Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven 3515087710, 9783515087711

Eine umfassende Bilanz der sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung. Die Autoren zeigen Desiderate auf und untersuc

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German Pages 661 [663] Year 2005

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Günther Schulz – 100 JAHRE VSWG – VORBEMERKUNGEN ZUM JUBILÄUMSBAND
I. Forschungsfelder: Bilanz und Perspektiven
Werner Rösener – LANDWIRTSCHAFT IM MITTELALTER
Friedrich-Wilhelm Henning – LANDWIRTSCHAFT IN DER NEUZEIT
Gerhard Fouquet – STADTWIRTSCHAFT: HANDWERK UND GEWERBE IM MITTELALTER
I. Voraussetzungen: Städtische Wirtschaft
II. Der ‚Aufstand‘ der Nationalökonomen und die spätmittelalterliche Stadtwirtschaft
III. Krisen in der städtischen Wirtschaft des Spätmittelalters?
IV. Zwischen Stadt und Land – Gewerbereviere und Verlagswesen
V. Städtisches Handwerk, Gewerbe und ‚industrielle Revolution‘
VI. Städtische Textilerzeugung: die Niederlande, Köln und Oberitalien
VII. Stadt, Metall und Salz
VIII. Das Baugewerbe
Karl Heinrich Kaufhold – GEWERBE, BERGBAU UND INDUSTRIE IN DER NEUZEIT
Einführung
Frühe Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert)
19. und 20. Jahrhundert
Rainer Gömmel – HANDEL UND VERKEHR
1. Vorbemerkung
2. Forschungsbereiche bis zum Ersten Weltkrieg
3. Forschungsbereiche nach dem Ersten Weltkrieg
4. Tendenzen der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg
Hans Pohl – KREDIT- UND VERSICHERUNGSWESEN
I. Frühe Neuzeit
II. 19. und 20. Jahrhundert
II. 1. Bankwesen
II. 1. 1. Bankenkrisen
II. 1. 2. Geschäftsbanken
II. 1. 3. Notenbanksystem
II. 1. 4. Staatliche Bankenpolitik
II. 2. Versicherungswesen
Gerold Ambrosius – STAATSTÄTIGKEITEN UND STAATSUNTERNEHMEN
I. Einführende Bemerkungen
II. Produzierende Tätigkeiten des Staates
III. Perspektiven der produzierenden Tätigkeiten
1. Dogmengeschichtliche Perspektive
2. Faktoranalytische Perspektive
3. Mikroökonomische Perspektive
4. Regulierungspolitische Perspektive
5. Administrative Perspektive
6. Methodische Perspektive
IV. Abschließende Bemerkungen
Markus A. Denzel – KONJUNKTUREN IM MITTELALTER UND IN DER FRÜHEN NEUZEIT
Einleitung
Zum Begriff der „Konjunkturgeschichte“ für die vorindustrielle Zeit
Zum Forschungsstand
1. Indikatoren vorindustrieller Konjunkturen
2. Arbeitsfelder vorindustrieller Konjunkturgeschichtsforschung
Ansätze künftiger Forschungen
Rainer Metz – KONJUNKTUREN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
1. Einleitung
2. Grundbegriffe und Konzepte
3. Messung und Datierung der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur
4. Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert (1820 bis 1914)
Kriegs- und Zwischenkriegszeit (1914 bis 1945)
„Golden Age“ und „gebremstes Wachstum“ (1945 bis 2000)
5. Die theoretische Erklärung des Phänomens
Die Konjunkturtheorie bis zur Weltwirtschaftskrise
Keynes und die keynesianische Konjunkturtheorie
6. Historische Konjunkturforschung
Jörn Sieglerschmidt – BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE
Einleitung
1. Bevölkerungsgeschichtliche Artikel und Rezensionen
2. Bevölkerungsgeschichte als wichtiger Bestandteil einer strukturgeschichtlich orientierten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
2.1 Grundprobleme der historischen Demographie
2.2 Protoindustrialisierung
2.3 Quantifizierende Methoden
3. Neuere Ansätze
3.1 Kulturgeschichte
3.2 Anthropometrische Forschungen
3.3 Sozialgeschichte der Medizin und historische Epidemiologie
4. Schlussbemerkung
Günther Schulz – SOZIALGESCHICHTE
I. Die Ursprünge und Anfänge
a. Bis zum Ende des Kaiserreiches
b. In der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur
c. Die fünfziger Jahre
II. Umbrüche und Erweiterung
a. Die sechziger Jahre
b. Die 1970er Jahre. Aufschwung und Kritik
III. Die 1980er und 1990er Jahre. Neue Wege – Neue Diskussionen
a. Die Oral History
b. Alltagsgeschichte
c. Kulturgeschichte
d. Gender factor
IV. Sozialgeschichte in der DDR
V. Schluss
Heide Wunder – FRAUEN- UND GESCHLECHTERGESCHICHTE
„Frauengeschichte“ zwischen Feminismus und Fachhistorie
Geschlechtergeschichte
Frauen- und Geschlechtergeschichte – Allgemeine Geschichte
Wolfgang Zorn – ALLTAGSGESCHICHTE. KONJUNKTUREN UND BLEIBENDE AUFGABEN
1. Die Verbreitung des Begriffs
2. Alltagsgeschichte in Rivalitäten
3. Alltagsgeschichte in der VSWG
4. Deutschsprachige Alltagsgeschichte – Auswirkungen im Ausland
5. Bilanz und Aussicht
Ute Daniel – ALTE UND NEUE KULTURGESCHICHTE
Peter Borscheid – HISTORISCHE ALTERSFORSCHUNG
Demographische Aspekte
Biologische Aspekte
Materielle Aspekte
Gesellschaftliche Aspekte
Generationsaspekte
Kulturelle Aspekte
Geschlechtsspezifische Aspekte
Helmut Braun – VON DER TECHNIK- ZUR UMWELTGESCHICHTE
