ihe von Klassenmodellen. Der Ansatz des franz6sischen Soziologen P. Bourdieu wird in einem gesonderten Kapitel behandelt, weil er ein eigenes Klassenmodell mit einem anderen Ansatz (Lebensstilen) zu einem komplexen Theoriegeftige verkntipft (vgl. Kap. 6). E. O. Wright
Erik Olin Wright legte Ende der siebziger Jahre ein Klassenmodell vor, das er in der Mitte der achtziger Jahre zu einer neuen Version fiberarbeitete (Wright 1985a, 1985b, 1989). Wie schon die neomarxistischen Ans~itze der siebziger Jahre geht er nicht nur yon Bourgeoisie und Proletariat, sondern auch vonder Existenz yon Mittelklassen aus. In dem ,,alten" Modell ftigt er den beiden Hauptklassen eine dritte hinzu, das Kleinbfirgertum, und identifiziert zudem widersp~chliche Zwischenklassen (z.B. Manager oder ,,semi-autonome" Arbeitnehmer). Die Notwendigkeit ftir eine neue Variante seines Modells sah er unter anderem deshalb gegeben, weil das bisherige Modell den Aspekt der Ausbeutung noch zu wenig berticksichtigte, zudem gab es theoretische und empirische Probleme beim Umgang mit den bisherigen Zwischenklassen. In der neueren Variante (1985a), die unter anderem auf spieltheoretische Anregungen (von J. Roemer) zurfickgreifl, beruhen die Klassenverh~iltnisse auf der Ausbeutung anhand von drei Ressourcen dazu: Produktionsmittelbesitz, daneben aber auch Organisationsmacht und Qualifikation. Ausbeuter verf'tigen fiber diese Mittel, Ausgebeutete nicht, dazwischen gibt es KIassen, die entweder eine geringe Menge dieser Ressourcen besitzen (,,alte" Mittelklasse) oder zwar von einer Dimension viel, yon anderen aber nichts (,,neue" Mittelklasse; Wright 1985b: 47). Das folgende Schaubild zeigt die zw61f Klassen, die sich nach diesere Konstruktionsprinzip ergeben:
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
Abbildung 10: Das Klassenmodell nach Wright Besitz an Produktionsmitteln
Ausbeuter
Nichtbesitz an Produktionsmitteln (Lohnarbeit) Ausbeuter wederAusbeuter ausgebeutet noch ausgebeutet 10) fachlich 1) Bargertum (Bourgeoisie) 4)fachlich 7)fachlich qualifi- ~ilweisequalifi- nicht qualifiDiese haben gen/igend zie~eManager zierte Manager Kapital, um Arbeitnehmer zie~e zu besch~.ftigenund selbst Manager nicht arbeiten zu m~issen I 1) fachlich Ausstattung 5) fachlich 8) fachlich 2) Kleine Arbeitgeber mit Organiqualifi- teilweisequalifi- nicht qualifiDiese haben gen~gend ~ationsmacht zierte Aufsichts- zierte AufKapital, um Arbeitnehmer zierte sichtspersonen Aufsichts- ~ersonen zu beschaftigen, massen aber selbst mitarbeiten )ersonen
weder Ausbeuter noch ausgebeutet ausge- ,3) Kleinbarger beutet Diese haben gentigend Kapital zur Selbst&ndigkeit, aber nicht zur Beschafti:gung yon Arbeitnehmern
12) ,,Proletarier" 6) fachlich 9) fachlich qualifi- teilweisequalifi- (Arbeiterklasse) zierte zierte Arbeiter NichtManager Ausstattung mit Qualifikation Quelle: Hradil 1999:114 ((dbersetzung des Modells in Wright 1985a: 88) Damit legt Wright ein in recht hohem Mage differenziertes Klassenmodell vor, in dem die Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital jedoch welter einen zentralen Stellenwert einnimmt. Dabei haben die Mittelktassen durchaus einen Einfluss auf den Klassenkonflikt: ,,It is no longer axiomatic that the proletariat is the unique, or perhaps even universally the central, rival to the capitalist class for class power in capitalist society" (Wright 1985a: 89). In einer empirischen Uberprtifung far die Bundesrepublik Deutschland bescheinigen Erbsl6h et al. (1990) Wrights Modell Erkl~irungskraft far Einkommensunterschiede und mit Einschrgnkungen auch far ein typisches Bewusstsein (das Modell erklgrte diese Unterschiede besser als z.B. die Ansgtze des PKA oder IMSF, auch stellte das neuere Modell Wrights tats~ichlich eine Verbesserung gegentiber der glteren Variante dar). Die Autoren kommen zu einer insgesamt positiven Einschgtzung von Wrights Ansatz und damit dem Klassenmodell. Zumindest ist ,,Klasse" ihres Erachtens eine nt~tzliche Kategorie far die Analyse sozialer Ungleichheit, wenngteich nicht unbedingt die einzige, etwa lassen sich askriptive Dimensionen wie das Geschlecht nur schwer in das Klassenmodell integrieren.
4.2 Neuere Klassenmodelle
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Dies weist aufKritik auch an Wright hin: Zwar m6chte er Klasse und Geschlecht weder als einheitliche, noch als vollkommen getrennte Ungleichheitsstrukturen ansehen, und er unternimmt mit der Kategorie von ,,mittelbaren Klassenbeziehungen" (durch Beziehungen zu Familienmitgliedern oder dem Staat) einen Vorstol3, beide zu verbinden (Wright 1998). Doch vernachlgssigt sein Modell tendenziell nicht nur das Geschlecht, sondem auch andere - auBerwirtschaftliche - Aspekte sozialer Ungleichheit. Auch weitere Aspekte, die for die Klassenanalyse traditionell bedeutsam sind, sind bei Wright weniger zentral. Zwar gibt es beispielsweise einen Hinweis auf verschiedene Kombinationen von relevanten Ausbeutungsressourcen je nach Gesellschaftstyp. Jedoch kritisiert z.B. Hradil, dass Wright ingesamt weniger Prozessen nachgehe, z.B. Prozessen der Bildung von Klassenbewusstsein oder von politischen Konflikten. Dies flihrt Hradil zu der Kritik, dass Wright mit seiner Ausdifferenzierung eher in die Breite als in die Tiefe gegangen sei (Hradil 1999:115). Erbsl6h et al. (1990) sowie Koch (1994) ffihren zudem ein theoretisches Problem an: Die Dimensionen der Qualifikation und Organisationsmacht k6nnen zu mehr oder weniger Ausbeutung durch das Kapital ft~hren, dass sie jedoch ein Ausbeutungsverhgltnis zwischen den Arbeitnehmern beg~nden sollen, erscheint ihnen weniger plausibel. Erbsl6h et al. finden es daher sinnvoller, von einem Modell mehrdimensionaler Handlungsressourcen als von Ausbeutung zu sprechen. Koch resfimiert: Der Verdienst von Wrights Ansatz liege in einer empirischen Fundiemng der Klassenanalyse, jedoch bleibe es unklar, ,,welche Probleme der Klassentheorie durch ihre ausbeutungs- und spieltheoretische Rekonstruktion eigentlich gel6st worden sind" (Koch 1994: 87).
,ZH. Goldthorpe Wie oben angedeutet, ist John H. Goldthorpes Beitrag als nicht-marxistisches Klassenmodell einzustufen, das unter anderem auch in Deutschland bei der Allgemeinen Bev61kerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) empirisch eingesetzt wurde (siehe z.B. im Datenreport des Statistischen Bundesamtes 2006: 591). Hradil sieht es sogar als das derzeit international am meisten verwendete Schema an (1999: 363). Diese empirische Umsetzung entspricht Goldthorpes Vorstellung vonder Klassenanalyse als Forschungsprogramm (Goldthorpe 1996: 481). Das Modell ful3t zentral auf dem Beruf, der die Arbeitssituation und die Marktlage reflektieren soll und damit Macht- und Marktorientierung (Marx und Weber) verbindet. Goldthorpe entwickelte, ebenso wie Wright, mehrere Varianten des Modells. Nach der theoretischen Leitidee sind verschiedene Merkmale for die Klassen konstitutiv wie Einkommensquelle und -h6he, die Arbeitsplatz-
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4 Modifizierte Klassen- und Schichtmodelle
sicherheit oder Befdrderungschancen, faktisch erfolgt die Einteilung nach beruflicher Stellung und der internationalen Standardklassifikation von Berufen ISCO (Zerger 2000: 53). Charakteristisch sind flir das Modell insbesondere die ,,Dienstklassen" (die es z.B. auch im Modell von Dahrendorf gab). FUr eine Zuordnung sind weniger die Arbeitsinhalte wichtig (dass man eine Dienstleistung erbringt), sondem das Dienstverh~iltnis, das eine relative Autonomie in dem Sinne meint, dass die Arbeit nur begrenzt einer Kontrolle unterliegt (und unterliegen kann). Dies gilt f~ir die obere Dienstklasse noch ausgepr~igter als f'tir die untere Dienstklasse. Wenn man Klassenpositionen insgesamt als Positionen versteht, die durch Besch~iftigungsverh~iltnisse definiert werden, so ist im ,,Dienstleistungsverh~iltnis" sowohl die Oberwachung der Arbeit schwierig als auch die Spezifit~it des Humankapitals (Qualifikation, Wissen) hoch, w~ihrend es beim ,Arbeitsvertrag", z.B. von Arbeitern, umgekehrt ist. In der Realit~it kommen nattMich auch Mischformen vor (Goldthorpe 2007). Die Klassen nach Goldthorpe (in der am h~iufigsten benutzten SiebenKlassen-Variante) lauten insgesamt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
(Obere und untere) Dienstklasse Nicht-manuelle Berufe mit Routinet~itigkeiten (damit geh6ren also nicht alle Dienstleistenden zur ,,Dienstklasse") KleinNirgertum Landwirte Facharbeiter An-/Ungelernte Landarbeiter (EriksordGoldthorpe 1992: 38f.).
