Soziale Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen: Entwickelt am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien [1 ed.] 9783428584864, 9783428184866

Die vorliegende Studie setzt sich kritisch mit der Rezeption der Prinzipientheorie von Robert Alexy als Modell einer Dog

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German Pages 320 [321] Year 2022

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Soziale Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen: Entwickelt am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien [1 ed.]
 9783428584864, 9783428184866

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Schriften zur Rechtstheorie Band 300

Soziale Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen Entwickelt am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien

Von

Pablo Miozzo

Duncker & Humblot · Berlin

PABLO MIOZZO

Soziale Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen

Schriften zur Rechtstheorie Band 300

Soziale Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen Entwickelt am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien

Von

Pablo Miozzo

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 25 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18486-6 (Print) ISBN 978-3-428-58486-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Zum Gedenken an Umberto Miozzo

Vorwort Die vorliegende Schrift ist von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-­ Ludwigs-Universität Freiburg im Sommersemester 2021 als Dissertation angenommen und mit summa cum laude bewertet worden. Auf dem Weg zu diesem Ergebnis haben mich viele Menschen begleitet und mir geholfen. Ein besonderer Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Ralf Poscher, für die vielfältige Förderung und die zahlreichen Impulse und Anregungen, die in dieses Buch eingegangen sind. Auch bei Herrn Prof. Dr. Matthias Jestaedt möchte ich mich bedanken, dass er die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen hat. Für die Durchsicht von Entwürfen und Manuskripten danke ich Herrn Prof. Dr. Friedrich Müller und Dr. Benjamin Rusteberg sowie Frau Gerda Wagner und Herrn Gert Müller, die mir bei der deutschen Sprache geholfen haben. Von den Freunden und Kollegen an der Fakultät danke ich besonders Rodrigo Cadore und Rafael Dalla Barba, die zuverlässige und konstruktive Gesprächspartner waren. Auch bei Frau Sabine Bennemann möchte ich mich für die ständige Hilfe bei bürokratischen Fragen bedanken. Nicht zuletzt gilt mein Dank sowohl dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mit einem Stipendium meinen Aufenthalt in Deutschland gefördert hat, und der Bundesstaatsanwaltschaft Brasiliens (AGU), bei der ich beruflich tätig bin und die mir die Erlaubnis erteilte, in Deutschland zu promovieren. Meiner Ehefrau Michele und meinem Sohn Lucca will ich ein herzliches DANKE sagen, weil sie so viele Stunden und Tage auf meine Gegenwart verzichtet, mich aber immer unterstützt und ermutigt haben. Ihnen ist daher dieses Buch gewidmet. Pelotas-RS, Brasilien, im Juli 2021

Pablo Miozzo

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy und die Problematik der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1. Der Rechtsbegriff: die Doppelnatur des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 a) Das Richtigkeitsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 b) Das Unrechtsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 c) Das Prinzipienargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 aa) Die Inkorporationsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 bb) Die Moralthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 cc) Die Richtigkeitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Die juristische Interpretation, die Rechtsfortbildung und die juristische Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Die juristische Interpretation als hermeneutische Frage . . . . . . . . . . . . . . . 31 b) Die Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 c) Die juristische Argumentation und die Sonderfallthese . . . . . . . . . . . . . . . 34 3. Die Begriffe der Verfassung, des Grundrechts und des Konstitutionalismus . . 37 a) Die Verfassung als Grundordnung der Gemeinschaft und als Wertordnung 38 b) Der nichtpositivistische Begriff der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 c) Die Interpretation der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 d) Konstitutionalismus vs. Legalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4. Die Theorie der Grundrechte als interpretatives Modell einer allgemeinen Grundrechtsdogmatik für das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Die Beziehung zwischen dem Begriff der Dogmatik und dem der Theorie der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Der Begriff der Grundrechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Die Struktur der Grundrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 aa) Prinzipien und Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Der Unterschied zwischen Prinzipien und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . 56

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Inhaltsverzeichnis cc) Abwägung als argumentatives Modell bei der Anwendung von Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 dd) Die formellen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 d) Die Theorie der rechtlichen Grundpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5. Das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung im prinzipientheoretischen Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Der Konflikt zwischen Grundrechten und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber: die Verfassungsgerichtsbarkeit als argumentative Repräsentation des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 c) Die Dogmatik der Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 II. Die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Der Begriff des sozialen Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Soziale Grundrechte im Grundgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a) Der theoretische Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Der dogmatische Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 c) Der methodologische Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 d) Der funktionell-rechtliche Einwand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 e) Die herrschende Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 f) Die Position des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 g) Die Stellungnahme Alexys: Soziale Grundrechte als Optimierungs­gebote 82

C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien: kritische Anmerkungen bezüglich der Dogmatik der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Die Vorgeschichte der brasilianischen Verfassung von 1988 . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Die Verfassung von 1824 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Die Verfassung von 1891 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Die Verfassung von 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Die Verfassung von 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5. Die Verfassung von 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6. Die Verfassung von 1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Die brasilianische Verfassung von 1988: wichtige Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Die Positivierung sozialer Grundrechte in der Verfassung: faktische und normative Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Der Unterschied zwischen dem in der Verfassung idealisierten Sozialprojekt und der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Die diffuse Positivierung der Sozialstaatsklausel und der vielfältigen Staatsaufträge: Der „programmatische Charakter“ der Verfassung . . . . . . . . . . . 97

Inhaltsverzeichnis

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c) Der Katalog der Grundrechte und die Verankerung sozialer Rechte in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 d) Die Notwendigkeit, die Normativität der Verfassung gegen alte Traditionen zu stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Die Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“ als herrschendes dogmatisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Die Rezeption der Prinzipientheorie und die „Überwindung“ der „Verfassungsschriften mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“ . . 104 e) Die sozialen Grundrechte in der wissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . 105 aa) Die sogenannte „unmittelbare Anwendbarkeit“ der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Die sozialen Grundrechte als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2. Besondere Merkmale des Verfassungsgerichtsbarkeitsmodells . . . . . . . . . . . . 113 a) Die „dekonzentrierte“ oder „diffuse“ Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Die „konzentrierte“ oder „zentralisierte“ Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . 115 c) Die Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen: Modalitäten . . . . 115 d) Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) in Bezug auf die Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen: die „Mandado de Injunção-Klage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Die anfängliche Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 bb) Die geänderte Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 cc) Die aktuelle gesetzliche Regulierung der „Mandado de InjunçãoKlage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie als interpretatives Modell der sozialen Grundrechte in Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Die Prinzipientheorie von Alexy: rechtstheoretische, verfassungsrechtliche, rechtsmethodologische und grundrechtsdogmatische Einwände . . . . . . . . . . . 122 a) Der Rechtsbegriff: Zirkelschluss oder regressus ad infinitum? . . . . . . . . . 122 b) Der Begriff der juristischen Interpretation aus linguistisch-hermeneutischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 c) Der Rechtsbegriff und das Problem der Interpretation und der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 d) Der Zirkelschluss in der Theorie der juristischen Argumentation . . . . . . . 137 e) Die ideale Verfassung und die idealen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 f) Die falsche Dichotomie zwischen Konstitutionalismus und Legalismus . . 141 g) Der Begriff der Dogmatik aus der Sicht der doppelten Natur des Rechtes 143 aa) Die undurchsichtige Relation zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Das potenzielle Übergewicht der normativen Dimension der Dogmatik 144 h) Der semantische Begriff der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

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Inhaltsverzeichnis aa) Die unmittelbar statuierte (Grundrechts-)Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 bb) Die zugeordnete (Grundrechts-)Norm als Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 i) Der Begriff der Regel als Chimäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Der Begriff der Regel als vom Normsatz unmittelbare statuierte (Grundrechts-)Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Der Begriff der Regel als zugeordnete (Grundrechts-)Norm . . . . . . . 151 j) Einwände gegen den Prinzipienbegriff von Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Rechtstheoretische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Rechtsmethodologische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 cc) Grundrechtsdogmatische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Funktionell-rechtliche Einwände gegen die Prinzipientheorie: die Rolle der Legislative und der Exekutive im Bereich der Leistungsgrundrechte und die Hypertrophie der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Das Verhältnis zwischen den Leistungsgrundrechten und der Gesetzgebung: Konflikt zwischen Demokratie und Grundrechten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Die Judikative als primärer Adressat des Gebots, die Leistungsgrundrechte zu konkretisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 c) Die unmittelbare Anwendbarkeit der Verfassung und die Konfusion zwischen den Ebenen der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 d) Die Unsichtbarmachung der in der Verfassung verankerten Normenkon­ trolle gegen verfassungswidrige Unterlassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Die Prinzipientheorie von Alexy als Dogmatik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung: Kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Kontextuelle Unterschiede zwischen der brasilianischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz als interpretatives Problem . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Der Begriff der (brasilianischen) Verfassung als Grund- und Rahmen­ ordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Soziale Grundrechte sind keine Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 d) Interpretation und Anwendung von Verfassungsvorschriften mit verschiedener Regulierungsdichte durch die Prinzipientheorie und die Methode der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 e) Zur Notwendigkeit eines dogmatischen Modells, das nicht von der Idee der Kollision ausgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 f) Die Eingriffs- und Ausgestaltungsdogmatik aus der Sicht der Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien . . . . . . . . 180 I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie im Zusammenhang der Sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Die Problematik des Begriffs „Ausgestaltung“ in Deutschland . . . . . . . . . . . . 180

Inhaltsverzeichnis

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a) Die Grundlinien zur Entwicklung einer Dogmatik: „Begrenzung“ und „Ausgestaltung“ von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Der Begriff der „Ausgestaltung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 c) Dogmatische Versuche, die Figur „Ausgestaltung“ zu umreißen . . . . . . . . 184 aa) Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Bumke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 dd) Gellermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 ee) Cornils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 d) Die Rezeption der Ausgestaltung in der Rechtsprechung des BVerfG: das Existenzminimum als ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht . . . . . . . . . . 193 2. Die mögliche Rolle der Kategorie der Ausgestaltung in Bezug auf die sozialen Grundrechte in Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Zurück zur Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“? . . . . . 198 b) Die Grundrechte in der brasilianischen Verfassung: der abwehrrechtliche und der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . 200 c) Kollidieren die sozialen Grundrechte mit anderen Grundrechten oder mit Kompetenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 d) Die Reflexivität der sozialen Grundrechte: Gesetzgebungsgebot statt Optimierungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 e) Ausgestaltungsbedürftigkeit als gemeinsames Merkmal aller sozialen Grundrechte: Einheit in der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 f) Der Gesetzgeber nicht als Gegner, sondern als Bedingung der Möglichkeit der sozialen Grundrechte: Die harmonische Beziehung zwischen Grundrechten und einfachem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 g) Die sozialen Grundrechte, der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte und das Ausgestaltungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 h) Parameter für den ausgestaltenden Gesetzgeber: Kernbereich, Mindeststandard oder Mindestmaß statt Maximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik: der Fall des Grundrechts auf Sozialversicherung in der brasilianischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Die Multidimensionalität der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung. Fragen eines allgemeinen Teils der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . 215 a) Soziale Grundrechte als bloß programmatische Verfassungsvorschriften . 216 b) Die sozialen Grundrechte als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) Der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . 218 d) Die sozialen Grundrechte als Staatszielbestimmungen bzw. als Handlungsgebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 e) Soziale Grundrechte als normative-, faktische-, originäre- und derivative Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

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Inhaltsverzeichnis f) Eine funktionell-rechtliche Interpretation der sozialen Grundrechte: Denken von der Kompetenz her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 g) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Die Notwendigkeit einer Bereichsdogmatik der unterschiedlichen sozialen Grundrechte: Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3. Der (leistungsrechtliche) Gehalt des Grundrechts auf Sozialversicherung – Bereichsdogmatik als Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Das Verhältnis zwischen den sozialen Grundrechten und der Sozialen Ordnung in der brasilianischen Verfassung: die horizontale Regulierungsdichte als Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Das Grundrecht auf Sozialversicherung als Teil der Sozialen Sicherheit: Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 c) Teleologie des Grundrechts auf Sozialversicherung (immanente Teleologie) 237 d) Konstitutionalisierung, Gesetzmäßigkeit der Verfassung und Historizität des Rechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 e) Das Grundrecht auf Sozialversicherung und das Existenzminimum . . . . . 240 f) Das Recht auf Sozialversicherung und die Garantie von Freiheit und faktischer Gleichheit (Chancengleichheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 g) Das Recht auf Sozialversicherung und der Vorbehalt des Möglichen . . . . 243 h) Die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit im Bereich der sozialen Grundrechte. Das Recht auf Sozialversicherung und der Prinzipientheorie . . . . . 245 aa) Verlängerung des Mutterschaftsgelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 bb) Renten-/Pensions-Zusatzbestimmung über eine Erhöhung um 25 % . 249 cc) „Desaposentação“ / Rücktritt aus dem Rentenstatus – „Ent-Rentung“ . 253 i) Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) zur ‚Ent-Rentung‘: die Nichtanerkennung der Annahmen der Prinzipientheorie 256 j) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4. Die Ausgestaltung des Grundrechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . 262 5. Die Umgestaltung des Rechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte: die Bindung an die Verfassung und an die Gesetzgebung und das Problem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 274 1. Die Verfassungsgerichtbarkeit aus der Sicht des Verhältnisses zwischen dem Recht auf Sozialversicherung und den verfassungsrechtlichen Kompetenzen . 275 a) Wann findet eine verfassungswidrige Unterlassung statt? Das Problem der Lücken im Bereich des Rechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 275 b) Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassung: Wer ist dafür zuständig? 278 c) Die Mandado de Injunção-Klage und das Recht auf Sozialversicherung als originäres und derivatives Leistungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 d) Untermaßverbot und die Kontrolle von Unterlassungen: der Fall der sozialen Rechte in Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Inhaltsverzeichnis

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e) Die Evidenzkontrolle und die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung im Bereich der sozialen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Die Bindung der Leistungsverwaltung und der Fachgerichtsbarkeit an das hierarchisch organisierte Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 a) Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Rolle der Leistungsverwaltung und der Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Die richterliche Normenkontrolle der Fachgerichte im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 c) Interpretation und Rechtsfortbildung des Grundrechts auf Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

A. Einleitung I. Gegenstand der Untersuchung Die Prinzipientheorie von Robert Alexy, die im Rahmen seiner Theorie der Grundrechte1 entwickelt wurde, beeinflusste und beeinflusst in verschiedenen Ländern die Debatte im Bereich der Rechtsphilosophie und des Verfassungsrechts.2 Brasilien ist eines der Beispiele für den Erfolg dieser Theorie. Seit spätestens Mitte der 1990er Jahre wird Alexys Werk nicht nur im akademischen Bereich studiert und gewinnt immer mehr an Sichtbarkeit und Anhängerschaft, sondern Alexys Gedanken und Vorstellungen werden auch in der Praxis von den Gerichten angewandt, wenn auch nur teilweise und in der Regel nur in den allgemeineren Aspekten, wie z. B. die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip sowie die Verwendung der Abwägungsmethode – insbesondere bei Grundrechtsfragen im Allgemeinen und bei den sozialen Grundrechten im Besonderen. Die brasilianische Verfassung, die seit 1988 in Kraft ist, repräsentiert den Bruch mit einem mehr als 20 Jahre dauernden autoritären Militärregime, in dem die individuellen Freiheiten und die politischen Rechte der Bürger systematisch missachtet wurden. Hervorzuheben ist daher die umfangreiche Liste von Grundrechten, die als Reaktion auf die autoritäre Zeit in der Verfassung von 1988 vorgesehen sind, einschließlich einer breiten Palette sozialer Grundrechte. Vor 1988 hatte Brasilien zwar verschiedene Verfassungsregime durchlaufen, aber die Diskussion um die Grundrechte und ihre Rolle im Rechtsstaat war in der Dogmatik des Verfassungsrechts nie in den Vordergrund gerückt worden. Denn, obwohl alle früheren Verfassungen Rechte enthielten und Freiheiten garantierten, wurden diese bis zur Verfassung von 1988 nicht als für alle Staatsgewalten verbindliche Grundrechte behandelt. Vor der aktuellen Verfassung herrschte in Theorie und Praxis die Auffassung, dass bestimmte Verfassungsvorschriften, insbesondere solche, die vom Staat zu verfolgendem Zweck oder Ziele vorsehen, nicht mit ausreichender normativer Kraft ausgestattet waren, um eine unmittelbare Vollstreckbarkeit ihres Inhalts juristisch verfolgen zu können. Mit anderen Worten: Bestimmte Rechte, die in den 1

Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt: Suhrkamp, 1994. In diesem Sinn zu Abwägungslehre und Theorie der Grundrechte bei Alexy siehe: Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt /  Axer (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee. C. F. Müller Verlag, Heidelberg, 2007, S. 1–2. 2

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A. Einleitung

Verfassungen der gesamten brasilianischen Verfassungsgeschichte vorgesehen waren, wurden nicht als subjektvierbar betrachtet. Diese Tatsache wurde mit der Verfassung von 1988 in normativer Hinsicht verändert, indem sie – inspiriert vom europäischen Konstitutionalismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – den genannten Grundrechtekatalog einschließlich eines umfangreichen und vielfältigen Bündels sozialer Rechte ausdrücklich positiviert, mit einer unmittelbaren Anwendbarkeit (Art. 5 § 1 der brasilianischen Verfassung) ausgestattet und damit für die drei Staatsgewalten verbindlich gemacht hat. Was die sozialen Grundrechte betrifft, begann in Lehre und Rechtsprechung eine ausführliche Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen dieser Subjektivierbarkeit. Grundrechte, wie das auf Gesundheit (Art. 6 der brasilianischen Verfassung), wurden in den Anfangsjahren der Verfassung noch als Programmsätze verstanden,3 obwohl schon damals eingeräumt wurde, dass sie zumindest hinsichtlich ihres negativen Inhalts, d. h. als Grenzen des staatlichen Handelns, Verbindlichkeit besaßen. Der leistungsrechtliche Gehalt dieser Grundrechte wurde jedoch nicht als verbindlich akzeptiert. Genau in diesem Zusammenhang gewinnt die Prinzipientheorie als ein das bisherige Verständnis überwindendes Modell an Bedeutung, um die Verbindlichkeit der sozialen Grundrechte auch im Hinblick auf ihren leistungsrechtlichen Gehalt zu operationalisieren. Das von der Prinzipientheorie vertretene Konzept der (sozialen) Grundrechte als Prinzipien hat daher immer mehr Anhänger gewonnen, bis es zum vorherrschenden dogmatischen Modell in Brasilien wurde. Darüber hinaus haben Gerichte bestimmte (soziale) Grundrechte, wie das Grundrecht auf Gesundheit oder das auf Sozialversicherung, auf der Grundlage einiger Annahmen dieser Theorie als subjektive Rechte angewandt. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien, die Konzeption der Grundrechte als Prinzipien und die Verwendung der Abwägung als Methode der Anwendung der Grundrechte, die von der Prinzipientheorie Alexys vorgeschlagen werden, allmählich axiomatisch und zu als absolut richtig anerkannten wissenschaftlichen Ausgangspunkten für die Diskussion im Bereich der Grundrechte in Brasilien wurden. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht nun zunächst darin, die Rezeption der Prinzipientheorie als dogmatisches Modell für die sozialen Grundrechte in Brasilien und vor allem ihre Axiomisierung in Frage zu stellen und ihre Unangemessenheit aufzuzeigen.

3 In Brasilien gab es schon vor der Verfassung von 1988 wichtige Stimmen in der Lehrmeinung, die die Verbindlichkeit der verfassungsrechtlichen Programmsätze verteidigten. Diese normativen Gattungen wurden nicht im Sinne bloßer positiver Ziele, sondern als Normen mit juristischer Verbindlichkeit konzipiert, allerdings nur hinsichtlich ihres Abwehrgehalts gegenüber dem Staat. Ausführlicher dazu unter C. II. 1. d), e).

II. Gang der Untersuchung

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Ausgehend von einem Dialog zwischen der Tradition der brasilianischen Dogmatik des Verfassungsrechts, über die Funktionen der Verfassungsvorschriften4 im Allgemeinen und die der Grundrechte im Besonderen, und der Kategorie der Grundrechtsausgestaltung, die im deutschen Rechtsdenken auf dem Gebiet der Dogmatik der Grundrechte, insbesondere bezüglich des Gehalts dieser Grundrechte, der über deren Rolle als Abwehrrechte hinausgeht, entwickelt wurde, werden die allgemeinen Grundlagen einer Dogmatik des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte der brasilianischen Verfassung dargestellt werden, ohne mit den rechtstheoretischen Annahmen und mit den zitierten dogmatischen Kategorien der Prinzipientheorie zu arbeiten. Das Grundrecht auf Sozialversicherung wird dabei als Beispiel verwendet.

II. Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist in drei Kapitel unterteilt. Im ersten, das einen überwiegend deskriptiven Aspekt hat, werden die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy und die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland analysiert. Die Alexysche Theorie der Grundrechte und sein Verständnis der Grundrechte als Prinzipien werden in einem breiteren Kontext betrachtet: in der Verbindung der von ihm entwickelten Prinzipientheorie mit dem übrigen (rechtstheoretischen und philosophischen) Denken, in seinem Verhältnis zum von ihm vorgeschlagenen Begriff des Rechts, mit seinen Konzepten der Interpretation, Rechtsfortbildung und juristischen Argumentation und mit den Begriffen der Verfassung und des Konstitutionalismus. Zudem werden die Vorstellungen von Alexy zum Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung sowie von Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit beleuchtet. Diese Form der Annäherung ist einerseits durch die Existenz einer starken Verbindung zwischen diesen Themen sowie durch die Tatsache gerechtfertigt, dass diese Beziehung untrennbar mit der Art und Weise verbunden ist, wie Alexy das Rechtsphänomen aus einem Dualismus zwischen einem idealen Recht und einem realen Recht versteht. Dieser Dualismus ist wesentlich, um sein Konzept der Grundrechte zu verstehen. In diesem Zusammenhang wird auch das klare Anliegen Alexys sowohl an der Systematik und inneren Kohärenz seiner Argumentation innerhalb der Theorie der Grundrechte als auch an der äußeren Kohärenz dieser Theorie mit den ihr zugrundeliegenden rechtsphilosophischen Prämissen 4 Der Ausdruck „Verfassungsvorschriften“ wird hier als Synonym für das verwendet, was Friedrich Müller in der von ihm propagierten Unterscheidung zwischen Normtext und Norm als „Verfassungstexte“ bezeichnet. Vgl. dazu Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik. Entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation. Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 147 ff., Müller, Strukturierende Rechtslehre. Berlin: Duncker & Humblot, 1984, S. 263 ff. und Müller / Christensen, Juristische Methodik, Band I. Grundlegung für die Arbeitsmethoden des Rechtspraxis. 10. Aufl. Berlin, Duncker & Humblot, 2009, S. 183 ff. und passim.

20

A. Einleitung

deutlich – was als eine Tugend der Struktur des Denkens von Alexy angesehen werden kann. Daher könnte eine isolierte Analyse der Alexyschen Theorie der Grundrechte – auch wenn sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit möglich wäre –, die sich auf die Untersuchung der Grundrechte des Grundgesetzes beschränken oder diese sogar mit den in anderen Verfassungen  – wie z. B. der brasilianischen – vorgesehenen Grundrechten vergleichen würde, tiefere Probleme verdecken. Eine ganzheitliche, holistische Perspektive wird hingegen diese Probleme deutlich machen, insbesondere wenn man auf die Rezeption dieser Theorie in anderen Rechtsordnungen eingeht, was leider oft ohne die Berücksichtigung dieser weitergehenden Zusammenhänge und die damit verbundenen Probleme unternommen wird. Ebenfalls im ersten Kapitel wird die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland untersucht und dargestellt, d. h. wie die Lehrmeinung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dieses Thema konzipieren. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die im Grundgesetz vorgesehenen Grundrechte, die grundsätzlich die typische Struktur von Abwehrrechten aufweisen, auch als Leistungsrechte und folglich möglicherweise als soziale Grundrechte uminterpretiert werden können – und müssen. Schließlich soll untersucht werden, wie diese Proble­ matik der sozialen Grundrechte von Alexy im Rahmen seiner Theorie der Grundrechte als Modell für eine allgemeine Grundrechtsdogmatik für das Grundgesetz betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang wird Alexys Konzeption der sozialen Grundrechte als Prinzipien bzw. als Optimierungsgebote hervorgehoben. Im zweiten Kapitel, das eine deskriptiv-kritische oder auch dekonstruktive Ausrichtung hat, wird das Phänomen der Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien untersucht. Ziel ist es, zum einen aufzuzeigen, wie diese Rezeption in Bezug auf die Dogmatik der Grundrechte im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen bis hin zur Entwicklung eines praktisch hegemonialen Modells erfolgte, und zum anderen eine kritische Würdigung dieser Rezeption im Sinne einer Verteidigung der Untauglichkeit der Prinzipientheorie als interpretatives Modell der sozialen Grundrechte in Brasilien vorzunehmen. Zu diesem Zweck werden einige Merkmale der brasilianischen Verfassung von 1988 vorgestellt, die sie vom Grundgesetz unterscheiden. Hervorzuheben ist beispielsweise die Art und Weise, wie die Sozialstaatsklausel und die Grundrechte in der brasilianischen Verfassung positiviert wurden. Diese Verfassung sieht z. B. nicht nur facettenreiche Verfassungsaufträge bzw. Staatszielbestimmungen vor, sondern ausdrücklich auch soziale Rechte als Grundrechte mit direkter oder unmittelbarer Anwendbarkeit. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungstext strukturiert wurde. Die brasilianische Verfassung sieht ein Modell der Verfassungskontrolle vor, das zum einen Merkmale des amerikanischen Modells, der sogenannten „dekonzentrierten“ oder „diffusen“ Normenkontrolle, bei der alle Richter und Gerichte für die Verfassungskontrolle zuständig sind, und zum anderen Elemente des europäischen Modells

II. Gang der Untersuchung

21

der Normenkontrolle vereint, zu dessen Merkmalen es gehört, dass in der Regel nur das Verfassungsgericht diese Kompetenz hat. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal des brasilianischen Modells ist die Regelung der Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen, sowohl in abstrakter als auch in konkreter Form. Was die Prinzipientheorie als interpretatives Modell für die sozialen Grundrechte betrifft, werden einerseits rechtstheoretische, verfassungsrechtliche, rechtsmethodologische, grundrechtsdogmatische und funktionell-rechtliche Einwände gegen diese Theorie selbst und andererseits die Kritik an ihrer Übernahme als Dogmatik in Brasilien formuliert. Das zentrale Argument, das im Zusammenhang mit der Rezeption der Prinzipientheorie verteidigt werden soll, besteht darin, dass die Unterschiede zwischen Grundgesetz und brasilianischer Verfassung hinsichtlich der Positivität der Grundrechte und der Organisation von Sozialstaat und Verfassungskontrolle große Vorsicht bei einem simplen Import dieses in Deutschland entwickelten theoretisch-dogmatischen Modells nach Brasilien erfordern. Das liegt daran, dass dogmatische Probleme, die in dem einen oder dem anderen Kontext auftreten, in der Regel unterschiedlicher Natur sind. Diese Unterschiede implizieren nicht die Unmöglichkeit eines Dialogs, aber die Unangemessenheit der Prinzipientheorie für diesen Zweck, da ein großer Teil der Probleme, die diese Theorie für den deutschen Rechtskontext zu lösen vorschlägt, im brasilianischen Rechtskontext nicht in gleicher Weise vorkommt. Im dritten und letzten Kapitel mit propositivem Charakter soll der Vorschlag einer Dogmatik der sozialen Grundrechte vorgelegt werden, der das Modell der Prinzipientheorie in Brasilien ersetzen kann, also „ohne Prinzipien und Abwägungen“ arbeitet. Im Mittelpunkt stehen die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen sozialen Grundrechte im Allgemeinen und das Grundrecht auf Sozialversicherung im Besonderen. In diesem Vorschlag wird die im deutschen Rechtskontext entwickelte Dogmatik der „Grundrechtsausgestaltung“ besonders hervorgehoben werden. In einem ersten Schritt werden das Konzept und die Funktionsweise dieser dogmatischen Kategorie im Zusammenhang mit der deutschen juristischen Literatur und der Rechtsprechung des BVerfG, insbesondere der Umgang des Gerichts mit dem Existenzminimum, diskutiert. In einem zweiten Schritt wird die mögliche Bedeutung der Übernahme der Idee der „Grundrechtsausgestaltung“ als Ausgangspunkt für die Konstruktion einer verfassungsmäßigen Dogmatik der sozialen Grundrechte in Brasilien analysiert. Die Idee der Ausgestaltungsbedürftigkeit als gemeinsames Merkmal aller sozialen Grundrechte (Einheit in der Vielfalt) und die Reflexivität5 dieser Rechte wird verteidigt, was bedeutet, sie als Gesetzgebungsgebote und nicht als Optimierungsgebote6 zu betrachten. Diese Aussage hebt „die harmonische Seite des Beziehungsgeflechts zwischen Grundrechten und subkonstitutionellem Recht“ hervor, d. h. 5 Zum Begriff vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 2 und passim. 6 Zum Begriff vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75–76 und passim.

22

A. Einleitung

eine andere Perspektive als die von der Prinzipientheorie vertretene, für die die konfliktuelle Seite des Bezugs zwischen Recht und Gesetz im Vordergrund steht.7 Im Folgenden wird am Beispiel des Grundrechts auf Sozialversicherung eine normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik vorgeschlagen, die auf der Idee der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie im Zusammenhang der sozialen Grundrechte aufbaut. Die hohe Regulierungsdichte der sozialen Grundrechte, die bereits auf Verfassungsebene besteht – hier „horizontale Regulierungsdichte“ genannt – wird die Hauptlinie sein, die die Entwicklung dieser Dogmatik leiten wird. Unter diesem Punkt werden zunächst die Multidimensionalität der sozialen Grundrechte und die Fragen eines allgemeinen Teils der Dogmatik dieser Grundrechte analysiert. Danach wird eine Bereichsdogmatik des leistungsrechtlichen Gehalts des Grundrechts auf Sozialversicherung (Vielfalt in der Einheit) entwickelt und den Fragen nachgegangen, wie eine korrekte Ausübung der Ausgestaltungsgebote aussehen kann, die sich in diesem Zusammenhang aus der Verfassung ergibt. Schließlich werden die Implikationen dieses Dogmatikvorschlags, in dessen Mittelpunkt die Figur der „Ausgestaltung“ steht, für das Grundrecht auf Sozialversicherung untersucht, und zwar einerseits im Hinblick auf die Verfassungskontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere im Hinblick auf die Kontrolle der Unterlassungen, sowie andererseits im Hinblick auf die Rolle der Leistungsverwaltung und der Fachgerichtsbarkeit in der Konkretisierung des hierarchisch organisierten Sozialversicherungsrecht (vertikale Regulierungsdichte).

7

Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Freiheitsrechte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 4 und 82.

B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy und die Problematik der sozialen Grundrechte I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens 1. Der Rechtsbegriff: die Doppelnatur des Rechts Den Rechtsbegriff von Alexy zu untersuchen, erweist sich in und für die vorliegende Arbeit sehr wichtig, weil sich die doppelte Natur des Rechts direkt auf die anderen von ihm verteidigten Thesen auswirkt, beispielsweise auf seinen Begriff der Verfassung und des Konstitutionalismus,1 auf seinen Begriff des Prinzips,2 sofern er ihn als „ideales Sollen“3 charakterisiert, was folgerichtig seinen Begriff der Grundrechte berührt und die jeweilige Grundrechtstheorie, die auch aufgrund der doppelten Rechtsnatur gedacht werden können und sollen.4 Und schließlich liegt diese Grundlage einer anderen Grundsäule des Alexyschen Denkens ebenfalls zugrunde, nämlich seiner Theorie der juristischen Argumentation, die ihren Ausdruck in der Sonderfallthese findet.5 Alle diese Auffassungen sind mit der von ihm entwickelte „Theorie der Grundrechte“, die Alexy als „allgemeine Dogmatik der Grundrechte des GG“ konzipiert, eng verbunden. Diese Theorie der Grundrechte ist für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung. Alexy selbst stellt fest, wenn er über den praktischen Charakter des Studiums des Rechtsbegriffs spricht, dass der Begriff des Rechts von den Juristen immer vorausgesetzt wird, auch wenn sie im Bereich der Dogmatik arbeiten.6

1

S. u. B. I. 3. a), d). Im Hinblick auf die Beziehung zwischen den Postulaten der Prinzipientheorie und dem Rechts- oder Geltungsbegriff von Robert Alexy, vgl. Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, in: Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, Baden-Baden: Nomos, 2007, S. 64. 3 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S. 204; ders., Die Doppelnatur des Rechts, in: Der Staat. Vol 50. Nr. 3, 2011, S. 404; ders., Ideales Sollen, in: Clérico / Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation. Studien zur Rechtstheorie Robert Alexys. BadenBaden: Nomos, 2009, S. 21 ff. 4 Alexy, Ein nichtpositivistischer Begriff der Grundrechte, in: Ewer / Ramsauer / Reese / Rubel (Hrsg.), Methodik – Ordnung – Umwelt, Festschrift für Hans-Joachim Koch, Berlin: Duncker & ​ Humblot, 2014, S. 19 ff. 5 Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 403. Seine Theorie der juristischen Argumentation wird Gegenstand des Unterpunktes 2. c. sein. 6 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Studienausgabe – Freiburg (Breisgau). München: Alber, 2002, S. 18. 2

24

B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

Er verteidigt in seinen Arbeiten einen inklusiven, nicht-positivistischen Begriff des Rechts.7 Dieser Rechtsbegriff führt zu theoretischen Konsequenzen, sowohl für die Lektüre (Interpretation) der Rechtsordnung als Ganzer, als auch für die Analyse der einzelnen Rechtsnormen und der einzelnen Entscheidungen der Judika­tive. Alexys Auffassung nach sollte der Rechtsbegriff nicht nur die Elemente der „ordnungsgemäßen oder der autoritativen Gesetztheit“ und der „sozialen Wirksamkeit“, die typisch für den positivistischen Rechtsbegriff sind,8 sondern auch das moralische Element einschließen.9 Seiner Argumentation folgend impliziert die Einbeziehung dieses letzten Elements die These der notwendigen Verbindung zwischen Recht und Moral (Verbindungsthese).10 Daher hat das Recht sowohl eine „reale“ oder „positive“, als auch eine „ideale“ oder „kritische“ Dimension und dabei ist die reale ein gewisses Komplement der idealen Dimension. Das positive Recht ist also wegen der Unzulänglichkeit der letzteren eine notwendige Ergänzung der idealen Dimension. Diese Unzulänglichkeit ist laut Alexy eine Folge des „Problems praktischer Erkenntnis“, das darin besteht, dass es in manchen Situationen möglich ist, 7

Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 16–17. Die wichtigsten Thesen in Bezug auf seinen Rechtsbegriff wurden von ihm bereits in Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 37, 1990, S. 9–26, passim, vorgestellt. Diesbezüglich nochmals ausführlich, ders., Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, in: R. Alexy / H.-J. Koch / L. Kuhlen / H. Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden 2003, S. 469–492; ders., Die Doppelnatur des Rechts, S. 389– 404; ders., Hauptelemente einer Theorie der Doppelnatur des Rechts, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 95, 2009, S. 151–166; ders., Some Reflections on the Ideal Dimension of Law and on the Legal Philosophy of John Finnis, in: The American Journal of Jurisprudence, 58, 2013, S. 97–110; ders., Inklusiver Nichtpositivismus. Zum Verhältnis von Recht und Moral, in: Christiana Albertina 81, 2015, S. 8–18. Hier ist es nicht möglich – und angesichts der Vielzahl von Untersuchungen auch nicht erforderlich –, tiefer in die Diskussion um den Begriff des Rechts einzudringen. Es sollen aber einige Bemerkungen zum Alexyschen Rechtsbegriff vorgetragen werden, sofern er mit der Auffassung der Grundrechte als Prinzipien und ihrer dogmatischen und praktischen Folgen zusammenhängt. Mit anderen Worten handelt es sich hier um mögliche Auswirkungen des Alexyschen Rechtsbegriffs auf seine Grundrechtsdogmatik einerseits und um die Konsequenzen dieser Rechtsvorstellung für die Anwendung derselben Grundrechte in der Praxis andererseits. Dieselbe theoretische Frage steht bezüglich der im ersten Kapitel dieser Arbeit zu untersuchenden Thesen Alexys im Hintergrund. 8 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 16. 9 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 16 und 150. 10 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 17. Darüber hinaus soll der Begriff der Geltung in diesem Rechtsbegriff eingeschlossen sein. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 51. Den drei erwähnten Elementen des Rechtsbegriffs entsprechen drei Geltungsbegriffe, nämlich der juristische, der soziologische und der ethische. Alexy. Begriff und Geltung des Rechts, S. 139. Siehe auch, ders., Theorie der Grundrechte, S. 49. „The central claim of Alexy’s anti-positivist theory of law is the connection thesis, which says that there is a necessary connection between law and morality. In an older version, this thesis stated that the concept of law is to be defined such that moral elements are included. In its recent formulation, however, it claims that there exists a necessary connection between legal validity and legal correctness on the one hand, and moral merits and demerits or moral correctness and incorrectness on the other.“ Wang, Incorporation by Balancing? Critical Remarks on Alexy’s Necessary Incorporation Thesis, in: Rechtstheorie 41. Berlin: Duncker & Humblot, 2010, S. 305.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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dass zwei Personen zwei widerstreitende Lösungen für ein und dasselbe Wert- oder Verpflichtungs-Urteil begründen können, ohne damit gegen irgendwelche Regeln oder Prinzipien des Diskurses zu verstoßen:11 „Das Erkenntnisproblem zwingt dazu, die erste Stufe, die ausschließlich durch die Ideale der Richtigkeit und des Diskurses definiert ist, zu verlassen und zu einer zweiten Stufe überzugehen, auf der positivrechtlich geregelte Verfahren erstens das Zustandekommen einer Entscheidung garantieren und zweitens für ihre Durchsetzung sorgen. Das ist der Schritt in die durch autoritative Gesetztheit und soziale Wirksamkeit definierte Positivität. Die Unzulänglichkeit der idealen Dimension als Entscheidungsprozedur macht damit die Existenz der realen, also der positiven Dimension des Rechts als ihre Ergänzung notwendig.“12 Hier handelt es sich um etwas, das von Alexy als die „Doppelnatur des Rechts“ bezeichnet wird.13 Diesem Begriff liegt eine Abwägung zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit, dem Proprium der realen oder positiven Dimension, und dem Prinzip der Gerechtigkeit, charakteristisch für die kritische oder ideale Dimension, zugrunde.14 In gewöhnlichen Fällen, auch wenn Fragen bezüglich der Lösung aufkommen können, spielt er jedoch keine Rolle. In ungewöhnlichen Fällen hingegen „tritt der hinter jeder juristischen Praxis stehende Rechtsbegriff zu Tage und wird zu einem drängenden Problem.“15 In Anlehnung an zwei Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts versucht Alexy seine Argumentation in Bezug auf ungewöhnliche Fälle zu begründen. Das erste Urteil, ergangen im Jahr 1965, das von ihm als „gesetzliches Unrecht“ bezeichnet wird, beschäftigte sich mit § 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl.I S. 722), der im Fall emigrierter Juden den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit aus rassischen Gründen vorschrieb.16 Das zweite ist der sogenannte Soraya-Beschluss, den Alexy den „Rechtsfort­ bildungsbeschluss“ nennt, aus dem Jahr 1973.17 Während es sich im ersten Fall um das Problem des juristischen Übergangs vom Nationalsozialismus zur demokratischen Geltung des Grundgesetzes handelte, war im zweiten die „Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung gegen den Wortlaut eines Gesetzes, also die Zulässigkeit einer contra-legem-Entscheidung“ innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung, die grundlegende Frage.18 Alexy geht davon aus, dass in beiden Fällen 11

Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 395. Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 396. Zudem impliziere die Notwendigkeit der Positivität die Richtigkeit der Positivität. Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 397. 13 Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, passim. 14 Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 397–398. Fragen der Gerechtigkeit sind für Alexy moralische Fragen. Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 393. 15 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 18. 16 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 18. 17 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 22. 18 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 22. Hier handelt es sich um eine der Hypothesen, mit denen Alexy für die Notwendigkeit des Prinzipienarguments plädiert (s. u. B. I. 1. c)). 12

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

das Bundesverfassungsgericht ausgehend von einer typisch nicht-positivistischen Argumentation entschieden hat.19 Mit Blick auf den letzteren Fall hebt Alexy hervor, dass die Zulassung der Rechtsfortbildung20 ein Problem der „Rangfolge der Auslegungsargumente“ ist und dementsprechend ein Problem der Interpretation.21 Die Interpretation ihrerseits ist zum einem vom positiven Recht und zum anderem von der vom Interpreten vertretenen Philosophie des Rechts abhängig.22 Um die Verbindungsthese zu rechtfertigen, nimmt Alexy die Teilnehmerperspek­ tive ein,23 also z. B. den Blickwinkel eines Richters, und bietet drei Argumente an: das Richtigkeitsargument, das Unrechtsargument und das Prinzipienargument. Das erste bildet dabei die Basis für die beiden anderen Argumente.24 a) Das Richtigkeitsargument Das Richtigkeitsargument behauptet, dass das Recht – und dies bezieht sowohl das Rechtssystem als auch individuelle Rechtsnormen und Entscheidungen mit ein – notwendigerweise einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt,25 der seinerseits einen Anspruch auf moralische Richtigkeit einschließt.26 Alexy nennt letztere eine „Richtigkeit zweiter Ordnung“.27 „Normensysteme, die diesen Anspruch nicht explizit oder implizit erheben, sind keine Rechtssysteme. Insofern hat der Anspruch auf Richtigkeit eine klassifizierende Bedeutung. Rechtssysteme, die diesen Anspruch zwar erheben, ihn aber nicht erfüllen, sind rechtlich fehlerhafte Rechtssysteme. In dieser Hinsicht hat der Anspruch auf Richtigkeit eine qualifizierende Bedeutung. Eine ausschließlich qualifizierende Bedeutung kommt dem Anspruch auf Richtigkeit bei einzelnen Rechtsnormen und einzelnen rechtlichen Entscheidungen zu. Sie sind rechtlich fehlerhaft, wenn sie den Anspruch auf Richtigkeit nicht erheben oder nicht erfüllen.“28

19

Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 20–21 und S. 24. Ausführlicher darüber weiter unten, B. I. 2. b). 21 Alexy, Juristische Interpretation, in: Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S. 91–92. 22 Alexy, Juristische Interpretation, S. 91–92. 23 Über den Unterschied zwischen der Teilnehmerperspektive und der Beobachterperspektive, siehe Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 47. 24 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64. 25 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64. 26 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 131. 27 „Sie bezieht sich sowohl auf die ideale als auch auf die reale Dimension. […] Auf diese Weise verknüpft der Anspruch auf Richtigkeit als Anspruch zweiter Ordnung sowohl das Prinzip der Gerechtigkeit als auch das Prinzip der Rechtssicherheit notwendig mit dem Recht.“ Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 397. 28 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64. „Um einen klassifizierenden Zusammenhang geht es, wenn behauptet wird, daß Normen oder Normensysteme, die ein bestimmtes moralisches Kriterium nicht erfüllen, aus begrifflichen oder normativen Gründen keine Rechtsnor 20

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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b) Das Unrechtsargument Dieses Argument besagt, dass die individuellen Rechtsnormen einer gewissen Rechtsordnung ihren Rechtscharakter verlieren können, wenn sie einen bestimmten Grad der Ungerechtigkeit erreichen (klassifizierender Zusammenhang).29 In diesem Punkt lehnt sich Alexy an die These Radbruchs an: „Der Rechtscharakter soll erst dann verlorengehen, wenn die Ungerechtigkeit ein ‚unerträgliches Maß‘ erreicht.“30 Dementsprechend geht der Rechtscharakter der individuellen Rechtsnormen nicht in allen ungerechten Situationen verloren, sondern nur wenn sie als „extrem ungerecht“ betrachtet werden können bzw. müssen.31 Alexy bezeichnet diese These als „schwache Verbindungsthese“.32 Das Unrechtsargument bezieht sich nicht auf das System als Ganzes, sondern nur auf die individuellen Rechtsnormen und Entscheidungen. Alexy verdeutlicht: „Erst wenn so vielen einzelnen Normen aufgrund des Unrechtsarguments der Rechtscharakter abzusprechen ist, daß der für die Existenz eines Rechtssystems notwendige minimale Bestand an Normen nicht mehr vorhanden ist, hört das System als Rechtssystem auf zu existieren.“33 c) Das Prinzipienargument Anders als das Unrechtsargument, das sich gegen Situationen extremer Ungerechtigkeit richtet und mithin nur in Ausnahmefällen auftaucht,34 kommt das Prinzipienargument in der alltäglichen Rechtsarbeit zum Tragen.35 Sein Ausgangspunkt ist das Vorkommen „zweifelhafter Fälle“, also von Situationen, die in den men oder keine Rechtssysteme sind. Um einen qualifizierenden Zusammenhang geht es, wenn behauptet wird, daß Normen oder Normensysteme, die ein bestimmtes moralisches Kriterium nicht erfüllen, zwar Rechtsnormen oder Rechtssysteme sein können, aus begrifflichen oder normativen Gründen aber rechtlich fehlerhafte Rechtsnormen oder rechtlich fehlerhafte Rechtssysteme sind.“ Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 49. 29 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 108. 30 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 71. Radbruch behauptet, „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Heidelberg: Lambert Schneider, 1946, S. 15–16. 31 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 84 und 151. 32 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 83. 33 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 149. 34 In diesen Sinn behauptet Alexy: „Von praktischer Bedeutung ist die Radbruchsche Formel vor allem nach dem Zusammenbruch einer Unrechtsherrschaft.“ Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 98. 35 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 117.

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„Offenbereich“ des Rechts fallen, in denen definitionsgemäß nicht aufgrund des positiven Rechts entschieden werden kann.36 Bemerkenswerte Beispiele für den Offenheits-Bereich sind „die Vagheit der Sprache des Rechts, die Möglichkeit von Normwidersprüchen, das Fehlen einer Norm, auf die sich die Entscheidung stützen läßt, und die Möglichkeit, in besonderen Fällen auch gegen den Wortlaut einer Norm zu entscheiden.“37 Alexy betont in diesem Zusammenhang, dass nach der positivistischen Rechtsauffassung Fälle wie diese mit außerrechtlichen Maßstäben entschieden werden sollen / müssen.38 Dieser Lösung steht Alexy kritisch gegenüber und verwendet, um seine Gegenmeinung zu rechtfertigen, das Prinzipienargument, dessen Basis in der Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln39 besteht. Diesem Argument zufolge ist „der Richter auch im Offenheitsbereich des positiven, also des gesetzten und wirksamen Rechts rechtlich gebunden […], und zwar auf eine Weise, die eine notwendige Verbindung von Recht und Moral herstellt.“40 Anders ausgedrückt: Die Entscheidung ist „intra muros“ zu treffen. Dieser notwendige Zusammenhang „ist erstens begrifflicher Art, hat zweitens einen bloß qualifizierenden […] Charakter und besteht drittens nur für einen Teilnehmer, nicht für einen Beobachter des Rechtssystems.“41 Das Prinzipienargument verstärkt das Fundament der Verbindungsthese durch drei zusätzliche Thesen, namentlich die „Inkorporationsthese“, die „Moralthese“ und die „Richtigkeitsthese“.

36 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 117. Herbert L. A. Hart folgend spricht Alexy über die „offene Struktur“ des Rechts (open texture, nach einer Formulierung von Hart). Ganz in Sinne der angelsächsischen Debatte zwischen Herbert L. A. Hart und Ronald Dworkin bezüglich des Unterschiedes zwischen „hard cases“ und „easy cases“ benützt Alexy den Ausdruck „schwieriger Fall“. Hart, The Concept of Law, Third edition, Oxford: Oxford University Press, 2012. Dworkin, Taking rights seriously, Cambridge: Harvard University Press, 1978. 37 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 117–118. Dieselben Beispiele wurden schon von ihm in der Einführung seiner „Theorie der juristischen Argumentation“ dargestellt, um die Unangemessenheit der Vorstellung des Prozesses der Gesetzesregelanwendung als „eine logische Subsumption unter begrifflich geformte Obersätze“ zu rechtfertigen. Alexy. Theorie der juristischen Argumentation. 7. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 17. 38 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 118. Dazu auch, Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, in: Dais / Joergensen / Tay (Hrsg.), Konstitutionalismus versus Legalismus? Geltungsgrundlagen des Rechts im demokratischen Verfassungsstaat. Stuttgart: Franz Steiner, 1991, S. 92. 39 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 119. Der Unterschied zwischen Prinzipien und Regeln spielt in der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle. Daher wird im Folgenden (S. u. B. I. 4. c) bb).) versucht, tiefer auf die Alexysche Position einzugehen. 40 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 119. 41 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 120–121.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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aa) Die Inkorporationsthese Die Inkorporationsthese behauptet, „daß jedes wenigstens minimal entwickelte Rechtssystem notwendig Prinzipien enthält“.42 Als Beispiele können die im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats angeführt werden. Solche Grundbegriffe werden von Alexy als die in der Verfassung inkorporierten „wichtigsten Prinzipien des neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechts“ und damit der „neuzeitlichen Moral des Rechts und des Staates“ charakterisiert.43 Um die positivistische These zu entkräften, die besagt, dass die Inkorporation von Prinzipien eine Frage des positiven Rechts ist,44 nimmt Alexy nochmals die Teilnehmerperspektive ein, insbesondere die des Richters. Und in diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass der Grund für die notwendige Existenz von Normen in Form der Struktur von Prinzipien nicht nur in manchen sondern in allen Rechtsordnungen darin besteht, dass der Richter, immer wenn er einen zweifelhaften Fall entscheiden soll, d. h. bei Umständen, in denen keine Entscheidung aufgrund des positiven Rechts erfolgt, sein Urteil entweder auf Prinzipien oder auf Gründen, die sich auf Prinzipien stützen, aufbaut.45 Um zu wissen, ob der Richter in diesen Fällen so vorgeht, muss gefragt werden, ob er eine Abwägung vornimmt: „Wenn jemand eine Abwägung vornimmt, dann stützt er sich notwendig auf Prinzipien. Der Grund dafür ist, daß eine Abwägung genau dann notwendig ist, wenn gegenläufige Gründe existieren, die, jeweils für sich genommen, gute Gründe für eine Entscheidung darstellen und nur deshalb nicht ohne weiteres zu einer definitiven Entscheidung führen, weil es den anderen Grund gibt, der eine andere Entscheidung fordert.“46 Prinzipien werden hier von ihm demnach als „gegenläufige Gründe“ verstanden. Darüber hinaus ist Alexy der Ansicht, dass „das Rechtssystem nicht nur ein System von Normen im Sinne von Ergebnissen, sondern auch ein System von Prozeduren ist und daß vom Standpunkt des Teilnehmers aus die Gründe, die er in der Prozedur der Entscheidung und Begründung berücksichtigt, zur Prozedur und damit zum System gehören.“47 Anders ausgedrückt: Sofern der Richter für die Lösung zweifelhafter Fälle seine Entscheidung zwangsläufig auf Prinzipien (gegenläufige 42 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 121. Wang sagt, dass es für Alexy zwei Möglichkeiten gibt, Prinzipien in das Rechtssystem zu integrieren: Zwei Arten der Integration moralischer Prinzipien: 1) durch einen Akt der Autorität; 2) durch das Gewichtungsverfahren. Er nennt letztere Modalität „incorporation by balancing“. Wang, Incorporation by Balancing? S. 307–308. 43 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 494 und Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 121. Ferner werden diese Grundprinzipien von ihm als Optimierungsgebote angesehen. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 131. 44 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 122. 45 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 123. 46 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 123. 47 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 124.

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Gründe)  stützt, sind diese Prinzipien notwendige Elemente des Rechtssystems. Diese letzte Behauptung wird wiederum vom Richtigkeitsargument bekräftigt, weil das richterliche Urteil als individuelle Entscheidung gleichermaßen einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt und dieser Anspruch fordert, „daß in einem zweifelhaften Fall stets dann eine Abwägung und damit eine Berücksichtigung von Prinzipien stattfindet, wenn dies möglich ist.“48 bb) Die Moralthese Im Zuge der Auseinandersetzung mit der positivistischen Ablehnung der notwendigen Inkorporation von Prinzipien in die Rechtsordnung entwickelt Alexy die Unterscheidung zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Inkorporationsthese: „In der schwachen Version sagt diese These, daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Recht und irgendeiner Moral besteht. Die starke Version lautet, daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Recht und der richtigen Moral existiert.“49 Die erste These wird von ihm als „Moralthese“ bezeichnet. Alexy stellt diesbezüglich fest: „Wer sagen will, was gesollt ist, ohne daß er seine Antwort ausschließlich auf die Entscheidungen einer Autorität stützen kann, muß alle einschlägigen Prinzipien berücksichtigen, wenn er dem Anspruch auf Richtigkeit genügen will. Unter den für die Lösung einer praktischen Frage einschlägigen Prinzipien aber finden sich stets auch solche, die zu irgendeiner Moral gehören.“50 Von der Moralthese ausgehend bringt das Prinzipienargument dementsprechend die notwendige Verbindung zwischen Recht und irgendeiner Moral mit sich.51 cc) Die Richtigkeitsthese Während unter dem Gesichtspunkt der Moralthese die Verbindung zwischen Recht und irgendeiner Moral begründet wird, vertritt die Richtigkeitsthese die Auffassung, dass eine Verbindung zwischen Recht und einer richtigen Moral hergestellt werden muss.52 Diese richtige Moral impliziert bei Alexy nicht die Notwendigkeit eines bestimmten Inhalts sondern nur, dass sie begründungsfähig sei, also einen Anspruch auf Begründbarkeit aufweist.53 Anders ausgedrückt: Eine richtige Moral ist eine begründbare Moral. Hervorzuheben ist außerdem, dass das Prinzipien­ argument sich an das Unrechtsargument anschließt, wenn Alexy feststellt: „[…] vor der Schwelle extremen Unrechts führt ein Verstoß gegen die Moral nicht dazu, 48

Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 124–125. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 127. 50 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 128. 51 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 129. 52 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 130. 53 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 132 und ders., Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 25. Dieser Anspruch auf Begründbarkeit hängt mit der Diskurstheorie Alexys zusammen. 49

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daß die fragliche Norm oder die fragliche Entscheidung den Rechtscharakter verliert, also kein Recht ist (klassifizierender Zusammenhang), sondern nur dazu, daß sie eine rechtlich fehlerhafte Norm oder Entscheidung darstellt (qualifizierender Zusammenhang).“54

2. Die juristische Interpretation, die Rechtsfortbildung und die juristische Argumentation Die dargestellten Ausführungen Alexys verbinden unmittelbar die Diskussion über den Begriff des Rechts mit dem Problem der Interpretation bzw. der Rechtsfortbildung des positiven Rechts und infolgedessen mit der Dogmatik55 der Grundrechte. a) Die juristische Interpretation als hermeneutische Frage Alexy versteht die Interpretation als eine Abstufung. Auf der allgemeinsten Stufe liegt die „Interpretation im weitesten Sinne (largissimo sensu)“, die sich mit dem Verstehen des Sinns aller Gegenstände beschäftigt. Auf einer mittleren Stufe befin­det sich die „Interpretation im weiteren Sinne (sensu largo)“, die ein Unterfall der Interpretation im weitesten Sinne ist. Hier handelt es sich um das Verstehen sprachlicher Äußerungen. In den Wissenschaften ist dies vor allem das Verstehen von Texten. Diese Art von Interpretation lässt sich wiederum in „unmittelbares Verstehen“, wenn im Interpretationsprozess keinerlei Zweifel bestehen, und in „mittelbares Verstehen“, das im Fall eines Zweifels stattfindet, unterteilen. Schließlich gibt es noch die „Interpretation im engeren Sinne (sensu stricto)“, ein Unterfall der Interpretation im weiteren Sinne, die ausschließlich das mittelbare Verstehen zum Gegenstand hat.56 Sie wird erforderlich, wenn eine sprachliche Äußerung mehrere Deutungen zulässt und nicht sicher ist, welche richtig ist. Diese Interpretation beginnt mit einer Frage und endet mit einer Wahl zwischen mehreren möglichen Deutungen. Sie steht im Zentrum des Problems der juristischen Interpretation.57 Darüber hinaus hat die juristische Interpretation sowohl eine praktische oder normative Seite,58 weil sie sich mit dem Problem beschäftigt, was gesollt ist, als auch eine institutionelle Seite. Diese letzte Seite, aufgrund derer sie sich von den anderen Arten von Interpretation unterscheidet, entspringt zum einem aus ihrem 54

Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 133. Der Alexysche Begriff juristischer Dogmatik wird im Folgenden noch Gegenstand der Überlegungen sein. (s. u. B. I. 4.). 56 Alexy, Juristische Interpretation, S. 71–73. 57 Alexy, Juristische Interpretation, S. 73. 58 Der normative Charakter der Interpretation und seine Verbindung mit der juristischen Argumentation als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses werden unten näher zu behandeln sein. 55

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Objekt, dem positiven Recht (primäres Objekt der Interpretation), und zum anderem aus den Subjekten der Interpretation.59 In Anlehnung an die Tradition der philosophischen Hermeneutik hinsichtlich des Problems der Struktur des Verstehens60 und dem Begriff der Hermeneutik als Theorie der Interpretation beschäftigt sich Alexy mit dem sogenannten „hermeneutischen Zirkel“61. Was die Jurisprudenz anbetrifft, unterscheidet er drei Formen des 59

Alexy, Juristische Interpretation, S. 74. In Bezug auf die Subjekte der Interpretation spricht er über die authentische Interpretation, die Doktrinalinterpretation, die Laieninterpretation und die Usualinterpretation. Alexy, Juristische Interpretation, S. 74. 60 In diesem Sinne führt Alexy aus: „Innerhalb der Hermeneutik ist zwischen einer Methodologie und einer Strukturtheorie des Verstehens zu unterscheiden. Gegenstand der Methodologie sind die Regeln der Auslegung und die Kunst der Interpretation (ars interpretandi). Gegenstand der Strukturtheorie sind die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens.“ Alexy, Juristische Interpretation, S. 75. Die hermeneutische Philosophie Heideggers und die von Gadamer entwickelte philosophische Hermeneutik können als „Strukturtheorie des Verstehens“ im Gegensatz zu einer methodologischen Hermeneutik verstanden werden. In Bezug auf die Begriffe der „hermeneutischen Philosophie“ und der „philosophischen Hermeneutik“ siehe: Figal, Philosophische Hermeneutik – hermeneutische Philosophie. Ein Problemaufriß, in: Figal / ​Grondin / Schmidt. (Hrsg.), Hermeneutische Wege: Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten. Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 335 ff. 61 Die hermeneutische Regel der Wechselwirkung vom Ganzen und vom Einzelnen „stammt aus der antiken Rhetorik und ist durch die neuzeitliche Hermeneutik von der Redekunst auf die Kunst des Verstehens übertragen worden.“ Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: Gadamer, Gesammelte Werke. Bd. 2. Hermeneutik. Wahrheit und Methode. Ergänzungen Register. 2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 1993, S. 57. Als Voraussetzung der hermeneutischen Methode wurde die Beziehung „Ganzes“ und „Einzelnes“ erstmals von Friedrich Ast untersucht. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut: Jos. Thomann, 1808, S. 179–180. Friedrich Schleiermacher seinerseits übernahm die Vorstellung Asts. Er unterteilte das Verstehen in zwei Momente, nämlich das grammatische und das psychologische. Dementsprechend enthielt die Relation von Teil und Ganzem gleichermaßen diese doppelte Struktur (objektive und subjektive): „Wie jede Rede eine zweifache Beziehung hat, auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden.“ Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik: mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S. 77. Zum Einfluss von Ast auf Schleiermacher, vgl. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutung und Asts Lehrbuch, in: Hermeneutik und Kritik: mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, S. 329 ff. Bei Heidegger wird der hermeneutische Zirkel als Vorstruktur aller Auslegung verstanden. „Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu einem vitiosum und sei es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden. In ihm verbirgt sich eine positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens, die freilich in echter Weise nur dann ergriffen ist, wenn die Auslegung verstanden hat, daß ihre erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern.“ Heidegger, Sein und Zeit, 11. unveränderte Aufl. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1967, S. 153. Gadamer versuchte in Anlehnung an Heidegger das Vorverständnis (anstatt mit dem Vorverständnis beschäftigt sich Gadamer mit dem von der Aufklärung diskreditierten Begriff des „Vorurteils“) als „ontologisches Strukturmoment“ des

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hermeneutischen Zirkels: Erstens, das Verhältnis zwischen dem Vorverständnis und dem Text. Unter Vorverständnis versteht er eine Hypothese, mit der der Interpret an den Text herantritt. Zweitens, das Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen. Hier geht es um die Beziehung zwischen Norm und System. Und drittens, das Verhältnis von Norm und Sachverhalt.62 Als Vorgang zielt die Interpretation auf ein richtiges Ergebnis, das heißt eine richtige Interpretation. In diesem Sinne erhebt die Interpretationsbehauptung, als Ergebnis einer Interpretation, einen Anspruch auf Richtigkeit.63 Alexy ist jedoch der Auffassung, dass die Theorie des hermeneutischen Zirkels nicht fähig ist, diese Frage angemessen zu bearbeiten, weil sie keine materiellen Kriterien für die Richtigkeit der Interpretation bietet.64 In diesem Sinn tritt die Wichtigkeit der juristischen Argumentation hervor, denn die „Richtigkeit einer Interpretation kann nur erwiesen werden, indem Gründe für sie angeführt und Gründe gegen sie ausgeräumt werden. Die Interpretation besteht daher aus der Wahl zwischen mehreren Interpretationsalternativen aufgrund von Argumenten.“65 In diesem Sinne ist Interpretation Argumentation.66 Verstehens bzw. als universelles hermeneutisches Prinzip zu entwickeln. Gadamer, Gesammelte Werke. Bd. 1. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. 1. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 1990, S. 270 ff., 298. Der Zirkel ist seines Erachtens „weder subjektiv noch objektiv, sondern beschreibt das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten. Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in beständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir schon immer stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selbst weiter bestimmen. Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt nicht ein ‚methodischer‘ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens.“ Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 298 ff. Emerich Coreth stellt fest, dass der Begriff „Vorverständnis“ „zwar der Sache, aber nicht dem Wortlaut nach nicht von Heidegger, sondern […] von Bultmann stammt“. Coreth, Grundfragen der Hermeneutik, Freiburg / Basel / Wien: Herder, 1969, S. 99. Darüber hinaus charakterisiert er den hermeneutischen Zirkel nicht als „schließenden Kreis“, sondern als ein „spiralförmiges Geschehen.“ Coreth, Grundfragen der Hermeneutik, S. 103. Über die Rezeption der philosophischen Hermeneutik im deutschen juristischen Denken siehe: Müller, Normstruktur und Normativität, S. 48 ff.; Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 47 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgrundlagen richterlicher Entscheidungspraxis. 2. Aufl. Kronberg: Scriptor, 1972, passim; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 24 ff.; Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik. Köln / Berlin / Bonn /  München: Heymanns, 1984; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, Ebelsbach: Gremer, 1981, passim; Poscher, Rechtsdogmatik als hermeneu­tische Disziplin. Zum interpretativen Charakter der Rechtsfortbildung, in: Nolte / Poscher / Wolter (Hrsg.), Die Verfassung als Aufgabe von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit. Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, Heidelberg: C. F. Müller, 2014, S. 203 ff. 62 Alexy, Juristische Interpretation, S. 76–77. 63 Alexy, Juristische Interpretation, S. 77. 64 Alexy, Juristische Interpretation, S. 77. 65 Alexy, Juristische Interpretation, S. 78. 66 Alexy, Juristische Interpretation, S. 78.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

b) Die Rechtsfortbildung In Verbindung mit dem Problem der Interpretation ist ebenfalls die Rechtsfortbildung zu untersuchen. Alexy stellt fest, dass jede Interpretation das Recht ändert und aus diesem Grund eine „Rechtsfortbildung im weiteren Sinne“ ist. Wenn demgegenüber im Laufe des interpretativen Prozesses die Entscheidung außerhalb des Rahmens des Wortlauts einer Norm getroffen wird, dann ist von einer „Rechtsfortbildung im engeren Sinne“ die Rede.67 Wie schon erwähnt, ist Alexy der Ansicht, dass sich die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung als ein Problem der Rangfolge der Auslegungsargumente formulieren lässt, wobei es vor allem um die Kraft des linguistischen Arguments geht. In diesem Zusammenhang ist die Rechtsfortbildung im engeren Sinne Interpretation.68 Hinter diesem Problem steht immer die Kollision fundamentaler Prinzipien oder Werte und die Lösung für die Kollision hängt wiederum vom jeweils geltenden Verfassungsrecht und der vom Interpreten vertretenen Philosophie des Rechts ab.69 Wenn die Rechtsfortbildung im engeren Sinn Interpretation ist, und wenn Interpretation, solange sie öffentlich überprüfbar sein soll, Argumentation ist, dann ist die Rechtsfortbildung nach Alexy ebenfalls eine Frage der Argumentation. c) Die juristische Argumentation und die Sonderfallthese Im Fall des „Offenheitsbereiches“70 bleibt laut Alexy dem Entscheidenden ein Spielraum,71 innerhalb dessen er zwischen mehreren Lösungen wählen kann und dieser Wahl, die sich mit dem beschäftigt, was geboten, verboten oder erlaubt ist, liegen notwendigerweise „Wertungen“ zugrunde.72 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wo und in welchem Umfang Wertungen erforderlich sind, wie das Verhältnis dieser Wertungen zu den Methoden der juristischen Auslegung und den Sätzen und Begriffen der Rechtsdogmatik zu bestimmen ist, und wie diese Wertungen rational begründet und gerechtfertigt werden können.73 Dementsprechend bringen diese Fragen das Problem der Legitimität der Werturteile zu Tage. Da Wertungen

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Alexy, Juristische Interpretation, S. 86. Alexy, Juristische Interpretation, S. 91. 69 „Bei der Rechtsfortbildung im engeren Sinne ist dies vor allem die Kollision zwischen den Prinzipien der Demokratie, der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit einerseits, die die Autorität des Gesetzgebers stützen, und den Prinzipien der Kohärenz und der inhaltlichen Richtigkeit andererseits, die eine gerechte Entscheidung fordern.“ Alexy, Juristische Interpretation, S. 91–92. Hier kann man sehen, wie bei Alexy die Interpretation bzw. die Rechtsfortbildung mit dem Rechtsbegriff, dem seinerseits auch eine Abwägung zwischen Richtigkeit und Sicherheit zugrunde liegt, zusammenhängt. 70 Über den Begriff und die ihn stützenden Beispiele, siehe oben. (s. u. B. I. 1. c)). 71 Auf das Konzept des Spielraums wird unten näher einzugehen sein. (s. u. B. I. 5. c)). 72 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 22–23. 73 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 24. 68

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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immer auch moralisch relevant sind, muss der Entscheidende sich in einem rechtlich bedeutsamen Sinne an moralisch richtigen Wertungen orientieren. Alexy vertritt die Auffassung, dass diese Wertungen objektivierbar sind.74 Seiner Ansicht nach besteht die Funktion der Methodenlehre darin, Regeln oder Verfahren für die Begründung dieser juristischen Urteile zu bieten.75 Die Theorie der juristischen Argumentation von Alexy lässt sich im Sinne der deutschen Tradition als ein Modell der juristischer Methodenlehre verstehen, das dieses Problem der Wertungen besser zu bewältigen versucht.76 Er versteht den juristischen Diskurs als einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses77 und in diesem Sinne versucht er, eine normativ-analytische Theorie des juristischen Diskurses zu entwickeln.78 In den juristischen Diskurs sind für ihn sowohl die praktische Tätigkeit als auch die wissenschaftliche Arbeit eingeschlossen.79 Der allgemeine praktische Diskurs ist einigermaßen begrenzt, da es Situationen gibt, in denen „ohne gegen die Diskursregeln zu verstoßen, zwei miteinander unvereinbare normative Aussagen bzw. Regeln begründet werden können“. Diese werden von Alexy als „diskursive Möglichkeit“ bezeichnet.80 Die Grenzen des allgemeinen praktischen Diskurses oder die Schwäche seiner Regeln und Formen begründeten die Notwendigkeit rechtlicher Regeln. Damit ist der Übergang zum juristischen Diskurs geschaffen.81 Anders gesagt könnte man behaupten, dass, während das „Problem praktischer Erkenntnis“82 bezüglich des Rechtsbegriffs als Rechtfertigung des Überganges von der idealen zur realen Dimension des Rechts dient, die „diskursive Möglichkeit“ in Bezug auf den Rechtsdiskurs den Über 74

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 26–27. Der Weg, um diese Objektivität zu erreichen, „ist ein Modell, das es einerseits erlaubt, den verbreiteten Überzeugungen und den Ergebnissen vorangegangener juristischer Diskussionen Rechnung zu tragen, und andererseits Richtigkeitskriterien Raum läßt.“ Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 28. 75 Alexy sagt, dass weder die von der herkömmlichen juristischen Methodenlehre entwickelten canones der Interpretation, trotz ihrer Wichtigkeit, noch die Idee eines axiologisch-teleologischen Systems zur Lösung dieser Aufgabe geeignet sind. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 18–21. 76 In diesem Sinne der Autor selbst, Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 18 ff. 77 Praktische Diskurse sind Diskurse, in denen es um die Richtigkeit normativer Aussagen geht. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 222. 78 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32–33. 79 „Eine adäquate Theorie der juristischen Argumentation aber hat eine Theorie sowohl der juristischen Dogmatik als auch der Präjudizienverwertung einzuschließen.“ Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 41. „Unter dem Begriff der rechtswissenschaftlichen (dogma­ tischen) Erörterung sollen hier die Diskussionen der institutionell betriebenen Rechtswissenschaft verstanden werden, in denen es entweder unmittelbar um die Lösung wirklicher oder erdachter Rechtsfälle geht, oder in denen dogmatische Sätze, Konstruktionen und Theorien zumindest auch unter Bezugnahme auf die Lösung von Rechtsfällen gerechtfertigt oder kritisiert werden.“ Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 261, (Fußnote Nr. 1). 80 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 256. 81 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 257 und 349. 82 Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 395.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

gang von einem allgemeinen praktischen zum juristischen Diskurs markiert und ermöglicht.83 Die Gemeinsamkeit zwischen den angeführten Diskursformen besteht nach Alexy darin, dass es in beiden um die Richtigkeit normativer Aussagen geht, das heißt, nicht nur der juristische sondern auch der praktische Diskurs erheben einen Anspruch auf Richtigkeit.84 Die Besonderheit des ersten besteht darin, dass er unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen wie Gesetz, Dogmatik und Präjudiz (Bindung an das geltende Recht) stattfindet.85 Hier bedeutet der Anspruch auf Richtigkeit die Pflicht der vernünftigen Begründung juristischer Entscheidungen.86 Alexy unterscheidet zwei Aspekte der juristischen Rechtfertigung: die interne Rechtfertigung (internal justification) und die externe Rechtfertigung (external justification). Der erste betrifft die Frage, ob das Urteil aus den zur Begründung angeführten Prämissen logisch erfolgt, also den deduktiven Kern oder den juristischen Syllogismus. Gegenstand des zweiten Aspekts ist die Richtigkeit dieser Prämissen, das heißt das „Postulat der Explizitheit der Prämissen“ oder der argumentative Kern der Rechtfertigung.87 Diese Prämissen können sehr unterschiedlicher Art sein: „Es lassen sich (1) Regeln des positiven Rechts, (2) empirische Aussagen und (3) Prämissen, die weder empirische Aussagen noch Regeln des positiven Rechts sind, unterscheiden.“88 Die Begründung der dritten Art von Prämissen ist Gegenstand der juristischen Argumentation.89 83

Diese strukturell-argumentative Korrespondenz wird deutlicher, wenn Alexys schreibt, „daß die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Argumentation nicht voraussetzt, daß alle juristischen Dispute als Diskurse im Sinne einer zwanglosen und unbegrenzten Kommunikation anzusehen sind, sondern nur, daß in juristischen Disputen überhaupt unter dem Anspruch auf Richtigkeit und damit unter Bezugnahme auf ideale Bedingungen diskutiert wird.“ Oder wenn er die „Funktion der Theorie des rationalen juristischen Diskurses als Definition eines Ideals“ hervorhebt. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 271 und S. 358–359. 84 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32–33. 85 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 34, 222 und 352. Die Sonderfallthese ist damit begründet, „daß es (1) in juristischen Diskussionen um praktische Fragen geht, d. h. darum, was zu tun oder zu unterlassen ist oder getan oder unterlassen werden darf, und daß (2) diese Fragen mit dem Anspruch auf Richtigkeit diskutiert werden. Um einen Sonderfall handelt es sich, weil die juristische Diskussion (3) unter einschränkenden Bedingungen der erwähnten Art stattfindet.“ Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 263. 86 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 264 und 266. Alexy verwendet die Begriffe „Rechtfertigung“ und „Begründung“ als synonym. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 54 (Fußnote Nr. 3). 87 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 273 und Alexy, Juristische Interpretation, S. 79–82. 88 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 283. „Diesen verschiedenen Arten von Prämissen entsprechen verschiedene Methoden ihrer Begründung.“ Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 283. 89 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 284. Diese Behauptung entspricht der Meinung Alexys bezüglich der juristischen Interpretation, die sich mit der externen Rechtfertigung beschäftigen solle. Alexy, Juristische Interpretation, S. 81.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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Es muss darauf hingewiesen werden, dass Alexy zwischen den Argumentationsformen oder „canones der Auslegung“ und Regeln der juristischen Argumentation oder Interpretation unterscheidet, wobei letztere Hinweise geben, wie die verschiedenen Argumente zu verwenden und zu gewichten sind.90 Was die Argumentationsformen oder canones der Interpretation anbetrifft, spricht Alexy über vier Kategorien, nämlich die linguistischen Argumente, die ihrerseits in semantische und syntaktische unterteilt sind, die genetischen, die systematischen und die allgemein praktischen Argumente. Die ersten drei Argumentationsarten bezeichnet er als „institutionelle Argumente“.91 Tatsächlich kann infolgedessen die letzte Kategorie als „nicht-institutionelle Argumente“ bezeichnet werden, obgleich er das nicht ausdrücklich formuliert. „Die institutionellen Argumente stützen sich unmittelbar oder mittelbar auf die Autorität des positiven Rechts. Die Argumente der vierten Kategorie, die allgemeinen praktischen Argumente, ziehen ihre Kraft demgegenüber allein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit. Sie können deshalb auch als „substantielle Argumente“ bezeichnet werden.“92 Was die Regeln der Interpretation anbelangt, weist Alexy darauf hin, dass Argumente, die eine Bindung an das positive Recht zum Ausdruck bringen, einen prima facie Vorrang haben, sofern kein anderes Argument besteht oder auftaucht, das ein größeres Gewicht hat.93 Mit anderen Worten, es handelt sich um einen Vorrang, der in gewissen Fällen überwunden werden kann, wenn „allgemeine praktische Argumente ein so großes Gewicht haben, daß sie den institutionellen Argumenten vorgehen. Die institutionelle Argumentation ist also durchgängig von allgemeiner praktischer Argumentation abhängig.“94

3. Die Begriffe der Verfassung, des Grundrechts und des Konstitutionalismus Die vorangegangenen Ausführungen haben den Rechtsbegriff von Alexy und dessen Verbindung mit den allgemeinen Problemen der Interpretation, der Argumentation und der Rechtsfortbildung deutlich werden lassen. Soweit die Interpretation einerseits vom Rechtsbegriff und andererseits vom positiven Recht abhängig ist, soll fortan diese Seite der Medaille, also was in diesem Kontext unter positivem 90

Alexy, Juristische Interpretation, S. 83. Alexy, Juristische Interpretation, S. 87–88. 92 Alexy, Juristische Interpretation, S. 89. 93 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 305. 94 Alexy, Juristische Interpretation, S. 88. „Die allgemeinen praktischen oder substantiellen Argumente teilen sich in zwei Gruppen: in teleologische und in deontologische Argumente. Die teleologischen Argumente orientieren sich an den Folgen einer Interpretation und stützen sich letzthin auf eine Vorstellung des Guten. Die deontologischen Argumente machen geltend, was unabhängig von den Folgen recht und unrecht ist. Sie stützen sich auf eine Vorstellung des Sollens, die zumeist in der Idee der Verallgemeinerbarkeit ihre Basis hat.“ Alexy, Juristische Interpretation, S. 89. 91

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

Recht verstanden werden kann, untersucht und verdeutlicht werden. Von besonderem Interesse erweist sich diesbezüglich zum einen die Darstellung von Alexys Konzeption von Verfassung, Grundrechten und Konstitutionalismus,95 und zum anderen, wie die Interpretation der Grundrechte innerhalb seines theoretischen Projektes zu verstehen ist, und nicht zuletzt, welche Rolle die nicht-institutionellen Argumente für eine etwaige Überwindung der institutionellen Argumente und für die Möglichkeit spielen, gegen den Wortlaut von Normen entscheiden zu können. a) Die Verfassung als Grundordnung der Gemeinschaft und als Wertordnung Alexy versteht die Verfassung als Grundordnung der Gemeinschaft.96 Voraussetzung für das Verständnis seiner Auffassung ist die vom Bundesverfassungsgericht im Blick auf die Grundrechte des Grundgesetzes entwickelte Werttheorie,97 die die Basis für die Idee der Verfassung als Wert(e)ordnung darstellt.98 Paradigmatisch für diese theoretische Richtung des BVerfG ist das weltweit bekannte Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958, in dem zum einen die Grundrechte als „objektive Wertordnung der Verfassung“ bezeichnet wurden, die eine Austrahlungswirkung in alle Rechtsbereiche haben,99 und zum anderen die Methode der Abwägung als angemessene Lösung für Konflikte bei der Kollision zwischen Grundrechten eingeführt wurde. 95 In diesem Sinne argumentiert Hesse: „Das Verstehen des geltenden Verfassungsrechts setzt ein Verständnis seines Gegenstandes voraus: der Verfassung.“ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Neudruck des 20. Auflage. Heidelberg: CF Müller, 1999, S. 3. 96 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht. Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: VVDStRL Nr. 61, 2002, S. 14–15. Ähnlich bezeichnet Hesse die Verfassung als „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 10. 97 Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, in: Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp, 1995, S. 213. Ralf Dreier spricht über eine „Wertordnungsrechtsprechung des Gerichts“. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 85. Hinsichtlich des Mangels an begrifflich-analytischer Klarheit in der Rechtsprechung des BVerfG bezüglich der objektiven Seite der Grundrechte, meint Alexy: „Besondere Schwierigkeiten sind mit den um den Begriff des Wertes gruppierten Umschreibungen der objektiven Seite verbunden. Beispiele sind: „wertentscheidende Grundsatznorm“, „Wertentscheidung“, „objektivrechtliche Wertentscheidung“, „Wertgehalt“, „Verfassungswert(e)“ und „gemeinschaftsbildende(r) Wert“.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 33. 98 In diesem Sinne Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, Berlin: Duncker & Humblot, 2013, S. 18. Die Autorin ist der Meinung, dass diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Gegenbild für das entgegenstehende Verfassungsmodell dient, nämlich die „Verfassung als Rahmenordnung“. 99 BVerfGE, 7, 198 – Lüth. In diesem Urteil argumentierte das Gericht z. B.: „[…] in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertord­ nung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.“ Das Gericht spricht außerdem über die „Grundrechte als Wertmaßtäbe“, die Verfassung als „Wertsystem“, den „Wertgehalt des Verfassungsrechtssatzes“, und über diese Wertordnung als „Wertrangordnung“. 

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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Manche früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich nicht mit der Dogmatik der Grundrechte befasst hatten, können auch als Fundament dieser Werttheorie verstanden werden.100 Die erste Entscheidung war das SRPUrteil vom 23. Oktober 1952, in dem das BVerfG explizit von der Erschütterung der „Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates“ spricht. Diese „Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung der ‚verfassungsmäßigen Ordnung‘ als fundamental ansieht.“101 Daher sei die Grundordnung eine „wertgebundene Ordnung“.102 Die zweite fundamentale Entscheidung war das KPD-Urteil vom 17. August 1956, in dem der Ausdruck „oberste Werte der Verfassungsordnung“ auftaucht.103 Die dritte war das Elfes-Urteil vom 16. Januar 1957. In diesem Fall ist von „obersten Prinzipien der Wertordnung“ die Rede.104 Reese bringt zudem in diesem Zusammenhang die Entscheidung zur Haushaltsbesteuerung von Ehegatten von 1957 ins Spiel.105 In den erwähnten Entscheidungen machte das BVerfG keinen Gebrauch von außerrechtlichen oder transzendenten Argumenten, wenn von Werten oder Wertordnung die Rede war, das heißt, man könnte behaupten, dass es sich um eine verfassungsimmanente Argumentation handelt. In der Entscheidung über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen von 1953 stellte das BVerfG jedoch einen Bezug zu außerverfassungsrechtlichen materialen Gerechtigkeitserwägungen her.106 Weiterhin benutzte das Gericht ausdrücklich die Radbuchformel und postulierte, dass ein „Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus“ vermieden werden muss.107 Reese ist infolgedessen der Meinung, dass die Wertordnungsrechtsprechung des BVerfG ambivalent ist: „Auf der einen Seite distanziert sich das BVerfG ausdrücklich von transzendenten, die Auslegung der Verfassung bestimmenden Erwägungen […]. Auf der anderen Seite zeigt das BVerfG die Tendenz zu einem selbständigen, überpositiven Gerechtigkeits­ begriff.“108 Eine derartige wertbezogene Linie der Interpretation wurde vom Bundesverfassungsgericht nach Alexys Ansicht beispielsweise in der Entscheidung über die Ausbürgerung und im Soraya-Beschluss verfolgt. Beide Fälle wurden von Alexy 100

Vgl. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden: Nomos, 1973, S. 31 ff.; Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 86 und jüngst, Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 20 ff. Über die Entfaltung der Wertordnung des Grundgesetzes durch das BVerfG siehe auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 43 ff. 101 BVerfGE 2,1 – SRP-Verbot. 102 BVerfGE 2,1 – SRP-Verbot. 103 BVerfGE 5, 85 – KPD-Verbot. 104 BVerfGE 6, 32 – Elfes. 105 Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 22. 106 In diesem Sinne Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 24. 107 BVerfGE 3, 225 – Gleichberechtigung. 108 Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 71.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

als Paradigma für seinen nichtpositivistischen Begriff des Rechts benutzt, da sie als Vorbild für ungewöhnliche Fälle repräsentativ seien, sprich, für Situationen, in denen die Entscheidung nicht unmittelbar dem autoritativen Material folgt. In diesem Sinn kann die Beziehung zwischen dem Alexyschen Rechtsbegriff und seinem Begriff der Verfassung als Grund- bzw. Wertordnung erklärt werden, insbesondere die Annäherung an die Variante, die von der außerverfassungsrecht­ lichen Argumentation Gebrauch macht. Dieses in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte wertorientierte Verfassungsverständnis wurde in der Literatur seit Ende der fünfziger Jahre heftig kritisiert. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind einerseits die Schriften von Ernst Forsthoff,109 Carl Schmitt110 und Ernst Wolfgang Böcken­förde,111 die sogenannte „Schmitt-Schule“, zu zitieren.112 Andererseits ist die Position Friedrich Müllers erwähnenswert, dessen Kritik von ganz anderen theoretischen Voraussetzungen ausgeht.113 Forsthoff spricht z. B. über eine „Umbildung des Verfassungsgesetzes“, eine „Entformalisierung der Verfassung“, eine „Auflösung des normativen Rechts in Kasuistik“, über einen Verlust von „Evidenz“ und „Rationalität“ oder über einen „Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat“.114 Sein Widerstand dagegen zeigt sich noch deutlicher in der Feststellung, dass vom Standpunkt der wertorientierten Auffassung, die Verfassung „als juristisches Weltenei, aus dem alles hervorgeht vom Strafgesetzbuch bis zum Gesetz über die Herstellung von Fieberthermometern“ verstanden werde.115 Diese Stellungnahme beruht auf einer deutlichen Sorge um eine seiner Ansicht nach allmähliche Verlagerung der Zentralität der Kompetenz für politische Entscheidungen von der Legislative zur Judikative.116 Dem Verständnis der Verfassung als Wertordnung entgegentretend prägte Böckenförde den Begriff der „Verfassung als Rahmenordnung“.117 Eine Verfassung 109 Vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Barion (Hrsg.), Festschrift für Carl Schmitt: zum 70. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Schülern, 3. unveränderte Auflage. Berlin: Duncker & Humblot, 1994, passim; Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1961, passim. 110 Vgl. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, Hamburg: Lutherisches Verlagshaus, 1979, passim. 111 Vgl. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik Verfassungsgericht, Frankfurt: Suhrkamp, 2011, passim; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1990, passim; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik Verfassungsgericht, Frankfurt: Suhrkamp, 2011, passim. 112 Zu diesem Begriff siehe Hwang, Materialisierung durch Entmaterialisierung, in: Der Staat: Vol. 52, Nr. 2, S. 219. 113 Vgl. dazu Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 2. erw. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1990, S. 34 ff.; Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 40 ff. 114 Vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 52, 55 und 59. 115 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, Heidelberg: C. F. Müller, 1971, S. 144. 116 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 60. 117 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 125 und 153; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 71; Böckenförde, Grund-

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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als Rahmenordnung „legt typischerweise nur Rahmenbedingungen und Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozeß fest und trifft Grund(satz)-Entscheidungen für das Verhältnis einzelner, Gesellschaft und Staat, enthält aber keine in einem judiziellen oder verwaltungsmäßigen Sinn schon vollzugsfähigen Einzelregelungen“.118 Böckenförde spricht kritisch ganz im Einklang mit Forsthoff von einem „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“.119 Dieser Verlust an Bedeutung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers und die entsprechende Expansion der Verfassungsgerichtsbarkeit seien Auswirkungen der Konzeption der Verfassung und der Grundrechte als Wertordnung, die sich später in dem „objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte“ entfaltet habe.120

rechte als Grundsatznormen, S. 228; Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik Verfassungsgericht, Frankfurt: Suhrkamp, 2011, S. 257. Zum Begriff der Rahmenordnung siehe auch Isensee, Die Verfassung als Vaterland, in: Möhle (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu. München: R. Oldenbourg, 1986, S. 19 ff. Für eine Kritik an der Idee einer von Werten ausgehenden Begründung des Rechts auf der rechtsphilosophischen Ebene, Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt: Suhrkamp, 1991, passim. Schon früher: Kelsen, Was ist Gerechtigkeit, Stuttgart: Reclam, 2016, S. 11 ff. Gegen die Möglichkeit derartiger Begründung auch Schmitt, Die Tyrannei der Werte, passim. 118 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 125. „Die Verfassung wäre dann, auch und gerade in ihren materiellrechtlichen Regelungen, einerseits als verbindliche Grenzfeststellung der politischen Entscheidungsgewalt  – die klassische Ausgrenzungsfunktion – zu begreifen, andererseits als verbindliche Richtungsbestimmung für die politische Handlungs- und Entscheidungsgewalt durch Festlegung bestimmter Handlungsziele und Gestaltungsprinzipien, die in die gesetzliche Rechtsordnung und Verwaltungshandeln einzugehen und es zu prägen haben (ohne freilich dafür schon ein hinreichendes Normprogramm zu enthalten).“ Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 152. 119 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 190. „Der Begriff des ‚Jurisdiktionsstaates‘ geht zurück auf Carl Schmitt, der vier Staatstypen unterscheidet: den ‚Gesetzgebungs-‘, den ‚Jurisdiktions-‘, den ‚Regierungs-‘ sowie den ‚Verwaltungsstaat‘; den ‚Jurisdiktionsstaat‘ sieht er dadurch gekennzeichnet, dass in ihm „der einen Rechtsstreitentscheidende Richter statt des normierenden Gesetzgebers das letzte Wort spricht‘.“ Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat. in: Depenheuer / Heintzen / Jestaedt / Axer (Hrsg.), Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern. Berlin: Duncker & Humblot, 2002, S. 184. Hwang ist der Meinung, dass der neuralgische Punkt der Kritik der Schmitt-Schule an der Konzeption der Verfassung als Wertordnung nicht gegen den Begriff der Verfassung selbst sei, sondern gegen die Machtverlagerung zu einer Verfassungsgerichtsbarkeit, und zwar „gegen die vom Verfassungsgericht vollgezogene substantielle Rechtsgestaltung“. Hwang, Materialisierung durch Entmaterialisierung, S. 234. 120 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: Böckenförde, Wissenschaft, Politik Verfassungsgericht, Frankfurt: Suhrkamp, 2011, passim; Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, passim, Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, passim. Über die Einzelheiten der theoretischen Entfaltung des objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte, vgl. H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte. Von der Wertordnungsjudikatur zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten, Hannover: Hennies & Zinkeisen, 1993, S. 21 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes­

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, die Diskussion zwischen den angedeuteten Begriffen der Verfassung zu vertiefen,121 sondern vielmehr zu untersuchen, wie die Auffassung von Alexy darüber seine anderen theoretischen Grundsäulen beeinflusst. In diesem Zusammenhang vertritt er die Vorstellung, dass beide Verfassungsbegriffe nicht inkompatibel seien. Um diesen Gesichtspunkt zu rechtfertigen, unterscheidet er zwischen zwei Varianten des Begriffes der Verfassung als Grundordnung: ein „quantitativer“ und ein „qualitativer“. Eine Verfassung ist in einem quantitativen Sinne eine Grundordnung, wenn sie nichts freistellt, also für alles entweder ein Gebot oder ein Verbot bereithält.122 Andererseits ist eine Verfassung eine qualitative Grundordnung, wenn sie diejenigen fundamentalen Fragen der Gemeinschaft entscheidet, die der Entscheidung durch eine Verfassung fähig und bedürftig sind.123 Aufgrund der von ihm so bezeichneten „Dogmatik der Spielräume“ versucht Alexy die letztere ausführlich darzulegen und zu vertreten.124 b) Der nichtpositivistische Begriff der Grundrechte Die Grundrechte haben für Alexy ebenfalls eine Doppelnatur, das heißt, sie enthalten sowohl eine reale oder positive als auch eine ideale oder kritische Dimension. Insofern begründet er einen nichtpositivistischen Begriff der Grundrechte, dessen Fundament der Anspruch auf Richtigkeit ist. Dieser Anspruch auf Richtigkeit führt zu einer notwendigen Verbindung von Grund- und Menschenrechten.125 Eines der wichtigsten Kennzeichen der Menschenrechte besteht für ihn darin, dass sie republik Deutschlands, S. 125 ff.; Pieroth / Schlink / Kingreen / Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 29. Auflage. Heidelberg: C. F. Müller, 2013, S. 91 ff.; Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Busdes­republik Deutschlands. Band V. Allgemeine Grundrechtslehren. Heidelberg: C. F. Müller, 1992, S. 54 ff. (Rn. 14–21); Jeand’Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen. Zur Erweiterung der Grundrechtsfunktionen und deren Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, in: JZ 1995, S. 163 ff.; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien: Lang, 1997, S.  283; Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland – von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, S. 83 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000, S. 32 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 66 ff.; Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, S. 7 ff., S. 32. 121 Die Literatur darüber ist umfangreich. Ausführend, Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 78 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 72 ff.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, S. 408 ff.; Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 43 ff. Zusammenfassend, Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 283–286. 122 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14. 123 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 15. Vgl. auch dazu H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 53. ff. 124 Über den Alexyschen Begriff des Spielraums siehe Unterpunkt 5, c. 125 Alexy, Ein nichtpositivistischer Begriff der Grundrechte, S. 19.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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einen moralischen Charakter haben, und „sich der Anspruch der positivrechtlichen Grundrechtskataloge auf Richtigkeit notwendig auf Menschenrechte als richtiges Recht bezieht. Damit ist die reale Dimension der Grundrechte notwendig mit einer idealen Dimension verbunden.“126 Alexy vertritt auch die Auffassung, dass den Menschenrechten als moralischen Rechten nur moralische Geltung zukommt und dass ein Recht als moralisch gilt, wenn es begründbar ist. Rechte existieren dieser Auffassung zufolge, wenn sie gelten. Die Existenz der Menschenrechte ihrerseits hängt daher von ihrer Begründbarkeit ab und von sonst nichts.127 Die reale oder positive Dimension der Grundrechte, also die im Grundgesetz verankerten Rechte, habe einen prima facie-Vorrang angesichts der Menschenrechte, die als ideale Dimension verstanden werden. Die Existenz eines ausdrücklichen prima facie-Vorrangs des positiven Rechts impliziert, dass es grundrechtsbezogene Fälle gibt, in denen über den Wortlaut der Verfassung hinausgegangen oder sogar gegen ihn entschieden werden kann.128 Die Abweichung vom autoritativen Material bedeutet eine Argumentationslast für den Interpreten und diese Argumentationslast ist eng mit der in den Alexyschen Schriften wiederkehrenden Problematik der Rationalität des Diskurses verbunden. c) Die Interpretation der Grundrechte Alexy ist der Meinung, dass bei der Existenz eines niedergeschriebenen Grundrechtskatalogs das juristische Problem der Grundrechte zunächst ein Problem der Interpretation autoritativer Formulierungen positiven Rechts ist.129 Böckenförde ist seinerseits der Ansicht, dass die im Grundgesetz durch Lapidarformeln und Grundsatzbestimmungen positivierten Grundrechtsbestimmungen inhaltlicher Eindeutigkeit entbehren. Anders als normale Gesetzesbestimmungen bedürfen sie nicht nur einer explikativen, sondern auch einer ausfüllenden Interpretation, die demzufolge nicht selten die Form einer Deutung oder Konkretisierung annimmt.130 Er erwähnt als Beispiele einer Interpretation dieser Art das Apothekenurteil und das NumerusClausus-Urteil, in denen kein hinreichender Anknüpfungspunkt in der Wortfassung, im Sprachsinn und im Regelungszusammenhang gefunden werden kann. Wie schon angedeutet, denkt Böckenförde, dass die Interpretation der Grundrechtsbestimmungen – bewusst oder unbewusst – von einer bestimmten Grundrechtstheorie geleitet und bestimmt wird. Grundrechtstheorie bedeutet ein systematisch orientiertes

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Alexy, Ein nichtpositivistischer Begriff der Grundrechte, S. 20. Ausführlicher über den Begriff und die Begründung der Menschenrechte, Alexy, Menschenrechte ohne Metaphysik?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, S. 16 ff. 127 Alexy, Ein nichtpositivistischer Begriff der Grundrechte, S. 20. 128 Alexy, Ein nichtpositivistischer Begriff der Grundrechte, S. 22. 129 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 15. 130 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 156.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

Verständnis vom allgemeinen Charakter, von der normativen Zielrichtung und der inhaltlichen Reichweite, der Grundrechte.131 Sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch in der Fachliteratur ist es möglich, verschiedene Auffassungen von den Grundrechten zu finden, die als Ausgangspunkt für die Lösung konkreter Fälle dienen. Abhängig vom jeweiligen Standpunkt werden unterschiedliche Lösungen angeboten.132 Böckenförde hat eine interessante Bestandsaufnahme der um 1974 bestehenden Theorien der Grundrechte vorgestellt und zu diesen Theorien einige kritische Anmerkungen gemacht. Seines Erachtens seien damals die hauptsächlichen Grundrechtstheorien folgende gewesen: „die liberale oder bürgerlich-rechtsstaatliche Grundrechtstheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie, die Werttheorie der Grundrechte, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie“.133 Die der Untersuchung Böckenfördes zugrundeliegende Frage ist, ob im Rahmen der Verfassungsordnung des GG Grundrechtstheorien als Ansatz- und Bezugspunkt der Grundrechtsinterpretation frei gewählt werden können, oder ob das GG selbst Vorentscheidungen getroffen hat.134 In Beantwortung dieser Frage verteidigt er die letztere Ansicht und plädiert für eine liberale Grundrechtstheorie.135 Über die von Böckenförde zitierten Theorien sagt Alexy, sie könnten „EinPunkt-Theorien“ genannt werden, weil sie die Vielfalt und die Komplexität dessen, was die Grundrechte regeln, auf nur ein Prinzip zu reduzieren versuchen.136 Das Gegenstück zu einer „Ein-Punkt-Theorie“ sei eine „kombinierte Theorie“, die alle angeführten Grundansichten heranziehe. Eine kombinierte Theorie liege einerseits der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde und würde andererseits von Autoren vertreten, die sich mit mehreren Funktionen, Seiten oder Zwecken der Grundrechte befassen.137 Alexy hält beide Modelle für unzulänglich und versucht stattdessen in seiner „Theorie der Grundrechte“ ein theoretisches Modell zu entwickeln, das auf der einen Seite die Vielfalt der in der Interpretation der Grundrechte zu berücksichtigenden Gesichtspunkte ernst nimmt, und das auf der 131 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 156–157. Ganz im Einklang mit dem Problem der Verfassungsinterpretation schreibt der Autor, dass die Grundrechtsinterpretation „ihren Bezugspunkt (die systematische Orientierung) in aller Regel in einer bestimmten Staatsauffassung und / oder Verfassungstheorie [hat]. Es ist ihre Funktion, die Interpretation der einzelnen Grundrechtsbestimmungen nicht allein einer an detaillierten Gesetzesregelungen ausgebildeten juristischen Technik zu überlassen, sondern in den Gesamtzusammenhang einer Staatsauffassung / Verfassungstheorie einzubinden.“ Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 157. 132 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 159. 133 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 160. Dazu auch Kroger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, S. 13 ff. 134 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 182. 135 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 185 ff. 136 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30. 137 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30–31.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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anderen Seite mehr leisten kann als eine letztendlich unverbindliche Aufzählung. Dieses Modell wurde von ihm als „integrative Theorie“ bezeichnet.138 d) Konstitutionalismus vs. Legalismus Alexy weist darauf hin, dass es entsprechend der Verfassungsbegriffe als Wertoder Rahmenordnung möglich ist, zwei Grundkonzeptionen des Rechtssystems zu unterscheiden: die des Konstitutionalismus und die des Legalismus. Erstere, die in der Werttheorie des Bundesverfassungsgerichts ihren Hauptausdruck hat, wurde von ihm bevorzugt. Letztere, die eine Kritik an der Wertordnungsrechtsprechung vornimmt, wird von ihm als Legalismus etikettiert.139 Diese auf die Diskussion über den Rechtsbegriff bezogenen Grundkonzeptionen,140 bringen u. a. rechtstheore­ tische, rechtsmethodologische, funktionell-rechtliche, und grundrechtsdogmatische Implikationen mit sich. Die ersten drei sollen nun näher betrachtet werden. Die grundrechtsdogmatischen Implikationen werden unter B. I. 4. im Detail analysiert. Forsthoff, der nach Alexy einer der Hauptvertreter des Legalismus ist,141 wendet dagegen ein: „Die Jurisprudenz vernichtet sich selbst, wenn sie nicht unbedingt daran festhält, daß die Gesetzesauslegung die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses ist“142 und versucht infolgedessen den Sinn der „Gesetzesform der Verfassung“143 ernst zu nehmen. Vom rechtsmetho 138

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 31. Darauf wird unten näher eingegangen. Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 213. Die Terminologie wurde von Alexy und Dreier erfunden. Dazu Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 215 und Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 85. Alexy sagt, dass trotz der mannigfaltigen Kritik an der Werttheorie sie als legalistisch charakterisiert werden könne. 140 Vgl. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 89. „Die rechtsbegriffliche Differenz zwischen Konstitutionalismus und Legalismus läßt sich dann dahin formulieren, daß dem Konstitutionalismus ein nicht-positivistischer und dem Legalismus ein positivistischer Rechtsbegriff zugrunde liegt.“ Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 91. Kernpunkt der Differenz zwischen Konstitutionalismus und Legalismus ist das Spannungsverhältnis zwischen materialer Richtigkeit und autoritativer Gesetztheit des Rechts. Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 97. Diese Dichotomie hat die theoretische Debatte außerhalb Deutschlands heftig beeinflusst. In Italien entwickelt sich seit Ende der 90er Jahre bezüglich der Verfassungsinterpretation der sogenannte „Neokonstitutionalismus“ im Gegensatz zum Rechtspositivismus. Diese theoretische Bewegung prägt bis heute weitgehend die spanische und die lateinamerikanische rechtswissenschaftliche Diskussion. In Brasilien ist die Diskussion um dieses Thema noch ziemlich heftig in Gange, wobei die (neo-)konstitutionalistische Betrachtungsweise überwiegt, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Dieses Problem wird im zweiten Kapitel ausführlich behandelt. 141 Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 214. 142 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 41. 143 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 36. Dieser Ausdruck kann als Grundlage für die Charakterisierung des Legalismus im Sinne von Alexy und Dreier gelten. Böckenförde behauptet, dass diese Position Forsthoffs als „Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz“ angesehen werden kann. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 123. 139

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

dologischen Standpunkt ausgehend plädiert Forsthoff für eine vom Denken Savignys inspirierte juristische Hermeneutik herkömmlicher Art.144 Er ist der Meinung, dass die von Smend entwickelte geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode philosophischer Prägung, die hinter der wertbezogenen Rechtsprechung des BVerfG steht145 und inkompatibel mit der herkömmlichen juristischen Methodenlehre ist, die Auflösung der Normativität der Verfassung bewirken kann.146 In diesem Sinne sagt er: „Verlegt man aber den Wert in die Norm selbst und macht damit die Normanwendung zur Wertverwirklichung, so verwandelt man den Vorgang der Erfassung des Normgehalts aus der Interpretation in Verstehen und in die Prozeduren der Wertverwirklichung durch Wertanalyse und Wertabwägung.“147 Wenn man die Überlegungen Forsthoffs ernst nimmt, wirkt die Sicht der „Konstitutionalisten“ über ihn allerdings vereinfachend. Diesbezüglich weist Forsthoff auch darauf hin: „Nun ist gewiß nicht zu verkennen, daß das Verfassungsgesetz juristische Elemente enthält, die es von allen sonstigen Gesetzen unterscheiden. Daß der unkritische, positivistische Normativismus, der streng darauf beharrte, das Verfassungsgesetz wie jedes andere beliebige Gesetz zu interpretieren, dem Verfassungsgesetz nicht nur verfassungspolitisch, sondern auch juristisch Wesentliches schuldig blieb, ist gewiß. Es ist das Verdienst der Staatsrechtslehre der zwanziger Jahre, sich aus der Einschichtigkeit der positivistischen Verfassungsauslegung gelöst zu haben.“ Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 36–37. Dreier und Alexy bezeichnen Autoren wie Schmitt, Forsthoff e Böckenförde als „Legalisten“, aber die Gleichsetzung vom Legalismus in Bezug auf die juristische Methodenlehre und „Positivismus“ bezüglich des Rechtsbegriffs scheint doch zweifelhaft zu sein. In ähnlichem Sinne, Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 207. Über die kritische Stellungnahme Schmitts zum Positivismus mit Grundlage eines „konkreten Ordnungsdenkens“, Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 3. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 10 ff. Forsthoff behauptet darüber hinaus, dass seine These keinen Rückfall in den Positivismus bedeutet. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 40–41 und Forsthoff, Probleme der Verfassungsauslegung, S. 36 ff. Böcken­ förde spricht über das „Fiasko des Rechtspositivismus“, bezüglich der Verbindung zwischen dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der „Entdeckung und Entfaltung des Charakters der Grundrechte als objektive Grundsatznormen / Wertentscheidungen“. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 189 und Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 23. Ausführend über den Zusammenhang oder den eventuellen Bruch zwischen dem „schmittischen Denken vor 1945“ und der „Schmitt-Schule“ nach dem Grundgesetz, Hwang, Materialisierung durch Entmaterialisierung, passim. 144 Zu der Zeit vor der Entstehung der Werterechtsprechung, siehe Forsthoff, Zur Rechtsfindungslehre im 19. Jahrhundert, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Bd. 96, H. 1. 1936, passim und Forsthoff, Recht und Sprache, S. 18 ff. Zur Periode nach dem Grundgesetz, Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 36–37. 145 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 55. Gegen die Auffassung, dass die Theorie Smends direkte Auswirkung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hatte, Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S. 10 ff. Bezüglich der Unterschiede zwischen dem Denken Smends und der wertebezogenen Rechtsprechung des BVerfG, Kroger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, S. 21 ff. Für eine detaillierte Analyse des Forsthoffschen Verfassungsbegriffs, Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? S. 242 ff. In der neueren Literatur, vgl. auch Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 140 ff. 146 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 38. 147 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 41. Im Bereich der allgemeinen Philosophie unterschied Wilhelm Dilthey am Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufgrund eines methodologischen Ausgangspunktes zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften,

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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Trotz der starken Kritik beschreibt Forsthoff selbst jedoch nicht im Detail, wie die Verfassungsinterpretation vor sich gehen soll.148 Böckenförde teilt mit Forsthoff den funktionell-rechtliche Einwand, demzufolge die wertebezogene Interpretation der Verfassung eine Machtverlagerung vom Gesetzgeber zur Verfassungsgerichtsbarkeit nach sich zieht. Im Unterschied zu Forsthoff ist Böckenförde hinsichtlich der „Verfassung als Gesetzesform“ der Meinung, dass sich der Strukturvergleich zwischen der Verfassung und dem Gesetz als Fiktion erweist, weil die Verfassung einen fragmentarischen Charakter hat, der (nur) die Rahmenbedingungen und Verfahrensregeln für den politischen Handlungs- und Entscheidungsprozess festlegt.149 Insofern ist eine etwaige Aufwobei das Verstehen als Paradigma für letztere gedacht war. Dilthey, Abgrenzung der Geistes­ wissenschaften, in: Dilthey, Texte zur Kritik der historischen Vernunft, Göttingen: Vanden­hoeck und Ruprecht, 1999, S. 261 ff. Smend seinerseits arbeitet mit den Geisteswissenschaften und ihrer Methodologie als Paradigma für die Rechtswissenschaft. In diesem Sinn stellt er fest: „Wenn die Wendung zur geisteswissenschaftlichen Methode mit Recht als das Gebot der Stunde für Staatstheorie und Staatsrechtslehre gefordert worden ist, so ist hier die Richtung bezeichnet, die diese Wendung einzuschlagen hat. Geisteswissenschaft ist verstehende Wissenschaft, und hier handelt es sich um die Klärung der Voraussetzungen solchen Verständnisses, wie sie empirisch und zumeist unbewußt in der Praxis der einzelnen Geisteswissenschaften von jeher gemacht worden sind.“ Smend, Verfassung und Verfassungsrecht. Berlin: Duncker & Hum­­blot, 1928, S. 7–8. Ob es – und im Bejahungsfall in welchem Umfang – eine direkte Verbindung zwischen den philosophischen Überlegungen Diltheys und dem juristisch-methodologischen Projekt Smends gibt, muss hier offenbleiben. Der sprachliche Gebrauch Smends und sein Rekurs auf die Begriffe der Lebensphilosophie zeigen zumindest eine paradigmatische Konkordanz. Andererseits hebt Hollerbach hervor, dass, obwohl es nicht möglich ist, kategorisch zu behaupten, dass Forsthoff seinen Interpretationsbegriff der Methodologie der Naturwissenschaften entnommen hat, die Bezugnahme auf die Subsumption (Betonung der bloßen Subsumtion, des syllogistischen Schließens) und der Versuch eine Exaktheit der hermeneutischen Regeln zu finden, ihn an dieses Paradigma annähern kann. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation. Dokumentation einer Kontroverse. Baden-Baden, Nomos, 1976, S. 260. Zur Unfähigkeit sowohl der Naturwissenschaften als auch der Geisteswissenschaften ein Paradigma für die Rechtswissenschaft anzubieten, siehe Müller, Normstruktur und Normativität, S. 13–17, Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 13–17. 148 Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? S. 241, 258–260 und 270. Was dies betrifft sagt Hollerbach: „Es muß aber gefragt werden: Wenn die juristische Methode – und Forsthoff spricht im allgemeinen von ihr, nicht nur bezüglich des Verfassungsrechts – nicht eine geisteswissenschaftliche ist, was ist sie dann? Wenn sie nicht „verstehen“ will, was tut sie dann? Hat Jurisprudenz dann überhaupt noch Wissenschaftscharakter, und, wenn ja, welcher Kategorie von Wissenschaft ist sie zuzuordnen?“ Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung? S. 260. Kritisch dazu auch Schneider, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20. 1961, S. 17, Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20. 1961, S. 64 und Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 56 ff. Darüber hinaus pointiert Reese, dass Forsthoff zwei verschiedene interpretative Modelle formuliert, einerseits für das Verwaltungsrecht und andererseits für das Verfassungsrecht, die in Widerspruch zueinander stehen. Dieser Widerspruch besteht darin, dass der Autor ausschließlich für das erste eine Herangehensweise aufgrund von Werten zulässt. Vgl. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 144–145. 149 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 125. Diese Ansicht ist eng mit dem Begriff der Verfassung als Rahmenordnung verbunden.

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lösung der Verfassung in eine (reine)  Gesetzesform nicht Böckenfördes größte Sorge, sondern vielmehr die Gefahr einer Überkonstitutionalisierung der Rechtsordnung.150 Gleichermaßen im Gegensatz zu Forsthoff hebt Böckenförde die Untauglichkeit des theoretischen Instrumentariums der klassischen Hermeneutik für die Verfassungsinterpretation hervor, genau deshalb, weil der in mehrfacher Hinsicht fragmentarische Charakter der Verfassung zur Konsequenz hat, dass ihr die normativ-inhaltliche Struktur des Gesetzes notwendigerweise fehlt.151 Aber wenn Böckenförde das Verständnis der Grundrechte als Grundsatznormen kritisiert, insbesondere die Alexysche Lesart der Grundrechte als Prinzipien, stellt er paradoxerweise fest: „In dem Maße, in dem die Grundrechte den Charakter von solchen Prinzipien-Normen annehmen, verändert sich ihre Anwendung von der Interpretation zur Konkretisierung. Damit ist ein Unterschied in der Sache, nicht bloß in der Bezeichnung gemeint. Interpretation ist Inhalts- und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem (…). Konkretisierung ist die (schöpferische) Ausfüllung von etwas nur der Richtung oder dem Prinzip nach Festgelegtem, das im übrigen offen ist und allererst der gestaltenden Ver-bestimmung zu einer vollziehbaren Norm bedarf.“152 Dementsprechend lässt sich vom rechtsmethodologischen Standpunkt her nicht mehr klar überprüfen, inwieweit sich diese Ansicht von der ­Forsthoffs entfernt, wenn Böckenförde den Begriff der Interpretation als „Inhalts- und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem“ beschreibt.153 Böckenförde legt dar, dass das zentrale Problem der Verfassungsinterpretation die Notwendigkeit einer (verbindlichen) Verfassungstheorie ist, und dass zwischen den Methoden der Verfassungsinterpretation und den zugrundeliegenden Verfassungstheorien bzw. Verfassungsbegriffen ein wechselseitiger Zusammenhang besteht.154 Die gleiche Schlussfolgerung gilt für die Interpretation der Grund­ 150

Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 12. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 125. Insbesondere bezogen auf das Problem der Grundrechtsinterpretation, Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 158. (Fußnote Nr. 7). Kritisch gegen die Position Böckenfördes hinsichtlich der Untauglichkeit der klassischen Hermeneutik, Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 74, (Fußnote Nr. 13). 152 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 216. „Der vordem qualitative Unterschied zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung ebnet sich insoweit ein. Beide – Gesetzgeber und BVerfG – betreiben Rechtsfindung in Form der Konkretisierung und konkurrieren darin. In diesem Konkurrenzverhältnis hat der Gesetzgeber die Vorhand, das Verfassungs­gericht aber den Vorrang.“ Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 220. Böckenförde scheint hier die Begriffe Konkretisierung und Rechtsfortbildung gleichzusetzen, aber sie sind in der Tat nicht gleich. Ausführlich über den zugrundeliegenden methodologischen Unterschied, Müller, Richterrecht, Berlin: Duncker & Humblot, 1986, passim. 153 Reese stellt fest, dass Böckenförde die „legislatoris interposition“ durch eine „restriktive Grundrechtsauslegung“ sichert und dass die Rahmenordnungsthese „die Frage nach der Reichweite der Verfassungsbindung mit der Frage nach der Reichweite verfassungsgerichtlicher Kompetenzen [verbindet] und […] letztere zum Ausgangs- und Zielpunkt der Grundrechtsauslegung“ macht. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 201–202. 154 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 147–148. „Eine verbindliche Verfassungstheorie kann freilich nicht mehr Sache von subjektivem Vorverständnis und be 151

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rechte.155 Allerdings bleibt zu fragen, ob diese Schlussfolgerung nicht zirkulär ist,156 da die Entwicklung einer Theorie der Verfassung und der jeweiligen Grundrechte schon als eine Interpretation des positiven Rechts betrachtet werden kann – oder sogar muss, was von Böckenförde durchaus erkannt wird.157 Alexy fasst die Gegenpositionen, die der Legalismus gegenüber dem Konstitutionalismus einnimmt, in diesem Sinne zusammen: „(1) Norm statt Wert; (2) Subsumtion statt Abwägung; (3) Eigenständigkeit einfachen Gesetzesrechts statt Allgegenwart der Verfassung; (4) Autonomie des demokratischen Gesetzgebers im Rahmen der Verfassung statt verfassungsgestützter Omnipotenz der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts.“158 Der Konstitutionalismus betont dagegen im Hinblick auf die rechtstheoretischen Implikationen und in Anlehnung an die Lüth-Entscheidung, dass neben Normen auch Werte zum Rechtssystem gehören, das heißt, die Werte hätten Verfassungsrang und entfalteten darüber hinaus eine Ausstrahlungswirkung auf das gesamte einfache Recht. Die Verfassung sei dann nicht mehr nur Ermächtigungsgrundlage und Rahmen für einfaches Recht, sondern werde, vor allem mit Begriffen wie denen der Würde, der Freiheit und der Gleichheit sowie denen des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats, zur inhaltlichen Mitte des Rechtssystems.159 stehendem politischen Konsens bzw. Konsenswandel sein. Sie ist möglich als in der Verfassung ausdrücklich oder implizit enthaltene Verfassungstheorie, die aus Verfassungstext und Verfassungsentstehung mit rationalen Erkenntnismitteln erhebbar ist.“ Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 149–150. Dazu vgl. auch Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat, Bd. 19/H. 1 Berlin: Duncker & Humblot, 1980, passim. Kritisch zur Idee einer verbindlichen Verfassungstheorie, Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie. Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh, 2009, S. 95. 155 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 157. Kritik an der Idee eines verbindenden Charakters der Grundrechtstheorie, Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 132. 156 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 515. 157 In dieser Hinsicht hebt er hervor: „Die Erarbeitung und Ausformung einer solchen verfassungsmäßigen Verfassungstheorie muss ihren Ausgang von der Verfassung selbst nehmen […]. Gegen diese Zielsetzung mag eingewendet werden, dass sie ebenfalls auf ein Vorverständnis der Verfassung angewiesen sei, um die dargelegte Interpretationsaufgabe zu lösen […]. Das ist insoweit – aber auch nur insoweit – richtig, als jede Interpretation einer Norm auf eine Fragestellung bzw. Hypothese angewiesen ist, mit der sie an die Norm, ihren Regelungszusammenhang usf. herantritt, um sie zum Sprechen zu bringen und interpretieren zu können. Meint Vorverständnis und hermeneutischer Zirkel nur dies, so ist dagegen – als eine Grundgegebenheit von Interpretation – nichts zu erinnern. Es ist aber ein Unterschied, ob ein solches Vor-Verständnis nur den ersten Ausgangspunkt der Interpretation bildet und dann der strengen Bewährung an den (normativen) Aussagen, Voraussetzungen, dem Entstehungszusammenhang usf. der konkreten Verfassung unterliegt oder ob es schon als solches, ohne jene kritische Bewährung als Maßstab und Orientierungspunkt der Interpretation etabliert wird und dann seinerseits – als freie oder topische Setzung – den Inhalt der Verfassung bestimmt.“ Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 150. 158 Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 213. 159 Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 213.