1. Prolog: Die VSWG als Forum für Technik- und Umweltgeschichte?
2. Zur „Geschichte der Technikgeschichte“ und ihren wirtschafts- und sozialhistorischen Bezügen
3. Die Herausbildung der Umweltgeschichte als neuer Teildisziplin
3.1. Wurzeln, Grundanliegen und Selbstverständnis der neuen Teildisziplin
3.2. Synoptischer Überblick über ausgewählte umwelthistorische Forschungsschwerpunkte und einschlägige Beiträge in der VSWG
3.3. Zum Prozess der Institutionalisierung der Umweltgeschichte
3.4. Anregungen für weitere umweltgeschichtliche Forschungsfelder
4. Epilog: Vermehrte Differenzierung, interdisziplinäre Ausrichtungen oder fachgebietsübergreifende Forschung?
Werner Plumpe – PERSPEKTIVEN DER UNTERNEHMENSGESCHICHTE
1. Vorbemerkung
2. Einige Hinweise zum bisherigen Stand der Forschung
3. Das Forschungsproblem
4. Die Unternehmung als organisierte Entscheidungssequenz
5. Perspektiven
II. Forschungskreise: Kooperationen und Einflüsse
Rolf Walter – DIE METAPHYSIK DES „BINDESTRICHS“. WAS HÄLT DIE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE ZUSAMMEN?
Vorbemerkung
Zum zeitgenössischen geistigen Kontext der Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Der Weg in die Selbstständigkeit
Vom Inhalt des „Bindestrichs“ – Einige Beispiele zu dessen partieller Unauflöslichkeit
Keine realistische historische Rekonstruktion ohne den „Bindestrich“ – ein Plädoyer für die „dritte“ Methode
Schluss
Volker R. Berghahn – FOREIGN INFLUENCES ON GERMAN SOCIAL AND ECONOMIC HISTORY
1. Introduction
2. Foreign Influences on German Economic History as History
3. Foreign Influences on German Social History as History
4. Foreign Influences on German Social and Economic History as Historiography
5. Social and Economic History in Germany: Some Considerations for the Future
Eberhard Isenmann – DIE BEDEUTUNG DER SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSGESCHICHTE FÜR DIE ALLGEMEINE GESCHICHTE DES MITTELALTERS
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
Joachim Scholtyseck – ALLGEMEINE GESCHICHTE DER NEUZEIT UND SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSGESCHICHTE
I.
II.
III.
Florian Tennstedt – SOZIALWISSENSCHAFT – SOZIALRECHT – SOZIALGESCHICHTE. KOOPERATION UND KONVERGENZ AM BEISPIEL DER SOZIALPOLITIK
1. Die Gegenwart: Sozialpolitik in der Krise – sozialpolitische Forschung im Aufwind
2. Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik – Fortschritte und Defizite
3. Sozialpolitik im europäischen Kontext – vergleichende Forschungen: historische Typisierungsversuche und aktuelle Transformationsprozesse
a) Am Anfang stand der Vergleich
b) Die Supranationalisierung ist in Europa hinzugekommen
c) Rückkehr des Vergleichs – die Pfade der Forschung
4. Das historisch Gewordene und die Zukunft der Sozialpolitik: Grenzen oder neue Aufgaben für die Forschung?
Toni Pierenkemper – WIRTSCHAFTSGESCHICHTE UND WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN. VOM NUTZEN IHRER WECHSELWIRKUNGEN
II
III
IV
Rolf Caesar mit Hans Pitlik und Jan Pieter Schulz – FINANZWISSENSCHAFT: FRAGEN UND ANREGUNGEN
I. Fragestellung
II. Wandlungen in der Forschungsmethodik der Finanzwissenschaft
1. Entwicklungstendenzen
2. Zur heutigen Methodik
II. Begründung und Umfang der Staatstätigkeit
1. Entwicklungstendenzen
2. Zur Begründung allokativer Staatstätigkeit
3. Zur Begründung distributiver Staatstätigkeit
4. Zur Begründung stabilisierungspolitischer Staatstätigkeit
III. Zur Finanzierung der Staatstätigkeit
1. Entwicklungslinien
2. Zur Finanzierung der Staatsausgaben durch Steuern
3. Zur Finanzierung der Staatsausgaben durch öffentliche Verschuldung
IV. Zur Funktionsweise der Staatstätigkeit
1. Allgemeiner Überblick
2. Aktuelle Diskussionsfelder
V. Ausblick
Oliver Volckart – INSTITUTIONENÖKONOMISCHE ERKLÄRUNGEN UND WIRTSCHAFTSHISTORISCHE MODELLE
I.
II.
III.
IV.
V.
Jörg Baten – DIE ZUKUNFT DER KLIOMETRISCHEN WIRTSCHAFTSGESCHICHTE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM
1. Kliometrische Studien in der VSWG seit den 1970er Jahren
2. Jüngste Trends der Kliometrik: Aktuell entstehende Arbeiten
2.1 Biologischer Lebensstandard in vorindustrieller Zeit
2.2 Vorindustrielle Zeit: Handwerk
2.3 Geschichte des Kreditwesens
2.4 Kapitalmärkte
2.5 Integration von Wirtschaftsräumen und Effekte von Währungsunionen
2.6 Ökonomische Schocks und politische Gewalt
3. Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung
3.1 Fazit: Vielversprechende Forschungsfelder der Zukunft
3.2 Diskussionen über kliometrische Eigenheiten: die Betonung der referiertenZeitschriften
3.3 Zukunftsziel Verständlichkeit
3.4 Das Multimediaprojekt „Kliometrische Methoden und Ergebnisse“
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven
 3515087710, 9783515087711