Forschungsergebnisse ftihren in dieser Perspektive zur Schlussfolgerung: ,,What is revealed is a remarkable persistence of class-linked inequalities of classdifferentiated patterns of social action, even within periods of rapid change at the level of economic structure, social institutions, and political conjunctures" (Goldthorpe/Marshall 1997: 61). Mobilit~it (die flir Goldthorpe insgesamt ein wichtiges Thema darstellt) in und aus der Dienstklasse ist am ehesten als Auf- bzw. Abstieg interpretierbar, weitere Bewegungen zwischen den Klassen sind uneindeutiger, so dass nicht ganz deutlich wird, inwieweit das Modell als hierarchisch zu verstehen ist. Mit der Konzentration auf Berufsgruppen, so ein weiterer Kritikpunkt, erscheint die Grenzziehung zwischen Klassen ein wenig willktMich. Ein Kritikpunkt an anderen Klassenmodellen gilt zudem auch hier: Die Konzentration auf die Wirtschaft und
4.2 Neuere Klassenmodelle
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damit die Vemachl~issigung anderer Ungleichheitsbereiche und nicht-erwerbstgtiger Personen. Zerger ~iuBert anhand einer eigenen empirischen Oberprafung von Goldthorpes Modell Zweifel an dessen Leistungsf'~ihigkeit, well es nut bedingt klassenspezifische Einkommenslagen erkl~ire. Dartiber hinaus sei die Klassenlage nur far bestimmte Einstellungen und selbst dann nicht ftir alle Klassen gleichermagen einflussreich. Auch das Wahlverhalten sei eher von anderen Faktoren wie z.B. der Kohorte als yon der Klassenlage abhgngig (Zerger 2000: Kap. V). Aber es gibt auch positivere Einsch~tzungen. So kommt W. M[iller mit einer differenzierten Variante des Goldthorpe-Schemas (ebenfalls far das Wahlverhalten) zu dem Ergebnis, dass alte Konfliktfronten der Klassenspaltung im Wesentlichen erhalten geblieben seien (1998a: 37-40). VK MiiIler
Walter M~iller kann damit als Beispiel unter deutschen Forscherinnen und Forschern genannt werden, die mit einer modernen Form von Klassenanalyse arbeiten. Auch an der Nteren Diskussion um Modelle der Sozialstruktur nahm er bereits teil, beispielsweise schrieb er 1977 einen Beitrag zu ,,Klassenlagen und sozialen Lagen in der Bundesrepublik" (Maller 1977). Mtiller lehnt sich an den Klassenbegriff Max Webers an, so dass neben dem Besitz z.B. die Qualifikation einen wichtigen Faktor darstellt. Mtitler nimmt Differenzierungen verschiedener Klassenlagen vor, unter anderem unterscheidet er die abh~ingig Erwerbst~itigen in Personen mit manuellen und nicht-manuellen T~itigkeiten und weiterhin nach der Qualifikation. Auch in neueren Ver6ffentlichungen wendet er sich gegen eine l]berbetonung von Tendenzen der Entstrukturierung, insbesondere gegen die Individualierungsthese (vgl. Kap. 8). Keinesfalls m6chte er weitreichende Entwicklungen seit der Nachkriegszeit verleugnen, doch ist er der Meinung, dass man die Analyse der durch gesellschaftliche Bedingungen fortgesetzt produzierten sozialen Ungleichheit und ihrer Folgen nicht vemachl~issigen dtirfe (1996: 14). Auch heutzutage ist danach das Spannungsverhgltnis zwischen Kapital und Arbeit einer der zentralen gesellschaftlichen Konflikte, der durch das Eingreifen des (Wohlfahrts-)Staates und durch Differenzierungen im Bereich der lohnabh~ingigen Arbeit neue Formen angenommen hat (a.a.O.: 16). Unter anderem sind verschiedene Konfliktarenen entstanden (so auch Kreckel, s.u.). Ftir Analysen der Sozialstruktur unter diesen Bedingungen sieht W. Mtiller - und das ohne eine ,,Wiederbelebung" yon Marx - den Klassenbegriff als am besten geeignet an. Dieser scheint ihm flexibler zu sein als der seines Erachtens einseitiger rein auf
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Hierarchien gerichtete Schichtbegriff (a.a.O.: 17). Sein Verstgndnis von Klasse schlie6t nicht ein, dasses sich um einen kollektiven Akteur handelt. Auch bestimmt nicht das Sein umstandslos das Bewusstsein. Miiller m6chte jedoch nicht als Folge den Klassenbegriff far die Mikroebene des Handelns und der Deutungen vollkommen abschreiben. Hinsichtlich der Kriterien far die Klassenlage sollen multivariate Modelle zeigen, welche Ungleichheitsdimensionen theoretisch und empirisch das fiberzeugendste Erkl~rungspotential haben. Eine Diagnose der abnehmenden Erkl~irungskraft von Klassenzugeh6rigkeit ist aus dieser Sicht auch eine Folge davon, dass die meisten Studien keine ad~quaten Begriffe und Operationalisierungen verwenden wfirden (M~iller 1998a: 6). Auf der Basis dieses modernisierten Klassenkonzeptes beschgftigt sich Mfiller mit verschiedenen Feldern sozialer Ungleichheit, z.B. mit der Erklgrungskraft der Klassenzugeh6rigkeit far das Wahlverhalten (1997, 1998a) und mit sozialen Ungleichheiten im Bereich der Bildung. Wie erw/ihnt, stellt er far das Wahlverhalten eine fortbestehende Strukturierung durch die Klassenzugeh6rigkeit fest (1998a: 37-40). Auch im Bildungsbereich gibt es nach wie vor Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung; die Mechanismen der sozialen Reproduktion von Bildungsungleichheit sind MtHler zufolge sehr stark (1998b: 90). Ein relativer Abbau yon Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung ist zudem ein langfristiger Prozess, in dem die Bildungsexpansion in den sechziger Jahren keine Hauptrolle spielte. Weiter gibt es keine Entkopplung von Bildungs- und Besch~iftigungssystem: ,,Die Befunde weisen eher in Richtung der meritokratischen Logik" (1998b: 100). Und an anderer Stelle hei6t es ~ihnlich: ,,Das Ergebnismuster der langfristigen Ver~inderungen der Bildungsertr~ige list] nicht das einer generellen Bildungsinflation, es ist eher eines, das als zunehmende bildungsbezogene Schliegung der vorteilhaftesten Berufspositionen gekennzeichnet werden k6nnte" (2001: 58). Es gibt also danach keinen generellen Rfickgang der Bildungsertr~ige oder eine zunehmende Heterogenit~it innerhalb einer Bildungsgruppe. Die Befunde betreffen allerdings nicht die jfingsten Erwerbskohorten, far die einzelne Ergebnisse in eine andere Richtung weisen k6nnten (2001: 59). Insgesamt findet Mfiller durch die Befunde jedoch sein Argument bestfitigt, dass der Einfluss sozialstruktureller Merkmale - die er am ehesten als Klassenlage fassen will - aueh ~ber gesellschaftliche Ver~inderungen hinweg grol3 ist. Dies ist jedoch kein konsensuelles Ergebnis, wie die Besch~iftigung mit anderen neueren Ungleichheitsans~itzen zeigen wird.
4.2 Neuere Klassenmodelle
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R. K r e c k e l
Reinhard Kreckel hat in einer Ver6ffentlichung zur ,,politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit" (1992) 16 ein Modell zur Erfassung sozialer Ungleichheiten in modemen westlichen Gesellschaften vorgestellt, das neben anderen Einseitigkeiten herk6mmlicher Modelle insbesondere die Konzentration auf die vertikale Ebene vermeiden soll. Dieses Modell zeigt eine gewisse Nghe zum Klassenansatz, daher wird es an dieser Stelle dargestellt, doch benutzt es an zentraler Stelle auch eigene Begrifflichkeiten. Laut Kreckel gibt es durchaus weiterhin einen Konflikt um Ressourcen (urn distributive Ressourcen: Reichtum und Wissen/Zeugnisse sowie um relationale Ressourcen: hierarchische Organisation bzw. Rang und Zugeh6rigkeit; Kreckel 1992: 94). Daher mifsste man eher die Stabilit~it von Gesellschaften erkl~iren als in ihr stattfindende Konflikte. Ans~itze zu dieser Erkl~rung liefert Kreckel, indem er zum einen auf einen Konsensaspekt (durch die Akzeptanz einer Prestigeordnung) und zum anderen auf den Zwangsaspekt (durch die Rechtsordnung, das Gewaltmonopol des Staates) verweist. Kreckels Alternative zur begrifflichen Erfassung sozialer Ungleichheit hat den Anspruch, diese asymmetrischen Verh~iltnisse zu beracksichtigen, abet gleichzeitig fiber eine einseitig vertikale Perspektive hinaus zu gelangen. Dazu wghlt er die Metapher von ,, Z e n t r u m " und ,, P e r i p h e r i e ". Diese Begriffe gibt es z.B. bereits in Forschungen zur so genannten ,,Dritten Welt", sie verweist auf Asymmetrien und zugleich auf eine Vielfalt yon Interdependenzen. Periphere Lagen sind dabei ,,strukturell verankerte Bedingungskonstellationen, aus denen sich Dr die Betroffenen Benachteiligungen hinsichtlich ihrer Zugangsm6glichkeiten zu ... Gfitern und hinsichtlich ihres Spielraums f't~r autonomes Handeln ergeben" (a.a.O.: 43). Sie zeichnen sich dutch geringere Organisations- und damit Konfliktf~ihigkeit aus als zentralere Lagen. Mehrere Konfliktlinien sind in solch einem Modell denkbar, Zentrum-Peripherie-Kr~iftefelder k6nnen sich z.B. fiberlappen (in der Regel ergeben sich keine klaren Polarisierungen, beispielsweise gibt es auch Semiperipherien). Das Schichtmodell mit einer einheitlichen Hierarchisierung ist nach dieser Vorstellung dann nut als ein Sonderfall zu betrachten. Anschaulich wird das Modell in einem Bild konzentrischer Kreise. Far die Bundesrepublik Deutschland l~sst es sich so konkretisieren: Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor ,,die zentrale Drehscheibe sozialer Ungleichheit" (a.a.O.: 153). Im Zentrum des Kr~iftefeldes steht - und damit geht Kreckel tiber eine rein 6konomische Betrachtung hinaus - das korporatistische Dreieck von Arbeit, Kapital und Staat. In den weiteren Kreisen befinden sich - in ihrer organisierten Interes16 Die Auflage von 2004 ist um die Aspekte Ungleichheit im vereinten Deutschland und in einer ,,gtobalisierten" Weltgesellschafterweitert.