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Was die methodologischen Implikationen betrifft, kann über eine „Tendenz, die klassische Subsumption unter Rechtsregeln durch eine verfassungsorientierte Abwägung von Werten oder Prinzipien zu ersetzen“160 gesprochen werden. Während der Legalismus ein regelbasiertes Modell ist,161 kennzeichnet der Unterschied zwischen Prinzipien und Regeln eines der wichtigsten Fundamente des Konstitutionalismus. Alexy vertritt die Auffassung, dass die Werttheorie als Prinzipientheorie rekonstruiert werden kann und die Abwägung die für Prinzipien kennzeichnende Form der Rechtsanwendung ist.162 Es geht um einen Versuch, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Ausstrahlungs- und Drittwirkung der Grundrechte, die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte, den Rekurs auf Wertungen und die Abwägung als Methode für die Lösung von Wert- bzw. Grundrechtskollisionen zu rationalisieren.163 Was die funktionell-rechtlichen Implikationen anbelangt, ist Dreier der Aussicht, dass vom Konstitutionalismus her die Rolle der Judikative gegebenenfalls auch gegen die Legislative und die Exekutive, zum Ausdruck gebracht werden kann.164 Den vorangegangenen Ausführungen ist zu entnehmen, dass der Verfassungsbegriff von Alexy, der mit seinem Rechtsbegriff in Einklang steht, eng mit der wertordnungsbezogenen Rechtsprechung des BVerfG verbunden ist. Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass für Alexy die geeignete Form des Verständnisses dieses Begriffs und zugleich der Rationalisierung der Werttheorie der Konstitutionalismus ist. Dementsprechend kann festgestellt werden, dass der Alexysche Begriff der Grundrechte und die von ihm jeweilig entwickelte Grundrechtstheorie mit diesen Vorstellungen zusammenhängen, was Konsequenzen für die Grundrechtsdogmatik mit sich bringt.

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Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 213. Nach Reese lässt sich das Rahmenordnungsdenken von Böckenförde als Regeldenken beschreiben. Es schließt verfassungsrechtliche Bindungen und Abwägungen nicht aus, drängt sie aber zurück. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 208. 162 Alexy, Rechtssystem und praktische Vernunft, S. 215–216. Dreier sagt: „Alexys Hauptthese ist, daß die Werttheorie des Bundesverfassungsgerichts mit einer Prinzipientheorie äquivalent ist, deren Basis die strukturelle Differenz zwischen Regeln und Prinzipien ist.“ Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 89. 163 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18. 164 „Der Konstitutionalismus betont den Wertgehalt der Verfassung und versucht, ihn mit Hilfe der Judikative ggfs., auch gegen die Legislative und die Exekutive zur Geltung zu bringen. Der Legalismus betont die Eigenständigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers und versucht, die mit jener Rechtsprechung verbundene Kompetenzausweitung der Judikative zurückzudrängen.“ Dreier, Konstitutionalismus und Legalismus, S. 85. 161

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4. Die Theorie der Grundrechte als interpretatives Modell einer allgemeinen Grundrechtsdogmatik für das Grundgesetz Alexy stellt seine Theorie der Grundrechte als „allgemeine juristische Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes“ oder als der „allgemeine Teil der Grundrechtsdogmatik“ dar, deren Basis die Prinzipientheorie und die Theorie der rechtlichen Grundpositionen bilden.165 Eine allgemeine Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes ist demnach eine Theorie, bei der es um Probleme geht, die sich bei allen Grundrechten oder bei allen Grundrechten bestimmter Art stellen, z. B. bei allen Freiheits-, Gleichheits- oder Leistungsrechten. Ihr Gegenstück ist eine partikulare Theorie, die besondere Probleme einzelner Grundrechte behandelt.166 In dieser Hinsicht wird seine Theorie hier fortan als Basis für die Interpretation der Grundrechte – ganz im Sinne von Böckenförde – betrachtet werden.167 a) Die Beziehung zwischen dem Begriff der Dogmatik und dem der Theorie der Grundrechte Indem die Alexysche Theorie der Grundrechte sich mit dem positiven Recht, das heißt, mit den im Grundgesetz verankerten Grundrechten befasst, stellt sie sich als dogmatische Theorie vor.168 Schon in seiner Theorie der juristischen Argumentation schlug Alexy einen allgemeinen Begriff der Dogmatik169 vor, den er in seiner Dog 165

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 28. 167 In diesem Sinne stellt Poscher fest: „Die Prinzipientheorie ist für die Grundrechte und fast ausschließlich anhand der Grundrechte entwickelt worden. Sie ist letztlich eine bestimmte inhaltliche Interpretation der Grundrechte, nämlich als Normen, die ein Optimierungsgebot enthalten.“ Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 80. Hier ist zu bemerken, dass die von Böckenförde 1974 verteidigte Idee einer Grundrechtstheorie als Basis für die Grundrechtsinterpretation (im Aufsatz „Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation“ genannt) 1990 im Text „Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz“ durch die Idee einer Grundrechtsdogmatik ersetzt wurde. In diesem Sinne Lepsius, Kritik der Dogmatik, in: Kirchhof / Magen / Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, S. 51. Infolgedessen kann die Grundrechtstheorie Böckenfördes als allgemeiner Teil der Grundrechtsdogmatik im Sinne Alexys verstanden werden. Mit anderer Auffassung über die Rolle der Grundrechtstheorie bezüglich der dogmatischen Betrachtung der Grundrechte, schreibt Jestaedt: „Eine Grundrechtstheorie stellt im Rahmen der Grundrechtsauslegung das grundrechtseigentümliche Vorverständnis dar. In dieser Funktion wirkt die Grundrechtstheorie primär im Entdeckungszusammenhang – als Einstiegshilfe in den Anwendungszirkel einer dogmatischen Interpretation.“ Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 133. [Hervorhebung im Original]. Weitgehender im Blick auf die Unterscheidung zwischen Verfassungstheorie und Verfassungsdogmatik, Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, passim. In Bezug auf die Funktion der Dogmatik im Öffentlichen Recht im Allgemeinem siehe die Aufsätze in Kirchhof / Magen / Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? Tübingen: Mohr Siebeck, 2012. 168 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18–22. 169 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 307–309. 166

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matik der Grundrechte wieder verwendet. Seiner Ansicht nach enthält die Dogmatik drei Dimensionen, die er als „deskriptiv-empirisch“, als „logisch-analytisch“ und als „normativ-praktisch“ bezeichnet.170 Entsprechend diesen drei Dimensionen hat die Dogmatik drei Aufgaben: „(1) die logische Analyse der juristischen Begriffe, (2) die Zusammenfassung dieser Analyse zu einem System und (3) die Verwendung der Ergebnisse dieser Analyse zur Begründung juristischer Entscheidungen.“171 Die Verbindung zwischen diesen drei Dimensionen ist eine notwendige Bedingung der Rationalität der Rechtswissenschaft als praktische Disziplin.172 In der analytischen Dimension geht es um „die begrifflich-systematische Durchdringung des geltenden Rechts. Das Spektrum der Aufgaben reicht von der Analyse der Grundbegriffe […] über die juristische Konstruktion […] bis zur Untersuchung der Struktur des Rechtssystems […] und des grundrechtlichen Begründens […].“173 Bei der deskriptiv-empirischen handelt es sich sowohl um die Beschreibung des positiven Rechts als auch um die Beschreibung und Prognose des Richterrechts, vornehmlich der Rechtsprechung des BVerfG. Die Einbeziehung der Rechtsprechung in diese Dimension wurde von ihm aufgrund der Offenheit der Normierung der Grundrechte gerechtfertigt. Diese Offenheit bedeutet, dass allein mit der Kenntnis des gesetzten Rechts wenig gewonnen ist.174 In der normativen Dimension geht es „um die Anleitung und Kritik der Rechtspraxis, vor allem der richterlichen Spruchpraxis. Für sie ist die Frage konstitutiv, was unter Zugrundelegung des positiv geltenden Rechts die richtige Entscheidung in einem konkreten Fall ist. In allen strittigen Fällen schließt die Antwort auf diese Frage Wertungen des Antwortenden ein.“175 Anders ausgedrückt ist die Rechtsdogmatik ein Versuch, auf Wertungsfragen, die von dem autoritativ vorgegebenen Material offengelassen werden, rational begründete Antworten zu finden und zu geben.176 170

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 308 und Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 23. 171 Alexy. Theorie der juristischen Argumentation, S. 311. Wenn fortan von Dogmatik die Rede ist, bedeutet das stets die Grundrechtsdogmatik. 172 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 27. 173 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 23; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 308. 174 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 24. Auf der Ebene des Begriffes des Rechts wurde schon erklärt, dass für Alexy „das Rechtssystem nicht nur ein System von Normen im Sinne von Ergebnissen, sondern auch ein System von Prozeduren ist und daß vom Standpunkt des Teilnehmers aus die Gründe, die er in der Prozedur der Entscheidung und Begründung berücksichtigt, zur Prozedur und damit zum System gehören.“ Siehe oben, Fußnote Nr. 54. Hiermit wird nochmals deutlich in welchem Umfang der Rechtsbegriff mit der Dogmatik der Grundrechte im Alexyschen Denken verknüpft. 175 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 25; Alexy. Theorie der juristischen Argumentation, S. 308. 176 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 24–25. „Dies konfrontiert die Rechtsdogmatik mit dem Problem der rationalen Begründbarkeit von Werturteilen. […] Das Wertungsproblem stellt sich vor allem bei der Interpretation des empirisch erhebbaren autoritativen Materials und der Schließung seiner Lücken. Insofern kann von einem „Ergänzungsproblem“ gesprochen werden.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 25.

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Die Alexysche „integrative Theorie“, die als allgemeine Theorie der Grundrechte des Grundgesetzes verstanden werden soll, setzt als wichtigen Teil eine „Strukturtheorie der Grundrechte“ voraus, die primär analytisch ist, obwohl sie auch empirische und normative Dimensionen enthält. Diese analytische Dimension dient als Basis für das Verständnis der anderen Dimensionen: „Ihr wichtiger Stoff ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Insofern hat sie empirisch-analytischen Charakter. Geleitet wird sie von der Frage nach der richtigen grundrechtlichen Entscheidung und der rationalen grundrechtlichen Begründung. Insofern hat sie normativ-analytischen Charakter.“177 Zwei auf die analytische Dimension bezogene Fragen sind für Alexy von zentraler Bedeutung und infolgedessen für die vorliegende Untersuchung auch von Interesse, nämlich der Begriff und die Struktur der Grundrechtsnormen. b) Der Begriff der Grundrechtsnorm Alexy entwickelte einen semantischen Normbegriff allgemeiner Art, der den Begriff der Grundrechtsnorm einschließt und über drei Stufen verläuft. Auf der ersten Stufe liegt die Unterscheidung zwischen Normsatz und Norm, wobei der Normsatz die Bedeutung der Norm ist. Auf der zweiten Stufe ist die Existenz von zugeordneten Normen angesiedelt, das heißt von Normen, die nicht unmittelbar von Normsätzen statuiert werden. Auf der dritten Stufe findet sich die Generalisierung des Richtigkeitskriteriums für die Gewinnung von Normen.178 Eine Norm kann durch verschiedene Arten von Normsätzen charakterisiert werden und dies hält Alexy als eine Begründung dafür, die Norm als primären Begriff zu betrachten. Daher ist es empfehlenswert, „Kriterien für die Identifikation von Normen nicht auf der Ebene des Normsatzes, sondern auf der Ebene der Norm zu suchen.“179 Alexy formuliert dieses Kriterium mit Hilfe der deontischen Grundmodalitäten Gebot, Verbot und Erlaubnis,180 die unter dem Begriff des ‚Sollens‘ zusammengefasst werden können.181 In dieser Hinsicht kann ein (Norm)Satz der Verfassung beispielsweise als eine Norm berücksichtigt werden, wenn eine der deontischen Modalitäten, also ein Sollen, enthalten ist. Seiner Meinung nach gibt es zwei Begriffe der Existenz einer Norm, einen schwachen und einen starken. Nach dem schwachen Begriff existiert eine Norm, wenn sie aus einem Gedankeninhalt besteht, der (leicht) zu erfassen ist. Im starken Sinne existiere sie, wenn sie gilt.182 177

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 32. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 42 ff. 179 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 43. 180 „Ein deontischer Ausdruck ist auch der Ausdruck „hat ein Recht auf…,“. Wendungen wie „hat ein Recht auf…“ drücken, wie weiter unten darzulegen sein wird, komplexe deontische Modalitäten aus.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 45. 181 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 46. 182 Alexy, Ideales Sollen, S. 23–24. 178

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In diesem Sinne stellt er fest: „Es erscheint möglich, daß das grundsätzliche Gebot, Notleidenden zu helfen, moralisch gilt. Es gilt moralisch, wenn es begründbar ist, und es spricht vieles dafür, daß dies der Fall ist. Ist dies der Fall, so reicht das für die Existenz im starken Sinne aus.“183 Die Grundrechtsnorm, die die Bedeutung eines (oder mehrerer) Grundrechtsnormsatzes ist,184 lässt sich in zwei Kategorien unterteilen: Es sind entweder „Normen, die unmittelbar durch Sätze der Verfassung ausgedrückt werden“, oder „zugeordnete Grundrechtsnormen“. Um diese Klassifikation zu rechtfertigen, führt Alexy den Satz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG an: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieser Normsatz kann durch folgende Normen ausgedrückt werden: „Es ist geboten, daß Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind“, und „Wissenschaft, Forschung und Lehre sollen frei sein“. Diese durch den Verfassungstext unmittelbar statuierten Normen sind freilich in einer doppelten Hinsicht unbestimmt. Sie sind sowohl semantisch als auch strukturell offen.185 Die semantische Unbestimmtheit oder Offenheit betrifft die möglichen Bedeutungen der in dem Normsatz enthaltenen Aussagen. Die strukturelle Unbestimmtheit oder Offenheit ist dagegen zum Beispiel mit der Frage verbunden, ob dieser Zustand der „Freiheit der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre“ durch eine Handlung oder eine Unterlassung des Staates erreicht werden kann und muss. Von der erwähnten Verfassungsvorschrift her ist es laut Alexy nicht ohne weiteres möglich, die semantische und die strukturelle Reichweite der Norm zu erklären. Diesbezüglich bringt er einen Fall zur Sprache, in dem das Bundesverfassungs­ gericht dem Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG sowohl einen Anspruch auf Leistung als auch auf Unterlassung des Staates entnommen hat: „Der Staat hat die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern“, und: „Jeder, der in Wissenschaft, Forschung und Lehre tätig ist, hat – vorbehaltlich der Treuepflicht gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG – ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse.“186 Diese vom Gericht konstruierten (Grundrechts)Normen überschreiten nach Alexy die durch den Verfassungstext unmittelbar ausgedrückte Norm. Daher bezeichnet Alexy diese Art von Beziehung der angeführten Normen zum Verfassungstext als „Präzisierungsrelation“.187 Diese Art von Normen wird den unmittelbar durch den Verfassungstext statuierten Normen zugeordnet. Sie können demzufolge „zugeordnete Normen“ genannt werden.188 Darüber hinaus ist Alexy 183

Alexy, Ideales Sollen, S. 24. Alexy verwendet die Begriffe „Grundrechtsbestimmung“ und „Grundrechtsnormsatz“ als Synonyme. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 54. 185 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57. 186 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57–59. 187 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 188 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 184

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der Ansicht, dass für die Überprüfung der Geltung einer von der Grundrechts­ bestimmung unmittelbar statuierten Norm der Hinweis auf ihre Positivierung ausreichend ist.189 Dieses Kriterium reicht allerdings für den Fall einer zugeordneten Norm nicht aus. Eine zugeordnete Norm gilt, „wenn für ihre Zuordnung zu einer unmittelbar statuierten Grundrechtsnorm eine korrekte grundrechtliche Begründung möglich ist.“190 Anders gesagt: „Ob eine zugeordnete Norm eine Grundrechtsnorm ist, hängt also von der für sie möglichen grundrechtlichen Argumentation ab.“191 Alexy verallgemeinert das Kriterium der korrekten grundrechtlichen Begründung und erweitert es auf die unmittelbar statuierten Normen: „Eine solche allgemeine Definition lautet, dass Grundrechtsnormen alle die Normen sind, für die eine korrekte grundrechtliche Begründung möglich ist.“192 Zusammenfassend: Ein Satz der Verfassung ist ein (Grundrechts)Normsatz, wenn er eine Norm, also ein Sollen enthält. Die Grundrechtsnorm (die Bedeutung eines Grundrechtsnormsatzes) kann sowohl eine durch den Verfassungstext unmittelbar ausgedrückte Norm als auch eine zugeordnete Norm sein. In beiden Fällen hängt die Richtigkeit der Normkonstruktion von der ihr entsprechenden grundrechtlichen Argumentation ab. c) Die Struktur der Grundrechtsnormen In Bezug auf die Struktur der Grundrechtsnormen gilt für Alexy die Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln als die wichtigste. Diese Unterscheidung ist für ihn die Grundlage für die Theorie des grundrechtlichen Begründens und ein Schlüssel zur Lösung zentraler Probleme der Grundrechtsdogmatik.193 Sie bildet zudem ein Grundelement der Theorie der rechtlichen Grundpositionen.194 Darüber hinaus können Probleme wie die der Kompetenzverteilung zwischen Verfassungsgericht und Parlament mit ihrer Hilfe transparenter gemacht werden.195 Sie ist einer der Grundpfeiler des Gebäudes seiner Grundrechtstheorie.196

189

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 61. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 61. 191 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 61. „Es gibt zwei Begriffe der Existenz einer Norm, einen schwachen und einen starken. Nach dem schwachen Begriff existiert eine Norm, wenn sie aus einem Gedankeninhalt besteht, den zu erfassen möglich ist. Das entspricht dem semantischen Normbegriff.“ Alexy, Ideales Sollen, S. 23. 192 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 63. 193 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. 194 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. Die Theorie der rechtlichen Positionen wird in dem nächsten Punkten behandelt werden. 195 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. 196 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71. 190

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aa) Prinzipien und Werte Prinzipien und Werte haben nach Auffassung von Alexy eine ähnliche Struktur. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass sowohl Prinzipien als auch Werte kollidieren können und die Lösung für beide Arten von Kollision im Prozess einer Abwägung stattfindet. Außerdem korrespondiert die gradweise Erfüllung von Prinzipien mit der gradweisen Realisierung von Werten.197 Der Unterschied ist jedoch, dass Werte einen axiologischen Charakter haben, das heißt, sie fragen nach dem Guten, während Prinzipien einen deontologischen Charakter besitzen, sich also mit der Frage nach dem Sollen beschäftigen.198 Trotz dieser Unterscheidung können die Einwände gegen den Begriff der Werte, inklusive die Verwendung der Idee der Wertordnung in Bezug auf den Katalog der Grundrechte, sich auf den Prinzipienbegriff erstrecken und als richtig erweisen.199 Alexy unterteilt die Kritik an der Werttheorie in drei Modalitäten, nämlich in die philosophische, die methodologische und die dogmatische.200 Die methodologische Kritik zum Beispiel, die sich mit den Begriffen der Wertordnung und der Abwägung befasst, kann durch die Konstruktion einer weichen Ordnung der Werte entkräftet werden, die durch prima-facie-Präferenzen zugunsten bestimmter Werte oder Prinzipien und durch ein Netzwerk konkreter Präferenzentscheidungen entstehen kann.201 Diese Möglichkeit ist eng mit dem Begriff der Abwägung verbunden.202 Diese Abwägung steht ausschließlich dann im Vordergrund der hier anzustellenden Überlegungen, wenn sie mit der Prinzipientheorie verbunden ist. Fragen der Wertabwägungen sind hier nicht zu behandeln. bb) Der Unterschied zwischen Prinzipien und Regeln Alexy geht davon aus, dass die Rechtsnormen entweder Prinzipien oder Regeln sind,203 tertium non datur. Deshalb sollen die Grundrechtsnormen gleichermaßen 197

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 124. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 127. Alexy versteht Prinzipien und Werte als zwei Arten von Normen, wobei jene deontologischen Normen und diese axiologische Normen sind. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 132. Andere Kriterien für die Unterscheidung findet man in Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. Köln, München: Carl Heymanns Verlag, 2008, S. 289–290. 199 In diesem Sinn muss festgestellt werden, dass nach Ansicht Alexys die Prinzipientheorie eine von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie ist. Damit ist die Rehabilitierung der vielgeschmähten Werttheorie der Grundrechte eines der Ziele seiner Untersuchung. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 18. 200 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 135 ff. 201 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 142. 202 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 143. „Eine weiche Ordnung der grundrechtlich relevanten Werte durch prima facie-Präferenzen erhält man etwa dann, wenn man eine Argumentationslast zugunsten der individuellen Freiheit oder der Gleichheit oder zugunsten kollektiver Güter annimmt. Eine weiche Ordnung durch ein Netzwerk konkreter Präferenzentscheidungen ist durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entstanden.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 143. 203 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77. 198

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aufgrund der Unterscheidung zwischen Prinzipien oder Regeln gedacht werden. In den früheren Schriften unterschied er indes zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen oder Rechtsregeln.204 Darüber hinaus wurden Prinzipen als „ideales Sollen“ und Regeln als „reales Sollen“ charakterisiert.205 In der „Theorie der Grundrechte“ vereinigte er die Nomenklatur und verwendet seither die Kategorien Rechtsprinzipien und Rechtsregeln. Die Auffassung der Rechtsprinzipien als ideales Sollen wurde beiseitegelassen.206 In der Literatur findet man verschiedene Kriterien für diesen Unterschied,207 allerdings formuliert Alexy ein eigenes. Seiner Meinung nach sind Prinzipien Normen, die gebieten, dass  – mit Blick auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten – etwas in einem möglichst hohen Maße realisiert wird. Prinzipien sind demnach „Optimierungsgebote“, die dadurch charakterisiert sind, dass sie in unterschiedlichem Umfang erfüllt werden können. Das gebotene Maß ihrer Erfüllung hängt nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten ab, wobei der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt wird. Regeln sind hingegen Normen, die stets entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Wenn eine Regel gilt, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger. Regeln enthalten damit Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist infolgedessen eine qualitative und keine graduelle Unterscheidung.208 Da Prinzipien und Regeln unterschiedliche Arten von Normen sind, funktionierten sie als unterschiedliche Gründe für Sollensurteile. Prinzipien enthalten prima-facie-Gebote, das heißt, sie sagen nicht definitiv was gesollt ist, sondern stellen Gründe dar, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können. Deswegen haben sie einen prima-facie-Charakter und dienen als prima-facieGründe.209 Regeln hingegen bestimmen, was definitiv gesollt ist, sie haben also einen definitiven Charakter und dienen als definitive Gründe.210 Im Zirkel der Verfechter der Prinzipientheorie wurde jedoch die Verwendung des Prinzipienbegriffs als Optimierungsgebot kritisiert. In diesem Zusammenhang ist Sieckmann der Ansicht, dass die Optimierungsgebote nicht Prinzipien, sondern 204 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 299, 309 und 319 und Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, S. 182. 205 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, P. 204. 206 Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 67. 207 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72 ff. Vgl. dazu auch Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, S. 95 ff.; Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 171 ff.; Ávila, Theorie der Rechtsprinzipien, Berlin: Duncker & Humblot, 2006, S. 29 ff.; Penski, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln – Ihre Unterscheidung und das Problem der Positivität des Rechts, in: JZ 44, 1989, (105–114), S. 105 ff. 208 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75–76. 209 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 88. 210 „Sie können als Gründe für Handlungen oder als Gründe für Normen, und als Gründe für Normen als Gründe für universelle (abstrakt-generelle) oder / und individuelle Normen (konkrete rechtliche Sollensurteile) angesehen werden.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 90.

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Regeln sind: „Daß Optimierungsgebote definitiv erfüllbar sind, also nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein können, beruht auf der Definition des Optimums. Erfüllen zwei Lösungen ein Optimierungsgebot in unterschiedlichem Maß, d. h. die eine Lösung in höherem Maß als die andere, dann ist nur die erste Lösung optimal. Sind mehrere mögliche Lösungen optimal, dann wird ein Optimierungsgebot durch jede von ihnen vollständig erfüllt. Optimierungsgebote sind demnach Regeln.“211 Wenn Prinzipien keine Optimierungsgebote sind, muss die Prinzipientheorie ein anderes Kriterium finden, damit sie den Unterschied von Prinzipien und Regeln aufrechterhalten kann. Alexy akzeptierte diese Kritik und stellte fest, dass sie kein Anlass zum Zusammenbrechen der Optimierungsthese sei, sondern auf diese ein schärferes Licht werfe.212 In diesem Kontext nimmt er seine Charakterisierung der Prinzipien als ideales Sollen wieder auf und beginnt zwischen „zu optimierenden Geboten“ und „Geboten zu optimieren“ zu differenzieren: „Die zu optimierenden Gebote sind die Abwägungsgegenstände. Man kann sie als ‚ideales Sollen‘ oder ‚Ideale‘ bezeichnen. Das Sollen ist das, was zu optimieren und dadurch erst in ein reales Sollen zu transformieren ist. Als Gegenstand der Optimierung befindet es sich auf der Objektebene. Die Gebote zu optimieren, also die Optimierungsgebote, sind demgegenüber auf einer Metaebene angesiedelt. Dort sagen sie, was mit dem, das sich auf der Objektsebene findet, zu tun ist. Sie gebieten, dass ihre Gegenstände, die zu optimierenden Gebote, so weit wie möglich realisiert werden. Als Optimierungsgebote sind sie nicht zu optimieren, sondern zu erfüllen, indem optimiert wird. Prinzipien sind also als Gegenstände der Abwägung keine Optimierungsgebote, sondern zu optimierende Gebote […]. Es gibt eine notwendige Beziehung zwischen dem idealen Sollen, also dem Prinzip als solchem, und dem Optimierungsgebot als Regeln. Das ideale Sollen impliziert das Optimierungsgebot, und umgekehrt.“213 Seitdem wurden Prinzipien von Alexy als zu optimierende Gebote oder ideales Sollen verstanden. Diese Idee, den Begriff des Idealen Sollens durch die Figur des zu optimierenden Gebotes klären zu wollen, wurde von ihm 2017 aufgegeben.214 Der Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien zeigt sich am deutlichsten bei Prinzipienkollisionen und Regelkonflikten. Wenn ein Regelkonflikt stattfindet, stehen zwei Möglichkeiten für die Lösung zur Verfügung: Entweder muss eine Ausnahmeklausel, die den Konflikt beseitigt, in eine der Regeln einfügt werden oder mindestens eine der Regeln für ungültig erklärt werden.215 „Ganz anders sind Prinzipienkollisionen zu lösen. Wenn zwei Prinzipien kollidieren, was etwa dann 211

Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 65. Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 38. 213 Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 38–39. 214 Vgl. dazu Alexy, Ideales Sollen und Optimierung, in: Isfen / Kim / Liu / Mylonopoulos / Saliger / Tavares / Yamanaka / Zheng (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafrecht: Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70. Geburtstag. Ed., 17–30. Heidelberg: C. F. Müller, 2017, S. 25. Kritisch dazu, Poscher, Resuscitation of a Phantom? On Robert Alexy’s Latest Attempt to Save His Concept of Principle, in: Ratio Juris. Vol. 33 Nr. 2, Juni 2020 (134–149), S. 141. 215 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77. 212

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der Fall ist, wenn nach dem einen Prinzip etwas verboten und nach dem anderen Prinzip dasselbe erlaubt ist, müßte eines der beiden Prinzipien zurücktreten […]. Regelkonflikte spielen sich in der Dimension der Geltung ab, Prinzipienkollisionen finden, da nur geltende Prinzipien kollidieren können, jenseits der Dimension der Geltung in der Dimension des Gewichts statt.“216 Diese Vorgänge erklären einen der wichtigsten Aspekte der Prinzipientheorie, nämlich die Vorgehensweise bei der Anwendung von Prinzipien. cc) Abwägung als argumentatives Modell bei der Anwendung von Prinzipien Regeln, sagt Alexy, sind durch eine Subsumption anwendbar.217 Prinzipien haben dagegen ein Kollisionsverhalten218 und werden durch eine Abwägung zwischen einander widerstreitenden Interessen angewendet und bei dieser „Abwägung geht es darum, welchem der abstrakt gleichrangigen Belange im konkreten Fall das höhere Gewicht zukommt.“219 Diese Verbindung zwischen dem Prinzipienbegriff und der Abwägung führt zu einer notwendigen Beziehung zwischen der Prinzipientheorie und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In diesem Zusammenhang führt Alexy aus: „Der Prinzipiencharakter impliziert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, und dieser impliziert jenen. Daß der Prinzipiencharakter den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz impliziert, bedeutet daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit seinen drei Teilgrundsätzen der Geeignetheit, der Erforderlichkeit (Gebot des mildesten Mittels) und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (eigentliches Abwägungsgebot) aus dem Prinzipiencharakter logisch folgt, also aus ihm deduzierbar ist […]. Prinzipien sind Optimierungsgebote relativ auf die rechtlichen und die tatsächlichen Möglichkeiten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, also das Abwägungsgebot, folgt aus der Relativierung auf die rechtlichen Möglichkeiten.“220 216

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79. Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, in: Clérico / Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation. Studien zur Rechtstheorie Robert Alexys. Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 9–10; Alexy, Formal principles, Some replies to critics, in: International Journal of Constitutional Law 12 (2014), S. 512. 218 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87. 219 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 80, Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, S. 9. – 10 und Alexy, Formal principles, S. 512. In der Schrift „Two or Three?“ arbeitet Alexy mit der Hypothese, dass die Analogie eine dritte juristische grundlegende Operation neben der Subsumption und der Abwägung sei. Alexy, Two or three? in: Borowski (Hrsg.), On the Nature of Legal Principles, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 119, Baden-Baden: Nomos, 2010, passim. 220 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100. Der Autor fährt fort: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne folgt daraus, daß Prinzipien Optimierungsgebote relativ auf die rechtlichen Möglichkeiten sind. Die Grundsätze der Erforderlichkeit und der Geeignetheit folgen demgegenüber aus dem Charakter der Prinzipien als Optimierungsgebote relativ auf die tatsächlichen Möglichkeiten.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 101. Über die notwendige Verknüpfung von Grundrecht und Verhältnismäßigkeit als Kern der Prinzipienkonstruktion, siehe auch Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, S. 12. 217

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Zwei miteinander verbundene Begriffe sind für die Lösung von Prinzipienkollisionen von grundlegender Bedeutung: die „bedingte Vorrangsrelation“ zwischen den Prinzipien und das „Kollisionsgesetz“. Beim ersten geht es – unter den Umständen eines konkreten Falles – um die Feststellung der Bedingungen, aufgrund derer ein Prinzip dem anderen vorzuziehen ist. Diese Feststellung gilt nicht universell, sondern nur für den jeweiligen Fall oder für Situationen, in denen die Umstände gleich sind.221 Der Begriff des Kollisionsgesetzes besagt, dass „die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht“.222 Anders ausgedrückt: Aus der Abwägung zwischen kollidierenden Prinzipien entsteht eine Regel, die als Parameter für die Lösung des Falles dient und diese Regel ist eine zugeordnete Grundrechtsnorm.223 Alexy vertritt die Ansicht, dass sowohl ein reines Regelmodell als auch ein reines Prinzipienmodell ungeeignet für das Verständnis der Rechtsordnung sind. Das erste ist unzulänglich, weil die Vorgabe von Regeln, die zur Lösung aller Fälle ohne Abwägungen dienen können, unmöglich ist. Die Unzulänglichkeit des zweiten besteht darin, dass den festgestellten Regeln des GG wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird, was Unsicherheit mit sich bringt und das Postulat der Bindung des Interpreten an die Rechtsordnung nicht respektiert. Stattdessen entwirft Alexy ein kombiniertes Modell, das sowohl Regeln als auch Prinzipien enthält (Regel / Prinzipien-Modell).224 Er stellt fest, dass die Grundrechtsbestimmungen einen Doppelcharakter haben, das heißt, sie können sowohl Prinzipien als auch Regeln begründen und im Laufe eines Abwägungsvorganges eine Norm mit Doppelcharakter bewirken.225 In der Beziehung zwischen der Regelebene und der Prinzipienebene besteht ein Vorrang zugunsten der ersten, weil in ihr mehr entschieden wird als auf der Prinzipienebene. Dieser Vorrang besteht jedoch nur unter Vorbehalt: „[…] es sei denn, die Gründe für andere Festsetzungen als die auf der Regelebene getroffen sind 221

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 81. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 84. 223 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87. „Der Weg vom Prinzip, also vom prima facie-Recht, zum definitiven Recht verläuft über die Festsetzung einer Präferenzrelation. Die Festsetzung einer Präferenzrelation aber ist nach dem Kollisionsgesetz die Festsetzung einer Regel. Es kann daher gesagt werden, daß immer dann, wenn ein Prinzip im Ergebnis tragender Grund für ein konkretes Sollensurteil ist, dieses Prinzip ein Grund für eine Regel ist, die einen definitiven Grund für dies konkrete Sollensurteil darstellt. Prinzipien als solche aber sind niemals definitive Grunde.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 92. Über den Regelcharakter der zugeordneten Grundrechtsnorm und über die Prinzipien als Fundament für Regeln, siehe auch, ders., Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 34–35. 224 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 117–121. 225 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122–123. „Derartige Grundrechtsnormen mit Doppelcharakter entstehen stets dann, wenn man das, was durch Grundrechtsbestimmungen unmittelbar statuiert wird, mit Hilfe abwägungsbezogener Klauseln zu subsumtionsfähigen Normen vervollständigt.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S.124. 222

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so stark, dass sie auch das Prinzip der Bindung an den Wortlaut der Verfassung zurückdrängen. Die Frage der Stärke der Gründe ist Gegenstand der grundrechtlichen Argumentation.“226 Alexy geht davon aus, dass die auf einer Abwägung beruhenden Entscheidungen rationalisierbar sind, also nicht notwendig in die Subjektivität des Interpreten fallen: „Eine Abwägung ist rational, wenn der Präferenzsatz, zu dem sie führt, rational begründet werden kann.“227 Zur Begründung der Abwägung können alle in der grundrechtlichen Argumentation möglichen Argumente verwendet werden, das heißt, „die sonstigen canones der Auslegung, dogmatische, präjudizielle, allgemeine praktische und empirische Argumente sowie die spezifisch juristischen Argumentformen“.228 Außerdem gibt es Argumente, die spezifisch für die Abwägung gelten und sich mit dem Gewicht beschäftigen, das den Prinzipien im konkreten Fall verliehen wird. Es handelt sich um das sogenannte „Abwägungsgesetz“, das lautet: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“229 Nach dem Abwägungsgesetz hängt das zulässige Maß der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips vom Wichtigkeitsgrad der Erfüllung des anderen ab.230 Die Sätze über Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrade sollen durch die schon erwähnten Argumente gerechtfertigt werden.231 Damit bestimmt das Abwägungsgesetz, was rational begründet werden muss, und ist infolgedessen keine Leerformel.232 226

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 144. In diesem Sinne behauptet Jestaedt: „Die Prinzipienlehre steht und sieht sich in der Tradition eines anti-voluntaristischen, d. h. idealistischen Rationalismus, dem die Tendenz zur Leugnung oder doch zur Eskamotierung des politischen Elements der Rechtsgewinnung eigen ist: Rechtsgewinnung, so möchte es scheinen, vollzieht sich danach unpolitisch, sei es kraft einfacher Subsumtion, sei es kraft Betätigung der Gewichtsformel.“ Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 274. 228 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 145–146. 229 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. 230 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. „Das Abwägungsgesetz zeigt, daß die Abwägung in drei Schritte oder Stufen eingeteilt werden kann. Auf der ersten Stufe geht es um den Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips. Dem folgt auf der nächsten Stufe die Feststellung der Wichtigkeit der Erfüllung des gegenläufigen Prinzips. Schließlich wird auf der dritten Stufe festgestellt, ob die Wichtigkeit der Erfüllung des gegenläufigen Prinzips die Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des anderen Prinzips rechtfertigt.“ Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, S. 15. 231 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 150. 232 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. Diese Formel gilt sowohl für den Prozess der Lösung konkreter Fälle (Abwägungsentscheidung) als auch für die Konstruktion einer Dogmatik der Grundrechte (Abwägungsvorschlag). „Durch die Abwägungen der Rechtsprechung und die konsentierten Abwägungsvorschläge der Grundrechtswissenschaft entsteht im Laufe der Zeit ein Netz von konkreteren, den einzelnen Grundrechtsbestimmungen zugeordneten Regeln, die eine wichtige Basis und einen zentralen Gegenstand der Dogmatik darstellen.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 153. Alexy, Formal principles, S. 513 ff., Alexy, Two or three? S. 11 ff., Alexy, On balancing and Subsumption, A Structural Comparison, in: Ratio Juris 16, 2003, S. 443 ff., Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, S. 15 ff. 227

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

dd) Die formellen Prinzipien Die formellen Prinzipien wie beispielsweise das Demokratieprinzip, das mit der Frage der Kompetenzen oder des Sicherheitsprinzips in enger Beziehung steht, werden von Alexy als Optimierungsgebote verstanden, sie haben also die gleiche Struktur wie die Grundrechte, die ihrerseits von ihm als materielle Prinzipien bezeichnet werden. Der Unterschied zwischen den formellen und den materiellen Prinzipien besteht im Gegenstand der Optimierung. Während im letzteren Fall der Gegenstand mit gewissen Inhalten verbunden ist, sind im ersteren die juristischen Entscheidungen der Gegenstand, unabhängig vom Inhalt.233 Es gibt eine umfangreiche Diskussion über den Begriff des formellen Prinzips, sowohl seitens der Gegner der Prinzipientheorie als auch innerhalb seiner Anhängerschaft.234 Die Darstellung dieser Positionen wäre sicher grundsätzlich sinnvoll, sie würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen.235 Hier interessieren nicht die Einzelheiten dieser Meinungsverschiedenheiten, sondern vielmehr die zentrale Voraussetzung Alexys, nämlich die Idee, dass die Kompetenzen des Gesetzgebers – als Optimierungsgebote – in Abwägung mit den Grundrechten geraten können. Alexy bringt als Beispiele hierfür die Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht im Prozess der Abwägung aufgrund der Radbruch-Formel dem Gerechtigkeitsprinzip (ein materielles Prinzip) in Bezug auf das Sicherheitsprinzip (ein formelles Prinzip) ein größeres Gewicht zugewiesen hat236 und vertritt die Auffassung, dass in einem konkreten Fall, in dem materielle und formelle Prinzipien kollidieren, das formelle ein größeres Gewicht bekommen kann und deswegen dem materiellen Prinzip vorsteht. Das Gegenteil kann auch stattfinden. In diesem Sinne behauptet Alexy: „Formal principles cannot only be balanced on their own against colliding substantive principles, as with the grounding of the Radbruch formula. They can also be balanced in combination with substantive principles against colliding substantive principles. One might call the first of these the ‚pure substantive-formal model‘ of balancing principles and the later the ‚mixed substantive-formal model‘, or, shorter, ‚the combination model‘.“237 Alexy versucht also einen Mittelweg zu gehen und ein Modell zu entwickeln, das von ihm als „epistemic model“ bezeichnet wird und „the idea of second-order balancing“ einschließt. „Second-order balancing is concerned with justifying the incorporation of epistemic reliability […]. The decisive point of second-order balancing is that constitutional rights as epistemic optimization requirements collide with the formal principle of the democratically legitimated legislature. If this collision could be solved by establishing an absolute precedence for the substantive constitutional 233

Alexy, Formal principles, S. 515–516. Alexy, Formal principles, S. 512 und 517. 235 Im zweiten Kapitel wird auf dieses Problem – allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit – näher eingegangen. 236 Alexy, Formal principles, S. 517. 237 Alexy, Formal principles, S. 518. 234

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rights principle as against the formal principle of democratically legitimated legislature, in wide areas of law the consequences would be unacceptable. In reasonably complex contexts, like commercial, security and environmental law, empirical premises that are reliably true, are practically never available.“238 d) Die Theorie der rechtlichen Grundpositionen Die juristischen Positionen, die als „Rechte“ bezeichnet werden können, lassen sich für Alexy in drei Arten unterteilen, namentlich das „Recht auf etwas“, die „Freiheiten“ und die „Kompetenzen“. Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf die erste, das Recht auf etwas.239 Sie wird von Alexy als dreistellige Rela­tion beschrieben, die den Träger oder Inhaber des Rechts, den Adressaten und den Gegenstand oder das Objekt des Rechts einschließt.240 Das Objekt des Rechts ist immer eine Handlung. Diese Handlung kann eine negative (Unterlassung) oder eine positive (Tun) sein.241 Dem Recht auf negative Handlung (Unterlassung) entspricht die Kategorie des Abwehrrechts, während dem Recht auf positive Handlung teilweise die Kategorie des Leistungsrechts entspricht.242 Die Rechte auf negative Handlung „lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Staat bestimmte Handlungen des Trägers des Rechts nicht ver- oder behindert, die zweite Gruppe besteht aus Rechten darauf, dass der Staat bestimmte Eigenschaften oder Situationen des Trägers des Rechts nicht beeinträchtigt, und die dritte Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Staat bestimmte rechtliche Positionen des Trägers des Rechts nicht beseitigt.“243 Die Rechte auf positive Handlung „lassen sich in zwei Gruppen einteilen, in solche, deren Gegenstand eine faktische Handlung, und in solche, deren Gegenstand eine normative Handlung ist.“244 Alexy statuiert, dass, immer wenn von einer positiven Leistung des Staates die Rede ist, von einem Leistungsrecht gesprochen werden kann. In diesem Sinne stellt er fest, die „Leistungsrechte im weiteren Sinne“ können in „Rechte auf Schutz“, „Rechte auf Organisation und Verfahren“ und „Leistungsrechte im engeren Sinne“, also „Soziale Grundrechte“ eingeteilt werden.245 238

Alexy, Formal principles, S. 520–521. Dazu auch Klatt / Schmidt, Spielräume im öffent­ lichen Recht, Zur Abwägungslehre der Prinzipientheorie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, S. 28. 239 Die Aufmerksamkeit wird sich nur auf die von Alexy als „Recht auf etwas“ bezeichneten Positionen konzentrieren, da innerhalb dieser Kategorie das Problem der sozialen Grundrechte von ihm behandelt wird. 240 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 171–172. 241 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 172–173. 242 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 173. 243 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174. 244 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 179. 245 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 404. Ihm folgend Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2. Auflage. Baden-Baden: Nomos, 2007, S. 209 ff.

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Hervorzuheben ist demzufolge, dass die dogmatische Figur der sozialen Grundrechte eindeutig im grundrechtstheoretischen Modell von Alexy eingeschlossen ist. Über diese Einbeziehung besteht jedoch in der deutschen Fachliteratur kein Konsens. Alexy selbst unterstreicht, dass diese Frage eine der umstrittensten in der Dogmatik der Grundrechte ist.246

5. Das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung im prinzipientheoretischen Konstitutionalismus Die bisherige Analyse deutet darauf hin, dass das theoretische Konstrukt von Alexy wichtige Implikationen in Bezug auf das Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetzgebung einerseits und zwischen Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits mit sich bringen kann. Im Folgenden wird diese Beziehung näher untersucht. a) Der Konflikt zwischen Grundrechten und Demokratie Auf Grundlage der Prinzipienlehre von Alexy besteht die Aufgabe des Gesetzgebers u. a. in der Lösung von Grundrechtskollisionen. Dementsprechend unterscheidet sich diese Aufgabe strukturell nicht von derjenigen der Verfassungsgerichtsbarkeit.247 Die infrakonstitutionelle Gesetzgebung, die sich mit den Grundrechten beschäftigt, wird im Wesentlichen als potenzieller Kandidat für die Beschränkung eben dieser Grundrechte konzipiert, was eine latente Kollision zwischen Grundrechten und Demokratie impliziert. Diese Kollision kann offensichtlicher werden, wenn es um Abwehrrechte geht, das heißt, um Rechte der Bürger gegen unerlaubte Eingriffe des Staates.248 Die Grundrechte werden dabei als Grenze für das Staatshandeln verstanden und demzufolge als Grenze für die Demokratie. Falls der Gesetzgeber bzw. die Verwaltung Maßnahmen durchführen, die die Grundrechte verletzen, können diese Akte als verfassungswidrig erklärt werden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ihrerseits ist auf die Kontrolle der Grenzen der Kompetenzen der Legislative beschränkt.249 In diesem Sinn ist das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber als eine Beziehung (Spannung) zwischen Grundrechten und Demokratie konstruiert.250 246

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395. Poscher, Grundrechte als Abwehrechte, S. 83–84. 248 Alexy versteht die Rolle der Gesetzgeber auch im Bereich der Leistungsgrundrechte auf der Grundlage des Kollisions- bzw. Engriffsmodells. Dazu noch unten. (B. II. 2. g)). 249 Alexy, Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, in: Der Staat 54 (2015), S. 207. 250 Schuppert versucht dieses Problem als „Zusammenhang von materiellem Verfassungsrecht und verfassungsrechtlicher Funktionenordnung“ zu konstruieren. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, Königstein / Ts. Athenäum, 1980, passim. Vgl. auch Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Recht als Prozess und Gefüge. FS für Hans Huber zum 80. Geburtstag. Bern: Stämpfli, 1981, passim. Schon früher 247

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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b) Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber: die Verfassungsgerichtsbarkeit als argumentative Repräsentation des Volkes Das Tätigwerden der Verfassungsgerichtsbarkeit in Bezug auf die Grundrechte bringt das Problem des Mangels an demokratischer Legitimität des Bundesverfassungsgerichtes zutage. In dem Maße, in dem eine Situation in den ausdrücklichen Bereich des Leistungsstaats gehört, und wobei Verfassungsgerichte eventuell als „positive Gesetzgeber“ auftreten können, kann sich die Komplexität der Beziehung zwischen den Staatsgewalten deutlich steigern. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, verwendet Alexy eine kreative Argumentation, die sich in seiner Konstruktion des Begriffs der Demokratie findet: „Ein adäquater Begriff der Demokratie aber muss nicht nur die Entscheidung, sondern auch das Argument einschließen. Die Inklusion des Arguments in den Begriff der Demokratie macht die Demokratie deliberativ. Deliberative Demokratie ist der Versuch, den Diskurs so weit wie möglich als Mittel öffentlichen Entscheidens zu institutionalisieren. Aus diesem Grund muss die Verbindung zwischen dem Volk und dem Parlament nicht nur durch Entscheidungen, die in Wahlen und Abstimmungen ihren Ausdruck finden, bestimmt sein, sondern auch durch Argumente. Dadurch wird die Repräsentation des Volkes durch das Parlament zugleich dezisionistisch oder volitativ und argumentativ oder diskursiv.“251 Wenn die Demokratie ebenfalls eine Frage der Argumentation ist, kann das Problem der Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit auch unter diesem Kriterium analysiert werden. Wenn sich also die Rolle des Gesetzgebers in der Lösung von Konflikten zwischen Rechten erschöpft und die Verfassungsgerichtsbarkeit sich mit demselben Problem befasst, d. h. mit der Lösung von Konflikten, was die Analyse der Korrektur, der vom Gesetzgeber in diesem Bereich getroffenen Entscheidung voraussetzt, sollten ihre Funktionen aus derselben Perspektive analysiert werden. Von dieser Annahme ausgehend verteidigt Alexy die „Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit als argumentative Repräsentation des Volkes“.252 Demgemäß können sowohl die Legitimität als auch die Richtigkeit der Entscheidungen letztendlich mit Hilfe der Idee der argumentativen Repräsentation begründet werden.253 Diese Formel gilt auch für die sozialen Grundrechte. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation. Ehmke hat – darüberhinausgehend – in seinem Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung 1962 über „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ vorgeschlagen, materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Interpretationsprinzipien auseinanderzuhalten: „Neben solchen materiell-rechtlichen Interpretationsprinzipien gibt es vor allem in einem Verfassungsrecht mit Verfassungsrechtsprechung aber noch eine andere Art von Interpretationsprinzipien. Ich möchte sie die funktionell-rechtlichen nennen. In ihnen wirkt sich die sachliche Eigenart des Verfassungsrechts auf die Stellung des Verfassungsgerichts selbst aus. Sie betreffen u. a. die Verteilung der Aufgaben der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsfortbildung auf die verschiedenen Verfassungsorgane […]. Ich nenne hier als Beispiele den Grundsatz der verfassungskonformen Gesetzesauslegung und die ‚political-question Doktrin‘.“ Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 73. 251 Alexy, Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, S. 210. 252 Alexy, Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, S. 201–202. 253 Alexy, Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, S. 209.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

c) Die Dogmatik der Spielräume Bezüglich der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit spielt die von Alexy entwickelte Spielraumdogmatik eine bedeutende Rolle. Es geht um einen Versuch auf die funktionell-rechtliche Kritik der Überkonstitutionalisierung und der Hypertrophie der Verfassungsgerichtsbarkeit, die die Auffassung der Grundrechte als Prinzipien mit sich bringen kann, zu reagieren. Alexy betont, dass unter dem Begriff des Spielraums254 alles was von der Verfassung freigestellt wird, zu erfassen ist. Dieser Freiraum liegt im Spielraum des Gesetzgebers.255 Wenn ein Spielraum vorhanden ist, soll sich die Verfassungsgerichtsbarkeit zurückziehen. Virgilio Afonso da Silva und Matthias Klatt sind der Meinung, dass die Spielräume als Kompetenzen des Gesetzgebers konstruiert werden können, an die notwendigerweise eine entsprechende Nichtkompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle gekoppelt sein wird.256 „Kontrolle und Spielräume sind zwei Seiten derselben Medaille: Wenn ein Spielraum besteht, fehlt die Kontrolle – und umgekehrt.“257 Alexy entwirft, wie gesagt, eine Dogmatik der Spielräume als Möglichkeit unter anderem das Problem der „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“258 zu lösen und zugleich die Ideen der Verfassung als Rahmen- bzw. Wertordnung in Einklang zu bringen.259 Seiner Ansicht nach ist zwischen strukturellen Spielräumen und epistemischen oder Erkenntnisspielräumen zu unterscheiden.260 Der Begriff des strukturellen Spielraums hängt mit der Frage nach der Anwesenheit oder Abwesenheit von defi­nitiven verfassungsrechtlichen Geboten und Verboten zusammen. Es handelt sich hier um etwas, das die Verfassung weder gebietet noch verbietet, also um et 254

Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 15. „Das Bundesverfassungsgericht spricht viel von Spielräumen. Die Terminologie ist reich. Neben dem schlichten Wort „Spielraum“ finden sich die Ausdrücke „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“, „Beurteilungsspielraum“, „Handlungsspielraum“, „Entscheidungsspielraum“, „Prognosespielraum“, „Erfahrungs- und Anpassungsspielraum“, „Interpretationsspielraum“, „Bewertungsspielraum“ und „Abwägungsspielraum(s)“. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 15–16. Vgl. dazu auch V. A. Silva, Grundrechte und gesetzgeberische Spielräume, Baden Baden: Nomos, 2003, S. 121–122. 255 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14. In diesen Zusammenhang stellt Alexy das Konzept des „Abwägungspatts“: „Was aber die Verfassung nicht entscheidet, ist durch sie freigestellt. Im Falle des Abwägungspatts existiert damit ein struktureller Abwägungsspielraum.“ Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 22. 256 Silva versteht beispielsweise in derselben Richtung die verschiedenen Arten von Spielräumen als formelle Prinzipien. Nach ihm sind Grundrechte (materielle Prinzipien) Gründe für Nichtkompetenz, während formelle Prinzipien Gründe für Kompetenz sind. Silva, Grundrechte und gesetzgeberische Spielräume, S. 146; Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 4. 257 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 58. 258 Ausführlich über das Problem der Konstitutionalisierung, vgl. Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, passim. 259 Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 13. 260 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 423.

I. Die Grundpfeiler des Alexyschen Denkens

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was, das sie freistellt. Der epistemische oder Erkenntnisspielraum sind gänzlich anderer Art. Er entsteht nicht durch die Grenzen dessen, was die Verfassung gebietet und verbietet, sondern durch die Begrenztheit der Fähigkeit zu erkennen, was die Verfassung einerseits gebietet und verbietet oder andererseits weder gebietet noch verbietet, also freistellt.261 Der epistemische oder Erkenntnisspielraum ist in empirische und normative Spielräume unterteilt. Sie stehen in Beziehung zu dem Problem der Unsicherheit der empirischen oder der normativen Prämissen.262 Die Dogmatik der Spielräume wurde allerdings vorwiegend für das Feld der negativen Gewährleistungen gedacht.263 Klatt geht einen Schritt weiter und versucht diese Dogmatik  – insbesondere auf den Bereich des epistemischen Spielraums bezogen  – auf die positiven Gewährleistungen, also die Leistungsrechte auszuweiten. Die von ihm getroffenen Formulierungen zielen darauf ab, den Begriff des Eingriffs umfassender zu verstehen, sodass die Idee „Eingriff durch Nichterfüllung“264 hinzugefügt wird. Um dieses Argument zu begründen, nimmt Klatt die Gewährung von Sozialhilfe als Beispiel. Er sieht in der Gewährung von Sozialhilfe eine Kollision zwischen einem Leistungsrecht und einem Abwehrprinzip, die durch das zweite Abwägungsgesetz265 gelöst werden sollte.266 In diesem Sinne behauptet er: „Im Fall der Gewährung von Sozialhilfe kollidiert der Leistungsanspruch des Sozialhilfeempfängers mit dem staatlichen Fiskalinteresse. Während das erste Prinzip prima facie eine Leistung fordert, spricht das zweite Prinzip prima facie für eine geringere oder sogar eine Nicht-Leistung. Nach dem zweiten Abwägungsgesetz gilt: ‚Je weniger Sozialhilfe gewährt wird, desto sicherer müssen die die Weniger-Leistung tragenden tatsächlichen Prämissen sein.‘ Denn je weniger Sozialhilfe gewährt wird, desto höher ist der Grad der Nichterfüllung.“267 Diese letzte theoretische Konstruktion geht davon aus, dass diese Art von Grundrechten, also die Leistungsrechte, einigermaßen im GG verankert ist. Diese Annahme ist jedoch in der Fachliteratur – wie schon gesagt – sehr umstritten.

261

Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 16. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 27. Vgl. auch Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 5. 263 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 9. 264 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 28 ff. 265 Das zweite Abwägungsgesetz ist mit den Unsicherheiten hinsichtlich der zugrundeliegenden empirischen Prämissen“ verbunden und besagt: „Je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiegt, desto größer muss die Gewissheit der den Eingriff tragenden Prämissen sein.“ Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 9. 266 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 28–29. 267 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 29. 262

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

II. Die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland Die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten analysieren.268 Die folgenden Überlegungen haben den Zweck, vornehmlich die dogmatische Seite der Diskussion darzustellen, es kann aber die historische und die theoretische Seite des Problems nicht vernachlässigt werden, besonders wenn sie aufschlussreiche Hinweise liefert. Aus historischer Perspektive ist die erste deutsche Verfassung von 1849 (die Paulskirchenverfassung) nicht nur allgemein von großer Bedeutung, sondern auch, weil in ihr soziale Grundrechte verankert sind: Im Abschnitt VI (Die Grundrechte des deutschen Volkes), in ist § 155 I, „Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen überall gesorgt werden“, und in § 157 von der „Schulgeldfreiheit“ für den Unterricht in Volksschulen die Rede. Sie erlangte jedoch keine Wirksamkeit.269 Die Weimarer Verfassung von 1919 positivierte im zweiten Hauptteil (Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen) eine Anzahl von sozialen Grundrechten wie zum Beispiel in Art. 119: „Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.“, „Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausreichende Fürsorge.“, „Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats.“; in Art. 121: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“; in Art. 122: „Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen.“; in Art. 143 I: „Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung wirken Reich, Länder und Gemeinden zusammen.“; in Art. 145: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich.“; in Art. 146: „Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer 268 Bezüglich der unterschiedlichen Positionen zur philosophischen Begründung der sozialen Grundrechte siehe Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 173 ff. 269 Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, in: Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Ordnung, Heidelberg: C. F. Müller, 1981, S. 49 ff. Dazu auch Zacher, Soziale Grundrechte und Teilhaberechte, in: Kurzrock (Hrsg.), Menschenrechte 2. Ihre Geltung heute. Forschung und Information, Bd. 31, Berlin: Colloquium, 1982, S. 113 ff.; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 296 ff.

II. Die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland 

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für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.“, „Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb, auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes.“, „Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung ihrer Ausbildung.“ und darüber hinaus Staatszielbestimmungen wie in Art. 151: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern.“; in Art.157: „Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.“; in Art. 158: „Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler genießt den Schutz und die Fürsorge des Reichs. Den Schöpfungen deutscher Wissenschaft, Kunst und Technik ist durch zwischenstaatliche Vereinbarung auch im Ausland Geltung und Schutz zu verschaffen.“ und in Art. 161: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“ Allerdings herrschte damals sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur das Verständnis vor, dass diese Rechte den Charakter von Programmsätzen hatten, dass sie also Bestimmungen sind, die für die Legislative und die Exekutive nicht verbindlich und demzufolge eher als politische Orientierung zu verstehen und nicht justiziabel waren.270

270 In diesem Sinne, ausführlich, Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 50; Gusy, Die Grundrechte in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 15: 163–183. 1993, passim. Siehe auch Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL. Nr. 12, 1954, S. 169; Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971, S. 26 ff.; Zacher, Soziale Grundrechte und Teilhaberechte, S. 114; Eichenhofer, Soziale Grundrechte – in Weimar ersonnen und im vereinten Deutschland zu vollenden! in: Die Weimarer Verfassung Wert und Wirkung für die Demokratie. Herausgegeben von der Friedrich-EbertStiftung, Landesbüro Thüringen. Thüringen: 2009, S. 191 ff.; Eichenhofer, Sozialrecht, 9. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, S. 60–61; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 299 ff.

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

Das Grundgesetz von 1949 war hingegen in diesem Bereich im Vergleich zur Weimarer Verfassung ziemlich zurückhaltend. Abgesehen von wenigen Ausnahmen271 sind fast nur klassische liberale Grundrechte und kaum Staatszielbestimmungen oder Verfassungs- und Staatsaufträge aufgenommen: „Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden mit dem sehr allgemeinen Staatsziel des ‚Sozialstaats‘ in Art. 20 I GG und der staatlichen Verantwortung für die Aufrechterhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 II, IV GG), zu dem auch die Vollbeschäftigung gehört, aufgegriffen.“272 Dieser Mangel an Positivität konnte jedoch seit Inkrafttreten des GG und besonders in den 70er Jahren die Entstehung intensiver Diskussionen über die Möglichkeit, dem Verfassungstext soziale Grundrechte zu entnehmen, nicht verhindern.273 Anfang der 80er Jahre fand in der politischen Arena eine breite Debatte über die eventuelle Notwendigkeit einer Verankerung von sozialen Grundrechten und Staatszielbestimmungen im GG statt.274 Diese Diskussion ist nach der Wiedervereinigung erneut entbrannt.275 Zwei vor kurzem getroffene Entscheidungen des BVerfG, nämlich das Hartz-IV- und das Asylbewerberleistungsgesetz-Urteil, nahmen das Thema wieder auf und brachten die Notwendigkeit mit sich, es nochmals zu diskutieren.276 Dies hängt mit dem sogenannten „Wandel der Grundrechte“277 zusammen, vornehmlich mit der Entwicklung des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechte, 271

Die Garantie des Schutzes der Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG); die Gleichstellung nichtehe­ licher Kinder (Art. 6, Abs. 5 GG) und der Schutz von Ehe und Familie (Ar. 6 Abs. 1 GG). Über die marginale Bedeutung dieser Klauseln, Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) Bd. V. Heidelberg: C. F. Müller, 1992, S. 263 (Rn. 46) und Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung Zu den gegenwärtig diskutierten Änderungen des Grundgesetzes, in: JZ 49. Jahrgang 4. (1994), S. 215; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 302 ff. 272 Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 215. 273 Paradigmatisch in dieser Hinsicht sind die Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer vom Oktober 1971, auf der die „Grundrechte im Leistungsstaat“ das Thema waren. Erwähnenswert zudem im Bereich der Rechtsprechung des BVerfG ist das Numerus-Clausus-Urteil vom 18. Juli 1972. (BVerfGE 33, 303 – NumerusClausus I). 274 Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, in: Archiv des öffentlichen Rechts. 107, 15–60, 1982, S. 16–17; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 341. 275 Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 212 ff. Ausführlich zum Kontext, Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 345 ff. 276 Sieher, Teilhaberechte, in: Bultmann / Grigoleit / Gusy / Kersten / Otto (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht. Institute, Kontexte, System, FS für U. Battis zum 70. Geburtstag. München: C. H. Beck, 2014, S. 616. Erst vor Kurzem, am 5. November 2019, hat sich das BVerfG wieder mit dem Thema Hartz IV beschäftigt. Siehe dazu Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16. Dazu auch unten unter D. III. e). 277 Breuer und Rupp sprechen über einen „Wandel des Grundrechtsvertändnisses“. Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, in: Bachof / Heigl / Redeker (Hrsg.), Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bun-

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also der Ausdehnung der Grundrechte auf andere Felder als ihre Funktion als Abwehrrechte intendierte. An dieser Stelle wird nicht angestrebt, die Diskussion in den verschiedenen historischen Zeitabschnitten der Geltung des GG in allen ihren Aspekten zu erfassen und wiederzugeben, sondern vielmehr ein Panorama der herrschenden Meinung, sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung, über die sozialen Grundrechte darzustellen. Eine der wichtigsten Fragen, die diesbezüglich zu stellen sind, bezieht sich darauf, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen behauptet werden kann, dass in der aktuellen deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung soziale Grundrechte vorhanden sind. Eine adäquate Antwort darauf kann nur gelingen, wenn man zunächst den Begriff der sozialen Grundrechte präzisiert. Damit zusammenhängend werden die Funktionen dieser Art von Grundrechten in der Rechtsordnung näher zu betrachten sein, was das Problem ihrer Justiziabilität einschließt.

1. Der Begriff des sozialen Grundrechts „Was soziale Grundrechte sind, ist alles andere als klar.“278 Allerdings besteht in der Lehrmeinung eine gewisse Einigkeit darüber, sie als Rechte des Einzelnen auf bestimmte Leistungen des Staates zu bezeichnen. Diese Auffassung ist jedoch nicht neu, sondern kann auf die klassische Jellineksche Charakterisierung des s­ tatus ­positivus (status civitatis) zurückgeführt werden: „Indem der Staat in Erfüllung seiner Aufgaben dem Einzelnen die rechtliche Fähigkeit zuerkennt, die Staatsmacht für sich in Anspruch zu nehmen, die staatlichen Institutionen zu benutzen, also dem Individuum positive Ansprüche gewährt, erkennt er ihm den positiven Status, den status civitatis zu, der als die Basis für die Gesamtheit staatlicher Leistungen im individuellen Interesse sich darstellt.“279 Im Einklang mit dieser Tradition spricht Tomandl über Rechte, „deren Inhalt die Verpflichtung von Gemeinschaftsorganen desverwaltungsgerichts, München: C. H.  Beck, 1978, S. 89; Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, in: Archiv des öffentlichen Rechts – 101, 161–201, 1976, S. 161. Martens nennt das „Wandel im Grundrechtsdenken“. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL. Nr. 12 (1954), S. 28. 278 Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 49. 279 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1892, S. 82. „Fasst man die formell anerkannten individualisierten rechtlichen Ansprüche, welche aus dem positiven Status entspringen, in eine gemeinsame Formel zusammen, so ergibt sie für den Einzelnen die rechtlich geschützte Fähigkeit, positive Leistungen vom Staat zu verlangen, für den Staat die rechtliche Verpflichtung, im Einzelinteresse tätig zu werden. Dadurch wird der positive Status zum geraden Widerspiel des negativen.“ Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 109. Allerdings stellt Jellinek fest: „Nur wo ausdrücklich ein individuelles Beschwerderecht wegen Verletzung von Staatsvertragen anerkannt ist, wie im schweizerischen Bundesstaatsrecht, verwandelt sich die Reflexwirkung objektiven Rechtes, die aus dem als Staatsgesetz publicirten Vertrage sich ergibt, in formellen Rechtsanspruch.“ Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 114–115.

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zur aktiven Förderung von Menschen ist“280 und J. P. Müller über die „in der Verfassung garantierten Rechte des Einzelnen auf bestimmte Leistungen des Staates wie Bildung, Wohnung, soziale Sicherheit, Arbeit.“281 Für Lange verankern die sozialen Grundrechte „Forderungen nach positivem staatlichen Handeln zur Schaffung der Voraussetzungen freier Persönlichkeitsentfaltung“.282 Trotz dieser allgemeinen Übereinstimmungen besteht kein Konsens darüber, wie die sozialen Grundrechte als Bestandteil einer / der formellen Verfassung konfiguriert werden können. Lücke erwähnt die Möglichkeit ihrer Positivierung als „Staatszielbestimmung“, „Gesetzgebungs- bzw. Verfassungsauftrag“, „Leitprinzip“, „Programmsatz“, „Einrichtungsgarantie“ oder gar als „subjektives Recht“.283 Man findet in der Lehrmeinung auch die Charakterisierung der sozialen Grundrechte, oder besser gesagt der Leistungsrechte als derivative Teilhabeansprüche oder originäre grundrechtliche Leistungsansprüche284 (Originäre und derivative soziale Grundrechte). Diese Nomenklatur wurde teilweise im Numerus-Clausus-Urteil vom 18. Juli 1972 benutzt, in dem das BVerfG zwischen dem Teilhaberecht auf freien und gleichberechtigten Zugang zu den bestehenden Ausbildungsstätten und dem Teilhaberecht auf Schaffung oder Erweiterung von Ausbildungsstätten unterschied.285 In Hinsicht auf die von der Literatur verwendete Nomenklatur behauptet Murswiek: „In der Literatur wird der Begriff der Teilhaberechte oft mit dem Begriff der sozialen Leistungsansprüche synonym verwendet oder auch mit dem Begriff der Leistungsansprüche im allgemeinen, wobei der Leistungsbegriff zum Teil weit, zum Teil aber so auch eng gefasst wird, daß fast nur ‚soziale‘ Ansprüche in den Blick geraten. Manche Autoren wollen nur das Recht aus Leistungen ‚aus einem 280

Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Tübingen: Mohr Siebeck, 1967, S. 6. Im gleichen Sinne, Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 49. 281 J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der schweizerischen Rechtsordnung, in der europäischen Sozialcharta und den UNO-Menschenrechtspakten, in: Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Ordnung, Heidelberg: C. F.: Müller, 1981, S. 60. Entsprechend spricht Tomandl von Rechten auf Arbeit, auf soziale Sicherheit und auf sozial-kulturelle Entfaltung. Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 7. 282 Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 49. 283 Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 19 ff. Vgl. auch Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 24 ff.; Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 8 ff. Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 319 ff. In gleiche Richtung, allerdings auf das österreichische Recht bezogen, Novak, Das Problem der sozialen Grundrechte, Graz: Jos. A. Kienreich, 1972, S. 30. Was das schweizerische Recht anbetrifft, J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der schweizerischen Rechtsordnung, in der europäischen Sozialcharta und den UNO-Menschenrechtspakten, S. 60. 284 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 20. 285 BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I. In diesem Sinne Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, in: Der Staat Nr. 14 (1975), S. 37; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 399.

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vorhandenen Bestand‘ bzw. ‚derivative‘, also von vorgängigem leistungsgewährendem Handeln des Staates abhängige Leistungsansprüche als ‚Teilhaberechte‘ bezeichnen, manche schließen die ‚originären‘ Leistungsansprüche ein, und andere wollen den Begriff des Teilhaberechts ausschließlich für ‚originäre‘ Leistungs­ ansprüche reservieren. Von einigen Autoren ausdrücklich ausgeklammert, von vielen stillschweigend übergangen werden Recht auf Verfahrensbeteiligung sowie demokratische Mitwirkungsrechte, während andere der Auffassung sind, daß es auch hier um Teilhabe gehe. Für einige ist der Begriff der Leistungsrechte ein Oberbegriff, unter den auch die Teilhaberechte fallen, andere verwenden ‚Teilhaberechte‘ als Oberbegriff.“286 Und er fährt fort: „Auch der Begriff der sozialen Grundrechte wird nicht einheitlich gebraucht. Manche Autoren bezeichnen alle grundrechtlich verbürgten sozialen Leistungsansprüche bzw. sozialen Teilhaberechte als ‚soziale Grundrechte‘, zum Teil in dem erweiterten Sinne, daß nicht nur subjektive Rechte, sondern auch verfassungsrechtlich verankerte ‚Forderungen‘ als soziale Grundrechte angesehen werden. Andere sehen alle Grundrechte, die ihrem Inhalt nach einen besonderen Bezug zum Sozialen haben, als ‚sozialen Grundrechte‘ an […]. Einheitlich werden jedenfalls solche Normen als ‚soziale Grundrechte‘ eingeordnet, die ausdrücklich ein Recht auf ein bestimmtes Lebensgut garantieren.“287 Ramm sagt, dass die sozialen Grundrechte von einem formellen Standpunkt aus nach der Art seiner Durchsetzbarkeit eingeteilt werden können. Auf der einen Seite stehen dann die sozialen Grundrechte im engeren Sinne (Anspruchsrechte), die dem Einzelnen erlauben, sich direkt an die Gerichte zu wenden, und auf der anderen Seite die sozialen Grundrechte im weiteren Sinn (Staatsaufträge), die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie nicht von Berechtigten, sondern nur von Verpflichteten sprechen, nämlich dem Gesetzgeber oder der Verwaltung, die die Adressaten sind.288 Soweit keine Einigkeit über die Benennung der Rechte auf positive Leistung des Staates herrscht, werden fortan die Begriffe soziale Grundrechte und Leistungsrechte als Synonym verwendet – ausgenommen unbedingt erforderliche Differenzierungen. 286

Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 245–246 (Rn. 6). Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 248–249, (Rn. 13). Über die Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs, siehe auch Müller / Pieroth / Fohman, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 60 und Siehr, Teilhaberechte, S. 617–618. Siehr schlägt z. B. vor: „Die originären Teilhaberechte sind im Umfeld sozialer Grundrechte anzusiedeln: In beiden Fällen geht es um grundrechtliche Leistungsansprüche, doch werden sie im ersten Fall aus Freiheitsrechten abgeleitet, im zweiten Fall eigenständig als soziale Grundrechte positiviert. […] Hingegen folgen derivative Teilhaberechte der inneren Logik der Gleichheitsrechte.“ Siehr. Teilhaberechte, S. 619. Wie schon erwähnt, hat Alexy seine eigene Klassifikation entwickelt, die zwischen Leistungsrechten im weiterem und Leistungsrechten im engeren Sinn unterscheidet, wobei die sozialen Grundrechte unter den letztgenannten Begriff fallen. 288 Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Ordnung, Heidelberg: C. F.: Müller, 1981, S. 30. 287

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2. Soziale Grundrechte im Grundgesetz? Das Vorhandensein sozialer Rechte in der verfassungsrechtlichen Ordnung des GG kann aufgrund verschiedener Positivierungsebenen analysiert werden, nämlich erstens als „Gegenstand internationaler Rechtsetzung“, also gemäß der Position Deutschlands hinsichtlich der sozialen Menschenrechte; zweitens als „verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte“ die die Verfassungen der Bundesländer miteinbeziehen. Und drittens als „einfachgesetzlich verbürgte Rechte“.289 An dieser Stelle der vorliegenden Arbeit interessieren insbesondere die ersten zwei Aspekte. Die Bundesrepublik Deutschland hat sowohl die Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 (in Kraft seit dem 27. Januar 1965) als auch die „Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ vom 19. 12. 1966 (in Kraft seit dem 3. Januar 1976), also die zwei Hauptinstrumente für den Schutz sozialer Menschenrechte290 unterzeichnet und ratifiziert. In der Literatur überwiegt freilich die Ansicht, dass diese Rechte nicht als subjektive Rechte verstanden werden können, das heißt sie sind vor deutschen Gerichten nicht direkt durchsetzbar.291 Im Blick auf die Verfassung der Bundesländer, die die sozialen Grundrechte inkorporiert haben, gilt das gleiche Verständnis, das heißt, die herrschende Meinung in der Literatur sowie in der Praxis versteht diese Rechte, trotz ihrer ausdrücklichen Positivierung als Grundrechte, als Programmsätze, ganz im Sinne der in der Weimarer Zeit entstandenen Tradition. Anders ausgedrückt: Ihre unmittelbare Durchsetzbarkeit vor Gericht wird verweigert.292 289

Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 16. Die Sozialcharta enthält zum Beispiel das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 12); das Recht auf Fürsorge (Art. 13); das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste (Art. 14); das Recht auf Bildung (Art. 15), sowie das Recht auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz der Familie (Art. 16). Die Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bringt das Recht auf Soziale Sicherheit (Art. 9); das Recht auf Schutz der Familie, der Kinder und Jugendlichen (Art.10); das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie (Art. 11); Recht auf Bildung (Art. 13); usw. zum Ausdruck. 291 Vgl. Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 18; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 11; Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 17; Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, in: Der Staat, Bd. 19/H. 3, 1980, S. 368; Murswiek, Grundrechte als Teilhabe, sozial Grundrechte, S. 262 (Rn. 43); Wimalasena, Die Durchsetzung sozialer Menschenrechte. Rechtsfortbildung am Beispiel der Internationalen Sozialpakts von 1966, in: Kritische Justiz 41, 2008, S. 5; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 315. 292 In diesem Sinne Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 54 ff.; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 11; Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 3 und 27 ff.; Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 17; Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 28 ff.; Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, S. 369 und 379; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung. Zu den gegenwärtig diskutierten Änderungen des Grundgesetzes, S. 214; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 308 ff. 290

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Damit ist aber die Frage nach der Existenz sozialer Grundrechte auf dem Niveau des GG noch nicht beantwortet. Wie schon erwähnt, ist diese Diskussion anders als auf dem Gebiet der Menschenrechte oder des Verfassungsrechts der Bundesländer mit der Problematik verbunden, dass der Grundrechtekatalog des Grundgesetzes nur ausnahmsweise Leistungsgrundrechte enthält. Der sogenannte „Wandel des Grundrechtsdenkens“ in diesem Bereich beschäftigt sich mit der Konstruktion von Leistungsrechten aufgrund einer Interpretation der Grundrechtsbestimmungen, die im Prinzip nur Abwehrrechte zum Inhalt haben. Diese „Uminterpretation der Grundrechte“293 wurde durch drei Argumente gerechtfertigt, die miteinander verknüpft sind und sich reziprok ergänzen:294 1) die Interpretation des im GG enthaltenen Grundrechtskataloges in Verbindung mit der Sozialstaatsklausel,295 293

Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 281 (Rn. 91). Hier geht es nicht um eine erschöpfende Liste der möglichen Argumente, sondern vielmehr um die Aufzählung der häufigsten. 295 Das Bundesverfassungsgericht stellte im Numerus-Clausus-Urteil bezüglich des Themas des „Teilhaberechtes“ – in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerwG zur Privatschul­ finanzierung (Vgl. BVerwGE 27, 360) – fest: Der „soziale Rechtsstaat [nimmt] eine Garantenstellung für die Umsetzung des grundrechtlichen Wertsystems in die Verfassungswirklichkeit [ein. …] Selbst wenn grundsätzlich daran festzuhalten ist, daß es auch im modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wieweit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will, so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben.“ BVerG 33, 303. In der Lehrmeinung – vgl. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 31. Martens nennt es „sozialstaatliche Auslegung der Grundrechte“. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 27. Häberle ist der Meinung, dass die Dogmatik des Sozialstaats in Richtung auf Grundrechte, Menschenwürde und Gleichheitssatz zu entwickeln ist, sowie umgekehrt die Grundrechtsdogmatik im Lichte des Sozialstaatsprinzips zu entfalten ist und die Sozialstaatsklausel und die Grundrechte „sozialstaatliche Grundrechtsaufgaben“ normieren. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 93 und S. 95. Zum Begriff des Sozialstaates, Forsthoff / Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, passim; Forsthoff, Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: Forsthoff. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Aufsätze und Essays, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968, S. 147 ff.; Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Aufsätze und Essays, Darmstadt: Wissenschaft­ liche Buchgesellschaft, 1968, S. 117 ff.; Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt: Suhrkamp, 1991, S. 170 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band I. Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung. München: C. H. Beck, 1977, S. 682 ff.; Zacher, Vierzig Jahre Sozialstaat – Schwerpunkte der rechtlichen Ordnung, Blüm / Zacher (Hrsg.), Baden-Baden: Nomos, 1989, S. 23 ff.; Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee / Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) Bd. I. München: C. H. Beck, 1977, S. 1056 ff.; Zacher, Der Sozialstaat als Prozeß, in: Journal of institutional and theoretical economics, Bd. 134, H. 1, 1978, S. 15–16. Zacher, Verfassung und Sozialrecht – Aspekte der Begegnung, in: Maurer (Hrsg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, München: C. H. Beck, 1990, S. 69–70. Neulich, Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, S. 64 ff. 294

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2)  die Lektüre der Grundrechte mit Rücksicht auf die Menschenwürde296 und 3) eine Interpretation der Freiheits- bzw. Gleichheitsrechte, die über ihre formellen oder negativen Seiten hinausgeht und nach den realen oder positiven Voraussetzungen ihrer Ausübung fragt (Stichworte: „reale Freiheit“ und „Chancengleichheit“).297 Was den letzten Aspekt betrifft, besteht der Ausgangspunkt vereinfacht gesagt darin, dass ohne gewisse soziale Vorbedingungen oder ohne Beseitigung faktischer Hürden die Geltendmachung der klassischen liberalen Rechte unterbunden wird.298 Die in der Literatur diesbezüglich ausschlaggebende Position verteidigt jedoch die Ansicht, dass diese generelle Umdeutung299 der Abwehrrechte in soziale Grundrechte und die jeweilige Subjektivierung bzw. Justiziabilität nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist.300 Die Meinungen variieren zwischen einer vollständigen Verneinung,301 einer Zulassung in Ausnahme- oder Extremsituationen, die im Regelfall mit der Idee eines Existenzminimums oder einer sozialen Minimal­ 296

Vgl. Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 9; Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 26. Häberle sagt, dass „eine Gesamtsicht der Grundrechte im Lichte der Trias von Menschenwürde, egalitärer Demokratie und sozialem Rechtsstaat erlaubt zu entwickeln, was heute für Grundrechte notwendig ist.“ Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 136–137. 297 Häberle merkt diesbezüglich an: „Das Stichwort für „Grundrechte im Leistungsstaat“ lautet daher: „soziale Grundrechtserfüllung“, d. h. Schaffung tatsächlicher Chancengleichheit in realer grundrechtlicher Freiheit für alle.“ Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 84. In diese Richtung argumentiert das Bundesverfassungsgericht beispielsweise im Numerus-Clausus-Urteil: „das Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos.“ BVerfG 33, 303. Siehe auch Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 94; Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 7; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Böckenförde / Jekewitz / Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte. Von der bürgerlichen zur sozialen Ordnung, Heidelberg: C. F.: Müller, 1981, S. 9. Ramm, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 24; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 377 ff.; Müller / Pieroth / Fohman, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 56; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 278 ff. (Rn. 87–96); Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 225. Neuerdings: Siehr, Teilhaberechte, S. 623. 298 Martens führt aus: „Der Wandel im Grundrechtsdenken […] erscheint zunächst einmal als Ausdruck der unbestreitbaren Tatsache, daß die Nutzung zahlreicher Grundrechte bestimmte faktische Gegebenheiten voraussetzt mit der Folge, daß eine Ausübung der verfassungsmäßig gewährleisteten Rechte nur demjenigen möglich ist, der die „capacité“, verstanden als Vermögen in einem umfassenden Sinn, besitzt, sich diese Voraussetzungen anzueignen.“ Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 28. 299 Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 283 (Rn. 96). 300 Paradigmatisch hierfür sind die Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer von 1971, über das Thema „Grundrechte im Leistungsstaat“. Siehe auch Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 18. Neueren Datums, Siehr, Teilhaberechte, S. 625. 301 Vgl. beispielsweise Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 39–41; Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung und in den derzeitigen Länderverfassungen, S. 49; Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 27; Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, S. 379.

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garantie302 verknüpft ist, bis zu einer umfassenden Annahme.303 Die Einwände gegen den subjektiv-rechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte können in theoretische, dogmatische, methodologische und funktionell-rechtliche unterteilt werden. a) Der theoretische Einwand Vom theoretischen Standpunkt her gibt es auf dem Niveau des Staats- bzw. Verfassungsbegriffs kritische Vorbehalte, die behaupten, dass diese Auffassung einen Widerspruch zwischen Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit impliziere. Im Blick darauf stellt Forsthoff fest, dass eine Verfassung nicht Sozialgesetz sein kann.304 Darüber hinaus findet man die Äußerung, dass die sozialen Grundrechte sich eher an autoritäre oder sozialistisch orientierte Regime annähern als an demokratische,305 und dass ein inhärenter Konflikt zwischen sozialen Grundrechten und der Idee der Freiheit besteht.306 b) Der dogmatische Einwand Was den dogmatischen Aspekt der Kritik anbelangt, taucht hauptsächlich das Argument auf, dass die Modalitäten von Schutz und Durchführung der Abwehrrechte im Vergleich zu sozialen Grundrechten, was das Problem der Justiziabilität einschließt, unterschiedlich sind und die oben erwähnte Umdeutung demzufolge ungeeignet ist.307 302

Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 139; Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 89 ff.; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 285 (Rn. 100): Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 18; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 153; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 218; Siehr, Teilhaberechte, S. 626. In diesem Sinne entschied vor Kurzem das BVerfG in den Urteilen zu Hartz IV und dem Asylbewerberleistungsgesetz. 303 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 402 ff. Der Entwurf Alexys wird unten zu behandeln sein. (B. II. 2. g)). 304 Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, S. 180. Schon früher, auf das Schweizer Recht bezogen, behauptete Huber: „Rechte auf positive Leistung denaturieren die Ver­fassung.“ Huber, Soziale Verfassungsrechte? in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozial­staatlichkeit, Aufsätze und Essays, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968, S. 8. 305 Vgl. Huber, Soziale Verfassungsrechte? S. 9; Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 8; Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 20–21; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 257–259. Über den Unterschied zwischen der Inkorporation sozialer Grundrechte in einem sozialen Staat (Wohlfahrtstaat) und in einem sozialistischen Staat, siehe Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 20–21 und S. 34. 306 Vgl. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 2. Aufl. Karlsruhe: C. F. Müller, 1964, S. 130–131; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 281 (Rn. 91). 307 Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, 27.

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c) Der methodologische Einwand Hinsichtlich der methodologischen Seite der Einwände gibt es die allgemeine Kritik, dass die Deduktion sozialer Grundrechte aus den Grundrechtsbestimmungen des GG, die prinzipiell nur Abwehrrechte enthalten, „sich mit dem Instrumentarium juristischer Grundrechtsauslegung nicht verifizieren“ lassen.308 Zudem findet man das historisch-genetische Argument, aufgrund dessen sich die Verfassungsgeber wegen der negativen Erfahrung der Weimarer Zeit ausdrücklich gegen die Aufnahme von sozialen Grundrechten im GG positioniert haben309 und das linguistische Argument, dass die Vagheit und die Abwesenheit der normativen Dichte der Grundrechtsbestimmungen nicht zulassen, mit Sicherheit festzustellen, welche (Leistungs-)Rechte die Subjekte innehaben und in welchem Umfang der Staat zu ihrer Durchführung verpflichtet ist. In dieser Hinsicht würde sich die Liste der möglichen Forderungen bis zu den durch die Phantasie gesetzten Grenzen beliebig erweitern lassen.310 Die Idee einer „positiven Freiheit“ dürfe nicht in ein „Recht auf alles“ umschlagen.311 Die sozialen Grundrechte seien stattdessen leges imperfectae, deren Durchsetzbarkeit das Tätigwerden des Gesetzgebers voraussetze.312 Ebenfalls auf der methodologischen Ebene der Kritik – sofern man faktische Probleme in Verbindung mit normativen als methodologische Frage akzeptiert313 – kommen in 308 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 29. Und er fährt fort: „Wer angesichts des danach eindeutigen verfassungsrechtlichen Befundes gleichwohl meint, die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen um eine soziale Dimension erweitern zu sollen, überschreitet die Grenzen der Interpretation der Verfassung und macht sich zu ihrem Herrn.“ Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 32. 309 In diesem Sinne stellt Breuer fest: „Die eindeutige Entscheidung des Verfassungsgebers kann nicht durch eine interpretatorische Schöpfung sozialer Grundrechte in Gestalt positiver grundrechtlicher Anspruchsnormen revidiert werden.“ Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 92–3. Siehe auch Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 263 (Rn. 46) und Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 214. Über die Weimarer Verfassung als allgemeines Gegenbild für das GG, Gusy, Die Weimarer Verfassung als „negative Ordnungsidee“? in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte. Zeitschrift für die Rechtsgeschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts. Jahrgang 5, Heft 2, Juni, 2011, passim. 310 Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 3. 311 Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 282 (Rn. 93). 312 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 30; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 154. Dazu auch Eichenhofer, Soziale Grundrechte – in Weimar ersonnen und im vereinten Deutschland zu vollenden! S. 203. 313 Häberle nennt es „wirklichkeitsorientierte Verfassungsauslegung“. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 79. Vgl. dazu auch Müller / Pieroth / Fohman, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, passim. Müller stellt jedoch fest: „Die bisherige, vornehmlich unter dem Stichwort ‚Schutz der tatsächlichen Voraussetzungen‘ geführte leistungsrechtliche Diskussion leidet jedenfalls teilweise daran, daß die im Grundgesetz vorhandenen (positiven) Normprogramme nicht in dem Umfang argumentativ verarbeitet werden, in welchem dies möglich und deshalb auch geboten ist. Häufig verfängt sich die Diskussion auf einer allgemeinen Ebene an Themen (z. B. Finanzierbarkeit der staatlichen Leistungen, tatbestandliche Unbestimmtheit der Leistungsansprüche, Vor- und Übergriff der Rechtsprechung mittels Justitiabilisierung von Leistungsgrundrechten in den Bereich der Gesetzgebung), die im einzelnen und isoliert zwar

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Betracht, erstens das Problem der Knappheit der finanziellen Mittel,314 zweitens die Schwierigkeit der Anpassung sozialer Grundrechte an die permanente soziale Veränderung und drittens die Enttäuschung der Bürger, falls ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, was im Endeffekt die normative Kraft der Verfassung negativ betreffen kann.315 d) Der funktionell-rechtliche Einwand Schließlich kommt in Bezug auf das funktionell-rechtliche Argument der Einwand zum Tragen, dass die Judikative im Fall ihrer Einmischung auf diesem Feld die Kompetenz des Gesetzgebers und der Verwaltung usurpiere, was die Gewaltenteilung verletze.316 e) Die herrschende Meinung Sofern die Uminterpretation der Grundrechte in der Literatur akzeptiert wird, neigen die Meinungen der Autoren dazu, den objektivrechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte hervorzuheben,317 das heißt, sie als Staatszielbestimmungen oder zutreffend erörtert, jedoch dogmatisch weder hinreichend genau definiert noch verortet werden, weil bereits ein genauer dogmatischer Einstieg innerhalb eines gleichfalls fehlenden dogma­ tischen Bezugsrahmens fehlt.“ Müller / Pieroth / Fohman, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, P. 122. Müller zitiert einen Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht vom methodischen Standpunkt her richtig mit Realdaten („Normbereichsanalyse“) gearbeitet hat, damit es die Möglichkeit einer leistungsrechtlichen Interpretation des Art. 7, Abs. 4 GG begründen kann (Finanzhilfe-Urteil – BVerfG, 75, 40 ff.). Müller, Die Positivität der Grundrechte. Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, 2. erw. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1990, S. 125 ff. 314 Martens erwähnt diesbezüglich den lateinischen Aphorismus „ultra posse nemo obligatur“. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 25. 315 Vgl. Siehr, Teilhaberechte, S. 625–626. Aufgrund einer Kombination des Arguments der Vagheit mit dem der notwendigen Anpassung an die soziale Wirklichkeit behauptet Isensee: „Das Vage dieser Normen liegt nicht in der sprachlichen Form; es folgt aus der Sache. Soziale Grundrechte beziehen sich auf eine stets veränderliche Realität. Konkrete Formulierungen, die einer Situation angepaßt sind, werden rasch durch den Wechsel der Lage überholt.“ Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, S. 377. 316 Bspw. Huber, Soziale Verfassungsrechte? S. 9; Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 36 und 39; Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, S. 379; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 153. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 35; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 217. 317 Obwohl er ein neues Staatsmodell verteidigt, das als „Idealtypisches Gegenstück ist der bürgerliche Ordnungs- und Eingriffsstaat“ charakterisiert werden könne und eine neue Dogmatik für die Grundrechte fordere, hebt Häberle hervor: „So „überholt“ im Leistungsstaat das grundrechtsrelevante objektive Recht das subjektive (Grund)Recht. Es gibt Verfassungsaufträge („Prinzipien“) von „Grundrechtsnutzen“, denen (noch) kein subjektives öffentliches Recht entspricht.“ Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 55, 58, 93 und 108. An anderer

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Verfassungs- und Staatsaufträge318 zu betrachten, die eine Mittelposition zwischen dem Verständnis der Grundrechte als Programmsätze  – im Sinne der Weimarer Zeit – einnehmen, aufgrund dessen sie ausschließlich politisch dem Gesetzgeber und der Exekutive verpflichtet sind,319 und ihrer Sicht als subjektive Rechte. Soziale Grundrechte sind mehr als bloße Programmsätze, da sie dem Gesetzgeber und der Verwaltung positive Handlungen aufzwingen,320 und weniger als subjektive Rechte, weil sie nicht ohne weiteres unmittelbar justiziabel sind.321 Nur in Ausnahme- bzw. Stelle unterstreicht er: „Es besteht oft eine leistungsrechtliche Bindung, die nicht richterlich kontrollierbar ist: rechtliche Bindung und richterliche Kontrolle sind nicht identisch.“ Häberle, Leistungsrechte im Sozialstaat, in: Halitzel / Wollenschläger (Hrsg.), Recht und Staat, Festschrift für Günther Küchenhoff. Berlin: Duncker & Humblot,1972, S. 470. Der Sache nach, auch Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, S. 24–41; Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 27 und 43; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 155–156. Böckenförde verteidigt ein Verständnis der Grundrechte als „Rahmen“ ganz im Einklang mit seinem später entwickelten Begriff der Verfassung als Rahmenordnung, aufgrund dessen ihre „Verwirklichung“ eine Frage politischer Willensbildung und Entscheidung und der aktiven Teilnahme der Bürger sei. Böckenförde, Grundrechte im Leistungsstaat, S. 165. Vgl. auch Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 214; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, S. 283 (Rn. 97); Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, S. 371–372. Für eine Verteidigung ausschließlich des objektivrechtlichen Gehalts, Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte. Ein Wesenszug des Grundgesetzes, S. 378. 318 In der Literatur besteht kein Konsens über die Verwendung dieser Begriffe. Die Figur wurde von Ipsen, Über das Grundgesetz, Hamburg: Selbstverl., 1950, S. 14, geprägt. Ausführlicher zum Begriff, Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Schnur (Hrsg.), Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag. München: C. H. Beck, 1972, S. 330 ff.; Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 20 ff.; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung. Zu den gegenwärtig diskutierten Änderungen des Grundgesetzes, passim; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 362 ff.; Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 189 ff. und 256 ff. 319 Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 155; Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 27; zum Begriff der Programmsätze im Vergleich zu Verfassungsaufträgen bzw. Staatszielbestimmungen, Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 27; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 214. 320 Nach Böckenförde sind Verfassungsaufträge „an die staatlichen Organe in Gesetzgebung und Verwaltung adressierte objektivrechtliche Verpflichtungen, für die Verwirklichung des in dem Auftrag formulierten Ziels oder Programms durch geeignete Maßnahmen tätig zu sein, wobei der Weg, das Ausmaß und die Modalitäten der Verwirklichung zunächst dem politischen Ermessen der handelnden Organe und damit dem politischen Prozeß anheimgegeben sind.“ Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 155. 321 Über den Begriff der Staatszielbestimmung als Gegensatz zum Grundrecht, Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 214. In ähnlichem Sinne führt Böckenförde aus: „Entschließt man sich zum Einbau sozialer Grundrechte als Verfassungsaufträge in das Grundgesetz, ist allerdings darauf zu achten, daß diese Verfassungsaufträge von den Grundrechten erkennbar unterschieden und äußerlich getrennt werden. Da sie die Gewährleistungsform von Grundrechten nicht annehmen können, sollten sie auch nicht als Grundrechte formuliert und ausgegeben werden.“ Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 156.

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Extremsituationen ist es zulässig, Ansprüche auf positive Leistung direkt von der Verfassung abzuleiten, wie zum Beispiel erstens, wenn „Untätigkeit und evidente grobe Vernachlässigung des Zieles bzw. Programms durch die staatlichen Organe“322 stattfinden, zweitens, falls es auf der verfassungsrechtlichen Ebene genug Normierungsdichte gibt, die die Anwendung des Grundrechtes im konkreten Fall erlaubt,323 und drittens, wenn es sich um das Existenzminimum handelt. f) Die Position des BVerfG Das BVerfG befolgte diese interpretative Ausrichtung in zwei jüngeren Entscheidungen, nämlich dem Hartz IV-Urteil vom 9. Februar 2010324 und dem Asylbewerberleistungsgesetz-Urteil vom 18. Juli 2012.325 Im Hartz IV-Urteil stellte das Gericht beispielsweise fest: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“326 Das Existenzminimum wird vom BVerfG in diesem Fall als „eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit […], als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“ verstanden.327

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Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 155. In Fällen wie diesen lässt der Autor jedoch nur eine abwehrrechtliche Dimension der sozialen Grundrechte gegen „ersatzlose Aufhebung oder eine Minderung, welche die Grenze zur groben Vernachlässigung überschreitet,“ zu. 323 Badura führt in dieser Hinsicht aus: „Sofern ein Verfassungsauftrag mit hinreichend greifbarer Regelungsanordnung eine individualisierbare Rechtszuweisung ausspricht, wie z. B. im Falle des Art. 6 Abs. 5 GG (Gleichstellung der unehelichen Kinder), kann er individuelle Ansprüche begründen, die bei Unterlassen der geforderten gesetzlichen Regelung eine Verfassungsbeschwerde ermöglichen und eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht herbeiführen.“ Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschlands, S. 35. Nach Ansicht von Siehr „könnten in Einzelfällen bei Nichtbeachtung des Untermaßverbotes – Sichtwort: Asylbewerberleistungsgesetz – oder aufgrund einer normativen Verdichtung im Zusammenspiel mit völkerrechtlichen Verpflichtungen, die auch bei der Auslegung des Grundgesetzes zu beachten sind – Stichwort: Inklusion (Art. 3 Abs. 3, S. 2 GG i. V. m. Art. 24 BRK) – sogar verfassungsunmittelbare Leistungsansprüche (auch organisatorischer Art) ergeben.“ Siehr, Teilhaberechte, S. 635. 324 BVerfGE 125, 175 – Hartz IV. 325 BVerfGE 132, 134 – Asylbewerberleistungsgesetz. 326 BVerfGE 125, 175, passim. 327 BVerfGE 125, 175 – Hartz IV.

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g) Die Stellungnahme Alexys: Soziale Grundrechte als Optimierungsgebote Wie schon erklärt, besteht die allgemeine Dogmatik der Grundrechte (Theorie der Grundrechte) Alexys aus zwei Grundsäulen, der Prinzipientheorie und der Theorie der rechtlichen Grundpositionen. Bezüglich der letzteren teilt Alexy die Rechte in zwei grobe Kategorien ein, nämlich die Abwehrrechte und die Leistungsrechte. Innerhalb der Leistungsrechte könne man über „Leistungsrechte im weiteren Sinne“ und „Leistungsrechte im engeren Sinne“, das heißt die „sozialen Grundrechte“, sprechen. Die letzteren „sind Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat auf etwas, was der einzelne, verfügte er nur über hinreichende finanzielle Mittel und fände sich auf dem Markt ein hinreichendes Angebot, auch von Privaten erhalten könnte. Wenn von sozialen Grundrechten die Rede ist, also etwa von Rechten auf Fürsorge, Arbeit, Wohnung und Bildung, sind in erster Linie Leistungsrechte im engeren Sinne gemeint.“328 Demzufolge wird die Frage nach der Existenz sozialer Grundrechte im GG von ihm bejaht: „Daß es ein Leistungsrecht gibt [von Alexy wurde als Beispiel das Grundrecht auf das Existenzminimum betrachtet], das Grundrechtsbestimmungen zu Recht zugeordnet wird, bedeutet zwar, daß die These, daß den Grundrechtsbestimmungen keine Leistungsrechte zu Recht zugeordnet werden können, falsch ist; hieraus allein folgt aber nicht, daß ihnen irgendein weiteres Leistungsrecht zu Recht zugeordnet werden kann.“329 Da das Grundgesetz soziale Grundrechte nicht explizit verankert hat, ist ihr Vorhandensein nicht eine Frage der Positivität, sondern vielmehr „ob es geboten oder unzulässig ist, den Grundrechtsbestimmungen Normen zuzuordnen, die soziale Grundrechte gewähren“.330 In dieser Hinsicht sei „zwischen explizit statuierten Leistungsrechten“ und „interpretativ zugeordneten Leistungsrechten“ zu unterscheiden.331 Bei der Rechtfertigung dieser interpretativen Zuordnung spielt das, was Alexy „Leitidee“ nennt, eine wichtige Rolle. Diese Leitidee, die als „allgemeines formales Konzept der Grundrechte“ dient, besagt: „Jeder befindet sich aufgrund von Grundrechtsnormen in den leistungsrechtlichen Positionen, die vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus so wichtig sind, daß ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann […]. Dieser Satz ist Ausdruck eines allgemeinen Leistungsrechts.“332 Diese Leitidee, auf der alle Grundrechte beruhen, setzt stets eine Kollision zwischen dem Prinzip der Demokratie und den Grundrechten voraus, die durch eine Abwägung gelöst werden kann. In einem abstrakteren Grad, auf den Begriff des Rechts bezogen, findet eine Kollision zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit statt. 328

Alexy, Theorie der Grundrechte, P. 454. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 398. 330 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 455. Dazu auch Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 64. 331 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 454. 332 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 409–410. 329

II. Die Problematik der sozialen Grundrechte in Deutschland 

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Die sozialen Grundrechte werden von ihm als prima-facie-Recht333 charakterisiert. Sie haben demnach Prinzipiencharakter,334 dessen definitiver Inhalt das Resultat einer Abwägung zwischen kollidierenden Prinzipien ist: „Auf der einen Seite steht vor allem das Prinzip der faktischen Freiheit. Auf der anderen Seite stehen die formellen Prinzipien der Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und das Gewaltenteilungsprinzip sowie materielle Prinzipien, die sich vor allem auf die rechtliche Freiheit anderer, aber auch auf andere soziale Grundrechte sowie auf kollektive Güter beziehen.“335 Aufgrund dieses Modells hat der Einzelne ein definitives Recht auf Leistung (minimale soziale Grundrechte), wenn das Prinzip der faktischen Freiheit ein größeres Gewicht hat als die gegenläufigen formellen und materiellen Prinzipien zusammengenommen: „Das Modell sagt nicht, welche definitiven sozialen Grundrechte der einzelne hat. Es sagt aber, daß er welche haben kann und worauf es bei der Frage nach ihrer Existenz und ihrem Inhalt ankommt. Die detaillierte Antwort auf diese Frage ist Aufgabe der Dogmatik der einzelnen sozialen Grundrechte. Immerhin kann hier aber eine allgemeine Antwort gegeben werden. Eine leistungsrechtliche Position wird man dann als definitiv grundrechtlich garantiert ansehen müssen, wenn (1) das Prinzip der faktischen Freiheit sie sehr dringend fordert und (2) das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip (das das der Haushaltskompetenz des Parlaments einschließt) ebenso wie (3) gegenläufige materielle Prinzipien (insbesondere solche, die auf die rechtliche Freiheit anderer abstellen) durch die grundrechtliche Garantie der leistungsrechtlichen Position und ihr Rechnung tragende verfassungsgerichtliche Entscheidungen in relativ geringem Maße beeinträchtigt werden. Diese Bedingungen sind jedenfalls bei den minimalen sozialen Grundrechten erfüllt, also etwa bei den Rechten auf ein Existenzminimum, auf eine einfache Wohnung, auf eine Schulbildung, auf eine Berufsausbildung und auf einen Mindeststandard ärztlicher Versorgung.“336 2015 verteidigte Alexy diese Auffassung auf einer Tagung in Brasilien, die ihm zu Ehren anlässlich seines siebzigsten Geburtstags veranstaltet wurde. In Übereinstimmung mit der von ihm konzipierten idealen Dimension der Grundrechte sagte er: „Wenn die Menschenrechte als moralische Rechte existieren, das heißt, wenn sie begründbar sind, erfüllt ein Grundrechtskatalog seinen Anspruch auf Richtigkeit nicht, wenn es diese Rechte nicht umfasst. Es handelt sich um einen fehlerhaften Katalog und das Verfassungsgericht soll ihn korrigieren, wie es das BVerfG in der Hartz-IV-Entscheidung machte.“337 Hier sind die Ideen „Eingriff 333 Hier in Bezug auf das Numerus-Clausus-Urteil und den Begriff des originären Leistungsrechts. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 400. 334 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 406. 335 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 468. Das Prinzip der faktischen Gleichheit spielt in diesem Zusammenhang auch eine wichtige Rolle. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 383. 336 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465–466. 337 Alexy / Baez / Silva (Hrsg.), Dignidade humana, direitos sociais e não-positivismo inclusivo. Em Comemoração ao 70° aniversário de Robert Alexy [Menschenwürde, soziale Rechte und

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B. Die Theorie der Grundrechte von Robert Alexy 

durch Nichterfüllung“338 oder „durch Nichtleistung“339 zu nennen. Auf derselben Tagung hielt Matthias Klatt einen Vortrag, in dem er eine Rekonstruktion des Problems der richterlichen Verfassungskontrolle im Bereich der sozialen Grundrechte als einen Kompetenzkonflikt darstellte. Die Lösung des Konfliktes soll und kann durch eine Abwägung herbeigeführt werden, was er als „balanced account of judicial review“ („controle judicial ponderado“) bezeichnet. Klatt geht davon aus, dass Kompetenzen Prinzipien sind, und in diesem Sinne versucht er, die Entscheidungen des BVerfG über Hartz-IV und das Asylbewerberleistungsgesetz als ein Problem der Abwägung zwischen den Kompetenzen der Legislative und des BVerfG darzustellen.340

inklusiver Nicht-Positivismus. Zum 70. Geburtstag von Robert Alexy]. Florianópolis: Qualis, 2015, S. 169. [An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle in dieser Arbeit zitierten portugiesischen Originaltexte, sofern nicht anders angegeben, vom Autor dieser Arbeit ins Deutsche übersetzt wurden.] 338 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 28 ff. 339 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 150. 340 Klatt, Direitos  a prestações positivas: Quem deve decidir? Controle judicial ponderado [Rechte auf positive Leistungen: Wer soll entscheiden? Gerichtliche Kontrolle unter Verwendung der Abwägung], Alexy, Direitos fundamentais sociais  e proporcionalidade, in: Alexy / Baez / Silva (Org.) Dignidade humana, direitos sociais e não-positivismo inclusivo. Em Comemoração ao 70° aniversário de Robert Alexy. Florianópolis: Qualis, 2015, S. 221 ff., 236 und 256 ff. Dieser Vortrag wurde auf Englisch gehalten und der Text wurde auch im International Journal of Constitutional Law veröffentlicht. Klatt, Positive rights: Who decides? Judicial review in balance, in: International Journal of Constitutional Law 13 (2) (2015). Über den Prinzipiencharakter der sozialen Grundrechte in Anlehnung an Alexy siehe auch Silva, Soziale Grundrechte als Optimierungsgebot, ihre Überlegungen aus der Perspektive des Gesundheitsrechts, in: Clérico / Sieckmann (Hrsg.), Grundrechte, Prinzipien und Argumentation. Studien zur Rechtstheorie Robert Alexys. Baden-Baden: Nomos, 2009, S. 165 ff. und Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, passim.

C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien: kritische Anmerkungen bezüglich der Dogmatik der sozialen Grundrechte I. Die Vorgeschichte der brasilianischen Verfassung von 1988 Bevor direkt auf die aktuelle brasilianische Verfassung, die seit 1988 in Kraft ist, Bezug genommen werden kann, ist es wichtig, einen kurzen historischen Exkurs über die Verfassungstradition Brasiliens einzufügen, um – wenn auch in sehr allgemeiner Form – den sozio-politischen und historischen Kontext zu klären, aus dem der aktuelle Verfassungstext resultiert.

1. Die Verfassung von 1824 Die erste Verfassung Brasiliens von 1824 war ein wichtiger Schritt der Loslösung der damaligen brasilianischen Kolonie von der portugiesischen Zentralmacht.1 Die Unabhängigkeit Brasiliens wurde am 7. September 1822 von Pedro / Peter I., dem Sohn des portugiesischen Königs João / Johannes VI, ausgerufen. Die damalige Unabhängigkeitsbewegung war direkt vom liberal-burgundischen Konstitutionalismus französischer Ausprägung inspiriert.2 Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung berief der jetzt Kaiser genannte Dom Pedro I. eine Verfassungsgebende Versammlung ein, um den ersten brasilianischen Verfassungstext ausarbeiten zu lassen. Jedoch schon am 12. November 1823 löste der Kaiser die von ihm einberufene Verfassungsgebende Versammlung auf und erließ am 25. März 1824 die erste brasilianische Verfassung. Diese Verfassung behielt wichtige Merkmale des liberalen französischen und spanischen3 Konstitutionalismus bei, wie die Gewährung bürgerlicher und poli 1 Im Jahr 1500 kamen die Portugiesen zum ersten Mal nach Brasilien und eroberten nach und nach das riesige Land. Von Historikern wird der Zeitraum von 1530 bis 1822 als „KolonialBrasilien“ bezeichnet. 2 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil [Brasilianische Verfassungsgeschichte]. 5. Aufl. Brasília: OAB Editora, 2004, S. 102–103. 3 Zum Einfluss, den die spanische Verfassung von 1812, die Verfassung von Cádiz, auf den brasilianischen Konstitutionalismus ausübte, siehe Barreto, Herança e simbolismo da Constituição de Cádiz [Erbe und Symbolik der Verfassung von Cádiz], in: Streck / Bolzan de Morais (Hrsg.), Constituição, Sistemas sociais e hermenêutica [Verfassung, Sozialsysteme und Hermeneutik]. N. 5. Porto Alegre: Livraria do Advogado, 2009.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

tischer Rechte sowie die Aufteilung der Macht in drei Organe, die Exekutive, die Legislative und die Judikative. Gleichzeitig führte Dom Pedro I. jedoch in den Verfassungstext die Figur der so genannten „Poder Moderador“ („mäßigende Gewalt“)4 ein, die er selbst ausübte. Diese „mäßigende Gewalt“ befand sich gegenüber den anderen Gewalten in einer höheren hierarchischen Position, was dazu führte, dass der Kaiser die Kompetenz besaß, in das Funktionieren der anderen Gewalten eingreifen zu können.5 Paulo Bonavides spricht deshalb von einer hybriden Verfassung, die zwischen Liberalismus und Absolutismus angesiedelt ist, oder von einer „Konstitutionalisierung des Absolutismus“.6 Mit der Abdankung von Kaiser Dom Pedro I. im Jahr 1831 übernahm sein Sohn Dom Pedro II. den Thron. Dadurch gewann das liberale Denken einen größeren Einfluss und die Verfassung erfuhr durch einen gewissen Protagonismus der Abgeordnetenkammer wichtige Reformen, wie z. B. die Schaffung von „Assembleias Legislativas“ (Gesetzgebende Versammlungen) in den Provinzen.7 Dennoch stellt Bonavides fest: „Die Verfassung des Imperiums […] war in der Geschichte des Landes nicht die Musterverfassung unseres Liberalismus […]. Sie hatte jedoch eine beispiellose Reichweite aufgrund der Stärke des Gleichgewichts und des Kompromisses, den sie zwischen dem liberalen Element schuf, das bereit war, den Weg in die Zukunft zu beschleunigen, und dem konservativen Element, das dazu neigte, am status quo festzuhalten“.8 Die Verfassung von 1824 sah eine politische Verfassungskontrolle vor. Mit anderen Worten, es war nicht Aufgabe der Justiz, diese Kompetenz auszuüben. Auf der anderen Seite sah die Verfassung, obwohl sie vom Kaiser erlassen worden war, eine umfangreiche Liste bürgerlicher und politischer Rechte vor, darunter Rechte sozialen Charakters, wie das „Recht auf öffentliche Hilfe (Sozialhilfe im Gesundheitswesen), auf kostenlose Grundschulbildung für alle Bürger sowie auf weiterbildende Schulen und Universitäten für die Lehre der Wissenschaften, der bildenden Künste und des Portugiesischen, die jeweils in den Abschnitten (incisos) XXXI, 4

Die Figur der „Poder Moderador“ („mäßigende Gewalt“) suchte Inspiration im Werk des französischen Philosophen Benjamin Constant, obwohl dessen ursprüngliche Konzeption stark verfälscht wurde. Die hier verwendete Übersetzung folgt dem Vorschlag von Sarlet, Die Pro­ blematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 37. 5 „Die Aufgaben und Zuständigkeiten des „Poder Moderador“ waren sehr umfangreich, beispielsweise konnte der Kaiser die Richter (die er als Leiter der Exekutive frei ernennen konnte) suspendieren (Art. 101, VII) sowie die Abgeordnetenkammer auflösen (Art. 101, V) und die Strafen der durch die Richter verurteilten Bürger mildern oder erlassen (Art. 101, VIII).“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 37. 6 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 104/105. 7 Nogueira, 1824, (Coleção Constituições brasileiras [Sammlung brasilianischer Verfassungen]; v. 1). 3. Aufl. Brasília: Senado Federal, Subsecretaria de Edições Técnicas [Bundessenat, Unterstaatssekretär für technische Ausgabe], 2012, S. 21. 8 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 104/105.

I. Die Vorgeschichte der brasilianischen Verfassung von 1988

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XXXII und XXXIII des Artikels 179 des Titels 8 der imperialen Verfassung geregelt wurden“.9

2. Die Verfassung von 1891 Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch einen fortschreitenden Verlust der kaiserlichen Macht und durch die verschiedensten Forderungen, ja sogar revolutionäre und separatistische10 Bewegungen, die alle eine weniger zentralisierte Staatsmacht und die Konsolidierung eines liberalen Projekts anstrebten, was durch die erste Verfassung und die darauffolgenden Reformversuche vereitelt wurde. Am 15. November 188911 wurde nach einem Staatsstreich durch einfluss­reiche Militärs und Intellektuelle die erste brasilianische Republik proklamiert. Es wurde eine „Provisorische Regierung“ mit militärischem Charakter unter der Leitung von Marschall Deodoro da Fonseca eingesetzt. Die Provisorische Regierung führte die Formalisierung der Republik mit der Verkündung der Verfassung vom 24. Februar 1891 zu Ende und Deodoro da Fonseca wurde nach einer Wahl durch den Nationalkongress Präsident der Republik. Anders als bei der Verfassung von 1824 „wurde eine Verfassungsgebende Versammlung frei gewählt, sodass der von der Regierung vorbereitete Entwurf durchgearbeitet und demokratisch abgestimmt wurde, womit die Legitimität des neuen Textes gewährleistet war.“12 Diese ausgesprochen liberale13 Verfassung, die unter deutlichem Einfluss des US-amerikanischen14 Konstitutionalismus stand, brach mit dem Absolutismus und begründete die Republik, das Bundesstaats- (Föderalismus) und das Präsidialsys 9

Sarlet / Marinoni / Mitidiero, Curso de direito constitucional [Verfassungsrechts-Kurs]. 6. Auflage, São Paulo: Saraiva, 2017, S. 248. „Es müssen aber auch negative Punkte hervorgehoben werden. Während der Geltung der Verfassung von 1824 (bis 1888) war die Sklavenarbeit in Brasilien eine übliche und legale Praxis. Da Sklaven als Eigentum behandelt wurden, waren sie auch nicht Grundrechtsträger. Auch Ausländer waren von der Grundrechtsträgerschaft ausgeschlossen. In dieser Hinsicht duldete die erste brasilianische liberale Ordnung, daß ein großer Teil der Bevölkerung so gut wie gar keinen Nutzen von den Grundrechtsregelungen hatte.“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 39. 10 Siehe dazu ausführlich Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 137 ff. 11 Am 13. Mai 1888 war die Sklaverei in Brasilien abgeschafft worden. 12 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 40. 13 „Die in Artikel 179, XXXII der Verfassung von 1824 gewährte Kostenfreiheit des Grundschulunterrichts wurde im neuen Text nicht vorgesehen, was den sozialen Charakter der republikanischen Verfassung zunichtemachte.“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 41. 14 Brasilien wurde jetzt sogar die „Vereinigte Staaten von Brasilien“ genannt: „Artikel 1. Die brasilianische Nation nimmt als Regierungsform die Bundesrepublik mit dem Repräsentativsystem an, welche am 15. November 1889 proklamiert wurde, und konstituiert sich durch ewige und unauflösbare Vereinigung ihrer früheren Provinzen als Vereinigte Staaten von Brasilien.“

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

tem. Sie löschte die Figur der sogenannten „mäßigenden Gewalt“ aus und sah ausdrücklich die funktionale Dreigliedrigkeit der Staatsmacht vor, mit Unabhängigkeit und Harmonie zwischen Exekutive, Legislative und Judikative. Was letztere betrifft, wurde der Oberste Bundesgerichtshof geschaffen und – in Übereinstimmung mit der amerikanischen Verfassung – die „Judicial Review“ eingeführt, d. h. die Verfassungskontrolle durch die Justiz. Die Verfassung von 1891 sah ausdrücklich Abwehrrechte und Politische Rechte vor: „Darunter können insbesondere die Versammlungsfreiheit (Art. 72§ 8), die Wohnsitzfreiheit (Art. 72 § 11), eine erweiterte Pressefreiheit (Art. 72 § 12) und die Garantie des „Habeas Corpus“, Rechtsmittel gegen illegale Eingriffe in die persönliche Freiheit und gegen rechtswidrige Akte der öffentlichen Hand (Art. 72 § 22) gezählt werden. Hinzu kam auch das Prinzip der größtmöglichen Verteidigung (Art. 72 § 16) und die Einrichtung der institutionellen Garantie der Geschworenengerichte (Art. 72 § 31).15 Was den politischen Kontext betrifft, führte Deodoro da Fonseca nach einem Streit zwischen ihm, dem damaligen Präsidenten, und dem Nationalkongress über die wirtschaftlichen Probleme des Landes am 3. November 1891 einen Staatsstreich durch. Er ordnete die Auflösung der Legislative an und dekretierte den Ausnahmezustand (Estado de Sítio). Infolge des Widerstands gegen seine Maßnah­men sowie auf Druck des Militärs trat der Präsident am 23. November 1891 zurück und der Vizepräsident, Floriano Peixoto, ebenfalls ein Militär, übernahm das Präsidentenamt. Art. 42 der Verfassung von 1891 sah jedoch vor, dass im Falle einer Vakanz im Amt des Präsidenten vor Ablauf der ersten zwei Jahre seiner Amtszeit eine allgemeine Wahl stattfinden sollte. So wurde die Regierung von Floriano Peixoto, die bis zum 15. November 1894 dauerte, von seinen Gegnern als verfassungswidrig angesehen. Erst im November 1894 wurde Prudente de Morais in direkten Wahlen zum ersten zivilen Präsidenten Brasiliens gewählt. Die Erste Republik Brasilien war durch eine im Wesentlichen agrarische, arme, den politischen Zentralismus verfolgende und sozial fragmentierte Gesellschaft gekennzeichnet. Nach dem Abgang von Floriano Peixoto im Jahr 1984 begann mit der Wahl von Prudente de Morais eine Phase, die als „Republik der Oligarchien“ bezeichnet wurde,16 mit einer Stärkung der regionalen Regierungen der Bundesländer São Paulo und Minas Gerais, deren Landwirtschaft ganz Brasilien wirtschaftlich am Laufen hielt. In diesem Zusammenhang wird der Einfluss des US-amerikanischen Föderalismus, der dezentralisierender Natur ist, deutlicher. Wahlen waren zu jener Zeit nicht geheim, was es den Wirtschaftsmächtigen ermöglichte, die Politik direkt zu beeinflussen. 15 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 40–41. 16 Historiker in Brasilien klassifizieren den Zeitraum der ersten Republik in zwei Phasen: die militärische Phase, genannt „Republik des Schwertes“, die von 1889 bis 1894 dauerte, und die zivile Phase, genannt „Republik der Oligarchien“, die von 1894 bis 1930 dauerte. Fausto, História do Brasil [Die Geschichte Brasiliens], EDUSP, 2012, passim.