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Günther Schulz, Christoph Buchheim, Gerhard Fouquet, Rainer Gömmel, Friedrich-Wilhelm Henning, Karl Heinrich Kaufhold, Hans Pohl (Hg.)

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven

Geschichte Franz Steiner Verlag

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven

Herausgegeben von Günther Schulz, Christoph Buchheim, Gerhard Fouquet, Rainer Gömmel, Friedrich-Wilhelm Henning, Karl Heinrich Kaufhold und Hans Pohl aus Anlass des 100. Erscheinens der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Franz Steiner Verlag 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-515-08771-0

Eine textidentische gebundene Ausgabe erschien 2004 als Beiheft in der Reihe „Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte“.

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2005 by Franz Steiner Verlag GmbH Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis .....................................................................................

7

Vorbemerkung – Günther Schulz ......................................................................

9

I. Forschungsfelder: Bilanz und Perspektiven A Landwirtschaft im Mittelalter – Werner Rösener, Gießen ................................

19

Landwirtschaft in der Neuzeit – Friedrich-Wilhelm Henning, Köln.................

41

Stadtwirtschaft: Handwerk und Gewerbe im Mittelalter – Gerhard Fouquet, Kiel ..............................................................................................................

69

Gewerbe, Bergbau und Industrie in der Neuzeit – Karl Heinrich Kaufhold, Göttingen.....................................................................................................