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senvertretung abnehmend - Verb~inde, neue soziale Bewegungen (z.B. die Umweltbewegung) und schlieBlich die sozial strukturierte Bev61kerung. Parteien sind Vermittlungsinstanzen, die quer zu den Kreisen liegen k6nnen. Es ergibt sich folgendes Modell: A bbildung 11: Das Zentrum-Peripherie-Modell nach Kreckel
Quelle: Krecket 1992:164 Innerhalb der prim~iren Asymmetrie yon Kapital und Arbeit haben die Arbeitgeber deutliche strategische Vorteile (durch ihre Ressourcenausstattung, Organisationsfdhigkeit, homogenere Interessenlage), eine Analyse muss jedoch auch weitere Gegens~itze ber0cksichtigen, etwa zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit (z.B. Empfgnger yon Transferleistungen ohne organisatorische Interessenvertretung). Kreckel fi]hrt weiter sekund~ire Asymmetrien innerhalb der yon Arbeit und Kapital an, die z.B. durch Segmentation und Schliel3ungsstrategien auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Illegale Einwanderer haben danach z.B. eine viel schlechtere arbeitsmarktstrategische Lage als Erwerbspersonen mit Leitungsund Managementfunktionen. Diese Ausfiihrungen deuten die mehrdimensionalen Asymmetrien an, die man noch erg~inzen mtisste dutch askriptive Merkmale, z.B. das Geschlecht.
4.2 Neuere Klassenmodelle
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Auch das (abstrakte) Geschlechterverh~iltnis bildet einen far Ungleichheit retevanten strukturellen Gegensatz (nicht von Arbeit und Kapital, sondern von Produktion und Reproduktion). Konkret wirkt sich das Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt neben der nationalen und ethnischen Zugeh6rigkeit als Hauptkriterium far eine illegitime strukturelle Benachteiligung aus (a.a.O.: Kap. IV). Das Zentrum-Peripherie-Modell ger~it bei der Berticksichtigung dieser Merkmale jedoch (~ihnlich wie die Klassenmodelle) an seine Grenzen, Kreckel konnte sie, wie er selbst anmerkt, nur ,,mfihsam einfangen" (a.a.O.: 51). Zur Frage, ob sich die ,,sozial strukturierte Bev61kerung" in Form yon Klassen, Milieus oder anderen Gruppierungen fassen l~isst, antwortet Kreckel: In fortgeschrittenen Gesellschaften gibt es ein ,komplexes Mischungsverh~.ltnis von klassenspezifischen, milieuspezifischen und atomisierten Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, das nicht theoretisch bestimmt, sondern nur empirisch emlittelt werden kann" (a.a.O.: 137). Diese Bestimmung ist jedoch nicht das Ziel yon Kreckels Ver6ffentlichung. Auf keinen Fall ist yon dem Strukturaspekt des Gegensatzes yon Arbeit und Kapital umstandslos auf eine Klasse als kollektiven Akteur zu schliegen. Kritische Punkte, die andere Autoren gegen Kreckel ~iuf3em, lauten beispielsweise, sein Ansatz sei zu deskriptiv (H.-P. MtHler 1992: 47f.). Hradil dagegen glaubt, dass Kreckel mehr als beabsichtigt der herk6mmlichen Klassentheorie verpflichtet sei, weil er kulturelle Bestimmungsgrfinde sozialer Ungleichheit und Ursachen im Bereich des Staates im engeren Sinne letztlich vernachlfissige. Als Vorteil betont Hradil jedoch die Bert~cksichtigung von Organisationen (1999: 136). Insgesamt wird Kreckels Konzept an verschiedenen Stellen erwfihnt als eigenst~indige Position zur sozialen Ungleichheit mit einer gewissen N~ihe zu Klassenmodellen. Da jedoch bislang keine systematische Weiterentwicklung oder Konkretisierung des Modells vorliegt, ist es eher an der ,,Peripherie" der Ungleichheitsdiskussion zu verorten. Die Darstellung sowohl von neueren Schichtungsans~itzen als auch von Klassenansgtzen legt den Schluss nahe, dass diese in neueren Versionen ab den achtziger Jahren nur noch wenig voneinander entfernt liegen und daher keine ideologischen Grundsatzdebatten herausfordern. Beide greifen in hohem Mage auf die Berufsstruktur zurt~ck und erarbeiten auf dieser Grundlage mehrdimensionale Konzepte, die dadurch realit~tsnah und erkl~rungskr~iftig sein sollen. Diesen Anspruch k/Snnen sie jedoch oft nur zum Teil einl6sen. Unter anderem bleibt der Kritikpunkt bestehen, der auch schon far die/ilteren Modelle galt, dass mit der
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Konzentration auf den wirtschaftlichen Bereich und auf Erwerbspersonen bereits auf der ,,objektiven" Ebene bestimmte Aspekte leicht ausgeblendet bleiben (z.B. das Geschlecht). Im Rahmen von Erwerbsarbeit k6nnten zudem Folgen des Wandels von Arbeitsstrukturen (man denke z.B. an Stichworte wie den ,,Arbeitskraftuntemehmer", Pongratz/Vo6 2001) in breiterer Form in die Modelle integriert werden. Die Mikroebene von Einstellungen und Handeln thematisieren die Ansfitze eher in dem Sinne, dass sie einen angenommenen Einfluss von Klasse oder Schicht auf diese prfifen. Diesen Einfluss unterstellen sie grunds~itzlich aber erst einmal, es erfolgt keine eingehende Konzeptionierung dieser ,,Mikro"-Ebene selbst. Dies stellt sich anders dar bei den Lebensstil- und Milieumodellen, die im Folgenden vorgestellt werden.
Zusammenfassung Neuere Klassenmodelle heben die weiterhin bestehenden vertikalen Aspekte sozialer Ungleichheit hervor, berficksichtigen aber auch Differenzierungen und wollen durch verschiedene Konzeptualisierungen von Mittelklassen ihre Modelle empirisch anschlussffihig machen. R. Kreckel ftigt durch das Zentrum-Peripherie-Modell zudem eine neue Begriffiichkeit hinzu.
Lesehinweise: Wright, Erik O. (1985b): Wo liegt die Mitte der Mittelklasse? In: PROKLA: Zeitschrift far politische Okonomie und sozialistische Politik 58, S. 35-62 Mfiller, Walter (1996): Ungleichheitsstrukturen im vereinten Deutschland; in: ders. (Hg.): Soziale Ungleichheit. Neue Befunde zu Strukturen, Bewusstsein und Politik, Opladen: Leske+Budrich, S. 13-42
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Lebensstile und Milieus
5.1 Lebensstile
Lebensstile und Milieus geh6ren, teilweise in enger Verbindung, zu den Begriffen, die im Zuge der Kritik an Klassen und Schichten in der Soziologie (wieder-)entdeckt wurden, um das Ungleichheitsgeftige in einer modernen Gesellschaft angemessen zu erfassen. Gestiegene Optionen von Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt materiell oft mehr leisten k6nnen, fiihrten dazu, dass eine Verbindung von Klasse oder Schicht und der Lebensfiihrung der Menschen weniger eng geworden ist, dass sich diesen Ans~itzen zufolge vielfWtigere Lebensstile und Milieus herausgebildet haben (haufig wird auch ein Zusammenhang von Individualisierungsprozessen und der Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Milieus hergestetlt, was aber nicht unumstritten ist, vgl. Kap.
8).
Den Begriff des ,,Stils" gibt es schon lange, bis in das 17. Jahrhundert war er fast ausschlie61ich auf Sprache und Schrift gerichtet, dann verwendete man ihn auch ftir die bildende Kunst. Im 18. Jahrhundert vollzog sich ein Wandel yon einer Sicht sehr eingegrenzter legitimer Epochalstile zu einer Perspektive yon ,,stilistischem Pluralismus", was der heutigen Bedeutung yon Lebensstilen schon etwas n~iher kommt (Drieseberg 1995: Kap. 1). Erste soziologische Zug~inge gibt es bereits bei den Klassikern der Soziologie, etwa bei Max Weber, Georg Simmel oder Thorstein Veblen. M. Weber benutzt den Begriff der Lebensftihrung (englisch dann als ,,style of life" tibersetzt) als charakteristisches Merkmal eines Standes. Im Gegensatz zur 6konomisch gepr~igten Klasse basiert der Stand bei Weber auf dem sozialen Prestige, auf Ehre (vgl. Kap. 2.2). Ein Stand hat eine spezifische Lebensftihrung, z.B. typische Formen des Konsums, bestimmte Werte usw. So ist etwa das Prinzip, Zeit und Geld nicht mti6ig zu vergeuden und sich keinem unbefangenen Kunst- und Lebensgenuss hinzugeben, ein charakteristisches Lebensstil-Merkmal der asketisch-protestantischen Ethik (Weber 1980:719 (zuerst 1922)). Die gemeinsame Lebensf'tihrung von Mitgliedern eines Standes ist damit gerade keine allein ,,moderne" Erscheinung, sondem hat zumindest feudalistische Ursprtinge. Ein wichtiges Merkmal auch neuerer Lebensstilans~itze ist bereits bei Weber enthalten: Durch die Lebensf'tihrung versichert man sich der Zugeh6rig-
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5 Lebensstile und Milieus
keit zu einer bestimmten Gruppe, deren Anspruch auf soziale Anerkennung man so auch nach augen demonstriert. G. Simmel betont, dass der Einzelne im Zuge der Modernisierung (im Sinne der Durchsetzung des Geldverkehrs, zunehmender Arbeitsteilung, Industrialisierung etc.) durch seinen Lebensstil versucht, Identit~it zu finden. Die Modernisierungsprozesse bringen Wahlm6glichkeiten mit sich, doch unter anderem dadurch, dass sich die Lebenswelt nicht mehr einheitlich darstellt, gibt es auch eine Identit~itsgef~ihrdung (Simmel spricht auch yon einem Ubergewicht der objektiven gegenfiber der subjektiven Kulmr, s. z.B. 1977 (zuerst 1900): Kap. 6; 1983 (zuerst 1911)). Die zunehmenden Wahlm6glichkeiten haben also nicht allein positive Seiten far das Individuum. Daher: ,,Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlasmng und Verhfillung des Pers6nlichen, die das Wesen des Stiles ist. Der Subjektivismus und die Individualit~it hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichmng, liegt eine Milderung und Abt6nung dieser akuten Personalit~itzu einem Allgemeinen und seinem Gesetz" (1993 (zuerst 1908): 382). Veblen (1997, zuerst 1899) behandelt den spezifischen Stil der ,,feinen Leute" (,,leisure class") im spgten 19. Jahrhundert. Auch bei ihm klingt bereits die Funktion eines Lebensstils an, durch expressive Handlungspraktiken (z.B. im Konsumbereich) soziale Anerkennung zu erlangen und sich nach ,,unten" abgrenzen zu wollen. Demonstrativer Mt~giggang symbolisiert z.B., dass sich die ,,feinen Leute" freie Zeit leisten k6nnen. Heutige soziologische Lebensstilansfitze folgen jedoch oft weniger in systematischer Form diesen Traditionen - wenngleich Autoren hgufig die Klassiker erw~ihnen -, sondem entwickelten sich eher aus Lebensstilans~itzen, die z.B. in der Marktforschung Anwendung fanden (vgl. im Uberblick: Kramer 1991). Das Ziel von Lebensstil- oder ,,lifestyle"-Analysen besteht dort beispielsweise darin, Produkte und Produktwerbung auf einzelne K~ufertypen abstimmen zu k6nnen. Ein Beispiel liefert die ,,outfit"-Studie (Spiegel-Dokumentation 1994). Dort ist etwa eine ,,geltungsbedarftige Frau" eine Person, far die aktuelle modische Trends wichtig sind, die ruhig etwas extravagant sein k6nnen, um auf sich aufmerksam zu machen. Bei der Kauforientierung neigt sie zu Spontank~iufen, bestimmte Marken warde sie allerdings nie kaufen. Wo findet man die Geltungsbedarftigen? Es sind meist Jtingere mit einfacher Bildung und einer ,,Fun&Action"-Orientierung (a.a.O.: 54). Auch die allgemeinere Konsum- und zum Teil die Wahlforschung (z.B. Gluchowski 1987) wenden Lebensstile ~ihnlich an.