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Unzählige politische Krisen und Revolten kennzeichneten diese Zeit in Brasilien, bis 1930 nach einem vom Militär unterstützten Staatsstreich die damalige Regierung abgesetzt und der als neuer Präsident gewählte Kandidat an der Amtsübernahme gehindert wurde. Die Verfassung von 1891 wurde aufgehoben, und der Nationalkongress aufgelöst. Es wurde eine provisorische, zentralisierende Regierung eingesetzt, die von Getúlio Vargas geführt wurde, der mittels Dekrete mit weitreichenden Befugnissen zu regieren begann. Getúlio Vargas war bei den vorausgehenden Wahlen von dem vom Bundesstaat São Paulo unterstützten Kandidaten besiegt worden. Aufgrund der politischen und sozialen Unzufriedenheit des Staates São Paulo mit der Zentralregierung kam es 1932 zum Ausbruch der so genannten „konstitutionalistischen Revolution“, einer aus Zivilisten und Militärs gebildeten bewaffneten Bewegung, die die Re-Demokratisierung des Landes forderte und den Sturz der Regierung Getúlio Vargas beabsichtigte. Der Zentralregierung gelang es, die Revolution nach drei Monaten niederzuschlagen. Als Folge des Streits begann eine Phase der Re-Demokratisierung mit Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung, die mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beauftragt werden sollte. Am 15. November 1933 begann die Verfassungsgebende Versammlung mit ihrer Arbeit und am 16. Juli 1934 wurde die neue Verfassung in Kraft gesetzt.17 Getúlio Vargas blieb Präsident der Republik, trat sein Amt vor dem Nationalkongress an und schwor, die neue Verfassung zu befolgen.

3. Die Verfassung von 1934 Die Verfassung von 1934 hatte einen ausgesprochen sozialdemokratischen Charakter. Zum ersten Mal im brasilianischen Konstitutionalismus wurde der Sozialstaat eingerichtet. Sie war direkt von der Weimarer Verfassung von 1919 beeinflusst: „Die sozialen Elemente wurden den klassischen Merkmalen der Demokratie, Gewaltenteilung und Freiheit hinzugefügt, aber nicht übergeordnet. Die neue Verfassungsordnung basierte besonders (obwohl nicht ausschließlich) auf folgenden grundlegenden Prinzipien: Demokratie, Sozial-Liberalismus, Föderalismus, Präsidialsystem, Gewaltenteilung und Nationalismus.“18 Im sozialen Bereich befasste sich die Verfassung mit den Bereichen Wirtschaftsund Sozialordnung, Familie, Bildung und Kultur. Im Bereich der Gesellschaftsordnung war beispielsweise die Organisation des Staates auf eine Art und Weise vorgesehen, die jedem Menschen ein menschenwürdiges Dasein garantieren soll 17 „Die Arbeiten der Versammlung basierten allerdings auf dem Entwurf einer von Präsident Vargas ernannten Kommission, dessen grundlegende Ideen, obwohl sehr erweitert und ergänzt, im wesentlichen eingehalten wurden.“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 42. 18 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 42.

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te.19 Das Recht auf Eigentum wurde garantiert, um dieser sozialen Funktion gerecht werden zu können.20 In diesen Bereichen sprach der Verfassungstext jedoch nicht von „sozialen Rechten“. Auf der anderen Seite wurden mehrere Arbeitsrechte ausdrücklich festgelegt, wie das Recht auf einen Mindestlohn, einen maximalen täglichen Arbeitstag von acht Stunden, bezahlte wöchentliche Ruhezeiten, bezahlter Urlaub usw. Die liberalen Rechte der Verfassung von 1891 wurden beibehalten. Als bemerkenswerte Neuerungen wurden das Wahlgeheimnis und die Wahlpflicht für über 18-Jährige sowie die bereits im Wahlgesetz von 1932 verankerte Regelung für das Frauenwahlrecht eingeführt. Was das politische System betrifft, sah die Verfassung zwar die Autonomie der Bundesstaaten vor, jedoch förderte die Bundesregierung eine Zentralisierung und eine Stärkung der Macht der Exekutive. Nach der Meinung von Bonavides hat die Verfassung einen „faschistischen Geruch“, einen direkten Einfluss des rechten Korporatismus, wie er in Mussolinis Italien, in Portugal und Spanien unter den Regierungen von Salazar und Franco zu finden war.21 Getúlio Vargas sollte sein Mandat bis 1938 ausüben. In der Zeit zwischen 1934 und 1937 war die Regierung das Ziel bewaffneter Aufstände und kommunistischer Voreingenommenheit, die darauf abzielten, sie zu stürzen. Vor diesem Hintergrund eines „nationalen Rettungs-Imperativs“22 und einer „kommunistischen Bedrohung“ inszenierte Vargas einen Staatsstreich, löste den Nationalkongress auf, hob die Verfassung von 1934 auf und verkündete am 10. November 1937 eine neue Verfassung.

4. Die Verfassung von 1937 Inspiriert durch die polnische Verfassung von 193523 sieht die Verfassung von 1937 zwar formell das demokratische Prinzip24 sowie die Gewaltenteilung und -harmonie vor, führt jedoch die so genannte „Neue Staatsdiktatur“ ein. Praktisch kann 19 Art. 113: „Die Wirtschaftsordnung muss nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und den Bedürfnissen des nationalen Lebens so organisiert werden, dass allen eine menschenwürdige Existenz gesichert ist. Innerhalb dieser Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit gewährleistet.“ 20 Art. 114. „Das Eigentumsrecht ist garantiert, mit dem Inhalt und den Grenzen, die das Gesetz festlegt. § 1 Das Eigentum hat vor allem eine soziale Funktion und darf nicht gegen das kollektive Interesse ausgeübt werden. § 2 Eigentum kann enteignet werden, sei es aus Gründen der Gemeinnützigkeit oder des sozialen Interesses, vorbehaltlich einer vorherigen und gerechten Entschädigung, die in bar ausgezahlt wird, oder anderweitig soweit vom Gesetz festgelegt […].“ 21 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 329. 22 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 339 ff. 23 Bonavides hebt auch den Einfluss des italienischen Faschismus und Nationalsozialismus hervor, „[…] mit der Ausrede, die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität noch unter den Auswirkungen der Weltkrise von 1929 zu verhindern.“ Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 346. 24 „Artikel 1 – Brasilien ist eine Republik. Die Politische Macht geht vom Volk aus und wird in seinem Namen und im Interesse seines Wohlergehens, seiner Ehre, Unabhängigkeit und seines Wohlstands ausgeübt.“

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die Verfassung daher als mit einem „nominaler Charakter“ ausgestattet bezeichnet werden.25 In diesem Zusammenhang ist es interessant festzustellen, dass der Verfassungstext selbst in Artikel 187 vorsah, dass die Verfassung einem nationalen Plebiszit unterzogen werden sollte, was aber nie geschehen ist. Die theoretisch sogar für Verfassungsänderungen vorgesehene Volksabstimmung, war eine rein rhetorische Figur, eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit vom Machtspiel abzulenken. Es wurden nur solche Instrumente verwendet, die autoritäre Befugnisse verliehen und dem unmittelbaren Interesse der Regierung dienten.26 In diesem Sinne ist die Beobachtung von Sarlet zu verstehen: „Die Verfassung von 1937 hatte keine effektive Wirksamkeit. Stattdessen existierte eine politische Praxis der Regierung mit der Unterstützung der Armee und Teilen der Kirche, der Industrie und der großen Banken. Große Teile des Volkes, insbesondere die Arbeiter der Städte, wurden mit verschiedenen populistischen Maßnahmen im Rahmen des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung befriedet.“27 Die Rolle der Legislative wurde drastisch reduziert. Es kam zu einer Stärkung der Bundesexekutive, die auf der Grundlage von Dekreten mit Gesetzeskraft mit den sogenannten Verfassungsgesetzen regierte, die den Status einer Verfassungsänderung hatten. „Was die individuellen Rechte und Garantien anbelangt, so sind sie innerhalb der Grenzen des Gemeinwohls, der Erfordernisse der Verteidigung, des Wohlergehens, des Friedens und der kollektiven Ordnung sowie der Sicherheit der Nation und des Staates auszuüben (Art. 123).“28 Es herrschte schlicht und einfach eine Diktatur,29 die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs andauerte. Am 18. Februar 1945 veröffentlichte Präsident Getúlio Vargas das Verfassungsgesetz Nr. 9, das eine allmähliche Rückkehr zur institutionellen und politischen Normalität vorsah, allgemeine Wahlen ansetzte, aber nicht verhinderte, dass er vom Militär entmachtet wurde. Getúlio Vargas wurde keinem juristischen oder politisches Prozess unterworfen und seiner politischen Rechte nicht beraubt. Bis zur Wahl des neuen Präsidenten, Gaspar Dutra, der sein Amt am 31. 01. 1946 antrat, wurde eine Übergangsregierung eingesetzt.

5. Die Verfassung von 1946 Unmittelbar nach Amtsantritt des neuen Präsidenten wurde eine Verfassungsgebende Versammlung eingesetzt, die einen Text auf der Grundlage der Verfassun 25 Zum Begriff der „nominalistische Verfassung“ siehe Loewenstein, Verfassungslehre, übersetzt von Rüdiger Boerner, Tübingen: Mohr Siebeck, 1959, S. 152–153. 26 Bonavides / Andrade, História Constitucional do Brasil, S. 346–347. 27 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 42. 28 Sarlet / Marinoni / Mitidiero, Curso de direito constitucional [Verfassungsrechts-Kurs], S. 257. 29 José Afonso da Silva, Curso de Direito Constitucional [Kurs Verfassungsrecht], 25. Aufl. São Paulo: Malheiros, 2005, S. 83.

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gen von 1891 und 1934 erstellte. Diese neue Verfassung wurde am 16. September 1946 verkündet und markiert den Prozess der Re-Demokratisierung Brasiliens in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Die individuellen Freiheiten, die während der Zeit der Diktatur eingeschränkt worden waren, wurden wieder hergestellt, darunter die Freiheit, Gedanken ohne Zensur zu manifestieren, mit Ausnahme von öffentlichen Spektakeln und Unterhaltung; die Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses; die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und der Ausübung von Kulten / Gottesdiensten; die Unverletzlichkeit des Hauses als Asyl des Einzelnen; die Inhaftierung nur in flagranti oder auf schrift­ liche Anordnung der zuständigen Behörde und die breite Garantie der Verteidigung des Angeklagten usw. Im sozialen Bereich wurden politische Rechte vorgesehen und staatliche Pflichten festgelegt, wie dies in der Verfassung von 1934 der Fall war. Die dreigliedrige Gewaltenteilung und der Föderalismus wurden wiederhergestellt, die durch die Zentralisierung der vorhergehenden diktatorischen Regierung entleert worden waren. Das Präsidialsystem wurde beibehalten. Nach sukzessiven politischen Krisen und Verfassungskonflikten zwischen den Staatsgewalten wurde 1950 der ehemalige Präsident Getúlio Vargas in direkter Wahl (wieder) gewählt. Aber auch seine Regierungszeit war durch mehrere Krisen gekennzeichnet, die auf Verwaltungsmaßnahmen und Korruptionsvorwürfe zurückzuführen waren. Vargas regierte das Land zwischen dem 31. Januar 1951 und dem 24. August 1954, als er Selbstmord beging. Bis zur Durchführung von Neuwahlen übernahm der Vizepräsident das Präsidentenamt. Die politischen und institutionellen Krisen hatten sich jedoch nicht abgekühlt. Es gab sogar den Versuch, mittels des Verfassungszusatzes Nr. 4 vom 2. September 1961 ein parlamentarisches Regime zu etablieren, was aber nicht funktionierte. Am 1. April 1964 verübten die Streitkräfte einen Staatsstreich, stürzten die demokratisch gewählte Regierung und errichteten eine Militärdiktatur. Aus ideologischer Sicht wurde die selbsternannte „Revolution“ als Antwort auf eine mögliche „kommunistische Bedrohung“ gerechtfertigt. Das Land wurde vom Militärregime durch sogenannte „Institutionelle Akte“ regiert, eine Form der Gesetzgebung parallel zur Verfassung von 1946, die offiziell in Kraft blieb.30

6. Die Verfassung von 1967 Am 15. März 1967 wurde unter der Ägide der Militärregierung die Verfassung von 1967 verabschiedet, deren Projekt stark von der Verfassung von 1937 beeinflusst wurde. Das zentrale Anliegen des Verfassungstextes war die nationale Si 30

Während der Militärdiktatur nach 1964 galten in Brasilien zwei parallele Rechtsordnungen, einerseits die Verfassungen von 1946 und von 1967 und andererseits die „Institutionellen Akte“. Letztere waren von der Exekutive oktroyierte normative Akte mit Verfassungsrang, die Derogationskraft bis hinein in die individuellen Freiheiten und die politischen Rechte besaßen.

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cherheit: „Zu seinen wichtigsten Bestimmungen gehören die Stärkung der in der Union zentralisierten Macht und in der Figur des Präsidenten der Republik; die indirekte Wahl des Präsidenten der Republik; die Einschränkung der individuellen Autonomie, die die Aussetzung von Rechten und Verfassungsgarantien erlaubte; die Verabschiedung von Gesetzen für die Dauer der autoritären Periode des neuen brasilianischen Staates; das Vorrecht des Präsidenten der Republik, Dekrete über die nationale Sicherheit und die öffentlichen Finanzen zu erlassen […].“ Ab Ende 1968, mit der Veröffentlichung der Institutionellen Akts Nr. 5 (AI-5), verschärfte sich die Diktatur. In diesem Sinne schrieb der AI-5 vom 13. Dezember 1968 vor: „Art. 1 – Die Verfassung von 24. Januar 1967 und die Länderverfassungen bleiben mit den in diesem Institutionellen Akt enthaltenen Änderungen in Kraft; Art. 2 – Der Präsident der Republik darf im Laufe der Notverordnung durch komplementäre Akte die Aussetzung der Legislativgewalt des Bundes, der Länder und der Kommunen anordnen […]; Art. 4 – Im Interesse der Erhaltung der Revolution darf der Präsident der Republik, nachdem der Nationale Sicherheitsrat gehört wurde, und ohne dass die in der Verfassung erhaltenen Grenzen beachtet werden müssen, die politischen Rechte aller Bürger für 10 Jahre suspendieren und die Mandate der Politiker des Bundes, der Länder und der Kommunen für unwirksam erklären […]; Art. 10 – Die Garantie des habeas corpus wird im Fall der politischen Straftaten, der Akte gegen die nationale Sicherheit, gegen die ökonomische und soziale Ordnung und die Volkswirtschaft suspendiert; Art. 11 – Alle Handlungen, die in diesem institutionellen und dem komplementären Akt reguliert werden und ihre jeweiligen Effekte, dürfen nicht in der Judikative diskutiert werden.“ Auf der Grundlage von Art. 2, § 1 des Institutionellen Akts Nr. 5 änderte die Militärregierung nach der Schließung des Nationalkongresses die Verfassung von 1967 durch die Verfassungsänderung Nr. 1 radikal ab, wodurch der Exekutive noch mehr autoritäre Befugnisse übertragen wurden. Mit dieser Änderung wurde nicht nur der gesamte Text der Verfassung von 1967 neu redigiert, sondern auch die Institutionellen Akte in ihren Text aufgenommen.31 Es gibt Autoren, die sie angesichts ihrer Reichweite und der Rolle, die sie bei der Stärkung des Regimes 31

„Art. 181. Die vom Obersten Kommando der Revolution vom 31. März 1964 ausgeübten Handlungen werden gebilligt und von der gerichtlichen Überprüfung ausgeschlossen  – wie ebenfalls: I – die Handlungen der Bundesregierung auf der Grundlage der Organgesetze und der Ergänzungsgesetze und deren Wirkungen, sowie alle Handlungen der Militärminister und deren Wirkungen, wenn sie sich in der vorübergehenden Ausübung der Präsidentschaft der Republik befinden, auf der Grundlage des Organgesetzes Nr. 12 vom 31. August 1969; II – Entschließungen auf der Grundlage von Organgesetzen von gesetzgebenden Versammlungen und Gemeinderäten, die Wahlmandate widerrufen oder erklärt haben, dass Gouverneure, Abgeordnete, Bürgermeister und Gemeinderäte an der Ausübung der genannten Ämter verhindert sind; und III – Rechtsakte legislativer Art, die auf der Grundlage der in Punkt I. genannten Organgesetze und Ergänzungsgesetze erlassen wurden. Art. 182. Das Organgesetz Nr. 5 vom 13. Dezember 1968 und die anderen später erlassenen Gesetze bleiben in Kraft. Einziger Absatz. Der Präsident der Republik kann nach Rücksprache mit dem Nationalen Sicherheitsrat die Aufhebung eines dieser Gesetze oder von Bestimmungen, die als unnötig erachtet werden, anordnen.“

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gespielt hat, sogar von einer neuen Verfassung sprechen.32 In der Tat ist dieser Zeitraum gekennzeichnet durch eine Zunahme politischer Gefangener, die Praxis der Folter, Morde, „gewaltsames Verschwindenlassen“ und andere Gräueltaten. Das autoritäre Regime dauerte bis Ende 1985, nach dem Ende der so genannten schrittweisen politischen Öffnung, die bereits 1974 durch Zugeständnisse der Regierung selbst begonnen hatte. 1984 gab es einen starken Druck des Volkes für Direktwahlen. Es gab einen Versuch einer Verfassungsänderung, Wahlen in diesem Sinne durchzuführen, der von der Legislative abgelehnt wurde. Im Januar 1985 gab es eine indirekte Wahl für die Präsidentschaft der Republik, die von einem Wahlkollegium aus Mitgliedern einiger politischer Parteien abgehalten wurde. Im Juni 1985 schickte der damalige Staatspräsident einen Vorschlag für eine Verfassungsänderung an den Nationalkongress, in dem eine Verfassungsgebende Versammlung gefordert wurde, die durch die Verfassungsänderung Nr. 26 vom 27. November 1985 einberufen wird. Nach fast eineinhalbjähriger Vorbereitung des Verfassungsentwurfs beginnt am 1. Februar 1987 die Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit. Am 5. Oktober 1988 wurde schließlich der Text der aktuellen brasilianischen Verfassung verkündet, was eine neue Phase der Re-Demokratisierung des Landes einleitete.

II. Die brasilianische Verfassung von 1988: wichtige Merkmale Die brasilianische Verfassung von 1988 enthält Merkmale, die sie gleichzeitig dem deutschen Konstitutionalismus33 der Nachkriegszeit34 annähert und davon distanziert. Grob gesagt bestehen die Ähnlichkeiten darin, dass sowohl die brasilianische Verfassung als auch das GG Grundrechtskataloge haben, die die drei Staatsgewalten binden; beide Verfassungen verankern das demokratische und das republikanische Prinzip und adoptieren das Modell des Sozialstaates; beide enthalten zudem ein Verfassungsgerichtsbarkeitssystem, das die Idee des Vorrangs der Verfassung voraussetzt. Anders als das GG schreibt die brasilianische Verfassung jedoch ein präsidiales Regierungssystem vor (Art. 76 bis 86). Es gibt darüber hinaus Unterschiede in Bezug auf die Art und Weise der Positivierung der Grundrechte und der Sozialstaatsklausel, sowie Besonderheiten bei der Normenkontrolle. Die brasilianische Verfassung positiviert beispielsweise ausdrücklich soziale Grund 32

José Afonso da Silva, Curso de Direito Constitucional, S. 87. Wird hier als Modus des Verständnisses der Verfassung und des Verfassungsrechts gesehen. 34 Um ein angemessenes Verständnis des brasilianischen Konstitutionalismus zu erreichen, wäre eine tiefgreifende Untersuchung der Tradition der Verfassungen und des Verfassungsrechts Brasiliens empfehlenswert, also der Verfassungen von 1824, 1891, 1934, 1946, 1967 und schließlich der Verfassung von 1988. Diese Überlegungen können hier nicht angestellt werden. Eingehend dazu siehe Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 35–70. 33

II. Die brasilianische Verfassung von 1988

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rechte und ermöglicht die konkrete und die abstrakte Verfassungsgerichtsbarkeit gegen Unterlassungen des Gesetzgebers und der Exekutive. Abgesehen von den positivrechtlichen Eigenschaften sind außerdem die faktischen Besonderheiten zu erwähnen, die die zwei Arten von Konstitutionalismus unterscheiden. Unbeschadet der Unterschiede ist der Einfluss des deutschen Konstitutionalismus auf den brasilianischen prinzipiell anerkannt.35 Wichtig zu erwähnen ist in dieser Hinsicht die umfassende Rezeption der weltbekannten Prinzipientheorie von Alexy in Brasilien, nicht nur im akademischen Bereich,36 wie zum Beispiel auf rechtstheoretischem Gebiet und vor allem in der Grundrechtsdogmatik, sondern auch teilweise37 in der Praxis. Derartige Einflüsse sind ebenso in der Dogmatik der sozialen Grundrechte deutlich sichtbar. 35 Krell, Direitos sociais e controle judicial no Brasil e na Alemanha. Os (des)caminhos de um direito constitucional comparado [Soziale Rechte und gerichtliche Kontrolle in Brasilien und Deutschland. Die Wege und Umwege eines vergleichenden Verfassungsrechts – Übersetzung vom Autor der vorliegenden Arbeit], Porto Alegre: Fabris, 2002, S. 43. Dazu vgl. auch Barroso, Neoconstitucionalismo e constitucionalização do direito. O triunfo tardio do direito constitucional no Brasil [Neokonstitutionalismus und Konstitutionalisierung des Rechts. Der späte Triumph des Verfassungsrechts in Brasilien] in: Revista de Direito Administrativo. Rio de Janeiro, 240: 2005, S. 3. Es ist möglich, über einen direkten und einen indirekten Einfluss des deutschen Konstitutionalismus zu sprechen. Der indirekte Einfluss folgt aus dem Dialog zwischen dem brasilianischen Konstitutionalismus der achtziger Jahre und den portugiesischen und spanischen Konstitutionalismen der siebziger Jahre, die ihrerseits deutlich vom deutschen Konstitutionalismus der Nachkriegszeit beeinflusst wurden. 36 Dazu noch unten, C. II. 1. d), e). 37 Hier wird von einer „partiellen“ Rezeption in der Praxis gesprochen, weil in der Tat die Begründungen der Entscheidungen in Brasilien, die eventuell das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder die Methode der Abwägung benutzen, dem theoretischen Konstrukt Alexys in der Regel nicht entsprechen. Mit anderen Worten, wenn beim Gericht in Brasilien von Prinzipien oder Abwägungen die Rede ist, wird das gesamte theoretische Paket Alexys nicht konsequent eingebracht. In diesem Sinne, vgl. Morais, Ponderação e arbitrariedade: A inadequada recepção de Alexy pelo STF [Abwägung und Willkür: Die unzureichende Aufnahme von Alexy durch den STF], Salvador: Podium, 2006, S. 121 ff. Der Autor analysierte 189 Entscheidungen des STF („Supremo Tribunal Federal“ – „Der Oberste Bundesgerichtshof“. In Brasilien fungiert er gleichzeitig als höchstes Organ der Justiz, das am Vorbild des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) der USA und dem der europäischen Verfassungsgerichte ausgerichtet wurde. In letzterem Aspekt ist er hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung der Verfassung und für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar. Der brasilianische Verfassungstext etabliert den STF als „Hüter der Verfassung“ (Art. 102 der brasilianischen Verfassung) (im Zeitraum von 10 Jahren erlassen), in denen die Abwägung verwendet wurde. Daraus zog er den Schluss, dass die Alexysche Abwägungs- bzw. Prinzipienlehre in der brasilianischen Rechtsprechung tatsächlich nicht korrekt rezipiert wurde, dass also die praktische Anwendung der Theorie mit derselben nicht korrespondiert. Die vorliegende Arbeit beabsichtigt nicht, sich hier an dieser Diskussion zu beteiligen. Das hier verfolgte Ziel ist anderer Natur. Wie schon erwähnt, wird in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen werden, dass  – unbeschadet der eventuellen (Mängel an) Korrespondenz zwischen dem Alexyschen theoretischen Modell und der Praxis – die Rezeption der Prinzipientheorie selbst unangemessen ist. Vor allem hinsichtlich der Dogmatik der sozialen Grundrechte sollte die Prinzipientheorie nicht ohne weiteres angewendet werden.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Im Vordergrund der hier anzustellenden Überlegungen steht die Frage, ob diese Rezeption adäquat für die Interpretation und die Anwendung der brasilianischen Verfassung im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen ist, wenn man die Partikularitäten deren Positivierung im Vergleich zum GG ernst nimmt. Es wird daher im Folgenden versucht zu zeigen, dass die Antwort auf diese Frage eine verneinende sein soll, nicht allein wegen rechtstheoretischer, rechtsmethodologischer und rechtsdogmatischer Probleme der Theorie selbst, sondern auch genau wegen der soeben zitierten Unterschiede zwischen beiden Verfassungsordnungen. Um diese Hypothese zu rechtfertigen, sind daher zunächst die Merkmale der brasilianischen Verfassung zu betrachten, die den Unterschied zwischen ihr und dem GG erläutern (Item I), wie z. B. die Art und Weise der Positivierung des Sozialstaatsklausel und der sozialen Grundrechte (subitem 1). In diesem Zusammenhang wird die Rezeption der Theorie der Grundrechte bzw. der Prinzipientheorie Alexys näher betrachtet werden (subitem 2); danach sollen einige Eigenschaften der brasilianischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen und in ihrer Relation zu den sozialen Grundrechten im Besonderen untersucht werden (subitem 3); und schließlich befasst sich diese Untersuchung mit der Kernfrage der (Un-)Geeignetheit der Rezeption der Prinzipientheorie als dogmatisches Modell für die sozialen Grundrechte in Brasilien (Item II).

1. Die Positivierung sozialer Grundrechte in der Verfassung: faktische und normative Probleme a) Der Unterschied zwischen dem in der Verfassung idealisierten Sozialprojekt und der Realität Wenn man die in der brasilianischen Verfassung von 1988 enthaltenen Normen, die sich mit dem Sozialstaat beschäftigen, genau anschaut und zugleich die Realität in Brasilien kennt, erkennt man gezwungenermaßen eine große Differenz. Trotz der Verfassungsversprechen lebt ein großer Teil der brasilianischen Bevölkerung in extremer Armut, ohne minimalste Bedingungen für ein angemessen gutes Leben (Existenzminimum).38 Aus diesem Grund dreht sich die akademische Diskussion seit 1988 um die Möglichkeiten und Grenzen der Verwirklichung des in der Verfassung entworfenen Sozialprojekts. Die Wirksamkeit der Verfassungsversprechen im sozialen Bereich stieß vom Anfang an an ihre Grenzen – einerseits bedingt durch die für Entwicklungsländer typische Ressourcenknappheit und andererseits durch eine Tradition, in der die Idee des Verfassungsvorrangs nicht konsolidiert war. Erwähnenswert sind in diesem Kontext die zwei brasilianischen Diktaturen des 38

2017 wurde Brasilien z. B. auf dem 79. Platz des Indexes der menschlichen Entwicklung (HDI) der Vereinten Nationen eingestuft. (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen  (UNDP)). Vgl. dazu http://www.bmz.de / de / ministerium / wege / multilaterale_ez / akteure /  uno / undp / index.html.

II. Die brasilianische Verfassung von 1988

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20. Jahrhunderts, in denen gültige Verfassungen mit individuellen und politischen Rechten und Garantien bestanden (die Diktatur von 1937 bis 1945, Gültigkeitsdauer der Verfassungen von 1934 und 1937, und die Diktatur von 1964 bis 1985, Gültigkeitsdauer der Verfassungen von 1946 und 1967), die in der Praxis jedoch keinerlei Hindernisse für die jeweilige Regierung bedeuteten. Wie schon erwähnt, regierte die Exekutive in beiden Perioden durch normative Akte, die Veränderungsbzw. sogar Derogationskraft der Verfassungsvorschriften hatten, inklusive des Bereichs der individuellen Freiheiten, was im täglichen Leben staatliche Akte gegen diese Rechte und Garantien ermöglichte. Diese Verfassungen wurden in ihrer klassischen Funktion der Begrenzung der Staatstätigkeit eher als politische Orientierung denn als juristische Normen verstanden. Die Abwesenheit der Normativität war noch deutlicher in Bezug auf den Leistungsstaat.39 Das in der brasilianischen Verfassung von 1988 neu gestaltete Sozialprojekt bleibt bis heute partiell unverwirklicht, denn das vom Verfassungsgeber vorgestellte gesellschaftliche und staatliche Modell ist in vieler Hinsicht eher Anspruch als Wirklichkeit. Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die Ursachen dieses Phänomens zu untersuchen, sondern hier soll es nur um die Frage gehen, in welchem Umfang diese Problematik – mit speziellem Bezug auf die sozialen Grundrechte – mit der Rezeption der Prinzipientheorie von Alexy zusammenhängt. Es ist nicht selten, in der rechtswissenschaftlichen Literatur etwa das Argument zu finden, dass die theoretische Tradition in Brasilien hinsichtlich des Verfassungsrechts zur Unwirksamkeit der sozialen Grundrechte beitrage. Die Rezeption der Prinzipientheorie könnte helfen, diesen Mangel an Normativität der Verfassung zumindest partiell zu ändern.40 b) Die diffuse Positivierung der Sozialstaatsklausel und der vielfältigen Staatsaufträge: Der „programmatische Charakter“ der Verfassung Im Unterschied zum GG, schreibt die brasilianische Verfassung die Klausel des Sozialstaates nicht ausdrücklich vor, schon gar nicht als Ewigkeitsklausel. Unabhängig davon gibt es aber zahlreiche Verfassungsbestimmungen in Form von Verfassungsaufträgen, die darauf schließen lassen, dass der Verfassungsgeber dieses Staatsmodell im Auge und bewusst gewählt hat.41 Insbesondere zu nennen ist beispielsweise Art. 3 (Titel I – Die Grundprinzipien): „Artikel 3. Fundamentale Ziele der Föderativen Republik Brasilien sind: I. Errichtung einer freien, ge 39 Bezüglich der Verfassungen von 1824, 1891, 1934, 1937 und 1946, vgl. Lucas, Conteúdo social das constituições brasileiras [Sozialer Inhalt der brasilianischen Verfassungen], Belo Horizonte: 1959. 40 Dazu noch weiter unten C. II. 1. d) bb). 41 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 62.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

rechten und solidarischen Gesellschaft; II. Sicherung der nationalen Entwicklung; III. Bekämpfung von Armut und Marginalisierung, sowie die Beseitigung der sozialen und regionalen Ungleichheiten; IV. Förderung des Wohls aller Menschen, ohne Vorurteile hinsichtlich Herkunft, Rasse, Geschlecht, Hautfarbe, Alter oder irgendeiner anderen Form von Diskriminierung.“ Die Verfassung beinhaltet zudem einen umfangreichen Abschnitt (título) zur „Sozialordnung“ (Abschnitt VIII – Art. 193 bis 232), gegliedert in acht Kapitel: Kapitel I  – Allgemeiner Grundsatz, Kapitel II – Die Sozialfürsorge (Gesundheit, Sozialversicherung, Sozialhilfe – Art. 194 bis 204), Kapitel III – Bildung, Kultur und Sport (Art. 205 bis 217), Kapitel IV – Wissenschaft und Technologie (Art. 218 bis 219-B), Kapitel V – Soziale Kommunikation (Art. 220 bis 224), Kapitel VI – Umwelt (Art. 225), Kapitel VII – Familie, Kinder, Jugendliche, Heranwachsende und Alter (Art. 226 bis 230), Kapitel VIII – Indigene (Art. 231 bis 232). Bezüglich der Gesundheit legt die Verfassung fest: „Artikel 196. Gesundheit ist ein Recht aller und eine Pflicht des Staates, die durch eine Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet wird, die darauf abzielt, das Risiko von Krankheit und anderen Schädigungen zu verringern und einen universellen und gleichberechtigten Zugang zu Maßnahmen und Dienstleistungen zu ihrer Förderung, ihrem Schutz und ihrer Wiederherstellung zu gewährleisten.“ Hinsichtlich des Rechts auf Sozialversicherung sieht die Verfassung Folgendes vor: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf: I. Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen, einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten; II. Beihilfe zum Unterhalt für abhängige Angehörige des Versicherten mit geringem Einkommen; III. Schutz der Mutterschaft, insbesondere der schwangeren Frau; IV. Schutz des unfreiwillig arbeitslosen Arbeitnehmers; V. Zahlung einer Todesfallrente an den / die Ehepartner / in des oder der verstorbenen Versicherten, oder an unterhaltsberechtigte Personen, unter Beachtung der Bestimmungen von § 5 und Art. 202.“ Was die Sozialhilfe anbelangt, sieht die Verfassung vor: „Artikel 203. Sozialhilfe wird unabhängig von den Sozialversicherungsbeiträgen denjenigen gewährt, die sie benötigen, und hat folgende Ziele: I. der Schutz der Familie, der Mutterschaft, der Kindheit, der Adoleszenz und des Alters; II. die Unterstützung bedürftiger Kinder und Jugendlicher; III. die Förderung der Integration in den Arbeitsmarkt; IV. die Qualifizierung und Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen und die Förderung ihrer Integration in das Gemeinschaftsleben; V. die Garantie eines monatlichen Mindestleistungslohns für Behinderte und ältere Menschen, die nachweisen können, dass sie nicht über die Mittel verfügen, selbst für ihren Unterhalt zu sorgen oder ihn von ihrer Familie bestreiten zu lassen. Die Leistungen erfolgen nach Maßgabe von Gesetzen.“ Auf der Grundlage des zuvor Gesagten kann der Schluss gezogen werden, dass die Textualität der brasilianischen Verfassung in Bezug auf die Gestaltung des Sozialstaates sich eher der Weimarer Verfassung als dem GG annähert. Ein gutes Beispiel dafür bietet – mit Blick auf das Recht auf Sozialversicherung – Artikel 161

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der Weimarer Verfassung: „Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“42 Ausgehend vom Dargestellten sind die dogmatisch-theoretischen Probleme, die die semantische und strukturelle Offenheit – um wieder mit Alexy zu sprechen – der brasilianischen Verfassungsbestimmungen betreffen, die sich mit der sozialen Frage beschäftigen, anderer Natur als die Sozialstaatsklausel im GG.43 Die brasilianische Verfassung enthält zu diesem Themenbereich wesentlich detailliertere Anweisungen, die ebenfalls im Bereich der (sozialen) Grundrechte zu finden sind. Die hier erhobene These lautet also, dass unterschiedliche Arten von Positivierung der Sozialstaatsklausel unterschiedliche und spezifische Interpretationsfragen stellen. Die Regulierungsdichte spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle.44 Demzufolge ist eine Theorie, die sich mit einer Art von Positivierung und deren Interpretationsproblemen beschäftigt, nicht notwendigerweise für jede Art und die jeweiligen Fragen adäquat. Was in einer Verfassung ganz offen bleibt (z. B. im GG), kann in einer anderen Verfassung (z. B. in der brasilianischen Verfassung) in gewissem Sinn schon entschieden worden sein. Das gilt wiederum auch für die sozialen Grundrechte. c) Der Katalog der Grundrechte und die Verankerung sozialer Rechte in der Verfassung Die brasilianische Verfassung enthält einen umfangreichen Grundrechtskatalog (Abschnitt II – Grundrechte und -garantien), der nicht nur die individuellen und kollektiven Rechte (Kapitel I – Art. 5, mit 78 Unterteilungen („incisos“), sondern auch die sozialen Grundrechte (Kapitel II – Art. 6 bis 11), die Nationalität / Staatsangehörigkeit (Kapitel III – Art. 12 und 13) und die staatsbürgerlichen / politischen Rechte (Kapitel IV – Art. 14 bis 16) umfasst. Ähnlich wie beim GG sind die Grundrechte und -garantien unmittelbar anwendbare Normen und demzufolge verbinden sie die drei Gewalten: „Art. 5, § 1. Die definitorischen Grundrechtsnormen und -garantien werden unmittelbar angewandt.“ Im Gegensatz zum GG positivierte die brasilianische Verfassung ausdrücklich soziale Rechte als Grundrechte. Artikel 6 42 Siehe das soeben zitierte Recht auf Sozialversicherung in der brasilianischen Verfassung (Art. 201). 43 Dazu siehe Kingreen: „Das Sozialstaatsprinzip wird anders als die übrigen in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen Staatszielbestimmungen bisweilen mit einem Fragezeichen versehen. „Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?“, haben namhafte Verfassungs- und Sozialrechtler sich und ihre Leser immer wieder gefragt. […] So lässt sich auch nach über 50 Jahren Grundgesetz mit einer gewissen Berechtigung räsonieren, dass das Sozialstaatsprinzip eine letztlich „unbewältigte Staatsgrundnorm“ geblieben ist.“ Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, S. 15–16. 44 Dieser Punkt wird im dritten Kapitel weiter präzisiert werden, S. u. D. II. 3. a).

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schreibt z. B. vor: „Soziale Rechte nach dieser Verfassung sind die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Nahrung, Arbeit, Wohnung, Freizeit, Sicherheit, Sozialversicherung, Schutz von Mutterschaft und Kindheit, Hilfe für besonders Bedürftige.“ Artikel 7 sieht darüber hinaus eine Reihe von Arbeitsrechten vor.45 Erwähnenswert sind auch die oben zitierten Bestimmungen zur „Sozialordnung“, die sich u. a. mit den Rechten auf Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe befassen (Art. 196, 201 und 203). Infolge dieser ausdrücklichen Positivierung sozialer Grundrechte und vielfälti­ ger themenbezogener Verfassungsaufträge ist seit 1988 einer der umstrittenen Punkt in der verfassungsrechtswissenschaftlichen Diskussion die Frage danach, ob und inwiefern die drei Staatsgewalten an diese Normen gebunden sind und in welchem Umfang. Sofern das zu bejahen ist, muss noch geklärt werden, ob aus diesen Normen subjektive Grundrechte – also justiziable Rechte – hervorgehen. d) Die Notwendigkeit, die Normativität der Verfassung gegen alte Traditionen zu stärken Ein erster Schritt in diese Richtung war der Versuch, die Idee des Vorrangs der Verfassung in Theorie und Praxis zu stärken.46 Um das zu erreichen, versuchte die Literatur, jenseits einer Rettung der brasilianischen Tradition, die diese Auffassung im theoretischen Feld seit Langem verteidigte,47 einen Dialog mit dem europä­ ischen48 sowie dem US-amerikanischen Konstitutionalismus, in denen dieses Ideal 45

Dazu noch weiter unten. Zu nennen sind Autoren wie Barroso, Bonavides, Clémerson Cléve, Paulo Schier. Speziell zur Grundrechtsdogmatik stellt V. A. Silva fest, dass „das brasilianische Verfassungsrecht, vor allem vor der Verfassung 1988, immer ein Verfassungsrecht der Staatsorganisation, der Gewaltengliederung, und weniger ein Verfassungsrecht der Grundrechte war.“ Virgílio Afonso da Silva, O conteúdo essencial dos direitos fundamentais e a eficácia das normas constitucionais [Der wesentliche Gehalt der Grundrechte und die Wirksamkeit der Verfassungsnormen], in: Revista Direito do Estado 4, 2006, S. 28. (Hervorhebung im Original). (Übersetzung von P. M.). In ähnlichem Sinn behauptet F. Müller, der das brasilianische Recht von Grund auf kennt: „Das demokratische Grundgesetz Brasiliens von 1988 hatte mit einer langen Tradition von lateinamerikanischem Verfassungsnominalismus zu brechen.“ Müller, Syntagma, Berlin: Duncker & ​ Humblot, 2012, S. 110. 47 Es ist interessant festzuhalten, dass die wissenschaftliche Diskussion nach 1988 im Bereich des Verfassungsrechts eher die ausländische Literatur zum Gegenstand hatte – und bis heute hat – als die brasilianische, obwohl auch in Brasilien eine starke Tradition der Verteidigung des Verfassungsvorrangs schon seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu finden ist. Der zeitgenössische brasilianische Konstitutionalismus wurde eher von anderen Erfahrungen als von seiner eigenen beeinflusst. 48 Über das Studium des Verfassungsrechts Deutschlands in den brasilianischen juristischen Fakultäten, vgl. Krell, Direitos sociais e controle judicial no Brasil e na Alemanha [Soziale Rechte und gerichtliche Kontrolle in Brasilien und Deutschland], S. 13. Die Arbeiten von ­Konrad Hesse, Peter Häberle, Friedrich Müller und nicht zuletzt Alexy spielten bspw. in diesem Kontext eine wichtige Rolle. 46

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seit langem konsolidiert ist. Dieser Dialog fand vor allem hinsichtlich des Verfassungsbegriffs, der Idee der normativen Kraft der Verfassung, der Theorie der (Verfassungs-)Normen, der Methodenlehre, der Grundrechtsdogmatik im Allgemeinen und der Dogmatik der sozialen Grundrechte im Besonderen und nicht zuletzt in Bezug auf die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit statt. Hier ist die Problematik der Anwendbarkeit der Verfassungsnormen von großem Interesse, vorwiegend derer, die die positiven Leistungen des Staates zum Gegenstand haben. aa) Die Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“49 als herrschendes dogmatisches Modell Die brasilianische Tradition hinsichtlich der Theorie der Verfassungsnormen wurde durch die US-amerikanische Unterscheidung zwischen Normen, die „selfexecuting“ oder „not self-executing“ sind, geprägt.50 Die „not self-executing“ Verfassungsnormen sind demnach Normen, deren volle Anwendbarkeit von einer infrakonstitutionellen Gesetzgebung abhängig ist. Sie finden also keine unmittelbare Anwendung auf Rechtsverhältnisse.51 Gewisse Verfassungsnormen wurden im Laufe der Zeit – wie auch in der Weimarer Zeit in Deutschland –, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis und auch von denen, die den Vorrang der Verfassung verteidigten, als programmatische Schriften verstanden, also als Normen, die den staatlichen Organen keine rechtlichen Pflichten auferlegen. 1968 erschien das Buch „Die Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“ von José Afonso da Silva, das in Bezug auf die brasilianische Verfassung von 1946 verfasst wurde und sich mit dem italienischen Konstitutionalismus intensiv auseinandersetze, der sich seinerseits damals sehr mit dieser Problematik beschäftigte.52 Er schlug eine neue Klas 49

José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais [„Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“], 6. ed. [6. Aufl.] São Paulo: Malheiros, 2002. José Afonso da Silva verwendet den Ausdruck „Verfassungsnormen“ als Synonym für „Verfassungsbestimmungen“, oder wie Friedrich Müller bevorzugt, „Verfassungstexten“. 50 Barbosa, A Constituição e os actos inconstitucionaes do Congresso e do Executivo ante a Justiça Federal [Die Verfassung und die verfassungswidrigen Akte des Kongresses und der Exekutive vor der Judikative], 2. Auflage, Rio de Janeiro: Atlantida, 1892. Im deutschen Sprachraum vgl. dazu Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 156 ff. 51 José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 66. 52 Unmittelbar nach dem Inkrafttreten der italienischen Verfassung am 1. Januar 1948 (sie wurde am 27. Dezember 1947 veröffentlicht) wurden in Italien richterliche Entscheidungen getroffen, die manche Verfassungsnormen für unverbindlich in Bezug auf Normen hielten, die vom autoritären Regime Mussolinis übernommen worden waren. Die neuen Verfassungsnormen hätten also keine Derogationskraft hinsichtlich der Normen, die vom autoritären Staat kamen. In die Literatur wurden solche Entscheidungen heftig kritisiert und die Frage nach der Rolle der neuen Verfassungsnormen wurde dann im theoretischen Bereich thematisiert. Hinsichtlich der Klassifizierung dieser Verfassungsnormen bestand ein gewisser Konsens und sie wurden wie folgt eingeteilt: „a) direktive bzw. programmatische Normen, deren spezieller Adressat der Gesetzgeber war; b) obligatorische Normen, also direkt anwendbare Normen; c) obligatorische,

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sifizierung der Verfassungsnormen vor, die von der Voraussetzung geleitet ist, dass es keine Norm ohne rechtliche Verbindlichkeit und Wirksamkeit in der Verfassung gibt, was zu diesem Zeitpunkt ein Avantgardevorstellung war. Diese Auffassung bedeutete einen klaren Bruch mit dem herkömmlichen Dualismus zwischen „selfexecuting“ und „not self-executing“-Normen.53 José Afonso da Silva gab jedoch zu, dass der Wirkungsgrad der verschiedenen Normen variieren kann, oder anders ausgedrückt, dass manche Normen von einer zukünftigen Regulierung abhängig sind, um ihre volle Wirkungskraft entfalten zu können.54 José Afonso da Silva unterteilte die Verfassungsnormen gemäß ihrer Anwendbarkeit in: „Verfassungsnormen mit voller Wirksamkeit“; „Verfassungsnormen mit einschränkbarer Wirksamkeit“ und „Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“.55 Außerdem unterteilt der Autor die Verfassungs­ normen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit in zwei Normgruppen: „die organisatorischen Grundsätze“ und die „programmatischen Grundsätze.“56 aber nicht direkt anwendbare Normen.“ Erstere hätten keine rechtliche Natur, sie wurden also eher als politische Richtung verstanden und sie verwirkten die Ungültigkeit anderer Normen nicht. Letztere seien von der infrakonstitutionellen Regulierung abhängig, aber sie könnten die Verfassungswidrigkeit der Normen begründen, die mit ihr nicht vereinbar seien. José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais [Anwendbarkeit der Verfassungsnormen], São Paulo: RT, 1968, S. 74. 53 Sarlet zitiert José Horácio Meirelles Teixeira als Vorläufer dieser Kritik in Brasilien: „Es war José Horácio Meirelles Teixeira, der als einer der schärfsten Kritiker des klassischen amerikanischen Konzepts, im brasilianischen Verfassungsrecht die erste bekannte Alternative zu dieser bereits teilweise überholten Lehre entwickelt hat. Sein Werk wurde erst fast 20 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht und deshalb in den nachfolgenden Formulierungen […] leider nicht berücksichtigt, obwohl er ihnen in verschiedenen Aspekten im voraus war und sie in anderen sogar übertroffen hat. Wie oben schon angedeutet, basierte seine Ansicht hauptsächlich auf der Lehre des italienischen Verfassungsrechtlers Vezio Crisafulli, der sich intensiv mit der Problematik der programmatischen Normen in der italienischen Verfassung von 1947 befasste und zu dem Ergebnis kam, dass alle Bestimmungen der Verfassung mehr oder weniger unmittelbare rechtliche Wirksamkeit entfalten können, so dass die Wirksamkeit der Verfassungsnormen immer zwischen einem Minimum und Maximum schwankt. In Berücksichtigung dieser Gedanken hat J. H. Meirelles Teixeira eine Einteilung der Verfassungsnormen in zwei Gruppen vorgeschlagen, nämlich Normen mit vollständiger Wirksamkeit und Normen mit beschränkter Wirksamkeit […].“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 161. 54 José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 75. 55 Silva versteht Wirksamkeit und Anwendbarkeit als zwei verschiedene Seiten desselben Phänomens. José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 51. (1. Ausgabe). 56 José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 76–78. Es gibt in Brasilien weitere Abgrenzungsversuche, deren Wichtigkeit hier auf keinen Fall negiert wird. Zu nennen sind bspw. die Vorschläge von Celson Antonio Bandeira de Mello, Maria Helena Diniz, Luis Roberto Barroso, u. a. Bandeira de Mello, A eficácia das normas constitucionais e direitos sociais [Die Wirksamkeit von Verfassungsnormen und sozialen Rechten], São Paulo: Malheiros, 2015; Diniz, Norma constitucional e seus efeitos, (Die Verfassungsnorm und ihre Effekte] São Paulo: Saraiva, 1989; Barroso, O direito constitucional e a efetividade de suas normas [Das Verfassungsrecht und die Wirksamkeit dessen Normen] 9. Aufl. Rio de Janeiro: Renovar, 2009. Ausführlich dazu, Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Ver-

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Die Verfassungsnormen mit voller Wirksamkeit sind nach ihm direkt anwendbar, sie können also nach dem Inkrafttreten der Verfassung alle ihre wesentlichen rechtlichen Folgen entfalten. Die Verfassungsnormen mit einschränkbarer Wirksamkeit sind gleichermaßen direkt anwendbar, aber sie müssen vom Gesetzgeber näher geregelt und eingeschränkt werden. Die Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit erhalten ihre vollkommene Anwendbarkeit nur durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung oder anders gesagt, sie dürfen nur mittelbar angewendet werden. Diese letzteren Normen enthalten jedoch auch einen bestimmten Grad an Wirksamkeit unabhängig von ihrer infrakonstitutioneller Regulierung, da sie a) dem Gesetzgeber eine Pflicht auferlegen; b) den negativen Effekt haben, die Verfassungswidrigkeit der ihnen widersprechenden Normen zu verursachen; c) Richtlinien und Ziele für den Staat und die Gemeinschaftsorgane bestimmen; d) teleologische Richtung für die Interpretation des Rechts, die Rechtsfortbildung und die Rechtsanwendung konstituieren; e) das Ermessen der Judikative und der Verwaltung bedingen; f) subjektiv-rechtliche Situationen von Vorteilen und Nachteilen begründen.57 In diesem Zusammenhang können sie sogar direkt anwendbar sein, sofern es ihrem Wortlaut nach möglich ist, unmittelbare Folgen abzuleiten. Demzufolge besitzen sie nicht nur politischen Charakter, sondern auch rechtliche Verbindlichkeit. José Afonso da Silva ist jedoch der Meinung, dass es den programmatischen Normen ausschließlich möglich ist, negative Rechte (also Abwehrrechte) und nicht positive Rechte (Leistungsrechte) zu generieren.58 Dieses für die Verfassungsnormen anwendungsorientierte dogmatische Modell spielte nach dem Inkrafttreten der brasilianischen Verfassung von 1988 eine große Rolle,59 nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis. José Afonso fassung und im deutschen Grundgesetz, S. 161 ff. Sarlet selbst vertritt eine eigene Position in der Diskussion. Er unterteilt die Verfassungsnormen in zwei große Gruppen: die Verfassungsnormen mit starker normativer Dichte (starke normative Kraft) und die Verfassungsnormen mit schwacher normativer Dichte (schwache normative Kraft). „[…] Normen mit starker normativer Kraft wären solche, die vom Verfassungsgeber eine zur unmittelbaren Entfaltung ihrer vollen Wirksamkeit hinreichende normative Kraft erhalten haben und deshalb nicht von einer gesetzlichen Konkretisierung abhängen, während die Normen mit schwacher normativen Kraft gerade diejenigen sind, die – obwohl sie doch ein „Minimum“ an Wirksamkeit haben – ihre wichtigsten Rechtsfolgen erst nach einer Konkretisierung durch den Gesetzgeber entfalten können, da sie vom Verfassungsgeber nur eine geringe normative Kraft bekommen haben.“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 167. Abgesehen von den Unterschieden bestand in der Lehrmeinung ein gewisser Konsens im Hinblick auf die Erforderlichkeit von infrakonstitutioneller Regulierung mancher Normen, um ihre vollkommene Wirksamkeit bzw. Anwendbarkeit zu erlangen. Die Rezeption der Prinzipientheorie änderte jedoch in gewissem Maße diesen Zustand. Dazu weiter unten mehr. 57 José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 150. 58 José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, 163. 59 Ab der dritten Auflage 1998 arbeitet Silva mit der brasilianischen Verfassung von 1988. In der vorliegenden Arbeit wird die 6. Auflage von 2002 verwendet. José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais [„Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“] 6. ed. [6. Aufl.] São Paulo: Malheiros, 2002.

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da Silva selbst vertritt weiter seine theoretische Position bezüglich des leistungsrechtlichen Charakters der Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit. Seiner Meinung nach ist es nicht möglich, vor Gericht aufgrund von Programmsätzen eine positive Leistung vom Staat einzufordern.60 In Anbetracht des leistungsrechtlichen Aspektes ähneln sich demnach programmatische Normen und „not self-executing“-Normen. Die wissenschaftliche und die praktische Diskussion über den Gehalt der sozialen Grundrechte in Brasilien war und ist in gewissem Maße bis heute stark durch diese Problematik beeinflusst. bb) Die Rezeption der Prinzipientheorie und die „Überwindung“ der „Verfassungsschriften mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“ Die Prinzipientheorien, die von Dworkin im angelsächsischen und von Alexy im deutschen Kontext entwickelt wurden, sind seit Anfang der neunziger Jahre Gegenstand akademischer Forschung und Lehre in Brasilien.61 Eine Konsequenz dieser Rezeption besteht genau darin, den herkömmlichen theoretischen Dualismus zwischen „self-executing“ und „not self-executing“ Verfassungsschriften wieder in Frage zu stellen oder sogar aufzugeben, sowohl in Bezug auf die Verfassungsnormen im Allgemeinen, als auch im Blick auf die (sozialen) Grundrechte im Besonderen. Nach der Prinzipientheorie sind die Verfassungsnormen entweder Prinzipien oder Regeln. In beiden Fällen wird die Auffassung der von infrakonstitutioneller Gesetzgebung abhängigen Verfassungsschriften sinnlos sein, weil sowohl Prinzipien als auch Regeln Arten von Normen sind, die direkte (obgleich unterschiedliche) Auswirkungen auf die Rechtsverhältnisse evozieren. Es kann also gesagt werden, dass die Diskussion um die Prinzipientheorie nachgerade die Rolle der Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit ersetzt, nicht nur im wissenschaftlichen Raum, sondern auch in der

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José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 178. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Autoren wie Paulo Bonavides, Curso de direito constitucional [Kurs für Verfassungsrecht], 5. Auflage, São Paulo: Malheiros, 1994 und Grau, A ordem econômica na Constituição de 1988: interpretação e crítica [Die Wirtschaftsordnung in der Verfassung von 1988: Interpretation und Kritik], São Paulo: Revista dos Tribunais, 1996. Es ist praktisch unmöglich, die spätere Literatur zu diesem Thema vollständig aufzuführen. Daher wurden hier nur die bahnbrechenden Studien genannt. Erwähnenswert sind zudem wegen ihres konstruktiven Charakters die Schriften von Humberto Ávila, die einen kritischen Dialog mit der Theorie Alexys führen, obwohl der Autor den Dualismus zwischen Prinzipien und Regeln für eine theoretische Grundlage hält. Ávila, A distinção entre princípios e regras e a redefinição do dever de proporcionalidade [Die Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln und die Neudefinition der Pflicht zur Verhältnismäßigkeit], in: Revista Diálogo Jurídico, Salvador, CAJ, Centro de Atualização Jurídica, v. I, Nr. 4, Juli, 2001, Ávila, Teoria dos Princípios: da definição à aplicação dos princípios jurídicos [Theorie der Prinzipien: Von der Definition bis zur Anwendung von Rechtsprinzipien], 2. Auflage, São Paulo: Malheiros, 2003. 61

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Praxis. Die Theorie der Anwendbarkeit der Verfassungsnormen von José Afonso da Silvas wurde schrittweise durch die Prinzipientheorie von Alexy ersetzt. Wenn alle Normen entweder Prinzipien oder Regeln sind, braucht man keine andere Kategorie. Der Unterschied besteht ausschließlich in dem definiten oder prima-­ facie-Charakter der Normen und in der Art ihrer Anwendung. Die Programmsätze oder die Staatszielbestimmungen werden dann zu Prinzipien und demzufolge sollen sie progressiv angewendet werden.62 Diese „Überwindung“ der „Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“ beeinflusst unmittelbar die Diskussion über die sozialen Grundrechte.63 Seither wird bspw. die direkte (wenngleich progressive) Anwendung der Programmsätze auf Rechtsverhältnisse zwischen Leistungsstaat und Individuen, also ohne gesetzliche Vermittlung, als zulässig verstanden. e) Die sozialen Grundrechte in der wissenschaftlichen Diskussion Die dogmatische und theoretische Diskussion der Rolle der sozialen Grundrechte wird seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1988 u. a.64 durch das soeben erwähnte Problem der mittelbaren bzw. unmittelbaren Anwendbarkeit (Subjektivierung) der Verfassungsnormen geprägt. Grob kann gesagt werden, dass sich die Positionen in zwei extreme Varianten unterteilen lassen: auf der einen Seite die Autoren, die die sozialen Grundrechte als Programmsätze verstehen und demzufolge nur als mittelbare und auf keinen Fall vor Gericht anwendbare Normen und auf der anderen Seite diejenigen, die diese Normen als subjektive Rechte konzipieren, also als Verfassungsnormen, die dem Staat negative und positive Pflichten auferlegten, die vor Gericht in Gestalt von Abwehr- bzw. Leistungsrechten eingeklagt werden können. Darüber hinaus gibt es Autoren, die den Versuch unternehmen, einen Mittelweg zu finden. In diese Richtung stellt Virgílio Afonso da Silva fest: „Einerseits darf die Verankerung sozialer Grundrechte in der brasilianischen

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Dieser Einfluss der Prinzipientheorien Dworkins und Alexys ist nicht nur im Bereich der Dogmatik der Grundrechte wahrnehmbar, sondern auch in verfassungsrechtlichen, rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Diskussionen. Die von Alexy und Dreier verteidigte Dichotomie zwischen Legalismus und Konstitutionalismus findet in der brasilianischen Lehr­meinung eine starke Resonanz. In Brasilien werden diese zwei theoretischen Auffassungen durch die Begriffe Positivismus bzw. Legalismus einerseits und Neokonstitutionalismus andererseits dargestellt. 63 In der Tat ist es möglich, über einen wechselseitigen Einfluss zu sprechen, dass sich also die Problematik der sozialen Grundrechte direkt auf die Debatte über die Anwendbarkeit der Verfassungsnormen auswirkt. 64 Hier sind zu nennen: die Argumente der Gewaltenteilung; die Schwierigkeit der Individualisierung der positiven Leistungen; des Mangels an Kapazität seitens der Judikative, über gemeinsame bzw. kollektive Frage zu entscheiden; der Kosten der Rechte; der Vorbehalt der Möglichen, usw.

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Verfassung (oder in irgendeiner Verfassung) nicht als bloße ‚Verfassungslyrik‘ verstanden werden, das heißt, dass aus dieser Verankerung keine konkreten rechtlichen Konsequenzen folgen. Andererseits ist es nicht möglich […], dass soziale Rechte behandelt werden, als ob sie dieselbe Struktur wie die der sogenannten individuellen Rechte (politische und Bürgerrechte) hätten, also die Richter dürfen nicht die bereits in diesen Bereichen bestehende öffentliche Politik ignorieren und Medikamente, Gesundheitsbehandlungen oder Ausbildungs- und Schulplätze allen, die vor Gericht gehen, irrational und individuell zugestehen.“65 In diesem Kontext sind die Vorschläge von besonderer Bedeutung, die in Anlehnung an die Theorie der Grundrechte von Alexy eine Dogmatik der sozialen Grundrechte zu begründen beabsichtigen.66 aa) Die sogenannte „unmittelbare Anwendbarkeit“ der sozialen Grundrechte Die Verteidigung des subjektiven Charakters der sozialen Grundrechte basiert im Wesentlichen auf drei positivrechtlichen Argumenten: Zum einen wurden die sozialen Grundrechte, wie schon angedeutet, ausdrücklich in der jeweiligen Verfassung verankert; zum zweiten sieht die brasilianische Verfassung ihre unmittel­ bare Anwendbarkeit direkt vor: „Die definitorischen Grundrechtsnormen und -garantien werden unmittelbar angewandt.“ (Art. 5, § 1) und zum dritten schreibt die brasilianische Verfassung vor: „per Gesetz darf keine Rechtsverletzung oder -gefährdung von der Überprüfung durch die Judikative ausgeschlossen werden.“ (Art. 5, XXXV). Obwohl der programmatische Charakter des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte aufgrund dieses Verständnisses angeblich überwunden wurde,67 ist die Frage nach dem Umfang dieser unmittelbaren Anwendbarkeit noch nicht beantwortet. Anders gesagt: Es stellt sich weiterhin die Frage, 65 Virgílio Afonso da Silva, O Judiciário  e as políticas públicas: entre transformação social e obstáculo à realização dos direitos sociais [Justiz und öffentliche Politik: zwischen sozialer Transformation und dem Hindernis für die Verwirklichung sozialer Rechte], in: Souza Neto / Sarmento, Direitos Sociais: fundamentos, judicialização e direitos sociais em espécie [Soziale Rechte: Grundlagen, Justizialisierung und soziale Rechte im Besondern], Rio de Janeiro: Lumen Juris, 2008, S. 587. [Übersetzung vom Autor der vorliegenden Arbeit.] Der Ausdruck „Verfassungslyrik“ wurde zuerst von Alexy verwendet, in Alexy, Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaate, in: Aarnio / Alexy / Bergholtz (Hrsg.), Justice, Morality and Society: A Tribute to Aleksander Peczenik, Lund: Juristförlaget, 1997, S. 29. 66 Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, eine vollständige Bestandsaufnahme der bestehenden theoretischen Positionen vorzunehmen, sondern nur diejenigen hervorzuheben, die hochgeschätzt werden. 67 In diesem Sinne Ruy Ruben Ruschel, A eficácia dos direitos sociais previstos em normas constitucionais [Die Wirksamkeit der in Verfassungsbestimmungen verankerten, sozialen Rechte], S. 37–38. Sarlet zitiert Eros Grau als Verfechter einer allgemeinen Subjektivierung der sozialen Grundrechte. Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 178. Grau, A Ordem Econômica na Constituição de 1988 [Die Wirtschaftsordnung in der Verfassung von 1988], S. 290 ff.

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unter welchen Umständen und in welchem Umfang darf das Individuum vom Staat das Recht auf Gesundheit, auf Kultur, auf Bildung, auf soziale Fürsorge usw. vor Gericht einklagen. Diese Diskussion dauert an. José Afonso da Silva vertritt, wie gesagt, die Auffassung, dass soziale Grundrechte Normen mit beschränkter und nur mittelbarer Anwendbarkeit sind. Bezüglich dieser Normen bedeutet Art. 5, § 1 (unmittelbare Anwendbarkeit) Folgendes: „Erstens […], dass sie (die Normen, P. M.) anwendbar sind, sofern es möglich ist, sofern die Institutionen die notwendigen Bedingungen für ihre Anwendung anbieten. Zweitens […], dass die Judikative diese Normen anwenden soll, falls sie in diesem Bereich konsultiert wird. Die Judikative soll dem Betroffenen nach Maßgabe der bestehenden Institutionen das Recht gewährleisten.“68 Obwohl es um eine sogar zu allgemeine Formel geht, die tatsächlich nicht die gesamte Problematik löst, bietet diese Deutung des Artikels 5, § 1 eine Richtung an: Sie vertritt einerseits die Auffassung, dass manche programmatische Normen unter Umständen fähig sind, sogar leistungsrechtliche Effekte zu generieren (sofern es möglich ist), obgleich José Afonso da Silva nicht sagt, wann das stattfindet. Darüber hinaus ist die richterliche Anwendung dieser Normen von den bestehenden staatlichen Institutionen abhängig. Das impliziert eine infrakonstitutionelle Gesetzgebung, die zum einen den Gehalt des Rechts ausgestaltet und zum anderen die Organisation und die Verfahren, also die staatliche Funktionsfähigkeit umreißt.69 Diese Position José Afonso da Silvas, auch wenn er die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzbarkeit des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte nicht vehement negiert, nähert sich der Auffassung, dass diese Grundrechte nicht ohne weiteres, absolut unabhängig von einer infraverfassungsrechtlichen Regulierung justiziabel sind. Die Umstände, unter denen diese Rechte anwendbar sind, werden bei ihm jedoch nicht klar. Was den erwähnten theoretischen Mittelweg anbetrifft, stützen sich die Deutungen mehr oder weniger stark auf die Prinzipientheorie von Alexy, insbesondere auf die Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln. Ausgehend von der Prinzipientheorie stellt Sarlet zum Beispiel fest: „[…] die im Artikel 5, § 1 der Verfassung enthaltene Norm darf nicht im Bereich der sozialen Grundrechte die ‚alles oder nichts‘ Dimension annehmen. Sie besteht eigentlich […] aus einem Postulat, das die Maximierung der Wirksamkeit der sozialen Rechte zum Ziel hat.“70 Den Begriff der Maximierung verwendet Sarlet in Anlehnung an die Alexysche Kon 68

José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 165. Hervorhebungen nicht im Original. 69 Diese Idee ist für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung und wird demzufolge im dritten Kapitel näher bearbeitet werden. 70 Sarlet, A eficácia dos direitos fundamentais [Die Wirksamkeit der Grundrechte] Porto Alegre: Livraria do Advogado, 1998, S. 243. (Hervorhebungen nicht im Original.) Sich auf Aussagen von Flavia Piovesan beziehend und Sarlet folgend siehe auch, Krell, Direitos sociais e controle judicial no Brasil e na Alemanha. Os (des)caminhos de um direito constitucional comparado, S. 38.

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zeption der Optimierung.71 Die sozialen Grundrechte seien prima-facie-Rechte und demzufolge mit anderen Rechten und formellen Prinzipien vergleichbar.72 In seiner Dissertationsschrift von 199773 verwendete er die Formel, dass Art. 5, § 1, der brasilianischen Verfassung als „Gebot einer größtmöglichen Verwirklichung der Grundrechte“ verstanden werden soll, ohne eine direkte Bezugnahme auf die Alexysche Formel der Optimierung herzustellen. Das heißt, Sarlet ging damals davon aus, dass die „größtmögliche Verwirklichung“ nicht notwendigerweise als Maximierung oder Optimierung von Prinzipien aufgefasst werden soll. Eine etwas andere Meinung verteidigte er in seinem Buch von 1998 „A eficácia dos direitos fundamentais“ (Die Wirksamkeit der Grundrechte), in dem der Einfluss von Alexy noch deutlicher ist. Angesichts dessen kann gesagt werden, dass der Einfluss der Prinzipientheorie von Alexy, die schon in Sarlets Dissertationsschrift teilweise rezipiert wurde, ab 1998 wächst. Sie dient fortan als argumentative Verstärkung des Verständnisses, auf dessen Grundlage Art. 5, § 1 als Prinzip im Sinne Alexys erfasst wird.74 Diesbezüglich legt Sarlet Folgendes dar: „Das abwägende Modell von Alexy bietet uns […] vielleicht die beste Lösung für das Problem, 71 Es ist jedoch wichtig festzustellen, dass Alexy selbst Maximierung und Optimierung nicht als Synonyme versteht: „Hier wird nur die Konstellation betrachtet, die aus dem zu lösenden Fall und den beiden Prinzipien besteht. Läßt man in dieser Konstellation eines der beiden gegenläufigen Prinzipien entfallen, so verliert der Bezug auf die rechtlichen Möglichkeiten seine Bedeutung. Das Prinzip wird vom Optimierungs- zum nur noch auf die faktischen Möglichkeiten bezogenen Maximierungsgebot. Dies führt zu der allgemeinen Einsicht, daß Prinzipien, für sich oder isoliert, d. h. unabhängig von ihren Relationen zu anderen Prinzipien betrachtet, den Charakter von Maximierungsgeboten haben. Man könnte deshalb daran denken, Prinzipien statt als Optimierungsgebote als Maximierungsgebote zu definieren. Eine solche Definition würde jedoch die für Prinzipien konstitutive Relation zu anderen Prinzipien nicht erfassen. Man müßte ihr entweder eine auf Maximierungsgebote bezogene Optimierungsregel hinzufügen oder die auf isolierte Prinzipien bezogene Definition als Maximierungsgebot um eine den Zusammenhang der Prinzipien erfassende Definition als Optimierungsgebot ergänzen. Demgegenüber hat die hier gewählte allgemeine Definition als Optimierungsgebot den Vorzug der Einfachheit. Sie schließt zudem nicht aus, dort, wo es zweckmäßig ist, einen Blickwinkel einzunehmen, von dem aus Prinzipien für sich oder isoliert betrachtet werden, was im folgenden häufiger geschieht.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 80–81. 72 Sarlet, A eficácia dos direitos fundamentais, S. 318. 73 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, passim. 74 Sarlet selbst gibt zu, dass er in seiner Dissertationsschrift „ein klassifikatorisches Modell, das sich die Systematik des [brasilianischen, P. M.] Verfassungstextes näherte“ wählte. Später nimmt er das von Alexy vorgeschlagene funktionelle Kriterium an. Sarlet, Os direitos fundamentais sociais na constituição de 1988 [Die sozialen Grundrechte in der Verfassung von 1988] in: Revista Diálogo Jurídico, Jahr I – Bd. I – Nr. 1– April de 2001 – Salvador – Bahia – Brasilien, S. 11–12. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass sich dieser allmähliche Einfluss Alexys nicht nur hinsichtlich der Theorie der Grundpositionen zeigt, sondern auch in den Verweisen auf die Abwägung als angemessener Technik für die Konstruktion des definiten Charakters der sozialen Grundrechte. In ähnlichem Sinne stellt Mello fest: „Die Annahme des abwägenden Modells Alexys erlaubte Sarlet, den Artikel 5, § l als Prinzip zu verstehen.“ Claudio Ari Mello, Os direitos sociais e a teoria discursiva do direito [Die soziale Rechte und die diskursive Theorie des Rechts] Revista de Direito Administrativo, Rio de Janeiro, Nr. 224, S. 239–284, April bis Juni 2001, S. 281.

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indem es die unverzichtbare Gegenposition der auf der Tagesordnung stehenden Werte hervorhebt, abgesehen davon, dass es uns auf eine Lösung verweist, die auf den Umständen eines konkreten Falles basiert, da es in diesem Fall nicht möglich scheint, eine abstrakte und generische Agenda von Richtlinien und Kriterien aufzustellen. So kann in allen Situationen, in denen das Argument des Kompetenzvorbehalts der Legislative (wie auch die Gewaltenteilung und andere Einwände gegen die sozialen Rechte unter der Bedingung subjektiver Leistungsansprüche) auf den höheren Wert des Lebens und der Würde des Menschen trifft, oder in den Hypothesen, in denen die Analyse der kollidierenden Verfassungsgüter (fundamentale oder nicht) zur Prävalenz des Rechts auf Sozialleistungen führen, im Gefolge von Alexy und Canotilho aufrechterhalten werden, dass es im Bereich eines existenziellen Mindeststandards die Möglichkeit gibt, ein definitives subjektives Recht auf Leistungen anzuerkennen, wobei im Falle der Überschreitung dieses Minimums nur ein subjektives Recht prima facie zugelassen wird, da – in diesem Fall – keine Möglichkeit besteht, das Problem im Sinne eines Alles oder Nichts zu lösen.“75 Eine noch explizitere Bezugnahme auf die Prinzipientheorie Alexys als Basis für die Dogmatik der sozialen Grundrechte in Brasilien findet man bei Leivas.76 Er vertritt diesbezüglich die Auffassung: „[…] die Debatte über den programmatischen Charakter oder die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte soll durch die Diskussion über die Existenz sozialer Grundrechte in der Verfassung und durch den selben Begriff des Grundrechts ersetzt werden. Wenn man die Existenz der sozialen Grundrechte akzeptiert, dann ist ihre Anwendbarkeit unmittelbar, da Grundrechte so wichtige Positionen sind, deren Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden darf [Leitidee Alexys, P. M.]. Wer den programmatischen Charakter der sozialen Grundrechte verteidigt, muss demzufolge ihre Abwesenheit in der brasilianischen Verfassung verteidigen und gegen den Wortlaut der Verfassung argumentieren.“77 Leivas übernimmt ausdrücklich die Alexysche Prinzipientheorie als Basis seiner Dogmatik der sozialen Grundrechte in Brasilien, um das neuralgische Problem zu lösen, das heißt, „die Möglichkeit der Existenz positiver faktischer Leistungen, die gerichtlich durchsetzbar werden können.“78 Anstatt eine Dogmatik der sozialen Grundrechte aufgrund der Verfassungsbestimmungen zu begründen, schlägt Leivas vor, deren Basis auf den Begriff der (sozialen) Grundrechte, wie er von Alexy bestimmt wurde, zu beziehen. Die sozialen Grundrechte sind also Optimierungsgebote. Die Kompetenzen der Legislative und der Exekutive werden als formelle Prinzipien verstanden, die die sozialen Grundrechte prima facie einschränken können.79 Aus dem Gesagten ist zu folgern, dass die gesamte Diskussion über den definiten In 75

Sarlet, Eficácia dos direitos fundamentais, S. 319–320. Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais [Theorie der sozialen Grundrechte], Porto Alegre: Livraria do Advogado, 2006, passim. Der Autor setzt sich auch mit Dworkins Theorie der Prinzipien auseinander. Dieser Aspekt der Arbeit soll hier nicht analysiert werden. 77 Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais, S. 94–95. 78 Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais, S. 95. 79 Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais, S. 28. 76

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halt der sozialen Grundrechte nicht dem Text der Verfassung zu entnehmen ist, sondern von der Leitidee Alexys getragen wird,80 und dass die praktische Antwort auf die Frage nach dem Abwägungsprozess zwischen Grundrechten oder zwischen Grundrechten und formellen Prinzipien abhängig ist. Leivas verweist zum einen, was den dogmatischen Bereich anbetrifft, auf die Alexysche Ausprägung der weiten Tatbestandstheorie bzw. der Außentheorie der Schranken und zum anderen, bezüglich der methodologischen Seite des Problems, auf die Abwägung als drittes Element des Untermaßverbots.81 Ähnlich wie Leivas versucht Virgílio Afonso da Silva, stark von der Alexyschen Theorie der Grundrechte inspiriert, eine Dogmatik der Grundrechte für das brasilianische Verfassungsrecht zu entwickeln.82 Virgílio Afonso da Silva ist beispielsweise der Meinung, dass „die Konsolidierung der dreifachen Klassifikation [der Verfassungsnormen, die von J. A. da Silva begründet wurde, P. M.], abgesehen von ihrem ursprünglichen innovativen Versuch […] allmählich einen Zustand [verursachte], der eine größere Entwicklung der Wirksamkeit der Grundrechte behindert.“83 Das ist nicht wenig, denn der Autor unterstützt die Annahme, dass die vorherrschende Theorie in Bezug auf die Rolle der Verfassungsnormen in Brasilien die vollständige Entwicklung der Grundrechte verhindert. Wenn man z. B. an die „Verfassungsnormen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“ denkt, wird das Angriffsziel des Einwandes leicht durchschaubar. Virgílio Afonso da Silva vertritt eine These, die seiner Meinung nach mit der von José Afonso da Silva nicht kompatibel ist. Die Hauptgründe für diese Inkompatibilität sind: 1) Zum einen verwirft Virgílio Afonso da Silva die Unterscheidung zwischen einschränkbaren und nicht einschränkbaren Normen, weil nach ihm alle Regulierungen gleichzeitig einschränken und alle Einschränkungen zugleich regulieren.84 2) Zum zweiten lehnt er die Unterscheidung zwischen Normen mit 80

Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais, S. 81. Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais, S. 95–96. Über die Position Alexys hinsichtlich der Tatbestandstheorie bzw. der Theorie der Schranken, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 272 ff. Über die Rolle des Untermaßverbots im Bereich der sozialen Grundrechte siehe unten, D. III. 1. d). 82 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia [Grundrechte. Wesentlicher Inhalt, Einschränkungen und Wirksamkeit], 2. Auflage, São Paulo: Malheiros, 2014, S. 43 ff. und Virgilio Afonso da Silva, O conteúdo essencial dos direitos fundamentais e a eficácia das normas constitucionais [Der wesentliche Inhalt der Grundrechte und die Wirksamkeit der Verfassungsnormen], S. 27. 83 Virgílio Afonso da Silva, der bei Alexy in Kiel promovierte, ist der Sohn von José Afonso da Silva, dem Autor der zitierten Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“. 84 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia, S. 209. Zusammenfassend bei Virgilio Afonso da Silva, O conteúdo essencial dos direitos fundamentais e a eficácia das normas constitucionais, S. 24 und 46 ff. Die Frage nach der Einschränkbarkeit der Grundrechte ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung und wird hier nicht näher betrachtet werden. Das Problem der Ausgestaltung hingegen und der Unterscheidung zwischen Regulierung und Einschränkung wird im Folgenden noch Gegenstand der Überlegungen sein. (D. I. 1. a)). 81

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voller Wirksamkeit und direkter Anwendbarkeit und Normen mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit und mittelbarer Anwendbarkeit ab, denn alle Normen seien gewissermaßen von der Regulierung und der faktischen Tätigkeit des Staates abhängig, um ihre Wirksamkeit zu erhalten, was die Grenze zwischen den beiden Arten von Normen etwas verschwommen mache.85 Grob gesagt plädiert Virgílio Afonso da Silva eindeutig für den Ersatz des von José Afonso da Silva entworfenen dreifachen Modells, das die Verfassungsnormen in Normen „mit voller Wirksamkeit“, „mit einschränkbarer Wirksamkeit“ und „mit beschränkter oder reduzierter Wirksamkeit“ unterteilt, durch die Prinzipientheorie Alexys und dessen Unterscheidung von Regeln und Prinzipien.86 In diesem Zusammenhang verficht er – wie Leivas – die Adoption der weiten Tatbestandstheorie87 bzw. der Außentheorie der Schranken (Prinzipientheorie als Außentheorie),88 die ihrerseits das Modell der Abwägung für die Gestaltung des definiten Inhalts der (sozialen) Grundrechte voraussetzen.89 Wenn die herrschende Verfassungsnormtheorie in Brasilien als Barriere für die Entwicklung der Wirksamkeit der (sozialen) Grundrechte fungiert, so V. A. da Silva, könnte die Rezeption der Theorie der Grundrechte Alexys eine Möglichkeit für die Überwindung dieser angeblichen Hürde sein. bb) Die sozialen Grundrechte als subjektive Rechte Unbeschadet der Nuancen in den unterschiedlichen Modellen der Grundrechtsdogmatik in Brasilien, die vollständig oder zum Teil ihre Inspiration bei Alexy suchen, ist es möglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Nach der Meinung von Leivas und Sarlet bspw. sind die sozialen Grundrechte weder programmatische 85 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia, S. 238. Eine Antwort von José Afonso da Silva auf die Kritik von Virgílio Afonso da Silva ist zu finden in: José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, S. 270–285. 86 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia, S. 42. 87 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia, S. 94 ff. 88 Virgilio Afonso da Silva, Direitos Fundamentais. Conteúdo essencial, restrições e eficácia, S. 138 ff. und Virgilio Afonso da Silva, O conteúdo essencial dos direitos fundamentais e a eficácia das normas constitucionais, S. 39. 89 Zu den sozialen Grundrechten als Optimierungsgebote, insbesondere dem Recht auf Gesundheit in der brasilianischen Verfassung, Virgilio Afonso da Silva, Soziale Grundrechte als Optimierungsgebot, ihre Überlegungen aus der Perspektive des Gesundheitsrechts, passim. Neuerdings versuchen andere Autoren die Problematik der sozialen Grundrechte anhand der Prinzipientheorie Alexys zu lösen. Vgl. dazu Calil, Efetividade dos direitos sociais. Prestação jurisdicional com base na ponderação de princípios [Die Wirksamkeit der sozialen Rechte. Judikative Tätigkeit auf der Grundlage der Abwägung von Prinzipien], Porto Alegre: Nuria Fabris, 2012, passim und Almeida, Direitos fundamentais sociais e ponderação [Soziale Grundrechte und Abwägung], Porto Alegre: Fabris, 2014, passim.

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Schriften noch ohne weiteres justiziable subjektive Rechte. Um den subjektiven Gehalt der sozialen Grundrechte konstruieren zu können, greifen sie ausdrücklich auf die Leitidee Alexys als Ausgangspunkt oder als Argument zurück: „Jeder befindet sich aufgrund von Grundrechtsnormen in leistungsrechtlichen Positionen, die vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus so wichtig sind, dass ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann […]. Dieser Satz ist Ausdruck eines allgemeinen Leistungsrechts.“90 Die Bezugspunkte der dogmatischen Konstruktion sind demnach nicht die sozialen Grundrechte (Art. 6) und die Verfassungsbestimmungen der Sozialordnung, wie sie in der brasilianischen Verfassung positiviert sind (Art. 193 ff.), sondern der von der Leitidee Alexys inspirierte allgemeine und abstrakte Begriff der Grundrechte und die jeweilige Vorstellung der minimalen sozialen Grundrechte: „Eine leistungsrechtliche Position wird man dann als definitiv grundrechtlich garantiert ansehen müssen, wenn (1) das Prinzip der faktischen Freiheit sie sehr dringend fordert und (2) das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip (das die Haushaltskompetenz des Parlaments einschließt) ebenso wie (3) gegenläufige materielle Prinzipien (insbesondere solche, die auf die rechtliche Freiheit anderer ausgerichtet sind) durch die grundrechtliche Garantie der leistungsrechtlichen Position und ihr Rechnung tragende verfassungsgerichtliche Entscheidungen in relativ geringem Maße beeinträchtigt werden. Diese Bedingungen sind jedenfalls bei den minimalen sozialen Grundrechten erfüllt, also etwa bei den Rechten auf ein Existenzminimum, auf eine einfache Wohnung, auf Schulbildung, auf Berufsausbildung und auf einen Mindeststandard ärztlicher Versorgung.“91 In diesem Zusammenhang werden diese Rechte, die eng mit der Idee eines Existenzminimums und der faktischen Freiheit und Gleichheit verbunden sind, als prima-facie-Rechte verstanden und sollen somit progressiv angewendet werden, was die Abwägung als rechtsmethodologische Bedingung mit sich bringt. Im Fall von Leivas und V. A. da Silva, die von der weiten Tatbestandstheorie und der externen Theorie der Schraken ausgehen, wird die Ausübung von Kompetenzen als mögliche Einschränkung der sozialen Grundrechte verstanden. Wenn Kompetenzen formelle Prinzipien sind, sollen sie gleichermaßen progressiv angewendet wenden, das heißt, sie gelten nur prima facie, sofern sie die Grundrechte nicht unverhältnismäßig einschränken. Dieses Verständnis setzt notwendigerweise voraus, dass sowohl die Grundrechte als auch die Kompetenzen zugleich den Fall regulieren und zum gegenseitigen Ergebnis (Kollision), also „zu zwei sich widersprechenden konkreten rechtlichen

90 Sarlet, Os Direitos Sociais como Direitos Fundamentais: contributo para um balanço aos vinte anos da Constituição Federal de 1988 [Soziale Rechte als Grundrechte: Beitrag zu einem Rückblick auf die zwanzigjährige Geschichte der Bundesverfassung von 1988], S. 11; Leivas, Teoria dos direitos fundamentais sociais [Theorie der sozialen Grundrechte], S. 94–95; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 409–410. 91 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 466.

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Sollensurteilen“ führen.92 Der definitive Charakter der sozialen Grundrechte (und der Kompetenzen) muss immer das Ergebnis einer Abwägung sein. Demgemäß dient das Problem der Einschränkung der Grundrechte bzw. der Kollision, wie bei Alexy, als Basis für die Konstruktion der Dogmatik der sozialen Grundrechte. Im Wesentlichen liegt diesem Verständnis eine Sichtweise zugrunde, die bewusst oder unbewusst den (Leistungs-)Staat als potenziellen Feind der Grundrechte ansieht.

2. Besondere Merkmale des Verfassungsgerichtsbarkeitsmodells Jenseits der Eigenschaften in Bezug auf die Positivierung der Sozialstaatsklauseln und der sozialen Grundrechte ist es wichtig zu bemerken, dass es in der brasilianischen Verfassung auch Merkmale in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, die diese Verfassung vom GG unterscheidet. Diese Unterscheidung macht deutlich  – so die hier vertretene Auffassung  –, dass eine aufgrund eines (Verfassungs-)Kontextes gedachte Theorie nicht einfach, also ohne die notwendigen Anpassungen, auf eine andere Rechtsordnung übertragen werden kann. Auf der einen Seite wird beispielsweise das in der brasilianischen Verfassung von 1988 verankerte Verfassungsgerichtsbarkeitsmodell als „gemischtes“ bezeichnet, denn es enthält gleichzeitig Charakteristiken des US-amerikanischen Modells (diffuse oder dekonzentrierte Normenkontrolle) und des europäischen Modells (zentralisierte oder konzentrierte Normenkontrolle). Auf der anderen Seite sieht die brasilianische Normenkontrolle die Möglichkeit vor, eine Verfassungswidrigkeit wegen (konkreter oder abstrakter) staatlicher Unterlassungen zu überprüfen, das heißt eine Verfassungsgerichtsbarkeit wegen Unterlassung. Bezüglich der letzteren Modalität schreibt die brasilianische Verfassung zwei Möglichkeiten vor: die „Mandado de Injunção-Klage“ (mandado de injunção)93 und die „Unterlassungsfeststellungsklage“ (Ação direta de inconstitucionalidade por omissão).94

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Nach Alexy findet eine Kollision statt, wenn „zwei Normen, jeweils für sich angewandt, zu miteinander unvereinbaren Ergebnissen, nämlich zu zwei sich widersprechenden konkreten rechtlichen Sollensurteilen führen.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77. 93 Was die „mandado de injunção“ betrifft, so gibt es keine direkte Übersetzung, da es kein rechtsvergleichendes Institut gibt. Sarlet verwendete in seiner Dissertation von 1997 den Ausdruck „Mandado de Injunção-Klage“. Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, passim. Die Mandado de InjunçãoKlage fungiert in Brasilien als Verfassungsbeschwerde wegen / gegen Unterlassung. Eine Einzelperson oder eine Gruppe von Einzelpersonen kann im Falle von Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung direkt das Bundesgericht anrufen und das Gericht bitten, das Problem der Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall zu lösen. 94 Die hier verwendete Nomenklatur folgt den Übersetzungsvorschlag Sarlets in, Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 172 ff.

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a) Die „dekonzentrierte“ oder „diffuse“ Normenkontrolle Die brasilianische Verfassung von 1891 (Art. 6, § 1, a, b), die stark vom US-amerikanischen Konstitutionalismus beeinflusst wurde, hat die dekonzentrierte oder diffuse Verfassungsgerichtsbarkeit in Brasilien eingeführt.95 Seitdem haben alle anderen brasilianischen Verfassungen des 20. Jahrhunderts dieses Modell übernommen.96 Auch die aktuelle Verfassung bewahrt diese Tradition und verankert diese Form der Normenkontrolle im Art. 97. „Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder Regelungsaktes der öffentlichen Gewalt kann von den Gerichten / Gerichtshöfen nur durch absolute Mehrheit der Stimmen ihrer Mitglieder oder der Mitglieder des jeweiligen Sonderorgans festgestellt werden.“ und im Art. 102, III: „Der Art. 102. Der Supremo Tribunal Federal (STF)97 ist in erster Linie zum Hüter der Verfassung berufen; ihm obliegt: […] III. die Entscheidung im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren gegen in einziger oder letzter Instanz ergangene Urteile, falls diese: a) eine Vorschrift dieser Verfassung verletzen; b) ein Abkommen oder ein Gesetz des Bundes für verfassungswidrig erklären; c) ein Gesetz oder einen Akt einer örtlichen Regierung für gültig erklären, deren Gültigkeit unter Berufung auf diese Verfassung angefochten wurde.“ Alle Richter und Gerichte sind in Brasilien für die dekonzentrierte oder diffuse Normenkontrolle zuständig. Die Verfassungswidrigkeit darf als beiläufige Frage in einem konkreten Fall gestellt werden oder zudem vom Richter ex officio analysiert werden. Die Entscheidung, die eine infrakonstitutionelle Norm oder sogar eine Verfassungsänderung als verfassungswidrig erklärt, gilt nur inter pars, das heißt, die Norm wird im konkreten Fall nicht angewendet werden, aber sie gilt weiter für andere Fälle. Der Senat des Bundesparlaments darf, falls er angerufen wird, und wenn das STF eine definitive Entscheidung in einer konkreten Normenkontrolle getroffen hat, die die Verfassungswidrigkeit erklärte, die Anwendung eines Gesetzes oder Regulierungsaktes partiell oder vollständig suspendieren (Art. 52, X). Die Entscheidung des Senates des Bundesparlaments impliziert in diesem Fall erga omnes Auswirkungen.

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Vgl. vor allem, Barbosa, A Constituição e os actos inconstitucionaes do Congresso e do Executivo ante a Justiça Federal [Die Verfassung und die verfassungswidrigen Akte des Kongresses und der Exekutive vor der Bundesgerichtsbarkeit], passim. Dazu auch Bittencourt, O controle jurisdicional da constitucionalidade das leis [Gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen], Brasília: Ministério da Justiça, 1997, S. 28. 96 Art. 76, 2, III, b und c der Verfassung von 1934; Art. 101, III, b und c der Verfassung von 1937; Art. 101, III, b und c der Verfassung von 1946 und Art. 114, III, b und c der Verfassung von 1967. 97 Supremo Tribunal Federal (STF): Der Oberste Bundesgerichtshof. In Brasilien fungiert er gleichzeitig als höchstes Organ der Justiz, das am Vorbild des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) der USA und dem der europäischen Verfassungsgerichte ausgerichtet wurde. In letzterem Aspekt ist er hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung der Verfassung und für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar.

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b) Die „konzentrierte“ oder „zentralisierte“ Normenkontrolle Neben der diffusen oder dekonzentrierten Normenkontrolle sieht die brasilianische Verfassung eine abstrakte und zentralisierte oder konzentrierte Normenkontrolle europäischer Prägung vor. Diese Modalität der Verfassungsgerichtsbarkeit kann nur vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) ausgeübt werden und – falls das Gericht die Verfassungswidrigkeit erklärt –, führt die Entscheidung zu erga omnes Effekten. Laut Art. 103 der brasilianischen Verfassung dürfen die folgenden politischen Akteure und Institutionen den Prozess der Normenkontrolle einleiten: „Klage wegen Verfassungswidrigkeit können erheben: I. der Präsident der Republik; II. der Vorsitzende des Senats des Bundesparlaments; III. der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses des Bundesparlaments; IV. der Vorsitzende der Gesetzgebenden Versammlung; V. die Ministerpräsidenten der Bundesländer; VI. der Generalstaatsanwalt der Republik; VII. der Bundesausschuss der Brasilianischen Anwaltskammer; VIII. jede politische Partei mit Vertretung im Bundeskongress; IX. die nationalen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände.“ c) Die Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen: Modalitäten Eine interessante Innovation im brasilianischen Konstitutionalismus, die mit der brasilianischen Verfassung von 1988 neu installiert wurde, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen Unterlassungen. Wie schon erwähnt, sieht die Verfassung in diesem Bereich zwei Möglichkeiten vor: die „Mandado de Injunção-Klage“ und die „Unterlassungsfeststellungsklage“ (Ação direta de inconstitucionalidade por omissão). Für beider Instrumente ist ausschließlich der Oberste Bundesgerichtshof (STF) zuständig (konzentrierte Kompetenz). Diese Rechtswege unterscheiden sich in Bezug auf die Voraussetzungen, die zu ihrer Anwendung führen, in Bezug auf die Titulare ihrer Ausübung, den Gegenstand oder die Funktion, die sie ausüben, und die Auswirkungen der Entscheidung in Bezug auf Umfang und Inhalt. Hinsichtlich des Gegenstands oder der Funktion und den Auswirkungen der Entscheidung gibt es in der rechtswissenschaftlichen Literatur und in der Rechtsprechung nach wie vor erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Diese Punkte werden im Folgenden ausführlich behandelt. Die „Mandado de Injunção-Klage“ setzt einen konkreten Fall voraus, in dem die wirksame Ausübung eines bestimmten individuellen oder kollektiven Interesses, das in der Verfassung als Grundrecht vorgesehen ist, durch den Mangel an einer infrakonstitutionellen Regelung behindert wird. Mit anderen Worten, es handelt sich um Situationen, in denen der Inhalt eines Grundrechts nicht in vollem Umfang durch den Verfassungstext bestimmt ist und die wirksame Ausübung dieses Grundrechts somit in nicht geringer Weise von der infrakonstitutionellen Gesetzgebung abhängt. Die Verfassung delegiert die infrakonstitutionelle Regelung stillschweigend oder ausdrücklich an den Gesetzgeber oder ein anderes Organ,

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das für die Einleitung des Gesetzgebungsverfahrens zuständig ist (Handlungs­ gebot). Die „Mandado de Injunção-Klage“ dient dazu, jedes staatliche Versäumnis (Nichteinhaltung des Handlungsgebotes) zu korrigieren, dass die Ausübung eines Grundrechts konkret verhindert. Der Art. 5, LXXI der brasilianischen Verfassung schreibt diesbezüglich vor: „Die Mandado de Injunção-Klage ist zuzulassen, wenn verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten sowie die mit der Staatsangehörigkeit, Souveränität und Staatsbürgerschaft verbundenen Vorrechte wegen Fehlens einer Regulierungsnorm nicht ausgeübt werden können.“98 Die Klage selbst besteht aus einer konkreten Normenkontrolle im Falle normativer Unterlassung. Was den Anspruch auf die „Mandado de Injunção-Klage“ betrifft, steht dieser Rechtsweg allen Bürgern offen und es ist auch zulässig, eine kollektive Klage einzureichen. Was die „Unterlassungsfeststellungsklage“ betrifft sieht Art. 103, § 2 der brasilia­ nischen Verfassung vor: „Wird das Unterlassen einer Maßnahme, die einer Verfassungsnorm Wirksamkeit verleiht, für verfassungswidrig erklärt, so ist die für die Durchsetzung notwendiger Maßnahmen zuständige Instanz in Kenntnis zu setzen und, falls es sich um ein Verwaltungsorgan handelt, die Durchführung der Maßnahme innerhalb von 30 Tagen zu veranlassen.“99 Die „Unterlassungsfeststellungsklage“ wurde erst durch das Gesetz Nr. 12.063 von 2009, d. h. 21 Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung, geregelt. Bis dahin wurden seine Grundzüge von Literatur und von Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshof (STF) bestimmt. In der „Unterlassungsfeststellungsklage“, im Gegensatz zur „Mandado de Injunção-Klage“, ist die Diskussion hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung abstrakterer Art. Mit anderen Worten, es ist nicht notwendig, dass die Verfassungswidrigkeit subjektive Auswirkungen hat oder sich auf die tatsächliche Ausübung eines Grundrechts bezieht. Geschützt wird die Rechtsordnung aus objektiver Sicht vor Situationen, in denen die mögliche Nichteinhaltung eines verfassungsrechtlichen normativen Handlungsgebots die Unwirksamkeit der Verfassung in einem bestimmten Umfang verursachen könnte.

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„Die ‚Mandado de lnjunção‘-Klage wurde in Art. 5 LXXI der brasilianischen Verfassung geregelt, und hat selbst auch den Status eines Grundrechts bekommen.“ Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 173. 99 Der Verfassungsgeber fand Inspiration in der portugiesischen Verfassung von 1976. Siehe dazu Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas. Ação direta de inconstitucionalidade por omissão e mandado de injunção [Rechtlicher Schutz gegen Unterlassungen der Gesetzgebung. Direkte Klage auf Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung und Mandado de Injunção-Klage], São Paulo: Revista dos Tribunais, 1995, S. 87. In diesem Sinne sieht die portugiesische Verfassung vor: „Art. 283. (1) Auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Ombudsmanns für das Rechtswesen oder, mit der Begründung einer Verletzung der Rechte der autonomen Regionen, auf Antrag der Präsidenten der gesetzgebenden Regionalversammlungen, befindet und stellt das Verfassungsgericht die Nichterfüllung der Verfassung durch Unterlassung der erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Ausführung ihrer Bestimmungen fest. (2) Stellt das Verfassungsgericht das Vorhandensein einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassung fest, so macht sie davon dem zuständigen gesetzgeberischen Organ Mitteilung.“

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Ein einfaches Beispiel kann dies veranschaulichen. Die brasilianische Verfassung sieht Folgendes vor: „Art. 20. Eigentum der Union (Bund) sind: […] V – die natürlichen Ressourcen des Festlandsockels und einer exklusiven Wirtschaftszone; VI – das Meer, soweit es brasilianisches Hoheitsgebiet ist; VIII – die Wasserkraft und ihre Potenziale; IX – die Bodenschätze, einschließlich des Grund und Bodens auf / in dem sie gefunden werden; […] § 1 Der Bund, die Bundesländer, der Bundesbezirk und die Kommunen erhalten nach Maßgabe des Gesetzes eine Beteiligung am Ergebnis der Exploration von Erdöl oder Erdgas, von Wasserressourcen zum Zwecke der Erzeugung von elektrischer Energie und anderer Bodenschätze auf dem jeweiligen Territorium, dem Festlandsockel, im brasilianischen Meer oder in einer exklusiven Wirtschaftszone, oder einen finanziellen Ausgleich für diese Exploration.“ Diese Verfassungsvorschrift befasst sich mit der Nutzung öffentlicher Güter für wirtschaftliche Zwecke und der sich daraus ergebenden finanziellen Verteilung zwischen den Entitäten des Bundes. Die Verfassung delegiert die detaillierte Ausarbeitung dieser Aufteilung an die infrakonstitutionelle Gesetzgebung mittels eines Handlungsgebotes (nach Maßgabe des Gesetzes). In diesem konkreten Fall existiert eine Gesetzgebung, aber wenn es kein Gesetz gäbe, das dieses verfassungsrechtliche Handlungsgebot regelt, wäre die Verfassungsvorschrift des Art. 20, § 1 wirkungslos. Die finanzielle Aufteilung würde nicht stattfinden und die Mitgliedstaaten (Länder) und die Kommunen könnten benachteiligt werden. Dies wäre der typische Fall des „Unterlassens einer Maßnahme, die einer Verfassungsnorm Wirksamkeit verleiht“ (Art. 103, § 2), der über die „Unterlassungsfeststellungsklage“ korrigiert werden könnte. Dieselben politischen Organe und Institutionen des Art. 103 der brasilianischen Verfassung dürfen diese Klage erheben und die Urteilskompetenz ist wie gesagt gleichfalls ausschließlich beim Obersten Bundesgerichtshof (STF) konzentriert: „I. der Präsident der Republik; II. der Vorsitzende des Senats des Bundesparlaments; III. Der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses des Bundesparlaments; IV. der Vorsitzende der Gesetzgebenden Versammlung; V. die Ministerpräsidenten der Bundesländer; VI. Der Generalstaatsanwalt der Republik; VII. der Bundesausschuss der Brasilianischen Anwaltskammer; VIII. jede politische Partei mit Vertretung im Bundeskongress; IX. Die nationalen Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände.“ Im obigen Fall, wenn beispielsweise die infrakonstitutionelle Reglementierung des Art. 20, § 1 der brasilianischen Verfassung (vollständige Verfassungswidrigkeit) nicht existierte oder die bestehende Gesetzgebung dem Handlungsgebot (partielle Verfassungswidrigkeit) nicht vollständig entspräche, könnte der Ministerpräsident eines Bundeslandes den Obersten Bundesgerichtshof (STF) anrufen. Sollte der Oberste Bundesgerichtshof (STF) das Fehlen von Ordnungsrecht ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklären, wären die Auswirkungen der Entscheidung, mit der die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung festgestellt wird, vom Umfang her erga omnes, d. h. nicht auf den Fall des Bundeslandes beschränkt, das die Unterlassungsfeststellungsklage angestoßen hat.

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Zusammenfassend stellt Sarlet fest hinsichtlich der Unterschiede zwischen den beiden Instrumenten der Verfassungskontrolle wegen Unterlassung fest: „Der wesentlichste Unterschied besteht darin, dass es sich bei der ‚Mandado de InjunçãoKlage‘ im Gegensatz zu der ‚Unterlassungsfeststellungsklage‘ um ein Verfahren handelt, das die Ausübung eines bestimmten Verfassungsrechts im konkreten Fall bezweckt und die Überprüfung deswegen eher im Rahmen der konkreten Normenkontrolle erfolgt. Es wird nicht der Erlass einer abstrakten und allgemeinen Norm beansprucht, sondern in bestimmten Fällen die Ermöglichung der Ausübung eines nicht geregelten Rechts oder Freiheit.“100 Piovesan behauptet in Bezug auf die „Unterlassungsfeststellungsklage“, dass sie bezwecke, die verfassungswidrigen Lücken101 der Rechtsordnung generell und abstrakt zu füllen.102 Hinsichtlich der „Mandado de Injunção-Klage“ stellt sie fest, dass ihr Ziel „die Anwendung der Verfassungsnorm zu ermöglichen ist, unabhängig von der infrakonstitutionellen Regulierung und genau wegen eines Mangels an Regulierung.“103 Sie vertritt die Auffassung, dass die „Unterlassungsfeststellungsklage“ das objektive Recht schützt und die „Mandado de Injunção-Klage“ das subjektive Recht gewährt.104 In der rechtswissenschaftlichen Literatur und in der Rechtsprechung besteht keine Einigkeit über die Rolle der soeben erwähnten Instrumente der Normenkontrolle vor allem in Bezug auf ihre Auswirkungen.105 Was die „Mandado de InjunçãoKlage“ anbelangt, erklärt Piovesan die vielfältigen Positionen in der Lehrmeinung: „Falls die ‚Mandado de Injunção-Klage‘ erhoben wird, muss die Judikative: a) die nicht vorhandene Norm erstellen, um die Unterlassung des Gesetzgebers zu beseitigen; b) die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung erklären und das zuständige Organ informieren, damit es die fehlende Norm erlässt, und c)  die Ausübung des Rechts, der Freiheit oder des verfassungsmäßigen Vorrechts im konkreten Fall ermöglichen, welche wegen der Unterlassung verhindert wurden.“106 Bezüglich der Unterlassungsfeststellungsklage sieht Artikel 12-H des Gesetzes Nr. 12.063 von 2009 Folgendes vor: „Ist die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen von Artikel 22 deklariert, wird die zuständige Behörde aufgefordert, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.“ Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) folgt dieser Linie in dem Sinne, dass das Gericht seine Rolle in Fällen wie diesem darin sieht, die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung zu erklären und das dafür verantwortliche Staatsorgan davon in Kenntnis zu setzen. 100 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 174. 101 Über das Problem des Begriffs der „Lücken“ im Bereich des öffentlichen Rechts im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen siehe unten, D. III. 1. a). 102 Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas, S. 97. 103 Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas, S. 124. 104 Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas, S. 131. 105 Diese Überlegungen sind hier nicht zu vertiefen. Vgl. dazu Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas, S. 102 ff. und 129 ff. 106 Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas, S. 130.

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Abgesehen von dem festgestellten Dissens folgt aus dem Gesagten, dass eine relative Übereinstimmung über die rechtliche Verbindlichkeit aller Verfassungsnormen besteht, welche den drei Staatsgewalten Unterlassungspflichten und Handlungspflichten auferlegt. Unbeschadet dieser Verbindlichkeit darf der Mangel an infrakonstitutionellen Regulierungen jedoch die vollständige Effektivität dieser Verfassungsnormen verhindern.107 Wäre das nicht so, wäre die verfassungsrechtliche Verankerung solcher Instrumente zwecklos. Sie haben genau das Ziel, die Verfassungsvorschriften, deren volle Wirkungskraft von der Staatstätigkeit relativ abhängig ist und falls der Staat nachlässig handelt, effektiv zu machen. Fragen die bisher jedoch unbeantwortet bleiben, sind zum einen: Wann ist es erlaubt zu behaupten, dass es ein verfassungsrechtliches Handlungsgebot gibt? Wann verursacht die staatliche Unterlassung eine Verfassungswidrigkeit? und dann noch: Vorausgesetzt, dass die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung stattfindet, was können die Grenzen und die Resultate dieser Kontrolle sein?108 An dieser Stelle scheint es deshalb notwendig, die Position des STF bezüglich der Rolle der „Mandado de Injunção-Klage“ darzustellen. d) Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) in Bezug auf die Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen: die „Mandado de Injunção-Klage“ Das Verständnis des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) hinsichtlich der „Mandado de Injunção-Klage“ oszilliert seit der Bekanntmachung der brasilianischen Verfassung von 1988 zwischen einer zurückhaltenden und einer progressiven Position. Erstere basiert grundsätzlich auf dem Argument der Gewaltenteilung und geht davon aus, dass, wenn die Judikative die von der infrakonstitutionellen Regulierung abhängigen (sozialen) Grundrechte unmittelbar anwendet, sie die Kompetenz der Gesetzgebung und der Verwaltung usurpiert. Die zweite Position vertritt die gegensätzliche Auffassung, das heißt, der Oberste Bundesgerichtshof versteht die „Mandado de Injunção-Klage“ als Instrument der Verwirklichung der Grundrechte. aa) Die anfängliche Position In den ersten Entscheidungen im Rahmen der „Mandado de Injunção-Klage“ ging das STF davon aus, dass die einzige Folge des jeweiligen Urteils darin bestehen sollte, die Verfassungswidrigkeit aufgrund von Unterlassung zu erklären und die zuständigen Organe davon in Kenntnis zu setzen, damit sie die entsprechenden gesetzgeberischen oder verwaltungsrechtlichen Maßnahmen ergreifen kön 107 In ähnlicher Richtung Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 176. 108 Solche Fragen werden Gegenstand des dritten Kapitels sein. Siehe u. D. III. 1.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

nen.109 In der MI-107, der ersten Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) zum Thema, stellte das Gericht fest: „Die Mandado de Injunção-Klage ist kein verfassungsrechtliches Surrogat der rechtlichen und politischen Funktionen säumiger staatlicher Organe […]. Das STF ersetzt nicht den Gesetzgeber und die Verwaltung, falls sie ihre jeweilige Regulierungskompetenz nicht ausgeübt haben. Der klare Ausnahmecharakter dieses neuen rechtlichen Instruments verpflichtet die Judikative, das Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung strikt zu beachten.“110 bb) Die geänderte Sichtweise Ab 2007 änderte das Gericht in der MI-721/DF grundlegend seine Position: „Es ist an der Zeit über die anfängliche Zurückhaltung des STF bezüglich der Reichweite der „Mandado de Injunção-Klage“, also die übereifrige Position hinsichtlich der Gewaltenteilung, nachzudenken. Es ist an der Zeit, die wegen der anfänglichen Auffassung erlebten Enttäuschungen festzuhalten, nämlich dass die „Mandado de Injunção-Klage“ in eine bloße Aussage über den Mangel an Tätigkeit verwandelt wurde […]. Man erhebt diese Klage nicht mit dem Ziel, eine bloße Erklärung über die Unterlassung des zuständigen Organs hinsichtlich der Regulierung der Verfassungsrechte und Verfassungsfreiheiten sowie der mit der Staatsangehörigkeit, Souveränität und Staatsbürgerschaft verbundenen Vorrechte zu bekommen. Man sucht in der Judikative vielmehr den Vorrang der Verfassung zu verwirk­lichen, eine richterliche Entscheidung, die die unheilvollen Folgen der staatlichen Unterlassung des Gesetzgebers beseitigt.“111 Im konkreten Fall stand der Inhalt von Art. 40, § 4 der brasilianischen Verfassung zur Diskussion: „Art. 40 § 4: Es ist unzulässig, unterschiedliche Voraussetzungen und Kriterien für die Erteilung der Rente anzuwenden, die die von der öffentlichen Regelung betroffenen Beamten in unterschiedliche Kategorien einteilt, mit Ausnahme der in der komplementären Gesetzgebung zu regulierenden persönlichen Lage von Beamten: I – die behindert sind; II – die risikoreiche Tätigkeiten ausführen; III – deren Tätigkeiten unter Umständen ausgeführt werden, die die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit gefährden.“ Die in diesem Fall diskutierte Frage war die eventuelle Möglichkeit der Anwendung des im Art. 40 § 4, III der brasilianischen Verfassung enthaltenen Rechts – trotz der Abwesenheit einer komplementären Gesetzgebung. In der Tat wurde die Anwendung dieses Rechts wegen des Fehlens einer infrakonstitutionellen Regulierung von der Verwaltung abgelehnt. Für Arbeitnehmer und Angestellte gibt es in Brasilien mittlerweile ein Gesetz – das Gesetz Nr. 8.213/1991 –, das dieses Recht in Art. 57, § 1 ausgestaltet. Ein Arbeitnehmer / Angestellter, der unter gesund 109

In diesem Sinn exemplarisch, Oberster Bundesgerichtshof (STF) – Mandado de Injunção-­ Klage MI-107/DF – 21/11/1990; STF – MI-95/RR – 07/10/1992 ; STF – MI-20/DF – 19/05/1994; STF – MI-278/MG – 03/10/2001; STF – MI-695/MA – 01/03/2007. „MI“ ist die in brasilianischen Rechtstexten übliche Abkürzung für „Mandado de Injunção“. 110 Oberster Bundesgerichtshof (STF) – MI-107/DF – 21/11/1990. 111 Oberster Bundesgerichtshof (STF) – MI-721/DF, vom 30/08/2007.