95

Handel und Verkehr – Rainer Gömmel, Regensburg ........................................ 133 Kredit- und Versicherungswesen – Hans Pohl, Bonn ....................................... 147 Staatstätigkeiten und Staatsunternehmen – Gerold Ambrosius, Siegen ............ 175 Konjunkturen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit – Markus A. Denzel, Leipzig ........................................................................................................ 191 Konjunkturen im 19. und 20. Jahrhundert – Rainer Metz, Köln ....................... 217 B Bevölkerungsgeschichte – Jörn Sieglerschmidt, Mannheim ............................. 249 Sozialgeschichte – Günther Schulz, Bonn ......................................................... 283 Frauen- und Geschlechtergeschichte – Heide Wunder, Kassel ......................... 305 Alltagsgeschichte. Konjunkturen und bleibende Aufgaben – Wolfgang Zorn, München ..................................................................................................... 325 Alte und neue Kulturgeschichte – Ute Daniel, Braunschweig .......................... 345 Historische Altersforschung – Peter Borscheid, Marburg ................................. 359 Von der Technik- zur Umweltgeschichte – Helmut Braun, Regensburg .......... 375 Perspektiven der Unternehmensgeschichte – Werner Plumpe, Frankfurt am Main ...................................................................................... 403

6

Inhaltsverzeichnis

II. Forschungskreise: Kooperationen und Einflüsse Die Metaphysik des Bindestrichs. Was hält die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zusammen? – Rolf Walter, Jena ...................................... 429 Foreign Influences on German Social and Economic History – Volker Berghahn, New York ...................................................................... 447 Die Bedeutung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte für die Allgemeine Geschichte des Mittelalters – Eberhard Isenmann, Köln ............................ 469 Allgemeine Geschichte der Neuzeit und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Joachim Scholtyseck, Bonn ........................................................................ 525 Sozialwissenschaft – Sozialrecht – Sozialgeschichte. Kooperation und Konvergenz am Beispiel der Sozialpolitik – Florian Tennstedt, Kassel .... 551 Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaften. Vom Nutzen ihrer Wechselwirkungen – Toni Pierenkemper, Köln ......................................... 577 Finanzwissenschaft: Fragen und Anregungen – Rolf Caesar mit Hans Pitlik und Jan Pieter Schulz, Hohenheim ............................................................. 599 Institutionenökonomische Erklärungen und wirtschaftshistorische Modelle – Oliver Volckart, Berlin ............................................................................... 619 Die Zukunft der kliometrischen Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum – Jörg Baten, Tübingen .................................................................... 639 Autorinnen und Autoren .................................................................................... 655

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AfS

Archiv für Sozialgeschichte

ASS

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

BDLG

Blätter für deutsche Landesgeschichte

BHR

Business History Review

GG

Geschichte und Gesellschaft

HSR

Historical Social Research

HZ

Historische Zeitschrift

JEEH

Journal of European Economic History

JEH

Journal of Economic History

JbWG

Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte

JSH

Journal of Social History

KZSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

RhVjbll

Rheinische Vierteljahrsblätter

RHES

Revue d’Histoire Economique et Sociale

VfZG

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

VSWG

Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

ZAA

Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie

ZHF

Zeitschrift für Historische Forschung

ZUG

Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

Günther Schulz 100 JAHRE VSWG – VORBEMERKUNGEN ZUM JUBILÄUMSBAND 1903 erschien der erste Band der „Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte“, herausgegeben von dem Nationalökonomen Stephan Bauer (Basel) sowie den Mediävisten Georg von Below (Tübingen) und Ludo Moritz Hartmann (Wien), im Leipziger Verlag C. L. Hirschfeld.1 Die neue Zeitschrift sollte, so die Herausgeber im ersten Band, „der Erforschung der wirtschaftlichen Zustände und Entwicklungen aller Zeiten und Völker dienen“. Sie sollte historische Beiträge über wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Sachverhalte und Entwicklungen sowie deren Ursachen publizieren, doch eine Plattform weder für die theoretische Nationalökonomie noch für Gegenwartsfragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik sein, sondern „in ihrer streng historischen Tendenz einem gemeinsamen Bedürfnis der Geschichtsforschung und der Socialwissenschaft Rechnung tragen“. Die Sozialgeschichte sprachen Bauer, von Below und Hartmann dabei nicht namentlich an. Der Begriff war erst wenig gebräuchlich, der Gegenstand im Wissenschaftsbetrieb an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch in der Nationalökonomie einbegriffen, in manchen Dimensionen auch in der „Socialpolitik“ bzw. in der Geschichtswissenschaft. Internationale Ausrichtung – und damit Abwendung von der herrschenden Nationalgeschichte – Einbeziehung auch des Abdrucks von Quellen sowie die Information über die einschlägige Literatur und deren kritische Würdigung – dies sollten die weiteren Aufgaben bzw. Ziele der neuen Zeitschrift sein. Die wissenschaftliche Kritik werde sich, so die Herausgeber, „in allen Fällen persönlicher Angriffe enthalten“ und wichtige Neuerscheinungen „in ihrer vollen Bedeutung zu würdigen trachten, aber in sachlicher Beziehung keine Rücksichten kennen“.2 Damit ist die Ausrichtung der VSWG in den Grundzügen treffend gekennzeichnet, wie sie bis auf den heutigen Tag Bestand hat.3 Die Herausgeber haben keine 1