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Dieses Vorgehen kommt einer alltagssprachlichen Bedeutung von Lebensstilen entgegen. Mit Hilfe des Lebensstils lassen sich zusammenfassende Aussagen fiber einen Einzelnen in der heutigen Zeit treffen, jemand ist z.B. ,,abgedreht" oder ,,konventionell". Auch ist es oft bereits positiv assoziiert, wenn etwas ,,stilvoll" ist (mit leichter Tendenz zur Einseitigkeit, was man an der Werbung einer M6belfirma flir ein Sofa ablesen kann: ,,Kann man gleichzeitig Stil haben und lebendig sein?"). Aber was ist ein Lebensstil? Wo h6rt eine einzelne Vorliebe auf, wo ffingt der Lebensstil an? Ist der Lebensstil nicht gerade etwas Pers6nliches, was mit sozialen Zusammenh~ngen weniger zu tun hat? (Was hat beispielsweise die Gesellschaft damit zu tun, wenn jemand gem Pfirsiche isst?) Wenn jemand modische Jeans tr~igt und geme GEO-Hefte liest, ist das dann schon ein Lebensstil? Welche Begrandung berechtigt dazu, bestimmte Kombinationen yon Aktivitgten, Eigenschaften, Einstellungen etc. zu einem Lebensstil zusammenzufassen, so dass es nicht unendlich viele individuelle Lebensstile gibt, sondem Lebensstilgruppen? Diese Klgmng, was ein Lebensstil ist und wovon er abh~ngt, ist dabei far ungleichheitstheoretische Zwecke in einer anderen Form vorzunehmen als etwa in der Marktforschung. Es reicht nicht aus, Beschreibungen darfiber zu liefern, welche Merkmale hgufig gemeinsam auftreten, z.B. eine bestimmte Wohnungseinrichtung und ein bestimmter Musikgeschmack. Der soziologische Zugang stellt sich zwar auch die Fragen, was ein Lebensstil ist, durch welche Dimensionen er konstituiert wird und wovon Lebensstile abh~ingen. Diese Fragen stehen jedoch in einem weiteren Rahmen z.B. der Fragen, wie das Ungleichheitsget'age in der Gesellschaft aufgebaut ist, welche Lebenschancen mit den einzeInen Lebensstilen verbunden sind, in welchem VerhNtnis die Lebensstilgruppen zueinander stehen und m6glicherweise auch, wie Entwicklungen von Lebensstilen aussehen (hinsichtlich individueller Wechsel oder Ver~nderungen im Geffige verschiedener Lebensstile). Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass der Anspruch der LebensstilmodelIe darin besteht, soziale Ungleichheit differenzierter und insgesamt angemessener analysieren zu k6nnen als allein (zumindest die filteren) Klassen- und Schichtmodelle. Im Folgenden soll nun zun~ichst gezeigt werden, was unter Lebensstilen im soziologischen Sinne verstanden wird und welche Vorteile eine Lebensstilanalyse nach Meinung ihrer Vertreter hat. Zwei Beispiele konkretisieren die Vorstellung des Ansatzes. Einige ungekl~rte Fragen und Probleme der Lebensstilforschung sollen schlieglich im Anschluss an die Vorstellung der Milieukonzepte ffir beide Ansgtze gemeinsam thematisiert werden. Stellte H. Ltidtke Ende der achtziger Jahre noch fest, dass es fast so viele Klassifikationen fiir Lebensstile wie Forschungsans~itze gebe (1989: 103), zeich-
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nete sich einige Jahre sp~iter doch bei allen Unterschieden im Detail ein gewisser Konsens dart~ber ab, worum es geht. Einige Beispiele verdeutlichen dies. Das WiSrterbuch der Soziologie spricht sehr allgemein von ,,Ausdrucksformen der allt~iglichen Daseinsgestaltung in ganzheitlich-umfassender Weise" (Hillmann 1994: 477), H.-P. Mfiller von raum-zeitlich strukturierten Mustern der Lebensffihrung, die von materiellen und kulturellen Ressourcen, der Familien- und Haushaltsform und Werthaltungen abh~ingen. Als wichtige Dimensionen von Lebensstilen nennt er verschiedene Verhaltensformen, und zwar expressives Verhalten (z.B. Freizeitaktivitgten und Konsummuster), interaktives Verhalten (wie Geselligkeit oder das Heiratsverhalten), evaluatives Verhalten (Werte, Wahlverhalten usw.) und schlieBlich kognitives Verhalten (z.B. subjektive Zugeh6rigkeiten) (Mfiller 1992: 376-378). Allerdings ist dabei zu berticksichtigen, dass die Stilisierungsneigung, das heiBt etwa seinen Geschmack und die Art der LebensNhrung nach auBen zu demonstrieren, in verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich ist. Das Verhalten, vor allem im Konsum-, Freizeit und sozialen Bereich, nennt auch Hradil (1992: 28) als kleinsten gemeinsamen Nenner von Lebensstilkonzepten. Sp~iter drfickt er allgemeiner aus: ,,Der Lebensstilbegriff ... konzentriert sich auf die Prinzipien, Ziele und Routinen, nach denen die Einzelnen ihr Leben relativ best~indig ausrichten" (2001: 273). Bedeutsam ist nun zus~itzlich ftir die Lebensstilanalyse, dass der aus spezifischen Haltungen und Verhaltensweisen bestehende Lebensstil bestimmte Funktionen erNllt, die teilweise schon bei den kurz skizzierten Ans~itzen der soziologischen Klassiker erw~ihnt wurden. 9 9
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Er sichert Verhaltensroutine, allgemein eine Handlungsorientierung im Alltag, st~mdige Grundsatzentscheidungen fiber Verhaltensweisen sind nicht notwendig. Dadurch, dass man einen Lebensstil mehr oder weniger demonstrativ zum Ausdruck bringt, kann der Lebensstil Zugeh6rigkeiten zu sozialen Gruppen und andererseits die Abgrenzung von anderen Gruppen durch diese Distinktion betonen. Durch diese Kennzeichen f'6rdert der Lebensstil neben der sozialen ebenfalls die pers6nliche Identit~t (~ihnlich auch LUdtke 2000:118).