II. Die brasilianische Verfassung von 1988

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heitsschädlichen Umständen arbeitet, darf z. B. früher in Rente gehen (Nach 25, 15 oder 10 Arbeitsjahren). Daher entschied das STF, dass dieses Gesetz – Art. 57, § 1, Gesetz Nr. 8.213/1991 – für Beamte analog angewendet werden soll, das heißt, das Gericht konkretisierte das Recht auf Rente im individuellen Fall der betroffenen Beamten, obwohl (ja genau deswegen) es kein Gesetz dazu gab. Auf der gleichen Linie liegt die Entscheidung zur MI 712/PA vom 25. 10. 2007, in der es um das Streikrecht von Beamten ging. Die brasilianische Verfassung sieht in Art. 37, VII vor: „Das Streikrecht darf [von Beamten, P. M.] innerhalb der Grenzen des spezifischen Gesetzes ausgeübt werden.“ Dieses Gesetz wurde aber bis heute nicht erlassen! Daher wird seit 1988 nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gestritten, ob und unter welchen Umständen Beamte, trotz des Fehlens eines Gesetzes, streiken dürfen. Der STF verordnete in diesem Fall die analogische Anwendung des Gesetzes, das das Streikrecht von Arbeitnehmern / Angestellten reguliert (Gesetz Nr. 7.783/1989).112 Seit der Entscheidung vom 25. 10. 2007 dürfen die Beamten gleichermaßen von diesem Recht Gebrauch machen, obgleich es bisher kein spezifisches Gesetz dazu gibt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung, die vom STF in Rahmen der MI 20 /DF vom 19. 05. 1994 getroffen wurde, wobei das Gericht den Art. 37, VII als eine Verfassungsnorm mit beschränkter oder reduzierter Wirkung definierte und infolgedessen die Meinung vertrat, dass das Streikrecht bis zur Verabschiedung des spezifischen Gesetzes nicht ausgeübt werden dürfe. In diesem Fall beschränkte sich das Gericht darauf, den Gesetzgeber auf seine Unterlassung hinzuweisen.113 Man bemerkt im Kontext der erwähnten Fälle nicht nur die Veränderung der Entscheidungen des Gerichts bezüglich der Rolle der „Mandado de InjunçãoKlage“, sondern auch hinsichtlich des Streikrechts selbst. Dieses Beispiel bringt also die schwankende Interpretation des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) hinsichtlich der sozialen Grundrechte im Allgemeinen ans Licht. In der MI 20 /DF vom 19. 05. 1994 verstand das Gericht das Grundrecht als nicht subjektivierbar. In der MI 712/PA, vom 25. 10. 2007 wurde dasselbe Recht dagegen als subjektives Recht verstanden. cc) Die aktuelle gesetzliche Regulierung der „Mandado de Injunção-Klage“ Bis 2016 war die im Art. 5, LXXI der brasilianischen Verfassung verankerte „Mandado de Injunção-Klage“ nicht näher durch ein Gesetz geregelt. Folglich erhielt sie ihre Konturen durch die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs 112 113

Oberster Bundesgerichtshof (STF) – MI 712 /PA, vom 25/10/2007. Oberster Bundesgerichtshof (STF) – MI 20 /DF, vom 19/05/1994.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

(STF) und die Lehrmeinung. Diese Situation änderte sich mit der Bekanntmachung des Gesetzes Nr. 13.300 vom 23. Juli 2016. Dieses Gesetz schreibt bspw. vor: „Art. 8: Wird der gesetzgebende Verzug anerkannt, bewilligt das Gericht den Antrag auf Mandado de Injunção-Klage für: I – die Feststellung einer angemessenen Frist, in der der Adressat die regulative Norm erlassen muss; II – die Feststellung der Bedingungen, unter denen die beanspruchten Rechte, Freiheiten und Vorrechte ausgeübt werden dürfen oder falls der Adressat innerhalb der festgestellten Frist untätig bleibt, der Bedingungen, unter denen der Betreffende einen bestimmten Rechtsweg einschlagen kann, um die Rechte, Freiheiten und Vorrechte in Anspruch nehmen zu können. Einzelparagraf (parágrafo único): Die Hypothese des Abschnitts I wird überflüssig, wenn erwiesen ist, dass der Adressat innerhalb der festgelegten Frist einer vorangegangenen einstweiligen Verfügung zur Erlassung einer regulativen Norm dieser Pflicht nicht nachgekommen ist.“ und „Art. 9: Die Entscheidung gilt inter pars und bleibt bis zur Erlassung der regulativen Norm wirksam. § 1: Die Entscheidung darf ultra pars oder erga omnes gelten, sofern dieser Effekt eine inhärente oder unentbehrliche Voraussetzung für die Ausübung des beanspruchten Rechts, der Freiheiten oder des Vorrechts ist […].“ Bisher ging es in den Ausführungen der Arbeit ganz allgemein darum, die Rezeption der Prinzipientheorie in Brasilien als Basis für die Konstruktion einer Grundrechtsdogmatik und die unmittelbaren Konsequenzen für die Art und Weise der Interpretation und Anwendung der Verfassung im Allgemeinen und der (sozialen) Grundrechte im Besonderen darzustellen. Diese Rezeption kann darüber hinaus das Verständnis der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit beeinflussen, insbesondere was die diffuse oder dekonzentrierte Normenkontrolle und die Kontrolle der Unterlassungen anbelangt. Von jetzt an wird das Problem der (Un-)Angemessenheit dieser Rezeption näher behandelt – vor allem in Bezug auf die Dogmatik der sozialen Grundrechte in Brasilien.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie als interpretatives Modell der sozialen Grundrechte in Brasilien 1. Die Prinzipientheorie von Alexy: rechtstheoretische, verfassungsrechtliche, rechtsmethodologische und grundrechtsdogmatische Einwände a) Der Rechtsbegriff: Zirkelschluss oder regressus ad infinitum? Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, den Rechtsbegriff von Alexy einer vollständigen Kritik zu unterziehen, sondern es werden nur einige damit in Zusammenhang stehende Fragen, die rechtsmethodologische und vor allem rechtsdogmatische Auswirkungen auf die sozialen Grundrechte haben

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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können, näher behandelt. Der hier vorzustellende Hauptkritikpunkt besteht darin, dass die Verbindungsthese Alexys, die seinem nicht-positivistischen Rechtsbegriff zugrunde liegt, auf zwei von Hans Albert mit „Münchhausen-Trilemma“ bezeichnete Begründungsprobleme stoßen kann – das heißt sie führt entweder zu einem Zirkelschluss oder zum infiniten Regress.114 Diese Problematik kann besser erhellt werden, wenn man die von Alexy als Begründung für seinen Rechtsbegriff angeführten Argumente unter die Lupe nimmt, also das Richtigkeitsargument, das Unrechtsargument und das Prinzipienargument. Das Richtigkeitsargument, das sowohl mit dem gesamten Rechtssystem als auch mit dessen individuellen Normen und Entscheidungen zusammenhängt, besagt, dass nicht nur das Rechtssystem, sondern auch seine Teile (Normen und Entscheidungen) einen Anspruch auf Richtigkeit erheben.115 Dies betrifft auch den Alexyschen Geltungsbegriff (des Ganzen und der Teile).116 Im Gegensatz zu Alexy wird hier die Vorstellung vertreten, dass der Geltungsparameter des Rechtssystems als Ganzem nicht derselbe sein kann wie der seiner Teile. Der Geltungsparameter der individuellen Normen und Entscheidungen117 ist ihre Kompatibilität mit dem positiven Recht. Hier geht es um die Unterscheidung zwischen der Geltung des Systems und der Geltung im System.118 Aus der Perspektive eines Richters oder eines Rechtsdogmatikers (eines Verfassungsdogmatikers z. B.)119 drängt sich die Frage nach der Geltung des Rechtssystems nicht auf. Er setzt vielmehr die Geltung und folglich die Verbindlichkeit des Systems voraus, bspw. der Verfassung, beim ersten, um Fälle entscheiden zu können, und beim zweiten, um die jeweilige Lösung vorschlagen zu können. Die Geltung des Grundgesetzes wird vom BVerfG nicht infrage gestellt, wenn es seine Aufgabe 114

Das Münchhausen-Trilemma besteht nur in der Wahl zwischen: „1. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der, weil logisch fehlerhaft, ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.“ Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 4. verbesserte Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, S. 13. 115 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64. 116 Erwähnenswert hier ist die enge Verbindung zwischen dem Rechtsbegriff und dem Geltungsbegriff bei Alexy. Dazu oben. (im ersten Kapitel). Daher werden die vorliegenden Einwände sich sowohl gegen den Rechtsbegriff als auch gegen den Geltungsbegriff richten. 117 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 64. 118 Jestaedt, Geltung des Systems und Geltung im System. Wozu man die Grundnorm braucht – und wozu nicht, in: JuristenZeitung 68, 2013, S. 1019. 119 Als heuristisches Verfahren wird hier – in Anlehnung an Friedrich Müller – die Dogmatik als „Wissenschaft vom positiven Recht“ und dementsprechend die Grundrechtsdogmatik als „Wissenschaft von den positiv-gültigen Grundrechten“ betrachtet werden. Müller / Pieroth / Fohman, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 119–120.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

wahrnimmt. Ein Verfassungsrechtler geht dementsprechend davon aus, dass das GG gilt, wenn er darüber schreibt. Beide Akteure (das BVerfG und der Rechtsdogmatiker) arbeiten intrasystemisch. Alexy vertritt jedoch die Auffassung, dass sowohl das Rechtssystem als auch die individuellen Normen und Entscheidungen einen Anspruch auf Richtigkeit erheben und dieser Anspruch auf Richtigkeit schließt eine moralische Richtigkeit ein. Mit anderen Worten bedeutet diese Konzeption, dass der Geltungsparameter der Normen und der Entscheidungen nicht notwendigerweise ausschließlich in der Verfassung (und in der Gesetzgebung) gefunden werden kann, sondern ein moralischer sein kann. Die (Verfassungs-)Normen, die den Anspruch auf moralische Richtigkeit nicht erfüllen, sind folglich fehlerhafte Normen. Wenn man von dem idealen Begriff der Verfassung (und der Grundrechte) ausgeht, wäre es zum Beispiel zulässig, die Verfassungswidrigkeit einer Norm oder einer Entscheidung aufgrund eines moralischen Arguments zu erklären – sogar gegen den Verfassungstext –, was eine Paradoxie zu sein scheint, weil die Begründung der Verfassungswidrigkeit nicht mehr im GG gefunden werden dürfte, sondern in einer idealen (rationalargumentativ begründbaren) Verfassung. In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass Alexy kein konsistentes Argument anbietet, um die These der Notwendigkeit der Erhebung eines Anspruchs auf (moralische)  Richtigkeit seitens der individuellen Normen und Entscheidungen zu rechtfertigen. Es geht vielmehr um einen axiomatischen Ausgangspunkt, der seinerseits begründungsbedürftig ist. Auch wenn man das Argument des Anspruchs auf Richtigkeit verwenden will, gibt es kein Grund dafür, die Idee der Richtigkeit mit der Idee einer moralischen Richtigkeit gleichzusetzen. Der Richtigkeitsparameter einer Norm oder einer Entscheidung soll, wie oben angedeutet, ihre Vereinbarkeit mit den verschiedenen Ebenen des positiven Recht sein, oder anders gesagt: Eine Norm des positiven Rechts kann ihren Geltungsgrund nur in einer Norm des positiven Rechts finden.120 Vom dogmatischen und praktischen Standpunkt aus besteht der „Abbruch des Verfahrens“121 in der Begründung – das dritte Begründungsproblem im Münchhausen-Trilemma  – eigentlich kein Problem, sondern das Proprium der Arbeit der Dogmatik als Wissenschaft des positiven Rechts und der richterlichen Entscheidung. Es geht hier nicht darum, das Problem der Norm- bzw. Entscheidungs­ begründung aufzugeben,122 sondern ihre Begründbarkeit auf das positive Recht zu beschränken. Im Fall des Richters handelt es sich einerseits um eine Bedingung der Gültigkeit seiner Tätigkeit, da er an das positive Recht gebunden ist – eines der fundamentalen Postulate des Rechtsstaats –, und andererseits darum, dass er seine

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Jestaedt, Geltung des Systems und Geltung im System, S. 1021, in Anlehnung an Kelsen. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 13. 122 Eine andere Meinung vertritt Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems. Baden-Baden: Nomos, 1990, S. 13. 121

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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Kompetenz von demselben positiven Recht verliehen bekommt.123 Anders gesagt: Der Richter ist ein Richter nur innerhalb einer bestimmten Rechtsordnung: „Wer als Rechtsteilnehmer die Existenz der Rechtsordnung verneint, verneint damit zugleich seine eigene Existenz – ein offenbar performativer Selbstwiderspruch.“124 Eines der Grundelemente der Verbindungsthese ist demzufolge begründungs­ bedürftig, wird von Alexy allerdings nicht begründet, das heißt, es handelt sich um einen Zirkelschluss. Was das Unrechtsargument betrifft und wenn im Begründungsproblem die Analyse individueller Normen und Entscheidungen eingeschlossen ist, die unter der Geltung des GG veröffentlicht wurden, sich also nicht mit dem Übergang von einem autoritären Regime zu einem demokratischen zusammenhängen,125 ist der Rückgriff auf moralische Argumente anders als bei Alexy nicht unerlässlich. Das GG enthält normative innere Mechanismen, die genau dazu dienen, die Möglichkeit von „Normen mit einem extremen Grad der Ungerechtigkeit“ zu vermeiden (Art. 79).126 Wenn das positive Recht sich selbst vor dem Problem der Ungerechtigkeit der individuellen Normen und Entscheidungen schützen kann, wie es in der deutschen Rechtsordnung tatsächlich der Fall zu sein scheint, ist die Notwendigkeit der Verwendung einer moralischen Argumentation als Grund für die Verbindungsthese nicht selbstverständlich, sondern genauso wie beim Richtigkeitsargument begründungsbedürftig. Demgemäß könnte in diesem Zusammenhang eingewendet werden, dass ein Unrechtsargument als juristischer Parameter für die individuellen Normen und Entscheidungen innerhalb der aktuellen deutschen Rechtsordnung entbehrlich ist. Aus dem Blickwinkel eines Richters oder eines Verfassungsdogmatikers soll der Geltungs- bzw. Gerechtigkeitsparameter der individuellen Normen und Entscheidungen ausschließlich das GG und die Gesetzgebung sein. Schließlich ist darüber hinaus die Zirkularität in der Begründung des Prinzipienarguments als Fundament für die doppelte Natur des Rechtes spürbar. Alexy versteht die reale oder positive Dimension des Rechts – wegen des vom ihm so bezeichneten „Problems praktischer Erkenntnis“  – als eine notwendige Ergänzung der idealen oder kritischen Dimension, also der Situationen, in denen zwei 123

Alexy versteht die Bindung an das positive Recht als ein formelles Prinzip und demzufolge als eine Norm, die mit anderen materiellen Prinzipien in Abwägung gerät. In diesem Sinne kann er behaupten, dass die Verwendung einer moralischen Argumentation nicht notwendigerweise zur Flucht vor dem positiven Recht führt, da die Moral (ideale Dimension) Teil des Rechtes ist. 124 Jestaedt, Geltung des Systems und Geltung im System, S. 1019. In diese Richtung schon früher, Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20. 1961, S. 79: „Für das Verfassungsrecht ist ein – nicht auf Naturrecht, sondern auf positivem Recht beruhendes – Prüfungsmonopol eines Gerichts denkbar. Kann es aber auch für überpositives Recht ein Prüfungsmonopol geben?“ 125 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 22. 126 In der brasilianischen Verfassung findet man in Art. 60, § 4, IV (Ewigkeitsklauseln, die den Schutz der Grundrechte gegen Verfassungsänderung einschließen) ähnliche Maßnahmen. In Art. 102 wird zudem das Supremo Tribunal Federal (Oberster Bundesgerichtshof) als „Hüter der Verfassung“ behandelt.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Personen zwei widerstreitende Lösungen in einem Wert- oder Verpflichtungsurteil begründen können, ohne damit gegen irgendwelche Regeln oder Prinzipien des allgemeinen praktischen (moralischen) Diskurses zu verstoßen.127 Das heißt: Das positive Recht existiert, weil der allgemeine praktische (moralische) Diskurs unfähig ist, alle praktischen Probleme zu bewältigen. Wenn aber die reale oder positive Dimension des Rechts bereits existiert, wird das Prinzipienargument benötigt, falls ein rechtlicher Offenheitsbereich existiert, das heißt, in Umständen, in denen definitionsgemäß nicht aufgrund des positiven Rechts entschieden werden kann.128 In solchen Fällen muss wieder auf die ideale oder kritische (moralische) Dimension des Rechts Bezug genommen werden, diejenige Dimension die aufgrund des „Problems praktischer Erkenntnis“ ursprünglich nicht ausreichend war. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Um was für eine ideale oder kritische (moralische) Dimension handelt es sich, die anfangs nicht ausreichend war und nun doch angemessen für die Lösung des (Offenbereichs-)Problems ist? Entweder sollten die beiden Dimensionen gleichrangig sein oder es besteht zwischen ihnen eine Hierarchie. Im ersten Fall ist der Verweis auf moralische Argumente, wie oben erwähnt, ein möglicher Zirkelschluss. Um die Zirkularität zu vermeiden, da man nicht nochmals auf die ursprüngliche ideale Dimension verweisen darf, muss man eine hierarchische Struktur zwischen Recht und Moral voraussetzen, wobei das positive Recht in einer unteren Schicht steht. Die Idee des juristischen Diskurses als ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses scheint diese Vorstellung zu bestätigen. Wenn die Relation zwischen den zitierten Dimensionen so verstanden wird – was von Alexy jedoch nicht ausdrücklich angenommen wird –, dann muss man sich auf einer moralischen Metaebene bewegen. Und dann droht ein infiniter Regress.

Fall 1: ideale Dimension des Rechtes    reale Dimension des Rechtes

Fall 2: ideale (Meta-)Dimension des Rechtes

ideale Dimension des Rechtes    reale Dimension des Rechtes

127 128

Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 395. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 117–118.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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Die zirkuläre Begründung ist deutlicher in der Inkorporationsthese, einem der Grundpfeiler des Alexyschen Prinzipienarguments, zu finden. In diesem Sinne behauptet Jestaedt zutreffend: „Alexys Argument, ein Prinzip gelte dann, wenn es zumindest in einem Fall als Grund einer Rechtsentscheidung angeführt werden könne, ist – bei Lichte betrachtet – nichts weiter als eine petitio principii. Denn nur wenn ein Prinzip gilt, also zum Kreis der in einer Rechtsordnung existenten Normen gehört, darf es überhaupt ‚zu Recht einen Grund für [eine] Entscheidung‘ im Rechtssinne abgeben. Die tatsächliche Verwendung in einem rechtlichen Begründungskontext begründet als solche nichts, sondern ist selbst begründungs­ bedürftig. Diese – normative – Begründung kann aber eben nur unter Rekurs auf die positivrechtliche Geltung geführt werden, setzt die Geltung also voraus und begründet sie nicht.“129 In ähnlichem Sinne stellt Penski fest: „Grundsätze erlangen damit auch nicht als bloße Grundsätze Geltung, sondern immer in einer besonderen inhalt­lichen Ausgestaltung. […] Wird deshalb vom Grundsatz der Demokratie nach dem Grundgesetz gesprochen, so geht es nicht um den Grundsatz im allgemeinen Sinne, sondern um seine Ausprägung im Sinne einer bestimmten Form repräsentativer Demokratie, wie er sie im Verfassungsgesetz erfahren hat. […] Nur im dargelegten Sinne kann von Rechtsgrundsätzen als Bestandteilen einer Rechtsordnung gesprochen werden. Sie erlangen Geltung, wenn überhaupt, über eine konkretisierende Normierung durch Setzung oder Übung; diese stellt die Art und Weise ihrer ‚Inkorporation‘ in die Rechtsordnung dar. Ohne eine solche Normierung bleiben sie zunächst nur bloße Rechtsgedanken, die mit jeweils anderen im Streit stehen.“130 Die Moralthese und die Richtigkeitsthese, die gleichermaßen Grundlagen für das Prinzipienargument bilden, überzeugen also nicht. Die bloße Tatsache, dass eine gewisse Rechtsordnung Prinzipien mit moralischem Inhalt inkorporiert hat – oder wie Alexy behauptet, den „wichtigsten Prinzipien des neuzeitlichen Naturund Vernunftrechts“ und damit der „neuzeitlichen Moral des Rechts und des Staates“ entsprechen –, impliziert notwendigerweise die Verbindungsthese nicht: „Dass solche Anleihen erfolgen, so wie das Recht im Abgabenrecht Anleihen bei Mathematik oder zur Frist- und Geschwindigkeitsberechnung bei der Chrono­metrie macht, ist nicht mehr umstritten. […] Es ist gerade eine Aufgabe der Dogmatik Konzepte aus anderen Disziplinen – darunter auch der Moralphilosophie – in die Besonderheiten eines Rechtssystems und seiner in Institutionen und vorgängigen Entscheidungen abgelegten Geschichte einzupassen und als rechtliche zu entwickeln. Dies allein hebt die Trennung von Recht und Moral aber ebenso wenig oder ebenso viel auf, wie der Rückgriff auf die vier Grundrechenarten im Abgabenrecht die Trennung von Recht und Mathematik aufhebt.“131

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Jestaedt, Sie Abwägungslehre, S. 262. (Hervorhebung nicht im Original.) Penski, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln, S. 111. 131 Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 63–64. Ausführlicher dazu siehe auch ders., The Hand of Midas. When Concepts Turn Legal or Deflat­ ing the Hart-Dworkin Debate, passim und ders., Der juristische Eigenstand der Verfassung, in: 130

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Demzufolge ist es durchaus möglich, das Prinzipienargument ganz unabhängig von dem Richtigkeitsargument und dem Unrechtsargument, also unabhängig von einem moralischen Inhalt zu verstehen.132 Mit anderen Worten bedeutet dies, dass – auch wenn moralische Elemente in die Rechtsordnung via Prinzipien inkorporiert wurden (oder inkorporiert werden können) – die dogmatische Arbeit mit Prinzipien oder die praktische Anwendung von Prinzipien, wenn man diese Kategorie verwenden will, nicht auf eine moralische Begründung verweisen muss: „Rechtsgrundsätze als Moralnormen werden demzufolge durch setzungsmäßige „Inkorporation“ zu Rechtsnormen.“133 Trifft dieser Hinweis zu, trägt das Prinzipienargument zur Begründung der Verbindungsthese nicht bei. Um jedoch die Verbindungsthese (durch das Prinzipienargument) rechtfertigen zu können, macht Alexy Gebrauch von der vom BVerfG im Soraya-Beschluss verwendeten Begründungslinie. Seiner Meinung nach gründete das Gericht seine Entscheidung auf eine typisch nichtpositivistische Argumentation. Die in der Entscheidung verwendete Begründung scheint jedoch die Alexysche Vorstellung nicht zu unterstützen, denn man erkennt einen ambivalenten Charakter134 der Argumentation des Gerichts. Das BVerfG brachte gleichzeitig intrasystemische und außerrechtliche Maßnahmen zur Anwendung.135 Einerseits sprach das Gericht über eine „allgemeine Ablehnung des engen Gesetzespositivismus“, griff auf die Idee eines „Wertsystems des Grundgesetzes“ zurück und vertrat die Auffassung, dass die richterliche Entscheidung die Lücke des BGB nach den „Maßstäben der praktischen Vernunft“ und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ schließen soll. Andererseits stellte das Gericht jedoch fest, dass die richterliche „schöpferische Rechtsfindung“ auf jeden Fall „unter der Geltung des Grundgesetzes“ stattfinden muss, und dass der Bundesgerichtshof und die ihm nachgeordneten Gerichte damit „nicht das System der Rechtsordnung verlassen“ haben und keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht, sondern lediglich „Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln“ weiterentwickelt haben.136 Unbeschadet dieser Ambivalenz bevorzugt Alexy nur den außerrechtlichen Aspekt der Begründung, mög­ Scherzberg / Can / Dogan (Hrsg.), Verfassungstheorie und Verfassungsgebung. Überlegungen anlässlich der Diskussion um eine Verfassungsreform in der Türkei, Berlin: Lit Verlag, 2012, passim. In ähnlicher Richtung bezüglich des Wert- bzw. Verfassungswertbegriffes stellt Reimer fest: „Mit der Qualifizierung des Wertes als Verfassungswert soll klargestellt werden, daß er Teil des formellen Verfassungsrechts ist. Es spielt daher keine Rolle, ob ‚Demokratie‘, ‚Menschenwürde‘ oder ‚Rechtsstaatlichkeit‘ auch außerrechtlich ‚Werte‘ sind. Ferner stellt der Begriff ‚Verfassungswert‘ klar, daß nicht die außerrechtliche Prägung, sondern diejenige Gestalt maßgeblich ist, die der Wert in der Verfassung findet.“ Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 245. 132 In diesem Sinne hinsichtlich des Unrechtsarguments, Raz, The Argument from Justice, or How Not to Reply to Legal Positivism, in: Pavlakos (Hrsg.), Law, Rights and Discourse: The Legal Philosophy of Robert Alexy. 2007, S. 16. 133 Penski, Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln, S. 112. 134 Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 71. 135 In diesem Sinne, Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 71. 136 Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, S. 71.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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licherweise weil dieser Teil der Entscheidung mit seinem Rechtsbegriff in Einklang steht. Aufgrund dieser Entscheidung einen nichtpositivistischen Rechtsbegriff begründen zu wollen, erscheint jedoch zumindest fragwürdig, denn das würde unbedingt die Vernachlässigung des intrasystemischen oder systemimmanenten Teils der Argumentation voraussetzen. Ebenso wie Alexy dieser letzten Facette nicht genügend Aufmerksamkeit widmet, könnte man auf der anderen Seite einen positivistischen Rechtsbegriff auf der Grundlage des intrasystemischen oder systemimmanenten Teils der Entscheidung begründen. Wichtig ist ferner hervorzuheben, dass, wenn das Gericht von der Ablehnung eines Gesetzespositivismus spricht, dies nicht notwendigerweise die Übernahme eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs im Sinne Alexys impliziert. Innerhalb des Positivismus ist es seit der Konzeption der Stufenbaulehre von Merkl und Kelsen137 – zumindest im deutschen Sprachraum – nicht mehr möglich, ein gesetzeszentriertes Rechtsdenken zu vertreten. In diesem Sinne darf der positivistische Rechtsbegriff nicht mehr als Synonym für Gesetzespositivismus verstanden werden. Wenn Alexy den Gesetzespositivismus kritisiert, tappt er jedoch paradoxerweise in genau diese konzeptionelle Falle, d. h. er versucht das im Soraya-­Beschluss behandelte Problem – eine vorgebliche Lücke im BGB – gesetzeszentriert zu lösen. Da das Gesetz (das BGB) angeblich keine Lösung anbietet, verweist Alexy auf (oder besser: privilegiert) eine rechtstranszendente Begründung. Indem er das macht, missachtet er die Rolle des GG als oberste Rechtsquelle. Die Art und Weise des gerichtlichen Argumentierens nähert sich in diesem Urteil jedoch eher einer auf der Verfassung basierenden systemimmanenten Gesetzesfortbildung (Interpretation praeter legem) an, als einer das System transzendierenden Gesetzesfortbildung (Interpretation contra legem oder contra constitutio scripta).138 Mit anderen Worten: Die Entscheidung kann unzweifelhaft vom Standpunkt des positiven Rechts einerseits als eine Relation zwischen dem GG (Art. 1 und 2) und dem BGB verstanden werden – wie es das BVerfG tatsächlich verstand – und andererseits aus Sicht der Grundrechtsdogmatik aufgrund der Schutzpflicht-Doktrin betrachtet werden, also ohne Bezugnahme auf überpositive Elemente. Infolgedessen ist es eher fragwürdig, den Soraya-Beschluss als Paradigma für die Verbindungsthese zu benutzen. Es bleibt noch zu fragen, ob es wirklich möglich ist, eine vollständige Ablehnung des Rechtspositivismus zu begründen und einen nichtpositivistischen Begriff des Rechts zu vertreten, wenn man diese Entscheidung des BVerfG als Beispiel nimmt, wobei das Gericht nur den Gesetzespositivismus kritisierte. Der Alexysche Einwand übersieht, dass sich die gegenwärtige Diskussion um den positivistischen 137 Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, in: Merkl, Gesammelte Schriften. Erster Band. Grundlage des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot, 1993, passim. Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, Zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, 1960. Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1992, passim. 138 Der Ausdruck „constitutio scripta“ wird von Hesse verwendet, in Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 29–30.

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Rechtsbegriff nicht auf eine vereinfachende Konzeption reduzieren lässt. In diesem Zusammenhang hebt Raz hervor: „Professor Robert Alexy wrote a book [Begriff und Geltung des Rechts, P. M.] whose avowed purpose is to refute the basic tenets of a type of legal theory which ‘has long since been obsolete in legal science and practice’. The quotation is from the German Federal Constitutional Court in 1968. The fact that Prof Alexy himself mentions no writings in the legal positivist tradition [in English] later than Hart’s The Concept of Law (1961) may suggest that he shares the court’s view. The book itself may be evidence to the contrary. After all why flog a dead horse? Why write a book to refute a totally discredited theory? Perhaps Alexy was simply unlucky. The burst of reflective, suggestive and interesting writings in the legal positivist tradition reached serious dimensions only in the years after the original publication of his book, when Waldron, Marmor, Gardner, Leiter, Shapiro, Murphy, Himma, Kramer, Endicott, Lamont, Dickson, Bix and others joined those who had made important contributions to legal theory in the positivistic tradition in the years preceding the original publication of Alexy’s book: Lyons, Coleman, Campbell, Harris, Green, Waluchow and others, who are still among the main contributors to legal theory in the positivist tradition.“139 Wenn man den Einwand der Zirkularität oder des infiniten Regresses in der Begründung der Alexyschen doppelten Natur des Rechtes in Verbindung mit seinem Begriff der juristischen Interpretation denkt, wird die Problematik noch deutlicher. b) Der Begriff der juristischen Interpretation aus linguistisch-hermeneutischer Sicht Dem Argument Alexys, dass nämlich die von der philosophischen Hermeneutik gestellten Fragen kein Allheilmittel für die Interpretation des Rechtes anbieten, kann man durchaus zustimmen. Es versteht sich von selbst, dass der Gegenstand und die Probleme der allgemeinen Philosophie und der Rechtswissenschaft unterschiedlicher Natur sind. Die philosophische Hermeneutik Gadamers kann als eine Metahermeneutik verstanden werden, deren Gegenstand „regionale Hermeneutiken“, also die juristische, die philologische und die theologische sind. In diesem Sinne kann z. B. festgestellt werden, dass, obwohl Gadamer die juristische Hermeneutik als Beispiel für seine philosophische Hermeneutik verwendete, dieser Dialog zwischen der juristischen und der philosophischen Hermeneutik die gesamte Tradition beider nicht umfasst und nicht umfassen kann. Die Frage, ob Gadamer das Problem der juristischen Interpretation und die Antworten auf diese Problematik, die von der juristischen Hermeneutik (genauer von der Rechtsmethodenlehre) im Laufe der Jahrhunderte gegeben wurden, richtig verstanden hat, wäre darüber hinaus von einiger Relevanz. Unabhängig davon kann die Fragestellung der philo 139 Raz, The Argument from Justice, or How Not to Reply to Legal Positivism, S. 1. Diese Diskussion ist hier jedoch nicht weiter zu vertiefen.

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sophischen Hermeneutik hinsichtlich der Struktur des Verstehens und demzufolge der Interpretation, die Selbstreflexion der juristischen Hermeneutik sogar noch befruchten. Wenn man zudem die Voraussetzungen der philosophischen Hermeneutik als Ausgangspunkt für das Studium des Problems der juristischen Interpretation annimmt, wie zum Beispiel die Idee des hermeneutischen Zirkels des Verstehens, muss das mit den Konsequenzen dieser Übernahme kohärent sein. Alexy versteht die juristische Interpretation als einen Unterfall der Interpretation im weiteren Sinn, die sich seiner Meinung nach mit dem Verstehen sprachlicher Äußerungen beschäftigt. Diese Art von Interpretation lasse sich wiederum in „unmittelbares Verstehen“, wenn kein Zweifel im Interpretationsprozess bestehe, und „mittelbares Verstehen“, das im Fall eines Zweifels vorliege, unterteilen. Im Zentrum des Problems der juristischen Interpretation steht seiner Meinung nach das „mittelbare Verstehen“,140 also Situationen, in denen das Verständnis erst möglich sei, wenn die Zweifel oder Fragen beseitigt sind. Diesbezüglich kann eingewandt werden, dass, obgleich der Autor von dem hermeneutischen Zirkel als Struktur des Verstehens ausgeht, seine Auffassung von der Zentralität des mittelbaren Verstehens im juristischen Phänomen sich eher der Hermeneutik der Aufklärung anzunähern scheint als der philosophischen Hermeneutik Gadamers. Nach der Hermeneutik der Aufklärung, findet die Interpretation nur ausnahmsweise statt (Sonderfall), nämlich nur um die „Dunkelheiten in Texten“ zu beheben, oder wenn Zweifel im Prozess des Verstehens bestehen, die die „okkasionelle Motivation der Auslegung“ rechtfertigen.141 Das unmittelbare Verstehen benötigt keine Interpretation. Verstehen und Auslegen sind nach dieser Ansicht dann aber nicht dasselbe.142 Da für Alexy interpretieren in gewissem Sinne argumentieren bedeutet, wäre z. B. zu fragen, ob die Argumentation im Fall der unmittelbaren Interpretation unnötig ist. Die Auffassung der Interpretation als eine „ okkasionelle“ Tätigkeit wirkt sich nicht nur auf die Frage der juristischen Argumentation bzw. Interpretation per se aus, sondern auch auf ihre Rolle in Bezug auf die Dogmatik und die Lösung konkreter Fälle. Sie scheint ebenfalls dem semantischen Normbegriff Alexys, seinem Begriff der unmittelbar statuierten und der zugeordneten (Grundrechts)Normen, der von ihm verteidigten Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien und nicht zuletzt dem methodologischen Unterschied zwischen Subsumtion und Abwägung als zwei Arten von Normenanwendung zugrunde zu liegen. In der Tradition der philosophischen Hermeneutik wurde allerdings die Idee der Notwendigkeit der Interpretation als eine Folge von Missverständnissen bzw. der Unmöglichkeit eines unmittelbaren Verstehens bereits am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von Schleiermacher infrage gestellt. Schleiermacher stellte fest, dass 140

Alexy, Juristische Interpretation, S. 73. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 187. 142 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 186. Hier spricht Gadamer von der Hermeneutik Chladenius. 141

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Missverständnisse jederzeit stattfinden können, das heißt sie sind keine Ausnahme im Prozess des Verstehens, sondern ganz im Gegenteil die Regel, anhand der das Verstehen geschieht: „Die laxere Praxis in der Kunst [der Auslegung, P. M] geht davon aus, dass sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden. […] Die strengere Praxis geht davon aus, dass sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt […] gewollt und gesucht werden“ muss.143 Ausgehend von diesem Standpunkt stellte Schleiermacher die Logik der Hermeneutik der Aufklärung bezüglich der Interpretation vom Kopf auf die Füße. Es handelt sich hierbei um eine Universalisierung des Missverstehens144 einerseits und um die innere Einheit von Verstehen und Auslegen andererseits.145 Dies bedeutet, dass die Interpretation nicht nur im Fall eines Scheiterns des Verstehens nötig ist. Zur gleichen Zeit wie Schleiermacher begann Savigny im Bereich der juristischen Hermeneutik (genauer: der juristischen Methodenlehre) eine ähnliche Position zu vertreten, die einen Bruch mit der Sens-clair- oder Acte-clair-doctrine bedeutete.146 In diesem Zusammenhang hob er Folgendes hervor: „Interpretation ist Rekonstruktion des Gedankens (klaren oder dunkeln – einerlei), der im Gesetz ausgesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist. […] Durchaus unbrauchbar ist der gewöhnliche Begriff der Interpretation (Erläuterung eines dunklen Gesetzes).“147 Die von Heidegger entwickelte Idee einer Vorstruktur des Verstehens – und später die Frage nach dem hermeneutischen Zirkel Gadamers – radikalisieren diese Vorstellung, nach der Verstehen, Auslegen und Anwenden in einem einheitlichen Vorgang geschehen.148 Dieser Vorgang impliziert seinerseits eine wechselseitige Beziehung zwischen Vorverständnis und Gegenstand (einem Text, zum Beispiel). Da das Subjekt den Sinn eines Gegenstandes nur durch sein Vorverständnis (Vorurteil für Gadamer) begreift, bildet die Suspension der Geltung der eigenen Vorurteile eine der fundamentalsten Bedingungen des Verstehens: „Alle Suspension von Urteilen aber, mithin und erst recht die von Vorurteilen, hat, logisch gesehen, die Struktur der Frage.“149 Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer mitbestimmt.150 In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von den „sachangemessenen Entwürfen“, die 143

Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, S. 92. (§ 15 und 16). Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 182–183. 145 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 312. 146 Ausführlich dazu Meder, Missverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, S. 17 ff. 147 Savigny, Juristische Methodenlehre. Nach der Ausarbeitung des Jakob Grimm. Gerhard Wesenberg (Hrsg.). Stuttgart: K. F. Koehler Verlag, 1951, S. 19–20 und ders., Methodologie. Zweiter Versuch. Sommer 1809 (als Einleitung der Pandekten). in: Mazzacane (Hrsg.), Friedrich Karl von Savigny: Vorlesungen über juristische Methodenlehre. 1802–1842. Savignyana 2. Neue, erweiterte Ausgabe. Frankfurt: Vittorio Klostermann, 2004, S. 221–222. 148 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 313. 149 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 304. 150 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 273. 144

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sich „an den Sachen“ erst bestätigen,151 und in Bezug auf das Textverstehen stellt er fest: „Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen“ und „wird sich von vornherein nicht der Zufälligkeit der eigenen Vormeinungen überlassen dürfen“.152 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Frage nach dem Vorverständnis nicht okkasionell sein kann, sondern eine Bedingung der Möglichkeit des Verstehens ist. Darüber hinaus soll das Vorverständnis – wie Gadamer vorschlägt – an den Sachen bestätigt werden und nicht solipsistisch oder selbstreferenziell. Demgemäß mutet es nicht kohärent an, von einem Begriff des hermeneutischen Zirkels als Vorstruktur des Verstehens auszugehen – was Alexy zu akzeptieren scheint – und zugleich einen Interpretationsbegriff anzunehmen, der zum einen das Problem des Zweifels privilegiert und zum anderen den anfänglichen Zugang zum Text auf den zweiten Rang verweist, wobei man noch nicht weiß, ob überhaupt ein Zweifel besteht, weil man noch nicht interpretiert hat. Diesem von Alexy verteidigten Interpretationsmodell liegt zudem – nach der Auffassung Müllers und Christensens – ein regelplatonistischer Begriff der Sprachregel153 zugrunde, oder, wie Busse behauptet, eine (juristisch-)linguistische Voraussetzung, die „in der nachwittgensteinianischen Sprachwissenschaft“ als „Regelplatonismus“ bezeichnet werden kann.154 Grob gesagt, handelt es sich im Bereich der Sprachwissenschaft um eine Konzeption des Regel- bzw. Normbegriffs „als vorsprachliche, vorbewußte Zusammenhänge, welche eine eigenständige, von der Form ihrer sprachlichen Formulierung unabhängige Realität haben. Solche Ansichten orientieren sich meist am Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften. Dort meint ‚Gesetz‘ eine naturhafte Regelmäßigkeit, welche in der Form ihrer wissenschaftlichen Beschreibung bzw. Formulierung das Fazit der gesamten verfügbaren Erfahrung (Empirie) darstellt und darum im weiteren Erkenntnisprozeß als feste, außerhalb des Erkenntnisprozesses gründende Größe behandelt wird.“155 Im Bereich der Rechtswissenschaft gehe es um eine Vorstellung der Interpretation als 151

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 272. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 273. 153 Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 165; Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft – Eine skeptische Widerrede zur Vorstellung des sprechenden Textes, in: Mellinghoff / Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht. Heidelberg: R. v. Decker & C. F. Müller, 1988, S. 117; Christensen / Kudlich, Wortlautgrenze: Spekulativ oder pragmatisch? ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law and Social Philosophy, Vol. 93, Nr. 1 (2007), S. 142; Christensen / Vogel, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, in: Müller / Mastronardi (Hrsg.), „Abwägung“: Herausforderung für eine Theorie der Praxis, Berlin: Duncker & Humblot, 2014, S. 97. 154 Busse, Semantische Regeln und Rechtsnormen – Ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Sicht, in: Mellinghoff / Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts. Methodik, Gentechnologie, Internationales Verwaltungsrecht. Heidelberg: R. v. Decker & C. F. Müller, 1988, S. 24, in Anlehnung an Andreas Kemmerling, Regel und Geltung im Lichte der Analyse Wittgensteins, in: Rechtstheorie 1, 1975. 155 Busse, Semantische Regeln und Rechtsnormen, S. 24. 152

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eine illusionäre Spekulation über die vorgegebene Bedeutung des Normtextes156, die sich letztendlich nicht von der Vorstellung der (Rechts)Sprache des Altpositivismus distanziert.157 Christensen meint, dass die juristische Interpretation sich bei Alexy auf vorgegebene semantische Regeln158 beziehe, also auf ein vor-pragmatisches Verständnis der Sprache:159 „In der deutschen Jurisprudenz gibt es eine spezielle ‚Juristensemantik‘, welche von Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann ausgearbeitet wurde und in der Schule von Robert Alexy übernommen wird. Sprache ist dort als Summe von vorgegebenen Regeln verstanden. Als ‚Semantik‘ wird die vorgängige Existenz einer Regel angenommen, mit der sich jeder Gebrauch beurteilen lassen solle. Daher postuliert die herkömmliche Lehre eine ‚Externalität der Sprache für das Recht‘. Das heißt, die Sprache operiert als ontisch gedachte Rechtfertigungsinstanz über den juristischen Argumenten. Die Semantik von Koch und Alexy wird aus dem Entscheidungsvorgang ausgeklammert und als Steuerungs- und Kontrollinstanz gesetzt. Sie glauben an die ‚Steuerungsfähigkeit der Sprache‘ und des näheren an die ‚Steuerungskraft der Semantik‘.“160 Hier darf der Begriff der „semantischen Regel“ nicht mit dem der „juristischen Regel“ als eine Art von Rechtsnorm – wie Alexy behauptet – verwechselt werden, obwohl eine Relation zwischen beiden bestehen kann. Eine semantische Regel bei Alexy ist eine allgemein linguistische Voraussetzung, die die Idee einer vorgegebenen Bedeutung des Gesetzestextes rechtfertigt, die ihrerseits aufgrund des semantischen Arguments im Bereich der juristischen Argumentation artikuliert wird. Die Feststellung einer semantischen Regel macht die grammatische Auslegung „definitiv“ in Argumenten wie:161 „R muß aufgrund Wi als Interpretation von R akzeptiert werden“ und „R’ kann aufgrund Wk nicht als Interpretation von R akzeptiert werden“.162 In diesem Fall reicht das semantische Argument allein aus, eine Entscheidung herbeizuführen163 oder gilt als Aufweis einer Regel.164 156

Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 229. Müller, Syntagma, S. 27. Über die Position Müllers bezüglich dieses Normmodells, vgl. Müller, Normstruktur und Normativität, S. 18. 158 Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin: Duncker & Humblot, 1989, S. 52. 159 Christensen, Wortlautgrenze: Spekulativ oder pragmatisch?, S. 142. 160 Christensen / Vogel, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, S. 91. Für eine tiefgreifende Kritik an diesem semantischen Modell aus der Sicht der Linguistik, vgl. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? Sprachwissenschaftliche Argumente im Methodenstreit der juristischen Auslegungslehre – linguistisch gesehen, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin: Duncker & Humblot, 1989, S. 97 ff. Busse behaup­tet, dass Koch für einen „essentialistischen Bedeutungsbegriff“ plädiert, mit dem er „der Bedeutung eigenständigen Dingcharakter, einen ontologischen Status platonischer Entitäten zuschreiben will“. Dies zeige einen „statischen Sprachbegriff“. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? S. 99. 161 Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes, S. 65. 162 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S, 289. 163 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 290. 164 Christensen / Vogel, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, S. 94. 157

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Dennoch beharrt Christensen darauf, dass in der linguistischen Diskussion eine Sprachregel nicht vorgängig, sondern nachgängig beschreibbar sein kann, also nur in der Retrospektive. Er beschreibt damit einen vorläufigen Versuch, gelungene Kommunikationsakte unter normativer Bewertung zu verketten:165 „Wenn es keine schlicht vorgegebenen und damit handhabbaren Sprachregeln gibt, dann impliziert schon die Formulierung dieser Sprachregeln eine normative Komponente, die den Rahmen bloßer Rechtserkenntnis sprengt. Das gilt aber auch für die antipositivis­ tische Doktrin und die Theorie des praktischen Diskurses.“166 Mit anderen Worten: Wenn aus der Sicht der Sprachwissenschaft eine Sprachregel nicht als schlicht vorgegeben und damit handhabbar konzipiert werden kann, also ihre Formulierung den Rahmen bloßer Rechtserkenntnis sprengt,167 dann verliert das von Alexy verwendete linguistische (semantische) Argument seine Grundlage. Sowohl die dem Rechtstext zugeordnete Bedeutung als auch die ihm zugrundeliegende Sprachregel müssen innerhalb eines aktiven Semantisierungsvorgangs168 gerechtfertigt werden. Die aus linguistisch-hermeneutischem Standpunkt unhaltbare Kombination eines essentialistischen Sprachmodells, nach dem der Zugang zur vorgegebenen Bedeutung eines Textes möglich ist, mit einer Interpretationsvorstellung, die nur wichtig wird, wenn ein Zweifel besteht (mittelbares Verstehen), und daher die Möglichkeit eines unmittelbaren Verstehens voraussetzt, das heißt ohne interpretative Vermittlung, wirkt sich auf alle Grundpfeiler des Alexyschen Denkens aus. c) Der Rechtsbegriff und das Problem der Interpretation und der Rechtsfortbildung Hier bietet sich an, die Idee der Wechselwirkung zwischen Vorverständnis und Text oder der zwischen der Interpretationshypothese und dem Normtext, eine der von Alexy dargestellten drei Eigenschaften des hermeneutischen Zirkels,169 wieder in den Blick zu nehmen. Die Interpretationshypothese – das Vorverständnis –, die als Parameter für das Verständnis einer Rechtsordnung dient, wird hinsichtlich des Rechtsbegriffs von Alexy durch die doppelte Natur des Rechts abgebildet. Wenn die Auffassung Gadamers ernst genommen wird, nach der die interpretativen Entwürfe an der Sache (im rechtlichen Kontext sind die Normtexte diese Sachen, also 165

Christensen / Vogel, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, S. 95–96. Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, S. 119. 167 „Die Forderung nach einer Bestimmtheit und Klarheit rechtlicher Regelung, die im Sinn einer Eigenschaft der gesetzlichen Vorschrift innewohnt und damit der Auslegung und Anwendung vorgegeben ist, ist sprachlich nicht einlösbar. Kein Text kann die mit ihm verknüpften Lesarten determinieren. Der Text hat keinerlei intrinsische Eigenschaft, die die Festlegung auf eine bestimmte Lesart unabhängig von der Praxis des Umgangs mit diesem Text rechtfertigen könnte.“ Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 190. 168 Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 266. 169 Alexy, Juristische Interpretation, S. 77. 166

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das positive Recht und die Sachverhalte und die Beziehung zwischen ihnen) bestätigt werden müssen, ist es erlaubt zu behaupten, dass die ideale Dimension des Rechts diese Voraussetzung nicht erfüllt. Diese ideale Dimension beschäftigt sich genau mit normativen Problemen, die nicht vom positiven Recht gelöst werden, und sie kann in Ausnahmefällen sogar gegen die reale Dimension angewendet werden. Diese Hervorhebung oder sogar der mögliche Vorrang der idealen Dimension kann einen Vorrang des Vorverständnisses (nichtpositivistischer Rechtsbegriff) vor dem Gegenstand (positives Recht) mit sich bringen. Da die Interpretation auch nach Alexys Meinung innerhalb des hermeneutischen Zirkels stattfindet und sich in der Argumentation äußert – wenn er von der doppelten Natur des Rechts ausgeht –, kann Alexy die Angemessenheit des interpretativen Entwurfes nicht mehr an den Sachen bestätigen, sondern nur solipsistisch an denselben. Anders gesagt: Der Richtigkeitsparameter der Interpretation ist die Argumentation, also die Äuße­ rung des Verstehens, und nicht die Adäquatheit des Vorverständnisses in Bezug auf den Gegenstand. Dies wird noch deutlicher, wenn Alexy die Richtigkeitsthese (Teil des Prinzipienarguments) verteidigt und wenn er darüber hinaus sagt, dass die richtige Moral nicht die Notwendigkeit eines bestimmten Inhalts impliziert, sondern nur dass sie begründungsfähig sein muss, also einen Anspruch auf Begründbarkeit enthält. Eine richtige Moral ist damit eine begründbare Moral.170 Da diese Begründungsfähigkeit sich nicht auf Argumente beschränkt, die auf das positive Recht verweisen, kann auch von einer „Spekulation über gesetzestranszendente Maßstäbe“ gesprochen werden.171 Im Fall der „Rechtsfortbildung im engeren Sinne“, die für Alexy eine Entscheidung außerhalb des Rahmens des Wortlauts und sogar auch gegen ihn ermöglicht,172 wird das Problem klarer. Alexys Meinung nach steht hinter diesem Problem stets die Kollision fundamentaler Prinzipien oder Werte und die Lösung dafür hängt wiederum vom jeweils geltenden Verfassungsrecht und der vom Interpreten vertretenen Philosophie des Rechts ab. Aber die vom Interpreten verteidigte Philosophie des Rechtes (Vorverständnis hinsichtlich des Rechtsbegriffs) leitet seine Lektüre der Rechtsordnung. Demzufolge hängt am Ende des Tages die Lösung dieser Kollision ausschließlich von der vom Interpreten vertretenen Philosophie des Rechts ab. Dieses Problem ist ebenfalls augenscheinlich, wenn man an die anderen Eigenschaften des hermeneutischen Zirkels im Bereich der Interpretation des Rechts denkt, also das Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen, oder anders gesagt, die Beziehung zwischen Norm und System, und das Verhältnis von Norm und Sachverhalt.

170 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 132 und Alexy, Zur Kritik des Rechtspositivismus, S. 25. 171 Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, S. 125. 172 Alexy, Juristische Interpretation, S. 86.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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d) Der Zirkelschluss in der Theorie der juristischen Argumentation Die Zirkularität der Begründung taucht ebenso in der Alexyschen Theorie der juristischen Argumentation als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses auf. Hier geht es um das von ihm so bezeichnete Problem der „diskursiven Möglichkeit“,173 also um Situationen, in denen die allgemeinen praktischen Argumente keine Lösung für den Fall anbieten. Die Existenz solcher Hypothesen rechtfertige die Notwendigkeit des juristischen Diskurses: „Die Grenzen des allgemeinen praktischen Diskurses begründen die Notwendigkeit rechtlicher Regeln.“174 Dennoch pointiert Alexy Folgendes: „Es kann Fälle geben, in denen allgemeine praktische Argumente ein so großes Gewicht haben, daß sie den institutionellen Argumenten vorgehen. Die institutionelle Argumentation ist also durchgängig von allgemeiner praktischer Argumentation abhängig. […] Die institutionellen Argumente stützen sich unmittelbar oder mittelbar auf die Autorität des positiven Rechts. Die Argumente der vierten Kategorie, die allgemeinen, praktischen Argumente, ziehen ihre Kraft demgegenüber allein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit. Sie können deshalb auch als „substanzielle Argumente“ bezeichnet werden.“175 Von Interesse in diesem Zusammenhang ist bspw. die Funktion des teleologischen und des deontologischen Arguments, die sich letzthin jeweils auf eine „Vorstellung des Guten“176 und eine „Vorstellung des Sollens“177 stützen. Sie können – wenn auch nur ausnahmsweise, wie Alexy einräumt – den institutionellen Argumenten, z. B. dem linguistischen Argument, vorgehen. Allerdings bleibt zu fragen, woher diese „Vorstellung des Sollens“ kommt? Sie scheint moralisch orientiert zu sein, eben weil es nicht möglich ist, aufgrund des vorgegebenen autoritativen Materials eine Entscheidung zu treffen. Interessanterweise legt Christensen diesbezüglich dar, dass Alexy die Idee der „Gesetzesbindung“ zur „Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft“178 verschiebt: „Es geht ihm nicht um die normative Rückbindung einer empirischen Argumentationstheorie an das Rechtsstaatspostulat, sondern um die ideale Bindung an die Rationalität einer Theorie des praktischen Diskurses […]. Der bloße Gesetzestext muß ersetzt werden durch das allumfassende Gesetzbuch der praktischen Vernunft und die darin enthaltenen ‚Grundnormen des vernünftigen Sprechens‘. Damit werden die Probleme also von der empirischen Ebene auf die philosophische Ebene verschoben.“179 173

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 256. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 35. 175 Alexy, Juristische Interpretation, S. 88–89. 176 Alexy, Juristische Interpretation, S. 89. 177 Alexy, Juristische Interpretation, S. 89. 178 Den Ausdruck „Gesetzbuch der praktischen Vernunft“ verwendet Alexy selbst. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 35. 179 Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, S. 103–104. Kritisch dazu auch Christensen / Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis. Berlin: Duncker & Humblot, 2008, S. 20 ff. und Neumann, Juristische Argumentationslehre. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986, S. 81 ff.; kritisch in Bezug auf den juristischen Diskurs als Sonderfall des allgemein praktischen Diskurses, 174

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Die Unfähigkeit des allgemeinen praktischen Diskurses, Lösung für alle praktischen Probleme anbieten zu können, macht die Existenz des juristischen Diskurses erforderlich. Aber falls der juristische Diskurs nun nicht zur Lösung einer praktischen Frage führt, muss man sich wiederum auf der Ebene des allgemeinen praktischen Diskurses bewegen, der anfänglich als nicht ausreichend deklariert wurde. Die argumentative Struktur entspricht der Idee der doppelten Natur des Rechtes. Folglich ist die Kritik an der Zirkularität oder dem infiniten Regress dieselbe. In diesem Sinne behauptet Hain zutreffend: „Der allgemeine praktische Diskurs kann aber kaum Defizite an Entscheidungssicherheit des juristischen reduzieren, da er deutlich entscheidungsinfiniter ist als der juristische […]. Falls die Notwendigkeit einschränkender Bindungen des juristischen Diskurses erst und gerade dann besteht, wenn die entscheidungssteuernde Wirkung des allgemeinen praktischen Diskurses erschöpft ist, ist nicht erkennbar, auf welche Weise, der in Bezug auf diese Wirkung bereits ausgeschöpfte allgemeine praktische Diskurs überhaupt Entscheidungsinfinitheiten des juristischen Diskurses auch nur abmildern könnte.“180 Außerdem ist die Kritik Müllers und Christensens hinsichtlich der Alexyschen platonischen Konzeption der (Rechts-)Sprache auch hier von Bedeutung: „Alexy geht es somit um eine äußere, eine nur additive Verknüpfung von Semantik und juristischer Argumentation. Die Semantik erschöpft sich in der Erkenntnis angeblich objektiv vorgegebener Regeln; und weil sich solche Regeln im Ernstfall der Entscheidung natürlich nicht nachweisen lassen, bedarf sie der Ergänzung durch eine normgelöste juristische Argumentation. […] Der Sonderfall wird durch die Gesetzesbindung konstituiert. Diese kann allerdings mit Hilfe einer unrealistischen Semantik eherner Sprachregeln ganz schnell in Richtung Moral überwunden werden.“181 Alexy versteht alles, was den Wortlaut und den Willen des Gesetzgebers transzendiert als Rechtsfortbildung.182 Immer wenn daher der Wortlaut der Verfassung und damit das linguistische Argument ein strukturelles und semantisches interpretatives Problem unmittelbar nicht löst, entsteht eine Lücke,183 deren Füllung Tugendhat, Zur Entwicklung von moralischen Begründungsstrukturen im modernen Recht, in: Hassemer / Kaufmann / Neumann (Hrsg.), Argumentation und Recht. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1980, passim. 180 Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes. Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG. Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 147. 181 Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 265. 182 Nach Klement „bekennt sich Alexy ausdrücklich zum Primat der semantischen Auslegung, die er zusammen mit der Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers mit der Bindung an das Gesetz (die Verfassung) gleichsetzt. Doch ist dieses Primat in seiner Theorie von praktisch geringem Wert, weil jedes auf den Text oder den Willen bezogene Argument unter dem Vorbehalt eines besseren Grundes steht, der seinerseits nicht zwingend auf den Text oder den Willen bezogen sein muss.“ Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt. Robert Alexys Prinzipientheorie aus der Sicht der Grundrechtsdogmatik, in: JZ 15/16, 2008, S. 759. 183 „Wenn man mit dem klassischen Gesetzespositivismus [und in diesem Sinne einigermaßen auch mit dem Alexyschen Regelbegriff, P. M.] das Gesetz als anwendbaren Befehl versteht, hat man immer, wenn dies nicht möglich ist, eine Lücke. Die Rechtsordnung bestünde dann fast nur noch aus Lücken. Denn das Gesetz ist praktisch nie ein anwendbarer Befehl. […] Man stößt dann allerdings auf ein zweites Erkenntnishindernis in der juristischen Sprachtheorie.

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durch die Anwendung von Prinzipien, die deontologische Seite der Werte,184 vorgenommen wird. Die Adäquatheit dieses Vorgangs wird auf der Ebene der Richtigkeit des Diskurses überprüft: „Für Alexy hat die Gleichsetzung der Gesetzesbindung mit einer vorgegebenen Semantik des Textes aber den spezifischen Sinn, die Maßstäbe rechtsstaatlicher Rationalität in ihrer Reichweite so einzuschränken, daß er Raum gewinnt für einen philosophischen Rationalitätsmaßstab.“185 Alexy scheint einen weiten Begriff der Normativität zu verteidigen, auf dessen Grundlage es nicht möglich ist, die juristische und die moralische Sphäre zu differenzieren, weshalb die Theorie des rationalen Diskurses von ihm als eine „normative Diskurstheorie“ verstanden wird, deren Regeln als „Normen für die Begründung von Normen“ erfasst werden können.186 An dieser Stelle drängt sich nun die Frage auf, wie Alexy die folgenden zwei Auffassungen miteinander in Einklang bringen kann: Einerseits stellt er fest, dass die allgemeinen praktischen Argumente ihre Kraft allein aus ihrer inhaltlichen Richtigkeit ziehen. Er bezeichnet diese als „substanzielle Argumente“. Andererseits stellt er in Bezug auf die Inkorporationsthese fest, dass die Richtigkeit moralischer Urteile auf ihrer Begründbarkeit basiert: Eine richtige Moral ist eine begründbare Moral. Hier hängt also die Kraft der allgemeinen praktischen Argumente nicht von ihrer inhaltlichen Richtigkeit, sondern von ihrer diskursiven Richtigkeit ab. Was ist dann letztendlich für ihn der „Richtigkeitsparameter“? Alle diese Fragen wirken sich nicht nur auf die Theorie der juristischen Argumentation und den Rechtsbegriff aus, sondern auch auf den Alexyschen Begriff der Verfassung und der Grundrechte. e) Die ideale Verfassung und die idealen Grundrechte Alexy hebt zutreffend hervor, dass die Begriffe ‚Verfassung als Grundordnung der Gemeinschaft‘ und als ‚Rahmenordnung‘ nicht notwendigerweise inkompa­ tibel sind.187 Dies bedeutet, dass der Begriff der Verfassung als Grundordnung der Juristen machen in ihrem Zugriff auf die Sprachwissenschaft aus dem linguistischen Begriff der Regel eine gesetzespositivistische Norm, welche eindeutig zu entscheiden erlaubt, ob ein Sprachgebrauch legitim ist oder nicht. Wenn die Regel dies nicht erlaubt, im Bereich von Vagheit, Mehrdeutigkeit usw., muß dann mit Prinzipien gearbeitet werden. Wenn die Sprachregel so aufzufassen wäre, gäbe es bei der sprachlichen Konstitution der Rechtsnorm wiederum nur Lücken.“ Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 395. Ausführlich über das Problem der Lücken im Recht siehe auch Christensen / Kudlich, Die Lücken-Lüge, in: JZ 19/2009, S. 943 ff. 184 „Das Rechtssystem umfaßt damit sowohl deontologische als auch axiologische Elemente.“ Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 24. 185 Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, S. 103–104. 186 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 225. 187 In diesem Zusammenhang betont Lerche: „Ebensowenig wie die Verfassung als Grundordnung mit umfassend dirigierenden Inhalten ausgestattet und darin gewissermaßen aufgelöst gedacht werden kann, ist sie bloße Rahmenordnung.“ Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten, in: FS für Klaus Stern, 1997, S. 203–204.

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Gemeinschaft nicht unbedingt mit dem Begriff der Verfassung als „juristisches Weltenei“ gleichzusetzen ist. Wie schon angedeutet, besteht die hinter dieser begrifflichen Diskussion stehende Hauptfrage darin, wie umfangreich die Verfassung die Gesellschaft und die staatliche Tätigkeit reguliert und – vor allem in Bezug auf den letzten Punkt – wie die Gewaltenteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber (zum Beispiel hinsichtlich der Grundrechte) gedacht wird. Die Kritik Böckenfördes an der Wertungsrechtsprechung bzw. an der wertorientierten Interpretation des GG besagt zum Beispiel, dass die Konzeption des GG als Grundordnung der Gemeinschaft die Rolle des Gesetzgebers aushöhle und die Kompetenz des BVerfG hypertrophiere. Dieser Einwand scheint zuzutreffen, im Gegensatz zur Alexyschen Verteidigung der Vereinbarkeit, wenn man die Begriffe ‚Verfassung als Grundordnung der Gemeinschaft‘ und ‚Verfassung als Wertordnung‘ als Synonym versteht. Diese Gleichsetzung ist jedoch nicht erforderlich. Darüber hinaus mag hier die Position Böckenfördes, nach der sowohl die Verfassung als auch die Grundrechte als eine Rahmenordnung verstanden werden sollten, dahinstehen.188 Im Vordergrund der hier anzustellenden Überlegungen steht vielmehr ausschließlich die Frage, ob der Verfassungsbegriff von Alexy, der in gewissem Sinne mit der Idee der Verfassung als Wertordnung zusammenhängt – die Relation zwischen Werten und Prinzipien bei ihm wäre bspw. auch hier zu nennen –, tatsächlich eine Hypertrophie des Verfassungsgerichts, einen Verlust an Bedeutung des Gesetzgebers und nicht zuletzt sogar eine Vernachlässigung des Verfassungstexts bewirken kann. Wenn man an den Alexyschen nichtpositivistischen Begriff des Rechts und der Grundrechte, also an die doppelte Natur des Rechts denkt, erscheint es folgerichtig hervorzuheben, dass für ihn die Verfassung ebenfalls zwei Dimensionen enthält, obwohl Alexy selbst diese argumentative Struktur nicht verwendet: Es gelte in Deutschland dann eine reale oder positive Verfassung, also das Grundgesetz, und eine ideale oder kritische Verfassung, das heißt, eine moralisch begründbare Verfassung. Seiner Meinung nach hat die reale oder positive Verfassung einen (bloßen) prima-facie-Vorrang hinsichtlich der idealen. Die letztgenannte Dimension kann mittlerweile in Ausnahmefällen den Vorrang haben, obgleich Alexy nicht erklärt, was er unter der Geltung des GG als Ausnahmefälle versteht und wann diese stattfinden. Die Funktion der idealen Verfassung und der idealen Grundrechte als Ergänzung des GG und seines Grundrechtskatalogs (und sogar als Entscheidungsparameter gegen den Verfassungstext) im Fall des Offenheitsbe-

188 In diesem Zusammenhang stellt Jestaedt fest, dass weder die Idee der Verfassung als Rahmenordnung noch der Verfassung als Wertordnung eine ausreichende Basis für die Grundrechtsdogmatik anbieten: „Sowohl das Rahmenordnungs- als auch das Wertordnungstheorem ist griffig und erkenntnisleitend nur um den Preis enormer Abstraktionshöhe. Beide leisten nicht mehr als eine erste – makrodogmatische – Groborientierung. Zur Feinsteuerung grundrechtsdogmatischer Detailarbeit taugen sie nicht.“ Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 104 ff. Diese Behauptung kann für die brasilianische Verfassung und für die mit ihr korrespondierende Grundrechtsdogmatik auch zutreffen. Dazu noch unten.

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reichs hängt nur von ihrer rationalen Begründbarkeit ab. Aber das Alexysche argumentative Modell ist nicht gänzlich problemfrei, worauf oben hingewiesen wurde. Treffen die vorstehenden Einwände hinsichtlich der linguistisch-hermeneu­ tischen Konzeption Alexys einerseits und ihrer reduktionistischen Auffassung des positiven Rechts andererseits zu, dann besitzt der prima- facie-Vorrang der realen oder positiven Dimension des Rechts, also der Verfassung und der Grundrechte, eine zu geringe Rolle. Der Übergang zur idealen Dimension wird nicht der Ausnahmefall sein, sondern ganz im Gegenteil der Normalfall. Anders gesagt: Die Kritik am Alexyschen Begriff des Rechts und an seiner Konzeption der Interpretation und der Argumentation trifft hier ebenso zu wie in Bezug auf seinen Begriff der (idealen) Verfassung und der idealen Grundrechte. Wenn man die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als auf dieser dualistischen Auffassung des Rechts, der Verfassung und der Grundrechte gegründet versteht, ist es möglich über eine latente Hypertrophie der Kompetenzen des BVerfG zu sprechen, denn das Gericht darf auf Grundlage einer moralischen Argumentation einerseits die Verfassungswidrigkeit infrakonstitutioneller Normen klären – auch gegen den Verfassungstext – und andererseits Staatsaufträge wie zum Beispiel Leistungsrechte – trotz des Mangels an Positivität oder genau deswegen – konstruieren. f) Die falsche Dichotomie zwischen Konstitutionalismus und Legalismus Die von Alexy und Dreier vorgeschlagene Reduktion der Grundkonzeptionen des Rechtssystems auf die Dichotomie zwischen Konstitutionalismus und Legalismus ist darüber hinaus nicht zufriedenstellend. Rechtsmethodologisch betrachtet setzt die zitierte Auffassung eine notwendige Alternative voraus: Auf der einen Seite ein Rechtsanwendungsmodell (Regeln bzw. Subsumtion), das angeblich von der Begriffsjurisprudenz im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts verteidigt wurde189 und mindestens seit der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts von Jhering, Adickes, Bülow u. a. und später zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von der Interessenjurisprudenz und von der Freirechtsbewegung und nicht zuletzt sogar vom nor 189

Vgl. dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Gerhard Wesenberg, Neuere Deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung. Göttingen, Moritz Schauenburg, 1954, passim, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Dritte, völlig neu überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer, 1975, passim. Kritisch dazu, Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?: zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert. Frankfurt: Klostermann, 2004; Haferkamp, Begriffsjurisprudenz, in: EzR Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie. IVR (Deutsche Sektion) und Deutsche Gesellschaft für Philosophie. Erstpublikation: 06. 04. 2011. http://www. enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net; Haferkamp, Georg Friedrich Puchta, in: EzR Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie. IVR (Deutsche Sektion) und Deutsche Gesellschaft für Philosophie. Erstpublikation: 08. 04. 2011. http://www.enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net.

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mativen Positivismus Kelsens infrage gestellt wurde,190 und demzufolge als nicht akzeptabel bezeichnet wird, und auf der anderen Seite ein Modell, das angeblich angemessener für die Interpretation des GG ist (Prinzipien bzw. Abwägung). Anders gesagt: Es stehen nur das überkommene Modell der Begriffsjurisprudenz oder das (neue) adäquate Abwägungsdenken zur Verfügung. Nicht zufällig vertritt Alexy das Abwägungsdenken. Es lässt sich jedoch nicht übersehen, um ein Beispiel zu nennen, dass das von Friedrich Müller entwickelte Modell sowohl in Bezug auf die Theorie der Normen als auch auf die juristische Methodik, auf keinen Fall als legalistisch bezeichnet werden kann. Müller hat in seinen Beiträgen schon am Ende der 1960-er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass weder die von Forsthoff vorgeschlagene Rückkehr zur klassischen Hermeneutik noch die vom BVerfG entwickelte Wertungsrechtsprechung fähig seien, eine angemessene Interpretation (Konkretisierung wie Müller formuliert) der Verfassung anzubieten.191 Die von Alexy und Dreier geprägte Alternative missachtet das Modell der Konkretisierung, das weder dem Konstitutionalismus noch dem Legalismus entspricht, aber einen klaren dritten Weg anbietet. Es handelt sich um eine Theorie, die sich gegen die vereinfachende Idee der Rechtsnorm als schlicht subsumtionsfähig positioniert und die gleichzeitig nicht von der Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln ausgeht und das Modell der Abwägung als Methode der Anwendung von Grundrechten ablehnt, sei es, wie vom BVerfG verwendet, sei es, wie von Alexy unternommen, dieses Modell zu rationalisieren.192 Wenn darüber hinaus diese methodologische Dichotomie korrekt wäre, müssten die zahlreichen Vorschläge der Grundrechtsdogmatik, die nicht aus dem Kreis der Prinzipientheoretiker kommen, wie zum Beispiel Bumke, Jestaedt, Poscher, Rusteberg usw., notwendigerweise dem sogenannten „Legalismus“ folgen, was aber nicht unbedingt zutrifft. Die Art und Weise der Argumentation von Alexy und Dreier entspricht weder dem heutigen Stand der Grundrechtsdogmatik noch der Rechtsmethodologie. 190

Adickes, Zum Lehre von den Rechtsquellen. Göttingen, Verlag von Georg H. Wigang, 1872; Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz: Neu herausgegeben von Max Leitner. Wien: Linde Verlag, 2009; Bülow, Gesetz und Richteramt. Leipzig: Duncker & Humblot, 1885. Über die Freirechtsbewegung vgl. Riebschläger, Die Freirechtsbewegung. Zur Entwicklung einer soziologischen Rechtsschule. Berlin: Duncker &. Humblot, 1968. 191 Es besteht keine Notwendigkeit, die Theorien Müllers hier im Einzelnen zu beschreiben. Bezüglich des Normbegriffs siehe Müller, Normstruktur und Normativität, S. 24 ff. und Müller, Strukturierende Rechtslehre, passim. Auf die Methodenlehre bezogen, Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 54 ff. 192 Für einen Versuch, die Methode der Abwägung ausgehend von der strukturierenden Rechtslehre Müllers zu rekonstruieren, das heißt, ohne Bezugnahme auf die Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln, sondern eigentlich im Gegensatz dazu, siehe Windisch, „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion. Konstruktive Überlegungen zur Abwägung im Kontext der strukturierenden Rechtslehre, in: Müller / Mastrinardi (Hrsg.), „Abwägung“: Herausforderung für eine Theorie der Praxis, Berlin: Duncker & Humblot, 2014, passim.

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g) Der Begriff der Dogmatik aus der Sicht der doppelten Natur des Rechtes Betrachtet man den Alexyschen Begriff der Dogmatik in Verbindung mit seinem Rechtsbegriff, also der doppelten Natur des Rechtes, wird die Grenze zwischen der Rolle der Dogmatik und der der Rechtsphilosophie nebulös. Was den internen Aspekt der Dogmatik anbetrifft, droht darüber hinaus ein Übergewicht ihrer normativen und analytischen Dimensionen über die empirischen. aa) Die undurchsichtige Relation zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie Die Betrachtung der Dogmatik als „Wissenschaft des positiven Rechtes“ und ihrer Autonomie in Bezug auf andere Bereiche der Rechtswissenschaft verliert an Bedeutung, wenn man sie auf der Grundlage der doppelten Natur des Rechts bzw. des juristischen Diskurses als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses versteht. Alexy erkennt den interpretativen bzw. argumentativen Charakter der Dogmatik an. Da die Interpretation für ihn einerseits von der vom Interpreten verteidigten Rechtsphilosophie und andererseits vom positiven Recht abhängt, aber das positive Recht – nach dem Alexyschen reduktionistischen Verständnis des Wortlauts und des linguistischen Arguments – in zweifelhaften Fällen keine Antwort anbietet, drängt sich die Frage auf: Wird die Dogmatik am Ende nicht ausschließlich von der vom Interpreten vertretenen Rechtsphilosophie abhängig sein? Wenn die Dogmatik von der idealen Seite der doppelten Natur des Rechtes her gedacht wird, lässt sich folgerichtig feststellen, dass ihr Gegenstand nicht mehr das positive Recht ist, weil die ideale Dimension des Rechts sich genau mit dem Schweigen (Offenheitsbereich) der realen Dimension beschäftigt. Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie geraten hinsichtlich ihres Aufführungsortes durcheinander.193 Wenn darüber hinaus die Funktion der Dogmatik als Orientierung für die prak­ tische Tätigkeit des Juristen aufgefasst wird, erweitert dies wegen der Konfusion mit der Rechtsphilosophie die Brandbreite des Interpretationsvorgangs und entbindet den Interpreten von der Bindung an das positive Recht. Mit anderen Worten: Die Funktion der Dogmatik als „einschränkende Bedingung“ des juristischen Diskurses neben dem Gesetz und dem Präjudiz194 wird fließender als es auf den ersten Blick scheinen mag.

193 In ähnliche Richtung geht die Kritik bei Reimer: „Löst sich die Rechtswissenschaft aber in diesem Maße vom positiven Recht, so wechselt sie ihren Gegenstand. Über die vom Grundgesetz aufgerichtete positive Rechtsordnung spricht sie dann nicht mehr.“ Reimer, „… und machet zu Jüngern alle Völker“? Von „universellen Verfassungsprinzipien“ und der Weltmission der Prinzipientheorie der Grundrechte, in: Der Staat, Bd. 52 (2013), S. 50. 194 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 34, 222 und 352.

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bb) Das potenzielle Übergewicht der normativen Dimension der Dogmatik Im Prinzip gibt es keine Hierarchie zwischen den drei Dimensionen des Alexyschen Begriffs der Dogmatik. Obgleich er sein Modell der juristischen Argumentation, innerhalb dessen er seinen Begriff der Dogmatik ausarbeitet, als „normativanalytische Theorie des juristischen Diskurses“ charakterisiert, interessiert ihn die empirische Dimension der Dogmatik nicht zentral.195 Vorausgesetzt die vorstehenden Kritikpunkte treffen zu, insbesondere in Bezug auf das potentielle Übergewicht der idealen Dimension des Rechts bei Alexy, ist es ebenfalls nicht unsinnig, eine Prävalenz der mit der idealen Dimension des Rechtes (potentiell) zusammenhängenden normativen Dimension der Dogmatik gegenüber ihrer analytischen und empirischen Dimensionen festzuhalten. In der Alexyschen Ausarbeitung der Grundrechtsdogmatik fungiert die analytische Dimension der Dogmatik als Lektüreschlüssel für die empirische Dimension auf der Grundlage der normativen Dimension. Die Betonung der normativen oder der empirischen Dimension kann unterdessen den analytischen Aspekt der Dogmatik verändern. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Figur des juristischen Prinzips, ein analytisches Element der Grundrechtsdogmatik von Alexy, das als interpretatives Schema für die Verfassungsnormen dient, oder besser gesagt, für die Offenheitsbereiche des Rechts bzw. der Grundrechtsdogmatik. Die Auffassung des Prinzips als deontologische Seite der Werte ist eng verbunden mit der idealen Dimension des Rechts und demgemäß mit der normativen Dimension der Dogmatik. Alexy könnte hierzu einwenden, dass sein Begriff des Prinzips auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG basiert, demzufolge auf der empirischen Dimension des Rechts und der Dogmatik. Aber diese Behauptung überzeugt nicht, denn der Gegenstand seiner analytischen Dimension, also die Rechtsprechung des BVerfG betrifft nur einen Teil der empirischen Dimension des Rechts. Die Verfassungsbestimmungen wurden nicht als Objekt für die Konstruktion des Prinzipienbegriffs herangezogen. Darüber hinaus berücksichtigt Alexy nur einen Teil dieser Rechtsprechung bezüglich der Grundrechte – den transzendentalen Aspekt einiger Entscheidungen –, um den Begriff des Prinzips zu konstruieren. Diese Entscheidungen des BVerfG sind allerdings schon eine (wertungsbezogene) Interpretation des GG und können sich deshalb als Irrtum herausstellen. Wenn das BVerfG zudem über den leistungsrechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte (Existenzminimum z. B.) spricht,196 taucht die Idee der Kollision bzw. der Abwägung als Voraussetzung der Entscheidung nicht auf, daher kann in diesen Fällen nicht von Prinzipien die Rede sein. Alexy behauptet jedoch, dass Leistungsrechte die Struktur von Prinzipien bzw. Optimierungsgeboten besitzen, obwohl das BVerfG dies nicht feststellt. Die analytische Dimension der Grundrechts­dogmatik 195 196

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32–33. BVerfG 125, 175 – Hartz IV, BVerfGE 132, 134, Asylbewerberleistungsgesetz.

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(Begriff des Prinzips) hinsichtlich der Leistungsrechte bedeutet in diesem Kontext keineswegs eine Abstraktion von der realen Dimension des Rechts und demzufolge von der empirischen Dimension der Dogmatik. Alexy geht vielmehr von einer idealen Dimension des Rechts bzw. der normativen Dimension der Dogmatik aus und bildet sein analytisches Instrumentarium ohne Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG als Ganzes oder auf die Verfassungsbestimmungen, also auf die vollständige reale Dimension des Rechts bzw. die empirische Dimension der Dogmatik.197 Dieses Instrumentarium taugt als Schlüssel zum Verständnis der realen Dimension des Rechts bzw. empirischen Dimension der Dogmatik. Wenn man jedoch die Rolle der Dogmatik als Wissenschaft des positiven Rechtes ernst nimmt, wobei das positive Recht, wie Alexy selbst meint, ihr primäres Objekt der Interpretation ist, muss diese Logik umgedreht werden. In diesem Sinne hebt Bumke zutreffend hervor: „Im Gegensatz zu R. Alexy, wird hier der Verfassungstext als das Primäre angesehen und die Verfassungsnorm als das Sekundäre […]. Was bei der Unterscheidung von Norm und Normsatz verloren zu gehen droht, ist der normative Anspruch des Verfassungstextes. Nur dieser Text ist die Verfassung. Alle anderen Texte sind Texte (beispielsweise die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) über diesen Text. Und nur diesem Text wird verfassungsrechtliche Normativität zuerkannt.“198 Anders gesagt: Die analytische Dimension der (Grundrechts-)Dogmatik, also die begrifflich-systematische Durchdringung des Rechts soll von der empirischen Dimension der Dogmatik ausgehen, nämlich dem positiven Recht – was die mit ihm im Einklang stehende Rechtsprechung des BVerfG einschließen kann. Die normative oder kritische Dimension der Dogmatik darf als Hilfestellung oder Ergänzung der empirischen Dimension dienen, ihr aber nie – zumindest, wenn es um die Verfassungsbestimmungen geht – entgegengehalten werden, sonst droht die rechtsphilosophische Position des Interpreten das positive Recht zu überlagern. Man kann sogar sagen, dass dieser vorherrschende Einfluss der rechtsphilosophischen Position des Interpreten auf das Handeln in der empirischen Dimension der Dogmatik im Alexyschen Modell der Grundrechtsdogmatik spürbar ist. Es wurde schon an früherer Stelle erwähnt, dass Alexy den Soraya-Beschluss als Fundament für die Verteidigung seines nichtpositivistischen Begriffs des Rechts verwendet. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass in diesem Urteil eine ambivalente Argumentationsweise zu Tage tritt. Wenn Alexy für die Entwicklung seines grundrechtsdogmatischen Modells ausschließlich die transzendente Argumentationslinie des Soraya-Beschlusses benutzt, führt er keine bloße Analyse und Systematisierung des empirischen Materials durch, sondern bewertet bzw. bevorzugt den Teil der Entscheidung, der im Einklang mit seinem Rechtsbegriff steht. Schließlich ist wieder anzumerken und anschließend zu beweisen, dass die dem 197

S. o. B. I. 4. a). Bumke, Grundrechtsvorbehalts. Untersuchungen über die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte, Baden Baden: Nomos, 1998, S. 53, (Fn. 135). 198

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Alexyschen Rechtsbegriff zugrunde liegenden linguistisch-hermeneutischen Voraussetzungen nicht nur seine Konzeption der allgemeinen Dogmatik beeinflussen, sondern auch die wichtigsten Bestandteile seiner Grundrechtsdogmatik. h) Der semantische Begriff der Norm Alexy entwickelt einen semantischen Normbegriff, der sich über drei Stufen vollzieht. Auf der ersten Stufe liegt die Unterscheidung zwischen Normsatz und Norm, wobei letztere die Bedeutung des ersten ist. Auf der zweiten Stufe steht die Existenz von zugeordneten Normen, also von Normen, die nicht unmittelbar von Normsätzen statuiert werden. Auf der dritten Stufe finde sich die Generalisierung des Richtigkeitskriteriums für die Konstruktion von Normen. Der Unterscheidung zwischen unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Normen und zugeordneten (Grundrechts-)Normen entsprechen zwei unterschiedliche Semantisierungs- bzw. Begründungskriterien. aa) Die unmittelbar statuierte (Grundrechts-)Norm Im Fall der unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Norm handelt es sich für Alexy um eine Umdeutung, nach der der Normsatz eine Norm (ein Sollen) ausdrückt. Die Begründung (Richtigkeitskriterium) für diese Uminterpretation hängt nur von der Referenz auf positives Recht ab. Diese Norm kann entweder ein Prinzip oder eine Regel sein, was den Doppelcharakter der Grundrechtsnormen ausweist.199 Für diese anfängliche Charakterisierung des Normsatzes als Prinzip oder Regel bietet das Alexysche Modell jedoch keinen Anhaltspunkt im positiven Recht an.200 Alexy selbst erkennt diesen Charakter seiner analytischen Zweiteilung, versteht das aber nicht notwendigerweise als ein Problem: „Günther ist allerdings einzuräumen, daß es Fälle gibt, in denen nicht einfach zu entscheiden ist, ob eine Norm als Regel oder als Prinzip behandelt werden soll. Dies ist eine Frage der Interpretation, und wie stets bei der Interpretation gibt es keine Kriterien, die in allen Fällen eine einfache und klare Antwort erlauben. Doch das ist kein Einwand gegen den Prinzipiencharakter als Eigenschaft der Normstruktur. Schon die Frage, ob eine Norm eine Regel oder ein Prinzip ist, setzt voraus, daß Normen Prinzipien sein können.“201 Seine theoretische Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Norm, die schon die Bedeutung eines Normsatzes ist. Unabhängig davon ist es bei Alexy möglich, zwei Kriterien der Identifikation einer Norm als Regel oder Prinzip zurückzuverfolgen. 199

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122. Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 272; dazu auch Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 72. 201 Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 38. 200

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Beim ersten Kriterium ist zu fragen, ob die vom Normsatz unmittelbar statuierte Norm semantisch oder strukturell unbestimmt ist, das heißt, ob ein „Offenheitsbereich“ vorliegt. Mit anderen Worten: Wenn der abstrakte Semantisierungsvorgang202 eines Normsatzes eine Norm generiert, die den Fall unmittelbar löst, handelt es sich um eine Regel. Wenn nicht, ist diese Norm ein Prinzip. Das zweite Kriterium ist der Anwendungsmodus der Norm, der mit dem ersten Kriterium zusammenhängt. Wenn die Norm durch Subsumtion anwendbar ist, dann ist sie eine Regel. Wenn für ihre Anwendung demgegenüber eine Abwägung erforderlich ist, stellt sie ein Prinzip dar. Keines der genannten Kriterien überzeugt. Das erste basiert auf einer kaum vertretbaren linguistisch-hermeneutischen Vorstellung. Das zweite besteht aus einem Zirkelschluss. In Bezug auf das erste Kriterium nähert sich die Dichotomie zwischen unmittelbar statuierten und zugeordneten (Grundrechts-)Normen der Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Verstehen einerseits und dem Konzept des Regelplatonismus andererseits, der von Müller und Christensen kritisiert wird. Die durch die Verfassungsvorschriften unmittelbar ausgedrückten (Grundrechts-)Normen werden angeblich durch ein unmittelbares Verstehen erlangt, das heißt, ohne interpretative Vermittlung. Dies setzt die Auffassung voraus, dass der Text irgendeine vor-interpretative Bedeutung besitzt, die vom Interpreten einfach entdeckt wird. Außerdem reicht der bloße Hinweis auf die Positivierungsart des Normsatzes als Begründungskriterium für die Konstruktion der unmittelbar ausgedrückten (Grundrechts-)Norm beileibe nicht aus. Er fungiert nur als erster Schritt eines komplexen Semantisierungsvorgangs.203 Das Problem des anfänglichen Zugangs zur Bedeutung der Normsätze und ihrer Klassifizierung als Regeln oder Prinzipien wird außer Betracht gelassen – wobei man noch nicht weiß, ob bei Alexy bezüglich der Falllösung Zweifel bestehen bleiben.204 Wenn man die von ihm vorgeschlagenen zwei Begriffe der Existenz einer Norm, den schwachen und den starken Begriff,205 genau analysiert, tritt wiederum das mögliche Übergewicht des Vorverständnisses des Interpreten hinsichtlich des positiven Rechts in Erscheinung, denn die Norm als Bedeutung des Normsatzes wird als Inhalt eines Gedankens konzipiert, der lediglich erfassbar und begründbar sein soll. Einmal mehr konzentriert sich der Richtigkeitsparameter in dem externalisier-

202 Diese Umdeutung, also der Übergang vom Normsatz zur Norm scheint bei Alexy abstrakt zu sein, weil es keine Referenz zum konkreten Fall gibt. Die Beziehung auf den konkreten Fall findet nur statt, wenn die Norm schon vorhanden ist. Deshalb kann man diesen Prozess als „abstrakten Semantisierungsvorgang“ bezeichnen. 203 Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 265–266. 204 In diesem Zusammenhang stellt Klement zutreffend fest: „Ein Grundrecht ist nicht ‚wesensmäßig‘ ein Prinzip oder kein Prinzip, sondern ein dem Grundrechtstext zugeordnetes normatives Element wird auf einzelnen dogmatischen Prüfungsstufen, in bestimmten normativen Zusammenhängen als Prinzip behandelt.“ Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 761. 205 Alexy, Ideales Sollen, S. 23–24.

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ten Vorverständnis des Interpreten, das seinerseits keine notwendige Verbindung mit den Verfassungsbestimmungen haben muss. Diese Idee scheint der Position Alexys hinsichtlich des Hinweises auf die Positivierungsart des Normsatzes als Begründungskriterium für die unmittelbar ausgedrückten (Grundrechts-)Normen allerdings zu widersprechen. Der Hinweis auf das positive Recht geht im Solipsismus und in der (Selbst-)Referenz zwischen dem Gedanken und seiner Begründung verloren. Die Argumentation selbst wird das einzige Richtigkeitskriterium für die Konstruktion von Normen. Wenn man den Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien als analytischen Ausgangspunkt im (grundrechts-)dogmatischen Bereich beibehalten will, muss man im Gegensatz zu Alexy diese Kategorisierung anhand des positiven Verfassungsrechts, genauer der Verfassungsbestimmungen rechtfertigen.206 In Bezug auf den Anwendungsmodus der Normen (Subsumtion oder Abwägung) taucht die erwähnte Zirkularität in der Begründung wieder auf. In diesem Sinne stellt Jestaedt zu Recht fest: „Indem die Prinzipientheorie den Unterschied und die Eigenart von Regeln und Prinzipien nach dem je eigentümlichen Kollisionsverhalten bestimmt und sie zugleich den Existenznachweis für Regeln und Prinzipien just nach dem Kollisionsverhalten in concreto zu führen versucht, schließt sie den logischen Zirkel, ist sie also zirkelschlüssig: Denn eine Norm ist ein Prinzip genau dann, wenn und weil es dem Abwägungsgesetz unterliegt; und dem Abwägungsgesetz unterliegt die Norm genau dann, wenn und weil sie ein Prinzip markiert.“207 bb) Die zugeordnete (Grundrechts-)Norm als Regel Die zugeordneten (Grundrechts-)Normen stehen nach Alexy durch eine Präzisierungsrelation in direktem Zusammenhang mit den unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Normen. Sie präzisieren, was von den unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Normen strukturell und semantisch offengelassen wird, wenn letztere Prinzipien sind. Alles, was von den unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Normen nicht umfasst wird, fällt in den Bereich der zugeordneten (Grundrechts-)Normen, die keine direkte Beziehung zu den Verfassungsbestimmungen haben. Die zugeordneten (Grundrechts-)Normen, die Regelcharakter besitzen, sind die Folge eines Abwägungsvorgangs zwischen Prinzipien, ihr Semantisierungsprozess ist also anderer Art: „Es gilt also folgender Satz: Als Ergebnis jeder richtigen grundrecht­

206

In ähnliche Richtung geht die Kritik bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 216. Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 263. „Mit welchem Rechtserkenntnisverfahren die Norm zu traktieren ist, jenem der ‚Subsumtion‘ oder jenem der ‚Abwägung‘, soll sich danach beurteilen, ob die Norm eine Regel (dann ‚Subsumtion‘) oder ein Prinzip ist (dann ‚Abwägung‘); welches – dieser Wahl vorausliegende (!) – Rechtserkenntnisverfahren aber steht bereit, um beurteilen zu können, ob und inwieweit die Norm der Regel – und inwieweit sie der Prinzipienebene zuzuordnen ist?“ Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 231–232. 207

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lichen Abwägung läßt sich eine zugeordnete Grundrechtsnorm mit Regelcharakter formulieren, unter die der Fall subsumiert werden kann.“208 Im Alexyschen analytischen Modell sind zwei Arten von Regeln zu finden: Auf der einen Seite die Regel, die unmittelbar von den Verfassungsbestimmungen ausgedrückt wird und semantisch und strukturell bestimmt ist. Auf der anderen Seite die Regel, die Resultat einer Abwägung zwischen Prinzipien ist, die also die semantische oder strukturelle Unbestimmtheit der in Abwägung geratenen Normen voraussetzt. Diesen zwei Arten der Regel entsprechen zwei verschiedene Arten der Subsumtion. Erstere bedarf keiner Interpretation, da die Verfassungsbestimmung keine Zweifel zulässt. Letztere setzt die Konstruktion der Regel durch den Interpreten voraus und demgemäß die Interpretation, um genau die im konkreten Fall bestehenden Zweifel zu lösen.209 Die Interpretation tritt als Problem nur im Moment des Zweifels auf, also wenn die Norm ein Prinzip ist, oder wenn sie semantisch oder strukturell unbestimmt ist und die jeweilige Begründung nicht mehr direkt mit der Verfassungsbestimmung, die die Norm generierte, zusammenhängt. Daher bleibt zu fragen, wie sich die Richtigkeit der Konstruktion dieser zugeordneten Norm (Regel) erweisen kann. Die Antwort lautet: Selbstreferentiell im Verlauf der Abwägung, die aufgrund der Diskursregel vorgenommen werden muss, und wenn diese Regel nicht genügt, aufgrund der Regel des allgemeinen praktischen (moralischen) Diskurses. Im letzten Fall wird die durch die Präzisierungsrelation generierte Norm ausschließlich vom moralischen Diskurs abhängig, also von der doppelten Natur des Rechtes, genauer: von der idealen Dimension des Rechts, der Verfassung und den Grundrechten. Im Hinblick auf die Grundrechtsdogmatik bringt diese theoretische Auffassung wichtige Konsequenzen mit sich, da die „strukturelle Präzisierung“ – zum Beispiel die Bestimmung der staatlichen Unterlassungs- oder Handlungsgebote und demzufolge der eventuell entsprechenden Abwehr- und Leistungsrechte, die aus der Verfassung kommen – von einer „semantischen Präzisierung“ abhängt, die, wie oben erwähnt, aus der Sicht der Sprachwissenschaft und der Hermeneutik fragwürdig ist und zudem wegen des möglichen Rekurses auf außerrechtliche Elemente einen umfangreichen interpretativen Raum zulässt. Diese Fragen können sich auch auf die Begriffe der Regel und des Prinzips als zwei Arten von Normen auswirken. i) Der Begriff der Regel als Chimäre Obwohl Alexy mit zwei verschiedenen Arten von Regeln arbeitet, also derjenigen, die unmittelbar von der Verfassungsbestimmung ausgedrückt wird, und derjenigen, die Resultat einer Abwägung ist, bietet er nur einen Regelbegriff an, nämlich den von Normen, die „stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können“ 208 209

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 84 und 87.

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(definitive Gebote) und die durch Subsumtion angewendet werden. Außerdem – wenn er die Regeln von Prinzipien unterscheidet – stellt er fest, dass Prinzipien Normen sind, die in einem – auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten bezogen – möglichst hohen Maße realisiert werden sollen. Eine Analyse der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten taucht als Merkmal des Regelbegriffs nicht auf. Daher ist zu fragen, ob die Regeln als Normen bezeichnet werden sollen, die diese Analyse im konkreten Fall entbehrlich machen. Dies scheint jedoch nicht die Position von Alexy zu sein. Trotzdem ist diese Frage für die beiden Arten von Regeln zu stellen. Und unbeschadet ihrer konzeptuellen Einheit werden sie anschließend separat betrachtet. aa) Der Begriff der Regel als vom Normsatz unmittelbare statuierte (Grundrechts-)Norm Der Alexysche Begriff der Regel als vom Normsatz unmittelbar statuierte Norm kann auf dem Boden der Kritik des Regelplatonismus gedacht werden, der sich am Ende nicht von der reduktionistischen Auffassung der Interpretation des alten Positivismus unterscheidet.210 Eine Konsequenz daraus besteht darin, dass alles, was von diesem vereinfachenden Begriff der Regel nicht umfasst wird, in den Bereich der Prinzipien fällt. Nach Poscher liegt diesem Regelbegriff der Prinzipientheorie ein „begriffsjuristisches Ideal“ zugrunde: „Sie baut zunächst ein begriffsjuristisch anmutendes Regelbild auf, dem sie Prinzipien gegenüberstellt. Werden unmittelbar subsumtionsfähigen Regel Prinzipien gegenübergestellt, ist die Einordnung der Grundrechte als Prinzipien nicht schwer. Wer wollte schon behaupten, dass Grundrechte in diesem Sinne subsumtionsfähige Regeln sind? Also müssen die Grundrechte rechtstheoretisch Prinzipien sein.“211 Rechtstheoretisch und rechtsmethodisch trifft in diesem Zusammenhang auch die Kritik Christensens zu: „Alles, was an einem Gesetz sprachlich relevant ist, wird damit in das abstrakte Reich der Prinzipien verlagert. Dort allerdings sollen nicht mehr die normalen Instrumente zur Ermittlung der sprachlichen Bedeutung gelten, wie die Frage nach Zusammenhang, Entstehung und Zweck. Vielmehr wird das Ganze in die Philosophie verlagert, und als einzige Methode steht uns ‚Abwägung‘ zur Verfügung. Damit verschwindet die ganze sprachliche Realität des Gesetzes im Abgrund zwischen einem sinnlosen Begriff der Regel und einem philosophischen Begriff des Prinzips.“212 Eine der Grundsäulen der Grundrechtsdogmatik Alexys, sein Begriff der Regel, stützt sich also auf eine Chimäre.

210 Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, S. 117. 211 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 77 und 80–81; Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 70–71. 212 Christensen / Vogel, Die Sprache des Gesetzes ist nicht Eigentum der Juristen, S. 99–100.

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Darüber hinaus gerät Alexy, wenn er die Kritik Günthers213 bezüglich der Abwesenheit eines Kriteriums für die Identifizierung von Regeln und Prinzipien ausgehend von Verfassungsbestimmungen beantwortet, in einen Widerspruch. Er stellt in Bezug auf das eben Gesagte fest, dass die jeweilige Identifizierung ein Problem der Interpretation ist. Der Widerspruch besteht darin, dass für Alexy die Interpretation nur erforderlich ist, wenn ein Zweifel besteht, also im Fall des Offenheitsbereichs, wenn man schon weiß, dass die Norm keine unmittelbare Lösung für den Fall anbietet, also wenn man mit Prinzipien arbeitet. Die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist bei Alexy allerdings keine Frage der Interpretation, weil die Interpretation nur notwendig wird, wenn man aufgrund von Prinzipien argumentieren muss, und dieser prinzipielle Charakter der Norm, der die Bedeutung des Normsatzes ist, wird ohne interpretative Vermittlung erhalten. Es handelt sich um eine vom Normsatz unmittelbar statuierte Norm. Daher kann die Interpretation die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien nicht begründen. Alexy könnte einwenden, dass sein Begriff der Interpretation sich nicht auf das Zweifelsproblem reduzieren lasse, dass es sich nur um eine Frage der Betonung handelt, wobei der Zweifel eine zentrale Rolle spielt. Obwohl diese Antwort die Kritik abmildern kann, bleibt das Grundproblem erhalten. Der interpretative Moment, an dem angeblich noch kein Zweifel besteht, aber die unmittelbar statuierte Norm erhalten wird – sei sie eine Regel, sei sie ein Prinzip –, taucht als interpretative Frage nicht auf. bb) Der Begriff der Regel als zugeordnete (Grundrechts-)Norm Die soeben formulierte Kritik ist auch auf den Begriff der Regel als zugeordnete (Grundrechts-)Norm anwendbar. Diese Norm soll nach Alexy als Fundament für die Lösung künftiger Fälle dienen. Aber wie kann man diese künftige Anwendung mit einem Normbegriff vereinbaren, der die Analyse der faktischen und recht­lichen Möglichkeit nicht umfasst? Mit anderen Worten: Wird diese Regel, die vom BVerfG als Folge eines Abwägungsvorgangs konstruiert wird, in den künftigen Fällen durch bloße Subsumtion und ohne interpretative Vermittlung und sogar ohne Analyse der faktischen und rechtlichen Möglichkeit des jeweiligen Falles angewendet werden?214 213

Siehe o. C. III. 1. h) aa). In einer Antwort auf die Kritik Günthers, nach der alle Normen die „Berücksichtigung aller Umstände“ voraussetzen, stellt Alexy fest, dass Berücksichtigen anders ist als Optimieren: „das zeigt sich schon daran, dass das Berücksichtigen aller Umstände auch bei der Anwendung von Normen möglich ist, die nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können, während das Optimieren voraussetzt, dass die Norm in unterschiedlichen Graden erfüllbar ist. Das Optimieren impliziert zwar das Berücksichtigen aller Umstände, das Berücksichtigen aller Umstände aber nicht das Optimieren.“ Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 37. Diese Antwort befriedigt jedoch nicht. Es bleibt noch zu fragen, was „Berücksichtigen aller Umstände“ genau bedeutet, außer der Berücksichtigung der faktischen und rechtlichen Umstände? Die faktischen und rechtlichen Umstände bzw. Möglichkeiten zu berücksichtigen, bedeutet notwendigerweise die Erfüllung der Norm in unterschiedlichen Graden? 214

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Wenn das nicht der Fall ist, verwandelt sich dann diese Regel in ein Prinzip, das mit anderen Prinzipien in Abwägung geraten kann? Aber wie kann man wissen, ob diese zugeordnete Grundrechtsnorm in Bezug auf den anderen Fall als Regel oder Prinzip betrachtet werden muss? Dafür fehlt im Alexyschen Modell ein Kriterium. Die zugeordnete Norm gilt nur für den konkreten Fall als Resultat der Lösung einer Prinzipienkollision. Ihre Anwendbarkeit als Regel für künftige Fälle ist zumindest fragwürdig und es findet sich in den theoretischen Kategorien Alexys dafür kein Anhaltspunkt. Schließlich scheint es, dass das von Alexy vorgeschlagene analytische Modell der Grundrechtsdogmatik nicht auf der Grundlage einer Kombination von Prinzipien und Regeln verfasst ist, sondern ausschließlich auf Prinzipien. Außerdem und selbst wenn die beiden zitierten Konzepte von Regeln vertretbar wären, bleibt die Möglichkeit der Verschiebung aller Fragen zur Interpretation der Grundrechte in das abstrakte Reich der Prinzipien. Statt das Problem der Interpretation der Grundrechte lösen zu helfen, macht diese Verlagerung das Problem komplexer, weil der Prinzipienbegriff von Alexy selbst Gegenstand vielfältiger kritischer Bewertungen ist, auch innerhalb des Kreises der Vertreter der Konzeption des Rechtssystems als einer Summe von Prinzipien und Regeln. j) Einwände gegen den Prinzipienbegriff von Alexy Die Einwände gegen den Prinzipienbegriff Alexys werden hier in rechtstheoretische, rechtsmethodische und grundrechtsdogmatische unterteilt. Es ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung eine vollständige Bestandsaufnahme der Kritiken vorzustellen,215 sondern nur diejenigen zu präsentieren, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit wichtig sind. Bevorzugt in Betracht bezogen werden also die Kritiken, die, obwohl sie sich nicht auf die dogmatische Seite der Prinzipientheorie reduzieren lassen, mit ihr eng zusammenhängen.216 aa) Rechtstheoretische Einwände Jenseits der erwähnten Einwände gegen den semantischen Normbegriff (im starken und schwachen Sinne), insbesondere in Bezug auf die Idee einer unmittelbar ausgedrückten (Grundrechts-)Norm; gegen den Begriff der Regel als Norm und 215 Alexy selbst unterscheidet die Einwände gegen seine Theorie in normtheoretische, argumentationstheoretische, grundrechtsdogmatische, institutionelle, interpretationstheoretische, geltungstheoretische und wissenschaftstheoretische und versucht, sie zu beantworten. Alexy, Die Konstruktion der Grundrechte, S. 12 ff. und Alexy, Ideales Sollen, S. 21 ff. Zur Antwort auf verschiedene Kritiken, vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 130 ff. 216 Jestaedt spricht von den „dogmatischen Kollateralschäden“ der Abwägungslehre. Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 260.

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gegen die Unmöglichkeit der Charakterisierung einer Norm als Prinzip oder als Regel aufgrund der Interpretation einer Verfassungsbestimmung, gibt es zusätzliche rechtstheoretische Einwände, die direkt gegen den Alexyschen Begriff des Prinzips vorgebracht werden können. Sie beziehen sich erstens auf die Relation zwischen dem Begriff des Prinzips und der Idee des Optimierungsgebotes; zweitens auf die Bezeichnung der Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensnormen als formelle Prinzipien; drittens auf die Untauglichkeit der Kategorie Prinzip für die Charakterisierung der im GG enthaltenen vielfältigen Modi von Verfassungsnormen; viertens auf die Hypostasierung, die darin besteht, den Arten der Normanwendung (Subsumtion und Abwägung) verschiedene Arten von Normen zu entnehmen (Regel und Prinzip) und schließlich fünftens auf die Distanzierung vom dem als Ideales Sollen konzipierten Prinzip des positiven Rechts aufgrund seiner Annäherung an die Idee des Wertes. Innerhalb des Zirkels der Verfechter der Prinzipientheorie wurde der Alexysche Begriff des Prinzips infrage gestellt. Sieckmann vertritt bspw. die Auffassung, dass die Optimierungsgebote in der Tat die Struktur von Regeln besitzen, das heißt, sie sollen nicht progressiv, sondern stets entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden.217 Wenn Prinzipien nach Alexy Optimierungsgebote sind und Optimierungsgebote nach Sieckmann die Struktur von Regeln besitzen, warum soll zwischen Regeln und Prinzipien als zwei Arten von Normen unterscheiden werden, die unterschiedliche methodische Betrachtungsweisen erfordern?218 Alexy nimmt die Kritik seines Schülers Sieckmann an, stellt jedoch fest, dass sie auf keinen Fall den Zusammenbruch der Prinzipientheorie bedeutet, sondern dass sie vielmehr nur ein schärferes Licht auf die Theorie wirft.219 Die Alexysche Antwort auf die Kritik besteht in der Verschiebung des Begriffs des Optimierungsgebotes auf ein Meta-Niveau. Die Optimierungsgebote sind Gebote, die die zu optimierenden Gebote, also die Prinzipien, zum Gegenstand haben. Die Prinzipien werden fortan wieder als ideales Sollen oder Ideale charakterisiert. In Bezug auf diese Änderung des Gegenstandes der Prinzipientheorie bringt Poscher konsistente Einwände vor. Seiner Meinung nach sollte der Gegenstand eines Optimierungsgebots nicht notwendigerweise ein anderes Gebot sein. Wenn man sich mit Grundrechten beschäftigt, sind die Gegenstände von Optimierungs­ geboten eigentlich meistens empirische Sachverhalte.220 „Im Verständnis der Prin 217

Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 65. Poscher, Theorie eines Phantoms. Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, in: RW- Heft 4, 2010, S. 369. 219 Alexy, Zur Struktur der Rechtsprinzipien, S. 38. 220 „So sind auch die Grundrechte, die der Prinzipientheorie als Hauptanwendungsfall dienen, keine Normen, die gebieten, Normen zu optimieren, sondern – in der Lesart der Prinzipientheorie – Normen, die als Abwehrrechte gebieten, staatliche Zurückhaltung gegenüber Grundrechtsbeschränkungen zu optimieren, die zwar sowohl faktischer als auch normativer Art sein können, aber letztlich auf faktische Sachverhalte zielen.“ Poscher, Theorie eines Phantoms, S. 361–362. 218

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zipientheorie enthält Art. 2 Abs. 2 GG etwa das Gebot zur Optimierung der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit oder auch des menschlichen Lebens. Gesundheit und Leben sind aber keine Gebote, keine normativen, sondern empirische Gegenstände. […] Die Normativität der Optimierungsgebote ergibt sich allein aus dem Gebot zu optimieren, eines zu optimierenden Gebots als Gegenstand der Optimierung bedarf es dafür nicht. Optimieren lässt sich alles, auch Krankheit und Tod, Länge, Breite, Höhe, Temperatur, Zeit etc.“221 Wenn Optimierungsgebote gewöhnliche faktische Gegenstände betreffen, wird der Rekurs auf ein Gebot, dessen Gegenstand ein anderes Gebot ist, entbehrlich. In diesem Sinne sei die Prinzipientheorie „eine Theorie ohne Gegenstand.“222 Alexy selbst bietet kein Beispiel für entsprechend reflexive Gebote, geschweige denn eines aus einer konkreten Rechtsordnung.223 Was vom strukturellen Dualismus übrig bleibt, sind – so Poscher – Normen, die abhängig von der Interpretation unterschiedliche Inhalte besitzen können.224 Dieser Inhalt kann nicht mehr theoretisch anhand eines Prinzipiencharakters bestimmt werden.225 In einem 2017 veröffentlichten Artikel räumt Alexy ein – die Kritik Poschers an seiner Position teilweise anerkennend –, dass der Versuch, den Begriff des Idealen Sollens durch das zu optimierende Gebot zu klären, falsch war.226 Alexy hält jedoch an seinem Argument fest, dass es zwei Arten von Sollen gibt, nämlich das ideale und das reale Sollen.227 Die Debatte zwischen den Autoren geht weiter. Es ist jedoch anzumerken, dass diese Debatte in Brasilien praktisch unbekannt ist. Die theoretischen und vor allem praktischen Bezüge zur Prinzipientheorie basieren auf den von Alexy in seiner Theorie der Grundrechte entwickelten Ideen und nicht auf späteren Weiterentwicklungen seines Versuchs, seinen Begriff des Prinzips zu retten.

221

Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 69. „Das Gebot, die Gesundheit zu optimieren (OOptp), ist ein anderes Optimierungsgebot als das Gebot, das Gebot der Gesundheit zu optimieren (OOpt Op). Die Gesundheit kann man etwa durch medizinische Behandlungen oder Fitnessprogramme optimieren; das Gebot, die Gesundheit zu erhalten oder wiederherzustellen, lässt sich hingegen vielleicht dadurch optimieren, dass man an gesundheitsschädliche Verhalten Sanktionen wie etwa erhöhte Krankenversicherungsprämien oder eine schlechtere medizinische Versorgung knüpft – durch kneippsche Anwendungen lässt sich die Effektivität des Gebots, gesund zu leben, jedoch nicht beeinflussen. Die Optimierung eines Gebots ist etwas grundsätzlich anderes als die Optimierung eines faktischen Sachverhalts. Wird dies übersehen, führt dies zu Kategorienfehlern.“ Poscher, Theorie eines Phantoms, S. 358. 222 Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 70. 223 Poscher, Theorie eines Phantoms, S. 361. 224 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 78. 225 Poscher, Theorie eines Phantoms, S. 369. 226 Siehe dazu, Poscher, Resuscitation of a Phantom?, S. 141. Vgl. dazu auch Alexy, Ideales Sollen und Optimierung, S. 25 und ff. 227 Alexy, Ideales Sollen und Optimierung, S. 18–19. Zur Kritik dessen, was Alexy das ‚Indexmodell der Prinzipien‘ nennt, vgl. Poscher, Resuscitation of a Phantom?, S. 142 und ff.

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Die Bezeichnung der Gesetzesbindung, des Gesetzesvorbehalts und des politischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers als formelle Prinzipien, die mit materiellen Prinzipien, also Grundrechten in Abwägung geraten können,228 stößt auf konzeptionelle Schwierigkeiten. Wenn die formellen Prinzipien ausgehend vom anfänglichen Alexyschen Begriffs des Optimierungsgebots verstanden werden, sollen sie in Wahrheit als Regeln aufgefasst werden. Darüber hinaus gibt Alexy keine Begründung für die Charakterisierung des formellen Prinzips als ideales Sollen oder Ideale. Es ergibt auch keinen Sinn, das formelle Prinzip als Ideal zu kennzeichnen, das progressiv erfüllt werden soll. Die Ausübung einer Kompetenz ist obligatorisch oder nicht. Entweder wird die Kompetenz in einem konkreten Fall ausgeübt oder nicht. Daher können formelle Prinzipien nicht als zu optimierende Gebote konzipiert werden, also als Gegenstand eines Optimierungsgebotes. Die Sichtweise, mit deren Hilfe die Gesetzesbindung, der Gesetzesvorbehalt und der politische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers mit Grundrechten abgewogen werden soll, wird von Alexy nicht ausreichend begründet und lässt sich nicht mit seinem konzeptuellen Instrumentarium rechtfertigen. Mit der Prinzipientheorie ist es außerdem unmöglich, die Grenze einer gesetzgebenden oder einer verwaltungsrechtlichen Kompetenz hinsichtlich eines Grundrechtes festzuschreiben, ohne sich eine Kollision zwischen den beiden vorzustellen. Was dem Gesetzgeber oder der Verwaltung schließlich aufgetragen ist, bringt zwangsläufig die Initiierung einer Kollision und deren Lösung mittels Abwägung mit sich. Darüber hinaus geht die Homogenisierung aller Verfassungsnormen, die nicht unter den Begriff der Regel als unmittelbar ausgedrückte Norm fallen, also Normen die nicht der Interpretation bedürfen und durch bloße Subsumtion anwendbar sind, in die Kategorie des Prinzips (Binärcode von Regel und Prinzip) ein.229 Jedoch lässt sich mit der von der Prinzipientheorie vorgeschlagenen Zweiteilung „der Reichtum des Grundgesetzes an normativen Formen und erst recht die Vielfalt der rechtstheoretisch denkbaren Formen nicht vollständig abbilden“.230Die Kritik von Poscher schlägt eine ähnliche Richtung ein: „Unsere Rechtsordnung kennt eine ganze Reihe von Prinzipien, die keine Optimierungsstruktur aufweisen, ohne von solcher Eindeutigkeit zu sein, dass sie immer durch bloßes Regelfolgen an 228 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 74–75. Vgl. dazu auch Jestaedt, Die Ab­ wägungslehre, S. 257. In diesem Sinne stellt Klement kritisch fest: „Die Verbindlichkeit der Regel beruht ihrerseits auf einem Prinzip, nämlich dem Prinzip der Bindung an den Wortlaut der Verfassung beziehungsweise dem Prinzip, dass gesetzten Regeln zu folgen ist. Dieses Prinzip, das eine Ausprägung des Rechtsstaats- und des Gewaltenteilungsprinzips sein soll, kann im Einzelfall durch bessere Gründe, also durch andere Prinzipien, durchbrochen sein. Nicht nur das Prinzip, sondern auch die Regel hat damit bei genauerem Hinsehen nur „Prima-facie“Charakter. Die Bindung an die Bedeutung der Normtexte, die Art. 20 Abs. 2, Art. 97 Abs. 1 GG statuiert, wird zu einem formellen Prinzip, das durch „hinter den Texten“ liegende materielle Prinzipien ausgehebelt werden kann.“ Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 759. 229 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 216. 230 Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 763.

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gewandt werden könnten. Dies gilt etwa für einen der prominentesten Grundsätze nicht nur des Zivilrechts. Der Grundsatz von ‚Treu und Glauben‘ verlangt nicht Optimierung, sondern schlicht Beachtung: Wenn etwas gegen Treu und Glauben verstößt, dann kommt es auf eine Abwägung nicht mehr an.“231 Aus der Sicht der Dogmatik des Verfassungsrechts im Blick auf die Sozialstaatsklausel im Allgemeinen oder die Leistungsrechte im Besonderen wird zum Beispiel die ganze Diskussion über die Begriffe der „Programmsätze“, der „Staatszielbestimmungen“, der „Verfassungs- und Staatsaufträge“232 und über die Ausgestaltung der Grundrechte überflüssig, wenn die Problematik auf der Grundlage der Kategorie „Prinzip“ verstanden wird. Poscher wendet zudem ein, dass Alexy aus zwei verschiedenen Techniken der Normenanwendung  – Subsumtion und Abwägung  – zwei Arten von Normen  – Regel und Prinzip – ableitet. Diese Ontologisierung bestehe in einem Kategoriefehler, denn „so wie der Lex-posterior-Grundsatz nicht einen strukturell eigenen Normtyp prägt, so zeichnet auch der Abwägungsgrundsatz keinen strukturell eigenen Normtyp aus.“233 In ähnlicher Richtung kann gesagt werden, dass, wenn man die Alexysche Konstruktion bis zur letzten Konsequenz weiterdenkt, die bloßen „sozialen Interessen“ – und nicht nur die Werte – in den Status der Rechtsnormen erhoben werden können. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erinnern, dass ursprünglich die Abwägung als angemessene methodische Lösung von Interessenkonflikten konzipiert wurde.234 Anders gesagt: Anstatt von der Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln könnte nun von der Unterscheidung zwischen Regeln und Interessen die Rede sein. Rechtstheoretisch betrachtet gäbe es eine Verschiebung des argumentativ-interpretativen Spektrums von der idealen Welt (Prinzipien) in die empirische Welt (Interessen). Keine der zitierten Dichotomien bietet jedoch ein adäquates Modell für das Verständnis des Verfassungsrechts an.

231 Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 73–74. Dazu auch Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten, 206 ff. und Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 167. 232 Dazu o. B. II. 2. und u. D. II. 1. 233 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 79. „Für alle vom bloßen Regelfolgen und der Güteroptimierung abweichende Rechtsanwendungsverfahren müssten eigene Normtypen gefordert und dann jeder Norm alle Normtypen wieder zugesprochen werden. Aus der Perspektive einer Theorie der Rechtsanwendung ist es ein Kategorienfehler der Prinzipientheorie, unterschiedliche Techniken bei der Anwendung einer Norm zu ontologisieren und als unterschiedliche Normtypen zu begreifen.“ Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 72. 234 Heck, Interessenjurisprudenz und Gesetzestreue, Deutsche Juristen-Zeitung, v. 10, 1905, S. 1140, Stampe, Rechtsfindung durch Interessenwägung, Deutsche Juristen-Zeitung v. 15, 1905, S. 713 ff., Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie, Tübingen, Paul Siebeck, 1911; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen: Mohr Siebeck, 1914, passim, Neuerdings, siehe dazu Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuris­ tischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, in: Juristen Zeitung, 19/2011, S. 913–923.

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Die Interessen werden Normen, nur wenn sie irgendwie positiviert sind. Außerdem sollte Alexy, sofern er die Analogie als „Tertium Genus“ des Anwendungsmodus (basic operation in Law) akzeptiert,235 neben Regel und Prinzip eine dritte Kategorie von Norm einführen, die durch die Analogie angewendet wird. Schließlich droht der enge Zusammenhang zwischen der Auffassung der Prinzipien als ideales Sollen oder Ideale und der Kategorie der Werte236 die Bindung des Interpreten an das positive Recht stark zu flexibilisieren. Es wurde hier mehrfach ausgeführt, dass diese ideale Welt nicht auf das positive Recht zurückgeführt werden kann. Die Inkorporation von Werten (incorporation by balancing) in die Rechtsordnung hängt nur von der Richtigkeit der Argumentation des Interpreten, die sogar – auch wenn ausnahmsweise – gegen das positive Recht geltend gemacht werden kann.237 bb) Rechtsmethodologische Einwände Es lässt sich durchaus behaupten, dass Alexy die ganze Methodik des Verfassungsrechts im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen auf die Abwägung reduziert. Im Bereich der Grundrechte wird die Unangemessenheit der Dichotomie Subsumtion / Abwägung noch klarer, weil die bloße Subsumtion einer Regel als unmittelbar statuierte Grundrechtsnorm schwer zu vertreten ist. Alexy selbst ist der Meinung, dass Grundrechte Prinzipien bzw. Optimierungsgebote sind und deswegen durch Abwägung angewendet werden sollen. Die Abwägung dient gleichermaßen als Methode für die Anwendung anderer Verfassungsnormen, die keine Grundrechte sind, wenn sie als formelle Prinzipien betrachtet werden. Diese Vereinfachung der Vielgestaltigkeit der Rechtsanwendung auf die Alternative „Subsumtion oder Abwägung“ – genauer: auf die Abwägung als einzige Lösung – stellt einen Rückschritt hinsichtlich des Erkenntnisstands der Rechtsmethodenlehre dar – auch in Bezug auf die Theorie der juristischen Argumentation von Alexy.238 In diesem Sinne stellt Poscher zu Recht fest: „Methodologisch betrachtet gibt es nicht Regeln und Prinzipien, sondern unterschiedliche Argumentationsformen bei der Anwendung von Normen, von denen eine die Abwägung im Einzelfall sein kann, die sich für einzelne Rechtsnormen vielleicht auch einmal als Optimierungsgebot rekonstruieren lässt.“239 In ähnlicher Richtung vertritt Jestaedt die Auffassung, dass

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Alexy, Two or three? passim. Alexy behauptet in diesem Sinne, dass „[…] mit der Prinzipienebene der Regelebene, die deutlich deontologischen Charakter hat, eine Ebene hinzugefügt wird, die hinter ihrer deontologischen Form axiologischen Charakter hat. Das Rechtssystem umfaßt damit sowohl deontologisch als auch axiologische Elemente.“ Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, S. 24. 237 „Mit ihrer Idealisierung haben sich Prinzipien von der realen Rechtsordnung abgekoppelt.“ Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 80. 238 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 77. 239 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 78. 236

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die Abwägungslehre „mehr zu sein beansprucht als das, was sie ihrer Herkunft und ihrem Ansatz nach ist: eine sektorale, auf das Kollisionsverhalten fixierte analy­ tische Strukturtheorie der Grundrechte aus Beobachterperspektive. Was sie zu sein beansprucht: ein Konzept mit tendenziell universellem Erklärungswert, die zen­ trale, grundsätzlich alles erfassende und bestimmende Theorie der Analyse und der Anwendung der Grundrechte.“240 Die Konkretisierungsbedürftigkeit,241 das heißt Wertungen komplexer Argumentationen und komplexer analytischer Überlegungen anzustellen, kann nicht nur im Bereich der Normen erforderlich sein, die von Alexy als Prinzipien charakterisiert werden, sondern überall unentbehrlich sein. Der Anwendungsvorgang wird nicht von der Norm selbst – nach Alexys Verständnis des Begriffs der Norm – determiniert, sondern von dem Zusammenhang zwischen dem zu beurteilenden Sachverhalt, der komplexer oder einfacher sein kann, und den Verfassungsbestimmungen.242 Die Operation der Konstruktion der unmittelbar statuierten (Grundrechts-)Norm, die nach Alexy ein Prinzip oder eine Regel sein kann, vernachlässigt diese Beziehung zwischen positivem Recht und Sachverhalt – was früher als abstrakter Semantisierungsvorgang bezeichnet wurde. Aus rechtsmethodologischer Sicht ergibt sich, dass Alexy außerdem zwei notwendige Relationen vertritt, nämlich die zwischen der Abwägung und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und zwischen der Abwägung und der Kategorie von Prinzip bzw. Optimierungsgebot. Die Prinzipientheorie von Alexy plädiert für die notwendige Verbindung zwischen Abwägung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Wer die Prinzipientheorie verwerfe, müsse deshalb auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verwerfen. Strategisch betrachtet handelt es sich um ein interessantes Argument, da die Kritiker der Prinzipientheorie eines der wichtigsten Elemente der Grundrechtsdogmatik bzw. Grundrechtsmethodik Deutschlands vernachlässigen sollen. Diese Ablehnung ist jedoch nicht erforderlich, weil die Gleichsetzung von Abwägung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht offensichtlich notwendig ist. Denkbar sind in diesem Kontext ebenso „gröbere Disproportionalitätsüberle 240

Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 260. Über den Universalcharakter des Verhältnismäßigkeitsprinzips bzw. der Abwägung siehe, Klatt / Meister, Verhältnismäßigkeit als universelles Verfassungsprinzip, in: Der Staat: Vol. 51, Nr. 2. 2012, passim. Kritisch dazu, vgl. Reimer, „… und machet zu Jüngern alle Völker“? passim. 241 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 406. Alexy verwendet den Begriff nicht im Sinne Müllers. Zum Unterschied vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, S. 178 und ff. 242 In ähnlicher Richtung die Kritik in Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 77; Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 70–71 und Poscher, Theorie eines Phantoms, S. 371. Über die Notwendigkeit der Abwägung von Regeln stellt z. B. Klement fest: „Auch Regeln im Sinne von definitiven Sollensaussagen können komplex strukturiert sein und vage Begriffe enthalten, unter die nicht abwägungsfrei subsumiert werden kann.“ Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 760. Für einen Versuch, die Beziehung zwischen Normtexten und Sachverhalten im Prozess der Rechtsanwendung methodisch zu strukturieren, vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, passim. Müller verwendet den Begriff der Konkretisierung in einem ganz anderen Sinn.