2 3

Als „Redaktionssekretär“ fungierte der Wirtschaftshistoriker Kurt Kaser (Wien), ein Freund Hartmanns. Er wurde 1909 Mitherausgeber; siehe Anm. 11. Ständige Mitarbeiter waren Georges Espinas (Paris), Theodor Ludwig (Straßburg), Henri Pirenne (Gent), Giuseppe B. Salvioli (Palermo) und Paul Vinogradoff (London); siehe das Titelblatt des ersten Heftes. – Die Gründung der neuen Zeitschrift wurde übrigens weder von der „Historischen Zeitschrift“ noch von „Schmollers Jahrbuch“ erwähnt. Alle Angaben und Zitate aus dem Vorwort zu VSWG 1 (1903). Zur Geschichte der VSWG siehe Hermann Aubin: Zum 50. Band der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 1–24; Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ – Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900, in: VSWG 72 (1985), S. 457–475; ders.: Die dritten 25 Jahrgänge der VSWG, in: VSWG 76 (1989), S. 607–611; Hans Pohl: Rückblick auf die Jahrgänge 1990 bis 2001 der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 89 (2002), S. 449–453; ders.: Inhaltliche Schwerpunkte der Jahrgänge 76 (1989) bis 90 (2003) der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und ihrer Beihefte, in: VSWG 90 (2003), S. 517–520; siehe auch Anm. 19.

10

Günther Schulz

Präferenzen für spezifische sozial- und wirtschaftshistorische Ansätze, Fragestellungen oder Vorgehensweisen. Kriterien für die Annahme eines Beitrags sind, dass er nach Fragestellung bzw. Quellenauswertung innovativ ist und die jeweiligen Problembezüge und Forschungskontexte angemessen berücksichtigt. Zur Unabhängigkeit der Zeitschrift hat vermutlich beigetragen, dass sie ohne Zuschüsse existiert, kein Vereinsorgan wurde und sich keiner wissenschaftlichen Schule bzw. Richtung verpflichtete.4 Es ist das „Programm“ der VSWG, im deutschsprachigen Raum, doch mit internationaler Ausrichtung, die gesamte inhaltliche und thematische, räumliche und zeitliche Breite der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte abzudecken. Die Gründung der VSWG erweiterte das Feld der Zeitschriften zwischen der Allgemeinen Geschichte, deren führendes Organ die 1859 gegründete „Historische Zeitschrift“ war und ist, und den Staatswissenschaften bzw. der Nationalökonomie – hier sind insbesondere die seit 1844 erscheinende „Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften“ (heute: Journal of Institutional and Theoretical Economics) zu nennen, ferner die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“, 1863 entstanden, und, seit 1877, das „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“, nachmals „Schmollers Jahrbuch“.5 Die nationalökonomischen Publikationsorgane waren lange bereit, auch wirtschaftshistorische Themen zu berücksichtigen, entsprechend dem Einfluss der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie. Dies ging im 20. Jahrhundert, vornehmlich nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Einfluss der Neoklassik mit ihren zeitungebundenen abstrakten, modellhaften Ansätzen zurück, verschwand schließlich ganz. In Deutschland kommt es erst seit den 1970er Jahren im Rahmen der New Economic History auf manchen Gebieten wieder zu engerer Kooperation zwischen der Wirtschaftsgeschichte und den Wirtschaftswissenschaften. Ansätze historischen Interesses bei den Wirtschaftswissenschaften leben in begrenztem Umfang im Rahmen der Neuen Institutionen- bzw. evolutorischen Ökonomik wieder auf. Auf ihrem Fachgebiet blieb die VSWG lange, national wie international, die einzige Zeitschrift. Die erste Konkurrenzgründung entstand 1913 durch Umwandlung der seit 1908 erscheinenden „Revue d’Histoire des Doctrines économique et sociales“ in die „Revue d’Histoire Economique et Sociale“. Es folgten 1927 in England „The Economic History Review“, 1928 in den USA „The Journal of Economic and Business History“ und 1929 in Frankreich die „Annales d’histoire économique et sociale“;6 bei der letzteren lassen sich unmittelbare Einflüsse der VSWG feststellen.7 Seit 1923 erscheint, begründet durch Georg von Below, die Reihe der Beihefte 4 5