Welche Vorteile beanspruchen nun Lebensstilmodelle gegentiber den frtiheren Klassen- und Schichtungsans~itzen? Man kann sie quasi spiegelbitdlich aus der Kritik an diesen ~ilteren Modellen herauslesen: Lebensstile sind in ihrer Bestimmung weniger einseitig auf ,,objektive" Merkmale (z.B. ein bestimmtes Einkommen) festgelegt, sondern setzen einen
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Schwerpunkt bei kulturellen und symbolischen Faktoren, auf das Verhalten einer Person, also etwa, was jemand in seiner Freizeit mit wem tut. Die Erweitemng besteht damit in der im weiteren Sinne kulturellen Komponente und auch darin, dass man nicht unhinterfragt von bestimmten objektiven Merkmalen auf das Verhalten und die Einstellungen einer Person schliegt, sondem fragt, wie jemand mit bestimmten Ressourcen und Restriktionen umgeht. Beispielsweise ist eine Zuordnung durch den Besitz von Statussymbolen nicht mehr so einfach m6glich, sie zeigen viel weniger eindeutig als noch vor einigen Jahrzehnten die soziale Stellung einer Person an. Die gestiegenen Wahlfreiheiten finden also systematisch Berficksichtigung (allerdings in unterschiedlichem AusmaB, wie die Debatte um Strukturierungs- versus Entstrukturiemngsans~itze zeigt, s.u.). So beachten Lebensstilans~tze die subjektive Seite starker. Gleichzeitig nehmen sie eine ganzheitlichere Sicht ein als es etwa der Fall in Ans~itzen war, die sich vorrangig auf Merkmale Berufst~itiger konzentrierten. Dadurch beanspruchen Lebensstilkonzepte, ein lebensnahes Modell zu entwerfen, das die Makroebene der Struktur mit der Mikroebene der Handlungen verknfipft. Wenn es darum geht, verschiedene Lebensstile zu einem Modell des Ungleichheitsgefliges zusammenzufassen, ist dieses dem Anspruch nach differenzierter als Klassen- und Schichtmodelle, weil es vielf~iltige Einflussfaktoren beracksichtigt, die dazu ~hren, dass Lebensstile nicht nut vertikal strukturiert sind, sondem auch nebeneinander liegen k6nnen. Beispielsweise k6nnten Menschen mit der gleichen Qualifikation (einem vertikalen Merkmal), aber unterschiedlichem Alter (einem ,,horizontalen" Ungleichheitsmerkmal) unterschiedliche Lebensstile haben, die jedoch nicht mit unterschiedlich groI3en Lebenschancen verbunden sind. Zudem mtissen sich Lebensstilgruppen nicht feindlich gegent~berstehen, Relationen zwischen ihnen k6nnenjedoch zum Thema werden, indem man die distinktive Funktion der Lebensstile hervorhebt. Teilweise unterscheiden Autoren, unter anderem zum Zweck der eigenen Positionierung und Abgrenzung, etwas pauschal zwei Richtungen innerhalb der Lebensstilforschung. So spricht Konietzka (1994) von Strukturierungs- gegeniiber Entstrukturierungsmodellen (~ihnlich unterscheiden Funke/Schroer eine strukturtheoretische und ein kulturalistische Sichtweise; 1998: 220). Im Strukturierungsmodell sind Lebensstilgruppen dutch strukturelle Kriterien, wie z.B. das Alter, das Geschlecht, aber auch durch vertikale Merkmale der sozialen Lage wie das Bildungsniveau gepr~igt. Solche Modelle liefern eine differenzierte Darstellung (mit dem Anspruch auf die genannten Vorteile gegentiber der Schichtungsforschung), die die bisherige Sozialstrukturanalyse erggnzt, aber nicht ersetzt. Konietzka ordnet hier z.B. die Arbeiten von P. Bourdieu (1997 (zuerst 1979)), H.-P. Mfiller (1992) oder W. Zapf (Zapf et al. 1987) ein. Diese Hauptstr6mung l~isst sich abgrenzen von Entstrukturierungsmodellen. Aus dieser Perspektive
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sind Lebensstile ein grundlegend alternatives Konzept sozialer Ungleichheit, in dem nicht mehr durch Ressourcen oder allgemein: strukturelle Kriterien deftnierte soziale Gruppen bedeutsam sind, sondern solche, die durch Lebensstiltypen konstituiert sind. Lebensstile werden dann selbst zum Einflussfaktor, zum erklfirenden Merkmal, etwa f'tir Handlungsorientierungen oder ~ r die empfundene Lebensqualit~it. Damit stellen sie einen eigenst~ndigen Modus sozialer Differenzierung dar, der im soziokulturellen Bereich angesiedelt ist. Eine relative LoslOsung yon strukturellen Merkmalen betonen solche Modelle also zugunsten der tendenziell nach ihren Pr~ferenzen handelnden Individuen. Zu dieser Richtung z~hlt Konietzka beispielsweise die Ansfitze von Karl H. H6rning et al. und von H. Lfidtke. H6rning et al. sehen bei einer ~hnlichen Dichotomisierung yon Ansfitzen (in Struktur- vs. Kulturanstitze) Lfidtke dagegen als Vertreter des Stmkturansatzes an (H6rning et al. 1996). Dies deutet darauf hin, dass insgesamt eher yon graduellen Unterschieden auszugehen ist, bei denen Extrempositionen kaum besetzt sind. Von einer v611igen Entstrukturierung des Verh~ltnisses zwischen sozialer Lage und Bewusstsein dfirfte kaum jemand ausgehen. Bereits generell ist die Lebensstilanalyse ein Mittelweg zwischen relativ stark hierarchisch strukturierter sozialer Ungleichheit und einer bunten Vielfalt an Ungleichheitsformen, die auf vergleichsweise grof3en Wahlm6glichkeiten der Einzelnen beruhen, lnnerhalb der Lebensstilanalyse sind dann wiederum Ans~itze erkennbar, die yon der Tendenz her ein wenig in die eine oder die andere Richtung ausschlagen. Aus dieser Perspektive k6nnte man H6rning et al. tendenziell dann in die Richtung der Entstrukturierung einordnen, wenn sie schreiben: ,,Es geht darum, den Lebensstil als eine eigenst~indige Kategorie in seinem theoretischen Gehalt voranzutreiben. In Absetzung von bisherigen Lebensstilen [das heif3t Lebensstilkonzepten, N.B.] gehen wir vonder Autonomie der Lebensstile aus ... der Lebensstil ist nicht als abhSngige Variable struktureller Bedingungen zu verstehen. Diese finden vielmehr erst im Lebensstil ihre je unterschiedlichen Ausformulierungen." (1996: 34s Hervorhebungen i. O.). Die Lebensstile selbst strukturieren hiernach, nicht andere Merkmale. Lfidtke gibt einen Hinweis auf die recht groBen individuellen Wahlfreiheiten, wenn er als Ergebnis einer empirischen Analyse feststellt: ,,Lebensstile sind nicht st~irker kontextabh~ingig als pr~ferenzengesteuert" (1990:451). Diese insgesamt doch noch recht vorsichtige Aussage ist allerdings in dem Kontext zu sehen, dass er die Lebensstilanalyse als Instrument sieht, um Mikro- und Makroperspektiven in der Ungleichheitstheorie verknfipfen zu k6nnen. Eine v611ige LOsung von Strukturen ist nicht erkennbar, woffir z.B. auch die Argumentation Lfidtkes spricht, dass Lebensstile eher (aber immerhin) mit komplexen Milieus
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als mit sozio6konomischen Lagen verbunden seien, die in der vertikalen Schichtungsdiskussion tiblicherweise thematisiert wurden (a.a.O.: 450). Zwei deutsche Beitr~ige aus den neunziger Jahren, in denen Lebensstiluntersuchungen am h~iufigsten durchgef'tihrt wurden, sollen die Darstellung der Lebensstilanalyse hier weiter konkretisieren, und zwar die Beitrttge von W. Georg und yon A. Spellerberg. 17 Der viel beachtete Ansatz P. Bourdieus wird spgter in einem eigenen Kapitel n~iher vorgestellt (Kap. 6).
W. Georg W. Georg m6chte die Lebensstile nicht zur Abl6sung, sondem ausdracklich zur Erg~inzung der Sozialstrukturanalyse dutch Klassen- und Schichtenmodelle nutzen. Und zwar ordnet er die Thematik ungleicher Ressourcen weiterhin der Klassen- und Schichtungsforschung zu, w~ihrend sich die Lebensstilanalyse mit den symbolischen Ausdrucksformen der Ungleichheit und im weiteren Schritt ihren Auswirkungen, das heigt Prozessen sozialer Schliegung bzw. der Sozialintegration, besch~ftigt. Im Einklang mit der obigen Begriffsbestimmung definiert Georg Lebensstile als ,,relativ stabile, ganzheitliche und routinisierte Muster der Organisation von expressiv-gsthetischen Wahlprozessen" (1998: 92). Grundvoraussetzung Nr diese Wahlprozesse ist das Vorhandensein von Wahloptionen und Gestaltungsspielr~iumen der Akteure, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich vergr613ert haben. Im Vordergrund der Bestimmung der Lebensstile stehen bei ihm ,,expressiv-~isthetische" Aspekte, die auf die Betonung von Geschmack und Verhalten als Dimensionen ~ r einen Lebensstil hindeuten. Bei ihm macht also die ,,wahrnehmbare, klassifizierbare und prestigetrfichtige Stilisierungspraxis" (a.a.O.: 93) im Alltag einen Lebensstil aus, mit der die Menschen auch eine ,,gewisse repr~,sentative Augenwirkung" erzielen m6chten (a.a.O.: 98). Zu dieser Praxis geh6ren konkret z.B. die Freizeitaktivit~iten, der Musikgeschmack, die Wohnungseinrichtung, die Kleidung, der Kulturkonsum, Lesegewohnheiten, Mitgliedschaften und das Interaktionsverhalten. Von den Dimensionen, die einen Lebensstil ausmachen, sollte man klar die Einflussfaktoren unterscheiden, die zu einem bestimmten Lebensstil f'tihren. Diese Einflussfaktoren bestimmt Georg auf zwei Ebenen: die soziale Lage und 17 Die Ansfttze wurden ausgew~thlt, weil sie Lebensstile allgemein untersuchen (nicht nur z.B. Wohnstile, Lebensstile von Musikern oder ,nachhaltige" Lebensstile im Sinne der F0rderung eines 6kologischen Bewusstseins, siehe dazu z.B. Brand 2002, Lange 2005). Dar/iber hinaus ist die Auswahl nat0,rlich relativ willkarlieh, weitere Ansfitzek6nnten genannt werden, zB. yon Konietzka (1995), Wahl (1997/2003), Hartmann(1999), Schroth (1999) etc.
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die mentale Ebene. Die soziale Lage umfasst sowohl vertikal verteilte Handlungsressourcen (z.B. Einkommen, Bildung, soziale Netzwerke) als auch horizontal differenzierte Lebensbedingungen wie Alter, Kohortenzugeh6rigkeit oder Region. Die mentale Ebene schliefSt gemeinsame Wertorientierungen, Einstellungen und Lebensziele ein. Diese Ebene richter sich insbesondere auf identit~itsstiftende bzw. distinktive Funktionen von Lebensstilen tiber symbolische Zugeh6rigkeiten und Abgrenzungen. Georg unterstellt nicht vorab einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und mentaler Ebene einerseits und Lebensstilen andererseits, sondern dieser ist empirisch zu prtifen. Dabei soll sich auch herausstellen, welche Merkmale der sozialen Lage gegebenenfalls besonders bedeutsam ftir die Ausbildung von Lebensstilen sind. Graphisch l~isst sich Georgs Konzept so darstellen:
Abbildung 12: Das Lebensstilkonzept nach W. Georg
Quelle: nach Angaben in Georg 1998:98 Was findet Georg nun empirisch heraus? Er analysiert Daten einer Werbeagentur in Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut von 1990 (Lifestyle '90, repr~isentativ fiir die westdeutsche Bev61kerung ab 14 Jahren) und ermittelt anhand einer Clusteranalyse sieben Lebensstile: Typ 1: Hedonistisch-expressiver Lebensstil (10,2%) Typ 2: Familienzentrierter Lebensstil (19,2%) Typ 3: Kulturbezogen-asketischer Lebensstil (11,3%) Typ 4: Konservativ-passiver Lebensstil (14,9%) Typ 5: ,,Prestigebezogene Selbstdarstellung" (11,1%)
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Typ 6: Zurfickhaltend-konventioneller Lebensstil (16,1%) Typ 7: ,,Selbstdarstellung, Genuss und Avantgardismus" (11,6%) Die Charakteristika der einzelnen Stile sollen in diesem Rahmen nicht im Einzelnen geschildert werden, zur Veranschaulichung dient ein Beispiel: Der konservativ-passive Lebensstil ist unauffiillig (z.B. bei der Kleidung) und traditionell (z.B. bei der ErnO,hrung), der Wohnstil l~isst sich als ,,konventionelle Gemt~tlichkeit" charakterisieren. Das Alter dieser Menschen liegt fiber dem Stichprobendurchschnitt, die soziale Lage ist eher schlecht (unterdurchschnittliches Einkommen und niedrige Bildung). Zur Mentalit/it lassen sich unter anderem ein relativ rigides Festhalten an stereotypen Geschlechtsrollen und konservative Werte feststellen (1996: 170f.). Die Merkmale der sozialen Lage, die die Lebensstile insgesamt am st~irksten beeinflussten, waren Alter (wobei Georg einen Kohorteneffekt vermutet, das heiBt er nimmt generationstypische Lebensstile an, weniger einen Alterseffekt), die Lebenszyklusvariable ,,mit Partner zusammenlebend oder verheiratet (beides mit Kind)", Bildungsniveau und Geschlecht noch vor dem Einkommen und dem beruflichen Status (1996: 175-179). Damit unterscheidet sich das Modell deutlich von Schichtmodetlen, die dem beruflichen Status eine besondere Bedeutung beimessen. Regressionsmodelle mit verschiedenen Mentalit~itsskalen zeigen, dass auch die mentale Ebene eine eigenst~ndige Pr~diktionskraft far Lebensstile besitzt. Als einzelner Mentalitgtsskala kommt der ,traditionellen Wertorientierung" die grSBte Bedeutung Car den Lebensstil zu (1998: 230-235). Einige der Einflussfaktoren (z.B. das Geschlecht oder das Alter als Kohorteneffekt) sowie der Hinweis in der Definition des Begriffs ,,Lebensstil" auf ,,relative Stabilit~it" deuten darauf hin, dass sich nach Georgs Verst~indnis ein Grundmuster des Lebensstils relativ friih in der Biographie herausbildet. Andererseits schlieBt Georg lebenszyklische Ver~nderungen nicht aus, gerade wenn man die Bedeutung des Merkmals ,,mit Partner und Kind zusammenlebend" betrachtet. Doch ist die Entwicklungsdynamik von Lebensstilen insgesamt kein Thema, das Georg in besonderem MaBe weiter verfolgt. Dies trifft auch aufviele andere Lebensstilanalysen zu.