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gungen“ und „Mindestpositionskonzepte“, wie sie auch zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vertreten werden,243 die sich kritisch in Bezug auf sowohl die Art und Weise der Anwendung durch das BVerfG als auch den Vorschlag von Alexy positionieren. Die notwendige Verbindung zwischen Abwägung und der Kategorie der Prinzipien ist auch abzulehnen. Die Idee der Abwägung war ursprünglich, wie schon angedeutet, mit einer rechtsmethodologischen Auffassung verbunden, die nicht mit Werten – zumindest nicht im Sinne Alexys – arbeitete, sondern mit Interessen, nämlich der Interessenjurisprudenz. Darüber hinaus beginnt das BVerfG die Abwägung als Modell für die Lösung der Grundrechtskollisionen schon Ende der fünfziger Jahre zu verwenden  – ohne Bezugnahme auf die Figur des Prinzips. Das Alexysche Modell versucht gerade diese Rechtsprechung zu rationalisieren und dabei fungiert der Begriff des Prinzips als Schlüsselkonzept. Historisch und theoretisch betrachtet besteht in diesem Sinne keine notwendige Relation zwischen Abwägung und Prinzipientheorie, obwohl seit der Theorie der Grundrechte Alexys zumindest auf der rechtstheoretischen Ebene diese Sicht überwiegt. Unabhängig davon und eigentlich im Gegensatz dazu, entwickelt Windisch einen rechtsmethodologischen Vorschlag, der die Idee der Interessensabwägung wieder aufnimmt, nicht im Sinne von Heck, sondern aufgrund verschiedener rechtstheoretischer und rechtsmethodologischer Überlegungen, nämlich der strukturierenden Rechtslehre und der juristischen Methodik von Müller. Windisch ist der Meinung, dass nicht Werte oder Prinzipien abzuwägen sind, sondern Interessen, die auf der rechtlichen Ebene erhoben werden. Es handele sich nicht darum, abstrakte Werte oder die „‚nackten‘ Interessen der Streitparteien auf die Waagschale zu legen und im gegenseitigen Verhältnis ‚direkt‘ zu gewichten“244, sondern darum, die Rückbindung der konkreten Interessen der Betroffenen an die ihnen zugrunde liegenden Rechtsnormen zu berücksichtigen, methodisch zu strukturieren und danach abzuwägen.245 Die Rechtsprechung des BVerG, die die Abwägung als Argument aufnimmt, lässt sich demzufolge ohne die spekulativen Komponenten der Alexyschen Prinzipientheorie rekonstruieren. cc) Grundrechtsdogmatische Einwände Im Bereich der Grundrechtsdogmatik versteht sich die Prinzipientheorie als allgemeiner Teil der Grundrechtsdogmatik für das Grundgesetz. Sie fungiert demgemäß als Basis für die Interpretation und Anwendung der Grundrechte in allen ihren Aspekten, also sowohl in Bezug auf seinen subjektiv-rechtlichen als auch auf 243

Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 72, in Anlehnung an Schlink und Pieroth. 244 Windisch, „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion, S. 23. 245 Windisch, „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion, S. 39 und 48.

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seinen objektiv-rechtlichen Gehalt.246 Innerhalb des letzteren ist bei Alexy die Idee der Grundrechte als Leistungsrechte im engeren Sinne, also der sozialen Grundrechte, eingeschlossen.247 Diese Thematik ist für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung und wird im nächsten Abschnitt näher behandelt. Ein erster Einwand allgemeiner Art, der gegen den grundrechtsdogmatischen Aspekt der Prinzipientheorie angeführt werden kann, bezieht sich auf ihren Mangel an Orientierungsfunktion, an Lehr- und Lernbarkeit und entscheidungskritischem Potential,248 weil sie nur eine rückblickende Beschreibung der wertebezogenen Rechtsprechung des BVerfG angesichts von Grundrechtskollisionen anbietet.249 Sie scheitert als Dogmatik in ihrer notwendigen Orientierungsfunktion für künftige Entscheidungen, denn „sie besagt letztlich nicht viel mehr, als dass im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände eine rational begründete Entscheidung getroffen werden muss. Weniger Strukturen kann ein dogmatischer Vorschlag kaum bieten.“250 Sie rechtfertige den abwägungsorientierten Umgang mit den Grundrechten nicht, sie „rekonstruiere“ ihn nur,251 oder anders gesagt: Sie schlägt ein Kriterium für die Lösung von Grundrechtskollisionen vor, aber sie sagt nichts darüber aus, wann und unter welchen Umständen eine Kollision stattfindet.252 In dieser eingeschränkten Rolle fungiert sie nur als „Nullpunkt juristischer Dogmatik“: „Die Gleichschaltung von Prinzipienabwägung und Dogmatik verfehlt zum einen die Funktion von juristischer Argumentation und damit auch die Funktion von Prinzipien im Rahmen derselben, nämlich Dogmatiken zu begründen; zum anderen ist eine Dogmatik, die sich auf Prinzipienabwägung beschränkt, keine. Dogmatik entsteht durch die Ausbildung normativer Strukturen im Wege 246 In Bezug auf den objektiv-rechtlichen Gehalt behauptet Schlink: „Als Prinzipien – in der Rechtsprechung selbst wird in unterschiedlichen Wendungen von Grundrechten als Werten, Wertmaßstäben und Wertentscheidungen, als wertentscheidenden Grundsatznormen, objek­ tiven Grundsatznormen, objektiv-rechtlichen Prinzipien und ähnlichem gesprochen, aber immer dasselbe gemeint: das objektive Prinzip im Unterschied zum subjektiven Recht. Vom Prinzip i. S. des Optimierungsgebots spricht das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich. Aber in der Literatur wurde treffend beobachtet, daß das relative Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote mit ihrem Verständnis als objektive Prinzipien besonders harmoniert.“ Schlink, Grundrechte als Prinzipien?, in: Osaka University Law Review. 39. 1992–1993, S. 45–46. 247 Schlink zitiert vier Probleme, die mit dem Begriff des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte zusammenhängen, genauer gesagt, das Problem der sog. Drittwirkung der Grundrechte, der Relevanz der Grundrechte für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen und Verfahren, der grundrechtlichen Schutzpflichten und der Ansprüche auf verbürgte staatliche Leistungen (Leistungsrechte). Schlink, Grundrechte als Prinzipien, S. 46–49. 248 Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 78. 249 „Die Prinzipientheorie hat eine nachgerade prononciert verfassungsgerichtspositivistische Ausrichtung, so daß sie die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts als ‚ihren wichtigen Stoff‘ deklariert.“ Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 217. In diesem Sinne auch Windisch, „Abwägung“ als Relationsnorm-Konstruktion, S. 38 und Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 761. 250 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 81. 251 Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, S. 763. 252 Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 214.

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juristischer Argumentation, in die neben Präjudizien, Traditionen, Geschichte, Genese, Sachgesetzlichkeiten, systematischen und analytischen Überlegungen etc. auch die optimierende Abwägung eingehen kann. Aber Prinzipienabwägung ist nicht schon Dogmatik. Sie bietet nur eine argumentative Struktur unter anderen, innerhalb derer sich für eine bestimmte Grundrechtsdogmatik argumentieren lässt.“253 In diesem Sinne lässt sich das verfassungsrechtlich Gebotene nicht mehr allgemein, sondern nur im Einzelfall bestimmen.254 Es gibt allerdings vorausgehende Fragen, das heißt, Probleme abstrakter Art, die praktische Auswirkungen haben, aber nicht von dem Einzelfall abhängig sind, die bei der Prinzipientheorie sekundär bleiben können.255 Betrachtet man die Rolle der Grundrechtsdogmatik anhand des Begriffs der zugeordneten Grundrechtsnorm, die Resultat einer Abwägung ist, wird der Einwand offensichtlich. Die Orientierungsfähigkeit dieser Norm für künftige Fälle ist zu gering, wenn sie auf der Grundlage des Regelbegriffs Alexys verstanden wird, also als Norm, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden kann und durch bloße Subsumtion angewendet wird. Es ist nicht möglich, abstrakt, das heißt ohne interpretative Ermittlung des nächsten Falls oder in Bezugnahme auf einen fiktiven Fall, zu entscheiden, ob diese Norm den Fall als Regel oder als Prinzip reguliert, also ob sie semantisch und strukturell bestimmt ist. Um eine solche Entscheidung zu treffen, wird eine neue Abwägung erforderlich. Wie Poscher zu Recht feststellt, besagt in diesem Sinne die Prinzipientheorie als allgemeiner Teil der Grundrechtsdogmatik nicht viel mehr, als dass im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände eine rational begründete Entscheidung getroffen werden muss.256

253

Poscher, Einsichten, Irrtümer und Selbstmissverständnis der Prinzipientheorie, S. 78. Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, S. 77. 255 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt. Eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung, Tübingen: Mohr Sie­beck, 2009, S. 76. Rusteberg versucht einen Gegenentwurf zur Abwägungspraxis zu formulieren: „Dieser muss zunächst das Grundrecht als subjektives Recht des Einzelnen wieder verstärkt in den Vordergrund rücken. Erreicht werden kann dies durch ein Verständnis des Grundrechts als positivierte Norm, die gerade in abstrakter Weise, unabhängig vom Einzelfall, Problemlagen regelt. Die Grundrechte wären damit nicht mehr in einen Gesamtzusammenhang unterschiedlicher Verfassungsgüter oder Werte einzuordnen, sondern sind vielmehr als bewusste Kontrapunkte zu sehen, die dem staatlichen Handeln an positiv durch den Verfassungsgeber festgelegten Stellen Grenzen setzen. Hierin liegt der bereits angedeutete Perspektivwechsel in Bezug auf die Grundrechtsnorm. Dogmatisch bedeutet dies, dass ein Weg gefunden werden muss, der bei der Darstellung des Grundrechtsfalls auf die Konstruktion derartiger Kollisionslagen verzichtet. […] Der Entscheidungsmaßstab ist damit nicht mehr dem Einzelfall anzupassen, sondern es sind die in den Grundrechten enthaltenen abstrakten Vorentscheidungen herauszuarbeiten.“ Vgl. Rusteberg, Subjektives Abwehrrecht und objektive Ordnung, in: Vesting / Korioth /  Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung. Zur Wiedergewinnung des Gesellschaftlichen in der Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik. Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, S. 102 ff. Für die Rekonstruktion der Grundrechte als Abwehrrechte ohne Bezugnahme auf die Kategorie des Prinzips, vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, passim. 256 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 81. 254

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Als Grundrechtsdogmatik scheitert die Prinzipientheorie zudem, wenn sie die ganze Diskussion auf das Problem der Kollision der Grundrechte untereinander oder auf die Begrenzung der Grundrechte durch den Staat reduziert. Die Situationen, in denen eine Kollision zwischen Grundrechten oder eine Begrenzung eines Grundrechts durch den Staat nicht stattfindet und daher nicht von der Notwendigkeit einer Abwägung die Rede sein kann / muss, werden von diesem dogmatischen Modell nicht adäquat erfasst. Dieser Einwand wird verständlicher, wenn man an die Facetten der Grundrechte denkt, die nicht unmittelbar von der Verfassung konturiert sind, sondern partiell oder vollständig von der infrakonstitutionellen Regulierung abhängig sind. Das Eigentumsrecht bietet dazu ein gutes Beispiel: „Was Eigentum ist und welche Befugnisse sich hiermit verbinden, ergibt sich danach nicht unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG, sondern erst aus der Summe der das Eigentum konstituierenden Vorschriften des einfachen Rechts. Erst die subkonstitutionelle Rechts- bzw. Eigentumsordnung bringt den Schutzgegenstand hervor, auf den sich die Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG bezieht und den sie mit negatorischem Schutz umhegt. […] Insoweit erweist sich die Existenz des einfachen Rechts als eine notwendige Vorbedingung individuellen Eigentums, ohne die das Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG leerläuft. Erst die Bereitstellung dieser rechtlichen Infrastruktur ermöglicht den Gebrauch der grundrechtsverbürgten Eigentumsfreiheit.“257 Die Prinzipientheorie vernachlässigt diese Relation zwischen Verfassung und Gesetzgebung, wenn sie den Gesetzgeber und folglich das Gesetz immer als mögliche Gegner der Grundrechte versteht. In diesem Zusammenhang hebt Poscher zutreffend hervor: „Das Bild eines politisch gestaltenden, in einem grundrechtlichen Rahmen handelnden Gesetzgebers vermag die Prinzipientheorie hingegen auch über die Einführung formeller Prinzipien nicht zu rekonstruieren.“258 Dasselbe Argument gilt für die Leistungsrechte im engeren Sinne, wenn man diese Art von Grundrechten als Teil des GG anerkennt, wie es bei Alexy der Fall ist. Es ist zumindest fragwürdig, die Idee des Existenzminimums hinsichtlich ihres leistungsrechtlichen Gehalts bspw. aufgrund der Begrenzungsproblematik und der Technik der Abwägung zu verstehen.

257 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 94–96. In ähnlichen Sinn, Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte: Stellung und Funktion vorbehaltloser Freiheitsrechte in der Verfassungsordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 74. Zu diesem Problem schon früher Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler. Bd. 2. Berlin: Walter de Gruyter, 1987, S. 1420: Der Autor spricht von einem Zirkel zwischen der Bindung des Gesetzgebers an das Grundrecht und dem Sachverhalt, dass er selbst bestimmt „was Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG zu sein hat und was nicht“. Zu einem Versuch aus diesem Kreis auszusteigen, vgl. Nierhaus, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers? – Ein Beitrag zur Dogmatik des Art. 1 Abs. 3 GG, in: AöR 116. 1991, passim. 258 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 83–84.

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2. Funktionell-rechtliche Einwände gegen die Prinzipientheorie: die Rolle der Legislative und der Exekutive im Bereich der Leistungsgrundrechte und die Hypertrophie der Justiz Die Prinzipientheorie lässt sich darüber hinaus funktionell-rechtlich kritisieren vor allem im Hinblick auf die Idee der „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“259 und auf die Möglichkeit eines Bedeutungsverlustes der Rolle des Gesetzgebers bzw. der infrakonstitutionellen Gesetzgebung und einer Hypertrophie der Verfassungsgerichtsbarkeit. Jestaedt behauptet in diesem Zusammenhang beispielsweise, „dass die Abwägungslehre, universell eingesetzt, zu einer Entstufung der Rechtsordnung führt. Die positivrechtlich vorgesehenen Rechtserzeugungsstufen – Verfassung, Gesetz, Verordnung, Satzung, Verwaltungsakt, Gerichtsentscheidung, Vertrag usw. –, die, wiederum durch Anordnungen des positiven Rechts, zueinander in komplexen hierarchischen Relationen stehen, werden tendenziell ihres Selbstandes entkleidet.“260 Wenn von Leistungsrechten und staatlichen Leistungspflichten die Rede ist, wird die Problematik noch komplexer.

259

Jestaedt unterscheidet zwischen „Konstitutionalisierung im unechten und im echten Sinne“: „Erstere verbindet sich mit den Stichworten ‚Elfes‘ und ‚Lüth‘, Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) und Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und führt zu einer Verdoppelung der Rechtspositionen: Die einfachrechtlich gesicherten Rechtsstellungen verändern zwar nicht ihren Rechtscharakter und Rechtsrang, aber sie erfahren über das in die Grundrechte hineingelesene Tatbestandsmerkmal der ‚Gesetzmäßigkeit‘ zugleich eine inhaltsgleiche verfassungsrechtliche Verbürgung. Der Stufenbau der Rechtsordnung bleibt gewahrt, die vom Vorrang der Verfassung vorausgesetzte Trennung von Verfassungsrecht und Unterverfassungsrecht wird durch eine Doppelsicherung von Rechtspositionen nicht angetastet. Anders beim Phänomen der Konstitutionalisierung im echten Sinne: Hier fallen einfachgesetzliche und verfassungsgesetzliche Rechtsposition untrennbar in eins. Statt Doppelgewährleistung Konfusion der Gewährleistungen. Statt Wahrung des Stufenbaus Einebnung desselben. Damit entfällt aber tendenziell auch die Unterscheidung zwischen der Rechtsetzungsmacht, die lediglich vom Grundrecht (namentlich in grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten) delegiert und in ihren Wirkungen im Range unterhalb der Verfassung anzusiedeln ist, und jener Rechtsetzungsmacht, die grundrechtskonkretisierendes und -vollendendes Recht im Verfassungsrang hervorbringt. Als grundrechtstheoretischer Wegweiser in die Konstitutionalisierung im echten Sinne darf die sogenannte Prinzipientheorie gelten.“ Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Deutsches Verwaltungsblatt 116, 2001, S. 1319. Zum Begriff der Konsitutionalisierung, siehe ursprünglich, Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, passim. 260 Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 269. Er schreibt in Anlehnung an den Ausdruck Forsthoffs von den Verfassungsprinzipien als ein „juristisches Weltenei“. Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 237.

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a) Das Verhältnis zwischen den Leistungsgrundrechten und der Gesetzgebung: Konflikt zwischen Demokratie und Grundrechten? Das Verhältnis zwischen (Sozial-)Staat und Leistungsgrundrechten wird missverstanden, wenn das staatliche Handeln primär als potenzieller Feind dieser Rechte aufgefasst wird. Wenn der Gesetzgeber die Sozialstaatsklausel des GG durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung reguliert  – man denke an das Sozialgesetzbuch (SGB)  –, hat er nicht notwendigerweise die Konfliktlösung und die Begrenzung der Grundrechte als primäres Ziel. Diese Gesetzgebung dient im Gegensatz in erster Linie einerseits zur Konturierung der Leistungsverwaltung, die jeweils die Leistungsrechte in der Praxis umsetzt, und andererseits zur Gestaltung derselben Rechte, die in der Verfassung nicht vollständig ausformuliert sind. In diesem Stadium taucht die Frage nach der Grundrechtsbegrenzung nicht auf, denn man weiß ja noch nicht genau, was diese Rechte eigentlich bedeuten. Dies impliziert aber offensichtlich nicht, dass im Bereich des Leistungsstaates die Möglichkeit unbegründeter Eingriffe in die Grundrechte nicht vorkommen kann, und genau so wenig, dass dieser Vorgang nicht kontrollierbar ist. Hier ist jedoch zu betonen, dass sich das primäre gesetzgeberische und verwaltungsrechtliche Handeln im Leistungsstaat nicht mit der Begrenzung der Leistungsgrundrechte beschäftigt, sondern mit der Ermöglichung ihres Vollzugs. Im leistungsrechtlichen Bereich soll der Staat bzw. die Gesetzgebung als Garant der Grundrechte aufgefasst werden und demgemäß kann hier nicht von einem Konflikt zwischen Demokratie bzw. Gesetzgeber und Grundrechten die Rede sein. Alexy versteht das Verhältnis zwischen Verfassung und Staat, zwischen Grundrechten und Gesetzgebung, sowie zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit allerdings von einem Kollisionsdenken her. Diesem Verhältnis liegt für ihn ein schwelender Konflikt zwischen Demokratie und Grundrechten (Kollision zwischen materiellen und formellen Prinzipien) zugrunde.261 Diesbezüglich stellt er fest: „[…] jeder Rechtskonflikt, an dem mindestens ein Grundrechtsträger beteiligt ist, ist dann als Grundrechtskollision konstruierbar.“262 Im Fortgang seiner Prinzipientheorie versucht er diese Problematik mit der von ihm so bezeichneten Spielraumdogmatik zu bewältigen. Diese Dogmatik, die sowohl die staatlichen Unterlassungsgebote als auch die Handlungsgebote umfasst und eine Antwort auf die Frage hinsichtlich der Grenzen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber zu geben versucht, geht ebenfalls vom Kollisionsdenken aus, wenn sie die Idee des „Eingriffs durch Nichterfüllung“ einführt.263 Was zunächst von der Verfassung geboten ist und gegebenenfalls nicht erfüllt wird, soll stets innerhalb eines Abwägungsvorganges vom BVerfG entschieden werden. Wenn Alexy den strukturellen Spielraum als Abwesenheit definitiver Gebote oder Verbote definiert, setzt er die Unterscheidung zwischen der Regel als definiti 261

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 406 ff. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 27. 263 Klatt / Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, S. 28. 262

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ves Gebot und dem Prinzip als Prima-facie-Gebot voraus. Akzeptiert man jedoch die Kritik an dem Regelbegriff Alexys als eine Chimäre, vor allem in Bezug auf die Idee einer unmittelbar statuierten Norm, muss die Existenz eines definitiven Gebots immer als Resultat eines Abwägungsprozesses verstanden werden. In diesem Sinne wird der strukturelle Spielraum entweder im konkreten Fall von der Verfassungsgerichtsbarkeit umrissen, oder im abstrakten von der Lehrmeinung, aber ebenfalls aufgrund eines hypothetischen Abwägungsvorganges.264 Das BVerfG (oder im Fall des brasilianischen Rechts, jeder Richter, vom Amtsgericht bis zum STF) entscheidet über seine eigene Kompetenz und demzufolge über die Kompetenz des Gesetzgebers. Dies gilt auch für epistemische Spielräume, weil man, um zu wissen, ob ein struktureller oder ein epistemischer Spielraum vorliegt, zunächst die Verfassung interpretieren muss. Die Interpretation ist nach Alexy wiederum vom Verfassungsrecht und von der vom Interpreten vertretenen Rechtsphilosophie abhängig. Es geht am Ende um eine Dogmatik, die von einem richterlichen self restraint oder einem richterlichen Aktivismus abhängig wird. Wenn darüber hinaus die Kritik am Prinzipienbegriff als „Nullpunkt der Grundrechtsdogmatik“ gerechtfertigt ist, bietet die Kombination von Prinzipientheorie und Spielraumdogmatik für die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Gebote im Bereich der Leistungsgrundrechte keine Lösungsrichtung an. Von einem materiellrechtlichen Standpunkt aus muss diese Kombination wiederum auf einer Leitidee basieren, die ihrerseits von einer idealen, moralisch orientierten Auffassung des Leistungsrechts ausgeht. Alles was dieser idealen Auffassung widerspricht kann infolgedessen als „Eingriff durch Nicht-Erfüllung“ charakterisiert werden. Diese Charakterisierung hängt nur von einer rationalen Argumentation ab. Aus der Sicht der brasilianischen Verfassung z. B., die nicht nur die Handlungsgebote des Gesetzgebers hinsichtlich der sozialen Grundrechte durch vielfältige Verfassungsaufträge zumindest teilweise ausdrücklich definiert, sondern auch die Verfassungsgerichtsbarkeit gegen Unterlassungen in diesem Bereich vorsieht, kann die Spielraumdogmatik als eine Dogmatik ohne Gegenstand verstanden werden. Wenn sich die Präzisierungsrelation des dem Staat im leistungsrechtlichen Bereich Gebotenen auf ein immer noch höheres Abstraktionsniveau zurückführen lässt, nämlich sogar auf das über der Verfassung stehende Konfliktniveau zwischen Gerechtigkeit und Sicherheit,265 verlieren die spezifischeren Niveaus, das heißt, die Unterschichten der Rechtsordnung, die eine intensiverer Regulierungsdichte aufweisen, an Bedeutung. Die funktionell-rechtlichen Implikationen dieses abwägungsorientierten Gedankens sind zum einen der Bedeutungsverlust der staatlichen 264

„Auch der neuerdings von Alexy vollzogene Verweis auf die in der Abwägung durch die oben angesprochenen „Pattsituationen“ enthaltenen Spielräume kann an diesem grundsätzlichen Problem nichts ändern. Denn auch die Feststellung, wann eine solche Pattsituation vorliegen soll, unterliegt der Gesamtproblematik der Ermittlung von Abwägungsergebnissen, so dass es kaum möglich ist zu bestimmen, wann dies der Fall ist.“ Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 67. 265 Alexy, Die Doppelnatur des Rechts, S. 397–398.

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Organe, die für die progressive Präzisierung des Rechts zuständig sind, und zum anderen die Hypertrophie der Judikative. b) Die Judikative als primärer Adressat des Gebots, die Leistungsgrundrechte zu konkretisieren Das Verhältnis von Verfassung und Sozialstaat verlangt, die Rolle des Gesetzgebers als primären Adressaten der Leistungsgrundrechte – also der Pflicht, die infrakonstitutionelle Gesetzgebung durch Anordnungen auszugestalten – und die Rolle der Exekutive als sekundären Adressaten mit rechtlichen und faktischen Pflichten im Bereich der Leistungsverwaltung266 – die in der Gesetzgebung vorgeschriebenen Leistungen in der Praxis umzusetzen – auszustatten, und schließlich die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als tertiären Adressaten derselben Grundrechte, also als Kontrollinstanz der (Un-)Tätigkeit der anderen zitierten Staatsorgane, ernst zu nehmen.267 Die Prinzipientheorie unterminiert diese Reihenfolge der Kompetenzen, da sie die Positionen des Gesetzgebers und des BVerfG als primären Adressaten der (Leistungs-)Grundrechte gleichgesetzt. Im Fall Brasiliens, wo ein gemischtes Verfassungsgerichtsbarkeitsmodell eingeführt wurde, wo nämlich die Verfassungskontrolle nicht nur vom Obersten Bundesgerichtshof (STF), sondern auch von allen Richtern ausgeübt werden kann, wird diese funktionell-rechtliche Frage noch deutlicher. Jeder Richter in Brasilien kann unmittelbar aus der Verfassung, also ohne Bezugnahme auf die Gesetzgebung, staatliche Leistungen ableiten und darüber hinaus, von der Verfassung oder sogar außerrechtlichen Maßnahmen ausgehend, den Sozialstaat uminterpretieren. c) Die unmittelbare Anwendbarkeit der Verfassung und die Konfusion zwischen den Ebenen der Rechtsordnung Fasst man die gesamte unterverfassungsrechtliche Gesetzgebung als mögliche Begrenzung der (realen oder idealen) Verfassung auf, ist es theoretisch allen Richtern in Brasilien erlaubt, im Fall angeblicher Verfassungswidrigkeit auf jede Ebene der Rechtsordnung Bezug zu nehmen, um konkrete Fälle zu lösen, ohne die normative Hierarchie der Rechtsordnung beachten zu müssen. Die Idee der Bindung der Judikative an das positive Recht, eines der grundlegenden Postulate des Rechtsstaats, geht damit verloren. Diese Auffassung ist noch problematischer, wenn es um das Problem staatlicher Unterlassungen geht. Die Unterlassung wird von der Prinzipientheorie als „Hemmung der Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips“ konzipiert. Was dem idealen Begriff des Leistungsrechts nicht entspricht, kann als 266

Zum Begriff vgl. Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart: Kohlhammer, 1938, S. 6 und ders., Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, Stuttgart: Kohlhammer, 1938, passim. 267 Dieses Thema wird in Kapitel 3, Punkt D. III. 1. b), behandelt.

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„Eingriff durch Nicht-Erfüllung“ verstanden werden und eine unmittelbar von der Verfassung ausgehende richterliche Rechtsfortbildung in diesem Bereich legitimieren. Die Kritik der „Entstufung der Rechtsordnung“268 und der Prinzipien als juristisches Weltenei269 scheint infolge des Gesagten zutreffend zu sein. d) Die Unsichtbarmachung der in der Verfassung verankerten Normenkontrolle gegen verfassungswidrige Unterlassungen Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die brasilianische Verfassung die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen staatlicher Unterlassungen einschließt. Obwohl das Modell der Normenkontrolle in Brasilien als „gemischtes“ charakterisiert werden kann, sieht die Verfassung die diffuse oder dekonzentrierte Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassungen nicht ausdrücklich vor. Im Gegensatz dazu führt die Analyse der Kontrollinstrumente verfassungswidriger Unterlassungen zu dem Schluss, dass die Zuständigkeit sich auf das jeweilige Urteil des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) konzentriert. Dies Thema wird im dritten Kapitel ausführlicher behandelt werden.270 Versteht man jedoch die Leistungsgrundrechte als Prinzipien, also als Normen, die einerseits direkt in konkreten Fällen angewendet werden können, sprich ohne gesetzliche Ermittlung, und wenn Prinzipien andererseits die Möglichkeit mit sich bringen, die in der Verfassung verankerten Kompetenzen aufgrund besserer Argumente innerhalb eines Abwägungsvorganges zu überwinden, werden die ebenso in der brasilianischen Verfassung positivierten Instrumente der Kontrolle verfassungswidriger Unterlassungen bedeutungslos. Alle Richter dürfen demzufolge über staatliche Handlungsgebote entscheiden und via Interpretation neue Leistungsgrundrechte schaffen, ohne damit direkt in die Domain der Normenkontrolle eintreten zu müssen. An mehreren Stellen war bereits davon die Rede, dass die unkritische Übernahme der Prinzipientheorie viele Kollateralschäden mit sich bringen kann. An dieser Stelle geht es um die Gefahr, die verfassungsrechtlich fehlende Zuständigkeit für die diffuse oder dekonzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit wegen Unterlassungen zu umgehen, also um eine Uminterpretation des Verfassungsgerichtsbarkeitssystems, wobei die diffuse oder dekonzentrierte Normenkontrolle eine neue Facette bekommt, trotz des Mangels an Verfassungsverankerung und sogar gegen die Verfassungstexte. Die befürchtete Hypertrophie würde dann nicht nur das Verfassungsgericht betreffen, sondern die Judikative als Ganzes. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese richterliche Rechtsfortbildung unter direkter Bezugnahme auf die Verfassung hinsichtlich der Grundrechte und außerhalb der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der Normenkontrolle keine reine Gedankenübung und 268

Jestaedt, Die Abwägungslehre, S. 269. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 144. 270 S. u. D. III. 1. a) und b). 269

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kein Phantasiespiel ist, sondern das tägliche Leben in der Welt brasilianischer Juristen abbildet.271

3. Die Prinzipientheorie von Alexy als Dogmatik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung: Kritische Anmerkungen a) Kontextuelle Unterschiede zwischen der brasilianischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz als interpretatives Problem Die kontextuellen Unterschiede zwischen Deutschland und Brasilien machen deutlich, dass es sinnvoll ist zu fragen, ob und unter welchen Umständen es angemessen ist, ein dogmatisches Model, das in einem Kontext und für diesen Kontext gedacht wurde, auf einen anderen zu übertragen. Die Hauptfrage besteht darin, ob das von Alexy entwickelte, dogmatisch-theoretische Modell für die Interpretation des brasilianischen Verfassungsrechts angemessen ist, genauer für die Interpretation der sozialen Grundrechte. Wenn hier von kontextuellen Unterschieden die Rede ist, sind sowohl faktische als auch politische, historische, ökonomische und juristische Besonderheiten gemeint. Wenn man z. B. die Wirkungsweise des deutschen Sozialstaatsmodells unter die Lupe nimmt, das alle soeben zitierten Varianten umfasst, kann man die beiden Länder keineswegs miteinander vergleichen. Hinzu kommt, selbst wenn beide Länder das gleiche positivrechtliche Modell adoptiert hätten, was – wie bereits hingewiesen – nicht der Fall ist, könnten die faktischen Unterschiede zwischen ihnen die Interpretation des positiven Rechts hüben wie drüben verändern. Allein diese Tatsache genügt schon, um eine gewisse Zurückhaltung gegenüber unüberlegten theoretischen Transpositionen zu üben. Trotz der Bedeutung all dieser erwähnten Aspekte der kontextuellen Unterschiede zwischen Brasilien und Deutschland, vor allem die die Relation zwischen positivem Recht und sozialer Wirklichkeit betreffenden, sind als solche nicht Gegenstand dieser Arbeit. Das hier verfolgte Ziel ist ein anderes. Besonderes Augen­ merk wird auf die Art und Weise der Positivierung der Sozialstaatsklauseln und der Grundrechte in den jeweiligen Verfassungen gelegt, das heißt, die mit den sozioökonomischen und soziopolitischen Bedingungen zusammenhängenden (brasilianischen) Verfassungsprobleme werden – wenn notwendig – durch die Linse der brasilianischen Verfassung analysiert werden. Dabei soll der Beweis erbracht werden, dass die Unterschiede hinsichtlich der Art und Weise der Positivierung unterschiedliche dogmatische Modelle verlangen und dass infolgedessen die Prinzipientheorie von Alexy, die in Brasilien umfassend rezipiert wurde, kein adäquates Modell für die Interpretation der brasilianischen Verfassung anbietet, vor allem im Bereich der sozialen Grundrechte. 271 Im dritten Kapitel werden Beispiele der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsberichtsbarkeit Brasiliens im Bereich der sozialen Grundrechte ausgearbeitet werden, die diese Behauptung stützen, S. u. D. II. 3. h).

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b) Der Begriff der (brasilianischen) Verfassung als Grund- und Rahmenordnung? Die Diskussion hinsichtlich des Verfassungsbegriffs in Deutschland, der stark von der Dichotomie der Verfassung als Grund- oder Rahmenordnung272 geprägt ist, verliert an Bedeutung, wenn man die brasilianische Verfassung in Betracht zieht. Wie schon festgestellt, schreibt die brasilianische Verfassung eine große und vielfältige Zahl von Verfassungsaufträgen vor, die die gesetzgebende und die verwaltungsrechtliche Tätigkeit vorantreiben und gleichzeitig den Spielraum dieser staatlichen Handlungen begrenzen. Darüber hinaus sieht die brasilianische Verfassung die Judikative, also die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen staatlicher Unterlassungen, als Kontrollinstanz gegenüber einem eventuellen Mangel an staatlicher Ausführung dieser Pflichten vor. Nicht zuletzt enthält die brasilianische Verfassung einen umfangreichen Katalog an Grundrechten, darunter auch die sozialen Grundrechte. Was in Deutschland in diesem Zusammenhang durch den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte interpretativ konstruiert wurde, nämlich die Idee der Leistungsrechte im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte als originäre Leistungsrechte im Besonderen, und von der Lehrmeinung heftig diskutiert und kritisiert wurde (und wird), wird von der brasilianischen Verfassung ausdrücklich und direkt positiviert. Anders gesagt: Es handelt sich nicht um eine theoretische Konstruktion, sondern um positives Verfassungsrecht. Dasselbe kann über den Einfluss der Grundrechte auf private Beziehungen gesagt werden, da die brasilianische Verfassung unmittelbar gewisse soziale Beziehungen reguliert und nicht nur reflexiv die staatliche Tätigkeit. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Arbeitsrechte, die als soziale Grundrechte im Art. 7 der brasilianischen Verfassung verankert wurden und sich mit der Relation zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber beschäftigen. „Artikel 7. Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […] VI. Nichtminderbarkeit des Lohns, außer aufgrund von Absprache oder kollektiver Vereinbarung; VII. Lohngarantie auf einer Höhe nie unterhalb des Mindestlohn, bei variabler Entlohnung; VIII. Dreizehntes Monatsgehalt auf der Grundlage des Durchschnittslohns oder der Höhe des Rentenanspruchs; IX. Lohnzuschlag für Nachtarbeit; XIII. reguläre Arbeitszeit von 8 Stunden täglich und 44 Stunden wöchentlich, wahlweise Kompensation von Arbeitszeiten und Verkürzung des Arbeitstags, entsprechend Absprache oder kollektiver Vereinbarung; XIV. Sechs-Stunden-Tag bei ununterbrochener Schichtarbeit, vorbehaltlich anderer kollektiver Vereinbarungen; XV. bezahlter wöchentlicher Ruhetag, vorzugsweise der Sonntag; XVI. Überstundenvergütung, mindestens 50 % über dem Normallohn; XVII. bezahlter Jahresurlaub, zuzüglich Bezüge von mindestens einem Drittel des Normallohns; XVIII. Mutterschaftsurlaub für die Dauer von 120 Tagen ohne Nachteile für Arbeitsplatz und Lohn; XIX. Vater 272

Vgl. Reese, Die Verfassung des Grundgesetzes, passim.

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schaftsurlaub gemäß den gesetzlichen Bestimmungen; XXVIII. Unfallversicherung durch den Unternehmer ohne Ausschluss seiner persönlichen Haftpflicht bei Arglist oder Verschulden […].“273Aus dem Gesagten ergibt sich, dass in diesem Bereich die Diskussion um die Drittwirkung274 der Grundrechte ein ganz anderes Panorama entfalten kann. Einer der zentralen Einwände der Verfechter des Verfassungsbegriffs als Rahmenordnung, nämlich die Gefahr eines Jurisdiktionsstaats würde demnach im Fall Brasiliens nicht Folge einer Verfassungstheorie sein, sondern eine Konsequenz der Verfassung selbst. Hätte die brasilianische Verfassung in diesem Sinne einen Jurisdiktionsstaat positiviert? Nicht unbedingt, denn der Begriff der Verfassung und der Grundrechte im Brasilien sollen nicht abstrakt, also ohne die Interpretation der Verfassungsbestimmungen konzipiert werden. Diese Begriffe sollen im Gegenteil ausgehend von diesen Vorschriften konstruiert werden. Anders als das GG enthält die brasilianische Verfassung vielfältige Verfassungsbestimmungen mit starker Regulierungsdichte hinsichtlich der staatlichen Handlungs- bzw. Unterlassungsgebote. Die dogmatische Diskussion bezüglich der sozialen Grundrechte in Brasilien soll sich bspw. nicht – wie in Deutschland – primär mit dem „Offenheitsbereich“ beschäftigen, sondern umgekehrt mit dem, was in der Verfassung ausgedrückt ist. Anstatt mit der Dichotomie Verfassung und Rahmenordnung oder Grund- bzw. Wertordnung zu arbeiten, scheint es angebrachter, von der Auffassung auszugehen, dass die brasilianische Verfassung aus einer Summe auf hohem hierarchischem Niveau rangierenden Normen besteht, die mal unmittelbar, mal reflexiv die staatliche Tätigkeit und die sozialen Verhältnisse regulieren. Was konkret determiniert wird, hängt nicht von einem abstrakten Begriff der Verfassung ab, aufgrund dessen entweder ein Rahmen für das Handeln des Gesetzgebers gestellt oder dasselbe Handeln auf die bloße Ausführung der in der Verfassung schon getroffenen Entscheidungen reduziert wird, sondern von der Interpretation der betroffenen Verfassungsbestimmungen, die entweder isoliert oder in ihrer wechselseitigen Interaktion auf konkrete oder hypothetische (grund-) rechtliche Fragen antworten soll. c) Soziale Grundrechte sind keine Prinzipien Wenn man das brasilianische Verfassungsrecht vom dogmatischen Standpunkt aus betrachtet, scheinen die der Prinzipientheorie Alexys zugrundeliegenden Probleme ganz anderer Art zu sein. Allerdings wurde schon oben darauf hingewiesen, dass ein wichtiger Sektor der Lehrmeinung in Brasilien das Problem der Subjek 273

Ein großer Teil dieser Rechte war schon seit Jahrzehnten in infrakonstitutioneller Gesetzgebung verankert. Die brasilianische Verfassung von 1988 brachte sie auf verfassungsrechtliches Niveau. 274 Der Begriff „Drittwirkung“ wurde 1954 geprägt von Ipsen, Gleichheit, in: Neumann /  Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Band 2, 1954, S.111, 143.

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tivierung sozialer Grundrechte auf der Grundlage der Prinzipientheorie zu lösen versucht(e). Die sozialen Grundrechte sind aus dieser Sicht Prinzipien bzw. Optimierungsgebote. Auf den ersten Blick klingt die Behauptung, dass die sozialen Grundrechte in einem möglichst hohen Maße mit Blick auf die faktischen und rechtlichen Möglichkeiten umgesetzt werden sollen, problemlos, ja trivial. Wer wollte leugnen, dass die Grundrechte, insbesondere die sozialen Grundrechte von den faktischen und rechtlichen Möglichkeiten abhängig sind? Die Probleme tauchen erst bei näherem Hinsehen auf. Wenn man den Alexyschen Begriff des Prinzips sorgfältig analysiert, sprich, eine Rechtsnorm, die von der Verfassungsbestimmung unmittelbar ausgedrückt wird und semantisch und strukturell unbestimmt ist; deren Prozess der „semantischen Präzisierung“ (Feststellung der Bedeutung der Verfassungsbestimmung), die die strukturelle Konfiguration der Norm darüber hinaus bestimmt (was für eine staatliche Tätigkeit die Norm vorschreibt – entweder eine Handlung oder eine Unterlassung), nur mittels einer Abwägung mit anderen Normen, die auch semantisch und strukturell offen sind, konstruiert wird und am Ende eine zugeordnete Grundrechtsnorm generiert, die als Regel charakterisiert ist, ist die Behauptung nicht so evident, wie es am Anfang klang. Die Charakterisierung der sozialen Grundrechte als Prinzipien, wenn man die zugrunde liegende Annahme des Alexyschen Modells ernst nimmt, setzt unbedingt die Diskussion über die eventuelle (Un-)Möglichkeit voraus, interpretativ von den Grundrechtsbestimmungen des GG, die im Prinzip nur Grundrechte mit der Struktur von Abwehrrechten sind, Leistungsgrundrechte abzuleiten. Das zugrundeliegende Problem der Prinzipientheorie, eine angemessene dogmatische Lösung für das normative Stillschweigen des GG im Bereich sozialer Grundrechte anzubieten, tritt im brasilianischen Verfassungsrecht jedoch nicht in Erscheinung. Ganz im Gegenteil wurden sowohl das Modell des Sozialstaates als auch die sozialen Grundrechte vom positiven Verfassungsrecht im Detail ausformuliert. Mit anderen Worten: Die Präzisierungsrelation der Norm, die für Alexy nur innerhalb eines von der Verfassungsgerichtsbarkeit durchgeführten Abwägungsvorganges auftritt, wurde in gewissem Sinn von der brasilianischen Verfassung schon aufgegriffen, wenn auch manchmal nur teilweise. Die brasilianische Verfassung enthält „präzisere“ Normen. Demzufolge entbehrt eine Dogmatik, deren Gegenstand zu einem großen Teil das Schweigen der Verfassung ist, in einem rechtlichen Kontext, in dem die Verfassung diese Fragen ausdrücklich reguliert, jeden Sinn. Dies bedeutet nicht, dass die brasilianische Verfassung alles entscheidet, sondern, dass sie schon viel gestaltet hat. Die Frage nach den sozialen Grundrechten in Brasilien besteht infolgedessen nicht darin, ob diese interpretativ aufgrund der Sozialstaatsklausel in Verbindung mit dem Existenzminimum als positive Seite der Menschenwürde und der Idee der faktischen Freiheit und Gleichheit konstruiert werden können, geschweige denn aufgrund einer Abwägung zwischen Menschenwürde, faktischer Freiheit und Gleichheit einerseits und der Kompetenz des Gesetzgebers hinsichtlich der infrakonstitutionellen Ausgestaltung der Verfassung andererseits.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Außerdem ist die Leitidee von Alexy, die besagt, dass sich jeder aufgrund von Grundrechtsnormen in leistungsrechtlichen Positionen befindet, die vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus so wichtig sind, dass ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann,275 allzu diffusen um als allgemeiner Parameter für die Interpretation sozialer Grundrechte zu dienen. In der brasilianischen Verfassung kann der Inhalt dieser Leitidee als eine direkte Konsequenz der Bindung des Gesetzgebers und der Verwaltung an die Verfassungsbestimmungen verstanden werden. Die Auffassung des sozialen Grundrechtes als moralisches Recht (ideale Dimension des Grundrechtsbegriffs), als ein Gedankeninhalt, den zu erfassen möglich ist und dessen Begründung ausschließlich von einer rationalen Argumentation abhängt, öffnet die Rechtsordnung für rein philosophische Betrachtungen, die lediglich begründbar sein müssen, um rechtliche Gültigkeit zu bekommen. In diesem Sinne vertritt Arango – in Einklang mit Alexy276 – die Auffassung, dass das Problem der Begründung des Begriffs des sozialen Grundrechts „nicht hauptsächlich auf der Ebene der Rechtsdogmatik – insbesondere nicht der des Verfassungsrechts –, sondern auf der Ebene der analytischen Rechtsphilosophie geschehen“ soll.277 Arango verteidigt einen Prima-facie-Vorrang des aufgrund philosophischer Parameter argumentativ konstruierten subjektiv-rechtlichen Aspekts der sozialen Grundrechte vor dem positiven Recht.278 Dabei tritt aber eine gewisse Zirkularität der Begründung der sozialen Grundrechte zu Tage: „Es sollte zwischen einer philosophischen Begründung und einer juristischen Begründung unterschieden werden. Über die Frage, welche Rechte so wichtig für ein Rechtssubjekt sind, daß ihre Anerkennung der Politik nicht freistehen darf [Leitidee Alexys, P. M.], kann man auf philosophischer Ebene im allgemeinen streiten. Aber in einer normierten Welt – in der es Verfassungstexte, Menschenrechtserklärungen, Konventionen für 275

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 409–410. Arango divergiert jedoch von Alexy im Hinblick auf den Gegenstand der sozialen Grundrechte. Er behauptet nämlich, „dass Gegenstand sozialer Grundrechte nur positive faktische Handlungen des Staates sein können. Positive rechtliche Handlungen und negative Handlungen des Staates sind als Gegenstand sozialer Grundrechte ausgeschlossen.“ Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 96. Seiner Meinung nach sind soziale Grundrechte Rechte des Einzelnen auf positive faktische Handlungen des Staats. Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 96. 277 Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 17. Arango versucht einen vollständigen Tatbestand sozialer prima facie Grundrechte zu erstellen. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen formellen und materiellen Bedingungen sozialer Grundrechte: „Die formellen Bedingungen sozialer Grundrechte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Hat der Staat die rechtliche und faktische Möglichkeit etwas zu tun, unterläßt er jedoch dieses Tun und droht sein Unterlassen in der konkreten Situation dem einzelnen ohne Rechtfertigung zu schaden, dann besteht ein Recht des einzelnen auf ein positives faktisches Handeln des Staates. […] Zu den formellen Bedingungen sozialer Grundrechte kommt eine materielle Bedingung hinzu. Derjenige, der vom Staat ein Recht auf positives faktisches Handeln geltend macht, muß sich in einer Notsituation befinden, die seine tatsächliche Freiheit und Gleichheit ausschaltet.“ Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 128–129. 278 Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 31. 276

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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den Schutz der Menschenrechte und Entscheidungen der internationalen Gerichtshöfe für Menschenrechte gibt –, ist eine korrekte Begründung grundrechtlicher Bewertungen mittels der Regeln und Prinzipien der juristischen Argumentation durchaus möglich.“279 Hier ist wieder hervorzuheben, dass im Alexyschen Modell der Prinzipientheorie in Verbindung mit seiner Theorie der juristischen Argumentation die Bestimmung des Grundrechtsgehalts in der Regel exakt auf (rechts-) philosophischem (idealem) Niveau geschieht, eben weil es nicht möglich ist, dies nur aufgrund des positiven Rechts zu unternehmen. Zu erwähnen sind hier nochmals die Idee des Prinzips als ideales Sollen und der juristischen Argumentation als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses. Obwohl Arango behauptet, dass die Leitidee Alexys im philosophischen Bereich umstritten ist, versucht er die Konstruktion sozialer Grundrechte genau auf dieser Ebene zu begründen, wenn er das Alexysche Modell verwendet.280 Daher warnt Rusteberg vor der Gefahr eines infiniten Regresses in dieser Denkweise: „So löst Alexy das Problem sozialer Grundrechte etwa dadurch, dass er Grundrechte als Ausdruck einer formalen Leitidee charakterisiert, nach der sie Positionen sind, die vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus so wichtig sind, dass ihre Gewährung oder Nichtgewährung nicht der einfachen parlamentarischen Mehrheit überlassen werden kann. Ob dies der Fall ist, ermittelt er wiederum durch eine Abwägung der widerstrebenden Prinzipien der faktischen Gleichheit gegenüber dem Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip sowie möglichen gegenläufigen materiellen Prinzipien. Damit wird auch die Ermittlung der geltenden Prinzipien zu einer Frage der Abwägung weiterer gegenläufiger Prinzipien. Es droht der infinite Regress.“281 Die Konfusion zwischen dem philosophischen und dem dogmatischen Niveau bezüglich der Grundrechte ist damit offensichtlich. Es geht hier auf keinen Fall darum, die Wichtigkeit der philosophischen Begründung sozialer Grundrechte282 zu verneinen, sondern vielmehr darum, schlicht zu betonen, dass philosophische und dogmatische Begründungen nicht miteinander verwechselt werden dürfen, wie es in der Prinzipientheorie der Fall ist. Sowohl die Leitidee als auch die Darstellung „hinreichende moralische G ­ ründe“283 scheitern nicht nur als Begründungskriterien zur Konstruktion sozialer Grund 279

Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 40. Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 44 ff. „Die Wichtigkeit eines Grundrechts hängt ihrerseits von den Argumenten ab, die diese Wichtigkeit objektiv begründen. Damit wird an das zentrale Thema der philosophischen Begründung sozialer Grundrechte angeknüpft.“ Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 166. 281 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 162. Es muss erwähnt werden, dass Rustebergs Kritik nicht direkt gegen Arango gerichtet ist. Sie betrifft jedoch die von Arango angenommene Annahme, die auf Alexy basiert. Daher ist sie im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung. 282 Zur philosophischen Begründung der sozialen Grundrechte, Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 173 ff. 283 Die Wichtigkeit eines Gutes oder Interesses hängt von den Argumenten ab, welche gegeben werden, um sie zu begründen. Arango, Der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 168. 280

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rechte in Brasilien, sondern schließen des Weiteren einerseits die Gefahr einer Vernachlässigung des Verfassungstexts und andererseits – als eine Folge dieser Missachtung – die Gefahr einer fortlaufenden interpretativen Neugestaltung des in der Verfassung gestalteten Sozialstaats und der sozialen Grundrechte durch die Judikative ein. Die Verfassungsgerichtsbarkeit und nicht der Gesetzgeber wäre dann der erste Adressat der Grundrechte. Schließlich ist zu betonen, dass die sozialen Grundrechte kein „Kollisionsverhalten“284 besitzen. Eine progressive Präzisierung eines sozialen Grundrechts  – wenn man von Progressivität reden will – ist nicht an seine Kollision mit anderen Grundrechten oder mit Kompetenzen geknüpft. Daher sollen diese Rechte nicht optimiert werden, das heißt, die Feststellung ihrer Bedeutung und demzufolge ihre Anwendung hängen nicht von Abwägungen ab. Von der Grundrechtsdogmatik her ist folglich die von Alexy postulierte weitgefasste Tatbestandstheorie der Grundrechte im Bereich der sozialen Grundrechte nicht geeignet. d) Interpretation und Anwendung von Verfassungsvorschriften mit verschiedener Regulierungsdichte durch die Prinzipientheorie und die Methode der Abwägung Die als soziale Grundrechte im Art. 6 der brasilianischen Verfassung verankerten Rechte auf Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe dienen als Beispiel für die Verdeutlichung der soeben dargestellten Einwände. Art. 6: „Soziale Rechte nach dieser Verfassung sind die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Nahrung, Arbeit, Wohnung, Transport, Freiheit, Sicherheit, soziale Versicherung, Schutz von Mutterschaft und Kindheit, Obdachlosenhilfe.“ Mit einer isolierten Interpretation dieses Artikels würde man nicht ohne weiteres seinen vollständigen Inhalt wahrnehmen können, das heißt es würde offenbleiben, wer erstens die Grundrechtsträger bzw. die Grundrechtsadressaten sind; inwieweit zweitens die Grundrechtsadressaten daran gebunden sind und was drittens die Grundrechtsträger vom Staat verlangen dürfen (semantische und strukturelle Unbestimmtheit). Für Alexy und die ihm folgenden brasilianischen Autoren285 wären es typische Fälle der Frage nach dem Prinzip bzw. der Abwägung. Die grundrechtsdogmatischen und rechtsmethodologischen Konsequenzen, die daraus resultieren, sind hier schon genug bekannt. Die brasilianische Verfassung enthält allerdings weitere Vorschriften, die mit dem Problem der semantischen und strukturellen Unbestimmtheit des Rechts auf 284

Bezüglich des Kollisionsverhaltens der Werte, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 140. Da Prinzipien für ihn die deontologische Seite der Werte sind, besitzen Prinzipien konsequenterweise zudem ein Kollisionsverhalten. 285 Statt vieler, vgl. Silva, Soziale Grundrechte als Optimierungsgebot, ihre Überlegungen aus der Perspektive des Gesundheitsrechts, passim.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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Gesundheit zusammenhängen, und infolgedessen im Bereich der sozialen Grundrechte berücksichtigt werden müssen. Art. 196 schreibt bspw. vor: „Die Gesundheit stellt ein Recht aller und eine Verpflichtung des Staats dar. Sie wird durch eine Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet, die darauf abzielt, das Krankheitsrisiko und andere Schadensrisiken zu vermindern und den allgemeinen und gleichen Zugang zu den ihrer Förderung, ihrem Schutz und ihrer Wiederherstellung dienenden Maßnahmen und Dienstleistungen zu ermöglichen.“ Art. 6 sieht das Grundrecht auf Gesundheit ganz allgemein vor, aber Art. 196 gestaltet dieses Recht innerhalb der Verfassungsordnung, in Bezug auf die Adressaten, also den Gesetzgeber und die Verwaltung, konkret aus, denn der Artikel sagt, dass dieses Recht durch Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet werden soll. Sozial- und Wirtschaftspolitik sind Aufgabe des Parlaments und der Regierung. Sie sind daher der primären Adressaten. Insofern und darüber hinaus sieht der Artikel vor, wie das Recht verwirklicht werden soll. Auch die Finanzierung dieses Rechts als Teil der Sozialfürsorge286 wird von der Verfassung im Detail reguliert: „Art. 195. Finanzierung. Die Sozialfürsorge wird direkt und indirekt von der gesamten Gesellschaft nach Maßgabe der Gesetze durch Mittel aus den Haushalten von Bund, Ländern, dem Bundesdistrikt und den Kommunen sowie durch folgende Sozialbeiträge finanziert: I. Beiträge der Arbeitgeber, die auf die Lohn- und Gehaltskosten, den Umsatz und den Gewinn entfallen; II. Beiträge der Arbeitnehmer; III. Beiträge auf die Einnahmen aus Glücksspielen. […] § 2. Der Vorschlag des Budgets der Sozialfürsorge wird von den für Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe zuständigen Organen in wechselseitiger Zusammenarbeit und unter Berücksichtigung der im Haushaltsrahmengesetz enthaltenen Zielsetzungen und Prioritäten ausgearbeitet. Jedem der erwähnten Bereiche wird die eigenverantwortliche Verwaltung seiner Mittel gewährt. […] § 4. Durch Gesetz können, unter Beachtung der Regelung in Art. 154 I, andere Finanzierungsquellen mit dem Ziel eingerichtet werden, die Tätigkeiten der Sozialfürsorge aufrechtzuerhalten oder zu erweitern. § 5. Keine Leistung oder Dienstleistung der Sozialfürsorge kann ohne die entsprechende Finanzierungsquelle eingerichtet, vergrößert oder ausgeweitet werden.“ Bezüglich der Grundrechtsträger kann man darüber streiten, ob und in welchem Umfang das Recht auf Gesundheit individualisierbar, also subjektivierbar ist, weil die Verfassung zum einen besagt, dass die Grundrechte unmittelbar angewendet werden sollen, und zum anderen feststellt, dass das Recht auf Gesundheit ein Recht aller ist. Letzteres könnte als kollektives Recht verstanden werden, da es durch entsprechende Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet wird und Politik naturgemäß nicht individuell ist.287

286 „Artikel 194. Die Sozialfürsorge umfasst ein zusammenhängendes Ensemble von Maßnahmen des Staats und der Gesellschaft, die darauf zielen, die sich auf Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe beziehenden Rechte zu gewährleisten.“ 287 Die Diskussion über die Rolle der sozialen Grundrechte als subjektive Rechte wird Gegenstand des dritten Kapitels sein.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Unabhängig davon ist hier hervorzuheben, dass im Bereich des Rechts auf Gesundheit notwendigerweise keine Kollision mit anderen (sozialen) Grundrechten besteht. Es ist nicht erforderlich, von einer Kollision mit dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Erziehung, dem Recht auf Arbeit oder sogar von einer Kollision mit Abwehrrechten – z. B. der Freiheit der anderen – auszugehen, um die Konturen des Rechts auf Gesundheit als Resultat einer Abwägung zu bestimmen. Es besteht darüber hinaus auch kein Anlass, von einer Kollision zwischen dem Recht auf Gesundheit und der Kompetenz des Gesetzgebers für die infrakonstitutionelle Regulierung dieses Rechts und für die Entscheidung über seine Finanzierung zu reden. Diese Argumentation kann gleichermaßen für das Recht auf Sozialversicherung und das Recht auf Sozialhilfe zutreffen, die auch Bestandteile der Sozialfürsorge (Art. 194) sind: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf: I. Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen – einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten; II. Beihilfe zum Unterhalt für abhängige Angehörige des Versicherten mit geringem Einkommen; III. Schutz der Mutterschaft, besonders der schwangeren Frau; IV: Schutz des unfreiwillig arbeitslosen Arbeitnehmers; V. Zahlung einer Pension an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202.“ Was die Sozialhilfe anbelangt sieht die Verfassung vor: „Artikel 203. Die Sozialhilfe wird dem Bedürftigen unabhängig von seiner Beitragszahlung zur Sozialversicherung gewährt. Sie hat als Ziele: I. den Schutz der Familie, der Mutterschaft, der Kindheit, der Jugend und des Alters; II. den Beistand für bedürftige Kinder und Jugendliche; III. die Förderung der Integration in den Arbeitsmarkt; IV. die die Entwicklung oder Neuentwicklung persönlicher Fähigkeiten unterstützende Arbeit mit Behinderten und ihre Integration in das Gemeinschaftsleben; V. die Gewährleistung eines monatlichen Mindestbetrags an Behinderte und Alte, die nachweislich nicht für den eigenen Unterhalt sorgen können und der auch von der Familie nicht gewährleistet werden kann. Die Gewährleistung erfolgt nach Maßgabe des Gesetzes.“ Es ist also der Frage nachzugehen, ob und inwieweit Art. 6 der brasilianischen Verfassung fähig ist, Fälle, in denen es um die Subjektivierbarkeit der Rechte auf Gesundheit, soziale Versicherung oder Sozialhilfe geht, allein zu regulieren. Anders gesagt: Darf der Interpret Art. 6 direkt anwenden – ohne Bezugnahme auf Art. 196 –, um ein subjektives Recht auf Gesundheit, zum Beispiel ein Krankenhausbett, falls die Kapazität des Krankenhauses erschöpft ist, oder eine medizinische Behandlung, die vom Staat in der Regel nicht geleistet wird, zu rechtfertigen? Zugespitzt formuliert könnte der Interpret das Grundprinzip der Menschenwürde,288 die Idee der faktischen Freiheit oder Gleichheit oder – noch abstrakter – eine moralische Auffassung des Rechts auf Gesundheit in Betracht ziehen, um den Fall 288

Die Menschenwürde wird von der brasilianischen Verfassung nicht als Grundrecht verankert, sondern in Art. 1, III als Grundprinzip des demokratischen Rechtsstaates Brasilien definiert.

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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zu lösen. Prinzipientheoretisch formuliert: Darf Art. 196, der diesbezüglich präziser ist als Art. 6 oder die eben zitierten Argumente und besagt, dass der Staat das Recht auf Gesundheit mittels Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleisten soll, also zum einen definitionsgemäß keine Individualisierbarkeit begründet und zum anderen die Art und Weise des staatlichen Handels und den Inhalt dieses Handelns partiell definiert, einfach ignoriert und ein subjektives Recht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden? Wenn Art. 196 bezüglich der Definition des staatlichen Handels ein formelles Prinzip ist, darf er dann im konkreten Fall wegen des größeren Gewichts der Menschenwürde, der faktischen Freiheit oder Gleichheit außer Acht gelassen werden? Wenn die Menschenrechte z. B. als moralische Rechte existieren, wenn sie also begründbar sind, erfüllt für Alexy ein Grundrechtskatalog seinen Anspruch auf Richtigkeit nicht, sofern er diese Rechte nicht umfasst. Es handelt sich dann um einen fehlerhaften Katalog, der vom Verfassungsgericht korrigiert werden muss. Die bereits in der Verfassung existierende Präzisierungsrelation zwischen Art. 6 und Art. 196 könnte daher durch eine Präzisierungsrelation, die innerhalb eines Abwägungsvorganges zwischen kollidierenden Prinzipien von der Judikative vorgenommen wird, ersetzt werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Rolle der infrakonstitutionellen Gesetzgebung, die die Sozial- und Wirtschaftspolitik entwickelt. Kann die infrakonstitutionelle Gesetzgebung als bloßes Resultat der Ausübung eines formellen Prinzips verstanden werden? Kann sie demzufolge über die Idee des ‚Eingriffs durch Nicht-Erfüllung oder Nicht-Leistung‘ verstanden werden? Obwohl die Verfassung die genannten Rechte schon weitgehend gestaltet, bestimmt sie den Inhalt dieser Rechte nicht vollständig. Für die infrakonstitutionelle Gesetzgebung bleibt viel zu regulieren. Das gesetzgebende Handeln fungiert in diesem Zusammenhang als weitere Präzisierung der jeweiligen Gehalte und die umfassende Anwendung der sozialen Grundrechte hängt in bestimmtem Sinne von dieser gesetzgebenden Konturierung ab. Missversteht man die Funktion der Gesetzgebung auf diesem Gebiet, wenn sie als mögliche Begrenzung des Grundrechts auf Gesundheit gedacht wird? e) Zur Notwendigkeit eines dogmatischen Modells, das nicht von der Idee der Kollision ausgeht Im Bereich der sozialen Grundrechte im Allgemeinen und des Grundrechts auf Gesundheit im Besonderen gibt es einerseits eine Relation zwischen Verfassung und Staat, die mal durch die Figur des staatlichen Unterlassungsgebots, mal durch Handlungsgebote bestimmt werden kann und die dogmatisch erklärt werden soll. Andererseits taucht aus der Perspektive des Grundrechtsträgers die Frage nach der Relation zwischen Individuum und Staat auf, das heißt danach, was das Individuum vom Staat verlangen darf: Abwehrrechte oder Leistungsrechte. In einem dritten Moment kommt die Frage nach der Justiziabilität dieser Relationen in den Blick.

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C. Die Rezeption der Prinzipientheorie Alexys in Brasilien 

Verfassungsdogmatisch betrachtet tritt diesbezüglich in erster Linie die Feststellung staatlicher Handlungsgebote zu Tage, denen Leistungsrechte konsequenterweise entsprechen können. Die Möglichkeit der Begrenzung dieser Leistungen ist sekundär, denn sie setzt die Kenntnis ihres Inhalts voraus. Erst wenn die sozialen Grundrechte vom Gesetzgeber vollständig ausgestaltet sind – man denke hier wiederum an die Bedeutung des Ziels „Krankheitsrisiko und andere Schadensrisiken vermindern“ (Art. 196 der brasilianischen Verfassung) –, ist eine Grundrechtsdogmatik gefordert, die auf diesem Feld genau erklären kann, was einerseits von der Verfassung festgelegt ist und was nicht, und demzufolge was andererseits von der Gesetzgebung erwartet wird und sogar wie der Gesetzgeber diese Aufgabe erfüllen soll. Und nicht zuletzt was der Gehalt des eventuellen Leistungsrechts ist und wie die Verfassungsgerichtsbarkeit die staatliche Tätigkeit kontrollieren kann und soll. Unbeschadet dieser Unterscheidung zwischen negativen und positiven Staatspflichten (Polizei- bzw. Leistungsstaat) auf der einen und positiven und negativen Rechten (Abwehr- bzw. Leistungsrechte) auf der anderen Seite, gehen die Prinzipientheorie und das jeweilige Abwägungsdenken ausnahmslos von der Auffassung aus, dass der Staat – der Gesetzgeber oder die Verwaltung – ein potenzieller Gegner der Grundrechte ist, dass sein Handeln immer die Möglichkeit einer Grundrechtsbegrenzung in sich birgt. Wenn man die leistungsrechtliche Seite der Grundrechte ansieht, wird diese Rolle allerdings fragwürdig. Im Gegensatz dazu soll sich eine Dogmatik der sozialen Grundrechte – aus verfassungsrechtlicher Sicht – mit dem Problem der Beziehung zwischen Verfassungsnormen unterschiedlicher Regulierungsdichte (horizontale Beziehung zwischen Normen) beschäftigen, die kein Kollisionsverhalten besitzen. Vom hierarchischen Standpunkt aus, also von der Relation zwischen Verfassung und Gesetzgebung (vertikale Beziehung zwischen Normen), soll diese Dogmatik der sozialen Grundrechte einen Ausgangspunkt anbieten, der nicht von der Idee der Kollision ausgeht und infolgedessen fähig ist, die Funktion des Gesetzgebers im Blick auf die sozialen Grundrechte zu verdeutlichen, indem er diese Rechte nicht begrenzt, sondern ihnen Konturen gibt. Die Kategorie der Ausgestaltung der Grundrechte, die in Deutschland in den letzten Jahrzehnten in der Lehrmeinung allmählich mehr Aufmerksamkeit erlangte und als Gegenbegriff zu dem der Einschränkung / Begrenzung ausgearbeitet wurde und wird,289 kann als Ausgangspunkt dazu dienen, eben weil sie nicht auf der Auffassung vom Staat als Gegner der Grundrechte basiert. 289

Kritisch dazu Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 150 ff. Der Begriff der Ausgestaltung und die Rolle dieser dogmatischen Figur für die Diskussion über die sozialen Grundrechte in Brasilien wird Gegenstand des nächsten Kapitels sein. In dieser Arbeit wird die Frage des Konflikts zwischen Ausgestaltung und Eingriffsdogmatik in Bezug auf alle Grundrechte, einschließlich der Abwehrrechte, nicht eingehend untersucht. In der Diskussion geht es um die Möglichkeit, die Ausgestaltungsdogmatik als typisch für Leistungsrechte im Allgemeinen, einschließlich der sozialen Grundrechte, zu nutzen. Kritisch zugleich zu dieser Möglichkeit nochmals Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 154: „Auch aus der Perspektive grundrechtlicher Leistungsrechte bleibt es auf der grundrechtlichen Ebene bei entweder der Einschränkung oder

III. Die Untauglichkeit der Prinzipientheorie 

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f) Die Eingriffs- und Ausgestaltungsdogmatik aus der Sicht der Prinzipientheorie Für die Prinzipientheorie wird die Ausgestaltung in Bezug auf die Grundrechte als Gegenbegriff zur Einschränkung durch „das Kriterium der Nichthemmung der Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips“ ersetzt: „Das Kriterium der Nichthemmung der Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips impliziert, daß immer dann, wenn eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Abwägung erforderlich (aktueller Grundrechtsfall) oder auch bloß möglich (potentieller Grundrechtsfall) ist, keine Ausgestaltung, sondern eine Einschränkung angenommen werden muß. Die Abwägungen, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit vornimmt, zeigen, daß es die Regelungsermächtigung des Art. 12 Abs.1 Satz 2 GG nicht als Ausgestaltungs-, sondern als Einschränkungsermächtigung auffaßt. Nur eine derartige enge Fassung des Ausgestaltungsbegriffs, der eine entsprechend weite des Einschränkungsbegriffs korrespondiert, entspricht den Anforderungen an die Rationalität grundrechtlichen Begründens. Was als Ausgestaltung qualifiziert ist, bedarf gegenüber dem Grundrecht keiner Begründung mehr.“290 Die Rolle der Ausgestaltung als Kategorie der Grundrechtsdogmatik wird somit von der Prinzipientheorie wiederum auf das Problem der Kollision zwischen Grundrechten und formellen Prinzipien reduziert.

Erfüllung, während man von Ausgestaltung nur auf der unterverfassungsrechtlichen Ebene sprechen kann. Wenn man angesichts dessen dennoch von einer ‚Ausgestaltung des Grundrechts‘ sprechen will, mag man dies tun; es bleibt aber höchst metaphorisch.“ 290 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 306–307.

D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte ohne Prinzipien und Abwägungen am Beispiel des Rechts auf Sozialversicherung in Brasilien I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie im Zusammenhang der Sozialen Grundrechte Wie bereits im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, ist das Meinungsspektrum in der Lehrmeinung und in der Rechtsprechung zur Rolle der Grundrechte im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen in Brasilien durch die Polarisierung zwischen der Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“ und der Prinzipientheorie gekennzeichnet. Diese Polarisierung wurde in den letzten Jahrzehnten durch ein eklatantes Übergewicht der Prinzipientheorie als das theoretisch-dogmatische Modell „überwunden“. Die Unzulänglichkeit der Prinzipientheorie in Bezug auf die sozialen Grundrechte wurde bereits früher in dieser Arbeit aufgezeigt. Die Frage ist daher: Impliziert die Unangemessenheit der Rezeption der Prinzipientheorie die Notwendigkeit einer Rückkehr der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“? Die Antwort ist teilweise positiv. Es wird hier für angemessener gehalten, die Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“ auf der Grundlage eines Dialogs mit dem aufzugreifen, was in Deutschland um die dogmatische Figur der Grundrechtsausgestaltung entwickelt wird.

1. Die Problematik des Begriffs „Ausgestaltung“ in Deutschland Das Problem der sogenannten Ausgestaltung als Figur der Dogmatik der sozialen Grundrechte in Deutschland ist nicht neu. Die Rechtsprechung des BVerfG beschäftigt sich schon seit längerem mit diesem Thema.1 Schon Anfang der 1970er Jahre wurde die Aufmerksamkeit von Grundrechtstheorie und -dogmatik geweckt, als Peter Häberle seine Monografie zum Problem des Wesensgehalts der Grundrechte veröffentlichte.2 Seit den 2000er Jahren hat sie in der juristischen Literatur noch

1 Dazu ausführlich Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, Untersuchung zur Grundrechtsbindung des Ausgestaltungsgesetzgebers, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, passim. 2 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz. Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt. 3. Aufl. Heidelberg: C. F. Müller, 1983, passim.

I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie 

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mehr Bedeutung erlangt.3 Eine der grundlegenden Fragen hinter dieser Fragestellung ist die Funktion der Grundrechte selbst und das Wechselverhältnis zwischen Grundrechten und Gesetzen. a) Die Grundlinien zur Entwicklung einer Dogmatik: „Begrenzung“ und „Ausgestaltung“ von Grundrechten Bemerkenswert ist zum einen die Situation, dass bestimmte Inhalte der im GG verankerten Grundrechte4 infrakonstitutionellen Regulierungen benötigen, damit ihre (direkten) Auswirkungen vollständig bekannt werden. Gellermann spricht von der „Angewiesenheit der Grundrechte auf einfach-gesetzliche Vermittlung, Entfaltung und Ausformung“,5 d. h. die Gesetzgebung darf nicht als Einschränkung der Grundrechte verstanden werden, sondern sie gibt ihnen im Gegenteil die notwendigen Konturen.6 An dieser Stelle sollen der Gedanke der „Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers“7 und die Figur der „normgeprägten, rechtsgeprägten oder rechtserzeugten Grundrechte“, d. h. der Rechte, die als „Produkte der Rechtsordnung“ zu verstehen sind, hervorgehoben werden.8 3

In dieser Richtung z. B. die Arbeiten von Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten. Grundlagen und Grundzüge einer Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung unter besonderer Berücksichtigung der Vertragsfreiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009 und ders., Der Grundrechtsvorbehalt. Untersuchungen über die Begrenzung uns Ausgestaltung der Grundrechte, Baden-Baden: Nomos, 1998; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande; Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte; Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte; Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung. 4 Oder dem Verfassungstext zugeordnete Gesetze. 5 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 32. „Indessen würde das Verhältnis von Grundrechten und Gesetzgebung nur unvollständig erfaßt, wollte man allein die konfliktuelle Seite des Bezugs betonen.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 4. 6 Gellermann spricht über „die harmonische Seite des Beziehungsgeflechts zwischen Grundrechten und subkonstitutionellem Recht.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 82. 7 Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, passim. In diesem Sinn argumentiert Aulehner: „Im Hinblick auf das komplexe Wechselverhältnis zwischen einfachem Gesetz einerseits und verfassungsrechtlichen Grundrechten andererseits ist es jedenfalls nicht von vorneherein ausgeschlossen, daß jedenfalls einzelne Grundrechte auch unter dem Grundgesetz und trotz Art. 1 III GG wie in der Weimarer Reichsverfassung nur ‚nach Maßgabe des einfachen Rechts‘ gelten.“ Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 410. 8 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 21–22. Das Eigentum i. S. d. Art. 14 Abs. 1 GG wird nicht als eine vergleichbare Erscheinung der Tatsachenwelt begriffen, ein „natürliches Eigentum“ gemeinhin nicht anerkannt. Stattdessen ist die Rede von einer „Schöpfung“ oder einem „Produkt der Rechtsordnung“, ohne die es grundrechtlich gesichertes Eigentum nicht geben kann. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 94. In diesem Sinn argumentiert auch Aulehner: „Prädestiniert für Grundrechtsausgestaltungen sind die sog. Rechtsgeprägten oder rechtserzeugten Grundrechte. Dies sind Grundrechte, welche in Entstehung und Umfang von der unterverfassungsrechtlichen Rechtsordnung abhängen, deren Schutzgüter nicht der Tatsachenwelt entstammen und die daher als ‚Produkte der Rechtsordnung‘ zu qualifizieren sind.“ Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 414.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Auf der anderen Seite gibt es jene einfach-gesetzlichen Normierungen, die in engem Zusammenhang mit den Grundrechten stehen, in gewisser Weise als Barriere gegen deren Ausführung angesehen werden können, aber nicht in die Kategorie der Begrenzung fallen und daher nicht als Eingriff eingestuft werden können.9 Sie dürfen jedoch – unter Androhung der Verletzung der Bestimmungen des Art. 1 GG über die Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte – nicht der gesetzgeberischen Beliebigkeit ausgeliefert werden.10 Typische Beispiele für diese mehrdeutigen Verhältnisse von Grundrechten und subkonstitutioneller Rechtsordnung sind das Eigentumsrecht und das Erbrecht, die im Grundgesetz, Art. 14 Abs. 1, garantiert werden: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ In diesem Zusammenhang kann die Frage gestellt werden kann, ob es möglich ist, den vollen Umfang dieser Garantien ausschließlich vom GG ausgehend hinreichend zu bestimmen. Lautet die Antwort nein, d. h. wird eine Ausgestaltung über subkonstitutionelles Recht als unabdingbar angesehen, stellt sich folgende Frage: Wenn das Verhältnis zwischen dem BGB, das die Grundzüge des Eigentumsrechts (Inhalt und Schranken) bestimmt, und der Garantie nach Art. 14 GG nicht unbedingt aus der Konzeption der Begrenzung der Grundrechte verstanden werden kann, um was für ein Verhältnis handelt es sich dann?11 Diese Diskussion ist auch im Bereich der Rundfunkfreiheit, der Vertragsfreiheit, der Gewährleistung der Ehe, der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit und an anderen Stellen wichtig. Aufgrund dieser Problematik wurde die Notwendigkeit einer dogmatischen Kategorie erwogen, die sich speziell mit dieser Art von Beziehung zwischen den verschiedenen normativen Ebenen der Rechtsordnung befasst, zumal die Grenze zwischen der Begrenzung eines Grundrechtes und der Bestimmung seiner begrifflichen und funktionalen Konturen oft unklar ist.12 Die Figur der Grundrechtsausgestaltung erscheint in diesem Zusammenhang als eine ergänzende oder entgegengesetzte Kategorie zu der des Grundrechtseingriffs. Das Grundgesetz selbst trennt nicht zwischen Ausgestaltung und Begrenzung, und die Grenze zwischen diesen Kategorien ist nicht immer eindeutig.13 Vor diesem Hintergrund hat das Thema „Ausgestaltung“ zwar Eingang in die Rechtsprechung des BVerfG und in die Lehrmeinung gefunden, es gibt jedoch keinen Konsens über ihr Konzept und ihre Funktion.14 9

Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 414. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 91. 11 „Erläßt der Staat in Gestalt der Gesetzgebung auftragsgemäß entsprechende Normen, kann ihnen von vornherein keine Eingriffsqualität beigemessen werden. Vielmehr verstehen sie sich als Reaktion auf den grundrechtlichen Gebotsgehalt, sind von eigentumskonstituierender Art und daher von ausgestaltender Natur.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 99. 12 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 138, Rn. 306. Dazu siehe auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 55. 13 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 138 Rn. 306. 14 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 14–15, Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 3–4. 10

I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie 

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b) Der Begriff der „Ausgestaltung“ Cornils schreibt, dass sich in der verfassungsrechtlichen Diskussion ein breites Spektrum von Ausgestaltungsbegriffen findet, „von sehr weiten bis zu eher engen Vorstellungen, die sich mit dem Wort Ausgestaltung verbinden. Anstelle dieses Wortes oder daneben verwenden andere Autoren andere Bezeichnungen wie ‚Konkretisierung‘, ‚Prägung‘, ‚Grundrechtsverwirklichung‘ und ähnliche mehr, teilweise auch in Verknüpfung mit abweichenden Bedeutungen.“15 Anders als bei der Begrenzung ist jedoch bei der Ausgestaltung von Grundrechten bereits unklar, welches Phänomen mit dem Begriff überhaupt gemeint ist und welche Bedeutung es für die Dogmatik besitzt.16 Auch wenn es keinen Konsens über das Konzept und die Funktion der Ausgestal­ tung gibt, lässt sich in gewisser Weise ein gemeinsamer Nenner in der theoretischen Behandlung und den praktischen Skizzen zu dieser Kategorie finden, nämlich die Idee, dass der Staat nicht nur negativ an die Grundrechte gebunden ist. Es gibt Aspekte dieser Beziehung, die eine positive, hilfreiche Grundhaltung des Staates erwarten. Die Ausgestaltung gewinnt an Bedeutung, wenn der Staat nicht als „Feind“17 oder „Widerpart“, sondern als „Freund“ und „Helfer“ der Grundrechte angesehen wird.18 Mit anderen Worten: In dem Maße, in dem die Bindung des Staates an die Grundrechte über deren Rolle als Abwehrrechte hinausgeht, gewinnt die Rolle der Ausgestaltung an Gewicht.

15 Cornils bezieht sich auf Häberle, Korinek und Buermeyer als Wegbereiter des Begriffs ‚Ausgestaltung‘. In diesem Zusammenhang zitiert er auch Lerche und den Oberbegriff der „Grundrechtsprägung“ durch Gesetz. (Übermaß, S. 98 ff.; Lerche folgend z. B. Brenner, DÖV 1995, 60 (61). Lerche, in: HStRV, § 121 Rn. 38 ff.). Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 5 und 13. Auf der anderen Seite bezieht sich Gellermann auf die Aussage: „Der in Anlehnung an unterschiedlich formulierte grundrechtliche Gesetzesvorbehalte unternommene Versuch, unter dem begrifflichen Dach der ‚Grundrechtsprägung‘ unterschiedliche Erscheinungsformen nicht einschränkender Gesetzgebung zu erfassen und zwischen den Typen der ‚grundrechtskonstituierenden, -konkretisierenden und -konturierenden‘ Gesetzgebung zu differenzieren, (Lerche, HdbStR V, § 121 Rn. 10, 38 ff.) fand zwar durchaus Gefolgschaft, vermochte sich aber letztlich nicht durchzusetzen. Statt dessen wird von ‚Inhaltsbestimmung‘, ‚Aktualisierung‘, ‚Ausformung‘ und ‚Substantiierung‘ grundrechtlicher Gehalte gesprochen, ohne dass recht klar wäre, ob diese Begriffe dasselbe meinen oder ob sich dahinter Unterschiedliches verbirgt. Eine gewisse Verbreitung kann allein der Begriff der ‚Ausgestaltung‘ für sich in Anspruch nehmen, von dem sowohl in der Rechtsprechung des BVerfG als auch im Schrifttum reger Gebrauch gemacht wird.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 14–15.“ 16 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 20. Dazu siehe auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 14–15. 17 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 163. 18 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 49.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

c) Dogmatische Versuche, die Figur „Ausgestaltung“ zu umreißen Die Konzeptionen zur Ausgestaltung lassen sich grob in diejenigen einteilen, die ihre dogmatische Bedeutung leugnen oder ihr nur eine marginale Rolle zuweisen,19 und in diejenigen, die sie als „Grundkategorie des grundrechtlichen Lehrgebäudes“ in den Vordergrund stellen und versuchen, sie genauer zu definieren.20 Innerhalb dieses letzteren Spektrums gibt es Autoren, die hinsichtlich der Rolle der Grundrechtsausgestaltung extreme Positionen einnehmen, und Autoren, die vom Versuch einer konzeptuellen Konstruktion im Dialog mit der dogmatischen Figur des Grundrechtseingriffs ausgehen. Häberle zum Beispiel versteht Ausgestaltung als einen Oberbegriff, d. h. für ihn ist jede gesetzgeberische Tätigkeit, die in irgendeiner Weise mit den Grundrechten zusammenhängt, Grundrechteausgestaltung. Alexy hingegen versucht zwar, mit der Ausgestaltung als autonomer dogmatischer Kategorie zu arbeiten, gibt ihr aber letztlich eine sekundäre Rolle innerhalb des theoretisch-dogmatischen Arsenals der Prinzipientheorie, deren zentrale Frage das Phänomen der durch die Kollision von Grundrechten verursachten Grundrechtsbegrenzung ist. Es gibt jedoch auch Zwischenpositionen, die die Ausgestaltung als autonome dogmatische Kategorie hervorheben, entweder als komplementären Begriff oder als Gegenbegriff zur Grundrechtsbegrenzung.21 In diesem Bereich lassen sich Formulierungen der Ausgestaltung als Oberbegriff in Bezug auf den objektiven Inhalt der Grundrechte finden,22 also als Oberbegriff in Bezug auf die Leistungsrechte,23 als dogmatische Kategorie, die die Idee des objektiven Inhalts der Grundrechte ersetzt,24 oder als eine mit norm- und rechtsgeprägten oder rechtserzeugten Grundrechten verbundene Figur.25 19

Z. B. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, §§ 10 ff. und G.  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 60. 20 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 20. 21 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 560. 22 „Weiteren und bislang noch nicht hinreichend beachteten Raum für die Grundrechtsausgestaltung ergeben die neben der klassischen subjektiven Abwehrdimension der Grundrechte ausdifferenzierten zusätzlichen Grundrechtsdimensionen. Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 415. „Und so kann es kaum verwundern, daß bereits von manchen eine generelle Affinität der Ausgestaltung zur objektiven Grundrechtsseite betont und sämtliche dieser Grundrechtsseite entspringenden Leistungs- und Schutzfunktionen als legitimes Einsatzfeld dieser Figur erkannt werden.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 26. „Für die gegenüberliegende Seite der objektiv-rechtlichen Gehalte ist Vergleichbares bislang nicht feststellbar. Die Figur der Ausgestaltung kann diese Lücke füllen, zumal sie- schon begrifflich – hinreichend flexibel und entwicklungsoffen ist, um durchaus unterschiedliche Erscheinungen erfassen zu können.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S 49–50. 23 „Insbesondere der letztgenannte Aspekt impliziert, daß die Diskussion über Ausgestaltungsrechte oder -pflichten des Gesetzgebers in einem engen Zusammenhang mit der häufig umstrittenen Annahme leistungsrechtlicher Gewährleistungsgehalte einzelner oder sogar aller Grundrechte steht.“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 7. 24 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 60–62. 25 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 21–22.

I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie 

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aa) Häberle Häberle entwickelt den Begriff Ausgestaltung ausgehend vom Institutscharakter der Grundrechte, der eine „Überwindung des Eingriffs- und Schrankendenkens“, eine „Befreiung des Gesetzes- und Rechtsbegriffs vom traditionellen Eingriffselement“ vorsieht.26 Nach ihm ist die Verwirklichung aller Grundrechte in ihrer sozialen Seins-Sphäre vom Gesetzgeber abhängig.27 Alle Grundrechte sind ausgestaltungsbedürftig, sie brauchen gesetzgeberischer Präzisierung. Sie bilden nicht nur eine Grenze für die Gesetzgebung, sondern betreffen auch ihren Gegenstand:28 „Es gibt stärker und weniger stark ausgestaltungsbedürftige Grundrechte: man denke an Art. 14 GG einerseits, Art. 4 GG andererseits, bei dem sie gleichwohl nicht fehlen. […] Die Intensität, in der der Gesetzgeber jeweils bei den einzelnen Grundrechten zur Ausgestaltung je nach deren verschiedenen Dimensionen aufgerufen bleibt, ist unterschiedlich. Auch variiert sie im Laufe der Zeit.“29 Ausgehend von der Idee des „Doppelcharakters“ der Grundrechte arbeitet ­Häberle mit zwei Vorstellungen des Gesetzesvorbehalts, also dem „Begrenzungs- oder Güter­abwägungsvorbehalt“, der dem Gesetzgeber den Weg öffnet, „das Grundrecht gegen kollidierende gleich- und höherwertige Rechtsgüter abzugrenzen“, und dem Ausgestaltungsvorbehalt, der es dem Gesetzgeber erlaubt, genauere Konturen zu umreißen. Der Gesetzgeber hat nach Häberle im Grundrechtsbereich eine doppelte Funktion: die der Grundrechtsbegrenzung und die der Grundrechtsausgestaltung.30 Seine Funktion besteht also darin, „Normenkomplexe zu schaffen, die die Grundrechte als Institute erst verwirklichen. Die Normenkomplexe stützen die Grundrechte als verfassungsrechtliche Institute gleichsam ‚von unten‘.“31 Aus diesen Gründen wird der Gesetzgeber und seine gesetzgeberische Tätigkeit im Grundrechtsbereich nicht als „Feind“ oder „Widerpart“ der Grundrechte gesehen.32 Alle Grundrechte sind im Hinblick auf ihre Spezifikationen von der ausgestaltenden Gesetzgebung abhängig. Nicht nur die Grundrechte, sondern auch die Grundrechtsgrenzen sind Gegenstand der ausgestaltenden Tätigkeit des Gesetzgebers.33 Diese Tätigkeit erst ermöglicht die Ausübung der Grundrechte und die 26

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 167. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 116. 28 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 130–131. 29 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 340. 30 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 180. „Grundrechtsgewährleistungen haben demnach einen doppelten Inhalt. Einerseits bedeuten sie das Verbot, das Grundrecht zu verletzen – insoweit sind sie Grenze für den Gesetzgeber, andererseits enthalten sie das an den Gesetzgeber gerichtete Gebot, das Grundrecht im einzelnen zu gestalten – insoweit sind sie Gegenstand der Gesetzgebung, enthalten sie einen verfassungsrechtlichen Auftrag für den Gesetzgeber.“ Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 182. 31 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 130–131. 32 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 163. 33 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 191. 27

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freie Gestaltung der individuellen Lebensverhältnisse.34 Sowohl die Grundrechtsbegrenzung als auch die Grundrechtsausgestaltung werden von ihm als Erfüllung seines Verfassungsauftrags verstanden.35 Das Konzept der Ausgestaltung von Häberle, der sagt, dass das Gesetz wie jede rechtsnormative Regelung im Grundrechtsbereich nicht primär als Beschränkung und Eingriff in die grundrechtliche Freiheit verstanden werden soll, sondern eher als Ermöglichung und Verwirklichung dieser Freiheit,36 ist verschiedensten Kritiken ausgesetzt. Die wichtigste ist, dass der zu weit gefasste Begriff der Ausgestaltung keine klare Unterscheidung zwischen Ausgestaltung und Eingriff zulässt.37 In diesem Sinn schreibt Gellermann: „Ausgestaltung und Begrenzung gehen unter solchem Blickwinkel ineinander über; jede Begrenzung eines Grundrechts bestimmt gleichzeitig seinen Inhalt und umgekehrt erscheinen die Grundrechtsgrenzen als Gegenstand ausgestaltender Tätigkeit des Gesetzgebers. […] Einfache Gesetze wären – wenn man solche Überlegungen als Beitrag zur Grundrechtsdogmatik versteht – nicht als Eingriff in grundrechtliche Schutzbereiche zu bewerten, sondern gewährleisteten umgekehrt erst die Möglichkeit effektiver Freiheitsausübung und gestalteten die Freiheit aus. Solche Betrachtung muß zwangsläufig Kritik auf sich ziehen und die hiermit in enger Verbindung stehende Figur der Ausgestaltung diskreditieren.“38 Cornils stellt andererseits fest, dass die Auffassung Häberles keine „positiven“ verfassungsrechtlichen Gestaltungsmaßstäbe für die Gesetzgebung bietet, sondern nur vage „Leitbild“- oder „Wertkonzept“-Orientierungen. „Das Ergebnis ist dann nicht etwa nur eine Umwertung des Verhältnisses von Gesetz und Grundrecht in dem propagierten Sinne einer Wendung vom Negativen zum Positiven (vom ‚Feind‘ der Freiheit und der Grundrechte zum ‚Freund‘), sondern eine Absen­kung der Grundrechtsbindung und – mehr noch: deren – von Evidenzen abgesehen – Unprüfbarkeit.“39 Während das Modell von Häberle die Rolle der Ausgestaltung überschätzt, was letztlich die Grenze zwischen Begrenzung und Ausgestaltung verwischt, hat Alexy ein entgegengesetztes Modell, bei dem die Rolle der Ausgestaltung an den Rand

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Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 192. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 210. 36 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 167. 37 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 301. 38 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 17–18. 39 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 505–506. „Was in diesem Konzept „prinzipiell feststehender sachlicher Gehalt der Grundrechte“ und damit positiver Bindungsmaßstab für die „Ausführungsgesetzgebung“ sein soll, läßt sich angesichts der postulierten wechselseitigen Offenheit von Lebenswirklichkeit, Gesetz und Verfassung kaum rational rekonstruieren. Die institutionelle Lehre vertritt also zwar das am weitesten gehende Konzept gesetzlicher Ausgestaltung der grundrechtlich geschützten Verhaltensfreiheiten […].“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 506. 35

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gedrängt wird und das Problem der Begrenzung und Einschränkung im Mittelpunkt steht. bb) Alexy Vom formalen Standpunkt seiner Normentheorie aus betrachtet, begrenzt Alexy die Rolle der Ausgestaltung auf den Bereich der Kompetenzen: „Als Gegenbegriff zum Begriff der Einschränkung kann der Begriff der Ausgestaltung sich nicht auf Gebots- und Verbotsnormen, sondern nur auf Kompetenznormen beziehen, denn Gebots- und Verbotsnormen haben definitionsgemäß einschränkenden Charakter. Musterbeispiele ausgestaltender Kompetenznormen sind die Normen zivilrechtlicher Rechtsinstitute. Grundrechtliche Gewährleistungen wie die der Ehe, des Eigentums und des Erbrechts setzen zivilrechtliche Normen voraus.“40 Aus materieller Sicht verwendet Alexy das Kriterium der Nichthemmung der Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips als Parameter zur Unterscheidung zwischen Ausgestaltung und Einschränkung. Die Grundrechte, das Eigentumsrecht eingeschlossen,41 sind für ihn Optimierungsgebote, das heißt, sie fordern ein möglichst hohes Maß an Realisierung. Wenn also eine tatsächliche oder potenzielle Gefahr der „Hemmung eines Grundrechtes“, oder sogar im Falle der Beseitigung einer Kompetenz die Realisierung eines grundrechtlichen Prinzips hemmt, spricht er nicht von Ausgestaltung, sondern von Einschränkung.42 Mit anderen Worten, immer wenn im Alexyschen Modell eine Abwägung erforderlich ist, d. h., wenn es letztlich um die Anwendung eines Grundrechtes geht, muss „keine Ausgestaltung, sondern eine Einschränkung angenommen“ werden.43 Eine solche Perspektive entleert letztlich die dogmatische Funktion der Kategorie Ausgestaltung. Dies ist auch die Meinung von Gellermann: „Werden grundrechtliche Gebote als auf weitestmögliche Realisierung drängende Prinzipien verstanden, deren Mindererfüllung als ‚Einschränkung‘ des Grundrechts erscheint, verbleibt für eine Ausgestaltung ein allenfalls marginaler Anwendungsbereich, in dem dann in der Tat Grundrechtsbindungen des Gesetzgebers nicht bestehen mögen.“44 Zusammenfassend: Wenn bei Häberle die Kategorie Ausgestaltung zu sehr in den Vordergrund gerückt wird, so dass Ausgestaltung nicht von Begrenzung unterschieden werden kann, erhält im außentheoretischen Schrankenmodell von 40

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 303. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 304. 42 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 306. „Nur eine derartige enge Fassung des Ausgestaltungsbegriffs, der eine entsprechend weite des Einschränkungsbegriffs korrespondiert, entspricht den Anforderungen an die Rationalität grundrechtlichen Begründens. Was als Ausgestaltung qualifiziert ist, bedarf gegenüber dem Grundrecht keiner Begründung mehr.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 306–307. 43 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 306. 44 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 289. 41

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Alexy die Ausgestaltung – als eine von Begrenzung oder Einschränkung abweichende Kategorie – eine irrelevante Rolle.45 Bei beiden Modellen ist es schwierig, zwischen Ausgestaltung und Begrenzung zu unterscheiden. Einerseits wird jede gesetzgeberische Tätigkeit als Ausgestaltung gesehen (Häberle), andererseits wird alles als reale oder potenzielle Begrenzung angesehen (Alexy). cc) Bumke Im Gegensatz zu Häberle und Alexy entwickelt Bumke eine Dogmatik der Grundrechte, die von einer strengen Abgrenzung von Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtsbegrenzung ausgeht.46 Er stellt sich gegen das Modell der Alexy­ schen Prinzipientheorie und schlägt ein ausdifferenziertes Grundrechtsmodell vor,47 dessen zentrale Figur die Kategorie des Grundrechtsvorbehaltes ist, die nach seinen Worten so funktioniert: „[…] als Oberbegriff für alle expliziten und impliziten Bestimmungen des Grundrechtskatalogs, durch die der Staat ermächtigt wird, Grundrechte einzuschränken oder auszugestalten.“48 Die Grundrechtsgehalte, die die verschiedenen Funktionen der Grundrechte umfassen,49 werden von Bumke in Anlehnung an Robert Alexy in Unterlassungs- und Handlungsgebote unterteilt. Die Kategorien Unterlassungs- und Handlungsgebote ersetzen also im Modell von Bumke die Diskussion über: die objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte; die Unterscheidung zwischen objektiver Norm und subjektivem Recht als ein tragfähiges Fundament für die Einteilung in objektiv-rechtliche und subjektiv-rechtliche Grundrechte; die Idee, mit der Kategorie objektiv-rechtlicher Gehalt der Grundrechte all jene Funktionen zu erklären, die über die Rolle der Grundrechte als Abwehrrechte hinausgehen; oder auch die Idee, den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte als objektive Grundsatznormen oder Wertentscheidungen zu charakterisieren, die seiner Meinung nach auch nicht überzeugen: „Zieht man ein Fazit, so ist es sicherlich möglich, die Unterteilung in subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte synonym für die hier befürwortete Unterscheidung von Handlungsund Unterlassungsgeboten zu verwenden. […] Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird deshalb auf die Unterscheidung von subjektiv- und objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten verzichtet und stattdessen schlicht von Handlungs- und

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In diesem Sinn, Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 69 und Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 19. 46 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 34. 47 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 225. 48 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 25–26. „Grundrechtsvorbehalte sind alle geschriebenen oder ungeschriebenen Ermächtigungen, die in erster Linie den Gesetzgeber zur Begrenzung oder Ausgestaltung einer Gewährleistung ermächtigen.“ Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 55. 49 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 59.

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Unterlassungsgeboten oder Grundrechtsgehalten gesprochen, die ein Handeln oder Unterlassen gebieten.“50 Diesen unterschiedlichen Funktionen der Grundrechte, d. h. den Unterlassungsund Handlungsgeboten, entsprechen verschiedene Verhaltensweisen des Staates, die wiederum von ihm als begrenzend oder ausgestaltend charakterisiert werden.51 „Sie unterscheiden sich danach, welcher Grundrechtsgehalt verhaltensleitend wirkt. Die Verfassungskonformität einer Grundrechtsbegrenzung wird anhand von Unterlassungsgeboten, die eine Grundrechtsausgestaltung mit Hilfe von Handlungsgeboten beurteilt. […] Die mit der Verfassung vereinbare Begrenzung stellt sich als eine Grundrechtsschranke dar. Bei der Ausgestaltung wird entweder ein gebotener Zustand realisiert oder den gewährleistungsspezifischen Gestaltungsvorgaben genügt.“52 Die Grundrechtsbegrenzung ist an die staatliche Tätigkeit im Augenblick der Grundrechtsbedrohung gebunden. Die Figur der Grundrechtsausgestaltung sieht Bumke als ein wesentliches Element zur Bewältigung jener Situationen, in denen der Staat in der Rolle eines Helfers erscheint, dem aufgegeben ist, die grundrechtlichen Vorgaben für die Gestaltung des einfachen Rechts zu verwirklichen (Grundrechtsverwirklichung durch Handlungsgebote).53 In solchen Situationen ist die Kategorie „Grundrechte als Abwehrrechte“ nicht angemessen: „So konnten die privaten Rundfunkanbieter sich gegenüber Beeinträchtigungen, die Ausfluß der erstmaligen Errichtung einer privaten Rundfunkrechtsordnung waren, gar nicht mit Hilfe des Abwehrrechts wehren, da sie erst durch diese Ausgestaltung in den Genuß einer abwehrrechtlich geschützten Position kamen.“54 Bezüglich des Eigentumsrechtes schreibt Bumke: „Ausgestaltung und Begrenzung unterscheiden sich danach, ob eine Eigentumsposition erst geschaffen oder eine bereits vorhandene Position verkürzt wird. Dementsprechend finden im ersten Fall die Einrichtungspflicht und im zweiten Fall das Abwehrrecht Anwendung. Werden Eigentumsrechte umgestaltet, kommt es sowohl zur Ausgestaltung der Rechte künftiger Eigentümer als auch zu Begrenzungen für die betroffenen Alteigentümer. Gerade bei der Um- oder Neugestaltung ist es wichtig, klar zwischen Ausgestaltung und Begrenzung zu unterscheiden.“55 Eine ausgestaltende Regelung ist nach ihm mit der Verfassung vereinbar, wenn sie die Anforderungen der Handlungsgebote beachtet.56 50

Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 60–62. „Grundrechtlich relevantes Verhalten des Staates wird im Fall der Grundrechtsausgestaltung durch Handlungsgebote und im Fall der Grandrechtsbegrenzung durch Unterlassungsgebote gesteuert.“ Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 58. Siehe auch Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, S. 46. 52 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 104–105. 53 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 48. 54 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 106. 55 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 190. 56 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 107–108. 51

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dd) Gellermann Martin Gellermann präsentiert ein Konzept von Ausgestaltung, das die dogmatische Kategorie mit den sogenannten objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte verbindet und stellt sich gleichzeitig – wie auch Bumke – gegen das Modell der Abwägung bzw. des „Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ oder das „Verhältnismäßigkeitsprinzip“, das Alexy vorgeschlagen hat.57 Die dogmatische Kategorie der Grundrechtsausgestaltung ist von Gellermann als Gegenbegriff zur Figur des Grundrechtseingriffs konzipiert.58 Mit seinen Worten: „Für den Bereich der Eingriffsabwehr steht mit der Denkfigur des ‚Grundrechtseingriffs‘ eine Kategorie zur Verfügung, mit der sich ungeachtet mancher Meinungsverschiedenheit vergleichsweise klare und eingefahrene Strukturen verbinden. Für die entgegenstehende Seite der objektiv-rechtlichen Gehalte ist Vergleichbares bislang nicht feststellbar. Die Figur der Ausgestaltung kann diese Lücke füllen, zumal sie – schon begrifflich – hinreichend flexibel und entwicklungsoffen ist, um durchaus unterschiedliche Erscheinungen erfassen zu können.“59 Die Grundrechtsausgestaltung ist direkt mit Situationen verknüpft, in denen die Regulierungsgesetzgebung, in Ausführung eines Verfassungsauftrags, zugleich das Grundrecht prägt und formt, indem sie seinen Inhalt näher bestimmt.60 Die Ausgestaltung sei ein „Akt der ‚schöpferischen Ausformung‘ grundrechtlicher Gehalte von eher fragmentarischer Natur“.61 Als Parameter für die ausgestaltende Gesetzgebung arbeitet Gellermann mit der Unterscheidung „zwischen einem ‚harten‘ verfassungsfesten Kern und einer vorgelagerten, der näheren Ausgestaltung bedürftigen ‚Schale‘“. Die Figur des Kern 57

Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 331–332. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 51. 59 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 49–50. „Dort wo nicht die staatsausgrenzende, auf Abwehr staatlichen Handelns gerichtete Grundrechtsseite, sondern die den sog. objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte entspringenden schutzgewährenden, leistungsbezogenen oder verfahrensprägenden Funktionen angesprochen sind, bedarf es in besonderem Maße einfachgesetzlicher Normierung, um den grundrechtlichen Gehalt zum Tragen zu bringen.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 4. 60 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 53. Cornils weist auf Geller­ manns Zurückhaltung hin, wenn es um den Bezug auf die Rolle der Ausgestaltung im Bereich der „grundrechtliche[n] Leistungspflichten im engeren (oder sozialen) Sinne“ geht, „also solchen, die der Verbesserung oder Schaffung faktischer Grundrechtsvoraussetzungen dienen“. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 26. 61 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 312. „Die Legislative hat jene Resultate zu liefern, die ihr grundrechtlich abverlangt werden. Fordert die Institutsgarantie des Eigentums eine Eigentumsordnung, muß sie vom Gesetzgeber bereitgestellt werden. Erlegt die Gewährleistung der Rundfunkfreiheit dem Gesetzgeber die Pflicht auf, eine Rundfunkordnung zu schaffen, kann er sich dem nicht durch Untätigkeit entziehen. Verlangt schließlich die Verfahrenskomponente Mechanismen zur Durchsetzung der grundrechtlichen Freiheiten auch in verwaltungsbehördlichen Verfahren, muß der Gesetzgeber entsprechende Verfahrensregelungen verfügbar machen.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 313. 58

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bereichs des Grundrechts markiere eine für den Gesetzgeber nicht unterschreitbare Grenze und verstehe sich als eine absolute Größe.62 Die einzelgrundrechtlichen Anordnungen dienen in diesem Kontext als maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Dogmatik der Ausgestaltung,63 und die Reichweite der Bindung des Gesetzgebers hängt vom Regelungsgehalt und der Regelungsdichte dieser einzelgrundrechtlichen Aussage ab.64 Gellermann differenziert das Ausmaß der Bindung des Gesetzgebers an abwehrrechtliche Aspekte und den Verfassungsauftrag der Grundrechte ausgehend von einem strukturellen Kriterium. Was den ersten Aspekt betrifft, so sollte der Gesetzgeber von der Durchführung bestimmter „Eingriffsakte“ (Konditionalschema) absehen. In Bezug auf den zweiten Aspekt bestimmt der Grundrechtsauftrag nur eine indefinite Handlungspflicht.65 Im Gegensatz zum Modell von Alexy ist das „Erfordernis der Wahrung gewisser Mindeststandards der Auftragserfüllung“66 oder das „Schutzminimum“ der Grundrechte nicht durch Abwägung definiert: „Indessen ist es nicht nur dieser Aspekt, der die Unterscheidung zwischen einem Ordnungskern und einer ihn umgebenden Zone gegenüber reinen Abwägungsmodellen vorzugswürdig erscheinen läßt. Während bei jenen die Grenzlinien zwischen dem, was die Verfassung bereits entschieden hat und dem, was sie der Entscheidung des Gesetzgebers überantwortet, leicht ins Verschwimmen geraten, zwingt die hier präferierte Unterscheidung zu einer genaueren Abschichtung und schärferen Konturierung der zwischen beiden Bereichen verlaufenden Grenzen. Dies bietet nicht nur Gewähr dafür, daß im Zuge der Ausgestaltung den unverzichtbaren Essentialia des jeweiligen Auftrags zur Realität verholfen wird, sondern trägt zugleich dazu bei, daß die an Ausgestaltungen zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen identifiziert und nicht alles verfassungsrechtlich ‚Wünschbare‘ in den Rang eines den Gesetzgeber bindenden Maßstabs erhoben wird.“67

62 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 316. „Mit der Figur des Kernbereichs verbindet sich – jedenfalls soweit sie im Kontext der traditionellen Institutsgarantien Verwendung findet – zumeist die Vorstellung eines die Essentiale der Einrichtung umfassenden Kreises von Struktur- und typusbestimmenden Merkmalen, die unantastbar sind und in jedem Fall gewährleistet sein müssen.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 316. 63 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 219. 64 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 290 und 294–295. 65 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 78. 66 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 314. 67 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 319. „Entspricht die ausgestaltende Regelung nicht einmal diesen Mindesterfordernissen, tastet sie den Kernbereich an und kann von vornherein und ungeachtet etwaiger für ihren Erlaß streitender Gründe nicht als ordnungsgemäße Erfüllung des Ausgestaltungsauftrags begriffen werden.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 322.

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ee) Cornils Cornils schlägt auch ein Modell von Grundrechtsausgestaltung als Gegenbegriff zum Grundrechtseingriff vor, aber nicht notwendig im Sinne einer ausschließenden kategorialen Unterscheidung. Er kritisiert auch die Position von Gellermann, der die Kategorie des Ausgestaltungsgesetzes mit der Dichotomie von objektiven und subjektiven Grundrechtsgehalten verbindet: „Ausgestaltungsgesetzgebung sei diejenige, die der ‚objektiven Grundrechtsseite‘ entspringe, wobei mit dem ‚objektiven Gehalt‘ all das gemeint sein soll, was über die subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion hinausgeht. Das ist ein von vorne herein problematisches Konzept, weil der Gegensatz subjektiv-objektiv mit dem Gegensatz Eingriffsabwehr und (positive) Gewährleistungspflichten des Gesetzgebers nicht kongruent ist. Die Frage, ob aus objektiven Grundrechtsnormen, verstanden als solchen, die den Staat binden, auch subjektive Berechtigungen des Bürgers folgen, ist eine andere und logisch nachgelagerte Frage gegenüber derjenigen, ob die objektive Bindung, so wie auch ein etwaiger subjektiver Anspruch, auf Ausgrenzung des Staates oder auf seine Aktivität zielt. Auf letzteres kommt es für die dogmatische Beschreibung einer besonderen Ausgestaltungsfunktion des Gesetzes an, nicht auf die Frage der Subjektivierung. Diese wiederum ist, wie längst erkannt ist, auch bei grundrechtlichen Handlungspflichten des Gesetzgebers denkbar. Umgekehrt entspricht dem subjektiven Abwehranspruch selbstverständlich eine objektive Unterlassungspflicht der staatlichen Gewalt.“68 Cornils kritisiert auch eine generelle Übernahme des Schrankenmodells der Grundrechtsdogmatik als Parameter für die Ausgestaltung, wie es von der Prinzipientheorie Alexys verteidigt wird, denn nach seinen Worten findet in diesem Modell die Ausgestaltung im engen Sinne, also in der „grundrechtsprägenden“ Bedeutung, keinen oder nur einen unbedeutenden Platz.69 Ebenso hat Cornils Vorbehalte gegen die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit,70 der auch für das Alexysche Denken von zentraler Bedeutung ist. Cornils schlägt als Beispiel für die Analyse dieser Diskussion u. a. die Form vor, wie die BVerfG-Rechtsprechung und die Lehrmeinung den Art. 19 Abs. 4 GG auslegen. Seiner Meinung nach versteht das BVerfG dieses Grundrecht nicht als Optimierungsgebot.71 Was die Konzeptionen in der rechtswissenschaftlichen Literatur zu Art. 19 Abs. 4 GG als Optimierungsgebot angeht, manifestiert sich Cornils folgendermaßen: „Eine Grundrechtstheorie, die grundrechtliche Normen einheitlich

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Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 21. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 19. „Deutungen grundrechtlicher Auftragsnormen als Prinzipien mit Optimierungsgehalt führen zu der Konsequenz relativer Bedeutungslosigkeit der Abgrenzung von Eingriff und Ausgestaltung.“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 22. 70 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 21. 71 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 455. 69

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entweder als Regeln oder als Prinzipien begreift und zwar auch, insoweit grundrechtliche Leistungspflichten des Staates in Rede stehen, erweist sich damit jedenfalls für den Normbereich des Art. 19 Abs. 4 GG als zu undifferenziert.“72 Trotz der Kritik verteidigt Cornils, ähnlich wie Alexy, eine Außentheorie der Grundrechte.73 Und obwohl er sagt, dass es „die“ Prinzipientheorie nicht gibt, schreibt er, dass einige Grundrechte als Optimierungsgebote aufgefasst werden können.74 Im Hinblick auf die Bedeutung der Funktion der Ausgestaltung als eigenständige Kategorie der Grundrechtsdogmatik ist die Position von Cornils zurückhaltend. In diese Richtung geht auch die Ansicht von Britz: „Die Richtigkeit der einzelnen Annahmen des Verfassers unterstellend, dürfte das Ergebnis der Untersuchung gerade darin bestehen, dass es einer besonderen Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung nicht bedarf. Zwar beschreibt die Figur der Grundrechtsausgestaltung das Verhältnis zwischen Grundrecht und Gesetz nach Auffassung des Autors nicht richtig. Sie ist jedoch mangels besonderer normativer Implikation grundrechtsdogmatisch entbehrlich.“75 d) Die Rezeption der Ausgestaltung in der Rechtsprechung des BVerfG: das Existenzminimum als ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht Trotz dieser weitreichenden Zweifel und Unklarheiten hat, so Aulehner, der Begriff der „Ausgestaltung der Grundrechte“ in die Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts weitreichenden Eingang gefunden. Beispielhaft seien die Entscheidungen zu Ehe und Familie, Eigentum und Erbrecht, zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, zur Rundfunk- und Vertragsfreiheit, zur Rechtsschutz­garantie und zum rechtlichen Gehör.76 Nach Aulehners Meinung differenziert das Bundes­

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Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 472. „Insofern ist mit Recht davon gesprochen worden, daß Art. 19 Abs. 4 GG ein ‚Optimierungsproblem‘ bereits in sich selbst berge und dem Gesetzgeber daher ein ‚weiter (politischer) Gestaltungsspielraum‘ zukommen müsse. Dieser Gestaltungsspielraum könne dementsprechend nicht an Verfassungsgeboten orientiert und durch diese begrenzt werden, die auf bestmögliche Befriedigung des Rechtsschutzes zielen, sondern nur an einem Gebot ‚ausgewogenen Rechtsschutzes‘. Erkannt wird hier, daß es nicht nur um Einpassungen des Art. 19 Abs. 4 GG in das Gefüge der Gesamtverfassung geht (‚externer Abgleich‘), sondern eben zunächst um den ‚internen Abgleich unterschiedlicher Wirksamkeitsperspektiven‘ im Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG selbst.“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 462. 73 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 42. 74 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 47–48. 75 Britz, Die Ausgestaltung der Grundrechte – Untersuchungen zur Grundrechtsbindung des Ausgestaltungsgesetzgebers by Matthias Cornils. Review, in: Der Staat, Vol. 47, Nr. 2. Berlin: Duncker & Humblot: 2008, S. 279–183, S. 282. 76 Ausführlich dazu Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, passim, Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 413. „Anstelle von ‚Ausgestaltung der Grundrechte‘ wird auch von ‚Substantiierung‘, ‚Ausformung‘, ‚Aktualisierung‘, ‚Inhaltsbestimmung‘ und von ‚Grund-

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verfassungsgericht dabei strikt zwischen einer Grundrechtsausgestaltung und einem Grundrechtseingriff, verfolgt aber im Hinblick auf das Verhältnis von Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung ebenso wie die Literatur keine einheitliche Linie.77 Das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit bietet ein paradigmatisches Beispiel für die Anwendung der Figur der Grundrechtsausgestaltung durch das BVerfG.78 Das Bundesverfassungsgericht nennt die rechtliche Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit eine „erforderliche“ „Aufgabe“. „Der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Gewährleistung durch gesetzliche Vorkehrungen ‚Sorge zu tragen‘, sei eine ‚Notwendigkeit‘. Das heißt: Der Gewährleistung wird nicht (im grundrechtlich geforderten Maß) entsprochen, wenn der Gesetzgeber keine oder unzureichende Vorkehrungen trifft. Gewährleistung der Freiheit der Berichterstattung meint nicht einfach Schutz der Freiheit durch die Verfassung, sondern ist zu lesen: ‚Der Gesetzgeber hat zu gewährleisten …‘. Diese Gewährleistung durch gesetzgeberische Aktion ist das, was das Bundesverfassungsgericht mit der Schaffung einer positiven Ordnung, in Abgrenzung zur nur negativen Ausgrenzung des Staates durch das Abwehrrecht, meint. Schafft der Gesetzgeber keine Ordnung, liegt ein Verfassungsverstoß durch Unterlassen vor. Weniger eindeutig ist die Bewertung, wenn der Gesetzgeber zwar tätig wird, dabei aber Ordnungsziele verfehlt oder mit unzulässigen Mitteln erreicht. Die Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich zu einem überwiegenden Teil mit der Verfassungskontrolle ausgestaltender Gesetzes­ vorschriften und nicht mit Eingriffsnormen befaßt, zeigt eindrücklich, daß der Ausgestaltungsauftrag keine inhaltlich offene Ermächtigung ist, sondern programmatischen Bindungen des Grundrechts unterworfen ist.“79 Angesichts der Grenzen und Zwecke dieser Arbeit wird keine eingehende Analyse der Rechtsprechung des BVerfG zur Ausgestaltung in den genannten Fällen von Uminterpretation der Grundrechte des Grundgesetzes als Leistungsrechte vorgenommen. Wichtig ist aber, darauf hinzuweisen, dass das BVerfG in letzter Zeit die Figur der Grundrechtsausgestaltung in Fällen verwendet hat, in denen

rechtskonstituierung, Grundrechtskonkretisierung und Grundrechtskonturierung‘ gesprochen. Die h. M. spricht demgegenüber von ‚Ausgestaltung der Grundrechte‘.„Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 413. 77 Aulehner, Grundrechte und Gesetzgebung, S. 414. 78 „Kaum irgendwo so deutlich wie für das Grundrecht der Rundfunkfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht mithin eine Ausgestaltungsbefugnis, ja einen Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers diesseits der schrankenziehenden Normen anerkannt und aus der Notwendigkeit begründet, diese ebenso gefährliche wie gefährdete Freiheit zu ordnen, ihr einen festen organisatorischen, aber auch programmatischen Rahmen zu setzen und sie so erst zu ermöglichen. Diese entschiedene, wenn auch nur partielle Absage an das „Eingriffs- und Schrankendenken“ ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und bedarf daher besonders eingehender Betrachtung.“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 55. Siehe dazu auch BVerfG 83, 238. 79 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 57.

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die Pflicht des Staates, das Existenzminimum und damit ein Leistungsrecht im engeren Sinne (Sozialgrundrecht) zu garantieren, auf dem Spiel stand.80 Denn die Diskussion um die positive Garantie des Grundrechts auf Existenzminimum liegt in Deutschland näher am Problem des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte in Brasilien als an den oben erwähnten Problemen der Uminterpretation der Grundrechte. In diese Richtung sagte das Gericht im Hartz-IV-Urteil, der Leistungsgehalt der Menschenwürdeklausel sei zwar im Grundgesetz vorgesehen, könne aber nicht in vollem Umfang direkt aus der Lektüre der Verfassung ermittelt werden und es fehle an einer Verdichtung durch einfachgesetzliche Normierung: „Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben (vgl. BVerfGE 107, 275 [284]). Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 91, 93 [111 f.]). Er […] ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (vgl. BVerfGE 115, 118 [153]).