6 7

Zorn, Die dritten 25 Jahrgänge (wie Anm. 3), S. 610. Von den weiteren Zeitschriften, die sozial- und wirtschaftshistorische Beiträge abdruckten, seien hier nur die „Hansischen Geschichtsblätter“ (entstanden 1871) und das „Historische Jahrbuch der Görres-Gesellschaft“ (* 1880) genannt, ferner die „Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ (* 1880). – Im Übrigen entstand im selben Jahr wie die VSWG das „Archiv für Kulturgeschichte“; siehe Anm. 21. Aubin, Zum 50. Band (wie Anm. 3), S. 19–22; Zorn, „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ (wie Anm. 3), S. 471–475. André Burguière: Histoire d’une histoire: la naissance des Annales, in: Annales 34 (1979),

100 Jahre VSWG – Vorbemerkungen zum Jubiläumsband

11

zur VSWG. 1905 wechselte die Vierteljahrschrift vom Verlag Hirschfeld zu W. Kohlhammer, Stuttgart. 1950 schloss sich ein erneuter Wechsel der Zeitschrift – die bis 1977 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde – zum Franz Steiner Verlag an.8 Zum hundertjährigen Jubiläum erscheint die VSWG im 90. Jahrgang; in einer Reihe von Kriegs- und Krisenjahren konnten keine Bände publiziert werden.9 Vorangegangen war die kurzlebige „Zeitschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte“, die zwei der VSWG-Gründer, Bauer und Hartmann, gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern seit 1893 mit ähnlicher Zielsetzung herausgegeben hatten, wie sie sie später bei der VSWG verfolgten. Die Zeitschrift wurde 1900 eingestellt, da sich der Verlag auflöste.10 Von den Herausgebern11 der VSWG wurden bislang Georg von Below und Werner Conze Gegenstand gründlicher wissenschaftlicher Untersuchungen,12 der erstere auch in seiner Auseinandersetzung mit Karl Lamprecht, dem Gegenpart nicht nur von Belows, sondern auch des HZ-Herausgebers Friedrich Meinecke.13 Auch Otto Brunner14 und Hermann Aubin fanden in der jüngeren historiographischen Forschung große Aufmerksamkeit.15 Aubin, ein Schüler von Belows, war von 1926