A. Spellerberg A. Spellerberg bezeichnet Lebensstile als ,,individuelle Organisation und expressive Gestaltung des Alltags" (1995: 230), stimmt also mit anderen Definitionen t~berein und betont dabei die expressive Komponente. Die Dimensionen leitet sie aus dem Konzept yon H.-P. Mfiller ab, indem sie interaktive (z.B. das Freizeit-
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verhalten), expressive (z.B. Musik- und Einrichtungsgeschmack oder Lesegewohnheiten) und evaluative Dimensionen (z.B. Lebensziele) unterscheidet. Eine Variante zu dem Konzept von Georg besteht tibrigens darin, dass bei Spellerberg Werte zu den Merkmalen geh6ren, die einen Lebensstil ausmachen, w~hrend Georg die mentale Ebene zu den Einflussfaktoren z~hlt. Das Konzept soll hier nicht im Detail dargestellt werden, spezifisch far den Ansatz ist unter anderem, dass er auf der Datenbasis des Wohlfahrtssurveys (1993) ost- und westdeutsche Lebensstile vergleicht und Zusammenh~inge zur Lebensqualit~it herstellt. Die Lebensstilgruppen teilt Spellerberg nach dem Aktionsradius (h~iuslicher Umkreis vs. au6erh~iuslich) und nach kulturellen Vorlieben (~.hnlich den alltags~isthetischen Schemata bei G. Schulze) ein und finder f't~r Ost- und Westdeutschland jeweils neun Lebensstilgruppen heraus, die sich in einigen Punkten durchaus auffiitlig unterscheiden, z.B. gibt es einen ,,erlebnisorientierten H~uslichen" nur in Ostdeutschland; die Vorliebe far Hochkultur differenziert sich im Westen Deutschlands in drei Stile, w~hrend sich hierzu im Osten nur ein Typus findet etc. (1996: 122, 145). Hinsichtlich der wichtigsten Einflussfaktoren gibt es 15bereinstimmung mit anderen Untersuchungen: Das (als Kohorteneffekt gedeutete) ,,Alter, Bildung und Geschlecht weisen die st~irksten Zusammenh~inge zum Lebensstil auf' (1996: 192). In einer zweiten Untersuchung von 1996 (Schneider/Spellerberg 1999, Kap. 4) ergeben sich leicht andere Ergebnisse. Diese kommen teilweise jedoch dadurch zustande, dass die Forscherinnen die fiber 61-Jghrigen nun ebenfalls beracksichtigten, was 1993 nicht der Fall war. Insgesamt zeigt sich: ,,Die Lebensstile in West- und Ostdeutschland haben sich nach diesen Ergebnissen in ihrem Profil deutlich einander angeglichen. In beiden Landesteilen haben Unterhaltung, Geselligkeit und Genussorientierung an Bedeutung gewonnen. Weil traditionelle Lebensstile in Ostdeutschland weniger verbreitet sind als noch 1993, ist es zugleich zu einer Ann~iherung beim Anteil yon Lebensstilen mit hoher Sicherheitsorientiemng und Interesse an volksttimlichen Geschmacksmustern gekommen. Umgekehrt hat die Verringerung des Anteils hochkulturell interessierter Gruppen in Westdeutschland eine Angleichung in diesem eher etablierten Kultursegment bewirkt." (Schneider/Spellerberg 1999:119). Die Einflussfaktoren sind ~ihnlich geblieben: Im Westen weisen Alter, Bildung, Einkommen und Geschlecht (in dieser Reihenfolge) die gr66te Bedeutung fdr die Lebensstilzuordnung auf, im Osten sind es ~ihnlich Alter, Geschlecht, Bildung und Kinder im Haushalt (a.a.O.: 120-123).
5.1 Lebensstile
Abbildung 13." Lebensstile in West- und Ostdeutschland nach Schneider/Spellerberg
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Quelle: Schneider/Spellerberg 1999: 106, 113 F~ir einen Zusammenhang mit der Lebensqualitat dienen die Lebensstile als unabh~.ngige Variable, sind in dem Fall also selbst ein m6glicher erklarender Faktor. Zun~ichst lgsst sich dazu als aufschlussreich feststellen, dass man mit Hilfe von Lebensstilen Gruppen ermitteln kann, die sich nach ihren BewertungsmaBstfiben ftir Lebensqualitgt unterscheiden. Weitergehende Aussagen sind weniger eindeutig: ,,Es hat sich gezeigt, dass Lebensstile im Westen eine hohe Erkl~irungskraft ftir das Wohlbefinden haben, wahrend in Ostdeutschland hfiufiger die materielle Situation im Vordergrund steht." (Spellerberg 1996: 221). Immer, wenn Lebensstile als erklarendes Merkmal dienen, muss man insgesamt darauf achten, dass man Zirkelschlasse vermeidet. Wenn der Forschende z.B. Stile durch Werte konstituiert und gleichzeitig (allerdings andere) Werte durch Lebensstile erkl~iren m6chte, sollte er sich einer gewissen Gratwanderung bewusst sein. Dies gilt auch ffir die Erklarung von Wohnverhalten durch Lebens-
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stile (Spellerberg/Schneider 1999), wozu die Autorinnen feststellen, dass sich das Lebensstilkonzept und die Klassifikation nach Lebensphasen als Erkl~irungsfaktor tragf~ihiger zeigten als ein Schichtindex (a.a.O.: 285). Exkurs zu Methoden in der Lebensstilforschung: Da die Lebensstil- und Milieuanalyse einen vergleichsweise starken empirischen Bezug hat, sollen an dieser Stelle einige Hinweise zu den Erhebungs- und Auswertungsmethoden gegeben werden. Als Erhebungsinstrument dient h~iufig die Befragung (bzw. die Sekundaranalyse frtiherer Befragungen), stellenweise kombiniert mit Beobachtungen (Garhammer merkt hierzu kritisch an, dass Zeitbudgetstudien fragwtirdige subjektive H~tufigkeitseinschatzungen von Verhaltensweisen erg~inzen sollten; 2000:309 -jedoch haben Zeitbudgetstudien wiederum eigene Nachteile bzw. Grenzen). Hinsichttich der Methoden zur Auswertung erhobener Daten verwenden sowohl Georg als auch Spellerberg in ihrer Untersuchung die Clusteranalyse zur Bestimmung von Lebensstilgruppen. Es handelt sich hier um ein multivariates Verfahren (das heil3t man betrachtet mehr als zwei Merkmale gleichzeitig). Angenommen, man hat bei 1.000 Personen die H~iufigkeit yon 20 Freizeitbesch~,ftigungen erhoben: Nun geht es nicht um die Verschiedenartigkeit von 1.000 Varianten, sondern man versucht, ~ihnliche Kombinationen zu ,,Klumpen", zu Clustern, zusammenzufassen. Statistische Ma6zahlen geben hierbei Regeln vor, wann F~ille als ~ihnlich zu betrachten sind (durch Ahnlichkeits- oder Distanzmal3e) und auch daftir, wie viele Cluster sinnvollerweise gebildet werden sollen. Im nachsten Schritt kann man die Cluster, z.B. auf der Grundlage von Freizeitbesch~iftigungen, auf m6gliche Einflussfaktoren prtifen. Sind z.B. in einem Cluster mit auffallend vielen au6erh~iuslichen Freizeitbesch~fftigungen mehr M~inner oder mehr Frauen oder Menschen einer bestimmten Altersgruppe vertreten? (vgl. aus~hrlicher zur Clusteranalyse Weltner 1976; Backhaus et al. 1990: Kap. 4). Ein anderes multivariates Verfahren in der Lebensstilforschung ist unter anderem durch die Untersuchungen P. Bourdieus bekannt: die Korrespondenzanalyse. Charakteristisch ist die graphische Darstellung als Koordinatensystem, auf diese Weise lassen sich in einem Schritt abh~ingige Merkmale (z.B. Freizeitbeschaftigungen) mit m/Sglichen Einflussfaktoren verkntipfen, nicht erst im Nachhinein, wie bei der Clusteranalyse (s. zur Veranschaulichung Abbildung 21 in Kap. 6). Als grobe Faustregeln f'tir eine Interpretation k6nnen unter anderem gelten: R~iumlich nah beieinander liegende Merkmale symbolisieren zwar tatsachliche ,~hnlichkeiten und Zusammenhange (entsprechend ist es bei den Distanzen), aber dadurch, dass es sich um ein Vektormodell handelt, sind keine einfachen Distanzaussagen m6glich. Wenn beispiels-
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weise eine der Achsen das Geschlecht abbildet, wird niemand ,,mgnnlicher" oder ,,weiblicher" mit einer Eintragung h6her oder niedriger auf der Achse. Eher ist es so, dass die Freizeitbesch~iftigungen und die Einflussfaktoren jeweils eine Eintragung im Koordinatensystem erhalten; rgumliche N~he weist dann auf einen Zusammenhang bin (wenn z.B. eine Vorliebe ftir Bungee-Jumping, Rudern und Kneipenbesuche mit Freunden in der N~ihe von m~innlichen Fachhochschulabsolventen anzutreffen wgren). Je weiter dabei die Eintragungen vom Nullpunkt des Achsenkreuzes entfernt sind, desto mehr Aussagekraft kommt dem Einflussfaktor zu (genauer zur Korrespondenzanalyse Blasius 2001, zum Vergleich von Cluster- und Korrespondenzanalyse in der Lebensstilforschung Blasius/Georg 1992, zu Problemen beider Methoden auch Stein 2006: 136-140). Eine weitere multivariate Methode, die die Lebensstilforschung benutzt, ist die Faktorenanalyse (Backhaus et al. 1990: Kap. 3). Die ,,Konjunktur" zahlreicher Lebensstiluntersuchungen hat in den letzten Jahren nachgelassen. Dies steht im Kontext eines verschiedentlich konstatierten generellen Umschwungs der Ungleichheitsforschung angesichts yon Prozessen wie zunehmender Arbeitslosigkeit, Deregulierung yon Erwerbsarbeit, Krise des Sozialstaats etc. hin zu wieder st~irkerer Betonung vertikal strukturierter sozialer Ungleichheit (siehe auch Kap. 7.2) bzw. angesichts der Erkenntnis, dass ein Schwarz-WeiB-Bild von strukturiert (,,frfiher") vs. pluralisiert (,,heute") der Realit~t zu keinem Zeitpunkt angemessen war. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Lebensstile keinen Stellenwert mehr als Ungleichheitsansatz h/itten. Es gibt zum einen weiterhin empirische Untersuchungen zu und Spezifizierungen yon Lebensstilen wie auch von Milieus. ~8 Als ein Beispiel kann die Studie von P. Stein (2006) genannt werden, die den Einfluss der sozialen Position, der sozialen Herkunft und der sozialen Mobilit~it auf Lebensstile, insbesondere auf kulturelle Orientierungen, analysiert. In einer anderen Untersuchung UberpNft Otte (2004) mit Hilfe einer dem eigenen Anspruch nach theoriegeleiteten, auf einer Synthese frfiherer Modelle beruhenden Typologie mit den Dimensionen Ausstattungsniveau und Modemitgt bzw. biographischer Perspektive die Erkl~irungskraft von Lebensstilen, z.B. far Partizipation in st~idtischen Szenen und Urlaubszielwahlen. Die statistische Erkl~imngskraft der Typen ist zwar m~iBig und zeigt sich am ehesten in multivariaten Modellen; far einige Anwendungsbereiche, z.B. die Wohngebietswahl, sieht Otte auch nach wie vor eine Strukturierung durch ,,klassische" Sozialstrukturmerkmale. Trotz dieser differenzierten Ergebnisse bildet die Studie jedoch ein Beispiel tar die fortgesetzte Anwendung von Lebensstilanalysen. In einem weiteren Sinne gilt dies auch far R6ssels Pl~idoyer far eine ~8Zu neueren Publikationen t~berMilieus s. z.B. Hradil 2006 oder die Beitr~ge in Bremer/LangeVester2006.