80 Hinweise auf den Gedanken der Ausgestaltung der Grundrechte sind in der früheren Rechtsprechung des BVerfG nur spärlich zu finden, zum Beispiel im Hochschul-Urteil: „Bei der Ausgestaltung der „Wissenschaftsorganisation“ in der Universität muß diesen verschiedenartigen Funktionen Rechnung getragen werden. […] Schon deshalb läßt sich die Ausgestaltung des staatlichen Leistungsangebots nicht bevorzugt aus individuellen Rechtspositionen und augenblicklichen Bedürfnissen der bereits Begünstigten heraus steuern. Vielmehr liegt es auf der Hand, daß sich diese Ausgestaltung nicht nur an einer Wertentscheidung ausrichten kann, sondern notwendig auch andere Wertentscheidungen (z. B. Art. 12 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip) berücksichtigen muß, daß zwischen einer Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten auszuwählen ist und eine Vielzahl von Interessen auszugleichen oder gegeneinander abzuwägen sind, wobei es auch auf die Auswirkungen der zu treffenden Gestaltung für potentielle Grundrechtsträger und für das zukünftige Leben der gesamten Gesellschaft ankommt. Diese Aufgabe ist den demokratisch legitimierten Staatsorganen der Legislative vorbehalten; deren Regelungszuständigkeit gehört ebenso wie die Garantie unveräußerlicher Grundrechte zu den konstitutiven Prinzipien der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes.“ BVerfGE 35, 79. (Im Original ohne Hervorhebungen) Neueren Datums ist das Urteil zur Gesetzlichen Krankenversicherung vom 6. Dezember 2005, in dem das BVerfG betont: „Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat (vgl. BVerfGE 68, 193 [209]). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richtet er die Beiträge an der – regelmäßig durch das Arbeitsentgelt oder die Rente bestimmten – wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 [185]), ist ferner auf Stabilität der Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen (vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des Einzelnen Rücksicht (§ 62 SGB V).“ BVerfGE 115, 25. (Im Original ohne Hervorhebungen).

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[…] Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. […] Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu.“81 Gleichlaufend erwähnt das BVerfG ausdrücklich die Figur der Ausgestaltung: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechts­trägers deckt.“82 In die gleiche Richtung hat das BVerfG die dogmatische Figur der Grundrechtsausgestaltung im Asylbewerberleistungsgesetz-Urteil verwendet: „Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren.“83 Erwähnenswert ist auch die jüngste Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG über die Vergabe der knappen Studienplätze im Studienfach Humanmedizin, in dem das Gericht ausdrücklich die Idee der Ausgestaltung im Hinblick auf die Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Rechts auf gleiche Teilhabe an staatlichen Studienangeboten betont: „Der Gesetzgeber ist dabei nicht von Verfassungswegen auf die Verwendung eines bestimmten Eignungskriteriums oder einer bestimmten Kriterienkombination verwiesen. Die Kriterien müssen aber in ihrer Gesamtheit Gewähr für eine hinreichende Vorhersagekraft bieten. Demgemäß lässt sich auch die Frage der Vereinbarkeit der gesetzlichen Ausgestaltung des Hochschulzugangs mit dem Grundrecht auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot nicht einem einzelnen Kriterium entnehmen, sondern erfordert eine Gesamtbetrachtung des vom Gesetzgeber gewählten Regelwerks. Erweisen sich Elemente der Zugangsregelung in einem konkreten Regelungszusammenhang als defizitär, schließt das nicht aus, dass sie als Teil einer anderen Gesamtregelung verfassungsrechtlich Bestand haben könnten. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung gilt den Regeln im Rahmen der vom Gesetzgeber derzeit gewählten konkreten Gesamtheit von Zulassungsregeln, die sich – insbesondere durch die Einrichtung verschiedener Vergabequoten – aus mehreren Teilen zusammensetzt. […] Die Ausgestaltung der Vergabe

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BVerfGE 125, 175. Erst kürzlich, am 5. November 2019, hat sich das BVerfG wieder dem Thema Hartz IV zugewandt. In seiner Entscheidung hat das Gericht bei der Anwendung des Grundrechts auf Existenzminimum erneut von der Kategorie der Ausgestaltung Gebrauch gemacht: „Die zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG).“ Siehe dazu Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Sanktionen im Sozialrecht). Ausführlicher unter D. III. e). 82 BVerfGE 125, 175. 83 BVerfGE 132, 134.

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von Studienplätzen an staatlichen Hochschulen und damit die Entscheidung über das Teilhaberecht der Studienplatzbewerberinnen und -bewerber als Teilaspekt der Berufsfreiheit im Zusammenwirken mit dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG) ist Aufgabe des Gesetzgebers, denn sie berührt grundrechtlich wesentliche Belange. […] Die Ausgestaltung und Unterteilung des Studienplatzvergabesystems in Vorab und drei Hauptquoten (§ 32 Abs. 2 und 3 HRG; Art. 9 und 10 Staatsvertrag 2008) halten sich im Rahmen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. […] Auch die Aufteilung der Hauptquoten begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber hat insoweit einen sehr weiten Ausgestaltungsspielraum.“84 In den zitierten Fällen wird neben der ausdrücklichen Verwendung der Figur der Ausgestaltung als Entscheidungsparameter klar, dass die dieser dogmatischen Figur zugrunde liegende Diskussion deutlich als maßgebliche Kategorie in Bezug auf die positive Tätigkeit des Gesetzgebers als Adressat des leistungsrechtlichen Gehalts der Menschenwürde und damit des Existenzminimums erscheint.

2. Die mögliche Rolle der Kategorie der Ausgestaltung in Bezug auf die sozialen Grundrechte in Brasilien Seit der Verkündung der brasilianischen Verfassung im Jahr 1988 wird die Rolle der Grundrechte im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen in der Rechtsprechung und in der Lehre diskutiert, auch wenn – oder vielleicht gerade deshalb  – der Verfassungstext die sozialen Grundrechte ausdrücklich positiviert (Art. 6) und mit direkter Anwendbarkeit ausgestattet hat (Art. 5, § 1). Die vorherrschende theoretisch-dogmatische Position im Blick auf die Rolle der Verfassungsvorschriften vor der Bekanntmachung der brasilianischen Verfassung von 1988 und auch für einen angemessenen Zeitraum danach – einschließlich der Diskussion über die Grundrechte – war, dass bestimmte Verfassungsvorschriften keine subjektiven Rechte erzeugen. Mit anderen Worten: Es wurde das Konzept der „programmatischen Verfassungsvorschriften“ befürwortet, obwohl man akzeptierte, dass sie einen gewissen verbindlichen Charakter haben. Die Konzeption von Grundrechten als Prinzipien überlagerte schließlich diese Position. In der Lehrdiskussion ist die Neigung der Autoren, mit den Kategorien der Prinzipientheorie zu arbeiten, deutlicher wahrnehmbar. In der Rechtsprechung ist die Rezeption allgemeiner und bevorzugt keine Kongruenz mit einem bestimmten theoretischen Modell über den Begriff des Prinzips, sodass man von einem gewissen methodischen Synkretismus oder sogar von einer Abwesenheit methodischen

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Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14 – 1 BvL 4/14.

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Bemühens sprechen kann. Dennoch ist der Einfluss der Alexyschen Prinzipientheorie in der Praxis bemerkenswert.85 Die Annahme der vorliegenden Arbeit war von Anfang an, dass die Prinzipientheorie nicht als Grundlage für die in der brasilianischen Verfassung vorgesehene Konstruktion und Dogmatik der sozialen Grundrechte geeignet ist. Dies wurde im zweiten Kapitel speziell in Bezug auf das Modell von Robert Alexy gezeigt, das in Brasilien sehr einflussreich ist. In diesem Sinne muss die Frage gestellt werden: Wie auch immer die Rezeption der Prinzipientheorie als dogmatisches Modell für die Behandlung sozialer Grundrechte kritisiert wird oder werden kann, welcher dogmatische Vorschlag soll an ihre Stelle treten? Wäre es richtig, dass das von José Afonso da Silva in seiner Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“ vertretene Modell, in dem die sozialen Grundrechte ohne gesetzgeberische Maßnahmen nicht direkt justiziabel sind, wieder aufzugreifen? a) Zurück zur Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsnormen“? Allein die Tatsache, dass diese Frage gestellt wird, mag wie ein Rückschritt klingen. Denn die Prinzipientheorie erscheint und konsolidiert sich in Brasilien als theoretischer Vorschlag, um unter anderem das Problem der fehlenden Normativität und damit der Anwendbarkeit bestimmter Verfassungsvorschriften, wie z. B. der sozialen Grundrechte zu „lösen“. So sehr, dass zum Beispiel vom „Tod der programmatischen Verfassungsvorschriften“ die Rede war. Wäre es zwangsläufig eine Rückkehr zu der Vorstellung, dass bestimmte Verfassungsvorschriften keine normative Kraft besitzen, wenn das Gegenteil behauptet würde? Zunächst einmal ist es nur anscheinend so, dass die Prinzipientheorie das Pro­ blem der Anwendbarkeit der Verfassungsvorschriften gelöst hat. Es gibt in Brasi­ lien Verfassungsvorschriften, die, wenn sie als Prinzipien verstanden werden, einen so großen Interpretations- und Anwendungsspielraum zulassen, dass sie ans Absurde grenzen. Nehmen wir als Beispiel den Art. 3 der Verfassung, in dem vorgesehen und geschrieben steht, was die „Fundamentalen Ziele der Föderativen Republik Brasilien“ sind: „I. Errichtung einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft; II. Sicherung der nationalen Entwicklung; III. Bekämpfung von Armut und Marginalisierung und die Beseitigung der sozialen und regionalen Ungleichheiten […].“ Sind diese Vorschriften Optimierungsgebote, die zusammen mit anderen grundrechts- oder kompetenzbestimmenden Vorschriften zu beachten und abzuwägen sind, also ein konkretes positives Verhalten des Staates verlangen und daraus folgernd rechtlich durchsetzbare Leistungsgrundrechte der Bürger bestimmen? Wenn nicht, sind es Regeln, die über die Subsumtion angewendet werden

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Dazu unten, D. II. 3. h).

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müssen? Es besteht eine staatliche Pflicht zur Verringerung der sozialen Ungleichheit. Menschen befinden sich (grundsätzlich) in einer Situation sozialer Ungleichheit. Wird daher die Verringerung der Ungleichheit per Gerichtsentscheid postuliert? Niemand befürwortet eine solche Auslegung. Es ist problemlos möglich, zahlreiche Vorschriften der brasilianischen Verfassung zu zitieren, die nicht in den Reduktionismus der von der Prinzipientheorie vorgeschlagenen Dichotomie passen. Daher wurde das „Problem“ der fehlenden Normativität, also der Anwendbarkeit bestimmter Vorschriften, von der Rezeption der Prinzipientheorie nicht „gelöst“. Dennoch dominiert die Konzeption der Prinzipientheorie, die die Verfassungsvorschriften entweder als Prinzipien oder als Regeln konzipiert, das theoretische und praktische Szenario des Verfassungsrechts in Brasilien. Andererseits bedeutet die Feststellung, dass nicht alle Verfassungsvorschriften subjektive Rechte erzeugen, keine Rückkehr zu der Idee von Normen ohne Verbindlichkeit. Vielmehr bedeutet es, dass auch die Art der Bindung und damit der praktischen Konsequenzen, die durch verschiedene Verfassungsvorschriften entstehen, unterschiedlich ist und sich nicht ausgehend von der oben zitierten PrinzipRegel-Dichotomie zusammenfassen lässt. Niemand bezweifelt, dass es für einen Bürger unmöglich ist, „die Beseitigung der sozialen und regionalen Ungleichheiten“ juristisch einzuklagen. Was hier also in gewisser Weise vorgeschlagen wird, ist eine Art Rückkehr zur Theorie der „Anwendbarkeit der Verfassungsvorschriften“, aber nicht eine einfache Wiederholung seiner Prämissen. Die vorgeschlagene ‚Rückkehr‘ hat ein weitgefassteres Ziel, nämlich die Verteidigung der Idee, dass zwar alle Verfassungsvorschriften verbindlich sind und dies auch nicht mehr bestritten wird, aber der Umfang der Verbindlichkeit und die Möglichkeiten der Justiziabilität variieren. Mit anderen Worten: Nicht alles, was in der Verfassung vorgesehen ist – und sei es als Grundrecht – kann ohne weiteres der gerichtlichen Auseinandersetzung überantwortet werden. Darüber hinaus: Selbst, wenn Verfassungsvorschriften Gegenstand einer gerichtlichen Aus­einandersetzung sind, können nicht alle Gerichte befugt sein, eine solche Ent­ scheidung herbeizuführen – im Gegensatz zu dem, was in der Theorie verteidigt und in der Praxis durchgeführt wird. Es gibt Verfassungsvorschriften, die eine unterkonstitutionelle Rechtsetzung benötigen, um ihre volle Wirkung entfalten zu können, und das Paradox, das diese Aussage zu erzeugen scheint, ist nur ein scheinbares. In diesem Zusammenhang kann davon ausgegangen werden, dass die Diskussion um die Kategorie der Ausgestaltung, wie sie in Deutschland entwickelt wurde und obwohl sie nicht grundsätzlich auf das Problem der sozialen Grundrechte (originäre Leistungsrechte) bezogen und ausgerichtet ist, die Grundlage für ein alternatives Modell in Brasilien bieten kann, das besser geeignet und anpassungsfähiger ist in Bezug auf die Art und Weise, wie die brasilianische Verfassung mit dieser Frage umgeht – vorausgesetzt, die bestehenden Unterschiede zwischen den beiden

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Verfassungsmodellen werden nicht vernachlässigt.86 Dies ist ein zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig neuer Vorschlag. b) Die Grundrechte in der brasilianischen Verfassung: der abwehrrechtliche und der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte Die in der brasilianischen Verfassung niedergelegten sozialen Grundrechte können unter bestimmten Umständen abwehrrechtlichen Gehalt haben. Einige Arbeitsrechte, die z. B. in Art. 7 der Verfassung zum Ausdruck kommen,87 können im Verhältnis zum Gesetzgeber eine Abwehrdimension annehmen. Das heißt, es sind Verfassungsvorschriften, die dem Staat negative Handlungen in dem Sinne vorschreiben, dass die infrakonstitutionelle Gesetzgebung solche Rechte bei der Regelung von Arbeitsbeziehungen nicht zurücknehmen oder missachten darf.88 Was die Freiheit der gewerkschaftlichen Organisierung betrifft, ebenfalls ein in Art. 8 der Verfassung vorgesehenes Sozialgrundrecht, handelt es sich ganz klar um ein Abwehrrecht: „Artikel 8. Die Bildung von berufsständischen Vereinigungen oder Gewerkschaften ist frei, nach Maßgabe des Folgenden: I. die Gründung der Gewerkschaft bedarf nach dem Gesetz, vorbehaltlich ihres Registereintrags, nicht der staatlichen Genehmigung; der öffentlichen Gewalt ist die Einmischung und der Eingriff in die gewerkschaftliche Organisation untersagt.“ Der abwehrrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte, der hier nicht im Einzelnen untersucht werden soll, erfasst aber nicht vollumfänglich die Funktionen 86 Einer der Kritikpunkte an der Rezeption der Prinzipienlehre in Brasilien betrifft gerade die Nichtberücksichtigung der Unterschiede, die zwischen den unterschiedlichen rechtsstaatlichen Traditionen und der Form der Durchsetzung von Grundrechten in Deutschland und Brasilien bestehen. 87 „Artikel 7. Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […] VIII. dreizehnter Lohn auf der Grundlage des Durchschnittslohns oder der Höhe des Rentenanspruchs; […] XIII. reguläre Arbeitszeit von 8 Stunden täglich und 44 Stunden wöchentlich, wahlweise Kompensation von Arbeitszeiten und Verkürzung des Arbeitstages aufgrund von Absprache oder kollektiver Arbeitsvereinbarung; XIV. Sechs-Stunden-Tag bei ununterbrochener Schichtarbeit, vorbehaltlich anderer kollektiver Vereinbarungen; […].“ Das infrakonstitutionelle Arbeitsrecht sieht dieselben Rechte vor. Tatsächlich wurden diese Rechte als gesetzliche Rechte „geboren“. Die Verfassung von 1988 hat sie nur „konstitutionalisiert“. 88 Siehe in diesem Sinn die Position von Böckenförde: „Das schließt nicht aus, daß die sozialen Grundrechte, wenn auf ihrer Grundlage durch den Gesetzgeber oder eine kontinuierliche Verwaltungspraxis bestimmte Ansprüche entstanden sind, diese verfassungsrechtlich unterfangen und den Bürger gegen deren ersatzlose Beseitigung (nicht allerdings gegen eine Änderung oder eine mit dem sozialen Gestaltungsauftrag noch vereinbare Reduzierung) schützen. Gegenüber einer bereits erfolgten Ausgestaltung, in der politische, planerische, finanzielle Abwägungen und Entscheidungen ihren Ort und Niederschlag gefunden haben, vermögen soziale Grundrechte gewisse elementare Grenzen der Veränderung oder Aufhebung festzulegen.“ Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 12.

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dieser Rechte. Ganz im Gegenteil. Die Hauptfunktion dieser Grundrechte besteht in ihrem leistungsrechtlichen Gehalt. Darin liegt die Relevanz der Kategorie Ausgestaltung und in der vorliegenden Arbeit interessiert ausdrücklich und vor allem die Rolle der Ausgestaltung im Umgang mit dem leistungsrechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte. Wenn von nun an über soziale Grundrechte gesprochen wird, dann ausschließlich in Bezug auf diesen Inhalt.

c) Kollidieren die sozialen Grundrechte mit anderen Grundrechten oder mit Kompetenzen? Die Behandlung der sozialen Grundrechte als Optimierungsgebote setzt jedoch voraus, dass sie letztlich als Abwehrrechte, genauer gesagt als Abwehrrechte gegen Kompetenzen, konzipiert und ausgehend von einer Eingriffsdogmatik strukturiert werden müssen. Die Ausgestaltung als dogmatische Figur hat, wie bereits erwähnt, innerhalb des Prinzipientheorie-Modells keine Relevanz. Es wurde auch bereits festgehalten, dass die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen sozialen Grundrechte nicht mit den Kompetenzen des Staates kollidieren und auch nicht notwendigerweise miteinander in Konflikt geraten. Tatsächlich setzen sie normative und faktische positive staatliche Aktivitäten voraus, um praktische Auswirkungen erzielen zu können. Es wird die harmonische Beziehung zwischen den Grundrechten und dem einfachen Recht hervorgehoben, die eine Grundvoraussetzung für die Gestaltung der Ausgestaltung ist. Anders als die deutsche Diskussion über die Funktion der Ausgestaltung, die sich mit der Notwendigkeit der Differenzierung der im Grundgesetz vorgesehenen Doppelseitigkeit der Grundrechte vor allem als Abwehrrechte (negative Rechte) und damit mit dem Problem der Ausgestaltung als Gegen- oder Komplementärbegriff zum gesetzlichen Grundrechtseingriff auseinandersetzen muss, kann die Diskussion über die sozialen Grundrechte in Brasilien von anderen, fast gegensätzlichen, Voraussetzungen ausgehen. Die Ausgestaltung erscheint als eine geeignete Figur für den Umgang mit positivierten sozialen Grundrechten, die zwar ebenfalls einen doppelten Charakter haben, aber ihre primäre Funktion in ihrem leistungsrechtlichen Gehalt (positive Rechte) haben. Die sozialen Rechte sind Grundrechte, die sich in erster Linie an den Staat richten, aber nicht gegen ihn. Sie zwingen dem Staat Handlungsgebote auf, da er ihnen Substanz geben muss. Andererseits braucht die Definition des Inhalts jedes sozialen Grundrechts, in der Form wie in der brasilianischen Verfassung positiviert, keine Gegenposition zu anderen Leistungsrechten, auch nicht zu Rechten mit Abwehrcharakter. Es ist klar, dass die Entscheidungen des Staates irgendwann die Ausgestaltung der typischen Abwehrrechte beeinflussen werden, oder auch den Umgang mit anderen sozialen Grundrechten, denn jede Budgetentscheidung kann einen Verzicht auf einer ande-

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ren Seite bedeuten. Aus juristisch-positiver Sicht ist es jedoch nicht dieser Aspekt, der die sozialen Grundrechte in erster Linie definiert. Jedes einzelne in der brasilianischen Verfassung vorgesehene soziale Grundrecht ist in gewisser Weise bereits im Kapitel „Soziale Ordnung“ detailliert geregelt. In einigen Fällen sogar mit eigener Budgetprognose, d. h. unabhängig von der Budgetprognose der anderen Rechte.89 Dies bedeutet, dass die Definition dessen, was jedes soziale Recht bedeutet, durch die Analyse jedes Rechts selbst erfolgt (Innentheorie der Grundrechte), d. h. eine Abwägung mit anderen Rechten oder mit Kompetenzen (Außentheorie der Grundrechte) ist nicht notwendig erforderlich. In diesem Sinne kann die Dogmatik der Ausgestaltung eine wichtige Rolle übernehmen. Was mit dem „Recht auf Gesundheit“ konkret in der brasilianischen Verfassung (Art. 6 und Art. 196 bis 199) gemeint ist, lässt sich z. B. nicht ausgehend von einer Kollision mit anderen sozialen Grundrechten, wie dem „Recht auf Sozialversicherung“, dem „Recht auf Sozialhilfe“ oder den Freiheiten anderer Bürgerinnen und Bürger definieren. Wie bereits erwähnt, bringt die Verfassung selbst eine Reihe von an den Staat gerichteten Handlungsanweisungen mit, die in materieller und formaler Hinsicht (Kompetenz) konfigurieren, was dieses Recht bedeutet und was der Staat tun muss, um es zu verwirklichen. Auch ist ein solches Recht nicht durch eine Kollision mit der Gesetzgebungskompetenz für seine Regulierung definiert, da die Verfassung selbst auf die unterkonstitutionelle Gesetzgebung und also auf die Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Verdichtung dieses Inhalts verweist. Mit anderen Worten, die Verfassung besagt, dass das Grundrecht auf Gesundheit zusätzlich zu dem, was im Verfassungstext selbst festgelegt ist, vom Gesetzgeber definiert wird bzw. definiert werden muss. Eine solche normative Delegation der Verfassung auf die infrakonstitutionelle Ebene findet nicht nur im Hinblick auf das Grundrecht auf Gesundheit statt. Es ist ein allgemeines Merkmal der sozialen Grundrechte. Es gibt Fälle einer ausdrücklichen Delegation, wie beim Grundrecht auf Sozialversicherung: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf […]“ und beim Recht auf Sozialhilfe: „Artikel 203. Die Sozialhilfe wird dem bedürftigen unabhängig von seiner Beitragszahlung zur Sozialversicherung gewährt. Ihre Aufgaben sind: […] V. die Gewährleistung eines monatlichen Mindestbetrags an Behinderte und Alte, die 89 Dazu siehe Art. 198, § 2, I der brasilianischen Verfassung. „Art. 198. Die Aktionen und Dienstleistungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit integrieren ein regionalisiertes und hierarchisiertes Netzwerk und bilden ein einheitliches System, das nach den folgenden Richtlinien organisiert ist: […] § 2 Die Union, die Bundesstaaten, der Bundesbezirk und die Kommunen wenden bei Aktionen und Dienstleistungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit jährlich Mindestressourcen an, die sich aus der Anwendung von Prozentsätzen ergeben, die auf folgender Grundlage berechnet werden: I – im Falle der Union die laufenden Nettoeinnahmen des jeweiligen Haushaltsjahres, die nicht weniger als 15 % (fünfzehn Prozent) betragen dürfen; […]“

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nachweislich für den eigenen Unterhalt nicht aufkommen können und dieser auch von der Familie nicht gewährleistet werden kann. Die Gewährleistung erfolgt nach Maßgabe des Gesetzes.“ Auf der anderen Seite gibt es Fälle der Bestimmung von Zielen, die direkte Delegationen zur Gesetzgebung implizieren, wie beim Recht auf Erziehung: „Art. 205. Bildung, das Recht aller und die Pflicht des Staates und der Familie, wird in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft gefördert und stimuliert, um die volle Entwicklung der Person, ihre Vorbereitung auf die Ausübung der Staatsbürgerrechte und -pflichten und ihre Qualifikation für die Arbeit zu erreichen.“; beim Recht auf Kultur: „Art. 215. Der Staat wird jedem die uneingeschränkte Ausübung kultureller Rechte und den Zugang zu Quellen nationaler Kultur garantieren und die Aufwertung und Verbreitung kultureller Manifestationen unterstützen und fördern.“, usw. d) Die Reflexivität90 der sozialen Grundrechte: Gesetzgebungsgebot statt Optimierungsgebot Der Verweis der Verfassung auf die gesetzliche Regulierung der sozialen Grundrechte impliziert eine Reflexivität dieser Rechte. Zwei Merkmale sind in dieser Hinsicht wichtig. Zum einen kann der konkrete leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte, also das, was ein Mensch gerichtlich vom Staat einfordern kann, nicht in seiner Gesamtheit über die Auslegung der Verfassung definiert werden, geschweige denn über die Abwägung zwischen Rechten oder zwischen Rechten und Kompetenzen. Mit anderen Worten: Was das Individuum vom Staat im Hinblick auf die Grundrechte verlangen kann, hängt auch von der infrakonstitutionellen Gesetzgebung ab.91 Dieses Merkmal hängt mit einem zweiten zusammen, nämlich mit der Tatsache, dass die Verfassung dem Staat Handlungsgebote auferlegt, genauer gesagt Pflichten zur Realisierung der sozialen Grundrechte in normativer und faktischer Hinsicht, was eine reflexive Dimension der sozialen Grundrechte mit sich bringt. Sie können daher als Normen bezeichnet werden, die regeln, wie der Staat bestimmte soziale Leistungen zu normatisieren hat. Diese Reflexivität der sozialen Grundrechte bringt auf der anderen Seite die Vorstellung mit sich, dass die Verfassung nicht unmittelbar die Realität92 und in diesen Kontext auch nicht die faktische Leistung, die der Staat schuldet, reguliert. Sie regelt zunächst die Form und teilweise auch den Inhalt, an den der Gesetzgeber beim Umgang mit den staatlichen Leistungen gebunden ist, d. h. sie ist eine mittelbare 90 Zum Konzept der Reflexivität der Grundrechte siehe Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, passim. 91 Dies bedeutet nicht, dass es absolut unmöglich ist, soziale Leistungen direkt aus der Verfassung abzuleiten. 92 Es gibt Ausnahmen, wie zum Beispiel das bereits erwähnte Recht auf Arbeit.

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Regelung. Die unterverfassungsrechtliche Gesetzgebung ist der Mittler zwischen der Verfassung und dem, was sachlich geboten ist, d. h. sie regelt die eigentliche faktische staatliche Leistung, die von der Leistungsverwaltung durchzuführen ist. Diese beiden kombinierten Merkmale ermöglichen es, die sozialen Grundrechte in erster Linie nicht als Optimierungsgebote zu bezeichnen, sondern als „Gesetzgebungsgebote“, genauer als „Ausgestaltungsgebote“.

e) Ausgestaltungsbedürftigkeit als gemeinsames Merkmal aller sozialen Grundrechte: Einheit in der Vielfalt Ausgestaltungsbedürftigkeit ist ein gemeinsames Merkmal der sozialen Rechte. Diese Rechte sind in der brasilianischen Verfassung als Staatszielbestimmungen formuliert. Trotz der Tatsache, dass die brasilianische Verfassung eine beachtenswerte Regulierungsdichte dieser Rechte enthält, siehe z. B. die Aussagen über das Grundrecht auf Gesundheit, gibt es einen großen Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber, um die vorgesehenen Leistungen und die Verwaltungsstruktur zu gestalten, die notwendig sind, um dieses Recht zu konkretisieren. Die Leistungsverwaltung ihrerseits setzt diese formale gesetzgeberische Organisation und die materielle gesetzgeberische Regulierung voraus, um handeln zu können. Es gibt kein Recht auf Gesundheit als Leistungsrecht ohne den Staat. Und es gibt keinen Leistungsstaat (hier speziell ausgehend von der Pflicht zur Umsetzung des Rechts auf Gesundheit ins Auge gefasst), ohne die unterverfassungsrechtliche Gesetzgebung, die dieses Recht verdichtet und die Leistungsverwaltung, in diesem Fall den öffentlichen Gesundheitsdienst, organisatorisch schafft. Gleiches gilt für das Recht auf Sozialversicherung. Es handelt sich um ein soziales Grundrecht, das in Art. 6 der brasilianischen Verfassung generisch positiviert ist. Im Kapitel der Sozialen Ordnung legt die Verfassung fest, dass der Staat u. a. die Ereignisse Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfälle „abdeckt“ (schützt) (Art. 201, I). Wie der Staat dies tun soll, ist nicht in der Verfassung festgelegt, aber es gibt eine Verpflichtung, dass dies per Gesetz geschieht: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich auf dem Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze.“ Wenn die Verfassung festlegt, dass ein solcher Schutz nach Maßgabe der Gesetze (Art. 201) zu erfolgen hat, weist sie dem Gesetzgeber die Aufgabe (Handlungsgebot) zur Gesetzgebung zu, sagt aber nicht im Einzelnen, was er zu tun hat. Das heißt, die Verfassung gibt dem Gesetzgeber einen Ausgestaltungsspielraum über das ‚Was‘, d. h. den materiellen Inhalt des Schutzes, und über das ‚Wie‘, d. h. die Form und das Verfahren, mit dem der Schutz zu erfolgen hat. Das Recht auf Sozialversicherung, das in der brasilianischen Verfassung von 1988 erstmals als Grundrecht festgelegt wurde, war bereits seit Jahrzehnten in der

I. Die Dogmatik der „Ausgestaltung“ als geeignete Kategorie 

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unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebung vorgesehen. Darüber hinaus war bereits eine Verwaltungsstruktur vorhanden, um dieses Recht umzusetzen. Die Verfassung brachte jedoch einige bedeutende Änderungen mit sich. Das bedeutet, dass das Recht auf Sozialversicherung bereits vor der aktuellen Verfassung bestand. Die infrakonstitutionelle Gesetzgebung sah bereits Formen des Schutzes für die oben genannten Ereignisse vor. Ab 1988 wurden diese Leistungsrechte aber „konstitutionalisiert“. 1991 wurde eine neue Sozialversicherungsgesetzgebung entsprechend den neuen verfassungsrechtlichen Vorgaben geschaffen. Die Frage, die aus theoretischer und dogmatischer Sicht zu stellen ist, lautet also: Welche Art von Beziehung wurde zwischen Verfassung und Gesetzgebung, zwischen Grundrecht auf Sozialversicherung, Gesetzgeber und Exekutive hergestellt? Wenn dieses Verhältnis nur unter dem Gesichtspunkt der Eingriffsdogmatik der Grundrechte und der Dynamik der Eingriffsverwaltung betrachtet wird, führt das zwangsläufig zu Fehlinterpretationen, da der Hauptzweck der Gesetzgebung darin besteht, den Inhalt des Grundrechts auf soziale Sicherheit zu präzisieren, und die Rolle der Verwaltung besteht darin, die gesetzlich vorgesehenen Leistungen zu erbringen. Vor diesem Hintergrund wird die Grundrechtsausgestaltung in der vorliegenden Arbeit als Gegenbegriff zum Grundrechtseingriff verstanden. Das heißt, immer dann, wenn die Verfassungsvorschriften zu den sozialen Grundrechten ein positives Verhalten des Staates vorsehen, erscheint die Ausgestaltung als eine zentrale dogmatische Figur. f) Der Gesetzgeber nicht als Gegner, sondern als Bedingung der Möglichkeit der sozialen Grundrechte: Die harmonische Beziehung zwischen Grundrechten und einfachem Recht Wenn die These richtig ist, dass der konkrete leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte in der Regel von der infrakonstitutionellen Rechtsetzung mittels Gesetzgebung abhängt, wird die Rolle des Gesetzgebers missverstanden, wenn sie aus der Sicht der Eingriffsdogmatik verstanden wird. Die Rolle des Gesetzgebers in Bezug auf die sozialen Grundrechte ist im Gegenteil in erster Linie die Realisierung der Bedingungen der Möglichkeiten. Stellen wir uns eine Situation vor, in der die Gesetzgebung sowie die Verwaltungsstruktur und -organisation der Sozialversicherung in Brasilien vor der Verfassung von 1988 nicht existierte, d. h., dass das Recht auf Sozialversicherung (erst) durch die Verfassung geschaffen wurde. Wäre die Ableitung eines subjektiven Leistungsrechtes direkt aus der Verfassung vorstellbar? In welchem Umfang? Wäre es zum Beispiel möglich, staatlichen Schutz im Todesfall juristisch einfordern zu können? Von welcher staatlichen Stelle (Union / Bund, Mitglieds-/Bundesstaat, Kommune) würde eine solche Leistung verlangt und welche Art von Leistung wäre es? Ohne ein Gesetz, das festlegt, wer (welches staatliche Organ) für die Durchführung des Schutzes im Todesfalle in der Praxis zuständig

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ist und durch welche Leistung dieses Recht geschützt wird, ist es praktisch unmöglich, den einen oder anderen Aspekt des Grundrechts auf Sozialversicherung aus der Verfassung selbst genau zu definieren. g) Die sozialen Grundrechte, der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte und das Ausgestaltungsgebot Eine weitere Kategorie, die sich in der deutschen Verfassungsdogmatik entwickelt und gefestigt hat und die Diskussion in Brasilien über die sozialen Grundrechte beeinflusst, ist der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte. In Deutschland ist diese Kategorie, die sich mit Inhalten befasst, die über den subjektiven Inhalt der Grundrechte als Abwehrrechte hinausgehen, trotz ihrer praktisch hegemonialen Akzeptanz in der Lehre und in der Rechtsprechung nicht frei von Kritik.93 So schlägt Bumke vor, die Diskussion um die Dichotomie zwischen subjektivem bzw. objektiv-rechtlichem Gehalt der Grundrechte durch den Begriff der Grundrechte als Abwehr- bzw. als Leistungsrechte und die entsprechenden Staatsfunktionen mit einem Unterlassungs- und einem Handlungsgebot zu ersetzen.94 Es ist bekannt, dass diese dogmatische Kategorie in Deutschland entwickelt wurde, um u. a. das Problem des Vorhanden- oder Nichtvorhandenseins eines leistungsrechtlichen Gehalts der Grundrechte genau zu erfassen, da diese grundsätzlich nur als Abwehrrechte positiviert sind. Mit anderen Worten, diese Kategorie wurde entwickelt, um den Mangel an Klarheit oder sogar den absichtlichen Mangel an ausdrücklicher Vorüberlegung dieser Inhalte auszugleichen. Es handelt sich im deutschen Verfassungsrecht um ein theoretisch-dogmatisches und methodisches Rechtsproblem, das mit der semantischen und strukturellen Offenheit95 des Grundgesetzes zusammenhängt. Das Recht auf Existenzminimum in seinem leistungsrechtlichen Gehalt, das sich aus einer übereinstimmenden und zusammenführenden Lesart des Rechts auf Menschenwürde und der Klausel des Sozialstaats ableitet und um den Begriff der Pflicht des Staates, Gleichheit und faktische Freiheit zu fördern ergänzt wird, ist ein Beispiel für dieses Problem. Für Alexy beispielsweise dreht sich die Frage das Existenzminimum und der Leistungsrechten im Allgemeinen um die Bedeutung eines bestimmten Rechts, das die Möglichkeit impliziert, es einem normativen

93 Zum Beispiel über die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem objektiven Inhalt und dem subjektiven Inhalt der Grundrechte: „Auf Grund seiner von der des Privatrechts grundlegend verschiedenen Aufgabe ist es im öffentlichen Recht keineswegs selbstverständlich, daß einer (objektiv-öffentlichen) Pflicht des Staates ein (subjektiv-öffentlicher) Anspruch des pflichtbegünstigten Bürgers entspricht.“ Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 167. 94 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, passim. 95 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57–59.

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Verfassungstext zuzuschreiben.96 Diese Zuordnung eines Leistungsrechts zu einer Bestimmung des Grundgesetzes ist für ihn ein Problem der Abwägung. Wenn man an den brasilianischen Rechtskontext denkt, ist es jedoch nicht unbedingt richtig, von einem „objektiv-rechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte“ oder den „sozialen Grundrechten als objektiv-rechtlicher Gehalt der Grundrechte“ zu sprechen, den Begriff des „Leistungsgrundrechts“ mit dem Begriff des „objektiv-­ rechtlichen Gehalts der Grundrechte“ in Verbindung zu bringen, oder gar die sozialen Grundrechte als „faktische und rechtliche Bedingungen der Grundrechtsausübung“ (Grundrechtsvoraussetzung)97 zu denken, weil die sozialen Rechte als Grundrechte ausdrücklich positiviert wurden. Daher ist die Kategorie des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte im Umgang mit den sozialen Grundrechten im brasilianischen Verfassungsrecht entbehrlich. Darüber hinaus ist es nicht richtig, in diesem dogmatischen Rahmen mit der Idee der Ausgestaltung als Konsequenz des objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte zu arbeiten. Um die theoretische und praktische Reichweite dieser Bestimmungen der sozialen Grundrechte zu verstehen, ist es angemessener, die von Bumke vertretene Dichotomie zu verwenden, die zwischen dem abwehrrechtlichen bzw. leistungsrechtlichen Gehalt eines jeden Grundrechts und dem sich daraus ergebenden Unterlassungsgebot und Handlungsgebot des Staates unterscheidet. Die Idee hier ist, ausschließlich mit den Konzepten des Begrenzungsvorbehalts und des Ausgestaltungsvorbehaltes oder, richtiger gesagt, mit der direkten Beziehung zwischen Leistungsgrundrechten und Ausgestaltungsgebot zu operieren. Der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte in Brasilien bezieht sich in erster Linie auf die verfassungsrechtlich verankerten staatlichen Handlungsgebote und folglich auf die Kategorie des Ausgestaltungsgebotes. Im Modell der Prinzipientheorie arbeitet Alexy zwar mit der Dichotomie zwischen Abwehrrecht und Leistungsrecht sowie mit Unterlassungsgebot und Handlungsgebot, aber der Zusammenhang zwischen Grundrechten und staatlichen Handlungsgeboten und damit die Unterscheidung zwischen Ausgestaltung und Eingriff wird durch das Konzept des Optimierungsgebotes relativiert, das immer den Begriff der Einschränkung voraussetzt. In diesem Sinne weist Cornils darauf hin: „Wenn im Konzept der Prinzipientheorie sowohl grundrechtliche Leistungsrechte als auch Abwehrrechte prinzipiellen Charakter haben, beide außentheoretisch konstruiert werden können, sie sich in ihrer Struktur, Justitiabilität und der Möglichkeit der Subjektivierung gerade nicht unterscheiden, mit einem Wort nur zwei modale Konkretisierungen einer potentiell abstrakt und umfassend zu verstehenden, jeweils durch ‚substantielle Argumentation‘ zu begründenden Norm 96 97

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 468. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 511.

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geltung der Grundrechte als Prinzipien sind, muß die Frage gestellt werden, wozu ein erheblicher analytischer Differenzierungsaufwand betrieben wird, dessen inhaltliche Bedeutung doch selbst in allen Punkten bestritten wird.“98 Der hier verteidigte Vorschlag beruht auf der gegenteiligen Annahme, dass der konkrete Leistungsgehalt eines sozialen Grundrechts davon abhängt, wie die brasilianische Verfassung das staatliche Handlungsgebot zur Verwirklichung dieses Rechts vorsieht. Das heißt, es wird nicht nur ein Zusammenhang zwischen dem staatlichen Handlungsgebot zur Verwirklichung des sozialen Rechts und dem entsprechenden (subjektiven) Grundrecht hervorgehoben, sondern eine Abhängigkeit des konkreten Inhalts des sozialen Grundrechts vom Verhalten des Staates, das von den Verfassungsvorschriften bestimmt wird, verteidigt. Was ein Bürger vom Staat rechtlich erwarten und juristisch einfordern kann, hängt streng davon ab, was die Verfassung dem Staat auferlegt, nämlich Ausgestaltungsgebote. Nichts mehr als das. Was die Verfassung den Staat in Bezug auf die Ausgestaltung der sozialen Rechte ausdrücklich oder implizit ermächtigt (Ausgestaltungsvorbehalt), ist für die Bestimmung des konkreten Inhalts dieser Rechte von untergeordneter Bedeutung. Dies bedeutet nicht, dass der Ausgestaltungsvorbehalt als dogmatische Kategorie entbehrlich ist, da er die Funktion der Abgrenzung zwischen dem ausüben kann, was vom Staat durchsetzbar ist, und dem, was nicht durchsetzbar ist. Die Ausgestaltungsdogmatik hat genau die Funktion, sich mit dem Problem der Definition der staatlichen Pflicht zu positivem Handeln bei der Verwirklichung der sozialen Rechte zu befassen. Man könnte also von einem Ausgestaltungs­gebot der sozialen Grundrechte als Folge eines verfassungsrechtlichen Handlungsgebotes sprechen.

98

Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 564–565. „Die Argumentationsstruktur sowohl von Alexy als auch (weniger ausgeprägt, s. Borowski, Grundrechte, S. 167 Fn. 11) von Borowski verläuft in vergleichbarer Weise so, daß im Ausgangspunkt zunächst die fundamentale, strukturell oder dogmatisch hohe Bedeutung der Unterscheidung behauptet wird, dann aber in eingehender Auseinandersetzung mit den möglichen strukturellen Unterschieden jeweils das Ergebnis begründet wird, daß ein solcher Unterschied tatsächlich nicht besteht, es vielmehr stets auf substantielle Argumente hinsichtlich der jeweils zu begründenden, auf staatliche Handlungen oder Unterlassungen gerichteten grundrechtlichen Pflichten oder Rechte ankomme, s. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 426. Grenzen des Spielraums des Gesetzgebers und der Kompetenz des Verfassungsgerichts können sich ‚nicht an strukturtheoretischen Unterscheidungen wie denen zwischen Abwehr- und Schutzrechten orientieren‘; Borowski, Grundrechte, S. 161: ‚Die grundrechtlich gebotene staatliche Verhaltensform, positives Handeln oder Unterlassen, entscheidet nicht über die Grundrechtsstruktur‘; s. auch ders., S. 146 Fn. 106: „‚Grundrechtlich prima facie geboten ist jedes staatliche Verhalten (positives Handeln oder Unterlassen), das die Optimierungsgegenstände grundrechtlicher Prinzipien realisiert‘.“ Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 565, Fn. 44.

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h) Parameter für den ausgestaltenden Gesetzgeber: Kernbereich, Mindeststandard oder Mindestmaß statt Maximierung Ein Problem, das sich aus der obigen Argumentation ergibt, im Sinne der gleichzeitigen Bejahung der Verbindlichkeit der sozialen Grundrechte, d. h., dass es sich um Grundrechte mit unmittelbarer Anwendung handelt (Art. 5, § 1 der brasilianischen Verfassung), die jedoch von der infrakonstitutionellen Regulierung abhängen, um alle ihre konkreten Wirkungen entfalten zu können, ist das Paradox der Verbindlichkeit. Der Gesetzgeber wäre verpflichtet, etwas zu regeln, dessen Konturen er selbst vorgeben könnte. Die Antwort, die man geben kann, um dieses Paradox zu umgehen, ist die Tatsache, dass die brasilianische Verfassung den Inhalt der sozialen Grundrechte nur teilweise festlegt. Zusätzlich zu diesem vorab festgelegten Inhalt verpflichtet die Verfassung den Gesetzgeber, diese Rechte durch einfachgesetzliche Normierung im Detail zu gestalten. Dies kann der Maßstab für die Verbindung der drei Gewalten mit den Sozialen Grundrechten sein. Die Umrisse dieser Konfiguration lassen jedoch einen gewissen Handlungsspielraum zu. Mit anderen Worten: Der Staat ist nur in Bezug auf diesen vorkonfigurierten Teil der Verfassung gebunden und verpflichtet, positiv zu handeln. Jede Unterlassung bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe ist über die Verfassungskontrolle wegen Unterlassung kontrollierbar. In Deutschland lassen sich mindestens zwei dogmatische Modelle anführen, die sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit der Gesetzgeber an den leistungsrechtlichen Gehalt der Grundrechte gebunden ist. Das erste besagt, dass es sich bei der Verbindung lediglich um die Festlegung eines „Mindeststandards“ handelt. Das zweite befürwortet die Idee der „Maximierung“.99 Das Konzept der Mindeststandards hat Varianten, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, der die dogmatischen Vorschläge vereint: ein Modell zu sein, das der Theorie der Prinzipien und dem Modell der Maximierung entgegengesetzt ist. Darauf verweist Cornils am Beispiel von Art. 19 Abs. 4 GG: „In diesem Sinne ist der Begriff Abbreviatur für eine Gegenposition zur Optimierungsthese und kennzeichnet er eine kritische Haltung zu einem auf Maximierung des zielenden Effektivitätsdenken hinsichtlich der vom Gesetzgeber geschuldeten Ausgestaltung des Rechtsschutzes[…].“100 Das Maximierungs- bzw. Optimierungsmodell wurde bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit dargestellt und im zweiten kritisch bewertet. Nach diesem Modell ist ein soziales Grundrecht das Ergebnis einer Abwägung (maximale Leistung) mit anderen Rechten oder Zuständigkeiten.

99 Auf den Unterschied zwischen Maximierung und Optimierung bei Alexy wurde bereits hingewiesen. Siehe dazu die Fußnote Nr. 418. 100 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 462.

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Das Mindeststandardmodell basiert auf der Annahme, dass der Inhalt des Leistungsanspruchs durch die Auslegung des Grundrechts selbst definierbar ist, ohne dass eine Abwägung erforderlich ist. In diesem Sinne, sagt Lenz: „Der Staat muss mindestens so viel Schutz gewähren, dass die Menschenwürde der zu Schützenden auch in der Drittrichtung immer gewahrt bleibt. Dieser Mindeststandard ist – wie bei allen Leistungsrechten – aus der leistungsgebietenden Norm heraus ohne Rücksicht auf eventuell gegenläufige Rechte und Interessen zu bestimmen. Die Anforderungen der Menschenwürde sind nicht das Ergebnis einer Abwägung kollidierender Belange, sondern sind aus der Norm des Art. 1 Abs. 1 GG heraus zu bestimmen.“101 In der vorliegenden Arbeit wird, wie oben erläutert, eine Position verteidigt, die strukturell nahe an der zentralen Idee des Mindeststandardmodells liegt – im Gegensatz zu der der Prinzipientheorie. Der von Lenz vorgeschlagene direkte Zusammenhang zwischen Mindeststandard und Menschenwürde als Parameter zur Definition des leistungsrechtlichen Gehalts der Grundrechte in Deutschland ist aber im brasilianischen Verfassungsrecht für die Definition der sozialen Grundrechte aus den bereits dargelegten Gründen in gewisser Weise entbehrlich oder zumindest sekundär. Die Definition des Inhalts eines sozialen Grundrechts und damit dessen, was vom Staat minimal gefordert werden kann, erfolgt durch die Analyse dessen, was der brasilianische Verfassungstext für jedes Grundrecht spezifisch vorsieht, in Verbindung mit dem, was der Staat zur Verwirklichung dieses Rechts zu tun hat. So kann festgestellt werden, dass der „Mindeststandard“ jedes sozialen Grundrechts in Brasilien bereits teilweise im Verfassungstext selbst geregelt ist. Was die Verfassung nicht ausdrücklich regelt, delegiert sie in einer aufgezwungenen Form an den Gesetzgeber (Ausgestaltungsgebot) oder in Form einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Ermächtigung zur Gesetzgebung (Ausgestaltungsvorbehalt). Die erste Form der Delegation ist hier von Interesse. Im Fall des Rechts auf Gesundheit (Art. 6) ist zum Beispiel die Tatsache, dass in der brasilianischen Verfassung (Art. 196) vorgesehen ist, dass dies „ein Recht aller und eine Verpflichtung des Staats darstellt“ und dass „durch Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet wird“, welche Art von staatlicher Tätigkeit, d. h. eine normative und faktische Handlungsgebots-Pflicht des Staates, bei der Formulierung und Formalisierung der Politik und dann bei deren Ausführung ausgeführt werden muss. Wenn die Verfassung hingegen besagt, dass eine solche Politik „darauf abzielen [muss], das Krankheitsrisiko und andere Schadensrisiken zu vermindern und den allgemeinen und gleichen Zugang zu den ihrer Förderung, ihrem Schutz und ihrer Wiederherstellung dienenden Maßnahmen und Dienstleistungen zu ermöglichen“, dann regelt sie auch teilweise den Inhalt, d. h. ein Grundecht auf normatives Handeln des Staates und auch ein Grundecht auf die Teilhabe an der 101

Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 88–89.

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formulierten Sozial- und Wirtschaftspolitik. Insbesondere legt die Verfassung verbindliche Richtlinien für das Handeln des Staates bei der Verwirklichung dieses Rechts fest. Der Inhalt der Politik wird jedoch vom Gesetzgeber festgelegt, solange die genannten verfassungsrechtlichen Parameter eingehalten werden. Das Grundrecht auf Gesundheit als Prinzip und damit als subjektives Recht zu behandeln, das ohne weitere rechtliche Schritte über die Abwägung eingefordert werden kann, bedeutet einfach die Missachtung der Tatsache, dass die brasilianische Verfassung in erster Linie nur eine staatliche Pflicht zur Verwirklichung eines solchen Rechts durch eine Sozial- und Wirtschaftspolitik festlegt, die per Definition kollektiv, nicht individuell, und über allgemeine und abstrakte Normen (Gesetze im weiten Sinne) definiert ist. Es wird hier die Position verteidigt, dass soziale Grundrechte, darunter das Grundrecht auf Gesundheit und das Grundrecht auf Sozialversicherung, in erster Linie durch die an das Verhalten des Staates gerichteten verfassungsrechtlichen Handlungsgebote definiert werden. Erst wenn bekannt ist, wozu der Staat aus verfassungsrechtlicher Sicht verpflichtet ist, kann der Inhalt des Grundrechtes definiert werden, nicht umgekehrt. Dies impliziert ein „Denken von der Kompetenz her“. Wenn die etablierte Sozial- und Wirtschaftspolitik, die bereits ein unterkonstitutionelles normatives und auf dieser Gesetzgebung basierendes Verwaltungshandeln voraussetzt, den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht, d. h. darauf abzielt, „das Krankheitsrisiko und andere Schadensrisiken zu vermindern und den allgemeinen und gleichen Zugang zu den ihrer Förderung, ihrem Schutz und ihrer Wiederherstellung dienenden Maßnahmen und Dienstleistungen zu ermöglichen“, ist der in der Verfassung festgelegte Ausgestaltungsauftrag erfüllt. Der konkrete Inhalt des gerichtlich durchsetzbaren Grundrechts auf Gesundheit, z. B. das Recht auf die Medikamente X oder Y, oder das Recht auf Krankenhauseinweisung, hängt jedoch in erster Linie von einer Struktur des öffentlichen Gesundheitswesens oder einer möglichen Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor ab, die wiederum davon abhängt, was durch die öffentliche Politik, d. h. durch die Gesetzgebung, festgelegt wird. Dies ist nicht direkt durch die Verfassung geregelt. Natürlich könnte man einwenden, dass diese Erklärung keine Antwort auf das Problem fehlenden staatlichen Handelns gibt und dass sie bestenfalls das Problem mangelhaften staatlichen Handelns behandeln kann. Ein solcher Einwand könnte dadurch beantwortet werden, dass die brasilianische Verfassung diese Frage auch ausdrücklich anspricht, wenn sie eine Verfassungskontrolle gegen Unterlassungen vorsieht. Diese Punkte werden in den folgenden Abschnitten behandelt. Bisher wurden einige Konturen der Ausgestaltung als eigene Sprache des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte in Brasilien dargestellt, d. h. die Idee, dass die Ausgestaltung eine Einheit in der Differenz darstellt, eine dogmatische Kategorie, die einen direkten Bezug zum leistungsrechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte hat, so wie diese Rechte in der brasilianischen Verfassung

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

positiviert wurden. Dafür wurden einige Beispiele angeboten. Von nun an soll gezeigt werden, dass diese Allgemeingültigkeit der Ausgestaltung im Umgang mit dem leistungsrechtlichen Gehalt dieser Grundrechte spezifische Merkmale jedes analysierten Grundrechts voraussetzt. Am Fall des Grundrechts auf Sozialversicherung soll dies konkret aufgezeigt werden.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik: der Fall des Grundrechts auf Sozialversicherung in der brasilianischen Verfassung Bei mehr als einer Gelegenheit wurde in dieser Untersuchung hervorgehoben, dass die brasilianische Verfassung die Frage der Grundrechte anders behandelt als das Grundgesetz. Zwei Charakteristiken wurden hervorgehoben: die detaillierte Art und Weise, wie diese Rechte in der brasilianischen Verfassung vorgesehen sind, und, damit verbunden, der ausdrückliche Präsenz sozialer Rechte als Grundrechte. Hervorzuheben ist hier auch, dass es auch in Bezug auf die Vorausschau wichtige Unterschiede zwischen den sozialen Rechten gibt. Man kann behaupten, dass eine solche Form der Positivierung eine Multidimensionalität der sozialen Grundrechte impliziert. Diese Multidimensionalität stellt eine „Vielfalt in der Einheit“ dar. Die Ausgestaltungsnotwendigkeit stellt im Umgang mit dem Leistungsaspekt der sozialen Rechte eine „Einheit in der Vielheit“ dar. Es wurde hier argumentiert, dass diese Charakteristiken Vorsicht beim Import ausländischer Theorien / Dogmatiken erfordern, wenn es drum geht, über das brasilianische Rechtsphänomen nachzudenken. Dies bedeutet nicht, dass ein kritischer Dialog nicht ratsam oder gar undurchführbar wäre. Ganz im Gegenteil. Von nun an soll am Beispiel des in der brasilianischen Verfassung enthaltenen Grundrechts auf Sozialversicherung genauer aufgezeigt werden, wie dieser Dialog etabliert und realisiert werden kann. Das weitere Vorgehen wird sich genau auf den Unterschied zwischen den beiden Verfassungen in Bezug auf die Regelung der Rechte konzentrieren, wobei der brasilianische Verfassungstext die zentrale Achse darstellt. Deshalb sprechen wir von einer normtextzentrierten Grundrechts­ dogmatik. Natürlich bedeutet eine solche Wahl nicht, dass sich das Verfassungsrecht auf die Interpretation des Verfassungstextes beschränkt. Auch die bestehende Entwicklung im Hinblick auf die Rechtsmethodenlehre sowie die Rechtsprechungspraxis sind in diesem Zusammenhang wichtige Elemente. Dennoch wird angenommen, dass der Ausgangspunkt eines dogmatischen Ansatzes notwendigerweise die normativen Rechtstexte sein müssen. Bei der Analyse der Rechtsprechung ist es beispielsweise möglich, sie auf der Grundlage der Frage zu hinterfragen, ob sie dem entspricht, was das positive Recht vorsieht oder was nicht. In diesem Sinne folgt als heuristische Referenz der Konzeption der Dogmatik von Müller als „Wissen-

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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schaft vom positiven Recht“ und dementsprechend der Grundrechtsdogmatik als Wissenschaft von den positiv-gültigen Grundrechten.102 Es wird also nicht von einem theoretisch-dogmatischen Grundrechtsmodell ausgegangen, das sozusagen zur Interpretation der brasilianischen Verfassung vorgefertigt wurde. Vielmehr ist der Verfassungstext der Ausgangspunkt für die Feststellung, ob und inwieweit die in Brasilien teilweise rezipierten dogmatischen Kategorien des deutschen Verfassungsrechts für den Umgang mit den Grundrechten der brasilianischen Verfassung angemessen sind. Es ist in der Tat ein Versuch, eine „verfassungsgemäße Grundrechtsdogmatik“ zu entwickeln.103 Eines der Hauptargumente des nun zu entwickelnden Vorschlags ist, dass die in der brasilianischen Verfassung bestehende „hohe Regelungsdichte“ direkte Auswirkungen auf die Dogmatik der sozialen Rechte hat. Die Frage der „Regelungsdichte“ ist der Grundrechtsdogmatik in Deutschland nicht fremd und findet sich in verschiedenen Bereichen.104 Gellermann unterscheidet zum Beispiel zwischen der Dichte der Auftrags- und der Eingriffsabwehrseite der Grundrechte und sagt, letztere verfüge in Tatbestand und Rechtsfolge über eine „hohe Regelungsdichte“.105 In diesem Zusammenhang ist ein Exkurs darüber erforderlich, ob und wie die Idee der Regulierungsdichte in der Prinzipientheorie mit einer ähnlichen Bedeutung wie der hier vorgeschlagenen erscheint. Alexy sagt zum Beispiel, dass, sofern die Rechtsprechung „ein dichtes und bewährtes Netz von Entscheidungsregeln“ bildet, der Verweis auf die Entscheidungen des BVerfG, der Rückgriff auf eine Wertordnung und die Abwägung zwischen den Prinzipien überflüssig wird. Anders gesagt: Sofern die normativen Parameter dichter und spezifischer sind oder

102 Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 119–120. 103 Die hier vorgeschlagene Bedeutung ist eine Analogie zu Böckenfördes Konzeption einer „verfassungsgemäßen Grundrechtstheorie“. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 185. 104 Das Kriterium der „Regelungsdichte“ ist der Grundrechtsdogmatik in Brasilien auch nicht fremd. Vgl. Dazu Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz, S. 167. Der Autor unterteilt die Verfassungsnormen in zwei große Gruppen: die Verfassungsnormen mit starker normativer Dichte (starke normative Kraft) und die Verfassungsnormen mit schwacher normativer Dichte (schwache normative Kraft). 105 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 77. „Diese Anbindung [der Legislative, P. M.] an die Aussagen der ‚nachfolgenden Grundrechte‘ bedeutet zweierlei: Zum einen besteht die Bindung unabhängig davon, ob die jeweilige grundrechtliche Anordnung der subjektiv-abwehrrechtlichen oder der objektiv-rechtlichen Grundrechtsseite entspringt. Dies ist gemeint, wenn der Bindungsklausel Direktionskraft in zwei Richtungen beigemessen wird: in negativer Hinsicht entspringt ihr eine Verbotsaussage, während ihr in positiver Hinsicht eine Gebotsaussage zu entnehmen ist. Zum anderen hängt die Reichweite der Bindung von Regelungsgehalt und Regelungsdichte der einzelgrundrechtlichen Aussage ab.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 290.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

werden, wird der Rückgriff auf moralische oder prinzipielle Argumente und damit auf Abwägung immer weniger notwendig.106 Natürlich setzt die von Alexy vorgeschlagene Argumentation das Wissen voraus, welche Art von Grundrechts-Positivierung im GG existiert und in welcher allgemeinen Form die Sozialstaatsklausel darin vorgesehen ist, wenn es von Leistungsgrundrechten spricht. Die in den Entscheidungen des BVerfG angestellten Überlegungen führen in Alexys Vorschlag die für die Anwendung künftiger Fälle notwendige Verdichtung schrittweise herbei. In Brasilien hat sich die Verfassung jedoch bereits ausführlich mit den Grundrechten und der Ausgestaltung des Sozialstaates befasst. Einmal mehr erweist sich die Prinzipientheorie als unzureichend, um das brasilianische Verfassungsrecht, insbesondere die Frage der sozialen Rechte, zu verstehen. Nehmen wir noch einmal als Beispiel das Grundrecht auf Arbeit, das in Art. 6 der Verfassung als Sozialgrundrecht vorgesehen ist: „Art. 6: Soziale Rechte nach dieser Verfassung sind die Rechte auf Bildung, Gesundheit, Nahrung, Arbeit, Wohnung, Transport, Freiheit, Sicherheit, soziale Versicherung, Schutz von Mutterschaft und Kindheit, Obdachlosenhilfe.“ Der Ausdruck „nach dieser Verfassung“ bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Verfassung selbst die sozialen Rechte regelt. Dann sagt die Verfassung selbst in Art. 7, wie sich das Recht auf Arbeit entwickeln soll: „Artikel 7. Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […] VI. Nichtminderbarkeit des Lohns, außer aufgrund von Absprachen oder kollektiver Vereinbarung; VII. Lohngarantie auf einer Höhe, die nie unter dem Mindestlohn liegen darf, bei variabler Entlohnung; VIII. dreizehnter Lohn auf der Grundlage des Durchschnittslohns oder der Höhe des Rentenanspruchs; IX. Lohnzuschlag für Nachtarbeit […] XIII. reguläre Arbeitszeit von 8 Stunden täglich und 44 Stunden wöchentlich, wahlweise Kompensation von Arbeitszeiten und Verkürzung des Arbeitstages aufgrund von Absprachen oder kollektiver Arbeitsvereinbarung; XIV. Sechs-Stunden-Tag bei ununterbrochener Schichtarbeit, vorbehaltlich anderer kollektiver Vereinbarungen; XV. Ein bezahlter wöchentlicher Ruhetag, vorzugsweise der Sonntag; XVI. Überstundenvergütung, mindestens 50 % über dem Normallohn; XVII. bezahlter Jahresurlaub und zusätzlich Bezüge, die mindestens ein Drittel über dem Normallohn liegen; XVIII. Mutterschaftsurlaub für die Dauer von 120 Tagen ohne Nachteile für Arbeitsplatz und Lohn; XIX. Vaterschaftsurlaub gemäß den gesetzlichen Bestimmungen; XXVIII. Unfallversicherung durch den Unternehmer ohne Ausschluss seiner persönlichen Haftpflicht bei Arglist oder Verschulden […].“107 106 „Ein dichtes und bewährtes Netz von Entscheidungsregeln macht in einfachen Fällen, also in Fällen, in denen die Prinzipien keine andere Lösung als die der Entscheidungsregeln fordern, ein umfängliches Abwägen von Prinzipien zwar überflüssig, was eine Erklärung dafür ist, daß mit zunehmendem Alter der Verfassungsrechtsprechung der Rekurs auf die Wertordnung seltener wird.“ Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 507. 107 Das soziale Grundrecht auf Arbeit wird dann erneut geprüft.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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Um Alexys Sprachform zu verwenden: Die semantische und strukturelle Öffnung,108 die im Grundrechtskatalog des GG besteht und die sie nach seinen Worten das Charakteristikum von Prinzipien annehmen lässt, kommt in der brasilianischen Verfassung nicht oder zumindest nicht in gleicher Form vor. Die notwendige „Präzisierungsrelation“109 der Normen, die diese Rechte im GG mittels ‚Abwägung‘ vorsehen, die letztendlich eine zugeordnete (Grundrechts-)Norm110 generieren, ist in der brasilianischen Verfassung in gewisser Weise bereits vorhanden. Die Verfassung selbst hat die Semantik und Struktur der sozialen Grundrechtsnormen bereits „verfeinert“. Mit Hilfe von Alexys eigenem Argument in dem Sinne, dass der Rückgriff auf eine Wertordnung und Prinzipienabwägung umso seltener wird, je dichter die Grundrechtsnormen sind, muss man sagen, dass seine Theorie im Bereich der sozialen Rechte in Brasilien überflüssig ist.

1. Die Multidimensionalität der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung. Fragen eines allgemeinen Teils der Grundrechtsdogmatik Die Unterscheidung, die Müller zwischen „einem allgemeinen Teil der Grundrechtsdogmatik“ und den „Bereichsdogmatiken“111 trifft, also zwischen dem, was allen oder einem wesentlichen Teil der Rechte gemeinsam ist, und dem, was für jedes einzelne Recht spezifisch ist,112 gilt als fruchtbar für die Dogmatik der sozialen Grundrechte in Brasilien. Es geht nicht darum, hier eine allgemeine Dogmatik der (sozialen) Grundrechte zu entwickeln, sondern nur um die Behandlung einiger allgemeiner Merkmale der sozialen Grundrechte, damit in einem zweiten Moment das Grundrecht auf Sozialversicherung dogmatisch entwickelt werden kann. Es wurde beispielsweise argumentiert, dass die Ausgestaltungsbedürftigkeit in Brasilien ein generelles Merkmal der sozialen Grundrechte ist, auch wenn es bereits eine detaillierte Regelung der Materie auf verfassungsrechtlicher Ebene gibt. Ausgestaltungsbedürftigkeit ist unmittelbar mit dem Gedanken des Rechts auf positive normative Handlung und nur mittelbar mit dem Gedanken des Rechts auf positive faktische Handlung verbunden. Andere Fragen im Zusammenhang mit der Dogmatik der sozialen Rechte, die allen gemeinsam und einigen von ihnen 108

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57–59. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 110 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 111 Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 119–120. 112 Über den allgeneinen Teil der Dogmatik der Leistungsrechte im GG sagt Müller: „Der Aufgabe dieses Dogmatikteils ‚folgt‘ sein Inhalt: Auf der einen Seite wird er allgemeine, d. h. nicht grundrechts- oder normbereichsspezifische Aussagen über grundrechtliche Leistungsrechte beinhalten, soweit sich solche Aussagen positiv-rechtlich begründen lassen; auf der anderen Seite wird in diesem Dogmatikteil aber auch ein bloßer Vorrat an dogmatischen Konstrukten als Arbeitsinstrumentarium für die Bereichsdogmatiken bereitgestellt.“ Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 121. 109

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

spezifisch sind, verdienen es, hervorgehoben zu werden, insbesondere wegen der heterogenen Art und Weise, wie sie in der Verfassung positiviert wurden. Andererseits wird trotz der angeblichen philosophischen Annahmen der Prinzipientheorie davon ausgegangen, dass die von Alexy für das GG entwickelte Systematisierung der Leistungsrechte als Parameter für die Diskussion einer Dogmatik der sozialen Rechte in Brasilien in seiner Mehrdimensionalität dienen kann. Eine der Grundlagen der Alexyschen analytischen Theorie der Rechte ist das „Recht auf Etwas“.113 Die Grundstruktur des Rechts auf Etwas ist durch eine dreistellige Relation gekennzeichnet, „deren erstes Glied der Träger oder Inhaber des Rechts (a), deren zweites Glied der Adressat des Rechts (b) und deren drittes Glied der Gegenstand oder das Objekt des Rechts ist (c)“.114 Dieses Schema wird hier verwendet. Der Gegenstand oder das Objekt des Rechts kann, nach Meinung Alexys, entweder ein Recht auf negative Handlung oder ein Recht auf positive Handlung sein. Letztere werden in diesem Modell als Leistungsrechte bezeichnet. Der leistungsrechtliche Gehalt der Grundrechte ist in zwei Gruppen unterteilt: „in solche, deren Gegenstand eine faktische Handlung [ist], und in solche, deren Gegenstand eine normative Handlung [ist].“115 Die Leistungsrechte (im weiteren Sinne) lassen sich in drei Gruppen einteilen: die Rechte auf Schutz, die Rechte auf Organisation und Verfahren und die Rechte auf Leistungen im engeren Sinne. Letztere werden von Alexy als Rechte auf eine faktische positive Handlung, d. h. die sozialen Rechte, gekennzeichnet.116 Die sozialen Grundrechte sind in der brasilianischen Verfassung in Bezug auf die Adressaten und Gegenstände des Rechts sehr vielfältig dargestellt. Bei den Adressaten zum Beispiel ist der Staat normalerweise der passive Teil der Beziehung, aber es gibt Fälle, in denen sich einzelne Personen in dieser Position befinden. Was den Gegenstand betrifft, so haben soziale Grundrechte entweder die Form negativer oder positiver Rechte. Unter letzteren gibt es eine Vielzahl von Leistungen, die verschiedenen Organen des Staates abverlangt werden können. a) Soziale Grundrechte als bloß programmatische Verfassungsvorschriften Eine erste Frage in Bezug auf die sozialen Grundrechte lautet, ob sie als „bloße programmatische Verfassungsvorschriften“ in der brasilianischen Verfassung betrachtet werden können. Die Antwort lautet, wie bereits erwähnt, nein. Artikel 5, § 1 der brasilianischen Verfassung besagt, dass alle Grundrechte unmittelbar anwendbare Normen sind. Vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass die Grundrechte die Staatsgewalt nicht binden, im brasilianischen Verfassungsrecht textlich 113

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 171–172. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 171–172. 115 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 179–180. 116 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 404. 114

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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überwunden.117 Die drei Gewalten sind negativ und positiv mit den Grundrechten, einschließlich den sozialen Rechten, verbunden. b) Die sozialen Grundrechte als Abwehrrechte Soziale Grundrechte können auch eine negative Dimension annehmen, nämlich die der Abwehr gegen den Staat. Dieses Argument wurde oben in Bezug auf das in der brasilianischen Verfassung positiv besetzte Arbeitsrecht aufgezeigt. Alexy erklärt, dass die Rechte des Bürgers auf negative Handlungen des Staates (Abwehrrechte) sich in drei Gruppen einteilen lassen. „Die erste Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Staat bestimmte Handlungen des Trägers des Rechts nicht ver- oder behindert, die zweite Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Staat bestimmte Eigenschaften oder Situationen des Trägers des Rechts nicht beeinträchtigt, und die dritte Gruppe besteht aus Rechten darauf, daß der Staat bestimmte rechtliche Positionen des Trägers des Rechts nicht beseitigt.“118 Die letzte dogmatische Kategorie könnte im Umgang mit der negativen Dimension der sozialen Rechte in der brasilianischen Verfassung gedacht werden, also als ein Recht gegenüber dem Staat, keine rückschrittlichen legislativen Positionen einzunehmen, d. h., dass die infrakonstitutionelle Gesetzgebung, die die sozialen Grundrechte materialisiert, nicht ohne angemessene Begründung aufgehoben oder zu stark eingeschränkt werden darf.119 Ein weiteres Beispiel, das zur Veranschaulichung dieses Arguments angeführt werden kann, ist die Behandlung des Grundrechts auf Sozialversicherung in der Verfassung. Eine klare Beschränkung der Regelungsbefugnisse des Staates in Bezug auf dieses Recht findet sich in Art. 201, § 2: „Keine Leistung, die an die Stelle des Lohns oder des Arbeitseinkommens des Versicherten tritt, darf einen geringeren Monatswert als den Mindestlohn haben.“120 Ansonsten hat dieser negative Aspekt der Arbeitsrechte nicht nur den Staat als Adressaten, sondern auch die Privatperson in der Position des Arbeitgebers. Vom Arbeitnehmer Verhaltensweisen zu fordern, die beispielsweise den Rechten im Zu 117

Schon vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1988, mit der das Konzept der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundrechte in das brasilianische Recht eingeführt wurde, verteidigte die Lehrmeinung die rechtliche Bindung programmatischer Normen, zumindest in ihrem negativen Aspekt, als Grenze der staatlichen Autonomie sowie als Kriterium für die Auslegung anderer Normen. Vgl. dazu José Afonso da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, passim. 118 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174. 119 In diesem Sinne siehe die bereits erwähnte Position von Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 12. 120 Der Mindestlohn ist in Brasilien in Art. 7 der Verfassung geregelt, der das Recht auf Arbeit betrifft. „Art. 7, Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die Folgenden: […] IV. gesetzlich festgelegter, national einheitlicher Mindestlohn, ausreichend zur Deckung der Grundbedürfnisse, einschließlich der der Familie, wie Wohnung, Nahrung, Erziehung, Gesundheit, Freizeit, Kleidung, Hygiene, Transport und Sozialversicherung, mit periodischen Angleichungen zur Sicherung der Kaufkraft […].“

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

sammenhang mit dem Arbeitstag widersprechen, kann ein Grundrecht verletzen: „Artikel 7. Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […] XIII. reguläre Arbeitszeit von 8 Stunden täglich und 44 Stunden wöchentlich, wahlweise Kompensation von Arbeitszeiten oder Verkürzung des Arbeitstages aufgrund von Absprachen oder kollektiver Arbeitsvereinbarung; XIV. Sechs-Stunden-Tag bei ununterbrochener Schichtarbeit, vorbehaltlich anderer kollektiver Vereinbarungen.“ Neben diesem negativen Gehalt der sozialen Grundrechte, der sich nicht mit den angeführten Beispielen erschöpft, ist es vor allem den positiv- bzw. leistungsrechtlichen Gehalt, der sich aus ihnen ergibt, zu untersuchen. c) Der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte Wenn der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung ausgehend vom Schema Alexys analysiert wird, entgeht er nicht der Regel der Pluralität der Adressaten und der Gegenstände des Rechts. Bei den Adressaten beispielsweise gibt es, wiederum am Beispiel des Grundrechts auf Arbeit, eine Reihe von positiven Leistungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zu zahlen hat und die in der Verfassung garantiert sind: „Artikel 7. Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […] VIII. dreizehnter Lohn auf der Grundlage des Durchschnittslohns oder der Höhe des Rentenanspruchs; IX. Lohnzuschlag für Nachtarbeit […] XV. bezahlter wöchentlicher Ruhetag, vorzugsweise der Sonntag; XVI. Überstundenvergütung, mindestens 50 % mehr als der Normallohn; XVII. bezahlter Jahresurlaub und zusätzlich Bezüge, die mindestens ein Drittel über dem Normallohn liegen […].“ Hier ist die Privatperson in der Gestalt des Arbeitgebers Adressat des leistungsrechtlichen Gehalts eines sozialen Grundrechtes, im speziellen eines faktischen Leistungsrechts. Trotzdem haben die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen sozialen Rechte in der Regel den Staat als Adressat. Ihre Inhalte sind je nach dem untersuchten Grundrecht unterschiedlich und auch innerhalb jedes Rechts vielfältig, was Vorsicht bei der Übernahme reduktionistischer Positionen erfordert, wie etwa die Konzeption des Grundrechts als Prinzip oder als Regel im Sinne von Alexy. d) Die sozialen Grundrechte als Staatszielbestimmungen bzw. als Handlungsgebote Eine erste Frage, die sich daraus ergibt – im Einklang mit der Aussage, dass soziale Grundrechte nicht als „bloße programmatische Verfassungsvorschriften“ betrachtet werden können –, ist die, ob soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen in der brasilianischen Verfassung positiviert sind. Die Kategorie wurde

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von Ipsen geschaffen und zuerst von Scheuner weiterentwickelt. Seitdem hat sie in der juristischen Literatur Deutschlands Beachtung gefunden.121 Ein wesentliches Merkmal der Staatszielbestimmungen ist, dass sie sich von den programmatischen Verfassungsbestimmungen dadurch unterscheiden, dass erstere Verfassungsbestimmungen mit rechtsverbindlichem Inhalt sind, die die drei Staatsgewalten negativ und positiv binden.122 Was den positiven Aspekt betrifft, d. h. als Handlungsgebote, können die zu verfolgenden Ziele das normative und sachliche Verhalten des Staats bestimmen. Die Staatszielbestimmungen unterscheiden sich auch von den Gesetzgebungsaufträgen oder den Verfassungsaufträgen,123 die nur für die Legislative verbindlich sind: „Gesetzgebungsaufträge wenden sich – wie schon der Name sagt – allein an die Legislative. Staatszielbestimmungen richten sich hingegen auch an die Verwaltung und die Rechtsprechung. Gemeinsam ist beiden, daß sie zu einem staatlichen Tätigwerden anhalten sollen. Hierbei kommt den Gesetzgebungsaufträgen regelmäßig eine stärkere Bindungswirkung zu als den Staatszielbestimmungen. Erstere verpflichten zu einer konkreten Gesetzgebungsinitiative, letztere wirken lediglich in allgemeinerer Form auf den Gesetzgeber ein, ohne ihn zwingend auf eine bestimmte legislative Aktivität festzulegen.“124 Gesetzgebungsaufträge können somit als Arten von Staatszielbestimmungen verstanden werden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel das Grundrecht auf Gesundheit in Art. 196 der brasilianischen Verfassung als „Recht aller und Verpflichtung des Staates, das durch die Sozial- und Wirtschaftspolitik gewährleistet wird“, geregelt ist, könnte die Aussage zulassen, dass das Recht auf Gesundheit eine Staatszielbestimmung ist, die auch einen Gesetzgebungsauftrag enthält. Es ist eine Staatszielbestimmung, denn die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen Grundrechte binden alle drei Gewalten. Es aber auch ein Gesetzgebungsauftrag, denn die Sozial- und Wirtschaftspolitik setzt eine infrakonstitutionelle Gesetzgebung voraus, die ihr Dichte verleiht, eine grundlegende Rolle der Legislative. Die Exekutive, die auch eine normative Funktion ausüben kann, hat als Hauptaufgabe die Konkretisierung der Politik, die von der Gesetzgebung in allgemeiner und abstrakter Weise formuliert wird. Die deutsche Lehre betrachtet mehrheitlich die Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, die in der Regel als Normen mit rein objektivem Inhalt 121

S. o. Fußnote 318 des ersten Kapitels. In diesem Sinn, Scheuner, Staatszielbestimmungen, S. 329; Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 27–28; Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 214. 123 Verfassungsaufträge werden im Schrifttum und in der Rechtsprechung gemeinhin im Sinne von Gesetzgebungsaufträgen begriffen. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 25. 124 Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 23. In gleichem Sinn, aber neueren Datums: Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 362. 122

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

zu verstehen sind, als Kontrapunkte zu den Grundrechten in subjektivem Sinne. In dieser Linie liegt die Position von Brohm: „Staatszielbestimmungen lassen sich definieren als rechtlich verbindliche Verfassungsnormen, die im Unterschied zu den Grundrechten dem einzelnen grundsätzlich kein subjektives Recht geben, aber objektiv-rechtlich die Staatsorgane, allen voran den Gesetzgeber, zur Beachtung oder Verwirklichung des in ihnen gesetzten generellen Zieles in einer konkreten Situation verpflichten.“125 Kürzlich hat Sommermann eine eingehende Studie über die Kategorie der Staatszielbestimmung entwickelt, die sich sogar mit dem Thema des Rechtsvergleichs befasst.126 Seine Position weicht nicht von der Mehrheitslehrmeinung ab, da er Staatszielbestimmungen mit dem, wie er es nennt, „rein objekivrechtlichen Gehalt der Grundrechte“, gleichsetzt.127 Für ihn haben die Staatszielbestimmungen, anders als die Grundrechte, auch wenn sie mit der Struktur „Recht auf…“ formuliert sind, keine subjektive Dimension.128 „In den dargelegten Fällen, in denen Verfassungsbestimmungen von einem ‚Recht auf…‘ sprechen, aber – sei es wegen fehlender Operationalisierbarkeit, sei es aufgrund der Verfassungssystematik oder ausdrücklichen Normativitätsdistinktionen – ersichtlich als (blosse) Zielvorgaben für das staatliche Handeln zu interpretie 125

Brohm, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in der Verfassung, S. 216. In gleichem Sinn, Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, S. 24; Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, S. 156, unter Verwendung der Kategorie der „sozialen Grundrechte als Verfassungsaufträge“ unterscheidet Badura die sozialen Rechte ausdrücklich von den Staatszielbestimmungen: „Anders als soziale Grundrechte sind Staatszielbestimmungen ihrem Inhalt nach nur objektive Verfassungsnormen.“ Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze, in: Isensee / Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) Bd. VII. Heidelberg: C. F. Müller, 1992, S. 45. 126 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, passim. 127 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 396. „Staatszielbestimmungen sind in ausländischen Verfassungen wie in deutschen Landesverfassungen – dies wurde bereits mehrfach hervorgehoben – teilweise als „Recht auf …“, d. h. als soziale Rechte formuliert. Eine Übereinstimmung besteht insoweit auch mit einigen Menschenrechtsinstrumenten, welche etwa von einem Recht auf soziale Sicherheit oder einem Recht auf Wohnung sprechen, obwohl aus dem systematischen Zusammenhang erkennbar nur „promotionalobligations“ der Staaten gemeint sind.“ Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 371. „Meist wird es sich bei den „sozialen Rechten“ in Wirklichkeit um Staatszielbestimmungen handeln […]. Andererseits kann es ausnahmsweise auch Fälle geben, in denen finale Verfassungssätze, die nicht als subjektive Rechte formuliert sind, subjektiven Grundrechtsgehalt aufweisen. Im Grundgesetz ist dies z. B. bei dem in erster Linie als Gesetzgebungsauftrag zu deutenden Art. 6 Abs. 5 der Fall […]. Staatsziele und (subjektive) soziale Rechte können im Verfassungstext auch so verbunden werden, dass die Schaffung sozialer Rechte zum Staatsziel wird. Die zu schaffenden sozialen Rechte sind in ihrer subjektiven Dimension dann freilich nicht verfassungsunmittelbar, sondern finden insoweit erst in der einfachen Gesetzgebung ihre gesetzliche Grundlage. Eine solche mittelbare Anerkennung subjektiver Leistungsrechte liegt insbesondere dann nahe, wenn ein bestimmtes soziales Recht „als Staatsziel“ garantiert wird.“ Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 372. 128 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 397 und 417.

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ren sind, scheint die Grenze zwischen Grundrechten und Staatszielbestimmungen zu verschwimmen. Dennoch bleibt normtheoretisch die Scheidung klar: Kommt man zu dem Ergebnis, dass die Bestimmung subjektiv-rechtlichen Gehalt aufweist, liegt ein Grundrecht vor, wenn nicht, eine blosse Staatszielbestimmung.“129 Unter dem Hinweis auf die „fehlende Operationalisierbarkeit“ bezieht sich Sommermann auf die spanische Verfassung, die zwar Staatszielbestimmungen positiviert hat, in ihrem System aber eine klare Abgrenzung zu den Grundrechten vorsieht. Staatszielbestimmungen werden ausdrücklich als nicht einklagbar bezeichnet. Mehrheitlich erkennt die spanische Lehrmeinung nach Sommermann den subjektiven Charakter von Staatszielbestimmungen nicht an, obwohl es Autoren gibt, die die Möglichkeit der Subjektivierung verteidigen. Wenn er von „Verfassungssystematik oder ausdrücklichen Normativitätsdistinktionen“ spricht, bezieht sich Sommermann auf die portugiesische Verfassung, die im Kapitel über die Grundrechte Staatszielbestimmungen vorsieht, deren Charakter die unmittelbare Anwendbarkeit aber ausdrücklich ausschließt.130 Ansonsten setzt Sommermann die objektive Dimension mit dem Begriff des Staatsziels und mit dem des Prinzips gleich, wobei er die Unterscheidung zwischen Prinzip und Regel131 übernimmt („der Staatsziel- oder Prinzipiencharakter der Grundrechte“).132 Mit anderen Worten: Für ihn sind die Staatszielbestimmungen Optimierungsgebote.133 Wegen der von ihm behaupteten fehlenden subjektivrechtlichen Komponente der Staatszielbestimmungen134 kann man jedoch davon ausgehen, dass Sommermann ein anderes Konzept des Optimierungsgebotes verteidigt als Alexy. So schreibt Sommermann: „Was unter den jeweiligen Umständen als ‚optimale‘ Zielverwirklichung gelten darf, soll indes nicht ein Gericht, sondern der demokratische Gesetzgeber entscheiden.“135 In Bezug auf die Art und Weise wie die drei Gewalten mit den Staatszielbestimmungen verknüpft sind, erklärt Sommermann, dass sie für den Gesetzgeber als Gestaltungsaufträge fungieren, deren Kernbereich verbindlich ist.136 Der Gesetzgeber muss die Fragen von Inhalt, Zweck und Mitteln definieren. Die Exekutive handelt auf einer niedrigeren Ebene als die Gesetzgebung, sowohl aus normativer

129

Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 418. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 416–417. 131 Diese Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien ist seiner Meinung nach allerdings eine idealtypische und darf daher die konkrete Verfassungsauslegung nicht schematisch prädisponieren. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 361. 132 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 425. 133 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 442. 134 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 427. 135 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 442. „Keinesfalls ist den Staatszielbestimmungen eine Ermächtigung zur ‚Sozialgestaltung durch die Dritte Gewalt‘ zu entnehmen.“ Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 386. 136 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 384. 130

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Sicht als auch durch die Ausführung der Aufträge der Gesetzgebung. Sommermann spricht von einem „teleologischen Stufenbau“, in dem es die von der Verfassung definierten Oberziele, die vom Gesetzgeber definierten Mittelziele und die von der Exekutive ausgeführten Unterziele (Zielpyramide des öffentlichen Rechtes) gibt.137 Die Staatszielbestimmungen binden als Interpretationskriterium die Gerichte, sowohl bei der Auslegung von Verfassungsvorschriften als auch bei der Auslegung des einfachen Rechts.138 In der brasilianischen Verfassung werden im Gegensatz zu dem, was man über die deutsche, die spanische und die portugiesische Verfassung sagen kann, die sozialen Rechte als Grundrechte mit unmittelbarer Anwendbarkeit gestaltet (Art. 5º, § 1º). Darüber hinaus ist ihre Justiziabilität nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Im Gegenteil, denn die Verfassung sieht die Mandado de Injunção-Klage als Instrument zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung vor, die individuell oder kollektiv ausgeübt werden kann (Art. 5º, LXXI). Selbst wenn die sozialen Grundrechte also generell als Staatszielbestimmungen bzw. Verfassungsaufträge im Sinne Sommermanns139 in der brasilianischen Verfassung formuliert werden, kann ihre subjektive Dimension nicht geleugnet werden – unter Androhung, sich gegen die expliziten Bestimmungen der Verfassung zustellen. In Frage gestellt werden kann nur, a) welche Inhalte diese Subjektivierung darstellen kann, b) inwieweit diese Subjektivierung gerechtfertigt werden kann und c) welches oder welche Organe der brasilianischen Justiz für die Analyse zuständig sind. Was den Inhalt der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung betrifft, ist es interessant, noch einmal darüber nachzudenken, inwieweit die entwickelten Kategorien der deutschen Dogmatik, die den leistungsrechtlichen Gehalt der Grundrechte des GG entweder als normative- bzw. faktische Leistungsrechte oder als originäres bzw. derivatives Leistungsrecht konzipiert, zur Debatte in Brasilien beitragen können. e) Soziale Grundrechte als normative-, faktische-, originäreund derivative Leistungsrechte Das erste Kapitel dieser Arbeit befasste sich mit der Entstehung und der lehrmäßigen Diskussion über die Existenz, die Uneinheitlichkeit des Sprachgebrauchs und die Begriffe des originären und derivativen Leistungsrechts ausgehend vom Grundgesetz. In diesem Kapitel geht es um die in der brasilianischen Verfassung 137 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 385. Für den Ursprung der Rechtsmetapher als Pyramide siehe, Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, S. 228. 138 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 386. 139 Laut Sommermann sind die in der brasilianischen Verfassung explizit vorhandenen Ausdrücke „der Staat fördert“, „der Staat sorgt für“, „der Staat schützt“ typische Formulierungen von Staatszielbestimmungen. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 419.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

223

verankerten sozialen Rechte, genauer gesagt um den leistungsrechtlichen Gehalt dieser Rechte. So wird trotz der bereits erwähnten Uneinheitlichkeit bezüglich des Sprachgebrauchs in der deutschen Literatur eine Einordnung der Leistungsrechte als möglicher positiver Gehalt der sozialen Grundrechte und der Begriffe originäres- und derivatives Recht als Ausformungen des Leistungsrechts vorgenommen: soziale Grundrechte

Leistungsrechte

Abwehrrechte

originäres Grundrecht

derivatives Grundrecht oder Teilhabegrundrecht

In diesem Sinne kann gefragt werden, welche Art von Leistung die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen sozialen Rechte vorsehen. Mit anderen Worten, es ist notwendig, Folgendes zu hinterfragen: Der leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte kann zu Leistungen führen, die ohne gesetzgeberische Vermittlung, d. h. direkt aus der Verfassung (originäres Grundrecht), oder nur indirekt aus der Verfassung, d. h. in Übereinstimmung mit der infrakonstitutionellen Gesetzgebung, als Recht auf Beteiligung an der etablierten öffentlichen Politik entstehen (derivatives Grundrecht oder Teilhabegrundrecht)? Darüber hinaus ist es wichtig zu untersuchen, wie die Begriffe der faktischen und normativen Leistung mit den Begriffen des originären und des derivativen Leistungsrechts in Einklang gebracht werden können? Das heißt: Wie ist das Verhältnis zwischen den Konzepten der originären und derivativen Leistungsrechte und der Idee der Rechte auf normative und faktische Leistung zu verstehen? Kann man von Rechten auf originäre, d. h. direkt durch die Verfassung festgelegte, faktische und normative Leistungen sprechen? Oder gibt es nur derivative Rechte auf faktische oder normative Leistungen, d. h. abhängig von infrakonstitutioneller Gesetzgebung? Macht es Sinn, über ein Recht auf derivative normative Leistungen nachzudenken? Wenn ja, was wäre die Funktion und der Nutzen eines solchen Rechts? Oder, aus anderer Perspektive: Sind die Konzepte des Rechts auf faktische und normative Leistungen und des originären und des derivativen Leistungsrechts völlig unabhängig voneinander? Auch kann gefragt werden, ob und inwieweit die oben genannten, aus der Sicht des Grundgesetzes entwickelten Konzepte ausreichen, um die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen sozialen Rechte bearbeiten zu können. Die Beantwortung dieser Fragen erfordert die Untersuchung, welches die Objekte oder Gegenstände der sozialen Grundrechte, vor allem aber, wer ihre Adres­ saten sind. In diesem Bereich wird die Frage der Kompetenzen hervorgehoben werden müssen.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

soziale Grundrechte

Abwehrrechte

Leistungsrechte

originäres Grundrecht

derivatives Leistung

faktische Grundrecht

normative Leistung Schema 1

soziale Grundrechte

Abwehrrechte

originäres Grundrecht

Leistungsrechte

derivatives Leistung

faktische Grundrecht normative Leistung

Schema 2

f) Eine funktionell-rechtliche140 Interpretation der sozialen Grundrechte: Denken von der Kompetenz her Idealtypisch sind im liberalen Staatsmodell die sozialen Beziehungen nicht vom Staat abhängig. Im Gegenteil, der Staat wird als Hindernis für die Freiheit privater Aktivitäten angesehen. Deshalb wird von Abwehrrechten gegen den Staat gesprochen, die die Unterlassungsgebote des Staates bestimmen. Wenn man jedoch vom Sozialstaat spricht, ist die Logik umgekehrt. Die Rechte der Bürger setzen eine positive staatliche Aktivität voraus. Daher die Begriffe Leistungsrechte und Handlungsgebote. In vielen modernen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland und Brasilien, nimmt der Rechtsstaat beide Facetten an. Das bedeutet, dass der erwähnte Doppelaspekt, wenn man allgemein vom Staat spricht, immer latent vorhanden ist. Dies hindert jedoch nicht daran – es verlangt vielmehr –, dass theoretische und dogmatische Differenzierungen hinsichtlich der einen und der anderen Facette des staatlichen Handelns und seines Verhältnisses zu den Bürgern vorgenommen werden. 140

Zum Begriff ausführlich, Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, passim.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

225

Im Falle des Sozialstaats in Brasilien kann man, wenn es um den Leistungsaspekt der Grundrechte geht, mit Ausnahme einiger in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen Arbeitsrechte, die sich an die Arbeitgeber richten, nicht ohne die Vermittlung des Staates über Leistungsrechte sprechen. Leistungsrechte sind Rechte, die vom Staat verwirklicht werden. In diesem Sinne ist es unvorstellbar, über soziale Rechte nachzudenken, ohne die Funktionsweise des Sozialstaats zu verstehen. Dies ist ein komplexes Verhältnis, da sowohl die sozialen Grundrechte als auch der Sozialstaat in der Verfassung vorgesehen sind. Dieser Logik folgend, ist es notwendig zu wissen, welches die Adressaten der sozialen Grundrechte in der Diktion der brasilianischen Verfassung sind, um dann zu wissen, was sie tun müssen und was somit subjektiv von ihnen verlangt werden kann. Weiter oben wurde gesagt, dass der Hauptadressat der in der Verfassung vorgesehenen normativen Handlungsgebote zur Erbringung von Leistungsrechten in der Regel die Legislative ist. Damit ist die Legislative der primäre Adressat der normativen Regelung der sozialen Grundrechte. Die Ausformulierung der sozialen Grundrechte als Gesetzgebungsaufträge im Kapitel der Sozialordnung der brasilianischen Verfassung und der vielfältige Verweis der Verfassung auf die Notwendigkeit einer infrakonstitutionellen Gesetzgebung,141 lässt einen solchen Schluss zu. In Brasilien gibt es darüber hinaus eine Art von infrakonstitutioneller Gesetzgebung, für die die Exekutive zuständig ist und für deren unmittelbare Gültigkeit die Verfassung die Grundlage ist, die sogenannten ‚Vorläufige Maßnahme‘, die im Fall von dringender Notwendigkeit vom Präsidenten der Republik erlassen und von der Legislative gültig gemacht werden (müssen) (Art. 62 der brasilianischen Verfassung). Diese normativen Akte haben den Status eines Gesetzes. Im Falle dieser ‚Vorläufigen Maßnahmen‘ ist zwar die Exekutive der Initiator des Gesetzgebungsverfahrens, die endgültige Entscheidung über ihre Annahme oder nicht liegt aber bei der Legislative. Abgesehen von dieser Ausnahme und dem Fall der ‚Autonomen Dekrete‘ (Art. 84, VI der brasilianischen Verfassung), die einen begrenzten Zweck haben und sich nicht direkt mit den Grundrechten befassen, beschränkt sich die normative Funktion der Exekutive auf untergesetzliche Normsetzung, d. h. auf Normen, deren Grundlage für die unmittelbare Gültigkeit das Gesetz ist. Was den normativen Aspekt der sozialen Grundrechte anbelangt, kann die Exekutive als sekundärer Adressat der verfassungsrechtlichen Handlungsgebote betrachtet werden. Andererseits besteht die typische Funktion der Exekutive – über diese sekundär-­ normative Funktion hinaus – in der Anwendung der Gesetze und der untergesetz­ lichen Rechtsvorschriften in den konkreten Rechtsbeziehungen durch die Leistungsverwaltung.142 Der Gesetzgeber hingegen wendet die Gesetzgebung in der Regel nicht an. Man kann also sagen, dass die Legislative typischerweise aus 141

Siehe dazu z. B. „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf […]“ 142 In Brasilien kumuliert der Präsident der Republik die Funktionen des Staatsoberhauptes, des Regierungschefs und des Leiters der öffentlichen Bundesverwaltung.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

schließlich im Bereich des normativen Bereiches agiert. Daher kann ein solches Organ nicht als Adressat der positiven faktischen Leistungen angesehen werden. Die Exekutive hingegen agiert sowohl im normativen Bereich als auch im faktischen Bereich, d. h. in der praktischen Umsetzung der Anordnungen der Gesetzgebung. Im normativen Bereich handelt sie im Falle von ‚Vorläufigen Maßnahmen‘ und ‚autonomen Dekreten‘ unmittelbar aus der Verfassung heraus und im Falle einer untergesetzlichen Regelung unmittelbar aus der infrakonstitutionellen Gesetzgebung heraus. Im faktischen Bereich, d. h. bei der Umsetzung normativer Vorgaben in die reale Welt, handelt die Exekutive über die Leistungsverwaltung unmittelbar auf der Grundlage der infrakonstitutionellen Gesetzgebung und nur bedingt direkt ausgehend von der Verfassung. Die Verwaltungsakte als Folge des in Art. 37 der brasilianischen Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Gesetzmäßigkeitsprinzips143 müssen auf einem Gesetz beruhen. Dies wiederum basiert auf der Verfassung. Im brasilianischen Rechtssystem gibt es keine Bestimmungen für die Durchführung von leistungsrechtlichen Verwaltungsakten, die ausschließlich auf der Verfassung basieren. Die Judikative wiederum erscheint als ein tertiärer Adressat der Grundrechte und hat eine subsidiäre Funktion sowohl bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, durch Handlung und Unterlassung, als auch bei der Analyse der Korrektur oder Nichtanwendung der die sozialen Rechte regelnden Gesetzgebung in konkreten Situationen, d. h. der Kontrolle der leistungsrechtlichen Verwaltungsakte.144 Wir sprechen von einer subsidiären Funktion, weil die Intervention der Judikative ein Handeln voraussetzt, dass durch die Diskussion über die Pflicht zur normativen Regelung der sozialen Rechte und / oder die Pflicht zur Anwendung der Verfassung und der regulativen Gesetzgebung in konkreten Beziehungen ausgelöst wurde. Dies alles scheint trivial zu sein. Wenn man jedoch die Dynamik145 der Funktionsweise des Sozialstaats, d. h. seiner institutionellen Beziehungen, mit Blick auf die sozialen Grundrechte in ihrer leistungsrechtlichen Dimension (Bürger-StaatBeziehung) in Brasilien betrachtet, hört die scheinbare Trivialität auf zu existie 143

„Art. 37. Die direkte und indirekte öffentliche Verwaltung aller Gewalten des Bundes / der Union, der Bundesstaaten, des Bundesdistrikts und der Kommunen gehorcht den Prinzipien der Legalität, Unpersönlichkeit, Moral, Öffentlichkeit und Effizienz […].“ 144 Die Einzelheiten der Rolle der Judikative in dieser Gleichung und die Entfaltung der Funktionen von Legislative und Exekutive werden unter einem spezifischen Thema analysiert. 145 Der Begriff wird hier in dem von Kelsen vorgeschlagenen Sinne aus der Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Rechtstheorie übernommen: „[…] ob die Erkenntnis auf die durch Akte menschlichen Verhaltens erzeugten, anzuwendenden oder zu befolgenden Rechtsnormen oder auf die durch Rechtsnormen bestimmte Akte der Erzeugung, Anwendung oder Befolgung gerichtet ist, kann man eine statische und eine dynamische Theorie des Rechts unterscheiden. Die eine hat das Recht als ein System von in Geltung stehenden Normen, das Recht in seinem Ruhezustand, die andere den Rechtsprozeß, in dem das Recht erzeugt und angewendet wird, das Recht in seiner Bewegung, zum Gegenstand.“ Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 72.

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ren, sowohl aus der Sicht der Rechts- und Staatstheorie als auch aus der Sicht der Verfassungsdogmatik, genauer gesagt der Grundrechtsdogmatik. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Verfassung und Staat und der Organisation der Funktionsweise des Leistungsstaates durch die brasilianische Verfassung stellen beispielsweise die oben beschriebenen Schemata 1 und 2 das dar, was Jestaedt an der Idee der Konstitutionalisierung des Rechtssystems kritisiert, nämlich die Vorstellung, dass die Verfassung bereits materiell alles Geschehen bestimmt (Entstufung der Rechtsordnung).146 Es gibt unzählige Anzahl von Fälle, in denen die Rechtsprechung in Brasilien die Verfassung trotz fehlender gesetzlicher Regelung oder nicht selten sogar gegen das Gesetz direkt auf konkrete Rechtsverhältnisse anwendet.147 Die Frage der Grundrechtsadressaten wird überflüssig, da der „Staat“ allgemein als Adressat der sozialen Grundrechte angesehen wird. In Ermangelung einer gesetzlichen Regelung wird z. B. die Exekutive stillschweigend als primärer Adressat der verfassungsrechtlichen Handlungsgebote angesehen, da davon ausgegangen wird, dass sie trotz fehlender Ermächtigung148 handeln sollte, was dem Gesetzmäßigkeitsprinzip widerspricht. Bei der Gewährung von Leistungen im Gegensatz zur Gesetzgebung wird die Funktion der Legislative als primärer Adressat der Handlungsgebote zur Umsetzung normativer Leistungen vernachlässigt, oft ohne angemessene Kontrolle der Verfassungs­mäßigkeit der Gesetzgebung, indem die gesetzliche Bestimmung einfach durch etwas ersetzt wird, das die Richtenden für besser oder angemessener halten. In beiden Fällen bedeutet dies, dass der formale Aspekt der Verfassung vernachlässigt wird, insbesondere derjenige, der sich auf die Kompetenzen bezieht, also wer (welches Staatsorgan) was tun soll (faktische und normative Leistungen), was auch durch den in der Verfassung festgelegten Umgang mit den sozialen Rechten bestimmt wird. Die Rede von Grundrechten auf faktische Leistungen setzt ein staatliches Handlungsgebot zu faktischen Leistungen voraus, die nur unmittelbar an die Exekutive, genauer gesagt an die Leistungsverwaltung, gerichtet werden kann. Aber in der Regel muss, wie oben erwähnt, das Verhalten der Verwaltung auf der Grundlage von Gesetzen erfolgen. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip ist auch im Wirkungsbereich 146 Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, S. 1319. 147 Siehe dazu u. D. II. 3. h). 148 Hier wird der Begriff wieder in dem von Kelsen vorgeschlagenen Sinne verwendet. Ermächtigung: „[…] wenn dem anderen eine gewisse Macht verliehen wird, insbesondere die Macht, selbst Normen zu setzen.“ Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 4. „Ermächtigt durch ein Gesetz, das ist eine generelle Norm, konkrete Fälle zu entscheiden, wendet der Richter, mit seiner eine individuelle Norm darstellenden Entscheidung, das Gesetz auf einen konkreten Fall an.“ Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15. Die gleiche Argumentation gilt für das Vorgehen der Leistungsverwaltung: „Die der Regierung unterstellten Verwaltungsbehörden haben, insbesondere als Polizeiorgane, generelle Strafsanktionen statuierende Rechtsnormen anzuwenden und diese Funktion unterscheidet sich von der der Rechtsprechung der Gerichte nicht durch ihren Gehalt, sondern nur durch die Natur des funktionierenden Organs.“ Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 267.

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des Sozialstaates zu beachten. Wenn es kein Gesetz gibt, das ein soziales Grundrecht in seinem Leistungsaspekt regelt, hat die Verwaltung keine Ermächtigung, die Leistung zu materialisieren. Es ist dabei zu beachten, dass die infrakonstitutionelle Gesetzgebung die Rolle hat, die Struktur der Leistungsverwaltung (Organisationspflicht) selbst zu schaffen. Darüber hinaus verleiht die Gesetzgebung einerseits die materiellen Konturen der von der Verwaltung zu verwirklichenden Leistungen und andererseits die Verfahren, auf die sich diese Aktion stützt (Pflicht zur Festlegung des Verfahrens). Handlungsgebote zu Organisation und Verfahren, sowie die entsprechenden Organisations- und Verfahrensrechte, sind hier als Begleiterscheinungen der Handlungsgebote zur Gesetzgebung (Handlungsgebot zum normativen Handeln) und des Rechts auf Gesetzgebung verstanden. Ohne diese formellen und materiellen Konturen durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung ist es nicht einmal möglich, sich vorzustellen, wie der Sozialstaat und damit die Leistungsverwaltung funktionieren soll und kann. Dies bedeutet, dass die Ausübung des Rechts auf eine faktische Leistung an die vorherige Erfüllung einer Reihe von staatlichen Handlungsgebote zu normativen Leistungen gebunden ist, eine Hauptfunktion der Legislative und, in Ausnahmefällen, der Exekutive. Wenn dieser Aussage zutrifft, ist keines der oben genannten Schemata (1 und 2) richtig. Aus der Sicht der Grundrechtsdogmatik sind die Rechte auf faktische und normative Leistungen keine eigenständige Spezies der Gattung Leistungsrechte und befinden sich, was die Dynamik des Funktionierens des Sozialstaates betrifft, nicht auf derselben hierarchischen Ebene (Schema 1). Im Gegenteil, die Ausübung eines sozialen Grundrechts auf eine faktische Leistung setzt in der Regel die vorherige Verwirklichung eines Rechts als normative Leistung voraus. Angesichts solcher Aussagen, und mit Blick auf die Adressaten der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung, wäre es richtig zu sagen, dass die Regel lautet, dass es keine sozialen Grundrechte auf faktische Leistungen gibt, die direkt aus der Verfassung abgeleitet werden können, d. h., es gibt keine originären sozialen Grundrechte auf faktische Leistungen. Wenn dies der Fall ist, besteht nicht nur keine Symmetrie zwischen den Konzepten des Rechts auf originäre und derivative Leistungen (Schema 1), sondern auch zwischen ihnen und den Konzepten der Rechte auf faktische und normative Leistungen (Schema 2). Die brasilianische Verfassung sieht textlich nur eine Ausnahme zu dieser Aussage vor. Deshalb wird gesagt, dass „in der Regel“ Rechte auf faktische Leistungen (nur) derivative Rechte sind. Das Recht auf Grund(Schul)bildung ist das einzige Beispiel, das in der Verfassung als subjektives Recht formuliert ist. In Art. 6 ist das Recht auf Bildung als soziales Grundrecht allgemein vorgesehen. Ab Art. 208 werden die Auswirkungen dieses Rechts durch die Verfassung geregelt: „Art. 208. Die Verantwortung des Staates für Bildung wird durch folgende Garantien erfüllt: I – obligatorische und kostenlose Grund(Schul)bildung von 4 (vier) bis 17 (sieb-

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zehn) Jahren, einschließlich des kostenlosen Angebots für jene, die im entsprechenden Alter keinen Zugang zu ihr hatten; II – progressive Universalisierung des kostenlosen zweiten Abschnitts der Schulbildung [dem deutschen Gymnasium vergleichbar, P. M.]; […]; IV – frühkindliche Bildung im Kindergarten und in der Vorschule für Kinder bis 5 (fünf) Jahre; § 1 Der Zugang zur obligatorischen und kostenlosen Bildung ist ein subjektives öffentliches Recht. § 2 Das Nichtanbieten der obligatorischen Schulbildung durch die öffentliche Hand oder ein nichtregelmäßiges Angebot legt der zuständigen Behörde weitere Verantwortung auf.“149 Dies sagt nichts anderes, als dass aus der Perspektive des Verfassungstextes die Nichterfüllung des verfassungsmäßigen Handlungsgebots zur Bereitstellung von Pflichtschulbildung, die die Ausübung dieses Rechts in der Praxis verhindert, beispielsweise das Fehlen von freien Stellen, direkte praktische Konsequenzen hat. Daher kann dieses Recht ausnahmsweise als ein Recht auf eine originäre faktische Leistung, das Recht auf eine freie Stelle in der Schule, interpretiert werden. Im Gegensatz zur Grund(Schul)bildung wurde die kostenlose weitere Schul­ bildung nicht als subjektives öffentliches Recht formuliert, sondern als typischer Fall der Staatszielbestimmung, deren universeller Zugang ein Ziel ist, das in progressiver Weise angegangen werden muss (Art. 208, II). Es ist zu beachten, dass das in Art. 6 allgemein vorgesehene Recht auf Bildung innerhalb der Verfassung selbst Nuancen in Bezug auf das Objekt dieses Rechtes aufweist. Bei diesem Aspekt des Rechts auf Bildung ist die Frage zu stellen, ob die Pflicht zur Universalisierung, die ein von der Verfassung auferlegtes Ziel ist, subjektivierbares Recht ist. Wahrscheinlich nicht. Hier gilt die vom BVerfG in der Numerus Clausus-­Entscheidung vorgenommene Differenzierung zwischen einem Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Ausbildungseinrichtungen und einem Individualanspruch auf Schaffung von Studienplätzen.150 Das Recht auf Schulpflicht ist ein soziales Recht auf eine originäre faktische Leistung. Die anderen Auswirkungen des Rechts auf Bildung, die über diese Inhalte hinausgehen, sind nur Rechte auf eine normative Leistung. Die praktische oder faktische Ausübung des Rechts, mit Ausnahme des Rechts auf obligatorische Grund(Schul)bildung, hängt von der infrakonstitutionellen Regelung ab, es handelt sich also um ein Recht auf eine derivative faktische Leistung, d. h. um ein Recht auf Teilhabe an der öffentlichen Bildungspolitik. Wie sieht es mit dem normativen Aspekt des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte aus? Ist es möglich, die Existenz von Rechten auf eine bestimmte Gesetzgebung, d. h. Rechte auf Erlass von Leistungsgesetzen, direkt auf der Grundlage der brasilianischen Verfassung zu verteidigen – originäre Rechte auf 149

Per Gesetz: Vorschule: 0 bis 6 Jahre; Grund(Schul)Bildung: Dauer: 9 Jahre, 1. bis 9. Jahrgang Weiterführende Schulbildung: Dauer 3 Jahre, 10. bis 12. Jahrgang Hochschulbildung. Danach: Hochschul- oder sonstige Ausbildung. 150 BVerfG 33, 303 – Numerus Clausus I.

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normative Leistungen? Unter dem Gesichtspunkt der Analyse der im Verfassungstext vorgesehenen Adressaten und Kontrollinstrumente der Verfassungsmäßigkeit ist die Antwort positiv. Die Formulierung der sozialen Rechte als unmittelbar anwendbare Grundrechte, obwohl sie durch die Grammatik der Staatszielbestimmungen erfolgt, bindet die drei Gewalten des Staates. Man kann also von einer Pflicht zur normativen Leistung (normatives Handlungsgebot) des Staates sprechen, die darauf gerichtet ist, die sozialen Grundrechte in ihrem Leistungsaspekt auszugestalten. Darüber hinaus sieht die Verfassung – im Gegensatz zu Bestimmungen, die der Rechtsvergleich aufzeigt – ausdrücklich die Mandado de Injunção-Klage als Instrument zur konkreten Kontrolle verfassungswidriger Unterlassungen vor, die von jedem Bürger oder jeder Gruppe von Bürgern in Situationen eingesetzt werden kann, in denen das Fehlen von Regulierungsregeln die Ausübung der Grundrechte verhindert, einschließlich der sozialen Rechte: „Art. 5, LXXI – die Mandado de Injunção-Klage ist zu zulassen, wenn verfassungsmäßige Rechte und Freiheiten, sowie die mit der Staatsangehörigkeit, Souveränität und Staatsbürgerschaft verbundenen Vorrechte wegen Fehlens einer Regulierungsnorm nicht ausgeübt werden können.“ Mit anderen Worten: Die Nichteinhaltung eines positiven staatlichen Handlungsgebots, die sozialen Grundrechte so zu regeln (normatives Handlungsgebot), dass sie ausgeübt werden können, kann zu einer Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung führen. Diese Verfassungswidrigkeit durch Unterlassung, sofern sie konkret die Unmöglichkeit der Ausübung eines sozialen Grundrechts begründet, kann wiederum von der Verfassungsgerichtsbarkeit, genauer gesagt vom Obersten Bundesgerichtshof (STF), durch eine Mandado de Injunção-Klage kontrolliert werden.151 In Anbetracht dessen kann gesagt werden, dass die in der brasilianischen Verfassung verankerten sozialen Grundrechte den primären Inhalt eines Rechts auf originäre positive normative Leistungen haben. Die Rechte auf die faktische Leistung sind in der Regel aus der infrakonstitutionellen Gesetzgebung abgeleitet, welche das von der Verfassung auferlegte Handlungsgebot zur normativen Leistung erfüllt. Am Beispiel des Rechts auf Gesundheit wird gegen das von den meisten Lehrmeinungen und der Rechtsprechung Verteidigte angenommen, dass die Art und Weise, wie die Verfassung ein solches Recht formuliert, d. h. als unmittelbar anwendbares Recht (Art. 5 Abs. 1 und Art. 6), aber gleichzeitig als Staatszielbestimmung bzw. als Gesetzesauftrag (Art. 196), unter dem Gesichtspunkt der Subjektivierungsmöglichkeit nur ein normatives Leistungsrecht und ein Teilhaberecht an der vorhandenen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Gesundheitswesen impliziert. Die Verfassung garantiert kein unmittelbar originäres faktisches Leistungsrecht auf Gesundheit. 151

Art. 5, LXXI in Verbindung mit Art. 102, I, q der brasilianischen Verfassung.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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soziale Grundrechte

Abwehrrechte

Leistungsrechte

originäre normative Leistung

originäre faktische Leistung – Ausnahme (Recht auf Grund(Schul)Bildung)

derivative faktische Leistung Schema 3

g) Zwischenfazit Die brasilianische Verfassung positivierte eine Reihe sozialer Rechte als Grundrechte mit direkter Anwendbarkeit und machte diese damit für die drei Staatsgewalten verbindlich. Trotz dieser direkten Anwendbarkeit sind diese Rechte als typische Staatszielbestimmungen formuliert. Um diesen scheinbaren Widerspruch kompatibel zu machen, wird hier argumentiert, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der sozialen Grundrechte in der Art und Weise erfolgt, wie die Verfassung sie festlegt (nach Maßgabe der Verfassung, Art. 6), d. h., eine gemeinsame Lektüre des Grundrechtekapitels und des Kapitels der Sozialordnung ist erforderlich. Die Funktionsfähigkeit der sozialen Grundrechte setzt das Handeln des Staates voraus. Vor diesem Hintergrund sind diese Rechte nicht ohne eine Analyse der verfassungsmäßig festgelegten operativen Aufgaben des Staates (Handlungsgebote) denkbar. In der Regel sind solche Handlungsgebote in erster Linie auf das normative Handeln des Staates und in zweiter Linie auf sein faktisches Handeln gerichtet. Aufgrund des Gesetzmäßigkeitsprinzips setzt das eine das andere voraus. Mit anderen Worten, der primäre Adressat eines solchen Handlungsgebots ist die Legislative, die die Pflicht hat, durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung den Inhalt der in der Verfassung vorgesehenen staatlichen Leistungen, sowie die Struktur und Organisation, aus der die Leistungsverwaltung, die Teil der Exekutive ist, zur Verwirklichung dieser Leistungen tätig wird, zu präzisieren. Die Exekutive ist in der Regel nur sekundärer Adressat dieser Aufgaben. Aus normativer Sicht muss sie in der Regel den Inhalt der infrakonstitutionellen Gesetzgebung präzisieren. Aus faktischer Sicht konkretisiert sie die Leistungen durch die Leistungsverwaltung auf der Grundlage der unterverfassungsrechtlichen und untergesetzlichen Gesetzgebung. Was als subjektives Grundrecht denkbar und gestaltbar ist, hängt von diesem komplexen Prozess des normativen und faktischen Handelns des Staates ab. Die

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sozialen Grundrechte sind in der Regel die Begleiterscheinung dieser Handlungsgebote, die von der Verfassung ausgehen, die verschiedene normative Ebenen durchlaufen, die den Inhalt der Leistung schrittweise präzisieren und in dem Verwaltungsakt enden, der eine faktische Leistung gewährt oder verweigert. Vor diesem Hintergrund wird hier neben einem Verhältnis von Grundrechten und staatlicher Tätigkeit die Konzeption verteidigt, dass die sozialen Grundrechte in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zum verfassungsrechtlichen Handlungsgebote stehen. Inhaltlich sind die sozialen Grundrechte in erster Linie originäre Rechte auf normative Leistungen. In dem Maße, in dem die Legislative ihre primäre normative Pflicht in einer mit der Verfassung vereinbaren Weise erfüllt, ist dieses originäre Recht erfüllt. Die Betrachtung der sozialen Grundrechte als Rechte auf derivative faktische Leistungen hängt von dieser primären normativen Erfüllung ab, d. h. es handelt sich um Rechte auf Beteiligung an den öffentlichen Politik, die in der infrakonstitutionellen Gesetzgebung vorgesehen sind – also in die Zuständigkeit der Legislative gehören (Schema 3).152 Die Pflicht der Exekutive, die bereits bestehende infrakonstitutionelle Gesetzgebung normativ zu präzisieren, und die Pflicht, die in der Gesetzgebung vorgesehenen Anordnungen in der Praxis auszuführen, stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Verfassung. Mit anderen Worten: Es gilt die Regel, dass die sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung keine Rechte sind, die zu faktischen Leistungen berechtigen. Die Judikative ist dritter Adressat der sozialen Grundrechte. Sie nimmt bei der Analyse der Dynamik des Leistungsstaates verschiedene Facetten an. Die Besonderheiten ihrer Kompetenzen werden in einem eigenen Abschnitt analysiert.153

2. Die Notwendigkeit einer Bereichsdogmatik der unterschiedlichen sozialen Grundrechte: Vielfalt in der Einheit Bisher wurden die allen oder fast allen in der Verfassung vorgesehenen sozialen Rechten gemeinsamen Merkmale ohne Anspruch auf Vollständigkeit in den Fragen eines allgemeinen Teils der Dogmatik der sozialen Grundrechte (Einheit in der Vielheit) dargestellt. Aus der Sicht des Objekts oder Gegenstandes der sozialen Grundrechte, d. h. der Leistungen, die die Bürgerinnen und Bürger vom Staat verlangen können, ist es jedoch wichtig, jedes einzelne in der brasilianischen Verfassung positivierte soziale Grundrecht unter Berücksichtigung der erwähnten Heterogenität hinsichtlich der Adressaten und der Inhalte, mit denen diese Rechte positiviert wurden, im Detail zu analysieren – entsprechend der Bezeichnung von Müller als

152 Dies impliziert ein anderes Verständnis der Relation zwischen den Grundrechten auf originären und derivativen Leistungen als sie von der deutschen Lehrmeinung konzipiert wird. 153 S. u. D. III.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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Bereichsdogmatik.154 Eine solche Analyse wird hier jedoch nicht vorgenommen. Die bisher konstruierten dogmatischen Hypothesen werden ausschließlich anhand des in der brasilianischen Verfassung verankerten Grundrechts auf Sozialversicherung analysiert. Mit anderen Worten, von nun an wird eine Bereichsdogmatik des leistungsrechtlichen Gehalts des Grundrechts auf Sozialversicherung (Vielfalt in der Einheit) entwickelt.