8 9 10 11

12

13 14 15

S. 1347–1359, hier 1351. Der ursprüngliche Titel der Annales lehnte sich an die VSWG an; er wurde später wiederholt geändert; siehe Michael Erbe: Zur neueren historischen Sozialgeschichtsforschung: die Gruppe um die Annales (Erträge der Forschung 110). Darmstadt 1979, S. 44, 47. Aubin, Zum 50. Band (wie Anm. 3), S. 18, 22 f.; Zorn, Die dritten 25 Jahrgänge (wie Anm. 3), S. 607. Übersicht und Erläuterung bei Aubin, Zum 50. Band (wie Anm. 3), S. 20–23. Der Verlag ging 1895 an Emil Ferber, Berlin, über; zuvor war es J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), damals in Freiburg i. Br., gewesen; ebd., S. 8–17; Zorn, „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ (wie Anm. 3). Herausgeber: Stephan Bauer 1903–1932, Georg von Below 1903–1928, Ludo Moritz Hartmann 1903–1925, Kurt Kaser 1909–1930, Hermann Aubin 1926–1967, Otto Brunner 1968– 1979, Herrmann Kellenbenz 1968–1990, Wolfgang Zorn 1968–1996, Hans Pohl seit 1971, Werner Conze 1979–1986, Karl Heinrich Kaufhold seit 1991, Rainer Gömmel seit 1992, Friedrich-Wilhelm Henning seit 1992, Frauke Schönert-Röhlk 1992–2001, Günther Schulz seit 1997, Gerhard Fouquet seit 2000, Christoph Buchheim seit 2001. Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998; Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (Ordnungssysteme 9). München 2001. Siehe den Nachruf auf Conze von Wolfgang Zorn, in: VSWG 73 (1986), S. 153–157. Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1859–1915). New Jersey 1993. Siehe z. B. Stefan Weiß: Otto Brunner und das Ganze Haus oder Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 273 (2001), S. 335–369. Aus der großen Zahl der neueren Arbeiten seien hier nur genannt Ursula Wolf: Litteris et patriae. Das Janusgesicht der Historie (Frankfurter Historische Abhandlungen 37). Stuttgart 1996 (v. a. zu Aubin und Brunner); Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. BadenBaden 1999 (v. a. zu Aubin und Brunner); Martin Burkert: Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I: Zwischen Verbot und Duldung. Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939. Wiesbaden 2000 (v. a. zu Aubin); Ingo Haar: Historiker im

12

Günther Schulz

bis 1967 Herausgeber der Zeitschrift, davon seit 1933 Alleinherausgeber. Seit einigen Jahren findet die Historisierung der Historiographie ebenso wie diejenige anderer Wissenschaften verstärkt Interesse – nicht ausschließlich, doch vornehmlich in Bezug auf die NS-Zeit. Ausgangspunkt ist meist der biographische Ansatz, wobei Konzepte von Netzwerken, Forschungsprogrammen und Kommunikationsgemeinschaften einbezogen werden.16 Es findet offensichtlich eine zeitlich verzögerte „Vergangenheitsbewältigung“ statt, bei der nicht selten die dritte Generation von Wissenschaftlern mit der zweiten über Belastungen der ersten Generation durch den Nationalsozialismus streitet. Eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung der VSWG aus der Perspektive der nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs Geborenen und insbesondere der Biographie, Prägung und Rolle von Aubin steht noch aus. Im Übrigen erstreckt sich das Spektrum der Herausgeber von Aubin, der – auch im Nationalsozialismus – als rechtsliberal bzw. nationalliberal galt,17 bis zu den Sozialdemokraten Stephan Bauer und Ludo Moritz Hartmann.18 Informationen über die Herausgeber und die Arbeit der VSWG finden sich in zahlreichen Beiträgen, die in der Zeitschrift im Laufe ihrer Geschichte an vielen Stellen publiziert wurden, meist in der Form von Miszellen, oft aus Anlass von Jubiläen. Insbesondere Wolfgang Zorn hat sich durch entsprechende Beiträge große Verdienste erworben.19 Das Jubiläum einer wissenschaftlichen Zeitschrift bietet – will man sich nicht weitgehend allen Aufhebens enthalten und beim Tagesgeschäft bleiben20 – die Möglichkeit, die „Jubilarin“ aus diesem Anlass ins Zentrum der Untersuchung zu rücken und sie dabei gewissermaßen als Spiegel der Fachwissenschaft zu thematisieren und damit – allgemeiner gewandt – die Geschichte des eigenen Fachs im Spiegel der Zeitschrift zu betrachten, „einen Rechenschaftsbericht über die Geschichte der Historiographie“ zu geben, aber auch über „das Gegenwärtige und Zukünftige“ nachzudenken.21 Die Herausgeber der VSWG haben sich für eine mittlere Position