5.2 Milieus
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,,plurale Sozialstrukturanalyse" (R/Sssel 2005), wobei er betont, dass sich Klasse, Milieu und Lebensstile nicht gegenseitig substituieren lieBen u n d e r zudem (handlungs-)theoretische Neuorientierungen vorschl~gt, indem er etwa im Kontext yon Lebensstilen lieber yon kulturellen Prgferenzen sprechen mSchte (n~iher dazu in R6ssel 2004, 2005, 2006b). Zum anderen deuten verschiedene Bilanzierungen von Lebensstilanalysen (z.B. Meyer 2001a, Hermann 2004, Otte 2005, R6ssel 2006b) auf eine fortbestehende Diskussion des Ansatzes hin - selbst wenn diese Bilanzen teilweise skeptisch ausfallen (siehe Kap. 5.3). Vor einer Abwggung der Kritikpunkte sollen nun jedoch zun~ichst die Spezifika von Milieumodellen erl~iutert werden. 5.2 Milieus
Im Zuge der Einsicht, dass fiugere Einflasse (und nicht etwa z.B. allein Vererbung) das menschliche Dasein pr~igen, wurden bereits bei Comte, Durkheim und sp~iter z.B. bei Lepsius l~lberlegungen zum Milieu angestellt (Hradil 1992: 2125). Als Entwicklungstrends des Begriffs bis in die dreiBiger Jahre des 20. Jahrhunderts stetlt Hradil neben einem allgemeinen Aufschwung des Begriffs die zunehmende Betonung sozialer gegentiber nattirlichen Umweltfaktoren und die Offnung f'tir subjektive Aspekte fest (das heigt far die Frage, welche Faktoren subjektiv bedeutsam sind). Aufgrund der Bevorzugung von Schichtmodellen mit deren Betonung objektiver Aspekte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Milieukonzepte dann aber erst wieder in den achtziger Jahren an Bedeutung, unter anderem durch die Untersuchungen des SINUS-Instituts. Das Lexikon zur Soziologie definiert ,,Milieu" als Gesamtheit der gui3eren, nattMichen (z.B. Klima) und der sozialen Umwelt (z.B. Gesetze) des Einzelnen bzw. einer Gruppierung, die auf die Entwicklung, Entfaltungsm~Sglichkeit und die Modalit~it sozialen Handelns Einfluss nimmt (Rammstedt 1994: 438). Hradil bestimmt den Begriff so: Milieus sind ,,Gruppen Gleichgesinnter, die gemeinsame Werthalmngen und Mentalit~iten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Menschen einzurichten und ihre Umwelt in ~ihnlicherWeise zu sehen und zu gestalten" (1999: 41). Kleinere Milieus, z.B. Stadtviertelmilieus, sind zudem h~.ufig durch ein WirGefahl verbunden (ebd.). Im weiteren Sinne sind Milieus aber durchaus gr6Bere gesellschaftliche Gruppen, die Angeh6rigen mtissen sich nicht unbedingt gegenseitig kennen oder r~iumlich nah (z.B. im ,,Rotlichtmilieu") zusammenleben. Unterschiedliche Werte zu haben kann z.B. heiBen, dass materielle Sicherheit Angeh6rigen eines ,,alternativen" Milieus weniger wichtig ist als einem
104
5 Lebensstile und Milieus
Beamten, oder Erfolg FOr Aufstiegsorientierte ein bedeutenderes Ziel ist als f'tir ,,Hedonisten". Milieus sind keinesfalls unabh~ingig yon sozio6konomischen und soziodemographischen Bedingungen. Aber die Milieuangeh~Srigen ,,filtern" die ,,objektiven" Bedingungen in milieuspezifischer Weise. Je nach Ansatz ist die Verkntipfung mit den ,,objektiven" Merkmalen der sozialen Lage sogar recht eng, z.B. gibt es bei den SiNUS-Milieus (s.u.) innerhalb von sozialen Schichten jeweils mehrere Milieus nebeneinander, die sich durch ihre Werte bzw. Grundorientierungen unterscheiden. Grenzen zwischen den einzelnen Milieus verlaufen dabei mit flieBenden (~erg~ingen. Schichten werden also nach diesem Ansatz differenziert oder erggnzt durch das Modell von Milieus, die nicht (allein) hierarchisch angeordnet sind. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen Lebensstilund Milieukonzepten? Zun~ichst zu den Gemeinsamkeiten: Lebensstil- und Milieumodelle dienen als Alternative zu Klassen- und Sehichtkonzepten der traditionellen Art. Sie unterstellen keine einfache Kausalbeziehung von Handlungsbedingungen zu ihrer Wahrnehmung und Nutzung sowie zu Werten und Verhaltensweisen. Vielmehr kommen dem Handeln und den Entscheidungen sowie der Lebensweise der Akteure selbst relativ groBe Bedeutung zu. Die Modelle k6nnen mehrere Dimensionen integrieren und dadurch Realit~itsn~ihe anstreben. Jedoch gibt es keine vollst~ndige Losl6sung von ,,objektiven" Lebensbedingungen. Die Modelle ordnen den Lebensstilen und Milieus bestimmte Personengruppen zu oder fassen sie zu Typen zusammen. Milieus k0nnen sich teilweise sogar durch bestimmte Lebensstile konstituieren (z.B. bei Nowak/Becker 1985), es besteht also auch eine Ergtinzungsm0glichkeit beider Konzepte (so auch bei Schulze 1992, s.u.). Bei dieser engen Verkntipfung beider Begriffe ist eine Abgrenzung nicht ganz einfach. Tendenziell l~isst sieh aber festhalten: Verhalten ist ein wichtiges Moment flit Lebensstilkonzepte; dabei stehen die Aspekte der (zumindest teilweise bestehenden) Wahlfreiheit und der Expression im Vordergrund. Diese Wahlfreiheiten (und auch die Expressivit~it) unterstellt der Milieubegriff nur in begrenzterer Form, dort geht es st~irker um milieuspezifische Wahrnehmungen und Nutzungen gegebener Bedingungen. Milieu ist also in einigen Begriffsbestimmungen (z.B. Hofmann/Rink 1996, Strasser/Dederichs 2000: 91) etwas n~iher an den ,,objektiven" Gegebenheiten orientiert als Lebensstile, etwas mehr Meso- als Mikroebene (dennoch erhebt auch die Lebensstilforschung den Anspruch, gerade Makro- und Mikroebenen zu verbinden). Hradil unterscheidet zwischen ,,tiefsitzenden" Werthaltungen als kennzeichnend far Milieus und demgegenfiber typischen Verhaltens- und Meinungs-
5.2 Milieus
105
routinen von Lebensstilen (1999: 42). Eine klare Abgrenzung bedeutet dies allerdings nicht, wenn etwa Mentalitgten ihrerseits wiederum Verhaltensweisen pr~gen (a.a.O.: 430). Auch das Argument, Lebensstile wtirden sich schneller ~indem und seien stgrker Moden unterworfen als Milieuzugeh6rigkeiten (a.a.O: 42), ist zumindest nicht fiir alle Lebensstilans~itze plausibel. Beispielsweise liegt bei Bourdieu dem Lebensstil ein sicherlich ebenfalls ,,tiefsitzender" Habitus zugrunde (vgl. Kap. 6). Auch andere Begriffsbestimmungen yon Lebensstil weisen auf die relative Stabilit~it hin, well es beim Lebensstil nicht darum geht, ob man - etwa beim Kleidungsstil - enge oder weite Hosen je nach Mode tr~igt, sondern um dahinter stehende Prinzipien wie z.B. ,,modische" oder ,,solide" Kleidung tragen. Otte sieht Lebensstile als den ,,expressiven Kern" von Milieus an, zu denen zus~itzlich die Zuordnung von Kontextbedingungen (z.B. die soziale Lage oder Netzwerke) geh6rt (1997: 306). Allerdings bleiben auch Lebensstilanalysen meist nicht auf einer individuellen Ebene stehen, sondern verkntipfen Lebensstile mit sozialstrukturellen TrS.gergruppen. Es l~isst sich festhalten, dass die Rolle von Werten in den einzelnen Konzepten unterschiedlich ist: Bei Lebensstilmodellen sind sie manchmal konstituierendes Merkmal, manchmal ein Einflussfaktor; bei einigen Milieumodellen sind sie eine zentrale Dimension, aber bei dem unten beschriebenen Ansatz yon Schulze ist die ,,Lebensphilosophie" nur ein Merkmal unter mehreren. Die Kennzeichen von Milieumodellen erschliegen sich noch deutlicher, wenn im Folgenden einige konkrete Ans~itze vorgestellt werden. Die SINUS-Milieus
Der Ausgangspunkt einer Studie von U. Becker und H. Nowak (1985) im Auftrag des SINUS-institutes bestand darin, Lebenswelten fiber subjektive Lebenslagen und -stile zu erfassen. Dementsprechend definieren sie soziale Milieus: ,,Soziale Milieus fassen ... Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ~ihneln, die also subkulmrelle Einheiten in der Gesellschaft bilden." (Nowak/Becker 1985: 14) Die Untersuchung dieser Lebensweisen ist eng an die Interessen der Marktforschung geknfipft, anhand der Milieus (und entsprechend typischer Konsumstile ihrer Angeh6rigen) sollen Produzenten von Konsumgt~tern ihre Zielgruppen erkennen und die Werbung darauf abstimmen k6nnen.