3. Der (leistungsrechtliche) Gehalt des Grundrechts auf Sozialversicherung – Bereichsdogmatik als Vielfalt in der Einheit Wie bereits erwähnt, ist das Grundrecht auf Sozialversicherung in der brasilianischen Verfassung im Bereich der Grundrechte und Garantien in Art. 6 und unter dem Abschnitt „Sozialordnung“ in Art. 201 und 202 vorgesehen, genauer gesagt als eine der Weiterentwicklungen des Bereichs der „Sozialen Sicherheit“, der Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe in Betracht zieht. Obwohl das Grundrecht auf Sozialversicherung im Kapitel „Soziale Sicherheit“ behandelt wird, gibt es wichtige Unterschiede in Bezug auf das Grundrecht auf Gesundheit und das Grundrecht auf Sozialhilfe. Es ist im Besonderen ein Recht, das erst mit der Verfassung von 1988 auf eine verfassungsmäßige Ebene gehoben wurde, obwohl es jahrzehntelang als unterverfassungsmäßiges Recht existierte. Wie andere soziale Rechte kann es die Dimension der Abwehr und die Dimension der Leistung annehmen. Es hat die Merkmale eines Abwehrrechts, wenn die Verfassung beispielsweise von den Zielen spricht, die die Soziale Sicherheit leiten, wie „Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit der Leistungen und Dienstleistungen für die Stadt- und Landbevölkerung“ (Art. 194, Einziger Absatz, II) oder wenn die Verfassung das „Verbot der Verringerung des Wertes der Leistungen“ (Art. 194, Einziger §, IV) festlegt. Solche Bestimmungen können als Begrenzung für die unterschiedliche Behandlung von städtischer und ländlicher Bevölkerung und als Begrenzung für die Ver 154

In diesem Sinn schreibt Müller: „Wegen des normativen Stellenwertes der sachlich jeweils unterschiedlich geprägten Normbereiche der einzelnen Grundrechte kann deren Dogmatik nur in der Mehrzahl entwickelt werden, d. h. eine Anzahl von Bereichsdogmatiken jedes einzelnen Grundrechts.“ Müller / Pieroth / Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, S. 118. Ähnlich bei Gellermann: „Diese einzelgrundrechtlichen Sollensanordnungen bilden den Maßstab, an denen sich die ausgestaltenden Aktivitäten des Gesetzgebers messen lassen müssen. Dabei können – wie sich schon am Beispiel der Institutsgarantien der Ehe und des Eigentums zeigt – den objektiven Grundrechtskomponenten durchaus gehaltvolle Vorgaben abgewonnen werden, über die sich der ausgestaltende Gesetzgeber nicht hinwegsetzen darf. Welche dies im einzelnen sind, entzieht sich allerdings einer pauschalen Beurteilung. Einerseits variieren sie von Grundrecht zu Grundrecht, andererseits versammeln sich unter der Flagge der normativen Ausgestaltung ganz unterschiedliche Erscheinungen, die über ihre jeweils eigenen Besonderheiten verfügen mögen.“ Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 295.

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ringerung des Wertes von Leistungen interpretiert werden. Hier interessieren vor allem der leistungsrechtliche Gehalt eines solchen Rechts und seine Auswirkungen. Einige Charakteristiken der Positivierung des Grundrechts auf Sozialversicherung sind hervorzuheben.

a) Das Verhältnis zwischen den sozialen Grundrechten und der Sozialen Ordnung in der brasilianischen Verfassung: die horizontale Regulierungsdichte als Richtlinie Wenn die brasilianische Verfassung in ihrem Art. 6 das Recht auf Sozialversicherung als Sozialgrundrecht vorsieht, trifft sie folgende Festlegungen: „Soziale Grundrechte, nach Maßgabe dieser Verfassung, sind […] das Recht auf Sozialversicherung […].“ Die Festlegung „nach Maßgabe dieser Verfassung“ bedeutet in Bezug auf das Grundrecht auf Sozialversicherung, dass es eine Regelung dieses Rechts in der Verfassung gibt. Um bereits auf verfassungsrechtlicher Ebene zu wissen, was der Inhalt dieses Rechts ist und was seine unmittelbare Anwendbarkeit gemäß Art. 5, § 1 bedeutet, ist eine Interpretation erforderlich, die sich nicht auf den allgemeinen Text von Art. 6 beschränkt. In Art. 201 gibt die Verfassung als Teil der „Sozialen Ordnung“ dem in Art. 6 im Kapitel über Grundrechte und -garantien vorgesehenen Recht auf Sozialversicherung formale und materielle Konturen: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf: I. Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten; II. Beihilfe zum Unterhalt für abhängige Angehörige des Versicherten mit geringem Einkommen; III. Schutz der Mutterschaft, besonders der schwangeren Frauen; IV. Schutz des unfreiwillig arbeitslosen Arbeitnehmers; V. Zahlung einer Pension / Rente an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202.“ In diesem Sinne verleiht das Kapitel der Sozialen Ordnung dem Grundrecht auf Sozialversicherung eine größere „horizontale Regulierungsdichte“. Darüber hinaus gibt es eine explizite Delegation der Verfassung an den unterverfassungsrechtlichen Gesetzgeber zur Regelung (Ausgestaltung) eines solchen Rechts („nach Maßgabe des Gesetzes“). Wenn von horizontaler Regulierungsdichte gesprochen wird, ist das so zu verstehen, dass es keinen Geltungsvorrang zwischen den Vorschriften der Verfassung gibt, weil sie auf der gleichen hierarchischen Ebene liegen. Es ist jedoch möglich, in diesem Kontext von einem Anwendungsvorrang zu sprechen. So schriebt z. B. Reimer: „Anwendungsvorrang ist die Eigenschaft, durch die eine Norm gegenüber einer anderen Norm zur Begründung von Rechtsfolgen überhaupt herangezogen werden darf. Grundregel ist hier der lex-specialis-Satz: Aus der Auslegung der be-

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trachteten Normen ergibt sich, ob sie in einem Spezialitätsverhältnis stehen. Bejahendenfalls ist die lex specialis vorrangig anwendbar. Dies gerade ist ihr Sinn. Geltungsvorrang ist die generelle inhaltliche Überordnung einer Norm gegenüber einer anderen […].“155 Die Verwendung des lex-specialis-Satzes ist nicht nur anwendbar, wenn theoretisch zwei verschiedene Gesetze auf einen Fall anwendbar sind, sondern auch innerhalb derselben Gesetzgebung oder innerhalb der Verfassung. Das Verständnis der unmittelbaren Anwendbarkeit des Grundrechts auf Sozialversicherung setzt somit eine gemeinsame Interpretation von Art. 6 und Art. 201 voraus, wobei die Bestimmungen des letzteren in Bezug auf die Bestimmungen von Artikel 6 lex spezialis sind. Um die Terminologie Alexys aufzugreifen: Die Verfassung selbst stellt eine Präzisierungsrelation156 des Grundrechts auf Sozialversicherung auf, wenn sie festlegt, dass einer der Inhalte dieses Rechts beispielsweise der Schutz von Invaliditätsfällen ist. Die strukturellen und semantischen Präzisierungsrelationen, die nach Alexys Modell als Ergebnis von Abwägungen von einer ganzen Reihe von BVerfG-Entscheidungen – die zugeordnete Grundrechtsnormen157 generieren – abhängig sind, kommt in der brasilianischen Verfassung bereits in einer erheblichen Spezifität zum Ausdruck. Das von Reimer hervorgehobene Lex-spezialis-Kriterium oder der Spezialitätsverhältnis-Gedanke werden hier nicht zur Lösung eines Widerspruchs verwendet, der für Alexy durch Abwägung gelöst wird, sondern zur Anleitung der Interpretation im Bereich der Dogmatik und der praktischen Anwendung von Verfassungsvorschriften, die in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Mit anderen Worten, es gibt keinen Widerspruch oder keine Kollision zwischen Art. 6 und Art. 201 der Verfassung, sondern eine Präzisierungsrelation oder Spezifizierung auf der gleichen hierarchischen Ebene, die einen Anwendungsvorrang des Art. 201 impliziert. Die hier vertretene Hypothese ist, dass dieser Anwendungsvorrang von Normen, die auf der gleichen hierarchischen Ebene stehen, in diesem Fall der Verfassungsebene, darauf zurückzuführen ist, dass, je dichter / präziser die Verfassungsbestimmung ist, umso klarer ist sie verpflichtend und bestimmt damit das vom Staat umzusetzende Handlungsgebot. In dieser Linie liegt Sommermanns Position: „Je dichter die Staatszielstruktur einer Verfassung gewoben wird, desto stärker wird der politische Prozess reglementiert und die für eine Demokratie lebensnotwendige Konkurrenz von Problemlosungsstrategien und Meinungen über die Ziele staatlichen Handelns eingeengt.“158

155 Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 294–295, in Anlehnung an Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 42. 156 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 157 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 60. 158 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 374.

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Da der Leistungsgehalt der sozialen Grundrechte in einem direkten Zusammenhang mit dem Handlungsgebot des Staates steht, muss das, was der Staat dem Bürger schuldet, notwendigerweise einen Analyseprozess dieses in der Verfassung bestehenden Präzisierungszusammenhangs durchlaufen. Aus der Sicht der Dogmatik, deren Funktion es ist, die Praxis zu leiten, und die auf der abstrakten Ebene arbeitet, indem sie Konzepte und Systematisierungen aus den normativen Texten und der sich auf diese Texte beziehenden Rechtsprechung konstruiert, ist es möglich, von einem Interpretationsvorrang der spezifischeren oder dichteren Verfassungsvorschriften als Richtlinie zu sprechen. b) Das Grundrecht auf Sozialversicherung als Teil der Sozialen Sicherheit: Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe Das Grundrecht auf Sozialversicherung ist in der brasilianischen Verfassung als Teil der Sozialen Sicherheit konzipiert, die auch die Rechte auf Gesundheit und auf Sozialhilfe umfasst. Die soziale Sicherheit wird in Art. 194 festgelegt und beschrieben: „Die Soziale Sicherheit umfaßt ein zusammenhängendes Ensemble von Maßnahmen des Staats und der Gesellschaft, die darauf zielen, die sich auf Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe beziehenden Rechte zu gewährleisten. Einziger §. Dem Staat obliegt es, die soziale Sicherheit nach Maßgabe des Gesetzes zu organisieren und an den folgenden Zielsetzungen auszurichten: I. umfassende Absicherung aller Bürger; II. Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit der Leistungen und Dienstleistungen für die Stadt- und Landbevölkerung; III. spezialisiertes und umfassendes Angebot an Leistungen und Dienstleistungen; IV. Verbot der Verringerung des Wertes der Leistungen; V. Gleichheit bezüglich der Art der Kostenbeteiligung; VI. Diversität der Finanzierungsgrundlagen; VII. demokratischer und dezentralisierter Charakter der Verwaltung unter Beteiligung der Gesellschaft, besonders der Arbeitnehmer, Unternehmer und Rentner.“ Obwohl sie Teil einer allgemeineren Organisation, der Sozialen Sicherheit, sind, gibt es wichtige Unterschiede zwischen den Rechten auf Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe, wenn man die jeweiligen Ziele und die damit in jedem Bereich fälligen Leistungen analysiert. Die „umfassende Absicherung aller Bürger“ ist zum Beispiel kein Merkmal der Sozialversicherung, da zwei ihrer Säulen die in Art. 201 vorgesehene Beitragszahlung und die Pflichtmitgliedschaft sind. Mit anderen Worten: Nur wer finanziell zur Sozialversicherung beiträgt, hat Anspruch auf die in der Verfassung vorgesehenen Leistungen. Diese Beitragszahlung umfasst wichtige Fragen des Umgangs mit dem Recht auf Sozialversicherung und grenzt es z. B. von anderen sozialen Rechten ab.159 Die Gesundheit hingegen ist als „Recht eines jeden“ vorgesehen, d. h. sie ist 159

Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshof (STF), die den Beitragscharakter betonen.

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gemäß Art. 194 unabhängig vom Beitrag und vom sozioökonomischen Niveau des Einzelnen. Die Sozialhilfe hingegen setzt keinen Beitrag zur Sozialen Sicherheit voraus, sondern ist nach Art. 203 der Verfassung ausschließlich für „Bedürftige“ bestimmt. Die Universalität der Abdeckung geht in diesem Zusammenhang von anderen Nuancen aus als beim Recht auf Gesundheit. c) Teleologie des Grundrechts auf Sozialversicherung (immanente Teleologie)  Wie bereits mehrfach erwähnt, gibt es schon auf der Ebene der Verfassung mehr oder weniger klare Umrisse für den Inhalt der Grundrechte auf Sozialversicherung. Zu den spezifischen Zielen der Sozialversicherung gehören (Art. 201): „I. Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen, einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten; II. Beihilfe zum Unterhalt für abhängige Angehörige des Versicherten mit geringem Einkommen; III. Schutz der Mutterschaft, besonders der schwangeren Frauen; IV. Schutz des unfreiwillig arbeitslosen Arbeitnehmers; V. Zahlung einer Pension / Rente an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202.“ Solche Ziele und horizontale Unterziele160 können als eine immanente oder objektive Teleologie dieses Grundrechts entwickelt werden. Es ist diese Teleologie, die festlegt, welches Verhalten der Staat in diesem Bereich umsetzen soll. Es ist daher unnötig, auf Werte oder Prinzipien zurückzugreifen, um dem Ganzen, d. h. den Konturen des Grundrechts auf Sozialversicherung, eine strukturelle und semantische Bestimmtheit161 zu verleihen, wenn der Verfassungstext selbst das bereits tut. Allerdings ist es nicht möglich, aus der verfassungsrechtlichen Auslegung den vollen Umfang der staatlichen Handlungsgebote und damit den Gehalt des Grundrechts auf Sozialversicherung zu kennen. Der Umfang der Abdeckung der genannten Ereignisse, d. h. dessen, was der Staat zum Schutz dieser Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun hat, ist in der Verfassung nicht in seiner Gesamtheit festgelegt. Die Verfassung selbst delegiert die Aufgabe, diese Konfigura­ tion zu erreichen, an die infrakonstitutionelle Gesetzgebung und damit an den Gesetzgeber. Hier wird die Notwendigkeit der Interaktion zwischen der Verfassung und der infrakonstitutionellen Gesetzgebung deutlich – nicht als eine theoretische Konstruktion, sondern als eine Anweisung, die aus dem Verfassungstext selbst hervorgeht. Anders ausgedrückt: Die Art und Weise, wie der Staat die von der Verfassung bestimmten Lebensbereiche schützen wird, steht der Ausformung durch den Gesetzgeber offen (Ausgestaltungsspielraum162). 160

Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 385. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57–59. 162 Zum Begriff s. BVerfG, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14 – 1 BvL 4/14. 161

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d) Konstitutionalisierung, Gesetzmäßigkeit der Verfassung und Historizität des Rechts auf Sozialversicherung Ein weiterer Punkt, der für die Analyse des Grundrechts auf Sozialversicherung von Interesse ist, ist die Tatsache, dass es eine lange Tradition infrakonstitutionellen Vorlaufs gibt, die mit der Verfassung von 1988 Verfassungsstatus erlangte.163 Dies ist ein Merkmal, das die Sozialversicherung von einigen anderen sozialen Rechten unterscheidet, wie zum Beispiel dem Recht auf Kultur, das erst nach 1988 den Status eines Rechts erlangte. Auch der Zugang zur Gesundheit wurde vor 1988 nicht in einem subjektiven Recht behandelt, d. h. es gab kein theoretisch-dogmatisches Anliegen, die Gesetzgebung bezüglich der Organisation des Gesundheitssystems und der Bereitstellung des Gesundheitsdienstes unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsrechts zu konzeptualisieren und zu systematisieren. Diese Tatsache impliziert Konsequenzen für die Auslegung und wirft die Frage nach der möglichen begrifflichen Autonomie der Verfassung und der möglichen und / oder notwendigen wechselseitigen Beeinflussung zwischen der Verfassung und der unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebung auch in einer diachronen Sichtweise auf. Im Einklang mit dem, was die vorliegende Arbeit verteidigt, wird es nicht nur als fruchtbar, sondern auch als notwendig erachtet, die wechselseitige Beziehung zwischen der Verfassung und der infrakonstitutionellen Gesetzgebung und den Einfluss, den letztere auf sie ausübt, auch vom historischen Standpunkt aus zu verstehen. Die Gefahr eines Verlusts der Autonomie der Verfassungsbegrifflichkeit, die sich aus einer möglichen Interpretation der Verfassung auf der Grundlage der infrakonstitutionellen Gesetzgebung, die Leisner als „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“164 bezeichnete, ergeben würde, wird hier als nicht gerechtfertigt angesehen. 163

Dies ist auch ein Merkmal des Arbeitsrechts, das 1943 erstmals kodifiziert wurde – und zwar durch das Gesetzesdekret Nr. 5452 vom 1. Mai 1943 – und 1988 Verfassungsrang erhielt. 164 Siehe dazu den Dialog zwischen Leisner und Majewski über die „Verfassungsmäßigkeit der Gesetze“ und der „Gesetzmäßigkeit der Verfassung“. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung. Betrachtungen zur möglichen selbständigen Begrifflichkeit im Verfassungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 1964; Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht. Zur Problematik der sogenannten Gesetzmäßigkeit der Verfassung, Berlin: Duncker & Humblot, 1971. Leisners Befürchtung war, dass der Einsatz der Begrifflichkeit der unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebung die selbständige Verfassungsbegrifflichkeit und damit die Normativität von einer allgemeinen Erfüllung „von unten nach oben“ beeinflussen könnte: „Hier wird nun die These auf gestellt: in sehr vielen, in entscheidenden Fällen fehlt dem Verfassungsrecht, bei der Allgemeinheit seiner Formeln, begrifflicher Selbstand. Sein Inhalt wird vielmehr gerade aus Normen, Tradition oder ‚Theorie‘ des niederrangigen Gesetzesrechts gewonnen. Solche ‚Verfassung nach Gesetz‘ bedroht die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Hierarchie der Normen überhaupt, sie gleicht die Verfassung inhaltlich dem einfachen Gesetzesrecht an, macht sie damit ‚gesetzmäßig‘. Mag dies stellenweise gerechtfertigt sein – unkritische Theorie und Praxis könnten es zur Regel und so die Verfassung wirkungslos machen.“ Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, S. 5. Majewski kritisiert die Position Leisners unter anderem mit der Begründung, Leisner gehe von einem rein formalen Verfassungsbegriff aus, der zu einer Aufspaltung der Rechtsordnung führe. Andererseits wendet er sich gegen die Auffassung Häberles in dem

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Denn zentrale Begriffe des Sozialversicherungsrechts sind nun in der Verfassung vorgesehen, wie unter anderem „Sozialversicherungsleistung“, „Versicherte“, „abhängig vom Versicherten“, „Stadt- und Landbevölkerung“, die Teil der oben genannten Tradition sind und seit langem in der unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebung in Betracht gezogen werden, sind bereits vor der Verabschiedung der Verfassung Gegenstand einer konsolidierten Dogmatik in diesem Rechtszweig. Auch im Hinblick auf den Kern der Entwicklungen des Rechts auf Sozialversicherung, wie z. B. „I. Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen, einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten; II. Beihilfe zum Unterhalt für abhängige Angehörige des Versicherten mit geringem Einkommen; III. Schutz der Mutterschaft, besonders der schwangeren Frau; IV: Schutz des unfreiwillig arbeitslosen Arbeitnehmers; V. Zahlung einer Pension an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202.“, gibt es seit langem detaillierte Regelungen in der unterverfassungsrechtlichen Gesetzgebung, die bei der Interpretation der Verfassung nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Wenn es beispielsweise um die in der Verfassung vorgesehene „Versicherung von Krankheits-, Invaliditätsfällen“ geht (Art. 201, I), kann nicht übersehen werden, dass die unterverfassungsrechtliche Gesetzgebung bereits vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für diesen Zweck spezifische Sozialversicherungsleistungen vorsah, wie z. B. „Krankengeld“165 für einen vorübergehend arbeitsunfähigen Versicherten oder die „Invalidenrente“166 bei Personen, die infolge von Krankheit oder Unfall dauerhaft arbeitsunfähig wurden. Die hier skizzierte These lautet, dass es in Fällen konstitutioneller Rezeption dieser infrakonstitutionellen Begrifflichkeit, d. h., wenn die Verfassung Äußerungen positiviert, in diesem Fall bereits in der Tradition des unterverfassungsrechtlichen Rechts konsolidierte Sozialversicherungsleistungen, gibt es keine ausreichenden Gründe für die Aussage, die Verfassung habe mit dieser Tradition gebrochen. Wenn die Verfassung beispielsweise vorsieht, dass die Sozialversicherungsleistungen den Krankheitsfall gesetzlich abdecken, bezieht sie sich auf das jahrzehntelang infraverfassungsrechtlich vorgesehene Krankengeld. Dieses Argument wird noch deutlicher, wenn man Art. 201, V der Verfassung analysiert, der besagt, dass die soziale Sicherheit gesetzlich die „Zahlung einer Sinne, dass „die Verfassung erst durch das Gesetz aktualisiert und präzisiert“ werde. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht, S. 31. Häberles Position zur Ausgestaltungsbedürftigkeit aller Verfassungsnormen wurde oben diskutiert. Majewski plädiert für die Entwicklung eines Zwischenweges, der gleichzeitig die hierarchische Beziehung zwischen Verfassung und Gesetzgebung berücksichtigen kann, sich aber nicht auf eine formale Perspektive der ersteren beschränkt. Das heißt, sie respektiert die begriffliche Autonomie der verschiedenen normativen Ebenen, vernachlässigt aber nicht deren wechselseitiges, formales und materielles Verhältnis. Majewski, Auslegung der Grundrechte durch einfaches Gesetzesrecht, S. 50. 165 Artikel 59 bis 63 des Gesetzes Nr. 8.213/1991. 166 Artikel 42 bis 47 des Gesetzes Nr. 8.213/1991.

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Pension an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202 vorsieht“. Der Todesfall (Art. 201, I) ist durch die Zahlung einer Pension an den Ehegatten (Art. 201,  V) abgedeckt. Die Verfassung hat diesen sozialen Schutz nicht geschaffen, sondern nur konstitutionalisiert.167 Im speziellen Fall der Zahlung einer Pension an Ehegatten sah das Gesetz vor der Verfassung von 1988 eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen vor. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung gab es eine wesentliche Änderung zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen, d. h. eine unterschiedliche Behandlung ist nun verboten (Art. 5ª, I, der brasilianischen Verfassung).168 In diesem Punkt musste die Gesetzgebung nach dem Inkrafttreten der Verfassung angepasst werden. Mit der Verfassung vereinbar blieb jedoch die unterverfassungsrechtliche Bestimmung, die die Konturen des Schutzes beim Ereignis Tod vorgibt. Kurz gesagt, ist es notwendig, dass die unterkonstitutionelle Begriffsbildung, sobald sie einmal konstitutionalisiert wird, die Verfassungsinterpretation leitet, es sei denn, es ist möglich, einen Bruch der Verfassung mit der Tradition zu identifizieren, wie im Fall der unterschiedlichen Behandlung von Männern und Frauen bei der Todesfallrente. Aus diachronischer Sicht gilt die gleiche Argumentationsstruktur, die hier über das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung aus synchroner Sicht oder ad futurum verteidigt wird. e) Das Grundrecht auf Sozialversicherung und das Existenzminimum Die Gewährleistung des Existenzminimums als sich entfaltender Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ist in Deutschland eine der zentralen Grundlagen für die Umdeutung der Grundrechte des Grundgesetzes als Leistungsrechte. Diese Diskussion hat die Debatte in Brasilien beeinflusst und wird es auch weiterhin tun. Das Verhältnis zwischen Existenzminimum und Grundrecht auf Sozialversicherung, das ausgehend von der brasilianischen Verfassung angestrebt wird, wird sich jedoch nicht in die gleiche Richtung entwickeln wie die Diskussion in Deutschland. Zum einen wurde die Menschenwürde in der brasilianischen Verfassung nicht unter der Rubrik Grundrechte positiviert. Vielmehr ist sie eine der Grundlagen des 167

Zu beachten ist, dass der Begriff Konstitutionalisierung hier nicht in dem von Jestaedt kritisierten Sinne als tabula rasa des Rechts verstanden wird. Im Gegenteil, für die Interpretation der Verfassung wird ein direkter Einfluss der historisch betrachteten unterkonstitutionellen Konzepte verteidigt. Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, S. 1319. 168 Artikel 5. „Alle Menschen sind, ohne Unterschied, vor dem Gesetz gleich. Allen Brasilianern und im Lande wohnhaften Ausländern wird die Unverletzlichkeit des Rechts auf Leben, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum wie folgt garantiert: I. Männer und Frauen haben, nach Maßgabe dieser Verfassung gleiche Rechte und Pflichten.“

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demokratischen Rechtsstaats in Brasilien, die in Abschnitt 1, Art, 1, II, „Grundprinzipien“, beschrieben sind: „Art. 1: Die Föderative Republik Brasilien, in Gestalt des unauflöslichen Bundes der Staaten und Kommunen und des Bundes­distrikts konstituiert sich als Demokratischer Rechtsstaat und zählt zu ihren Grundlagen: I. die Souveränität; II. die Staatsbürgerschaft; III. die Menschenwürde; IV. die sozialen Werte Arbeit und freie Initiative; V. den politischen Pluralismus. Einziger §. Alle Gewalt geht vom Volk aus. Sie wird vom Volk durch gewählte Vertreter oder direkt nach Maßgabe dieser Verfassung ausgeübt.“169 Das Verhältnis von Menschenwürde und sozialen Grundrechte wird hier also in dem Sinne verstanden, dass (nur) einige dieser Grundrechte in der Verfassung als Entfaltungen der Menschenwürde postiviert wurden, was in dem bereits vorgestellten Konzept der horizontalen Regelungsdichte ausgedrückt ist. Aus topographischer Sicht erscheint die Klausel der Menschenwürde unter „Grundlagen des Staates“ (Art. 1). Danach sind die Grundrechte und die grundlegenden Garantien vorgesehen, zu denen die sozialen Grundrechte (Art. 5 bis Art. 16) gehören. In struktureller und semantischer Hinsicht sind die Unterlassungs- bzw. Handlungsgebote, die sich aus der Grundrechte-Klausel ergeben, spezifischer als diejenigen, die sich aus der Menschenwürde-Klausel ergeben können, sofern das Verhältnis zwischen letzterer und der Grundrechte-Klausel nicht außer Acht gelassen wird. Mit anderen Worten: Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat ist aus der Sicht der in der Verfassung positivierten sozialen Grundrechte spezifischer als das gleiche Verhältnis aus der Sicht des Schutzes der Menschenwürde, die allgemeiner als Grundlage des Staates verstanden wird (lex spezialis). In Bezug auf das Grundrecht auf Sozialversicherung stellt die Verfassung in Art. 201, § 5 ausdrücklich fest: „§ 5. Keine Leistung, die das der Beitragszahlung zugrundeliegende Einkommen oder das Arbeitseinkommen des Versicherten ersetzt, darf niedriger sein als der gesetzliche monatliche Mindestlohn.“ Art. 7, IV der Verfassung konzeptualisiert den Mindestlohn wie folgt: „IV. gesetzlich festgelegter, national einheitlicher Mindestlohn, ausreichend zur Deckung der Grundbedürfnisse einschließlich der der Familie wie Wohnung, Nahrung, Erziehung, Gesundheit, Freizeit, Kleidung, Hygiene, Transport und Sozialversicherung, mit periodischen Angleichungen zur Sicherung der Kaufkraft […].“170 Es ist daher nicht notwendig, die Menschenwürde-Klausel und damit den Existenzminimum-Gedanken zur Begründung des Grundrechts auf Sozialversicherung zu verwenden, wenn der Verfassungstext selbst dies im Einzelnen tut, auch im Hinblick darauf, was dieses Existenzminimum im (Wirkungs-)Bereich dieses Grundrechts bedeutet. Das Verhältnis zwischen den Grundrechten und der Menschenwürde sowie dem resultierenden staatlichen Handlungsgebot ist bereits im Verfassungstext mit einer gewissen Konkretisierung ausgestaltet worden. 169

Abschnitt II der Verfassung befasst sich mit den Grundrechten und deren Garantien. Diese Formel kommt dem von der BVerfG-Rechtsprechung übernommenen Konzept des Existenzminimums sehr nahe. 170

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Anders gesagt: Es gibt keine Grundlage dafür, basierend auf der MenschenwürdeKlausel durch Interpretation – hier zu verstehen als durch die Justiz (richterlicher Rechtsfortbildung) – Sozialversicherungsleistungen zu schaffen, die nicht in der Verfassung vorgesehen sind. Die Befugnis zur Schaffung dieser Leistungen wird dem Gesetzgeber durch die Verfassung selbst übertragen. So hat das bereits im Verfassungstext festgelegte Verhältnis zwischen Grundrechten und Leistungsstaat, hier genauer gesagt zwischen Leistungsstaat und Sozialversicherungsleistungen, Interpretations- bzw. Anwendungsvorrang gegenüber der allgemeinen Bestimmung der Menschenwürde als Grundlage des Staates.

f) Das Recht auf Sozialversicherung und die Garantie von Freiheit und faktischer Gleichheit (Chancengleichheit) Was über das Verhältnis zwischen dem Recht auf Sozialversicherung und der Menschenwürde-Klausel gesagt wurde, lässt sich auf das Verhältnis dieses Grundrechts zu den Begriffen faktische Freiheit und Gleichheit ausdehnen, zu denen auch der Gedanke der Chancengleichheit gehört. Letztere Konzeptionen dienten auch in der theoretischen und praktischen Diskussion in Deutschland, neben dem Existenzminimum als Entfaltung des Schutzes der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, als Grundlage für die Uminterpretation der Grundrechte im GG in Leistungsrechte. Dieses Verhältnis ist aus dogmatischer Sicht nicht in gleicher Weise zwischen solchen Konzepten und dem Grundrecht auf Sozialversicherung in der brasilianischen Verfassung hergestellt. Es ist nicht so, dass es nicht durchführbar oder ungerechtfertigt wäre, eine Verbindung zwischen dem Grundrecht auf Sozialversicherung und den Begriffen Freiheit und Gleichheit faktisch herzustellen, aber es ist unnötig, letztere als Begründung heranzuziehen. Die Tatsache, dass die Verfassung den beitragspflichtigen Charakter der Sozialversicherung vorsieht, setzt zum Beispiel voraus, dass die Person bereits in der Lage ist, Beiträge zu zahlen, was bedeutet, dass sie erwerbstätig ist oder über ein Einkommen verfügt, das sie zur Zahlung der Beiträge befähigt. Darüber hinaus sieht die Verfassung eine Pflicht zur Sozialversicherung vor, was die Freiheit des Einzelnen sogar bis zu einem gewissen Grad einschränkt, der er sich im Falle einer Erwerbstätigkeit nicht dafür entscheiden kann, keine Beiträge zu leisten. Die Sozialversicherung dient in der Regel als Garantie für die Aufrechterhaltung bestimmter Lebensbedingungen für den Versicherten und seine Angehörigen in den in der Verfassung vorgesehenen Fällen, die durch unvorhersehbare Ereignisse wie Krankheit und Tod oder vorhersehbare Ereignisse wie Altern entstehen können. Diese Garantie ist aber direkt mit dem Betrag verbunden, den der Einzelne in die Sozialversicherung einbezahlt. Die Funktion der Sozialversicherung besteht nicht darin, Bedingungen zu schaffen, die es dem Einzelnen ermöglichen,

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seine Freiheit auszuüben oder seinen Zugang zu Lebenschancen zu fördern. Dies kann als eine der Funktionen der Sozialhilfe angesehen werden, die ebenfalls in der Verfassung geregelt ist, nicht aber der Sozialversicherung. Doch selbst wenn ein begrifflicher Zusammenhang zwischen dem Grundrecht auf Sozialversicherung und den Begriffen Freiheit und faktische Gleichheit hergestellt werden kann, der nicht selbstverständlich ist, sondern begründet werden muss, wird es nicht mehr als richtig angesehen, mit letzteren Formeln staatliche Handlungsgebote im Rahmen der Sozialversicherung interpretativ zu konstruieren, die in der Verfassung nicht positiviert sind. g) Das Recht auf Sozialversicherung und der Vorbehalt des Möglichen Ein weiterer Punkt, der die Diskussion um die Uminterpretation der Grundrechte des GG als Leistungsrechte betrifft, ist das mehrfach zitierte BVerfG „Numerus Clausus I-Urteil“, in dem erstmals der Gedanke des „Vorbehaltes des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“171 verwendet wurde. Auch in Brasilien wurde und wird dieses Thema diskutiert.172 Zwei vom BVerfG in diesem Prozess entwickelte Punkte, die die Diskussion über die Leistungsgrundrechte in Deutschland leiten, sind für die Zwecke dieser Untersuchung von Interesse. Erstens die Vorstellung, dass die Leistungsrechte (oder Teilhaberechte) eine Beschränkbarkeit haben, da sie unter dem Vorbehalt des Möglichen ausgeübt werden müssen. Die andere Frage ist, dass diese Rechte regelungsbedürftig sind,173 das heißt, der Gesetzgeber hat in seinem Öffentlichen Haushalt in erster Linie in eigener Verantwortung zu urteilen und auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen, denn er hat – gemäß der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG  – den Erfordernissen des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen.174 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG betont Kirchhof die Rolle des Gesetzgebers bei der Festlegung des Haushalts, der sich mit den staatlichen Leistungen befasst: „Die Verfassung wird ihre Staatsorgane nicht zu unmöglichen Leistungen verpflichten; deswegen müssen die sozialen Teilhaberechte grundsätzlich so interpretiert werden, dass ihr Gegenstand nur im Rahmen des 171

BVerfGE 33, 303 – Numerus clausus I Bundesverfassungsgericht Urteil 18. Juli 1972. Dazu z. B siehe Sarlet / Timm (Hrsg.), Direitos fundamentais, orçamento  e „reserva do possível“ [Grundrechte, Budget und „Vorbehalt des Möglichen“] Porto Alegre: Livraria do Advogado, 2008. 173 BVerfGE 33, 303 – Numerus clausus I Bundesverfassungsgericht Urteil 18. Juli 1972. 174 BVerfGE 33, 303  – Numerus clausus I Bundesverfassungsgericht Urteil 18. Juli 1972. Diese Argumentationslinie wurde in den Leitsätzen zum Urteil des Ersten Senats vom 19. Dezember 2017 – 1 BvL 3/14 – 1 BvL 4/14, in denen die oben zitierte Frage der Vergabe von knappen Studienplätzen im Studienfach Humanmedizin aufgegriffen wurde, erneut betont. 172

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Möglichen und Angemessenen garantiert wird. Die Grenze des Möglichen ist dabei nicht erst die Zahlungsunfähigkeit des Staates, sondern die Gestaltungskraft des Haushaltsgesetzgebers. Dieser Vorbehalt des faktisch Möglichen ist im Rahmen der haushaltspolitischen Prioritätsentscheidungen allerdings nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern beruht auf politischen Entscheidungen.“175 Im Falle des in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen Rechts auf Sozialversicherung gibt es spezielle Regelungen zur Frage der Finanzierung der Sozialversicherung im Rahmen der Sozialen Sicherheit und darüber hinaus eine Regelung, die die Schaffung, Erhöhung und Ausweitung von Sozialversicherungsleistungen oder -diensten ohne Finanzierungsquelle ausdrücklich verbietet: „Art. 195, § 5.  Keine Leistung oder Dienstleistung der Sozialfürsorge kann ohne die entsprechende Finanzierungsquelle eingerichtet, vergrößert oder ausgeweitet werden.“ In der Frage der Finanzierung und des Haushaltsentwurfs für die Soziale Sicherheit, der die Sozialversicherung einschließt, sieht die Verfassung also vor: „Art. 195. Die soziale Sicherheit wird direkt und indirekt von der gesamten Gesellschaft nach Maßgabe der Gesetze durch Mittel aus den Bundes-, Landes-, Bundesdistrikts- und Gemeindehaushalten und durch folgende Sozialbeiträge finanziert: I. Beiträge der Arbeitgeber, die auf die Lohn- und Gehaltskosten, den Umsatz und den Gewinn entfallen; II. Beiträge der Arbeitnehmer; III. Beiträge auf die Einnahmen aus Glücksspielen. […] § 2. Der Vorschlag des Budgets der Sozialfürsorge wird von den für Gesundheit, Sozialversicherung und Sozialhilfe zuständigen Organen in gegenseitiger Zusammenarbeit und unter Berücksichtigung der im Haushaltsrahmengesetz enthaltenen Zielsetzungen und Prioritäten ausgearbeitet. Jedem der drei Bereiche ist die Verwaltung seiner Mittel gewährleistet. […] § 4. Durch Gesetz können, unter Beachtung der Regelung in Art. 154 I, andere Finanzierungsquellen mit dem Ziel eingerichtet werden, die Tätigkeiten der Sozialfürsorge aufrechtzuerhalten oder zu erweitern. § 5. Keine Leistung oder Dienstleistung der Sozialfürsorge kann ohne die entsprechende Finanzierungsquelle eingerichtet, vergrößert oder ausgeweitet werden.“ Schließlich legt die Verfassung fest, dass die Soziale Sicherheit nach Maßgabe von Gesetzen organisiert werden muss, um u. a. Selektivität und Verteilung bei der Bereitstellung von Leistungen und Diensten zu erreichen: „Art. 194: Die Soziale Sicherheit umfasst einen zusammenhängenden Komplex von Maßnahmen des Staats und der Gesellschaft, die darauf zielen, die sich auf Gesundheit, die Sozialversicherung und die Sozialhilfe beziehenden Rechte zu gewährleisten. Einziger §. Dem Staat obliegt es, die soziale Sicherheit nach Maßgabe des Gesetzes zu organisieren und an den folgenden Zielsetzungen auszurichten: […] III. spezialisiertes und umfassendes Angebot an Leistungen und Dienstleistungen.“

175

Kirchhof, Mittel staatlichen Handels, Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts. Dritte Aufl. Band V. Rechtsquellen, Organisation, Finanzen. Heidelberg. C. F. Müller, 2007, S. 69.

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Der Verfassungstext besagt ausdrücklich, welche Lebensbereiche die Sozialversicherung schützen muss (Art. 201); wie die Sozialversicherung im Rahmen der Sozialen Sicherheit finanziert wird (Art. 195); wer befugt ist, die Sozialversicherung zu organisieren, d. h. der infraverfassungsrechtliche Gesetzgeber (nach Maßgabe des Gesetzes) (Art. 194, einziger Absatz); er legt auch spezifische Verfügungen hinsichtlich der Ausübung dieser Kompetenz fest, wenn er auf ein spezialisiertes und umfassendes Angebot an Leistungen und Dienstleistungen verweist (Art. 194, III), was die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers impliziert, aus den bereits zitierten verfassungsrechtlichen Geboten die Art und Weise zu wählen, mit der er die genannten Lebensbereiche schützen will und wird; und es wird auch die Gründlichkeit erreicht, mit der bestimmt wird, dass die Leistungen und Dienste im Rahmen dessen, was vom Staat finanziert werden kann, angeboten werden, d. h. der Verfassungstext stellt eine direkte Beziehung zwischen Finanzierung und Leistungen her (Art. 195, § 5). Der Gesetzgeber hat die Sozialversicherung auf der Grundlage der Vorgaben der Verfassung durch das Gesetz Nr. 8.213/1991 neu geordnet und dabei festgelegt, welche Leistungen und Dienste vom Staat erbracht werden und wer berechtigt ist, sie in Anspruch zu nehmen. Was die Finanzierung der Sozialversicherung betrifft, so hat der Gesetzgeber das Gesetz Nr. 8.212/1991 erlassen, das speziell die in das Allgemeine Sozialversicherungssystem einzuzahlenden Beiträge und die Frage regelt, wer sie zu zahlen hat. Bei der Analyse des Rechts auf Sozialversicherung im brasilianischen Recht ist daher der Verweis und Rückgriff auf die von der BVerfG-Rechtsprechung entwickelte generische Formel und die deutsche Verfassungsdogmatik verzichtbar, die den „Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann“ berücksichtigt.176 Denn der Verfassungstext selbst enthält bereits sehr konkrete Vorgaben darüber, was der Einzelne an Leistungen der Sozialversicherung erwarten kann (Gegenstand oder Objekt des Grundrechts auf Sozialversicherung) und von wem er dies erwarten kann, nämlich vom Staat (Adressat des Grundrechtes). h) Die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit im Bereich der sozialen Grundrechte. Das Recht auf Sozialversicherung und der Prinzipientheorie Die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit im Bereich der sozialen Grundrechte ist verlockend, weil sie die Gesetzgebung in einer Weise auslegt, die ihre Wörtlichkeit flexibler macht, Leistungen schafft, die textlich nicht vorgesehen sind 176 Vor allem, wenn man an das von Alexy vorgeschlagene Modell denkt, in dem die Idee des Vorbehalts des Möglichen in der Struktur des Prinzips erscheint, also abwägungsbedürftig ist. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 468.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

(Interpretation praeter legem), und damit auch (neue) Verpflichtungen für den Leistungsstaat schafft. Die Prinzipientheorie dient nicht selten als Grundlage für diese Flexibilisierung oder sogar für eine Interpretation, die dem, was die Gesetzgebung vorsieht, direkt zuwiderläuft (Interpretation contra legem). Es gibt viele Beispiele, weshalb ein umfangreicher Ansatz nicht durchführbar ist. Vor diesem Hintergrund werden drei Fälle aus zufällig ausgewählten Entscheidungen über das Grundrecht auf Sozialversicherung analysiert, die sich jedoch täglich wiederholen und deshalb als repräsentativ für das vorherrschende Denken angesehen werden können. aa) Verlängerung des Mutterschaftsgelds Das Mutterschaftsgeld ist eine gewährte Sozialversicherungsleistung, die einer versicherten Schwangeren oder einer versicherten Frau, die ein Kind adoptiert, gewährleistet wird und die in der Zahlung des Entgelts besteht, auf das sie bei Fortsetzung der Arbeit für eine bestimmte Zeit Anspruch hätte. Die versicherte Person zieht sich von ihrem Arbeitsplatz zurück und die Sozialversicherung zahlt ihren Lohn. In der Praxis zahlt der Arbeitgeber die Vergütung weiter, hat aber das Recht, von der Sozialversicherung entschädigt zu werden. Gemäß den ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmungen hat die schwangere oder adoptierende Versicherte das Recht auf 120 Tage Mutterschaftsgeld. Die Rechtsprechung gewährt jedoch eine Verlängerung der gesetzlich vorgesehenen Frist in Situationen, in denen die schwangere Frau beispielsweise eine Frühgeburt hat und das Kind mehr als 120 Tage in einem Krankenhaus in Sonderbehandlung bleiben muss. Es gibt Fälle, in denen Gerichtsentscheidungen das Mutterschaftsgeld um weitere 120 Tage verlängern und damit 240 Tage erreichen. Wenn man die ausdrückliche Bestimmung des Gesetzes berücksichtigt, handelt es sich um die richterliche Rechtsgewinnung einer Sozialversicherungsleistung (praeter legem). Es ist wichtig, eine Analyse dessen vorzunehmen, was die Verfassung zu dem betreffenden Thema sagt. Artikel 6 der Verfassung sieht den Schutz von Mutterschaft und Kindheit als soziales Grundrecht vor. „Art. 6. Soziale Rechte nach Maßgabe dieser Verfassung sind der […] Schutz der Mutterschaft […].“ Und in Artikel 7 sieht die Verfassung vor: „Rechte der Arbeiter in der Stadt und auf dem Lande sind, außer den Rechten zur Verbesserung ihrer sozialen Lage, die folgenden: […]: XVIII – Mutterschaftsurlaub für die Dauer von 120 Tagen ohne Nachteile für Arbeitsplatz und Lohn.“ Das heißt, die Verfassung sieht 120 Tage Mutterschaftsurlaub als arbeitsrechtliches Sozialrecht vor. Das in Art. 6 der Verfassung vorgesehene Sozialgrundrecht auf Mutterschaftsschutz wird im Kapitel der Sozialen Ordnung verdichtet, in dem Art. 201, II, den „Schutz der Mutterschaft, besonders der schwangeren Frau“ als Aufgabe der Sozialversicherung und damit als Sozialversicherungsrecht begreift. Dieselbe faktische Situation der Schwangerschaft ist durch das Arbeits- und das Sozialversicherungsrecht geschützt.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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Im unterverfassungsrechtlichen Bereich wird das Mutterschaftsgeld, also die Art und Weise, wie der Staat die Mutterschaft, insbesondere die schwangere Frau, im Bereich der sozialen Sicherheit schützt, in Art. 71 ff. des Gesetzes Nr. 8.213/91 geregelt und somit festgelegt: „Art. 71. Das Mutterschaftsgeld steht den Versicherten der sozialen Sicherheit für 120 (einhundertzwanzig) Tage zu, beginnend zwischen dem 28. (achtundzwanzig) Tag vor der Geburt und dem Geburtsdatum, wobei die in den Rechtsvorschriften über den Mutterschutz vorgesehenen Situationen und Bedingungen zu beachten sind.“ Ausnahmsweise sieht die untergesetzliche Gesetzgebung die Möglichkeit vor, das Mutterschaftsgeld um 2 Wochen zu verlängern: Dekret Nr. 3.048/99, das das Gesetz Nr. 8.213/91 regelt: „Art. 93. Das Mutterschaftsgeld steht den Versicherten der sozialen Sicherheit während einhundertzwanzig Tagen zu, beginnend mit dem achtundzwanzigsten Tag vor und endend mit dem einundneunzigsten Tag nach der Entbindung, und kann nach Maßgabe von § 3 verlängert werden. […] § 3. In Ausnahmefällen kann die Ruhezeit vor und nach der Entbindung durch ein besonderes ärztliches Gutachten um weitere zwei Wochen verlängert werden.“ Auf der anderen Seite wurde 2008 mit dem Gesetz Nr. 11.770/2008 das Programm „Empresa Cidadã“ („Soziales Unternehmen“) geschaffen, das darauf abzielt, den Mutterschaftsurlaub als Teil des Arbeitsrechts durch die Gewährung einer Aufrechnung zu verlängern. „Art. 1: Das Programm ‚Empresa Cidadã‘ wurde geschaffen, um: I – die Dauer des Mutterschaftsurlaubs gemäß Art. 7 Abs. XVIII der Bundesverfassung um 60 (sechzig) Tage verlängern zu können […].“ Mit anderen Worten, der Arbeitgeber zahlt dem Arbeitnehmer das Entgelt für 60 zusätzliche Tage zur Dauer des Mutterschaftsurlaubs, der 120 Tage beträgt, was durch steuerrechtliche Abzüge vom Staat ausgeglichen wird. Die Teilnahme an diesem Programm ist für Unternehmen freiwillig und Teil der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in jeder Kategorie. Die Rechtsprechung gewährt diese Verlängerung des Mutterschaftsgeldes über die vorgesehenen 120 Tage hinaus, trotz der ausdrücklichen Bestimmung in der Gesetzgebung. Die rechtliche Grundlage, die für die Gewährung dieser Verlängerung herangezogen wird, umgeht die Komplexität der verfassungsmäßigen und unterverfassungsmäßigen Normierung. Sie basiert vielmehr auf einer prinzipien­ theoretischen Interpretation des Grundrechts auf Sozialversicherung und der Pflicht zum Schutz von Mutterschaft und Kindheit. Paradigmatisch für diese Argumentationslinie ist die folgende Entscheidung: „[…] die Verfassungsnormen des Mutterschafts- und Kinderschutzes erfordern eine optimierende Interpretation, die eine maximale Wirksamkeit garantiert, unter Androhung einer mit dem verfassungsrechtlich garantierten Recht unvereinbaren Beschränkung […]. In diesem Zusammenhang verkündet und befürwortet die Lehre die Notwendigkeit, den Wesensgehalt der Grundrechte zu schützen, der sich auch auf die sozialen Rechte und die positiven staatlichen Leistungen erstreckt. Das Prinzip der Menschenwürde im Schema der Abwägung fungiert dabei als

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Element des Schutzes vor möglichen Einschränkungen der Grundrechte. Dieser Schutz wird auf die sozialen Rechte ausgeweitet, wobei die Besonderheiten jeder Gruppe von Rechten berücksichtigt werden und auch, bei der Tätigkeit der Abwägung, das Verbot des sozialen Rückschritts und die Einhaltung eines Existenzminimums […]. Daher hängt der Grad des Schutzes jedes Grundrechts, auch des Leistungsgrundrechts, von dem Verfahren zur Konkretisierung der Norm ab, in dem die abwägende Tätigkeit unter Abwägung der verschiedenen Prinzipien, Werte und Güter, die je nach den Umständen des konkreten Falles betroffen sind, und bei der Anwendung der Metanormen der Verhältnismässigkeit, des Übermassverbots und insbesondere des Untermassverbots durchgeführt wird.“177 Analysiert man das Thema zunächst ausgehend von dem Schema ‚Träger oder Inhaber, Adressat und Gegenstand oder Objekt der sozialen Grundrechte‘,178 ist es notwendig, das der Schwangeren garantierte soziale Arbeitsrecht, das in Art. 7, XVIII, den Mutterschaftsurlaub vorsieht, und das in Art. 6 und Art. 201, II der Verfassung vorgesehene Grundrecht auf Sozialversicherung zum Schutz der Mutterschaft, das in Art. 71 des Gesetzes Nr. 8213/91, das das Mutterschaftsgeld regelt, differenziert zu betrachten und zu behandeln. Beiden Rechten gemeinsam ist der Träger, d. h. die Schwangere, obwohl der Schwangeren der Mutterschaftsurlaub als Arbeitnehmerin und das Mutterschaftsgeld als Sozialversicherte geschuldet wird. Allerdings sind weder der Gegenstand noch die Adressaten dieser Rechte identisch. Gegenstand des Mutterschaftsurlaubs ist die Entbindung der Schwangeren von ihrem Arbeitsplatz für 120 Tage, mit einer Garantie für ihren Arbeitsplatz und ihr Gehalt (Art. 7, XVIII). Adressat dieses sozialen Rechts ist der Arbeitgeber. Das Mutterschaftsgeld ist eine aufgrund der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Schutz der Mutter in der infrakonstitutionellen Gesetzgebung vorgesehene Sozialversicherungsleistung, die darin besteht, dass die Versicherten während des Mutterschaftsurlaubs, d. h. für 120 Tage, von der Sozialversicherung das Entgelt erhalten, das sie von ihrem Arbeitgeber erhalten würden. Der Adressat ist hier der Staat (Art. 6, Art. 201, II, a, der Verfassung und Art. 71 ff. des Gesetzes Nr. 8.213/91). Da Mutterschaftsurlaub und Mutterschaftsgeld eine Laufzeit von 120 Tagen haben, scheint es möglich, trotz der unterschiedlichen Objekte und Adressaten eine Symmetrie zwischen diesen Rechten festzustellen. Eine solche Symmetrie besteht jedoch nicht. Im Falle der Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs um 60 Tage aufgrund des durch das Gesetz Nr. 11.770/2008 geschaffenen Programms „Empresa Cidadã“ gibt es keine Übereinstimmung mit der Verlängerung des Mutterschaftsgeldes. Mit anderen Worten: Obwohl die Arbeitnehmerin 180 Tage lang abwesend 177

Tribunal Regional Federal da 4ª Região. TRF4. [Regional Verwaltungsgericht der 4. Region] Pedido de Uniformização de Interpretação de Lei [Antrag auf Gleichförmigkeit in der Rechtsinterpretation] (TRU) Nº 5022985–36. 2018. 4. 04. 7100/RS. 178 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 171–172.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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ist, erhält sie weiterhin 120 Tage lang das Mutterschaftsgeld. Der Arbeitgeber zahlt die zusätzlichen 60 Tage und erhält diese Beträge durch eine Steuervergütung zurückerstattet. Obwohl der Staat in der Praxis für die Zahlung der 180 Tage Mutterschaftsurlaub verantwortlich ist, entsprechen die zusätzlichen 60 Tage nicht dem Grundrecht auf Sozialversicherung, das lediglich das gesetzlich garantierte Mutterschaftsurlaubsgehalt von 120 Tagen festlegt. Da Unternehmen nicht verpflichtet sind, sich dem Programm zur Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs anzuschließen, kann eine solche Verlängerung nicht als Grundrecht auf Arbeitsrecht angesehen werden. Die Verfassung sieht als Grundrecht einen Mutterschaftsurlaub von 120 Tagen vor. Daher entspricht die subsidiäre Pflicht des Staates, letztendlich die zusätzliche Zeit des Mutterschaftsurlaubs finanziell zu tragen, nicht einem Grundrecht auf Sozialversicherung. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des brasilianischen Nationalkongresses (Parlament) Diskussionen über die mögliche verfassungsmäßige und infrakonstitutionelle Regelung dieser Möglichkeit der Ausweitung der Sozialversicherungsleistung im Gange sind. Konkret handelt es sich um den Änderungsvorschlag zur Verfassung Nr. 99/2015, der den Unterabschnitt XVIII von Artikel 7 der Verfassung wie folgt abändern soll: „Die Bundesverfassung wird dahin gehend geändert, den Mutterschaftsurlaub für die schwangere Frau, unbeschadet der Beschäftigung und des Lohns, mit der Dauer von einhundertzwanzig Tagen als Arbeitnehmerinnenrecht festzulegen, wobei der Mutterschaftsurlaub im Falle einer Frühgeburt um die Anzahl der Tage verlängert wird, die das Neugeborene im Krankenhaus verbringt.“ Auf der anderen Seite gibt es den im Nationalkongress in Arbeit befindlichen Gesetzentwurf Nr. 1.464/2011, der den Mutterschaftsurlaub auf Mütter von Neugeborenen ausdehnt, die während des Aufenthalts des Babys auf der Intensivstation für Neugeborene bleiben müssen, und der den Artikel 71 des Gesetzes Nr. 8.213/91 ändert. In diesem Fall ersetzt die Judikative in der Praxis die gesetzgeberische Debatte und schafft eine Sozialversicherungsleistung und damit eine Verpflichtung für den Staat, ohne dass dies in der Verfassung und in der Gesetzgebung vorgesehen ist, und zwar auf der Grundlage prinzipieller Argumente.

bb) Renten-/Pensions-Zusatzbestimmung über eine Erhöhung um 25 % In diesem Fall dreht sich die Kontroverse um die Bestimmung von Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/91, die vorsieht: „Art. 45: Der Betrag der Invaliditätsrente des Versicherten, der die ständige Unterstützung einer anderen Person benötigt, wird um 25 % erhöht.“ Wie oben hervorgehoben, sieht die Verfassung in Artikel 201 I als Pflichtleistung der Sozialversicherung vor: „I. Versicherung von Krankheitsund Invaliditätsfällen, einschließlich der durch Arbeitsunfälle hervorgerufenen.“

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Das Gesetz Nr. 8.213/91 sieht in diesem Bereich drei Leistungen vor, nämlich die „Unfallhilfe“, die als monatliche Entschädigung fällig wird, wenn der Versicherte einen Unfall erleidet, der dauerhafte Folgen hat, die seine Arbeitsfähigkeit verringern (Art. 86), das „Krankengeld“, das dem Versicherten gezahlt wird, der sich in einer Situation der Krankheit befindet, die zu einer vollständigen und vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit führt (Art. 59 bis 63), und die „Invalidenrente“ bei Personen, die aufgrund von Krankheit oder Unfall vollständig und endgültig arbeitsunfähig sind (Art. 42 bis 47). Im ersten Fall liegt eine teilweise und dauerhafte Arbeitsunfähigkeit vor, im zweiten Fall eine vollständige und vorübergehende Arbeitsunfähigkeit und im dritten Fall eine vollständige und dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/91, der im Kapitel des Gesetzes über die Leistungen bei Invalidität angesiedelt ist, sieht eine vierte Hypothese des Schutzes vor Krankheit oder Invalidität vor, die dann eintritt, wenn der Versicherte nicht nur aufgrund von Krankheit oder Unfall vollständig und dauerhaft arbeitsunfähig ist, was ihn zur Invaliditätsrente berechtigt, sondern auch noch auf die Hilfe einer dritten Person angewiesen ist, um seinen täglichen Bedarf zu decken. Mit anderen Worten: Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 sieht eine Erhöhung (Zusatz­ bestimmung) ausschließlich für die Invaliditätsrente in den Fällen vor, in denen der Versicherte aufgrund einer noch schwereren Behinderung als der, die die Invaliditätsrente hervorgerufen hat, von einem Dritten abhängig ist. Obwohl das Gesetz diese Zusatzbestimmung nur für den Fall einer Invaliditätsrente vorsieht, gewährt die Rechtsprechung eine Erhöhung um 25 % für den Fall, dass der Versicherte nicht nur bei der Invaliditätsrente, sondern auch bei jeder anderen Form der Rente, wie z. B. bei der Rente nach Ablauf der Beitragszeit oder der Altersrente oder sogar bei der Todesfallrente, die Hilfe eines Dritten benötigt. Mit anderen Worten: Die Rechtsprechung dehnt die speziell für die Invaliditätsrente gesetzlich vorgesehene Erhöhung auf andere Leistungen aus. Eine kürzlich vom brasilianischen Obersten Justizgerichtshof (STJ)179 getroffene Entscheidung ist repräsentativ für die Kontroverse und fasst die Argumente zusammen, die in den Tausenden von Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu diesem Thema vorkommen. Es handelt sich um den „Recurso Especial“ [„spezielles Rechtsmittel“] Nr. 1.648.305 – RS (2017/0009005-5). Das Gericht argumentiert, dass „[…] die beste Exegese des Art. 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 den Umfang der ‚Begleithilfe‘ auf die anderen im allgemeinen Sozialversicherungssystem vorgesehenen Arten der Rente ausdehnt […].“ 179

Superior Tribunal de Justiça (STJ): „Oberster Justizgerichtshof“. Organ der 3. Instanz des Gerichtswesens. In gewisser Weise vergleichbar mit dem deutschen Bundesgerichtshof. Der Unterschied besteht darin, dass der STJ die in Deutschland durch den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundessozialgericht und den Bundesfinanzhof ausgeübten Befugnisse kumuliert. Darüber hinaus ist es nicht das höchste Organ der Justiz, obwohl es die letzte Instanz dessen ist, was in Deutschland als Fachgerichtsbarkeit gelten würde.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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Zur Unterstützung dieser „besten Exegese“ bezieht die Entscheidung die in den Artikeln 1, III, 5, caput, bzw. 6 der brasilianischen Verfassung vorgesehenen Klauseln mit ein, die von Menschenwürde, Gleichheit, Gewährleistung der sozialen Grundrechte handeln, sowie das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, das ins brasilianische Recht mit dem Status einer Verfassungsnorm aufgenommen wurde (Artikel 5, § 3). Nach Ansicht des Obersten Justizgerichtshofs (STJ) sind sowohl Invaliditätsrentner als auch Alters-, Beitragszeit- oder Sonderrentner versichert, die sich zusätzlich in einem behinderten Zustand befinden können, so das Übereinkommen, das in seinem 1. Artikel folgende Ziele festlegt: „[…] die volle und gerechte Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“180 Die oben erwähnte Entscheidung besagt, dass das Übereinkommen in seinen Artikeln 5 und 28 auch die egalitäre Behandlung und den Schutz der Person mit Behinderung garantiert – innerhalb des Systems der sozialen Sicherheit. Das Gericht weist darauf hin, dass es „weder gerecht noch angemessen“ ist, die Gewährung der Zusatzbestimmung nur auf die Versicherten zu beschränken, die eine Invaliditätsrente erhalten, denn dies wäre „eine Ungleichheit ohne gerechtes Ermessen“, und dass „[…] Versicherte, die sich in der gleichen Situation der Invalidität befinden nicht unterschiedlich vom Gesetzgeber behandelt werden können (relativer Charakter der Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers), unter Androhung der Verfassungswidrigkeit wegen teilweiser Unterlassung […]“. Diese unterschiedliche Behandlung wäre eine Art „Überbewertung der formalen Einstufung der den Versicherten gewährten Leistung“.181 Die Entscheidung stützt sich bei der Schaffung einer gesetzlich nicht vorgesehenen Leistung auf die allgemeinen Klauseln der Menschenwürde, der Gleichheit, in dem Urteil ausdrücklich als Prinzipien bezeichnet, und der allgemeinen Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, ohne das spezifische Kapitel der Verfassung zu erwähnen, das sich mit dem Recht auf Sozialversicherung und insbesondere mit den Lebensbereichen befasst, die durch die Sozialversicherung geschützt werden sollen. Der Begriff „angemessen“ wird vom Gericht, wenn auch ohne technisch-­ konzeptionelle Bedenken, in Bezug auf „Angemessenheit“ als dritte Phase des Verhältnismäßigkeitsprinzips verwendet, was in der Prinzipientheorie der Abwägung entspricht. Diese Schlussfolgerung wird durch die Tatsache gestützt, dass Gerichtsurteile in mehr als einem Fall das so genannte „Untermaßverbotsprinzip“ zitieren und dabei auf andere Entscheidungen verweisen, in denen dieses Vorgehen 180

UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Obersten Justizgerichtshofs (STJ) „Recurso Especial“ [„spezielles Rechtsmittel“] Nr. 1.648.305 – RS (2017/0009005-5). 181

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

angewandt wurde, auch vom Obersten Bundesgerichtshof (STF). Wenn das Gericht feststellt, dass die vom Gesetzgeber in Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/91 getroffene infrakonstitutionelle Regelung „eine Ungleichheit ohne gerechtes Ermessen“ darstellt, so führt es, wenn auch implizit, einen Prozess der Abwägung zwischen einem materiellen Prinzip (die Gleichheit) und einem formellen Prinzip, d. h., der Kompetenz des Gesetzgebers, die Verfassung (Ermessen) zu regeln, durch, wobei ersteres Vorrang hat. Im Wesentlichen ist mit dieser Entscheidung gesagt, dass der Gesetzgeber nicht die Freiheit hat, verschiedene Ebenen und Arten des Schutzes für die Situation von Krankheit und Behinderung einerseits und fortgeschrittenem Alter und Tod andererseits festzulegen. Wenn zwei Personen, die aus unterschiedlichen Gründen Sozialversicherungsleistungen erhalten, die eine aufgrund von Invalidität (Rente wegen Erwerbsunfähigkeit) und die andere aufgrund des Zeitablaufs (Rente aufgrund von Beitragszeit oder Alter), in einer Situation sind, in der sie die Hilfe anderer benötigen, hat der Gesetzgeber nach dieser Entscheidung keine verfassungs­mäßige Ermächtigung, für den einen von ihnen eine zusätzliche Garantie zu gewähren und für den anderen nicht. Wenn er dies getan hat, begeht er eine unangemessene Einschränkung des Rechts auf Gleichheit oder eine Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung, die angeblich aus der Nichteinhaltung einer Pflicht zur Herstellung der positiven Gleichheit resultiert, die durch die Ausdehnung der Leistung auf alle diejenigen, die auf Dritte angewiesen sind, behoben werden kann. Das Beispiel verdeutlicht zwei unterschiedliche, aber verwandte Facetten der Rezeption der Prinzipientheorie in Brasilien. Auf der einen Seite die Rezeption selbst. Auf der anderen Seite die Art und Weise, in der dies oft von der Rechtsprechung getan wird. In diesem Urteil wurden die Annahmen der Prinzipientheorie auf generische und rhetorische Weise verwendet, ohne die analytischen und methodologischen Bedenken, die die Theorie hat, zu berücksichtigen. So wurde in der Praxis eine „Abwägung zwischen Prinzipien“ vorgenommen, ohne die Komplexität der Gewichtsformel zu berücksichtigen, die in der Prinzipientheorie theoretisch eine größere Kontrolle der Rationalität der Gewichtung bei Entscheidungen über vermeintlich widersprüchliche Verfassungsvorschriften erlauben würde. Diese Fragestellung ist noch vor dem Obersten Bundesgerichtshof (STF) anhängig, der über die mögliche Verfassungswidrigkeit von Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/91 und folglich über die Möglichkeit der Ausdehnung der darin enthaltenen Zusatzbestimmung auf Versicherte, die andere Sozialversicherungsleistungen als die Invaliditätsrente beziehen, entschieden wird.182 182 Nach Abgabe der endgültigen Fassung dieser Dissertation entschied der STF am 18. Juni 2021 über diesen Fall. Das Gericht folgte seiner eigenen Rechtsprechung und definierte, dass Art. 45 des Gesetzes Nr. 9.813/91 nicht verfassungswidrig ist. Die Renten-/Pensions-Zusatz­ bestimmung über eine Erhöhung um 25 % gilt nur unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen. Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 1.221.446.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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cc) „Desaposentação“ / Rücktritt aus dem Rentenstatus – „Ent-Rentung“ Der Kern der diskutierten Frage dreht sich um die Bestimmungen von Artikel 18, Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.213/91, dessen Diktion wie folgt lautet: „§ 2. Der Rentner des allgemeinen Systems der Sozialversicherung – RGPS (Regime Geral de Previdência Social), der in einer dieser Regelung unterliegenden Tätigkeit verbleibt oder in diese zurückkehrt, hat keinen Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit infolge der Ausübung dieser Tätigkeit, mit Ausnahme des Kindergeldes und der beruflichen Rehabilitation, wenn er beschäftigt ist.“ Die Verordnung Nr. 3.048/99, die das Gesetz Nr. 8.213/91 regelt, sieht Folgendes vor: „Artikel 181-B. Die von der Sozialversicherung in Form dieser Verordnung gewährte Rente aufgrund des Alters, der Beitragszeit und der Sonderregelung sind irreversibel und unwiderruflich. Der Versicherte kann seinen Antrag auf Rente zurückziehen, sofern er diese Absicht bekundet und die endgültige Archivierung seines Antrags vor der ersten Auszahlung der Leistung beantragt, oder bevor er den jeweiligen Betrag des Abfindungsreservefonds oder des Programms zur sozialen Integration abgehoben / erhalten hat, oder bis zu dreißig Tage ab dem Datum der Bearbeitung der Leistung, je nachdem, was zuerst eintritt.“ In der Rechtsprechung wurde die Möglichkeit diskutiert, dass der Versicherte der Sozialversicherung, der bereits im Ruhestand ist und weiter arbeitet, seine Pensionierung aufgibt und eine neue Pensionierung postuliert, wobei er die nach seiner Pensionierung in das System der Sozialversicherung eingezahlten Beiträge nutzt. Zum allgemeinen Verständnis: In Brasilien kann der Versicherte im Ruhestand weiterarbeiten. Aufgrund dieser Arbeit muss er weiterhin Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Art. 12 § 4 des Gesetzes Nr. 8.212/91, das die Beiträge zur Sozialversicherung regelt, lautet: „Art. 12: Folgende Personen sind im Rahmen des Systems der Sozialversicherung pflichtversichert: […] § 4 Die pensionierte Person des allgemeinen Systems der Sozialversicherung (RGPS), die eine unter dieses System fallende Tätigkeit ausübt oder zur Ausübung einer solchen zurückkehrt, ist im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit pflichtversichert und unterliegt den in diesem Gesetz behandelten Beiträgen zur Finanzierung der Sozialversicherung.“ Gemäß Art. 18 § 2 des Gesetzes Nr. 8.213/91 berechtigen diese neuen Beiträge jedoch nicht zu neuen Rentenleistungen, mit Ausnahme des Kindergeldes, das als Pauschalbetrag für jedes Kind des Versicherten mit niedrigem Einkommen gezahlt wird, und der beruflichen Rehabilitation, die eine Leistung der Sozialversicherung für den Versicherten ist, der aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, seine berufliche Tätigkeit auszuüben, aber die Fähigkeit hat, eine andere Tätigkeit auszuüben. Die Sozialversicherung bietet Kurse und Schulungen an, um den Versicherten für den Arbeitsmarkt zu rehabilitieren. Mit anderen Worten: Wenn ein bereits pensionierter Versicherter, der weiterhin arbeitet und Beiträge zum System leistet, krank wird und z. B. gemäß der aus-

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

drücklichen Bestimmung des Gesetzes (Art. 18, § 2 des Gesetzes Nr. 8.213/91) nicht mehr arbeiten kann, hat er keinen Anspruch auf eine andere Sozialversicherungsleistung als die Rente, die er erhält. Arbeitet er beispielsweise nach seiner Pensionierung noch weitere 15 Jahre und hat das 65. Lebensjahr vollendet, was zum Erhalt der so genannten Altersrente berechtigt, so hat er keinen Anspruch auf diese Leistung. Trotz dieses gesetzlichen Verbots erkannte die Fachgerichtsbarkeit in tausenden von Klagen praktisch einstimmig die Möglichkeit an, dass der Versicherte von seiner Rente zurücktreten und auf der Grundlage sowohl der früheren Beiträge als auch durch Inanspruchnahme der nach seiner Pensionierung hinzugewonnenen Beitragszeit eine neue – für ihn vorteilhaftere – Rente einfordern kann. In der Praxis erlaubt diese Rechtsprechung die Gewährung einer neuen Leistung (Rente) entgegen den Festlegungen im Gesetzestext. Es geht um eine richterliche Rechtsgewinnung einer Sozialversicherungsleistung praeter legem oder sogar contra legem. Eine solche Möglichkeit wird von Lehre und Rechtsprechung als „EntRentung“ bezeichnet. Zu den verschiedenen Argumenten, die verwendet werden, gehört der verfügbare und patrimoniale Charakter der Sozialversicherungsrechte. Die Versicherten können also auf die bestehende Leistung verzichten und eine andere beantragen. Dies ist eine Möglichkeit, das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für einen solchen Fall zu umgehen. Das Fehlen eines ausdrücklichen innergesetzlichen Verbots für den Verzicht und für einen neuen Antrag wurde als Genehmigung interpretiert: „Das Eingeständnis der Möglichkeit der ‚Ent-Rentung‘ setzt nicht die Verfassungswidrigkeit von Absatz 2 des Artikels 18 des Gesetzes Nr. 8.213/91 voraus. Diese Bestimmung gilt für andere Verbote, nicht aber für die ‚Ent-Rentung‘. Die Verfassungsmäßigkeit von Artikel 18 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.213/91 steht weder dem Verzicht auf die Leistung noch der ‚Ent-Rentung‘ entgegen, d. h. dem Verzicht auf die Gewährung einer neuen Leistung im selben RGPS oder in seinem eigenen Regime, wobei die Zeit der Dienstzeit / Beitragsleistung zugrunde gelegt wird, die die ursprüngliche Leistung gestützt hat.“183 Diese Neuinterpretation des Paragraphen 2 des Art. 18 des Gesetzes Nr. 8.213/91 beruht oft auf einer allgemeinen Konzeption der Pflicht zum verfassungsmäßigen Schutz, die sich aus den sozialen Rechten und der Menschenwürdeklausel ergibt: „[…] die an der ‚Ent-Rentung‘ interessierte Person wird weiterhin in das System der Sozialversicherung integriert bleiben, nicht nur wegen der unumstrittenen Bedingung des aktiven Beitragszahlers, sondern auch als ein Subjekt, das durch die verfassungsmäßige Bestimmung der sozialen Sicherheit geschützt ist und auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen durch die verfassungsmäßige Grundlage

183

Tribunal Regional Federal da 4ª Região. TRF4. [Regional Verwaltungsgericht der 4. Region] TRF4 – Apelação Cível [Zivilrechtlicher Anspruch] Nr. 5023796–15. 2012. 404.7000/PR. Dieser Fall wurde als repräsentativ für die Kontroverse ausgewählt.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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abzielt, das den sozialen Grundrechten und dem Schutz der Menschenwürde zugrunde liegt.“184 Mit dieser Neuinterpretation des § 2 des Art. 18 des Gesetzes Nr. 8.213/91 auf der Grundlage der allgemeinen Vorgaben des Verfassungstextes, also ohne Analyse der spezifischen Bestimmungen des Grundrechts auf Sozialversicherung in der Verfassung, wurde ein der Wörtlichkeit des Gesetzes zuwiderlaufender Schluss gezogen und eine darin nicht vorgesehene Leistung geschaffen. Das Dekret Nr. 3.048/99, 181-B, das sich mit der Unmöglichkeit des Verzichts auf die Leistung befasst, wurde als rechtswidrig verstanden, „weil es über die Grenzen der Verordnung hinausgeht“.185 Das heißt, wenn das Gesetz die ‚Ent-Rentung‘ nicht verhindert, kann der Erlass dies auch nicht tun. Auch wenn in den genannten Entscheidungen nicht ausdrücklich von den Kategorien der Prinzipientheorie Gebrauch gemacht wurde, ließen sie sich aus der allgemeinen und rhetorischen Argumentation des Obersten Justizgerichtshofs (STJ) im Fall der Renten-/Pensions-Zusatzbestimmung über eine Erhöhung um 25 % rekonstruieren. Die allgemeine Schutzpflicht der sozialen Grundrechte und des „Prinzips“ der Menschenwürde könnte in Kollision mit dem Ermessen des Gesetzgebers gebracht werden, der die Bestimmungen der Verfassung im Hinblick auf den Schutz im Alter zu regeln hat. Die Präponderanz der sozialen Grundrechte und des Schutzes der Menschenwürde als Optimierungsgebote könnte durchaus als „angemessen“ gerechtfertigt werden, um eine mögliche „Überbewertung der formalen Einstufung der den Versicherten gewährten Leistung“ zu überwinden. Es ist interessant, in diesem Zusammenhang die Entscheidung einer anderen Sektion desselben Regionalen Bundesverwaltungsgerichts der 4. Region (TRF4) zum gleichen Thema zu erwähnen, in der ausdrücklich die Annahmen der Prinzipien­ theorie verwendet wurden und die zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis kam: eine „Ent-Rentung“ auf der Grundlage einer „Abwägung zwischen Prinzipien“ wurde nicht zugelassen. Aus der Argumentation des Gerichts: „[…] Art. 18, § 2, des Gesetzes Nr. 8.213/91. Kollision von Prinzipien, die das Wohlfahrtssystem regeln. Prävalenz der Solidarität. Fehlende Verfassungswidrigkeit. […] 1. Es ist verboten, die Dienst-/Arbeitszeit nach der Pensionierung zum Zweck der Erhöhung des anfänglichen monatlichen Einkommens der proportionalen Unterstützung zu verwenden – Auslegung des Art. 18, § 2, des Gesetztes Nr. 8.213/1991. 2. Der Versicherte, der nach dem Renteneintritt bezahlte Tätigkeiten ausübt, hat nur dann Anspruch auf Familienbeihilfe und berufliche Rehabilitation, wenn er ordnungsgemäß erwerbstätig ist. 3. Es gibt keinen Hinweis auf die Nichteinhaltung der verfassungsmäßigen Richtlinien, da es keine Kapitalgegenleistungen (Beiträge) nach der Pensionierung gibt, da die Kollision des Schutzprinzips (als Widerspiegelung 184

Tribunal Regional Federal da 4ª Região. TRF4. [Regional Verwaltungsgericht der 4. Region] – Apelação Cível [Zivilrechtlicher Anspruch] Nr. 5023796–15. 2012. 404.7000/PR. 185 Tribunal Regional Federal da 4ª Região. TRF4. [Regional Verwaltungsgericht der 4. Region] – Apelação Cível [Zivilrechtlicher Anspruch] Nr. 5023796–15. 2012. 404.7000/PR.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

der Richtlinie der Hyposuffizienz) mit dem Solidaritätsprinzip, dem man den Vorrang einräumen muss, da das telos des Sozialversicherungssystems über den individuellen Interessen steht, sobald es darauf abzielt, alle Versicherten zu berück­ sichtigen und zu begünstigen.“186 Einmal mehr wird die Problematik der Rezeption selbst und der Anwendung der Prinzipientheorie in Brasilien deutlich. Nichts würde das Gericht daran hindern, den Vorrang des Schutzprinzips (als Widerspiegelung der HyposuffizienzRichtlinie) zum Nachteil des Solidaritätsprinzips zu verteidigen, als Grundlage für genau dieselbe Argumentationslinie. Tatsächlich haben die Gerichte, wenn auch nicht immer ausdrücklich, genau dies getan, um die „Ent-Rentung“ zu gewähren. Bei dieser Art der Interpretation des Grundrechts auf Sozialversicherung und seines Verhältnisses zur infrakonstitutionellen Gesetzgebung ist die Behandlung dieser spezifischen Frage der „Ent-Rentung“ durch den Obersten Bundesgerichtshof (STF) zu erwähnen, die eine Argumentationslinie annimmt, die mit der zitierten Rechtsprechung des STJ nicht im Einklang ist und mit dem dogmatischen Vorschlag, der hier entwickelt werden soll, kongruent ist. i) Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) zur ‚Ent-Rentung‘: die Nichtanerkennung der Annahmen der Prinzipientheorie Der Fall der ‚Ent-Rentung‘ wurde 2016 vom Obersten Bundesgerichtshof STF in der außerordentlichen Berufung Nr. 661.256 definitiv entschieden und die Hypothese der ‚Ent-Rentung‘ als rechtssystematisch verboten angesehen. Die Argumente des Gerichts unterstreichen die Fragen, die in dieser Arbeit über das Grundrecht auf Sozialversicherung und vor allem über das Verhältnis von Verfassung und infraverfassungsrechtliche Gesetzgebung, sowie die mögliche dogmatische Relevanz der Figur der Ausgestaltung in diesem Bereich entwickelt werden sollen. Die Position des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) unterscheidet sich in den angeführten Beispielen grundlegend von der Position der Fachgerichtsbarkeit. Von Interesse sind dabei die vom Obersten Bundesgerichtshofs (STF) aufgestellte zentrale These und die dafür verwendeten Grundlagen: „Die Verfassung von 1988 entwarf ein System der Sozialversicherung mit einem solidarischen und verteilenden Inhalt.“ In diesem Sinn, so das Gericht, und basierend auf der Annahme, dass die Regel des Artikels 18, Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 nicht verfassungswidrig ist, wurde festgestellt: „[…] im Rahmen des allgemeinen Sozialversicherungssystems (RGPS) kann nur ein Gesetz Leistungen und Vorteile der Sozialversicherung schaffen. Vorläufig gibt es aber keine gesetzliche Bestim-

186

Tribunal Regional Federal da 4ª Região. TRF4. [Regional Verwaltungsgericht der 4. Region] – Apelação Cível [Zivilrechtlicher Anspruch] Nr. 2005.72.09.000979–8/SC, DJU 15/01/2007.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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mung für das Recht auf ‚Ent-Rentung‘, da die Regel des Artikels 18, Absatz 2 des Gesetzes 8.213/1991 verfassungsmäßig ist.“187 Richter Zawaski sagte in seinem Votum,188 dass „das einfache Fehlen einer gesetzlichen Regelung für ein bestimmtes Recht, dem Fehlen einer Leistungspflicht der Sozialversicherung gleichkommt“.189 Das ist genau das Gegenteil von dem, was in der Fachgerichtsbarkeit entschieden wird. Richter Fachin, argumentierte, dass „der Justiz die Möglichkeit der Erhöhung von Sozialversicherungsleistungen nicht zuerkannt werden kann, ohne das Prinzip der Gesetzmäßigkeit zu beachten, wie es in der Verfassung für die Regelung dieser Art von Sozialleistungen vorgesehen ist“.190 In diesem Sinne fuhr Richter Fachin bei der Analyse der Frage des Verhältnisses zwischen der Verfassung und der Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherung fort: „[…] der Verfassungsgesetzgeber hat, wenn er sich speziell mit der Sozialversicherung befasst, in Artikel 201, Punkt I, die Risiken vorgesehen, die notwendigerweise durch allgemeine Regeln abgedeckt werden müssen, aber caput bei der Obergrenze dieser Bestimmung dem infrakonstitutionellen Gesetzgeber die Verantwortung für die Wahl der Kriterien zugeschrieben, nach denen die Risiken geschützt werden sollen.“191 Richterin Carmen Lúcia zitierte Art. 194, einziger Absatz, III, der Verfassung, der ein spezialisiertes und umfassendes Angebot an Leistungen und Dienstleistungen als eines der Ziele der Sozialversicherung festlegt, und sagte, dass „der Gesetzgeber bei der Bearbeitung von Art. 18, Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 gemäß der verfassungsmäßigen Ermächtigung die Leistungen ausgewählt hat, die den Rentnern der allgemeinen Sozialversicherung, die in die Tätigkeit zurückkehren, angeboten werden können“.192 Richter Gilmar Mendes argumentierte: „Es ist also keine Frage, ob die Verfassung ‚Ent-Rentung‘ zulässt oder nicht. Diese Angelegenheit wird dem Gesetzgeber zugestanden. Die Verfassung gibt Leitlinien vor, darunter das Solidaritätsprinzip, das Gleichgewicht des Systems.“ Der Richter verteidigte, dass Artikel 18 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 8.213/1991, der die Gewährung neuer Leistungen nach 187 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011 [Außerordentliche Rechtsmittelverfahren – mit der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbar]. 188 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Voten der Verfassungsrichter öffentlich sind. In Brasilien wird die komplette Verhandlung öffentlich durchgeführt und das Abstimmungsergebnis jedes einzelnen Richters ist damit bekannt. Das Ergebnis ergibt aus der Summe der Stimmen pro und contra, was dann jeder weiß. 189 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011. 190 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011. 191 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011. 192 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

der Pensionierung verbietet, mit dem verfassungsmäßigen Gebot der Solidarität vereinbar sei,193 denn die Versicherten tragen zum System als Ganzes bei, ein Ergebnis des verfassungsmäßigen Gebots der Ausgewogenheit des Systems. Daher ist es gerechtfertigt, die Gewährung neuer Leistungen auf der Grundlage dieser Beiträge zu verbieten. Unter Bezugnahme auf einen anderen vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) entschiedenen Fall, der sich mit der direkten Beziehung zwischen der Finanzierungsquelle des Rentensystems und den von ihm gewährten Leistungen befasste,194 betonte Richter Mendes, dass die Schaffung von Leistungen ohne vorherige Finanzierungsquellen „kein Verbot ist, das nur für den Gesetzgeber gilt. Dies ist ein hermeneutischer Vektor, der auch für den Interpreten gilt. Wenn man mittels Gesetzgebung keine Leistung ohne eine Finanzierungsquelle schaffen kann, dann gilt das Gleiche in Bezug auf die Schaffung hermeneutischer Anstrengungen. Daher kann dies auch nicht durch die Rechtsprechung geschehen. Es besteht kein Zweifel, dass […] es einen hermeneutischen Vektor gibt, der für das gesamte System gilt“.195 Der Oberste Bundesgerichtshof (STF) hatte bereits andere Fragen im Zusammenhang mit der Sozialversicherung entschieden, in denen die Rolle der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung des Grundrechts auf Sozialversicherung, der direkte Zusammenhang zwischen Finanzierungsquelle und Sozialversicherungsleistung und vor allem die Vorstellung, dass das Sozialversicherungsrecht auch dann, wenn es für die Versicherten vorteilhafter ist, nicht rückwirkend Leistungen erbringen kann, die vor seiner Gültigkeit gewährt wurden. In diesen Urteilen stellte das Gericht die These des „tempus regit actum“ bei der Anwendung des Rechts auf Sozialversicherung auf, d. h. die These, dass stets das Recht angewendet werden soll, das zu dem Zeitpunkt in Kraft war, als der Versicherte den Anspruch auf die Leistung erworben hat, auch wenn die spätere Gesetzgebung vorteilhafter ist.196 Kurz gefasst ist es möglich, in der Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) im Zusammenhang des Grundrechts auf Sozialversicherung eine Posi 193 Auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Solidaritätsprinzips hatte der Oberste Bundesgerichtshof (STF) bereits über die Verfassungsmäßigkeit des Verfassungszusatzes Nr. 41/2003 entschieden, der die Pflicht pensionierter Beamter und Rentner zur Leistung von Beiträgen zum öffentlichen Wohlfahrtssystem schuf: „Das öffentliche Sozialversicherungssystem hat den Zweck, dem älteren Bediensteten durch die Zahlung von Rentenleistungen im Alter die Existenzbedingungen, die Unabhängigkeit und die persönliche Würde zu garantieren, und muss gemäß Artikel 195 der Verfassung von der gesamten Gesellschaft direkt und indirekt finanziert werden, was wohl als das Strukturprinzip der Solidarität bezeichnet werden kann.“ Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – ADI 3105-DF. 194 „Art. 195, § 5. Keine Leistung oder Dienstleistung der Sozialfürsorge kann ohne die entsprechende Finanzierungsquelle eingerichtet, vergrößert oder ausgeweitet werden.“ 195 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011. 196 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – RE – 567.360-ED; STF – RREE 415.454 e 416.827 und STF – RE 495.042/AL.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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tion zu finden, die mit den Thesen übereinstimmt, die in der vorliegenden Arbeit zum Inhalt dieses Grundrechts und zum Verhältnis von Verfassung und infrakonstitutioneller Gesetzgebung in der Ausgestaltung des Grundrechts auf Sozialversicherung vertreten werden. Das Gericht geht nicht im Detail auf dogmatische Konzepte der sozialen Grundrechte ein, sondern stellt klare Richtlinien auf, die der These von der Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts auf Sozialversicherung sehr nahekommen, die hier untersucht wird.

j) Zwischenfazit Das Recht auf Sozialversicherung, das auf der Grundlage des Schemas von Träger oder Inhaber des Rechts, von Adressat des Rechts und Gegenstand oder Objekt des Rechts analysiert wurde, kann wie folgt definiert werden: Im Falle des Trägers oder Inhabers ist dies ein Recht, das demjenigen zusteht, der in der Sozial­ versicherung versichert ist, oder auch seine Angehörigen. Die brasilianische Verfassung definiert den Versicherten als jemanden, der direkt in das allgemeine System der Sozialversicherung einzahlt (Art. 201). Die infrakonstitutionelle Gesetzgebung, nämlich die Gesetze Nr. 8.212/1991 und Nr. 8.213/1991, definiert die Sozialversicherungsbeiträge und legt fest, wer die Versicherten bzw. deren Angehörige sind. Adressat dieses Rechts ist der Staat, genauer gesagt der Bund, der in Form der Sozialversicherung durch das „Allgemeine Sozialversicherungssystem“ organisiert ist. Die Verfassung legt eine Reihe von primären Handlungsgeboten fest, die den Inhalt eines normativen Handlungsgebots haben, und eine Reihe von sekundären Handlungsgeboten, die faktische Handlungsgebote sind, die sich aus ersteren ergeben. Die normativen Handlungsgebote sehen vor, dass der Staat durch infra­ konstitutionelle Gesetzgebung, die den materiellen Inhalt des Rechts auf Sozialversicherung vorgeben, handelt und die Verwaltungsstruktur, die für die Erfüllung dieser Leistungsverpflichtungen sorgen soll, sowie das Verfahren, nach dem diese Leistungen gewährt werden sollen, organisiert (Bereitstellung verwaltungsrechtlicher Organisation und Verfahren). Die infrakonstitutionelle Gesetzgebung hat mit dem „Allgemeinen Sozialversicherungssystem“ eine Bundesbehörde geschaffen, die in der Praxis die Sozialversicherungsleistungen erbringt (Leistungsverwaltung). Was den Gegenstand oder das Objekt des Rechtes betrifft, so ist das Grundrecht auf Sozialversicherung in Art. 6 der Verfassung im Kapitel über die Grundrechte festgehalten und wird auf verfassungsrechtlicher Ebene auch im Kapitel über die Sozialordnung geregelt. Was das Verhältnis zwischen diesen beiden Kapiteln der brasilianischen Verfassung betrifft, so wird in der vorliegenden Arbeit die Vorstellung verteidigt, dass es bereits eine horizontale Regulierungsdichte auf der Ebene der Verfassungsbestimmungen gibt, die durch eine inhaltliche Präzisierung des Grundrechts auf

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Sozialversicherung aus semantischer (was) und struktureller (wie) Sicht gekennzeichnet ist. Diese Präzisierung des staatlichen Umgangs mit dem Grundrecht auf Sozialversicherung enthält einen Anwendungs- bzw. Interpretationsvorrang (lex specialis) der Bestimmungen des Kapitels über die Sozialordnung im Hinblick auf das Kapitel über die sozialen Grundrechte, das in Art. 6 das Grundrecht auf Sozialversicherung in allgemeiner Form behandelt, sowie im Hinblick auf die Klausel der Menschenwürde als Grundlage des Rechtsstaats. Obwohl die Verfassung das Grundrecht auf Sozialversicherung mit einer angemessenen Spezifität regelt, ergibt sich das, was der Einzelne in dieser Hinsicht vom Staat verlangen kann, nicht in seiner Gesamtheit unmittelbar aus der Verfassung, sondern hängt in gewisser Weise von infrakonstitutionellen Bestimmungen ab. Die Verfassung regelt nicht unmittelbar die Realität – besser gesagt, die vom Staat geschuldeten faktischen Leistungen  –, was der Reflexivität dieses Grundrechts impliziert. Diese reflexive Dimension des Grundrechts auf Sozialversicherung in seinem Leistungsaspekt ermöglicht daher, es als ein Katalog von Verfassungsbestimmungen zu bezeichnen, die vorsehen, wie der Staat durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung die von der Sozialversicherung (Leistungsverwaltung) zu zahlenden Sozialversicherungsleistungen regeln soll (Ausgestaltungsgebot). Sie regeln aber nur die Regelung der faktischen Leistungen des Gesetzgebers.197 Die Verfassung gibt dem Gesetzgeber einen Ausgestaltungsspielraum darüber, was (der materielle Inhalt des Schutzes) und wie (die Form und das Verfahren, aus dem der Schutz erfolgen soll) zu regeln ist, aber es ist die infraverfassungsrechtliche Gesetzgebung, die diese Vermittlung zwischen der Verfassung und dem, was sachlich geboten ist, vornimmt. Anders gesagt: Das Verhältnis zwischen der Verfassung und der konkreten staatlichen Leistung ist mittelbar oder indirekt. Dieses Merkmal unterstreicht die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Grundrechts auf Sozialversicherung. Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) bezüglich des Grundrechts auf Sozialversicherung, die in dem zitierten Urteil über die ‚EntRentung‘ wiedergegeben wurde, folgt dieser Linie, wenn sie feststellt: „Der Verfassungsgesetzgeber hat, wenn er sich speziell mit der Sozialversicherung befasst, in Artikel 201, Punkt I, die Risiken vorgesehen, die notwendigerweise durch die allgemeine Regelung abgedeckt werden müssen, aber in caput dieser Bestimmung wurde dem infrakonstitutionellen Gesetzgeber die Verantwortung zugeschrieben, die Kriterien zu wählen, durch die die Risiken geschützt werden sollen. Die Spezialisierung der Leistungen ist eines der Ziele der Sozialversicherung“; „[…] nur das Gesetz kann Leistungen und Vorteile der sozialen Sicherheit schaffen“ und „[…] das bloße Fehlen einer gesetzlichen Bestimmung für ein bestimmtes Recht kommt dem Fehlen einer Leistungsverpflichtung seitens der Sozialversicherung 197 In diesem Sinne des reflexiven Charakters der Grundrechte siehe Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 226.

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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gleich“; „[…] die Verfassung lässt die Schaffung von Leistungen ohne eine Finanzierungsquelle durch die Gesetzgebung nicht zu“; „[…] außerdem impliziert diese direkte Beziehung zwischen einer Finanzierungsquelle und den Leistungen der Sozialversicherung, dass der Justiz nicht die Möglichkeit einer Erhöhung oder Schaffung von Leistungen der Sozialversicherung zuerkannt wird, ohne das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten.“198 Das Grundrecht auf Sozialversicherung ist somit in seinem Leistungsaspekt ein Anspruch auf normative Leistungen, die sich in einem Recht entfalten, das den Staat zur Regelung des Grundrechts auf Sozialversicherung (Recht auf Gesetzgebung – nach Maßgabe des Gesetzes) verpflichtet, und einem Recht auf Beteiligung an den bereits durch das Gesetz festgelegten öffentlichen Maßnahmen der Sozialversicherung, insbesondere dem Recht auf Zugang zu den Leistungen und Diensten der Sozialversicherung. Die Leistungen und Vorteile der Sozialversicherung sind jedoch nicht in der Verfassung, sondern in der Gesetzgebung geregelt. Mit anderen Worten, das Recht auf faktische Leistungen ist auf infrakonstitutioneller Ebene in dem Gesetz Nr. 8.213/1991 gefasst. Grundrecht auf Sozialversicherung

Abwehrrecht

Leistungsrecht

originäres normatives Leistungsrecht

Recht auf Gesetzgebung

Teilhaberecht (an der vorhandenen Gesetzgebung)

derivative faktische Leistung

Kurz gesagt, das Grundrecht auf Sozialversicherung enthält ein „Gesetzgebungsgebot“, aber kein Optimierungsgebot. Die sich daraus ergebende Reflexivität unterstreicht, wie bereits dargelegt, die Bedeutung der Figur der Grundrechtsausgestaltung als zentrales dogmatisches Element im Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetzgebung in diesem Bereich.

198 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

4. Die Ausgestaltung des Grundrechts auf Sozialversicherung Wenn aus innerverfassungsrechtlicher Sicht die These der horizontalen Regulierungsdichte als interpretative Richtlinie in Bezug auf das Grundrecht auf Sozialversicherung richtig ist, d. h. die Verwendung des Lex-specialis-Kriteriums, das einen Anwendungs- bzw. Interpretationsvorrang der spezifischen Verfassungsbestimmungen impliziert, muss auch die Frage gestellt werden: Ist es in Bezug auf das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung, d. h. aus hierarchischer oder vertikaler Sicht, möglich, der gleichen Argumentationslinie zu folgen? Oder anders gesagt: Kann in diesem Zusammenhang von einer vertikalen Regulierungsdichte als interpretative Richtlinie gesprochen werden? Die Antwort ist ja, mit einigen Besonderheiten. Auch hier werden die Begriffe (teleologischer) Stufenbau der Rechtsordnung und (Ziel)Pyramide des Öffentlichen Rechtes, genauer des Sozialversicherungsrechtes, hervorgehoben.199 Die Besonderheiten ergeben sich genau aus der hierarchischen Struktur, aus der sich die gesetzlichen Regelungen im Rahmen des Rechts auf Sozialversicherung zusammensetzen. Es ist daher richtig, von einer Kombination der Kriterien lex superior und lex specialis zu sprechen, wobei das erste überwiegt. So wie das Lex-specialis-Kriterium als Richtlinie interpretativ vorgeschlagen wurde, um das Verhältnis zwischen Normen derselben Hierarchie zu behandeln, die nicht im Widerspruch zueinander stehen, d. h. ohne jegliche Antinomien, so wird hier das Lex-superior-Kriterium in Kombination mit dem lex specialis verwendet, um das harmonische Verhältnis zwischen Rechtsvorschriften verschiedener Stufen zu behandeln, die nicht im Widerspruch zueinander stehen, wie es im Fall der korrekten Ausübung eines Ausgestaltungsgebots gegeben ist. Die infrakonstitutionelle Regulierung des Grundrechts auf Sozialversicherung gilt hier als lex specialis, sofern das Kriterium des lex superior erfüllt ist, d. h. sofern sie mit den Bestimmungen der Verfassung übereinstimmt. Die andere Frage, die es zu beantworten gilt, lautet also: Was bestimmt die Verfassung in Fragen der Sozialversicherung, und wie wird überprüft, ob diese harmonische Beziehung zwischen der Verfassung und der Gesetzgebung, d. h. die korrekte Ausübung eines Ausgestaltungsgebotes, hergestellt ist? Oben wurde die Idee verteidigt, dass die Verfassung ein relativ dichtes Set von Mindeststandards vorsieht, die das normative Handeln des Leistungsstaates bei der Regelung des Grundrechts auf Sozialversicherung leiten sollen. Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) folgt dieser Argumentationslinie, indem sie hervorhebt: „Der Verfassungsgesetzgeber hat in Artikel 201, Punkt I, bei der Behandlung der Sozialversicherung speziell die Risiken vorgesehen, die notwendigerweise durch die allgemeine Regelung abgedeckt werden müssen, aber in caput dieser Be 199

Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, S. 228; Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 385.

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stimmung wurde dem Gesetzgeber die Verantwortung für die Wahl der Kriterien zugeschrieben, durch die die Risiken geschützt werden sollen.“200 Der zuvor untersuchte Fall der in Art. 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 vorgesehenen zusätzlichen 25 % auf Invalidenrenten, der vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) noch nicht abschließend beurteilt wurde, ist ein gutes Beispiel, um die Grundlage für die Antwort auf die oben genannte Frage nach der korrekten Ausübung eines Ausgestaltungsgebots zu finden. Die Verfassung sieht vor, dass die Sozialversicherung bei der „Sicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen, einschließlich der durch Arbeitsunfälle, Alter oder Haft verursachten“ (Art. 201, I) tätig wird. Zur Regelung dieser Bestimmung sieht das Gesetz Nr. 8.213/1991 drei Leistungen der sozialen Sicherheit vor, die die Ereignisse „Arbeitsunfälle“, „Krankheit“ und „Invalidität“ als Schutzbereich haben, nämlich „Unfallhilfe“ (Art. 86); „Krankenhilfe“ (Art. 59 bis 63) und „Invaliditätsrente“ (Art. 42 bis 47). Im ersten Fall wird von einer teilweisen und dauerhaften Arbeitsunfähigkeit ausgegangen, im zweiten Fall von einer vollständigen und vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit und im dritten Fall von einer vollständigen und dauerhaften Arbeitsunfähigkeit. Es kann festgestellt werden, dass die infrakonstitutionelle Gesetzgebung eine Abstufung der Leistungen eingeführt hat, die als Parameter eine Beziehung zwischen der Intensität der Krankheit oder des Unfalls und der Verringerung der Arbeitsfähigkeit hat. Je intensiver die Auswirkungen der Krankheit oder des Unfalls auf die Arbeitsfähigkeit bis zum Erreichen der „Invalidität“ sind, desto höher ist der Wert der Leistung. Die Unfallhilfe entspricht 50 % des Leistungslohns,201 die Krankenhilfe 91 % des Leistungslohns und die Invaliditätsrente 100 % des Leistungslohns. Was das Ereignis „Alter“ betrifft, so sieht die Verfassung selbst in Art. 202 vor: „Die Rente wird im Rahmen des Gesetzes gewährleistet. Wenn die regelmäßige Inflationsangleichung der den Versicherungsbeiträgen zugrundeliegenden Monatsverdienste im Sinne der Erhaltung ihres Realwerts nachgewiesen ist, errechnet sich die Rente aus den letzten 36 für die Beitragszahlung veranschlagten und jeweils monatlich geldwertberichtigten Monatsverdiensten. Der Rentenanspruch besteht unter folgenden Bedingungen; I. im Alter von 65 Jahren für den Mann und im Alter von 60 Jahren für die Frau, wobei sich die Altersgrenze für Arbeitnehmer beiderlei Geschlechts in der Landwirtschaft und für diejenigen, die ihre berufliche Tätigkeit unter Einbezug der Arbeitskraft anderer Familienmitglieder verrichten, einschließlich der landwirtschaftlichen Produzenten, der Gold-/Edelstein- und Dia 200 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário Nr. 661.256/2011. 201 Der Leistungslohn ist ein arithmetisches Mittel, das aus der Beitragsgeschichte der Versicherten gebildet wird. Die Form der Berechnung ist in Artikel 29 ff. des Gesetzes Nr. 8.213/1991 vorgesehen. Dieser Durchschnitt basiert auf den oben genannten Prozentsätzen der Leistungen.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

mantensucher sowie der kleinberuflichen Fischer, um fünf Jahre reduziert; II. nach Erreichung von 35 Arbeitsjahren für den Mann und 30 Arbeitsjahren für die Frau oder nach einer geringeren Lebensarbeitszeit, in den gesetzlich bestimmten Fällen einer Arbeit unter besonderen, die Gesundheit oder körperliche Integrität beeinträchtigenden Bedingungen; III. nach 30 Jahren tatsächlich ausgeübten Lehramts für den Lehrer und nach 25 Jahren für die Lehrerin. § 1. Die Möglichkeit einer proportionalen Rente nach 30 Arbeitsjahren für den Mann und 25 Arbeitsjahren für die Frau ist gewährleistet. § 2. Zum Erwerb des Rentenanspruchs ist die reziproke Berechnung des Zeitraums der Beitragszahlung in der öffentlichen Verwaltung und in der Privatwirtschaft, auf dem Land und in der Stadt, gewährleistet. In diesem Fall leisten sich die verschiedenen Sozialversicherungssysteme in der gesetzlich bestimmten Weise untereinander Ausgleichszahlungen.“ Das Gesetz Nr. 8.213/1991 regelt die Bestimmungen des Artikels 202 der Verfassung und sieht zwei Arten von Rente / Pension vor: die Rente / Pension nach der Beitragszeit (Artikel 52 bis 56) und die Rente / Pension nach dem Alter (Artikel 48 bis 51). Genau wie die Verfassung es vorsieht, legt das Gesetz als Voraussetzung für den Erhalt der Rente / Pension entsprechend der Beitragszeit fest, dass die Versicherten unabhängig vom Alter eine bestimmte Anzahl von Beiträgen gezahlt haben müssen. Im zweiten Fall ist das festgelegte Alter (65 Jahre bei Männern und 60 Jahre bei Frauen) der zentrale normative Parameter für den Bezug der Rente / Pension nach Alter (addiert zu einer Mindestanzahl von Beiträgen). Sie ist im Verhältnis zur Altersleistung nach Beitragszeit niedriger. Denn, wie erwähnt, versteht die Fachgerichtsbarkeit, dass die Bereitstellung der in Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 vorgesehenen zusätzlichen 25 % nur im Falle der Invaliditätsrente202 eine Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung enthält, da sie dem Recht auf Gleichheit, der Generalklausel der Menschenwürde, der allgemeinen Bestimmung der sozialen Grundrechte in der Verfassung und den Bestimmungen des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ widersprechen würde. Sie verletzte die Gleichheit, indem sie angeblich „gleiche Situationen“, d. h. den Bedarf an Hilfe von anderen, ungleich behandelt, indem sie die Zusatzleistung nur denjenigen gewährt, die aufgrund einer Behinderung in Rente gehen, und nicht nach Beitragszeit oder Alter. Was die anderen Gründe betrifft, so gibt es keine spezifische Rechtfertigung für das Verhältnis der Zusatzbestimmung im Blick auf die Menschenwürde, die allgemeine Bestimmung der sozialen Grundrechte in der Verfassung und die Bestimmungen des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, sondern ist lediglich eine Erwähnung dieser Parameter. Im Grunde ignoriert die als Paradigma angeführte Entscheidung, dass die Verfassung die Ereignisse Krankheit und Behinderung einerseits und fortgeschrittenes Alter oder Beitragszeit andererseits als unterschiedliche Themen oder als 202

Art. 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991: „Der Betrag der Invaliditätsrente für den Versicherten, der die ständige Unterstützung einer anderen Person benötigt, wird um 25 % erhöht.“

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unterschiedliche Lebensbereiche, die Gegenstand gesetzgeberischen Handelns sein sollen, behandelt. Wenn die Verfassung bestimmt, dass der Gesetzgeber diese Bereiche ausgestalten soll, nimmt sie selbst bereits ein „Ermessen“ vor, was eine Differenzierung und Präzisierung des verfassungsrechtlichen Handlungsgebots impliziert. Die Verfassung sieht eine gesetzliche Behandlung für unterschiedliche Situationen vor, für eine Invalidität auf der einen Seite und für das Alter oder den Zeitverlauf auf der anderen Seite. Es gibt also einen verfassungsrechtlichen Parameter, der eine differenzierte Behandlung zulässt und dem Gesetzgeber die Befugnis gibt, diese Differenzierung vorzunehmen. Dieser Ermessensspielraum besteht auch bei der verfassungsmäßigen Behandlung von Behinderungen. Unter Berücksichtigung der horizontalen Regelungsdichte als Parameter der Verfassungsinterpretation sind diese verfassungsrechtlichen Handlungsgebote, die die von der Sozialversicherung zu schützenden Lebensbereichen festlegen, spezifischer als die Generalklauseln der Menschenwürde und der Gleichheit, die allgemeine Vorschrift der sozialen Grundrechte in der Verfassung und die Bestimmungen des „Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Es ist Sache des Gesetzgebers, aufgrund dieser spezifischen verfassungsrechtlichen Handlungsgebote auszuwählen, auf welche Art und Weise er den jeweiligen Lebensbereich schützen will. Aus historischer Sicht wurden diese verschiedenen Bereiche des Lebens  – Krankheit und Invalidität einerseits und der Verlauf der Beitragszeit und des Alters andererseits – von der Gesetzgebung immer unterschiedlich behandelt. Es gibt eine Gesetzgebungstradition, die bei der Auslegung der Verfassung nicht ignoriert werden darf. Es ist die „Logik“ (proprium) der Invaliditätsrente, dass sie mit mehr oder weniger schweren Invaliditätssituationen zu tun hat. Für die Rente nach Beitragszeit oder die Rente nach Alter ist es nicht charakteristisch, dass die konkrete Arbeitsleistung oder des Lebens des Versicherten als Selbständiger analysiert werden. Im letzteren Fall reicht es aus, dass der Versicherte für die Mindestzeitdauer beigetragen hat oder ein bestimmtes Alter erreicht, um Anspruch auf die Leistung zu haben, unabhängig davon, ob er arbeitsfähig ist oder nicht und auf die Hilfe eines Dritten angewiesen ist oder nicht. Dasselbe kann für die verfassungsmäßige und gesetzliche Behandlung von Menschen mit Behinderungen gesagt werden. Es gibt ausdrückliche Bestimmungen in der Verfassung, die Menschen mit Behinderungen und die Behandlung, die die Sozialversicherung ihnen zukommen lassen soll, behandeln. In diesem Sinne legt die Verfassung in Art. 201, § 1 fest: „Die Annahme differenzierter Anforderungen und Kriterien für die Gewährung des Ruhestands der Begünstigten des allgemeinen Systems der Sozialversicherung ist verboten, außer im Falle von Tätigkeiten, die unter besonderen Bedingungen ausgeübt werden, die die Gesundheit oder die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigen, und im Falle von Versicherten mit Behinderungen, wie sie im Gesetz definiert sind.“

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Die Verfassung sieht eine differenzierte Behandlung von Menschen mit Behinderungen im Ruhestand vor. Hier hat die Verfassung eine ausdrückliche Beziehung zwischen Beitragszeit und Behinderung festgelegt und eine Sonderbehandlung für diese Beziehung festgelegt. Es gibt ein Gesetz, das sich speziell mit diesen Rentenhypothesen befasst und differenzierte Beitragszeiten und -alter für Behinderte vorsieht, das Gesetz Nr. 142/2013. Das heißt, es gibt eine spezielle verfassungs­mäßige und rechtliche Behandlung für Behinderte, die sich auf die Beitragszeit oder das Alter und den Grad der Behinderung bezieht. Das Gesetz klassifiziert Behinderungen in leichte, mittlere und schwere. Bei der Pensionierung von Menschen mit Behinderungen wird jedoch genau das Gegenteil von der Invaliditätspensionierung angenommen.203 In der ersten Situation setzt die Verfassung die Fähigkeit voraus, trotz der Behinderung arbeiten zu können. In der zweiten Situation setzen Verfassung und Gesetz das völlige Fehlen der Arbeitsfähigkeit aufgrund von Krankheit oder Invalidität voraus. Es gibt keine verfassungsmäßige Grundlage für die Verwendung der verfassungsmäßigen Bestimmungen über die Behinderung als Interpretationsparameter im Falle der zusätzlichen Bestimmung in Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 für Invalidenrentner. Man kann nicht sagen, dass eine mögliche Behinderung in dem einen oder anderen Fall die gleichen Situationen impliziert und dass die rechtliche Behandlung sie in einer verfassungswidrigen Weise unterscheidet. Es geschieht genau das Gegenteil. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen der Verfassung und der infrakonstitutionellen Gesetzgebung kann man feststellen, dass das Gesetz Nr. 8.213/​1991 durch die Regelung der „Versicherung von Krankheits-, Invaliditäts- und Todesfällen, sowie Alter oder Haft, einschließlich der durch Arbeitsunfälle verursachten“ (Art. 201, I, der brasilianischen Verfassung) ordnungsgemäß das verfassungsrechtliche Ausgestaltungsgebot gestaltet hat. Sie hat für jede Situation spezifische Sozialversicherungsleistungen geschaffen, die ihre Besonderheiten berücksichtigen. Tatsächlich folgte sie der Tradition des Sozialversicherungsrechts in Brasilien, das historisch gesehen in der unterverfassungsrechtlichen Gesetz­ gebung spezifische Leistungen für jeden dieser Lebensbereiche vorsah, obwohl es bis 1988 keine verfassungsmäßige Bestimmung für das Grundrecht auf Sozialversicherung gab. Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991, der die oben genannte Zusatzbestimmung vorsieht, erfüllt einen weiteren Schritt des verfassungsrechtlichen normativen Handlungsgebotes des Art. 201, I (Ausgestaltungsgebot), denn er bringt eine vierte Möglichkeit der „Versicherung von Krankheits-, Invaliditätsfällen“ mit sich, da die arbeitsunfähige Person für die Ausübung ihrer täglichen Tätigkeiten noch die Hilfe eines Dritten benötigt. Der Zusatz folgt der Logik der Invaliditätsleistungen, die eine proportionale Abstufung zwischen dem Schweregrad der Arbeitsunfähigkeit, die eine Invalidität erreichen kann, und der entsprechenden Sozialversicherungsleistung festlegt. 203

Die Bedingungen für den Erhalt der Invaliditätsrente wurden oben erläutert.

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Es gibt keine Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung und keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung. Ganz im Gegenteil. Die aktuelle Gesetzgebung folgt den geltenden verfassungsrechtlichen Parametern und weicht nicht von der historisch gegebenen gesetzgeberischen Behandlung der Angelegenheit ab, d. h. sie gewährleistet eine differenzierte normative Behandlung für verschiedene Ereignisse. Kurz gesagt, wenn keine Unterschreitung des verfassungsrechtlichen Handlungsgebots vorliegt, d. h. wenn es eine rechtliche Grundlage für die Behauptung gibt, dass die infrakonstitutionelle Gesetzgebung mit den bestehenden verfassungsrechtlichen Parametern übereinstimmt, wie im Fall der zusätzlichen Bestimmung in Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991, ist es nicht Sache der Justiz, eine Leistung durch Interpretation auf der Grundlage eines angeblich „vernünftigeren“ oder „gerechteren“ Begriffs als dem vom Gesetzgeber gewählten zu schaffen oder zu erweitern.204 In diesem Sinne ist Ehmkes klassische Lektion zu verstehen: „Es [das Verfassungsgericht] hat nur zu fragen, ob das Gesetz noch mit der Verfassung vereinbar ist, nicht, ob es von der Verfassung her gesehen die bestmögliche oder auch nur eine gute Lösung darstellt.“205 Gerichtsentscheidungen, die die genannte Zusatzbestimmung für nicht in der Gesetzgebung vorgesehene Hypothesen erweitern, tun aber genau das. Sie stellen eine Hypothese über den im Verfassungstext nicht vorgesehenen Schutz auf. Sie verwenden eine Kombination der Kriterien des fortgeschrittenen Alters und der Beitragszeit mit der Situation der Behinderung, entweder auf der Grundlage allge­ meiner extratextueller Argumente, wie die Idee der Gerechtigkeit und der Vernünftigkeit, oder auf der Grundlage textlicher, aber allgemeiner Argumente, wie den diffusen Begriffen des Schutzes der Menschenwürde, der Gleichheit und der sozialen Rechte. Sie ignorieren jedoch die verfassungsrechtliche Regelungsdichte im Bereich des Sozialversicherungsrechts und lassen die in der Verfassung bestehende horizontale Regulierungsdichte außer Acht. Dies ist insofern zweifelhaft, als durch das Ignorieren der bestehenden Regulierungsdichte in der Verfassung der gesamte Komplex der staatlichen Verbindungen, die sich aus den spezifischeren Verfassungstexten ergeben, betroffen ist. Unter dem Vorwand, die Verfassung zu erfüllen, handeln sie paradoxerweise gegen deren Anordnungen. Wenn der Oberste Bundesgerichtshof (STF) bei der künftigen Entscheidung über den in Artikel 45 des Gesetzes Nr. 8.213/1991 vorgesehenen Zusatzbestimmung 204 Nach der im Falle der ‚Ent-Rentung‘ zitierten Rechtsprechung des Obersten Bundes­ gerichts „kann nur das Gesetz Leistungen und Vorteile der sozialen Sicherheit schaffen“; „das bloße Fehlen einer gesetzlichen Regelung eines bestimmten Rechts ist gleichbedeutend mit dem Nichtbestehen einer Leistungspflicht der sozialen Sicherheit“; die Verfassung erlaubt nicht die Schaffung von Leistungen ohne eine Finanzierungsquelle durch die Gesetzgebung. Darüber hinaus impliziert diese direkte Beziehung zwischen Finanzierungsquelle und Sozialversicherungsleistungen, dass „die Justiz die Möglichkeit einer Erhöhung oder Schaffung von Sozialversicherungsleistungen ohne Beachtung des Prinzips des gesetzlichen Vorbehalts nicht anerkennt“. 205 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 69.

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seiner eigenen Rechtsprechung folgt, soll er notwendigerweise der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit widersprechen und die Möglichkeit der Gewährung der Zusatzbestimmung auf die gesetzlich vorgesehenen Fälle beschränken.

5. Die Umgestaltung des Rechts auf Sozialversicherung Die Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung kann nicht nur als ein Parameter für die Feststellung dessen dienen, was im Hinblick auf die Konstitution von sozialen Grundrechten, d. h. für die infrakonstitutionelle Gesetzgebung, die erstmals das Grundrecht regelt (Ausgestaltung), wichtig ist, sondern auch im Hinblick auf deren Verkürzung bei einer Änderung der bestehenden Gesetzgebung, die das soziale Grundrecht bereits reglementiert (Umgestaltung). Ein Beispiel aus dem portugiesischen Recht veranschaulicht dieses Argument. 1984 entschied das portugiesische Verfassungsgericht über eine Frage der Reform des nationalen Gesundheitssystems. Die portugiesische Verfassung, in Kraft seit 1976, sieht in ihrem Art. 64 den Schutz der Gesundheit als Staatszielbestimmung vor: „1. jeder Mensch hat das Recht auf Gesundheitsschutz und die Pflicht, dieses zu verteidigen und zu fördern. 2. das Recht auf Gesundheitsschutz wird verwirklicht: a) durch einen universellen und allgemeinen nationalen Gesundheitsdienst, der, unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Bürger, tendenziell kostenlos ist; […]“ Das nationale Gesundheitssystem wurde durch das Gesetz Nr. 56 von 1979 geschaffen. Eine der grundlegenden Fragen, die in diesem Fall erörtert wurden,206 war, dass die durch das Gesetzesdekret Nr. 254 vom 29. Juni 1982 umgesetzte Reform, wie vorgeschlagen, „der Zerstörung oder Vernichtung des Nationalen Gesundheitsdienstes gleichkommt“. Mit anderen Worten: Die Reform höhlte den sozialen Schutz aus, der durch die infrakonstitutionelle, die Verfassung verdichtende Gesetzgebung geschaffen worden war. Im fraglichen Fall ging das Verfassungsgericht davon aus, dass der portugiesische Gesetzgeber bei der Errichtung des nationalen Gesundheitssystems dem verfassungsrechtlichen normativen Handlungsgebot des Art. 64 entsprochen habe und dass er daher unter einem negativen Gesichtspunkt an ein relatives Verbot gebunden sei, Reformen durchzuführen, die den durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung geschaffenen Sozialschutz beseitigen oder untergraben. Dieses relative negative Verbot wurde vom Verfassungsgerichtshof als „soziales Rückschrittsverbot“ bezeichnet:207 „Das Recht auf Gesundheit besteht, wie die meisten sozialen Rechte, im Wesentlichen aus einem Recht der Bürger auf bestimmte staatliche 206 Es gab damals eine Diskussion über die Zuständigkeiten zur Änderung bestehender Gesetze, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist und daher hier nicht kommentiert wird. 207 Urteil 39/84 des Portugiesischen Verfassungsgerichts. Zum Ausdruck vgl. J. J.  Gomes ­Canotilho, Constituição Dirigente  e Vinculação do Legislador, Coimbra: Coimbra Editora, 1982, S. 374.

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Maßnahmen oder Leistungen, die sich aus der Verpflichtung des Staates ergeben, diese zu ergreifen oder zu gewähren. Der Verfassung der Portugiesischen Republik reichte es nicht, das Recht auf Gesundheit zu verankern. Sie ging dazu über, eine Reihe von staatlichen Aufgaben festzulegen, mit denen dies erreicht werden soll. Vor allem wurde in der Verfassung die „Schaffung eines nationalen Gesundheitsdienstes“ vorgesehen (Artikel 64., Nr. 2). Die Schaffung eines nationalen Gesundheitsdienstes ist daher ein Instrument – das erste! –, das Recht auf Gesundheit zu verwirklichen. Er ist daher integraler Bestandteil eines Grundrechts der Bürger und eine Verpflichtung des Staates. In der Typologie der Verfassungsnormen mit „positivem“, „direktivem“ oder „führendem“ Charakter  – d. h. solchen, die […] ein bestimmtes Handeln des Staates erfordern – nimmt die Norm, die die Schaffung eines nationalen Gesundheitsdienstes bestimmt, den Charakter eines verfassungsrechtlichen Handlungsgebotes an, und zwar in dem spezifischen Sinne, den die Rechtslehre diesem Ausdruck zuschreibt […]. Es handelt sich nicht um eine einfache „programmatische Norm“ im gewöhnlichen Sinne des Ausdrucks, die abstrakt und zeitlich unbestimmt ist, sondern um eine konkrete und dauerhafte verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates. […] Dass der Staat die ihm übertragenen konkreten und bestimmten verfassungsrechtlichen Aufgaben nicht ordnungsgemäß erfüllt, kann nur mittels einer verfassungsmäßigen Ächtung (Zensur) aus Gründen der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung behandelt werden. Wenn der Staat aber das, was zur Erfüllung dieser seiner Aufgabe bereits getan wurde, rückgängig macht und damit die Garantie eines Grundrechts in Frage stellt, dann ist die Verfassungszensur (der Verfassungsbruch) bereits durch Handeln auf die Ebene der Verfassungswidrigkeit gehoben. […] Dies bedeutet, dass von dem Moment an, in dem der Staat (ganz oder teilweise) die ihm von der Verfassung auferlegten Aufgaben zur Verwirklichung eines sozialen Rechts erfüllt, die verfassungsmäßige Achtung dieses Rechts nicht mehr (oder nicht mehr nur) aus einer positiven Verpflichtung besteht, dieses umzusetzen, sondern kann auch zu einer negativen Verpflichtung werden. Der Staat, der verpflichtet war, alles zu tun, um ein Sozialrecht zu garantieren, ist nun verpflichtet, die Erfüllung des Sozialrechts nicht zu untergraben.“208 Dieselbe Argumentation lässt sich auch im Fall der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und ihrem Verhältnis zur infrakonstitutionellen Gesetzgebung oder sogar im Fall der Verfassungsreform durch Verfassungsänderungen anwenden, die das im Verfassungstext vorgesehene Sozialschutzniveau absenken. Wenn die Umgestaltung einen von der Verfassung delegierten Gegenstand in einer für den Gesetzgeber verbindlichen Form (Ausgestaltungsgebot), d. h. in Form eines Handlungsgebotes, behandelt, kann die Gesetzesänderung als eine unzulässige Einschränkung des Grundrechts angesehen werden, wenn sie nicht mehr dem verfassungsrechtlich normativen Handlungsgebot entspricht, d. h., wenn sie den durch die Verfassung festgelegten und durch die geänderte Gesetzgebung geschützten 208

Urteil 39/84 des Portugiesischen Verfassungsgerichts.

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Lebensbereich nicht schützt. Eine Reform mittels infrakonstitutioneller Gesetzgebung mit dem Potenzial, ein zuvor durch eine andere Gesetzgebung verdichtetes Sozialgrundrecht einzuschränken, muss daher eine verfassungsrechtliche Grundlage dafür schaffen, um keine Verfassungswidrigkeit oder, wie das portugiesische Verfassungsgericht es genannt hat, ein „soziales Rückschrittsverbot“ darzustellen. Im Falle eines völligen Erlöschens des Sozialschutzes oder einer erheblichen Einschränkung des infrakonstitutionellen Schutzniveaus lässt sich eine Verfassungswidrigkeit leichter nachweisen. Im Falle einer teilweisen Änderung der infra­ konstitutionellen Gesetzgebung (oder der Verfassung) geht die Diskussion von einem höheren Komplexitätsgrad aus. Denn natürlich kann der Gesetzgeber im Hinblick auf seine ständige Aufgabe, die Verfassung zu erfüllen, nicht komplett alternativlos werden. Änderungen in der Sozialgesetzgebung, wie z. B. das Gesetz zur Regelung des Grundrechts auf Sozialversicherung in Brasilien, sind manchmal notwendig. Als Beispiel kann die gestiegene Lebenserwartung der Menschen, die in die Sozialversicherung einzahlen, genannte werden und die Auswirkungen, die dies auf die Absicherung im Alter durch Sozialversicherungsleistungen hat. In solchen Fällen kommt es ebenso wie bei der Pflicht zur erstmaligen Ausgestaltung der Grundrechte darauf an, zu wissen, was das verfassungsrechtliche Handlungsgebot enthält, genauer gesagt, was durch den Verfassungstext für jedes Grundrecht als Mindeststandard festgelegt ist. Die Abgrenzung zwischen dem, was ein Mindeststandard ist, und dem, was eine akzessorische und nicht obligatorische Einhaltung eines verfassungsrechtlichen Handlungsgebotes wäre, kann sich, wie gesagt, im Laufe der Zeit ändern. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung als fruchtbar dar, da sie an der Abgrenzung dieser Mindeststandards mitwirken und so das Festgelegte vom nur durch den Verfassungstext Erlaubten in dynamischer Hinsicht unterscheiden kann. Soweit der Gesetzgeber das normative verfassungsrechtliche Handlungsgebot (Ausgestaltungsgebot) richtig befolgt, können die zentralen Konturen, die dem Sozialgrundrecht gegeben wurden, durch die künftige Gesetzgebung nicht einfach beseitigt oder so eingeschränkt werden, dass die Vorschriften und damit das Grundrecht selbst inhaltlich entleert werden. Die über den Mindeststandard (Ausgestaltungsvorbehalt) hinausgehenden Entwicklungen der infrakonstitutionellen Gesetzgebung zum Sozialgrundrecht können dagegen vom Gesetzgeber leichter modifiziert und schließlich eingeschränkt werden. In beiden Fällen muss dafür jedoch eine verfassungsrechtliche Grundlage vorhanden sein bzw. das Fehlen eines verfassungsrechtlichen Verbots. Das Ziehen der Grenze zwischen einer erlaubten Modifikation der infrakonstitutionellen Gesetzgebung und einer unzulässigen Einschränkung des geregelten Sozialgrundrechts kann jedoch nicht a priori in ihrem vollen Umfang definiert werden. Dies hängt vom gesellschaftlichen Kontext, von den Gründen, weshalb die infrakonstitutionelle Gesetzgebung oder die Verfassung selbst geändert wurden, und vom Inhalt der vorgeschlagenen oder durchgeführten Reform ab. Trotzdem

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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kann die Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen. Das brasilianische Sozialversicherungssystem wurde erst kürzlich durch die Verfassungsänderung Nr. 103/2019 modifiziert. Mehrere Regelungen zu den Sozialversicherungsleistungen wurden geändert, unter anderem die Regelungen zur Todesfallrente. Artikel 23 der Verfassungsänderung Nr. 103/2019 lautet wie folgt: „Die Todesfallrente, die einem unterhaltsberechtigten Angehörigen eines Versicherten in der Allgemeinen Sozialversicherung […] gewährt wird, entspricht einem Familienanteil von fünfzig Prozent (50 %) des Betrags der Rente, die der Versicherte […] bezieht oder auf den er Anspruch hätte, wenn er wegen dauerhafter Invalidität am Todestag in den Ruhestand versetzt worden wäre, zuzüglich der Quote von zehn (10) Prozentpunkten je unterhaltsberechtigtem Angehörigen bis zu höchstens hundert Prozent (100 %).“ Das schon erwähnte Gesetz Nr. 8.213/1991, das die Regelung der Verfassungsvorschriften in Bezug auf das Sozialversicherungsrecht enthält, sah in Bezug auf die Todesfallrente Folgendes vor: „Art. 75. Die monatliche Höhe der Todesfallrente beträgt vorbehaltlich der Bestimmungen des Art. 33 dieses Gesetzes einhun­dert Prozent des Betrags des Altersruhegeldes, das der Versicherte bezog oder auf das er Anspruch gehabt hätte, wenn er am Tag seines Todes in den Ruhestand getreten wäre.“ Es kann durchaus festgehalten werden, dass die Behandlung der Todesfallrente durch die Verfassungsänderung weniger vorteilhaft ist als die durch die vorherige Gesetzgebung vorgegebene, da der Rentenwert nach der Verfassungsänderung potenziell niedriger ist. Waren es vorher unabhängig von der Anzahl der Angehörigen 100 %, beträgt die Todesfallrente heute mindestens 50 % und kann je nach Anzahl der Angehörigen bis zu 100 % betragen. Mit der Veröffentlichung der Verfassungsänderung hätten zwei verschiedene Situationen eintreten können: Sie hätte das Recht auf eine Rente im Todesfall einfach erlöschen lassen können. In diesem Fall hätte die Verfassungswidrigkeit der Reform festgestellt werden können, da der in der Verfassung vorgesehene Schutz des Todesfalles als Aufgabe der Sozialversicherung einfach abgeschafft worden wäre. Was tatsächlich geschah, war etwas Anderes. Mit der Verfassungsänderung wurde die Sozialversicherungsleistung nicht abgeschafft, sondern ein ungünstigeres Schutzniveau als in der vorher bestehenden infrakonstitutionellen Gesetzgebung geschaffen. Vor der Reform bestimmte die Verfassung lediglich den Schutz des Todesfalles durch die Todesfallrente, ohne dass ein Grundrecht dafür skizziert wurde. Die Umrisse wurden durch das Gesetz Nr. 8.213/1991 gegeben. Unter dem Gesichtspunkt der Grundrechtsausgestaltung, genauer gesagt der Umgestaltung, kann dieser Aspekt der Reform in Frage gestellt werden: Handelt es sich um eine durch den Verfassungstext erlaubte Änderung oder um eine unzulässige Einschränkung des Grundrechts auf Sozialversicherung?

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Eine historische Analyse der Behandlung, die die Sozialversicherung dem Todesfall und der sozialen Absicherung dieses Ereignisses durch die Todesfallrente zuteilwerden ließ, ermöglicht eine Klärung der Frage. Wie bereits erwähnt, bestand die Sozialversicherung bereits vor der Verfassung von 1988, war aber nur auf der infrakonstitutionellen Ebene vorgesehen. Bis 1988 wurde die Sozialversicherung durch die Verordnung Nr. 89.312/1984 organisiert, die Geltung mit Gesetzesrang hatte. Artikel 48 des Dekrets sah für die Rente Folgendes vor: „Die Höhe der Rente, die allen unterhaltsberechtigten Personen zusteht, setzt sich zusammen aus einem Familienanteil von fünfzig Prozent (50 %) des Betrags der Rente, die er erhalten hat oder auf die er Anspruch gehabt hätte, wenn er am Tag seines Todes in den Ruhestand getreten wäre, plus so viele Anteile von zehn Prozent (10 %) des Betrags derselben Rente wie es unterhaltsberechtigte Personen gibt, bis zu einem Maximum von fünf (5).“ Die Verfassung von 1988 hat das Thema verfassungsrechtlich verankert, ließ aber, wie gesagt, die Grundzüge dieser Sozialversicherungsleistung offen: „Artikel 201. Die Programme der Sozialversicherung erstrecken sich im Wege der Beitragszahlung und nach Maßgabe der Gesetze auf: […] V. Zahlung einer Pension / ​ Rente an den Ehegatten des oder der verstorbenen Versicherten unter Berücksichtigung der Regelungen in § 5 und in Art. 202.“ Bis 1991 wurde die Regelung für die Todesfallrente durch das Dekret Nr. 89.312/ 1984 festgelegt. Der ursprüngliche Wortlaut des Gesetzes Nr. 8.213/1991, das erstmals die Verfassung von 1988 regelte und das Dekret aufhob, sah Folgendes vor: „Art. 75. Die monatliche Todesfallrente beträgt: a) einen auf die Familie bezogenen Teil von 80 % (achtzig Prozent) des Wertes der Rente, die der Versicherte erhalten hat oder auf die er Anspruch hätte, wenn er am Tag seines Todes in Rente gegangen wäre, plus ebenso viele Raten von 10 % (zehn Prozent) des Wertes derselben Rente wie es Angehörige gibt, höchstens jedoch 2 (zwei); b) 100 % (einhundert Prozent) des am Tag des Unfalls geltenden Leistungs- oder Beitragslohns, je nachdem, was vorteilhafter ist, falls der Tod eine Folge eines Arbeitsunfalls ist.“ Diese Bestimmung wurde 1995 durch das Gesetz Nr. 9.032 geändert und lautete nun wie folgt: „Art. 75. Der monatliche Betrag der Rente im Todesfall, einschließlich der Rente infolge eines Arbeitsunfalls, besteht aus einem monatlichen Einkommen in Höhe von einhundert Prozent (100 %) des Leistungslohns, vorbehaltlich der Bestimmungen des Abschnitts III, insbesondere des Art. 33 dieses Gesetzes.“ Im Jahr 1997 wurde die Bestimmung durch das Gesetz Nr. 9.528 erneut geändert und lautete nun wie folgt: „Art. 75. Die monatliche Todesfallrente beträgt hundert Prozent des Betrags des Altersruhegeldes, den der Versicherte am Tag seines Todes bezog oder auf den er Anspruch hätte, wenn er am Tag seines Todes wegen Invalidität in den Ruhestand versetzt worden wäre, wobei die Bestimmungen von Art. 33 dieses Gesetzes zu beachten sind.“

II. Normtextzentrierte Grundrechtsdogmatik

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Der Art. 23 der Verfassungsänderung Nr. 103/2019 kehrt nun zu einer ähnlichen Regelung zurück, wie sie in dem der Verfassung von 1988 vorausgegangenen Gesetz vorgesehen war, das jedoch in die Verfassung von 1988 aufgenommen worden war. Diese Regelung, die infrakonstitutionell war, hat nun einen Verfassungsrang. Mit anderen Worten: Ab 2019 lässt die Verfassung die Konturen der Todesfallrente nicht mehr völlig offen. Gab es in diesem Fall eine verfassungswidrige Reform, die das Grundrecht auf Sozialversicherung im Hinblick auf seinen Einsatz zum Schutz des Todesfalles unangemessen eingeschränkt hat? Grundsätzlich nicht. Denn zunächst ist festzustellen, dass aus historischer Sicht das Schutzniveau in Bezug auf den Rentenbetrag im Todesfall zwischen mindestens 50 %, 80 % und bis zu 100 % lag, manchmal unter Berücksichtigung der Zahl der Angehörigen, manchmal unter Missachtung dieses Kriteriums. Selbst seit der Gültigkeit der Verfassung von 1988 gab es Situationen größeren und geringeren Schutzes. Anders ausgedrückt: Was im Hinblick auf den Schutz durch die Todesfallrente als Mindeststandard angesehen werden kann, war bereits mit dem Niveau vereinbar, das derzeit durch den Verfassungszusatz Nr. 103/2019 festgelegt wird. Andererseits kann argumentiert werden, dass das derzeitige, durch die Verfassungsänderung festgelegte Niveau in Bezug auf den Schutz logischer erscheint als das vorherige, das vorsah, dass der Versicherte der Sozialversicherung fast 100 % des Betrags erhält, der an Verstorbenen im Fall des Renteneintritts ausgezahlt wird. Dies liegt daran, dass die Angehörigen des verstorbenen Versicherten mehr Sozialversicherung erhalten würden als in dem Fall, dass der Versicherte noch am Leben wäre. Dies ist die dazugehörige Erklärung: Wenn die versicherte Person verheiratet ist und das einzige Einkommen des Paares aus dem Arbeitsentgelt oder dem Ruhestandsgehalt bestritten werden müsste, wären mit diesem Betrag zwei Personen zu unterstützen. Nach der vorherigen Regelung des Art. 75 des Gesetzes Nr. 8.213/2013 würde die Rente, die übertragen wird, 100 % betragen, um aber nur noch den Unterhalt für eine einzige Person, Witwe oder Witwer, zu gewährleisten. In der Praxis würde das dazu führen, dass die Witwe / der Witwer durch die Rente mehr verdienen würde, als wenn der Versicherte der Sozialversicherung noch am Leben wäre. Das Ergebnis der derzeitigen Regelung ist, dass die Witwe / der Witwer 50 % des Rentenbetrags erhält, was nun aber dem Betrag entspricht, wenn der / die Verstorbene noch am Leben wäre. Wenn es mehr Angehörige gibt, wird dieser Betrag für jeden von ihnen um 10 % bis auf 100 % erhöht. Mit dieser Argumentation ist es möglich, die Verfassungsmäßigkeit der Reform zu verteidigen und damit die erlaubte Ausübung des Umgestaltungsspielraums des Gesetzgebers zu begründen, da das Sozialversicherungssystem weiterhin den Todesfall schützt. Obwohl die neue Regelung theoretisch als weniger vorteilhaft angesehen werden kann, folgt sie der Tradition der Gesetzgebung in diesem Bereich und erhält für diesen Lebensbereich den Schutz, den die Verfassung garantiert. Was den Schutzumfang anbelangt, so folgt die Reform im Hinblick auf die Funktion der Todesfallrente einer durchaus vertretbaren Logik, da sie den Verstorbenen

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

selbst aus der Erhebung des zuzahlenden Betrags ausschließt, aber gleichzeitig die Anzahl der Angehörigen des Verstorbenen berücksichtigt.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte: die Bindung an die Verfassung und an die Gesetzgebung und das Problem der verfassungsgerichtlichen Kontrolle In den vorangegangenen Topoi wurde die Rolle der Grundrechte im Allgemeinen und des Grundrechts auf Sozialversicherung im Besonderen analysiert, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen diesem Grundrecht und dem Gesetzgeber, aber nicht nur das. Wenn es um den leistungsrechtlichen Gehalt der sozialen Grundrechte geht, d. h. die Rolle des Gesetzgebers als primärer, die der Exekutive als sekundärer und die der Judikative als tertiärer Adressat, ist das Verhältnis zwischen den verfassungsrechtlichen Geboten und den anderen Gewalten des Staates allgemein diskutiert worden. Im Zusammenhang mit der Analyse der brasilianischen Verfassung wurde das, was hier als horizontale Regulierungsdichte als interpretative Richtlinie der sozialen Grundrechte bezeichnet wurde, hervorgehoben. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetzgeber wurde die zentrale Rolle betont, die die dogmatische Figur der Grundrechtsausgestaltung einnehmen kann und muss. In diesem Zusammenhang wurde auf die vertikale Regulierungsdichte als interpretative Richtlinie hingewiesen. Es wurde argumentiert, dass die Verfassung für jeden Aspekt des Grundrechts auf Sozialversicherung, die auf der Verfassungsebene bereits besteht, Mindeststandards festlegt, die vom Gesetzgeber ausgestaltet werden müssen. Nur bei einer evidenten Unterschreitung dieser Mindeststandards kann von einer verfassungsrechtlich fehlerhaften Ausübung des Ausgestaltungsgebots gesprochen werden. Von nun an ist von Interesse, zu untersuchen, wie einerseits diese Verbindung des Leistungsstaats mit dieser horizontalen und vertikalen Regulierungsdichte im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit überprüft werden kann und wie andererseits Leistungsverwaltung und Fachgerichtsbarkeit handeln sollen, um dieses hierarchisch organisierten Grundrechts zu konkretisieren.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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1. Die Verfassungsgerichtbarkeit aus der Sicht des Verhältnisses zwischen dem Recht auf Sozialversicherung und den verfassungsrechtlichen Kompetenzen Die Rolle der Judikative als tertiärer Adressat der sozialen Grundrechte muss bei der Analyse der Dynamik des Leistungsstaates verschiedene Facetten annehmen. Denn neben der Prüfung, ob die Grundrechte eingeschränkt wurden, ist bei der Frage nach dem leistungsrechtlichen Gehalt dieser Grundrechte auch zu prüfen, ob die übrigen staatlichen Gewalten dem verfassungsrechtlichen Handlungsgebot, genauer dem Ausgestaltungsgebot, entsprochen haben, d. h. ob sie entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben kompetenz- und inhaltsmäßig richtig gehandelt haben. Nur die letzte Facette, die leistungsrechtliche Tätigkeit des Staates, ist bei dieser Untersuchung von Interesse. Andererseits muss die Rolle der Judikative in dieser Dynamik aus zwei unterschiedlichen, aber komplementären Funktionen der Gerichtsbarkeit heraus betrachtet werden: die der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Unterlassungen und die der Fachgerichtsbarkeit bei der Kontrolle von Handlungen der Leistungsverwaltung. a) Wann findet eine verfassungswidrige Unterlassung statt? Das Problem der Lücken im Bereich des Rechts auf Sozialversicherung Die oben über die Position der Fachgerichtsbarkeit zum Grundrecht auf Sozialversicherung bearbeiteten Beispiele zeigen, dass manchmal das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für eine bestimmte Leistung, die vom Bürger als angeblich vom Staat geschuldet empfunden wird, in der Rechtsordnung als ‚Lücke‘ behandelt wird. Das hier vorgeschlagene faktische Kriterium zur Klärung, ob diese angebliche ‚Lücke‘ wirklich existiert, ist die konkrete Entscheidung der Leistungsverwaltung, eine bestimmte Leistung wegen fehlender gesetzlicher Bestimmungen zu verweigern. Die drei genannten Fälle befassen sich genau damit. Das theoretische und praktische Problem von Lücken im Recht ist nicht neu. Aus der Sicht der Methodenlehre des Privatrechts gibt es eine sehr reichhaltige Diskussion und verschiedene Möglichkeiten, das Problem zu theoretisieren und zu lösen.209 Unmittelbar mit diesem Thema verbunden ist die Debatte über das Verhältnis von Interpretation und Rechtsfortbildung und damit die richterlichen Rechtsfortbildung.210 Im Zusammenhang mit dem Öffentlichen Recht ist die Debatte jedoch nicht so reichhaltig wie im Privatrecht. Wenn man den Leistungsstaat 209

Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, passim, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, passim. In historischer Perspektive siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, ­passim. 210 Im Bereich des öffentlichen Rechts, siehe Müller / Christensen, Juristische Methodik, passim.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

betrachtet, scheinen sowohl die Diskussion als auch die Lösungsvorschläge der Rechtsmethodenlehre im Allgemeinen noch weiter entfernt zu sein. Die zentrale Frage, die es zu stellen gilt, lautet: Macht es Sinn, über Lücken im öffentlichen Recht zu sprechen? Macht es konkret Sinn, mit dem Begriff ‚Lücke‘ zu arbeiten, wenn man mit der leistungsrechtlichen Tätigkeit des Staates konfrontiert ist, wie im Fall des Grundrechtes auf Sozialversicherung? Ausgehend vom Begriff der Lücke, bei dem „das geltende Recht nicht angewendet werden kann, weil es keine auf den Fall anwendbare generelle Norm enthält“211 oder bei dem „die Anwendung der geltenden Rechtsordnung für unbefriedigend“212 gehalten wird, wird davon ausgegangen, dass die Antwort auf beide Fragen Nein lautet. Bei der Untersuchung der Funktion des Staates in Bezug auf den abwehrrechtlichen Gehalt der Grundrechte und das Gesetzmäßigkeitsprinzip213 wird deutlich, dass das Prinzip der Lücke unzureichend ist. Das Fehlen einer gesetzlichen Handlungsregelung, d. h. einer Lücke im obigen Sinne, impliziert das Fehlen einer Ermächtigung zur Eingriffsverwaltung. Daher ist es dem Staat verboten, zu handeln. Wenn er handelt, dann illegal. Was die Grenzen des Tätigwerdens betrifft, ist die Lösung strukturell die gleiche. Wenn der Staat die Grenzen der Ermächtigung überschreitet und damit ein Grundrecht unangemessen einschränkt, kann das Handeln als verfassungswidrig oder illegal angesehen werden. Das Gesetzmäßigkeitsprinzip gilt aber auch für den Leistungsstaat bzw. für die Leistungsverwaltung,214 insbesondere im Hinblick auf seine Entfaltung als Geset-

211 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 252. Kelsen kritisiert diese Position, stellt sie aber als die dominierende Position in der Lückentheorie dar. 212 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 253. Er spricht über die „Differenz zwischen einem positiven Recht und einem Wunschrecht“. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 254. 213 Nach Maurer bindet „der Grundsatz der Gesetzmässigkeit die Verwaltung […] an die Regelungen des Gesetzgebers und unterwirft sie damit der Kontrolle der Verwaltungsgerichtsbarkeit […]. Er enthält zwei Komponenten, nämlich einmal den Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes und zum anderen den Vorbehalt des Gesetzes.“ Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes „bringt die Bindung der Verwaltung an die bestehenden Gesetze zum Ausdruck und besagt, dass die Verwaltungsbehörden – positiv – den Gesetzen entsprechend handeln müssen und – negativ – keine gegen die Gesetze verstossenden Massnahmen treffen dürfen. […] Nach dem Vorbehaltsprinzip darf die Verwaltung nur tätig werden, wenn sie dazu durch Gesetz ermächtigt worden ist. Dieses Prinzip verlangt also mehr als das Vorrangsprinzip. Während jenes nur den Vertoss gegen bestehende Gesetze verbietet, verlangt dieses darüber hinaus eine gesetzliche Grundlage für die Verwaltungstätigkeit. Das Fehlen eines Gesetzes schliesst nicht nach dem Vorrangsprinzip, aber nach dem Vorbehaltsprinzip ein Tätigwerden der Verwaltung aus.“ Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 115–116 Rn. 1–3. 214 „Die Verteilung staatlicher Mittel, die in Verfolgung sozial-, wirtschafts- und kulturpolitischer Zielsetzungen gewährt werden, muss durch Gesetze bestimmt werden, die die Vergabe im einzelnen bindend und voraussehbar festlegen und dem Bürger entsprechende subjektive Rechte vermitteln. Im sozialen Rechtsstaat geht es nicht nur um Freiheit vom Staat, sondern auch um Freiheit im Staat und durch den Staat.“ Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 124. „Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man die Auffassung teilt, dass (bestimmte) Grundrechte

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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zesvorbehalt (des Prinzips).215 Anders als bei der Eingriffsverwaltung, die nach dem Gesetz eine Handlungsermächtigung (Dürfen) benötigt, ohne die es keine Kompetenz gibt, ist bei der Leistungsverwaltung neben der Ermächtigung das Vorsehen eines positives Handlungsgebots (Sollen), besser gesagt, ein im Gesetz verankertes faktisches Handlungsgebot, erforderlich. Im Fall der sozialen Grundrechte ist nach den in der vorliegenden Arbeit vertretenen Vorstellungen die vorherige Existenz eines normativen Handlungsgebots, genauer eines Ausgestaltungsgebots, erforderlich, das, einmal korrekt erfüllt, dieses faktische Handlungsgebot bestimmt. Aus formaler Sicht bedeutet das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für eine bestimmte Leistung, dass die Leistungsverwaltung keine Pflicht und damit keine Zuständigkeit hat. Konkret bedeutet dies, dass es für den Bürger kein Recht gibt, vom Staat positives faktisches Verhalten zu verlangen. Dies ist auch die Position des Obersten Bundesgerichtshofs (STF), die im Fall der ‚Ent-Rentung‘ zum Ausdruck kommt: „Das bloße Fehlen der gesetzlichen Regelung eines bestimmten Rechts ist gleichbedeutend mit dem Fehlen einer Leistungspflicht der Sozialversicherung“;216 „[…] der Justiz wird die Möglichkeit der Erhöhung der Sozialversicherungsleistung ohne Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, wie es in der Verfassung für die Regelung dieser Art von Leistungen vorgesehen ist, nicht anerkannt.“217 Im Hinblick auf die Leistungsverwaltung macht es keinen Sinn, mit dem in der Diskussion der Rechtsmethodenlehre im Allgemeinen vorhandenen traditionellen Konzept der Lücke zu arbeiten, da es dafür ein eigenes Konzept im Rahmen des Öffentlichen Rechts im Leistungsstaat gibt. Was von der Leistungsverwaltung als geschuldet angesehen werden kann, aber aufgrund des Fehlens einer gesetzlichen Regelung nicht gewährt wird, muss auf der Nichteinhaltung eines Handlungsgebots beruhen, d. h. einer Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung für das Verhältnis von Verfassung und Gesetz und gegebenenfalls einer Gesetzeswidrigkeit wegen Unterlassung für das Verhältnis von Gesetz und infrarechtlichen Gesetzgebung. Statt als „Lücke“-Fragestellung behandelt zu werden, muss daher das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für eine bestimmte Leistung im Rahmen des Grundrechts

nicht nur Abwehrrechte darstellen, sondern auch eine leistungsrechtliche Komponente erhalten und Leistungsansprüche vermitteln […]. Es ist dann nur folgerichtig, dass der jeweilige grundrechtliche Gesetzesvorbehalt auch die leistungsstaatliche Seite erfasst und eine gesetzliche Regelung der Leistungsgewährung erfordert […].“ Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 125. 215 „Der Gesetzesvorbehalt gilt nicht nur für die materiell-rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Bürger, sondern erstreckt sich auch auf die Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsverfahren. Der Aufbau und die Strukturen der Verwaltung, die Errichtung der Verwaltungsträger, die Zuständigkeiten der Behörden und die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens in seinen Grundzügen müssen durch Gesetz festgelegt werden.“ Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 130. 216 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof]  – Recurso extra­ ordinário Nr. 661.256/2011. 217 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof]  – Recurso extra­ ordinário Nr. 661.256/2011.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

auf Sozialversicherung beispielsweise zwangsläufig einer Verfassungswidrig­keit wegen Unterlassung entsprechen. Aus Sicht der Verfassungsmäßigkeitskontrolle muss die Frage daher als ein Problem der Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassung behandelt werden. In Bezug auf den materiellen Aspekt, d. h. den Inhalt der verfassungswidrigen Unterlassung, wurde schon weiter oben über die evidente Nichteinhaltung eines Mindeststandards als Parameter gesprochen.218 Was die formale Frage anbelangt, so ist neben dem konkreten Fehlen eines positiven Handlungsgebots der Leistungsverwaltung, die die Verneinung einer bestimmten Leistung rechtfertigt, zu analysieren, wer für die Kontrolle dieser staatlichen Untätigkeit zuständig ist und mit welchen Parametern diese Kontrolle ausgeübt werden kann. b) Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassung: Wer ist dafür zuständig? Im zweiten Kapitel wurde die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung in Brasilien, einer Neuerung der Verfassung von 1988 behandelt. Es gibt zwei Kontrollinstrumente, die Mandado de Injunção-Klage und die Unterlassungsfeststellungsklage. Für beide Instrumente ist ausschließlich der Oberste Bundesgerichtshof (STF) zuständig. Trotzdem wurde bei der Behandlung von Beispielen für das Vorgehen der Fachgerichte im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Sozialversicherung gesagt, dass in der Praxis letztlich die Fachgerichte die Kontrolle der Verfassungsmäßig­keit ausüben – entweder ausdrücklich wegen Unterlassung, wenn sie die Verfassungs­ widrigkeit durch Unterlassung der politischen Gewalten erklären und „Lücken“ in der Sozialversicherungsgesetzgebung „füllen“, indem sie staatliche Leistungen schaffen oder deren Inzidenzspektrum erweitern; oder stillschweigend, wenn sie in diesem Bereich staatliche Leistungen schaffen, ohne die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung auch nur zu erwähnen, d. h. durch direkte Anwendung der Bestimmungen der Verfassung oder sogar mit den Argumenten von Gerechtigkeit und Zumutbarkeit. Was die letztgenannte Art des Vorgehens der Fachgerichtsbarkeit betrifft, so wurde im zweiten Kapitel die Rezeption der Prinzipientheorie in Brasilien in dem Sinne kritisiert, dass ihre Annahmen die reale Möglichkeit der Invisibilisierung der in der Verfassung verankerten Normenkontrolle gegen verfassungswidrige Unterlassungen implizieren, eben weil die Richter die Verfassung direkt anwenden und die Kontrolle der verfassungswidrigen Unterlassung manchmal missachten. Die zitierten Beispiele machen dieses Problem deutlich.

218

Dieses Thema wird weiter unten erneut behandelt werden.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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Mit anderen Worten, um die Terminologie der Rechtsmethodenlehre zu verwenden, führen die Richter aller Instanzen Rechtsfortbildung durch und schaffen staatliche Leistungen direkt aus der Verfassung, auf der Grundlage von prinzipiellen und / oder wertenden Argumenten, wobei die Existenz einer ‚Lücke‘ vorausgesetzt wird, in den meisten Fällen, wenn „die Anwendung der geltenden Rechtsordnung für unbefriedigend“219 gehalten wird und damit auf einem „Wunschrecht“ beruht.220 Wenn das Lücken-Konzept jedoch nicht angemessen ist, um über die Dynamik des Leistungsstaats nachzudenken, muss die Grundlage dieser richterlichen Rechtsfortbildung der Fachgerichtsbarkeit in diesem Bereich in Frage gestellt werden. Es wird angenommen, dass die Rechtsfortbildung im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung in Brasilien in erster Linie eine normative und nicht ausschließlich eine theoretische Frage ist, oder eine der Rechtsmethodenlehre, d. h. sie betrifft diejenigen, die die Kompetenz haben, das Problem der fehlenden Gesetzgebung zu analysieren und schließlich zu beheben, im Falle der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung. Es ist notwendig, die Frage der Zuständigkeit für die dekonzentrierte oder diffuse Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung in Brasilien zu untersuchen, d. h. ob es aus verfassungsrechtlicher Sicht diese Kompetenz gibt. In der brasilianischen Lehre wird dieses Thema nur selten angesprochen. Wenn sie es jedoch tut, räumt sie eine solche Möglichkeit ein, wenn auch ohne wirkliche Grundlagen und oft unter der Annahme, dass, da es eine dekonzentrierte oder diffuse Kontrolle der Konstitutionalität und folglich auch der Unterlassungen gibt, es folglich eine diffuse oder dekonzentrierte Kontrolle der Konstitutionalität wegen Unterlassungen gibt. Die hier vertretene Hypothese ist dem diametral entgegengesetzt. Die brasilianische Verfassung sieht nur die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung im konzentrierten Modus vor, genauer gesagt als ausschließliche Zuständigkeit des Obersten Bundesgerichtshofs (STF). Eine diffuse oder dekonzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung und damit für die Rechtsfortbildung durch die Fachgerichtsbarkeit ist nicht vorgesehen. Im Gegensatz zu der hier vertretenen These ließe sich argumentieren, dass die brasilianische Verfassung zwar nicht ausdrücklich eine diffuse oder dekonzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassungen vorsieht, diese aber nicht verbietet. Einige Autoren behaupten sogar, dass Art. 5, XXXV, der Verfassung, der die Klausel des „Revisionsrechts der Judikative“ vorsieht („Dies sagt aus, dass der Justiz die Möglichkeit der Würdigung von Rechtsverletzungen nicht entzogen werden darf.“), eine Grundlage für die Existenz dieser diffusen oder dekonzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassungen bieten würde, da die Verletzung von Rechten, die sich aus der Verfassungswidrigkeit 219 220

Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 253. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 254.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

wegen Unterlassung oder einer „Lücke“ ergibt, wie in einigen Fällen entschieden, nicht der Kontrolle der Judikative entzogen werden kann und daher von jedem Richter kontrolliert werden kann und muss. In diesem Sinne ist die Position von Sarlet / Marinoni / Mitidiero zu verstehen: „Es gibt keinen Grund, die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung nicht durch jeden einzelnen Richter in beiläufiger und konkreter Weise zuzulassen. Unabhängig von der Klage, in der behauptet wird, dass der Gesetzgeber ein Grundrecht nicht oder nicht ausreichend geschützt hat, ist die Justiz verpflichtet, den Fall zu analysieren und, wenn das Problem identifiziert ist, eine Norm auszuarbeiten, die ausreichend ist, das betreffende Grundrecht zu schützen. Andernfalls wäre die Justiz nicht nur ohne jede Befugnis zum Schutz der Grundrechte, sondern die Verfassung selbst würde auch nicht über Verfahrensmechanismen verfügen, die ihr die angemessene normative Kraft garantieren könnten.“221 Dies ist jedoch eine Fehlinterpretation. Die Analyse der Instrumente der Kontrolle verfassungswidriger Unterlassungen führt zu dem Schluss, dass die Zuständigkeit sich auf das jeweilige Urteil des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) konzentriert. Das Gericht verfügt über die originäre Kompetenz für den Erlass einer Mandado de Injunção-Klage (konkrete Verfassungskontrolle wegen Unterlassung) und für das Urteil einer Unterlassungsfeststellungsklage (abstrakte Verfassungskontrolle wegen Unterlassung, Art. 103 § 2). Hinsichtlich der Mandado de Injunção-Klage schreibt die Verfassung vor: „Art. 102. Der Oberste Bundesgerichtshof (STF) ist in erster Linie zum Hüter der Verfassung berufen; ihm obliegt: I. in originärer Zuständigkeit die Verhandlung und Entscheidung: […] q) über die Mandado de Injunção-Klage, falls der Erlass der Ausführungsnorm dem Präsidenten der Republik, dem Nationalkongress, der Abgeordnetenkammer, dem Bundessenat, den Präsidien dieser gesetzgebenden Häuser […]“ Darüber hinaus steht im Art. 5, LXXI der brasilianischen Verfassung dass, „immer wenn aufgrund des Fehlens einer Regulierungsnorm die Ausübung von Rechten und Freiheiten verhindert wird, sowie die mit der Staatsangehörigkeit, Souveränität und Staatsbürgerschaft verbundenen Vorrechte / Rechte vorenthalten werden, die Mandado de Injunção-Klage zu erteilen ist.“ In der brasilianischen Verfassung selbst ist kein anderes Instrument der Kontrolle der konkreten Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung zu finden. Wenn Art. 102, III, der brasilianischen Verfassung die Voraussetzungen für die Diskussion im konkreten Fall der Verfassungsmäßigkeit der Normen im Bereich des so genannten „außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens“ definiert, dessen Urteil auch ausschließlich dem Obersten Bundesgerichtshof obliegt, sieht er keine Möglichkeit der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung vor: „Art. 102. Der Oberste Bundesgerichtshof (STF) ist in erster Linie zum Hüter der Verfassung berufen; ihm obliegt: […] III. die Entscheidung im Verfahren über das Außerordentliche Rechtsmittel („Recurso extraordinário“) bezüglich in einziger oder letzter 221 Sarlet / Marinoni / Mitidiero, Curso de direito constitucional [Verfassungsrechts-Kurs]. 6. Auflage, São Paulo: Saraiva, 2017, S. 1287.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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Instanz ergangener Urteile, falls diese: a) eine Vorschrift dieser Verfassung verletzen; b) ein Abkommen oder ein Gesetz des Bundes für verfassungswidrig erklären; c) ein Gesetz oder einen Akt einer örtlichen Regierung für gültig erklären, deren Gültigkeit unter Berufung auf diese Verfassung angefochten wurde.“ Aus historischer und rechtsvergleichender Sicht wurde die dekonzentrierte oder diffuse Kontrolle der Konstitutionalität mit der Verfassung von 1891 in das brasilianische Recht eingefügt, das sich am nordamerikanischen Recht orientierte. Das „Außerordentliche Rechtsmittelverfahren“, dessen Urteilssprechung zu diesem Zeitpunkt bereits in den Händen des damals neu geschaffenen Obersten Bundesgerichtshofs (STF) lag, war in sehr ähnlichen Hypothesen anwendbar, wie sie in der geltenden Verfassung vorgesehen sind. Sie alle nahmen die Verfassungswidrigkeit nur durch Handeln und nicht durch Unterlassen an. Es gibt nichts Offensichtlicheres. Erstens, weil das amerikanische System der Verfassungsmäßigkeitskontrolle nie Verfassungsmäßigkeitskontrolle wegen Unterlassung kannte, und zweitens, weil diese Art der Kontrolle zu dieser Zeit in keinem anderen Staatsmodell existierte. Bezüglich der Verfassungskontrolle wegen Unterlassungen fand der brasilianische Verfassungsgeber von 1988 Inspiration in der portugiesischen Verfassung von 1976.222 In diesem Sinne sieht die portugiesische Verfassung vor: „Art. 283. (1) Auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Ombudsmanns für das Rechtswesen oder, mit der Begründung einer Verletzung der Rechte der autonomen Regionen, auf Antrag der Präsidenten der gesetzgebenden Regionalversammlungen, befindet und stellt das Verfassungsgericht die Nichterfüllung der Verfassung wegen Unterlassung der erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Ausführung ihrer Bestimmungen fest. (2) Stellt das Verfassungsgericht das Vorhandensein einer Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung fest, so macht sie davon dem zuständigen gesetzgeberischen Organ Mitteilung.“ Die Zuständigkeit für die Kontrolle der Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung ist in Portugal im Verfassungs­gericht konzentriert. Obwohl Portugal eine diffuse oder dekonzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit vorsieht, ist die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung standardmäßig konzentriert. Mit anderen Worten: Die beiden Modelle der Verfassungsmäßigkeitskontrolle, die das brasilianische Modell direkt inspiriert haben, sehen nicht standardmäßig eine diffuse oder dekonzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung vor. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Hypothese einer diffusen oder dekonzentrierte Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung in der brasilianischen Verfassung nicht vorgesehen ist. Ganz im Gegenteil. Die Verfassung sieht ausdrücklich vor, dass diese Art der Kontrolle ausschließlich dem Obersten Bundesgerichtshof (STF) obliegt. Wenn diese These zutrifft, kann festgehalten 222

Siehe dazu Piovesan, Proteção judicial contra omissões legislativas. Ação direta de inconstitucionalidade por omissão e mandado de injunção [Rechtsschutz gegen Unterlassungen der Gesetzgebung. Direkte Klage auf Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung und Mandado de Injunção-Klage], São Paulo: Revista dos Tribunais, 1995, S. 87.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

werden, dass die Fachgerichtsbarkeit in den zitierten Fällen des Grundrechts auf Sozialversicherung, in denen eine Verfassungswidrigkeitserklärung wegen Unterlassung und damit die Schaffung oder Ausweitung staatlicher Leistungen oder auch die Schaffung oder Ausweitung von Leistungen ohne Verfassungswidrigkeitserklärung wegen Unterlassung, die unmittelbar auf der Verfassung beruhte, ohne Kompetenz Kontrolle der behaupteten Unterlassungen gehandelt hat.

c) Die Mandado de Injunção-Klage und das Recht auf Sozialversicherung als originäres und derivatives Leistungsrecht Nachdem die Prämisse aufgestellt ist, dass die Verfassungskontrolle wegen Unterlassungen in Brasilien nur in der konzentrierten Form besteht, d. h. nur vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) ausgeübt werden kann, muss geklärt werden, welche Funktion das einzige Instrument der Verfassungskontrolle wegen konkreter Unterlassungen, d. h. die Mandado de Injunção-Klage, hat. Das Fehlen einer infrakonstitutionellen Rechtsvorschrift, die die Ausübung eines Grundrechts behindert, ist genau die Voraussetzung für die Prüfung und Erteilung einer Mandado de Injunção-Klage nach Artikel 5, LXXI der brasilianischen Verfassung. Im zweiten Kapitel wurde die gerichtliche und rechtswissenschaftliche Diskussion über die Rolle der Klage auf Erlass einer Mandado de Injunção-Klage erörtert. An dieser Stelle ist es wichtig, diese Diskussion im Zusammenhang mit den Konzepten des Rechts auf normative und faktische Leistungen, genauer gesagt im Hinblick auf das Grundrecht auf Sozialversicherung, zu überdenken. Die Grundfrage lautet also: Dient der Erlass einer Mandado de Injunção-Klage nur dazu, eine Verfassungswidrigkeit wegen normativer Unterlassung zu beheben, da ja gesagt wurde, dass Leistungsgrundrechte in der Regel nur originäre normative Leistungen generieren, oder ist es möglich, sie zur Behebung faktischer Leistungsprobleme einzusetzen? Das Gesetz Nr. 13.300/2016 löste die Lehrkontroverse teilweise, indem es die Bestimmung der Verfassung bezüglich des Erlasses einer Mandado de InjunçãoKlage regelte: „Art. 8. Sobald der Zustand der gesetzgeberischen Verzögerung anerkannt ist, wird die Mandado de Injunção-Klage auf den entsprechenden Antrag erlassen: II – die Bedingungen werden festgelegt, unter denen die beanspruchten Rechte, Freiheiten oder Vorrechte ausgeübt werden, oder, falls es zutreffend ist, werden die Bedingungen, unter denen die betroffene Partei Maßnahmen ergreifen kann, um die beanspruchten Rechte ausüben zu können, falls die gesetzgeberische Verzögerung nicht innerhalb der festgelegten Frist behoben wird.“ Bei der Festlegung der „Bedingungen, unter denen die Rechte ausgeübt werden“ ist der Oberste Bundesgerichtshof (STF) befugt, den Inhalt der Rechte sowie die Form und das Verfahren zu bestimmen, von denen aus sie ausgeübt werden können. Mit anderen Worten: Der Oberste Bundesgerichtshof (STF) tritt an die Stelle

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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des Gesetzgebers (primärer Adressat), der eine verfassungswidrige Unterlassung begangen hat. Er erfüllt damit ein normatives Handlungsgebot und kann damit faktische Handlungsgebote auferlegen. Wenn eine solche Aussage richtig ist, muss sie mit der Aussage in Einklang gebracht werden, dass die sozialen Grundrechte nur normative originäre Leistungsrechte enthalten. Das Gericht übernimmt die Rolle des Gesetzgebers, indem es seine normative Unterlassung für den konkreten Fall behebt. Dies steht nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass der faktische leistungsrechtliche Gehalt der sozialen Grundrechte in der Regel nur derivative ist. Der Unterschied besteht darin, dass sich der Aspekt der faktischen Leistungen des sozialen Grundrechts auf der Grundlage des Urteils der Mandado de Injunção-Klage im konkreten Fall aus der Entscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) ergibt, die normativen Inhalt hat und als Mittler zwischen der Verfassung und der Leistungsverwaltung fungiert. Die Voraussetzung für den Erlass einer Mandado de Injunção-Klage ist jedoch das völlige oder teilweise Fehlen einer infrakonstitutionellen Regulierungsvorschrift. Wenn eine solche Regulierung existiert und mit der Verfassung vereinbar ist, dann ist der Erlass einer Mandado de Injunção-Klage nicht zulässig, d. h. er ist kein Instrument, um Fragen der verfassungswidrigen faktischen Unterlassung zu lösen. Wenn es eine Gesetzgebung gibt, dann ist das Problem des Fehlens einer faktischen Unterlassung ein Problem der Nichteinhaltung des Gesetzes und nicht der Verfassung. Eine Frage ist jedoch bisher unbeantwortet geblieben: Vorausgesetzt, dass die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung stattfindet, was könnten die Grenzen dieser Kontrolle sein? d) Untermaßverbot und die Kontrolle von Unterlassungen: der Fall der sozialen Rechte in Brasilien Nachdem das Problem der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Unterlassungen in Brasilien im Hinblick auf die Rechtsprechung analysiert wurde, bedarf es einer Studie über den Inhalt dieser Kontrolle, d. h. über die Grenzen der Verfassungsgerichtbarkeit im Umgang mit dieser Frage, insbesondere im Hinblick auf die sozialen Grundrechte und dabei speziell auf das Grundrecht auf Sozialversicherung in Brasilien. Eines der in der deutschen Rechtsliteratur und Rechtsprechung entwickelten Kriterien zur Kontrolle von Unterlassungen ist das so genannte Untermaßverbot, das für einige Autoren eine Art Kehrseite des Übermaßverbotes223 darstellen würde, obwohl gesagt wird, dass es keine Symmetrie zwischen den Formeln gibt.224 Das 223

Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion. Untersuchung einer umstrittenen Rechtsfigur. Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 156. 224 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 142 ff.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Übermaßverbot dient der Kontrolle von Beschränkungen der Grundrechte, insbesondere der Abwehrrechte, und das Untermaßverbot dient der Unterlassungskontrolle für den Fall der Nichteinhaltung von Handlungsgeboten aus dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte und damit der Leistungsrechte.225 Die Figur des Untermaßverbots steht insbesondere im Zusammenhang mit dem Inhalt der im Grundgesetz vorgesehenen Schutzpflicht der Grundrechte. Es wurde in Brasilien sowohl von der Lehre als auch von der Rechtsprechung, einschließlich des Obersten Bundesgerichtshofs STF, übernommen und als Teil des sogenannten „doppelten Gesichts“ des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit konzipiert.226 Es gibt eine nicht geringe Problematik im Zusammenhang mit dieser dogmatischen Figur, die hier nicht analysiert werden kann.227 Grundsätzlich geht es in der vorliegenden Arbeit darum zu wissen, ob dieses Instrument der Verfassungskontrolle geeignet ist, über die Tätigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit in Bezug auf die sozialen Grundrechte in Brasilien nachzudenken. Das heißt, ob und in welchem Umfang durch das Einbeziehen dieser Figur ein Vorteil entsteht. In Deutschland ist die Diskussion über die Anwendbarkeit des Untermaßverbots auf die sozialen Grundrechte (Leistungsgrundrechte im engeren Sinne)  nahezu irrelevant, da, wie bereits ausgeführt, die Frage der Uminterpretation der Grundrechte des GG als soziale Grundrechte sehr marginal ist. Trotzdem, und obwohl die Figur aus dem inhaltlichen Bereich der Schutzpflicht der Grundrechte stammt und sich dort entwickelt hat, gibt es Stimmen, die die Möglichkeit einräumen, über diesen Inhalt der Schutzpflicht hinauszudenken, wie z. B. im Fall der Leistungspflichten228 und Staatszielbestimmungen.229 225 „Als Ergebnis läßt sich damit feststellen, daß das Untermaßverbot in keiner Konstellation mit dem Übermaßverbot deckungsgleich ist. Vielmehr ergibt sich eine erhebliche Bandbreite zwischen Über- und Untermaßverbot, innerhalb derer der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig handeln kann. Der Staat darf nicht weniger für den Schutz tun als vom Untermaßverbot gefordert und nicht mehr als vom Übermaßverbot erlaubt. Die Spannbreite zwischen Unterund Übermaßverbot stellt sich dabei als Anzahl der politischen Handlungsalternativen im nicht justitiablen Bereich dar. Das Untermaßverbot ergibt sich vor allem aus der Prüfung des objektiv-rechtlichen und das Übermaßverbot aus der Prüfung des subjektiv-rechtlichen Gehalts. Die beiden Grundrechtsdimensionen können dabei zu demselben Grundrecht oder zu verschiedenen Grundrechten gehören.“ Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion. Untersuchung einer umstrittenen Rechtsfigur. Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 131. 226 Feldens, A Constituição penal: a dupla face da proporcionalidade no controle de normas penais. [Die Verfassung und das Strafrecht. Die Doppelrolle der Verhältnismäßigkeit in der Kontrolle der strafrechtlichen Normen]. Porto Alegre, Livraria do Advogado, 2005. 227 Vgl. dazu Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, passim. 228 „Die grundrechtlichen Leistungsrechte sind allein auf die Gewährleistung eines unverzichtbaren Mindeststandards hin ausgerichtet. Wird der Mindeststandard erreicht, ist die ergriffene Maßnahme effektiv und die Leistungspflicht erfüllt. Die Grenze, ab der der Staat den Mindeststandard unterschreitet, wird durch das Untermaßverbot bezeichnet. Der Begriff ist zwar bislang lediglich auf die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten bezogen. Gleichwohl ist der Begriff auf die Erfüllung von Leistungspflichten generell übertragbar.“ Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 82. 229 Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 43, 46–47.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

285

In diesem Zusammenhang weist Störring darauf hin: „Es läßt sich damit festhalten, daß zwar die Schutzpflichten Hauptanwendungsfall des Untermaßverbotes sind. Je nachdem, wie weit man die Schutzpflichten definiert, geht das Untermaßverbot aber auch über diese hinaus. In jedem Fall geht das Untermaßverbot über die rein objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension hinaus, indem es in relevanten Fällen der staatlichen Untätigkeit auch den justitiablen Kern von Staatszielbestimmungen erfaßt. Es besteht damit ein grundrechtliches und ein nicht-grundrechtliches Untermaßverbot, wobei das grundrechtliche Untermaßverbot die ganz überwiegende Zahl der Untermaßverbotsfälle darstellt.“230 So könnte das Untermaßverbot theoretisch auch im Bereich der sozialen Grundrechte verwendet werden. Das Existenzminimum, wenn es als justitiabler Kern einer Staatszielbestimmung konzipiert ist, könnte beispielsweise im Zusammenhang mit dem Untermaß­ verbot als Instrument der Verfassungsmäßigkeitskontrolle bei Unterlassungen gedacht werden. In den jüngsten Fällen, in denen sich das BVerfG mit dem Existenzminimum befasst hat, also Hartz IV und das Asylbewerberleistungsgesetz, wurde diese Figur nicht erwähnt. Das Gericht führte das durch, was es selbst als Evidenzkontrolle231 bezeichnet, ohne die Untermaßverbot-Formel zu verwenden.232 230

Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 48. BVerfGE 132, 134, BVerfGE 125, 175 – Hartz IV. Das neue Gerichtsurteil von 2019 zu Hartz IV wird im folgenden Abschnitt ausführlicher diskutiert. 232 Störring weist darauf hin, dass innerhalb der Fachgerichtsbarkeit, insbesondere im Sozialrecht, die Figur des Untermaßverbot eine gewisse Ausprägung findet: „Bei der Frage, welches Leistungsniveau im Sozialrecht verfassungsrechtlich gefordert ist, sind die Sozialgerichte Klägern entgegen getreten, die geltend gemacht hatten, daß das derzeitige Existenzminimum, die Höhe des Arbeitslosengeldes II oder die Nichtauszahlung von Kindergeld an noch nicht geborene Kinder gegen das Untermaßverbot verstießen. Auch von der Literatur werden solche Forderungen, soweit ersichtlich, nicht unterstützt. Vielmehr wird auch dort zu bedenken gegeben, daß angesichts des politischen Gestaltungsauftrages und knapper staatlicher Haushalte nur ganz ausnahmsweise ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vorliegen könne. Allerdings ist in jüngster Zeit von Seiten der Gerichte wieder Bewegung in die Diskussion um die Gewährleistung des Untermaßverbotes gekommen. So hat das Landessozialgericht Hessen die gesetzlichen Hartz-IV-Regelsätze für bedürftige Arbeitslose und ihre Kinder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil es diese Sätze für zu niedrig hält. Und das Bundessozialgericht greift nunmehr für das Untermaßverbot auf den strengeren (und überholten) Prüfungsmaßstab aus der 2. Abtreibungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurück und fordert bei der Austestung des Untermaßverbotes sorgfältige Tatsachenermittlungen und vertretbare Einschätzungen des Gesetzgebers.“ Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 119. „Darüber hinaus findet das Untermaßverbot noch im Sozialversicherungsrecht Erwähnung. In Bezug auf die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß zwar die derzeitige Rentenversicherung durch das Grundgesetz nicht vorgeschrieben sei, jedoch dann das Untermaßverbot beachtet werden müsse, wenn sich der Gesetzgeber für eine Zwangsversicherung entschieden habe. Das Untermaßverbot verlange dann mindestens das Fürsorgeniveau. An anderer Stelle wird als Argument gegen die Einführung einer Bürgerversicherung angeführt, daß aufgrund des besonderen Treueverhältnisses des Staates zu seinen Beamten das Untermaßverbot bei der Altersversorgung von Beamten schneller erreicht sei, wodurch die finanzielle Leistungsfähigkeit einer Bürgerversicherung gesprengt werden würde.“ Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 119–120. 231

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Ansonsten ist hier die Kritik an dieser dogmatischen Figur in der deutschen Fachliteratur hervorzuheben. In diesem Sinne fasst Störring einige der Haupteinwände gegen die Existenz einer Autonomie des Untermaßverbots im Blick auf die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten zusammen: „Aus dem Untermaßverbot ergeben sich nach den Kritikern keine Anforderungen, die unter Zugrundelegung staatlicher Schutzpflichten nicht ohnehin bestehen würden. Wenn der Staat überhaupt Schutzpflichten habe, dann müsse er diese auch erfüllen. So folge bereits aus der Annahme der Schutzpflicht als solcher das Gebot der Pflichterfüllung im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes, das angeblich Inhalt des Untermaßverbotes sei. Der Ausdruck Untermaßverbot besage also über den Begriff der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht hinaus nichts Neues. Der Gesetzgeber werde durch das Untermaßverbot nicht stärker oder gegenüber der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht nicht zusätzlich gebunden. So wenig ein Rad schneller sein könne als der ganze Wagen, sowenig könne das Untermaßverbot eine höhere Regelungsdichte aufweisen als der zugrunde liegende Gesetzgebungsauftrag.“233 Da das Untermaßverbot in Deutschland, auch von einem Teil der Literatur, als Nebenfigur zu den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten234 angesehen werden kann, in dem Sinne, dass es ihnen nichts hinzufügt, sondern im Gegenteil vom Inhalt der Gesetzgebungsaufträge abhängt und darüber hinaus in der Rechtsprechung des BVerfG im Umgang mit dem Existenzminimum keine Resonanz findet, kann vermutet werden, dass seine Rezeption in Brasilien im Kontext der sozialen Grundrechte, in dem die in den Schutzpflichtenfällen vorhandene Dreieckskonstellation nicht existiert und in dem die verfassungsrechtlichen Handlungsgebote des Staates, die in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen sind, in struktureller und semantischer Hinsicht viel spezifischer sind, das Untermaßverbot noch mehr an Relevanz verliert. Mit anderen Worten: Es ist unangemessen, dieses Instrument zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Unterlassungen im Fall der sozialen Grundrechte in Brasilien einzusetzen. Erstens: Selbst, wenn man die Möglichkeit einräumt, über die Verwendung des Untermaßverbots außerhalb des Geltungsbereichs der Grundrechte als Schutzrechte nachzudenken, gibt es keine Weiterentwicklung der deutschen Lehre und Rechtsprechung des BVerfG auf diesem Gebiet. Das heißt, es wäre ein Import einer Hypothese in einen völlig verschiedenen Kontext, die noch nicht einmal im ursprünglichen Kontext umfassend studiert und ausprobiert wurde. Darüber hinaus impliziert es, in die Diskussion der sozialen Grundrechte eine Problematik einzubringen, die ihr nicht zu eigen ist, die sogar Gegenstand theoretischer Divergenzen ist.

233

Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 135. Störring sagt, dass der überwiegende Teil der Literatur von einem eigenständigen Bedeutungsgehalt des Untermaßverbotes ausgeht. Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 136. 234

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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Diese Unangemessenheit wird noch deutlicher, wenn man an das von Alexy vorgeschlagene Kontrollmodell mittels Untermaßverbot denkt, das die Abwägung zwischen formellen und materiellen Prinzipien voraussetzt. Die von der Prinzipientheorie vorausgesetzte Pflicht, die Leistungsgrundrechte in einem Kontext ständig wachsender Bedürfnisse, insbesondere in unterentwickelten Ländern, maximal zu erfüllen, lässt der Verfassungsgerichtsbarkeit einen größeren Handlungsspielraum, da immer gesagt werden kann, dass eine Alternativlösung besser oder wünschenswerter wäre als die vom Gesetzgeber zur Förderung dieser Grundrechte gewählte. Wenn andererseits die hier verteidigte Hypothese richtig ist, dass die in der brasilianischen Verfassung bestehende hohe Regulierungsdichte der sozialen Grundrechte es erlaubt, ausgehend von der Verfassungsinterpretation staatsbindende Mindeststandards zu definieren, die für den Staat verpflichtend sind, dann sollte sich die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung auf die Analyse beschränken, ob diese Mindeststandards missachtet worden sind oder nicht. Im brasilianischen Fall wäre es dann nicht die Verwendung des Untermaßverbotes, die diese Nichteinhaltung definieren würde, sondern die Interpretation des Verfassungstextes in Bezug auf jedes einzelne Grundrecht. Viel näher an den hier vertretenen Vorstellungen über die Rolle der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung liegt, die vom BVerfG für die Hypothesen der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung entwickelte und vom Gericht im Leistungsgrundrecht im engeren Sinne verwendete Formel der Evidenzkontrolle, insbesondere bei Nichteinhaltung des staatlichen Handlungsgebots zur Garantie des Existenzminimums. e) Die Evidenzkontrolle und die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung im Bereich der sozialen Grundrechte In der Entscheidung zur Lagerung chemischer Waffen von 1987 entwickelte das BVerfG eine Formel,235 die später in der Entscheidung zum steuerfreien Existenzminimum von 1990236 bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit standardmäßig in dem Sinne verwendet wurde, dass „eine Verletzung der Schutzpflicht grundsätzlich nur festgestellt werden kann, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat, oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen.“ Im Falle des steuerfreien Existenzminimums hat das BVerfG einen Ausdruck verwendet, der später auch in der Entscheidung zu Hartz IV und dem Asylbewerberleistungsgesetz zum Parameter wurde, nämlich die Vorstellung, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Bestimmungen des Art. 1 Abs. 1 GG in seiner 235 236

BVerfGE 77, 170 – Lagerung chemischer Waffen. BVerfGE 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG die Pflicht zur Einhaltung der „verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen“ beachten muss. Im Hinblick auf die Grenzen der Kontrolle, die die Verfassungsgerichtsbarkeit in dieser Hinsicht auszuüben hat, befürwortete das Gericht darüber hinaus die Idee einer Selbstbeschränkung auf das, was es als „Evidenzkontrolle“ bezeichnet.237 Die zitierten Entscheidungen befassen sich mit dem Handlungsgebot des Staates und der Kontrolle etwaiger Unterlassungen. Die letzten beiden Beschlüsse betreffen das Thema dieser Arbeit, d. h. das Verhältnis zwischen dem Staat und den Leistungsgrundrechten im engeren Sinne (soziale Grundrechte), und können als Grundlage für die Diskussion des Themas in Brasilien dienen. Im Hartz-IV-Urteil machte das BVerfG deutlich, dass der Leistungsgehalt der Menschenwürde-Klausel zwar im Grundgesetz vorgesehen ist, sich aber nicht in vollem Umfang unmittelbar aus der Lektüre der Verfassung ableiten lässt: „Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben (vgl. BVerfGE 107, 275 [284]). Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 91, 93 [111 f.]). Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen (vgl. BVerfGE 115, 118 [153]). […] Die hierbei erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es, den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren. Ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen. Ihm kommt zudem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Umfangs der Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums zu.“238 Es ist klar zu erkennen, dass das BVerfG die Argumentation hinter der untersuchten dogmatischen Figur der Grundrechtsausgestaltung nutzt, um sich mit dem Verhältnis zwischen dem Grundrecht auf Menschenwürde und der Sozialgesetzgebung von Hartz IV auseinanderzusetzen: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“239 Auf die gleiche Weise verwendet 237 „Bei der Nachprüfung, ob das nach § 10 Abs. 2 BKGG gekürzte Kindergeld hinsichtlich seiner steuerlichen Entlastungsfunktion diesen verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen gerecht wird, muß sich das Bundesverfassungsgericht auf eine Evidenzkontrolle beschränken. Wie auch in anderen Fällen, in denen die Erfüllung grundrechtlicher Pflichten des Gesetzgebers von der Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse abhängt (vgl. etwa BVerfGE 44, 249 [267]; 77, 170 [214 f.]; 77, 381 [405]), kann es die gesetzliche Regelung nur beanstanden, wenn der Gesetzgeber die maßgeblichen Pflichten entweder überhaupt außer acht gelassen oder ihnen offensichtlich nicht genügt hat.“ BVerfGE 82, 60 – Steuerfreies Existenzminimum. 238 BVerfGE 125, 175. 239 BVerfGE 125, 175.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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das BVerfG diese dogmatische Figur im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz: „Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung die existenzsichernden Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren.“240 Und: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“241 Sowohl im Hartz-IV-Urteil als auch im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz sagt das BVerfG, dass bei der konkreten Ausgestaltung des Existenzminimums dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt und dass diesem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Gericht entspricht. Das Gericht muss sich daher auf die Ausübung der Evidenzkontrolle und die Analyse der Leistungen beschränken, die offensichtlich unzureichend sind.242 Im Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz kann noch eine kombinierte 240

BVerfGE 132, 134. BVerfGE 125, 175. 242 BVerfGE 125, 175, BVerfGE 132, 134. Gegen die hier vorgetragene These, dass die jüngste Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG zu Hartz IV den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einschließlich des Abwägungsgedankens in Verbindung mit der Kategorie der Grundrechtsausgestaltung in Bezug auf das Existenzminimum verwendet, ließe sich Einspruch erheben. Obwohl es in dem Fall um die Weiterentwicklung des Verständnisses des Existenzminimums im Zusammenhang mit Hartz IV ging, gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen der BVerfG-Entscheidung und der in dieser Arbeit vertretenen These. Denn die entschiedene Sachfrage betraf die „Sanktionen im Sozialrecht“, wie sie sich aus einer Änderung der §§ 31, 31a, 31b SGB II ergeben, genauer gesagt das Wiederaufleben der bei Verletzung der Mitwirkungspflichten verhängten Sanktionen, die gestufte Leistungsminderungen implizieren. Mit den Worten des BVerfG: „Der Gesetzgeber hat die Grundsicherung mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (BGBl I, S. 2954) zum 1. Januar 2005 im Rahmen einer breit angelegten Reform neu gefasst, das landläufig als ‚Hartz-IV‘-Gesetz bezeichnet wird. Im Vordergrund steht nun mit dem ersten Kapitel – nach §§ 1, 2 SGB II – der ‚Grundsatz des Förderns und Forderns‘ (vgl. BTDruck 15/1516 vom 5. September 2003). Mit den hier zur Überprüfung vorgelegten Regelungen der §§ 31, 31a, 31b SGB II schuf der Gesetzgeber Mitwirkungspflichten insbesondere mit dem Ziel der Aufnahme einer Erwerbsarbeit, die mit zwischenzeitlich verschärften, zwingend zu verhängenden und starr andauernden Sanktionen einer Minderung oder des gesamten Wegfalls von Leistungen durchgesetzt werden. a) Zunächst wurde als Sanktion eine Minderung von Leistungen um 30 % des Regelbedarfs vorgegeben, die sich bei mehrfachen Pflichtverletzungen vervielfachen konnte. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706) wurde dies geändert; nach § 31 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB II a. F. wurden Regelbedarfsleistungen bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung im Sinne des § 31 Abs. 1 SGB II nun um 60 % gemindert, bei einer weiteren Pflichtverletzung fiel das Arbeitslosengeld II völlig weg. b) Diese Regeln wurden zum 1. April 2011 neu geordnet (Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011, BGBl I, S. 453). § 31 SGB II regelt seitdem die Tatbestände der Verletzung einer Mitwirkungsanforderung, § 31a SGB II legt die leistungsmindernden Rechtsfolgen fest und § 31b SGB II deren Beginn und Dauer.“ BVerfG, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats des vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16. Im vorliegenden Fall geht es nicht um die positive Pflicht des Gesetzge 241

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Nutzung der Evidenzkontrolle und der Idee der Ausgestaltung als Ergebnis eines verfassungsrechtlichen Handlungsgebots nachgewiesen werden: „Der frappierend geringe Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens sei als Ausgestaltung der sozialen Seite des Existenzminimums als evident unzureichend anzusehen.“243 Die Evidenzkontrolle kann also ein prozedurales Kriterium verstanden werden, das von der Verfassungsgerichtsbarkeit verwendet wird, um etwa Beurteilungsspielräume des Gesetzgebers erklären zu können. Das damit verbundene materielle Kriterium wird durch den Mindeststandard, d. h. im Falle der sozialen Grundrechte durch das, was in der Verfassung als (normatives) Handlungsgebot festgelegt ist, repräsentiert. In der Rechtsprechung des BVerfG hat sich die Verbindung zwischen dem Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers zur Regelung von Mindestanforderungen im Bereich des Existenzminimums und der Evidenzkontrolle als fruchtbar erwiesen. Es muss aber überprüft werden, ob die Annahme dieser Formel nach brasilianischem Recht gerechtfertigt ist. Denn wie bei der Untermaßverbot-Formel gibt es in der brasilianischen Verfassung keine spezifische normative Grundlage für die Übernahme der Evidenzkontrolle als Parameter für die Verfassungskontrolle wegen Unterlassung. Es handelt sich daher um eine theoretische Formulierung, die insbesondere für ihre Verwendung in einem anderen Rechtssystem als dem, für das sie formuliert wurde, begründet werden muss. Es ist zu beachten, dass diese Diskussion besonders wichtig ist im Falle einer infrakonstitutionellen Gesetzgebung, die ein verfassungsrechtliches Handlungsgebot in Verbindung mit einem Sozialgrundrecht umsetzen soll, sowohl in der Situation, in der die Gesetzgebung das Grundrecht erstmals regelt (Ausgestaltung), als bers, die infrakonstitutionellen Grundzüge des Existenzminimums (Handlungsgebotes) festzulegen. In diesem Sinne: „Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Aufgabe zu entscheiden, wie hoch ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums sein muss; es ist zudem nicht seine Aufgabe zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste, zweckmäßigste und vernünftigste Lösung zur Erfüllung seiner Aufgaben gewählt hat. Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik (vgl. BVerfGE 137, 34 ).“ BVerfG, Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats des vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16. Es ging in der Tat um die negative Pflicht des Staates, keine Sanktionen für die Nichteinhaltung der Bedingungen für die Ausübung der Garantie des Existenzminimums, die die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht erfüllen (Unterlassungsgebot), zu verhängen. Was insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anbelangt, so kann, obwohl das Gericht den Ausdruck nicht verwendet hat, gesagt werden, dass die Analyse sich eher auf das Übermaßverbot und nicht auf das Untermaßverbot bezog. Eine interessante Frage, die in diesem Prozess aufgeworfen wurde, die hier aber nicht behandelt werden soll, weil sie über die Ziele der vorliegenden Untersuchung hinausgeht, ist die Verwendung der Kategorie der Ausgestaltung (strenggenommen ist es ein Fall von Umgestaltung) für eine typische Situation der Einschränkung eines Grundrechts. 243 BVerfGE 132, 134.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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auch wenn dieses modifiziert wird (Umgestaltung). Im Falle des völligen Fehlens einer geltenden Gesetzgebung ist die Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung leichter zu beobachten. Das Problem wird wichtiger, wenn die Gesetzgebung zwar existiert, aber nicht vollständig mit dem verfassungsrechtlichen Handlungsgebot übereinstimmt. Daher dreht sich die Frage um die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Analyse des Verhältnisses zwischen infrakonstitutioneller Gesetzgebung und Verfassung. Ein konsolidiertes Kriterium in diesem Bereich, nicht nur in der Lehrmeinung, sondern auch in der Rechtsprechung im Bereich der Verfassungskontrolle bezüglich des Verhältnisses zwischen infrakonstitutioneller Gesetzgebung und Verfassung, sowohl in Deutschland244 als auch in Brasilien245, ist die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die entsprechende Methode der verfassungskonformen Auslegung. Entsprechend der vom BVerfG entwickelten klassischen Formel: „Ein Gesetz ist nicht verfassungswidrig, wenn eine Auslegung möglich ist, die im Einklang mit dem Grundgesetz steht, und das Gesetz bei dieser Auslegung sinnvoll bleibt […] der Grundsatz gilt, daß ein Gesetz nicht für nichtig zu erklären ist, wenn es im Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann; denn es spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das in dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes.“246 Es gibt eine umfangreiche Problematik im Zusammenhang mit der sogenannten verfassungskonformen Auslegung, wenn es um die Primärfunktion der Abwehrrechte von Grundrechten und das Verhältnis zur infrakonstitutionellen Gesetzgebung geht, die hier nicht vertieft werden soll.247 Wenn man sich mit dem leistungsrechtlichen Gehalt der Grundrechte – insbesondere der sozialen Grundrechte – auseinandersetzt, gewinnt die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und die entsprechende Methode der verfassungskonformen Auslegung andere Konturen.

244

Vgl. dazu Spanner, Die verfassungskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Archiv des öffentlichen Rechts 91 | Archiv des öffentlichen Rechts, 1965, S. 503–504. 245 Die verfassungskonforme Auslegung wurde in Brasilien durch das Gesetz Nr. 9888/1999 als Kriterium der Verfassungskontrolle ausdrücklich vorgesehen. „Art. 28. […] Einziger Absatz. Eine Erklärung der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit, einschließlich der verfassungskonformen Auslegung […] ist gegen alle wirksam und hat verbindliche Wirkung gegenüber der Justiz und der öffentlichen Verwaltung des Bundes, der Länder und der Kommunen.“ 246 BVerfGE 2, 266, von Mai 1953 – Notaufnahme. 247 Spanner, Die verfassungskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, passim, Voßkuhle, Theorie und Praxis der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen durch Fachgerichte in: Archiv des öffentlichen Rechts – 125 | Abhandlungen. 25 Seite(n) (177–201). 2000; Rieger, Grenzen Verfassungskonformer Auslegung. NVwZ, 2003.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

Aufgrund der Funktion des Gesetzgebers als primärer Adressat der sozialen Grundrechte der brasilianischen Verfassung und des so genannten harmonischen Verhältnisses von Verfassung und Gesetzgebung wird die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, die in diesem Bereich besteht, viel eher gestärkt als die restriktive Tätigkeit des Gesetzgebers in Bezug auf die Grundrechte, gerade weil der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers weiter gefasst ist. Diesem umfangreichen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der sozialen Grundrechte muss eine noch viel zurückhaltendere Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch die Gerichte entsprechen. Das Kriterium der Evidenzkontrolle scheint besser geeignet, über die Funktion der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung in ihrem Verhältnis zur Dogmatik der Grundrechtsausrüstung nachzudenken, als das Kriterium des Untermaßverbotes und der Maximierung – ausgehend von einer Abwägung, wie es die Prinzipientheorie vorschlägt. Die grundlegende Frage, die es zu beantworten gilt, lautet jedoch: Was bedeutet Evidenz in der Evidenzkontrolle oder, genauer gesagt, worauf bezieht sie sich? Die Antwort auf diese Frage erfordert, die Funktion der Gesetzgebung in Bezug auf die sozialen Grundrechte noch einmal hervorzuheben, d. h. im Blick auf die Ausgestaltung ihrer durch die Verfassung vorgegebenen Grundzüge einen Schritt weiterzugehen, damit diese als Parameter für die Leistungsverwaltung dienen können und die abstrakt vorgesehenen Leistungen in der Welt wirklich umgesetzt werden können. Diese Umrisse müssen sich sowohl auf den institutionellen, verfahrensorganisatorischen Aspekt als auch auf den materiellen Aspekt, d. h. den Inhalt der in der Praxis zu gewährenden Leistung unter Berücksichtigung der in der Verfassung vorgesehenen Mindeststandards beziehen. Nur bei völliger Unfähigkeit der infrakonstitutionellen Gesetzgebung, diese Funktion zu erfüllen, d. h., wenn nicht gesagt werden kann, dass die Gesetzgebung den Mindeststandard erfüllt hat, kommt eine Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung in Betracht. Die Analyse der Evidenzkontrolle muss sich darauf beschränken, die Grenze zu bestimmen, ab der klar wird, dass die Tätigkeit des gestaltenden Gesetzgebers (Ausgestaltungsspielraum) ihre Funktion, ein bestimmtes verfassungsrechtliches normatives Handlungsgebot zu erfüllen, nicht korrekt erfüllt. Obwohl es also keine spezifische rechtlich-positive Grundlage für die Übernahme der Evidenzkontrolle als Parameter in Brasilien gibt, erlaubt uns der Komplex der oben dargestellten Grundlagen, sie als Möglichkeit und als alternatives Modell zur Abwägung als Unterkriterium des Untermaßverbots zu denken, auch wenn logischerweise weitere Entwicklungen noch fehlen. Wendet man im Falle der sozialen Grundrechte in Brasilien die vom BVerfG entwickelte Evidenzkontroll-Formel bei der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung an, so ergibt sich Folgendes: Die Evidenzkontrolle setzt erstens die Analyse der im Verfassungstext vorgesehenen spezifischen Ausgestaltungsgebote voraus, die vom Staat einzuhaltende Mindeststandards festlegen, wie am Beispiel des hier unter-

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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suchten Grundrechts auf Sozialversicherung zu zeigen versucht wurde. Es geht zweitens darum, zu überprüfen, ob der Gesetzgeber eine korrekte Durchführung dieser Ausgestaltungsgebote durch die Gesetzgebung durchgeführt hat. Nur für den Fall, dass die in der infrakonstitutionellen Gesetzgebung verankerten Leistungen „gänzlich ungeeignet“, „völlig unzulänglich“ oder „evident oder offensichtlich unzureichend“ sind, findet eine Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung statt und wird eine Mandado de Injunção-Klage zulässig.

2. Die Bindung der Leistungsverwaltung und der Fachgerichtsbarkeit an das hierarchisch organisierte Sozialversicherungsrecht Bei der Analyse des hierarchisch organisierten Sozialversicherungsrechts und der praktischen Funktionsweise des Leistungsstaates in diesem Bereich fallen neben dem oben behandelten Problem der Verfassungskontrolle wegen Unterlassung, d. h. im Hinblick auf die faktische Gewährung bzw. Nichtgewährung von Sozialversicherungsleistungen, zwei Akteure auf, nämlich die Leistungsverwaltung im Bereich der Sozialversicherung und die Fachgerichtsbarkeit. In den vorangegangenen Abschnitten wurde argumentiert, dass die Fachgerichtsbarkeit in Brasilien weder für die Verfassungskontrolle wegen Unterlassungen noch für die Rechtsfortbildung direkt auf der Grundlage der Verfassung zuständig ist. Wenn diese These richtig ist, bleibt zu fragen, was die Funktion und die Grenzen der Fachgerichtsbarkeit bezüglich des Rechts auf Sozialversicherung sind. Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, welche Funktion die Leistungsverwaltung hat, wie diese beiden Organe im Verhältnis zur (Ziel)Pyramide des Sozialversicherungsrechts stehen und wie sie sich zueinander verhalten sollen, insbesondere im Hinblick auf die horizontale und vertikale Regelungsdichte dieses Grundrechts. a) Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Rolle der Leistungsverwaltung und der Fachgerichtsbarkeit Die Hauptaufgabe der Leistungsverwaltung besteht darin zu prüfen, ob der Versicherte der Sozialversicherung Anspruch auf eine bestimmte Leistung hat, und wenn ja, diese zu gewähren. Sie ist an das Gesetzmäßigkeitsprinzip (Art. 37 der brasilianischen Verfassung) gebunden, insbesondere an den Vorbehalt des Gesetzes, der „besagt, dass die Verwaltungsbehörden – positiv – den Gesetzen entsprechend handeln müssen […]. Nach dem Vorbehaltsprinzip darf die Verwaltung nur tätig werden, wenn sie dazu durch Gesetz ermächtigt worden ist […]. Das Fehlen eines Gesetzes schließt […] ein Tätigwerden der Verwaltung aus.“248 Diese Bindung ist 248

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 115–116, Rn1–3.

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

nicht auf das beschränkt, was im Gesetz vorgesehen ist, d. h. sie erstreckt sich auch auf die unteren hierarchischen Ebenen der Gesetzgebung, wie Verordnungen und Satzungen. Diese untergesetzliche Gesetzgebung setzt den durch das Gesetz eingeleiteten Prozess der Verdichtung des Rechts auf Sozialversicherung fort, indem sie dessen Inhalt weiter präzisiert, was eine immer stärkere Spezifizierung hinsichtlich der Bindung der Leistungsverwaltung bei der Betrachtung des hierarchisch organisierten Sozialversicherungsrechts (vertikale Regulierungsdichte) impliziert. Mit anderen Worten: Je dichter die Gesetzgebung aus vertikaler Sicht, desto verbindlicher ist das Handeln der Leistungsverwaltung. Hiermit wird die These vertreten, dass die Rolle der Fachgerichtsbarkeit bezüglich des Grundrechts auf Sozialversicherung strukturell ähnlich der Rolle der Leistungsverwaltung bei der Analyse und der Anwendung der (Ziel)Pyramide des Sozialversicherungsrechtes ist. Die Judikative ist auch an die hierarchisch organisierte Sozialversicherungsgesetzgebung gebunden. Und je dichter die Gesetz­ gebung ist, desto verbindlicher ist sie in Bezug auf Interpretation und Anwendung. Ihre Hauptaufgabe besteht darin zu prüfen, ob die Leistungsverwaltung eine Leistung in Übereinstimmung mit der Gesetzgebung gewährt oder eben nicht. Ein Unterschied zur Leistungsverwaltung besteht darin, dass die Judikative nicht an die internen normativen Akte gebunden ist, d. h. diejenigen, die das interne Handeln der Verwaltung in untergesetzlicher Weise regeln. Strukturell ist jedoch sowohl die Leistungsverwaltung als auch der Handlungsprozess der Judikative darauf ausgerichtet, zu prüfen, ob eine bestimmte Sachlage einer staatlichen Leistung entspricht, die in der infrakonstitutionellen Gesetzgebung vorgesehen ist. Innerhalb des Handelns des Leistungsstaates ist die Funktion der Judikative später angesiedelt, d. h. sie stellt einen zusätzlichen Schritt im Prozess der Verwirklichung des Rechts auf Sozialversicherung dar, da sie sich mit der Kontrolle der Handlungen der Leistungsverwaltung befasst. Ein weiterer Unterschied ist die Tatsache, dass die Leistungsverwaltung keine Kompetenz zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit hat. Sie ist direkt an das Gesetz gebunden. Die Fachgerichtsbarkeit ihrerseits kann aber nur die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des konkreten Tätigwerdens ausüben.

b) Die richterliche Normenkontrolle der Fachgerichte im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit durch die Fachgerichtsbarkeit im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung beschränkt sich also auf die Analyse der möglichen Verfassungswidrigkeit der konkreten Handlung. Mit anderen Worten: Nur wenn das Gesetz das Grundrecht auf Sozialversicherung unzulässig einschränkt, kann die Fachgerichtsbarkeit tätig werden, wobei sie möglicherweise im konkreten Fall die Anwendung des Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit aus-

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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setzen kann. Oder anders ausgedrückt: Die Fachgerichtsbarkeit kann weder eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wegen Unterlassung ausüben, noch hat sie die Befugnis, gesetzlich nicht vorgesehene staatliche Leistungen zu schaffen oder deren Anwendungsbereich zu erweitern, da der Gesetzgeber der erste Adressat des Grundrechts auf Sozialversicherung ist. Nur er oder der Oberste Bundesgerichtshof (STF) – im Falle der Verfassungsmäßigkeitsprüfung wegen Unterlassungen – können die Verfassung direkt regulieren. Im Fall von verfassungswidrigen Kürzungen von Leistungsgesetzen, egal ob es sich um eine vollständige oder teilweise Verfassungswidrigkeit handelt, kann die neue Gesetzgebung im konkreten Fall von den Fachgerichten ganz oder teilweise aufgehoben werden. Die alte großzügige Rechtslage kommt wieder in Kraft, sodass Fachgerichte dann doch weitergehende Sozialleistungen gewähren können, als sie durch den aktuellen Gesetzgeber vorgesehen sind. In Brasilien gibt es aber nicht die Möglichkeit, dass die Fachgerichte selbst eine Kontrolle durch den Obersten Bundesgerichtshof (STF) herbeiführen können. Die Diskussion muss durch eine Berufung einer der interessierten Parteien über die Gerichte der zweiten Instanz, die (regionalen) Ober(Bundes)Gerichte bis zum Obersten Bundesgerichtshof (STF) mittels eines „außerordentlichen Rechtsmittelverfahrens“ getragen werden (Art. 102, III der brasilianischen Verfassung). Gewährt die Leistungsverwaltung eine Leistung aufgrund der fehlenden Regelung im Gesetz nicht, so ist die Fachgerichtsbarkeit nicht befugt, den Leistungsstaat im primären Prozess der Normsetzung zu ersetzen. In der Praxis muss sie die Leistung aus dem gleichen Grund wie die Leistungsverwaltung verweigern, es sei denn, es gibt eine unterschiedliche Interpretation über die Tragweite der in den Rechtsvorschriften vorgesehenen Begrifflichkeit, d. h. ob die Leistungsverwaltung eine bestimmte Leistung nicht mehr gewährt, wenn die Rechtsvorschriften dies vorsehen. Wie im Fall der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder Aktes ist im brasilianischen Recht nicht vorgesehen, dass die Fachgerichte von Amts wegen – ex officio – eine Kontrolle durch den Obersten Bundesgerichtshof (STF) herbeiführen können, wenn die Gewährung einer Sozialversicherungsleistung aufgrund eines Mangels an Gesetz nicht gewährt wird. Andererseits, so die hier vorgetragene These, gibt es für die anderen Gerichte keine Zuständigkeit, die Angelegenheit im Rechtsmittelverfahren zu entscheiden. Die Verfassung selbst sieht, wie bereits erwähnt, diese Möglichkeit beim „außerordentlichen Rechtsmittelverfahren“ nicht vor.249 Für den Grundrechtsträger besteht nach der hier vertre 249 Der Art. 102. „ Der Supremo Tribunal Federal (STF) ist in erster Linie zum Hüter der Verfassung berufen; ihm obliegt: […] III. die Entscheidung im außerordentlichen Rechtsmittelverfahren gegen in einziger oder letzter Instanz ergangene Urteile, falls diese: a) eine Vorschrift dieser Verfassung verletzen; b) ein Abkommen oder ein Gesetz des Bundes für verfassungswidrig erklären; c) ein Gesetz oder einen Akt einer örtlichen Regierung für gültig erklären, deren Gültigkeit unter Berufung auf diese Verfassung angefochten wurde.“

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D. Entwicklung einer Dogmatik der sozialen Grundrechte 

tenen Konzeption250 schlicht nur die eine Möglichkeit, sich mit einer „Mandado de Injunção-Klage“ direkt an den Obersten Bundesgerichtshof (STF) zu wenden. c) Interpretation und Rechtsfortbildung des Grundrechts auf Sozialversicherung Die zitierten Urteile der Fachgerichtsbarkeit im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung befassen sich jedoch nicht mit dieser Hypothese der Deutungsdivergenz, da die Judikative selbst von genau der gegenteiligen Annahme ausging, nämlich dass die Gesetzgebung die beabsichtigten Leistungen tatsächlich nicht vorsah. Mit anderen Worten: Die Leistungsverwaltung kam bei der Analyse der Sozialversicherungsgesetzgebung zu dem Schluss, dass es für die beabsichtigten Leistungen keine gesetzliche Vorgabe gab, und lehnte damit die Ansprüche der Versicherten der Sozialversicherung ab. Die Judikative widersprach nicht der Schlussfolgerung der Leistungsverwaltung, dass die Leistung im Gesetz nicht vorgesehen war. Sie ging genau von der Annahme aus, dass es tatsächlich keine gesetzliche Regelung gab und schuf bzw. erweiterte auf der Grundlage der oben genannten prinzipiellen Argumente die Leistungen. Anders wäre die Situation, wenn die Judikative zu dem Schluss gekommen wäre, dass die Weigerung der Leistungsverwaltung Leistung zu erbringen, auf einem Missverständnis der Gesetzgebung beruhte. Es wurde daher oben ausgeführt, dass die konkrete Weigerung der Leistungsverwaltung, eine bestimmte Leistung aufgrund der fehlenden Bestimmung in den Rechtsvorschriften zu erbringen, als ein Kriterium für die Feststellung angesehen werden könnte, ob das, was die Rechtsprechung als ‚Lücke‘ bezeichnet hat, eintritt, obwohl der Begriff unangebracht ist. Die quälende Grenze zwischen Interpretation und Rechtsfortbildung gewinnt im brasilianischen Fall normative Konturen, wenn die Funktion der sozialen Grundrechte im Hinblick auf die Dynamik des Sozialstaats analysiert wird. Wenn es nicht angemessen ist, von ‚Lücken‘ im öffentlichen (Leistungs-)Recht zu sprechen, ist es in diesem Zusammenhang auch nicht angebracht, von richterlicher Rechtsbildung der Fachgerichtsbarkeit zu sprechen. In den zitierten Fällen hätte die Fachgerichtsbarkeit nach der hier vorgetragenen These und entgegen der Position von Lehre und Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit, aber nach dem Verständnis des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) zum Verhältnis von Grundrecht auf Sozialversicherung und Gesetz im Falle der ‚EntRentung‘, die Entscheidung der Leistungsverwaltung, d. h. die Ablehnung der Leistung wegen fehlender gesetzlicher Regelung, bestätigen müssen. Der Versicherte der Sozialversicherung hatte keine andere Wahl, als den Obersten Bundesgerichts 250 Wie oben gezeigt, wird jedoch in der Praxis in Brasilien die Frage verfassungswidriger Unterlassungen durch die Fachgerichtsbarkeit diskutiert und entschieden, als ob diese dafür eine Zuständigkeit hätten.

III. Die horizontale- und vertikale Regulierungsdichte

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hof (STF) mittels einer Mandado de Injunção-Klage anzurufen, da das Fehlen einer gesetzlichen Regelung in solchen Fällen nicht als Lücke angesehen werden konnte. Was als Lücke im Bereich der sozialen Grundrechte bezeichnet wird, muss, wie oben ausgeführt, tatsächlich einer Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung entsprechen, für deren Analyse ausschließlich der Oberste Bundesgerichtshof (STF) zuständig ist. Nur dieses Organ ist befugt, im Rahmen der inhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Grundrechte und damit des Grundrechts auf Sozialversicherung auf der Grundlage der oben festgelegten Parameter eine „richterliche Rechtsfortbildung“ durchzuführen. Wenn die bisher entwickelten Prämissen zutreffen, gibt es neben einem normativen Kriterium, das die Unterscheidung zwischen Interpretation und Rechtsfortbildung im Bereich des Grundrechts auf Sozialversicherung ermöglicht, auch ein Kriterium, mit dem eine Abgrenzung der Zuständigkeit der Fachgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit vorgenommen werden kann, die im brasilianischen Recht bisher fehlt.

E. Zusammenfassung Wenn Gadamers Behauptung, die ständige Aufgabe des Verstehens solle sich der „Sache selbst“ (Gegenstand der Interpretation) zuwenden, ernst genommen werden soll, setzt dies die Formulierung von „sachangemessenen Entwürfen“ voraus, die sich erst „an den Sachen“ bestätigen,1 was im juristischen Bereich und in den von dieser Forschung vorgeschlagenen Grenzen in Anlehnung an Böckenförde2 als eine verfassungsmäßige Grundrechtedogmatik bezeichnet werden könnte, ist die unerbittliche Schlussfolgerung, dass die Prinzipientheorie als Interpretationsmodell für eine Dogmatik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung unangemessen ist. Die Probleme, die der Konstruktion der Prinzipientheorie aus dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des BVerfG zugrunde liegen, wie z. B. die angebliche strukturelle und semantische Offenheit der Grundrechte-Bestimmungen, das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung der Leistungsgrundrechte im Allgemeinen und der sozialen Grundrechte im Besonderen (Leistungsgrundrechte im engeren Sinne) und die damit verbundene Diskussion über die Möglichkeit, die darin niedergelegten Grundrechte mit typischen Abwehrrechtsformulierungen umzudeuten, indem ihnen ein leistungsrechtlicher Gehalt zugestanden wird, sind in der brasilianischen Verfassung in Bezug auf die sozialen Grundrechte nicht oder nicht in gleicher Weise und mit gleicher Intensität vorhanden. Im Gegensatz zur bestehenden strukturellen und semantischen Offenheit des Grundgesetzes, so die Prinzipientheorie, zeichnet sich die brasilianische Verfassung durch eine hohe Regulierungsdichte im Bereich der sozialen Grundrechte aus. Die allgemeinen Bestimmungen der sozialen Grundrechte des Artikels 6, einschließlich des Grundrechts auf Sozialversicherung, werden auf Verfassungsebene sowohl formell als auch materiell im Kapitel über die Sozialordnung verdichtet, was hier als „horizontale Regulierungsdichte“ bezeichnet wird. Die Tatsache, dass die brasilianische Verfassung ausdrücklich soziale Grundrechte und darüber hinaus in diesem Bereich vielfältige Staatszielbestimmungen bzw. Verfassungsaufträge vorsieht, impliziert, dass dogmatische Konstruktionen in verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedliche Gegenstände haben (können), die, wie gesagt, Probleme verursachen und Lösungen verlangen, die ebenfalls oft unterschiedlich sind. So verliert ein Großteil des dogmatisch-methodischen Apparats, der darauf abzielte, die vom Grundgesetz offen gelassenen Inhalte zu „präzisieren“, um konkret 1 2

Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 272. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 150.

E. Zusammenfassung

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zu wissen, was der subjektive Aspekt der Grundrechte ist, der nach der Prinzipientheorie einen Prozess der Abwägung zwischen notwendigerweise kollidierenden Grundrechten erfordert, seine Bedeutung, wenn man untersucht, wie die sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung vorgesehen sind. Das „Kollisionsverhalten“ z. B. unter Grundrechten und zwischen Grundrechten und Kompetenzen, von dem die Prinzipientheorie im Umgang des Grundgesetzes mit Grundrechten ausgeht, gibt es in der brasilianischen Verfassung im Verhältnis zu den sozialen Grundrechten und den sie verdichtenden Verfassungsvorschriften nicht. Im Gegenteil, diese Beziehung ist durch Komplementarität und nicht durch Antinomie gekennzeichnet. Der Inhalt des einzelnen Sozialgrundrechts muss auf den Verfassungsvorschriften aufbauen, die sich speziell mit diesem Grundrecht und den in der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen befassen. Die sozialen Grundrechte sind daher keine Prinzipien im Sinne der Prinzipientheorie und können deswegen nicht als Optimierungsgebote bezeichnet werden. Um dieses komplementäre Verhältnis der Verfassungsvorschriften, die die sozialen Grundrechte vorsehen, richtig zu verstehen, muss berücksichtigt werden, dass die in der Verfassung bestehende „horizontale Regulierungsdichte“ impliziert, dass der Verfassungstext selbst das verwirklicht, was Alexy als „Präzisierungsrelation“ bezeichnet. Die Gesamtheit des vom Staat erwarteten Handelns (Unterlassungen und Handlungen) steht in direktem Zusammenhang mit dieser Präzisierungs­ relation. Je dichter oder regelungstechnisch präziser die jeweilige Verfassungsvorschrift bzw. die Verfassungsvorschriften in Bezug auf ein bestimmtes Grundrecht sind, desto spezifischer und konditionierter ist das von der Verfassung vorgesehene Verhalten des Staates und desto verbindlicher sind die Verfassungsvorschriften für den Staat. Es gibt also auf verfassungsrechtlicher Ebene einen Auslegungsbzw. Anwendungsvorrang der Verfassungsvorschriften, die sehr spezifisch sind (Lex-specialis). Es muss jedoch gesagt werden, dass, obwohl die brasilianische Verfassung die sozialen Grundrechte mit einer hohen Spezifität regelt, sich das, was der Einzelne in dieser Hinsicht vom Staat verlangen kann, nicht in seiner Gesamtheit unmittelbar aus den Verfassungsvorschriften ergibt, sondern dass dies in gewisser Weise von infrakonstitutionellen Bestimmungen abhängt. Die Verfassung regelt nicht unmittelbar die Realität – besser gesagt, die vom Staat geschuldeten faktischen Leistungen –, was die Reflexivität der sozialen Grundrechte impliziert. Das Konkrete legen die infrakonstitutionellen Regelungen der sozialen Grundrechte fest. Die Verfassung gibt formale und inhaltliche Mindeststandards vor und delegiert durch Handlungsgebote an die infrakonstitutionelle Gesetzgebung – in erster Linie an den Gesetzgeber (primärer Adressat der sozialen Grundrechte) –, die Aufgabe, diese Inhalte konkret auszugestalten, die institutionellen Voraussetzungen zu schaffen und die Verfahren festzulegen, nach denen das Exekutivorgan (sekundärer Adressat der sozialen Grundrechte) diese Befehle über die Leistungsverwaltung in die Praxis umsetzt und die faktischen Leistungen den Inhabern der Grundrechte gewährt.

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E. Zusammenfassung

Das Verhältnis zwischen Verfassung und Gesetzgeber und damit zwischen den sozialen Grundrechten und infrakonstitutioneller Gesetzgebung wird nicht richtig verstanden, wenn man – wie in der Prinzipientheorie – ein konfliktträchtiges Verhältnis voraussetzt. Die Prinzipientheorie bietet also nicht nur kein geeignetes dogmatisches Modell für das Verständnis des komplementären Verhältnisses der Verfassungsvorschriften auf verfassungsrechtlicher Ebene (horizontale Regulierungsdichte), sondern sie versagt auch als Paradigma für den Umgang mit dem harmonischen Verhältnis zwischen den Rechtsvorschriften verschiedener Stufen (vertikale Regulierungsdichte) und damit für das Verständnis der Rolle des Gesetzgebers in diesem Bereich. Im Hinblick auf letzteren Aspekt hat sich gezeigt, dass die im deutschen Rechtsdenken entwickelte und von der Rechtsprechung des BVerfG rezipierte Dogmatik der Grundrechtsausgestaltung im Bereich des leistungsrechtlichen Gehalts der Grundrechte einen geeigneteren Ausgangspunkt für die Konstruktion einer Dogmatik der sozialen Grundrechte der brasilianischen Verfassung bieten kann als die Prinzipientheorie, gerade wegen des Verständnisses vom Gesetzgeber als „Freund“ und „Helfer“ der Grundrechte, und nicht als „Feind“ oder „Widerpart“. Es handelt sich also um ein dogmatisches Modell, das es ermöglicht, die harmonische Beziehung zwischen Grundrechten und einfachem Recht besser zu verstehen und das scheinbare Paradoxon in Einklang zu bringen, das darin besteht, dass die sozialen Grundrechte zwar unmittelbare Anwendbarkeit besitzen, aber gleichzeitig in gewisser Weise auf die Regulierung durch die infrakonstitutionelle Gesetzgebung angewiesen sind, um alle ihre Wirkungen, vor allem hinsichtlich ihrer Justiziabilität, zu entfalten. Die Funktionsfähigkeit der sozialen Grundrechte setzt das Handeln des Staates voraus. Vor diesem Hintergrund wird hier neben einem Verhältnis von Grundrechten und staatlicher Tätigkeit die Konzeption verteidigt, dass die sozialen Grundrechte in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zum verfassungsrechtlichen Handlungsgebote stehen (Denken von der Kompetenz her). Die Reflexivität der Verfassungsvorschriften, die die sozialen Grundrechte vorsehen, und damit die relative Abhängigkeit dieser Grundrechte von der infrakonstitutionellen Gesetzgebung, impliziert deren Ausgestaltungsbedürftigkeit. Inhaltlich sind die sozialen Grundrechte in erster Linie originäre Rechte auf normative Leistungen. Sie enthalten „Gesetzgebungsgebote“, aber keine Optimierungsgebote. In dem Maße, in dem die Legislative ihre primäre normative Pflicht in einer mit der Verfassung vereinbaren Weise erfüllt (korrekte Ausübung eines Ausgestaltungsgebots), ist dieses originäre Recht erfüllt. Die Betrachtung der sozialen Grundrechte als Rechte auf derivative faktische Leistungen hängt von dieser primären normativen Erfüllung ab, d. h. es handelt sich um Rechte auf Teilhabe an der öffentlichen Politik, die in der infrakonstitutionellen Gesetzgebung vorgesehen sind – also in die Zuständigkeit der Legislative gehören (Ausgestaltungsspielraum). Die Pflicht der Exekutive, die bereits bestehende infrakonstitutionelle Gesetzge-

E. Zusammenfassung

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bung normativ zu präzisieren, und die Pflicht, die in der Gesetzgebung vorgesehenen Anordnungen in der Praxis auszuführen, stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Verfassung. Mit anderen Worten: Es gilt die Regel, dass die sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung keine Rechte sind, die zu faktischen Leistungen berechtigen. Die Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtshofs (STF) bezüglich des Grundrechts auf Sozialversicherung im Urteil über die ‚Ent-Rentung‘ folgt dieser Linie, wenn der STF feststellt: „Der Verfassungsgesetzgeber hat, wenn er sich speziell mit der Sozialversicherung befasst, in Artikel 201, I, die Risiken vorgesehen, die notwendigerweise durch die allgemeine Regelung abgedeckt werden müssen, aber in caput dieser Bestimmung wurde dem infrakonstitutionellen Gesetzgeber die Verantwortung zugeschrieben, die Kriterien zu wählen, durch die die Risiken geschützt werden sollen. Die Spezialisierung der Leistungen ist eines der Ziele der Sozialversicherung“; „[…] nur das Gesetz kann Leistungen und Vorteile der sozialen Sicherheit schaffen“ und „[…] das bloße Fehlen einer gesetzlichen Bestimmung für ein bestimmtes Recht kommt dem Fehlen einer Leistungsverpflichtung seitens der Sozialversicherung gleich“; „[…] die Verfassung lässt die Schaffung von Leistungen ohne eine Finanzierungsquelle durch die Gesetzgebung nicht zu“; „[…] außerdem impliziert diese direkte Beziehung zwischen einer Finanzierungsquelle und den Leistungen der Sozialversicherung, dass der Justiz nicht die Möglichkeit einer Erhöhung oder Schaffung von Leistungen der Sozialversicherung zuerkannt wird, ohne das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten.“3 Das Grundrecht auf Sozialversicherung ist somit in seinem Leistungsaspekt ein Anspruch auf normative Leistungen, die sich in einem Recht entfalten, das den Staat zur Regelung des Grundrechts auf Sozialversicherung (Recht auf Gesetz­ gebung – nach Maßgabe des Gesetzes) verpflichtet, und einem Recht auf Teilhabe an den bereits durch das Gesetz festgelegten öffentlichen Maßnahmen der Sozialversicherung, insbesondere dem Recht auf Zugang zu den Leistungen und Diensten der Sozialversicherung, sicherstellt. Die faktischen Leistungen der Sozialversicherung sind jedoch nicht in der Verfassung, sondern in der Gesetzgebung geregelt. Mit anderen Worten: Das Recht auf faktische Leistungen ist auf infrakonstitutioneller Ebene in dem Gesetz Nr. 8.213/1991 ge- und erfasst. Was schließlich die Bindung der Leistungsverwaltung und der Judikative an die durch die infrakonstitutionell reglementierten sozialen Grundrechte im Allgemeinen und an das hierarchisch organisierte Sozialversicherungsrecht im Besonderen anbelangt, so gilt Folgendes: Auch die Leistungsverwaltung ist im Sozialstaat an das Gesetzmäßigkeitsprinzip gebunden. Sie hat also nur die Ermächtigung, solche Leistungen zu gewähren, die in der Gesetzgebung vorgesehen sind.

3 Supremo Tribunal Federal (STF): [Der Oberste Bundesgerichtshof] – Recurso extraordinário [außerordentliches Rechtsmittelverfahren] Nr. 661.256/2011.

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E. Zusammenfassung

In Bezug auf die Judikative als dritter Adressat der sozialen Grundrechte ist es notwendig, ihre Tätigkeit von ihrer naheliegend unterschiedlichen Perspektive aus zu analysieren, d. h. vom formalen und vom materiellen Standpunkt aus. Was letzteren betrifft, so darf die Analyse die in der brasilianischen Verfassung vorgesehenen Befugnisse in Bezug auf die Fachgerichtsbarkeit und die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vernachlässigen. Im Hinblick auf den formalen Aspekt muss beachtet werden, dass die sozialen Grundrechte in der Regel Rechte auf normative Leitungen sind, d. h. ohne die Vermittlung der infrakonstitutionellen Gesetzgebung keine faktischen Leistungen erzeugt werden. Wenn es für eine bestimmte Leistung keine gesetzliche Regelung gibt und diese angebliche Leistung von der Leistungsverwaltung aus diesem Grund (fehlendes Gesetz) bestritten wird, ist die Fachgerichtsbarkeit nicht befugt, Leistungen allein auf der Grundlage der Verfassung zu schaffen oder zu erweitern. Die Bindung der Judikative ist in dieser Hinsicht strukturell ähnlich wie die der Leistungsverwaltung. Das Fehlen einer gesetzlichen Regelung für eine bestimmte faktische Leitung, die nach dem Verständnis des angeblichen Inhabers eines Sozialgrundrechts geschuldet ist, muss als eine mögliche Verfassungswidrigkeit wegen Unterlassung behandelt werden, und die Zuständigkeit für die Verfassungsgerichtsbarkeit im Falle von Unterlassungen liegt ausschließlich beim Obersten Bundesgerichtshof (STF). Mit anderen Worten: Nur der Oberste Bundesgerichtshof (STF) ist für die Durchführung dieser Art von Verfassungskontrolle und für die eventuelle Gewährung von Leistungen auf der Grundlage der Verfassung zuständig. In materieller Hinsicht muss die Verfassungskontrolle von Unterlassungen zunächst dem in der Verfassung vorgesehenen Handlungsgebot für die infrakonstitutionelle Regelung des jeweiligen Sozialgrundrechts und damit dem diesbezüglichen Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers entsprechen. Nur bei völliger Abwesenheit staatlichen Handelns oder bei offensichtlicher grober Vernachlässigung oder Unterschreitung der verfassungsrechtlichen Mindeststandards muss der Oberste Bundesgerichtshof (STF) im Rahmen der Mandado de Injunção-Klage den Gesetzgeber ersetzen und die Leistungen schaffen bzw. erweitern. Abschließend soll festgehalten werden, dass ein Denkansatz der Dogmatik des leistungsrechtlichen Gehalts der sozialen Grundrechte in Brasilien, der von den Prämissen der Grundrechteausgestaltung ausgeht, fruchtbarer und weitaus geeigneter ist als die Wege, die die Rezeption der Prinzipientheorie bietet.

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Sachverzeichnis Abwägung  17, 18, 21, 29, 30, 34, 38, 46, 49, 50, 56, 58, 59 ff., 67, 83, 84, 95, 108 ff., 125, 131, 142, 144, 147 ff., 202 ff., 215, 235, 245 ff., 252, 255, 287 ff., 292, 299 Anwendbarkeit der Verfassungsnormen  18, 20, 101 ff., 166, 180, 197 ff., 217, 221 ff., 231, 234 ff., 284, 300 Argumentation (juristische)  19, 23, 26, 31, 33 ff., 43, 51, 55, 61, 65, 125, 128 ff., 141 ff., 157 ff., 165, 172 Ausgestaltung  19, 21 ff., 101, 127, 156, 171, 178, 178 ff., 233 ff., 251, 256, 258 ff., 266, 268 ff., 274 ff., 287 ff., 297, 300, 302 Ausgestaltungsgebot  22, 204, 206 ff., 210, 260 ff., 266, 269 ff., 270, 275, 277, 292 ff., 300 Begrenzung (Grundrechte)  97, 162, 164, 166, 177 ff., 181 ff., 207, 233 Dekonzentrierte oder diffuse Normenkon­ trolle ​20, 113, 114 ff., 122, 167, 279, 281 Demokratie  29, 34, 49, 62, 64 ff., 76, 82 ff., 89, 112, 127, 164, 173, 235 Doppelte Natur des Rechtes  23, 125, 130, 135 ff., 143, 149, 185, 201, Dogmatik  17 ff., 31, 34, 36, 39, 42, 50, 51 ff., 55, 64, 66, 82, 85, 95, 101, 106, 109 ff., 122 ff., 142, 143 ff., 156, 159 ff., 171 ff., 192, 198, 202, 205, 208, 212 ff., 227, 232 ff., 239, 245, 268, 270, 292, 298 ff. Eingriff (Grundrechte)  64, 67, 79, 83, 88, 164 ff., 177, 179, 182, 184 ff., 190 ff., 200 ff., 205, 207, 213, 276 ff. Einheit in der Vielfalt  21, 204 Evidenzkontrolle  285, 287 ff. Existenzminimum  21, 76, 81 ff., 96, 112, 144, 162, 171, 193, 195 ff., 206, 240 ff., 248, 285 ff.

Gesetzgebungsgebot  21, 203 ff., 261, 300 Gesetzmäßigkeit der Verfassung  238 Gesetzmäßigkeitsprinzip  227, 231, 276,0 293, 297 Grundrechtseinschränkung  110, 112 ff., 178 ff., 187 ff., 207, 248, 252, 269 ff. Grundrechtsnorm  53 ff., 60, 82, 99, 106, 112, 146, 149, 152, 157, 161, 171 ff., 192, 215, 235 Handlungsgebote  116 ff., 149, 164 ff., 177 ff., 188 ff., 197, 201 ff., 218 ff., 224 ff., 241 ff., 259, 265 ff., 275 ff., 283 ff., 299 ff. Harmonische Beziehung  201, 205, 262, 300 Hermeneutik  31 ff., 46 ff., 130 ff., 141 ff., 146 ff., 258 Horizontale Regulierungsdichte  22, 234, 259, 267, 274, 298 ff. Ideale Verfassung  139 Ideales Sollen  23, 57 ff., 153, 155, 157, 173 Interpretation (juristische)  19, 24, 26, 31 ff., 43 ff., 75 ff., 96, 99, 103, 121 ff., 129 ff., 165 ff., 194, 212 ff., 222 ff., 234 ff., 240 ff., 254, 260 ff., 284, 287, 290, 295 ff. Kollision  34, 38, 50, 56, 58 ff., 64, 67, 82, 112 ff., 136, 144, 148, 152, 155, 158 ff., 174 ff., 184, 202, 235, 255, 299 Konstitutionalisierung  48, 66, 86, 163, 227, 238 Konstitutionalismus  18, 19, 23, 37 ff., 45, 49 ff., 64, 85 ff., 100 ff., 114 ff., 141 ff. Konzentrierte oder zentralisierte Normenkontrolle  115, 279, 282 Legalismus  45, 49, 50, 105, 141 ff., Leistungsgrundrechte  75, 78, 163 ff., 171, 198, 207, 214, 243, 282, 284, 287 ff., 298

Sachverzeichnis Leistungsverwaltung  22, 164, 166, 204, 225 ff., 231, 259 ff., 274 ff., 283, 292 ff., 299, 301 ff. Linguistisch-hermeneutischer Sicht  130, 135, 141, 146, 147 Mandado de Injunção-Klage  113, 115 ff., 222, 230, 278, 280, 282 ff., 293, 296 ff., 302 Maximierung  107 ff., 209, 292 Menschenwürde  29, 75 ff., 128, 171, 176 ff., 195, 197, 206, 210, 240 ff., 247, 251, 254 ff., 260, 264 ff., 267, 288 Mindestmaß  81, 209, Oberster Bundesgerichtshof (STF)  120 ff., 125, 166 ff., 230, 236, 252, 258, 260 ff., 267, 277 ff., 283 ff., 295 ff., 297, 301 ff. Oberster Justizgerichtshof (STJ)  250 ff., 255 ff. Objektiv-rechtliche Gehalt  41, 50, 160, 169, 184, 188, 190, 206 ff., 213, 220, 284 ff. Optimierungsgebot  21 ff., 57 ff., 62, 82, 108 ff., 144, 153 ff., 171, 187, 192 ff., 198, 201, 203 ff., 207, 221, 255, 261, 299 ff. Prinzipientheorie  17 ff., 51, 56 ff., 82, 85, 95 ff., 103 ff., 111, 122, 148, 150, 152 ff., 158 ff., 178 ff., 184, 188, 192 ff., 197 ff., 201, 207, 210, 213 ff., 216, 245 ff., 251 ff., 255 ff., 278, 287, 292, 298 ff. Prinzip  17 ff., 33 ff., 39, 44, 48, 50, 55 ff., 70 ff., 75 ff., 82 ff., 90 ff., 104 ff., 112, 126 ff., 131, 139 ff., 160 ff., 167 ff., 177 ff., 184 ff., 190 ff., 193, 197, 208 ff., 215, 218, 221, 226 ff., 237, 240 ff., 247 ff., 251 ff., 255, 257, 261, 276 ff., 291, 299 ff. Programmatische Charakter  97, 101 ff., 111, 194, 197 ff., 216 ff., 269 Programmsätze  18, 69, 74, 80, 104 ff., 156 Rechtsfortbildung  19, 25 ff., 31, 33 ff., 37, 48, 103, 135 ff., 138, 167, 242, 275, 279, 293, 296 ff. Reflexivität  21, 203, 260 ff., 299 ff.

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Regeln  18, 25, 28, 32, 35 ff., 50, 55 ff., 104 ff., 111, 126, 131, 134, 137 ff., 147 ff., 173, 193, 196, 198 ff. Regressus ad infinitum 122 Regulierungsdichte  22, 99, 165, 170, 174, 178, 204, 213, 234, 259, 262, 267, 274 ff., 277, 287, 294, 298 ff. Rezeption  18, 20 ff., 33, 85 ff., 88, 95 ff., 104, 111, 122, 180, 193, 197 ff., 239, 252, 256, 278, 286, 302 Soziale Gundrechte  17 ff., 42, 63 ff., 68 ff., 156, 160, 165, 168 ff., 180, 182, 184, 186, 188, 190, 192, 195, 197 ff., 222 ff., 245 ff., 259 ff., 267 ff., 274 ff., 283 ff., 296 ff. Sozialstaat  20, 21, 29, 49, 70, 75 ff., 89, 94 ff., 113, 156, 164 ff., 171, 174, 195, 206, 214, 224 ff., 228, 240 ff., 296, 301 Spielraum  34, 41 ff., 63, 66 ff., 155, 164 ff., 169, 193, 196 ff., 204, 208 ff., 237, 260, 265, 273, 287 ff., 292, 300, 302 Staatszielbestimmung  20, 69 ff., 99, 105, 156, 204, 218 ff., 229 ff., 268, 284 ff., 298 Subsumtion  45, 47, 49, 61, 131, 141 ff., 147 ff., 156 ff., 161, 198 Unmittelbar statuierte (Grundrechts-) Norm  54 ff., 60, 131, 146 ff., 155, 157 ff., 162, 165, 171 ff. Unmittelbare Anwendbarkeit  18, 20, 99, 101 ff., 166, 180, 197 ff., 216, 221 ff., 230 ff., 234, 300 Unterlassungsfeststellungsklage 113, 115 ff., 278, 280 Untermaßverbot  81, 110, 248, 251, 283 ff., 290, 292 Verfassungsaufträge  20, 72, 79 ff., 97, 100, 165, 169, 186, 190 ff., 219 ff., 298 Verfassungswidrige Unterlassungen  21, 54, 63, 95, 113, 115 ff., 149, 164 ff., 167, 170 ff., 177, 188 ff., 192, 206 ff., 222, 224, 226, 230, 241, 251 ff., 264, 267, 269, 275, 277 ff., 302 Verhältnismäßigkeit  59, 95, 104, 158 ff., 179, 190, 192, 248, 251, 261, 277, 284, 289 ff., 301

320

Sachverzeichnis

Vertikale Regulierungsdichte  22, 274 ff., 294, 300 Vielfalt in der Einheit  22, 212, 232 ff. Vorbehalt des Möglichen  243 ff.

Zirkelschluss  122 ff., 137, 147 Zugeordnete (Grundrechts-)Norm  53 ff., 60 ff., 82, 131, 135, 146 ff., 151 ff., 161, 171, 181, 215, 235