106
5 Lebensstile und Milieus
Nach qualitativen Interviews Ende der siebziger Jahre gab es 1982 die erste quantitative 12Iberprfifung, deren Ergebnisse Becker/Nowak schildem: Es ergaben sich acht Milieus in einem Koordinatensystem, dessen waagrechte Achse nach traditionellen bis postmateriellen Wertorientierungen 19 geordnet ist und dessen senkrechte Achse eine Schichteinteilung darstellt. Das Modell wurde seither in repr~isentativen Erhebungen auf Vergnderungen der Milieugr6Ben untersucht (beispielsweise lag der Anteil des traditionellen Arbeitermilieus in Westdeutschland 1982 bei 9,8%, 1997 nur noch bei 4,8%; Angaben lt. Tabelle in Hradil 1999: 428). 1991 nahmen die Forscher ein neues Milieu auf, das ,,moderne Arbeitnehmermilieu", gleichzeitig entwickelten sie far Ostdeutschland ein eigenstfindiges Modell mit neun Gruppen. Im Jahr 2000 sch~irften sie die Profile nochmals und verfeinerten das Verfahren der Milieuzuordnung. Einige Milieus benannten sie ,,zeitgem~iB" um. Eine wichtige Anderung besteht zudem darin, dass nun ein gesamtdeutsches Milieumodell vorgelegt wurde (www.sinus-sociovision.de). Die Achsen des Modells bilden weiterhin horizontal die Grundorientierungen yon traditionellen fiber moderne zu postmodernen Werten und vertikal soziale Schichten auf der Basis von Bildung, Beruf und Einkommen. Es ergeben sich anhand einer Clusteranalyse zehn sich teilweise etwas fiberlagernde Milieus, die 2007 f'tir die Grundgesamtheit der Wohnbev61kerung ab 14 Jahren so verteilt sind:
~9,,Traditionelle,,Werte sind z.B. PflichterftillungodermaterielleSicherheit,,,postmaterielle"Werte z.B. Selbstverwirklichung oder Partizipation; vgl. zum Wertewandel Inglehart 1977, 1995; Meulemann 1996;Gensicke1996;Klages/Gensicke1999;Oesterdieckhoff/Jegelka2001.
5.2 Milieus
107
Abbildung 14. Die Sinus-Milieus 2007 ......
Sinus i~
~ O~r~ch~chV
Etablterte 10%
M|ttetschtcht ................... 1
I
SinUs A12
~ Konseriailve '~ ........ 5%
tPoslrriai~rlelt~
~1111i115
All2
DIIR; l l l s i ~ l schll
~/~
!i
erl~tltlertli"~l}
~Inus C2
Expeilmentllllstell 8%
"~ ~-
SINUS ~C3 Heltonlsteli
,i ,++ 1
10%
Sin.s B2
Tradlill~lit. llllwurielte
Mltielscht~ht/ ! Unt~cihlcht
Performel"
Eh~lGtltiiliche Mitre
Sinu~ A23
/"
Modern~ .....................
10%
I Mltilei'~ 9 i Mfttetschlchi
Sozl~te
Sirius Ct2
f i n ~ s 1t12
t Tradlfli)rlel|e Werte
l odeci~lslei~ltlg !
~
Nluo~ientierlillg
ExOerei~s~f,~#r~,:te.
!
Quelle: www.sinus-sociovision.de (Startseite) Oben sind gesellschaftliche Leitmilieus (30%) angesiedelt, am linken Rand traditionelle Milieus (24%), in der Mitte Mainstream-Milieus (27%) und rechts hedonistische Milieus (l 9%). Am Beispiel der ,,Experimentalisten" soll angedeutet werden, welche Merkmale sich hinter einer Milieubezeichnung verbergen: Sie sind die individualistische neue Boh6me, sind spontan und haben das Selbstverstiindnis, die Lifestyle-Avantgarde zu sein. Sie sind often ftir Neues, leben lustvoll unterschiedliche Rollen und auch Widersprtiche aus, lehnen Routinen dagegen eher ab und wolten sich nicht langfristig festlegen. Daftir sind ihnen auch Status und Karriere weniger wichtig. Sie haben ein grol3es Bediirfnis nach Kommunikation und Unterhaltung. Ihrer sozialen Lage nach sind sie jung (im Schnitt unter 30 Jahre), oft Single. Gehobene Bildungsabschltisse sind charakteristisch, unter den Experimentalisten sind viele Auszubildende oder Studenten. Wghrend es vergleichsweise viele Personen ohne eigenes Einkommen gibt, liegen sie beim Haushaltsnettoeinkommen tiber dem Durchschnitt. In die Beschreibung eines Milieus gehen also nicht allein Werthaltungen und Lagemerkmale ein, sondern auch Verhaltensmerkmale (das Modell geht somit von einer typischen Verkniipfung von Werten und Verhalten aus).
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5 Lebensstile und Milieus
Nach einem ~hnlichen Schema identifiziert das Institut auch l~nderfibergreifende, so genannte ,,Meta-Milieus". Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen verschiedener Lander, aber vergleichbarer Milieus oft mehr miteinander verbindet als mit ihren Landsleuten, die anderen Milieus zugehSren. Zu solchen gemeinsamen Grundorientierungen geh6ren in Westeuropa laut Sinus traditionelle, etablierte, intellektuelle, moderne Mainstream-, konsum-materialistische, sensationsorientierte und ,,modern performing"-Milieus. Die sowohl vertikal als auch horizontal in der Mitte angesiedelte ,,modern mainstream"-Orientierung beispielsweise zeichnet sich durch den Wunsch nach einem angenehmen und harmonischen Leben sowie durch das Streben nach materieller und sozialer Sicherheit aus (www.sinus-sociovision.de). Kritisch wendet G. Schulze zu den Sinus-Milieus ein, dass subjektive Dimensionen (fiber Werthaltungen) nur eindimensional erfasst wUrden und die Aufnahme yon Kategorien der Schichtungsforschung verwundere, nachdem doch gerade der Zweifel an empirisch auffindbaren Schichten die Forschenden geleitet h~tte (1990: 421). H.-P. MUller ~hrt an, dass die Determinanten z.B. der Milieubildung und des Milieuwechsels ausgeblendet bleiben und dass das Modell zwar individuellen Wertewandel, aber nicht ausreichend den Zusammenhang zum sozialstrukturellen und institutionellen Wandel berUcksichtige (MUller 1989: 63). Milieus nach Vester et al.
Vester et al. (1993, 2001) untersuchen aus einer enger soziologischen Perspektive ausdrUcklich ,,soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel". Sie bezeichnen Milieus, auch mit Verweis auf Bourdieu, als Gruppen mit ~hnlichem Habitus und ~hnlicher Alltagskultur (2001: 24) und stellen fest: ,,Die sozialen Milieus ... haben sich seit der Entstehung der Bundesrepublik erheblich ver~Jadert. Als fest gef't~gtepolitische Gro6gruppen, die sich als kfimpfende Lager scharf gegeneinander abgrenzen, bestehen sie nicht mehr. Als lebensweltliche Traditionslinien, die sich nach dem Stil und den Prinzipien ihrer allt~glichen Lebensfuhrung unterscheiden, wirken sie fort ... Gleichwohl sind diese gro6en Traditionslinien heute immer noch durch erhebliche Kulturschranken und gegenseitige Vorurteile voneinander getrennt." (Vester et al. 2001: 13). Die Ver~nderungen der Milieus kennzeichnen die Autoren so, dass die historischen Traditionslinien der Milieus fortbestehen, sich aber differenziert und modernisiert haben. Sie haben sich, wie Familienstammb~ume, in neue Zweige mit stfirkeren ,,postmateriellen" oder ,,individualisierten" Einzelzfigen aufgef~chert
5.2 Milieus
109
(a.a.O.: 16, 33). Die sozialen Milieus nach Vester et al. in Westdeutschland sehen dann 2003 so aus:
Abbildung 15." Die soziaten Milieus in Westdeutschland 2003 Sozi~ie
Milieus
in Westdeutschtan.cl
- 2013
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