16

17 18 19 20 21

Nationalsozialismus. Die deutsche Geschichtswissenschaft und der ‚Volkstumskampf‘ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000. Siehe dazu beispielsweise Arno Mohr: Die Politikwissenschaft entdeckt die Archive. Neuere Arbeiten zur Geschichte des Faches in Deutschland, in: Neue Politische Literatur 48 (2003), S. 66–95. Ferner Matthias Middell (Hg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 2). Leipzig 1999. So Zorn, „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ (wie Anm. 3), S. 457. Aubin, Zum 50. Band (wie Anm. 3), S. 11 f.; Zorn, „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ (wie Anm. 3), S. 457. Siehe Anm. 3; ferner Zorn: Der Hauptinitiator der VSWG-Gründung Ludo Moritz Hartmann (1865–1924) und seine erste Biographie, in: VSWG 76 (1989), S. 378–383. So verfuhren Lyndal Roper und Chris Wickham, die Herausgeber von „Past and Present“, beim 50. Jubiläum der Zeitschrift: Past and Present 176 (April 2002), S. 3–6. So die „Historische Zeitschrift“ anlässlich ihres 100. Geburtstags; siehe das Geleitwort in: HZ 189 (1959): Hundert Jahre Historische Zeitschrift. 1859–1959. Beiträge zur Geschichte der Historiographie in den deutschsprachigen Ländern. Ähnlich auch das Archiv für Kulturgeschichte 2003, siehe insbesondere Helmut Neuhaus: Hundert Jahre „Archiv für Kulturgeschichte“, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 1–28; ferner – zum jeweiligen 50-jährigen Jubiläum – die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), die Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 50 (2002) und die Scandinavian Economic History Review 50 (2002).

100 Jahre VSWG – Vorbemerkungen zum Jubiläumsband

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entschieden. Während die Zeitschrift selbst weitgehend beim Tagesgeschäft bleibt – lediglich mit dem Abdruck eines Registers für die 15 erschienenen Jahrgänge von 1989 bis 2003 und die entsprechenden Beihefte weicht sie etwas vom Gewohnten ab –, erscheint separat der vorliegende Jubiläumsband. Dabei haben sich die Herausgeber entschieden, aus Anlass des Jubiläums nicht die VSWG selbst in den Mittelpunkt zu rücken22 und nicht die Geschichte des Fachs Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gewissermaßen im Spiegel der VSWG zu untersuchen, sondern das hundertjährige Jubiläum dazu zu nutzen, wichtige Arbeitsgebiete, Themen und Probleme sowie Perspektiven für künftige Forschungen herauszuarbeiten. Den Autorinnen und Autoren der Beiträge ist ebenso wie dem Verlag für die Bereitschaft herzlich zu danken, sich auf dieses Experiment einzulassen Der vorliegende Band gliedert sich in zwei Teile. Der erste umfasst Themenkreise und Arbeitsbereiche der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, gegliedert einesteils in die drei klassischen Sektoren einschließlich der konjunkturellen Entwicklung, andernteils – gewissermaßen quer dazu – in einzelne Themenbereiche, von der Bevölkerung über Frauen und Geschlechter, Alter, Technik und Umwelt bis zu den Unternehmen. Der zweite Teil hat theoretische und methodische Probleme des Fachs sowie Beziehungen zu den Nachbarfächern zum Gegenstand. Bei der zeitlichen Auswahl wurde Wert darauf gelegt, die Beschränkung auf das 19. und 20. Jahrhundert zu vermeiden und auch die vorindustrielle Zeit, Mittelalter und Frühe Neuzeit, einzubeziehen. Der Band ist als Arbeitsbericht über zentrale Themenfelder und Problemkreise der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte konzipiert, nicht als Handbuch. Das Schwergewicht liegt nicht auf der „Realgeschichte“, sondern auf der Darstellung und Diskussion des Forschungsstandes. Die Beiträge sollen einen Überblick über die bisherige Forschung auf dem jeweiligen Feld geben, der Akzent soll aber nicht auf der Bilanz der Vergangenheit liegen, sondern auf dem Ausblick auf künftige Entwicklungen, und es sollen Perspektiven für die Zukunft aufgezeigt werden: Wo liegen spezifische Prägungen? Wo gibt es Desiderate, neue Problembezüge, besonders interessante Fragestellungen? Die Vierteljahrschrift selbst sollte zwar, wie ausgeführt, nicht im Mittelpunkt stehen, doch wichtige VSWG-Aufsätze und -Beihefte, die zum jeweiligen Thema publiziert wurden, sollten soweit einbezogen werden, wie dies sinnvoll und angemessen erschien. Dazu sind die vier Register von Nutzen, welche die bislang erschienenen 90 Bände erschließen.23 Die Beiträge sind durchaus heterogen – in Bezug auf die Anlage, Zugriffsweise, die Auswahl der historischen Beispiele, den methodischen Ansatz und die Pro22 Freilich wäre es wünschenswert, über eine zuverlässige Darstellung der Zeitschrift zu verfügen, betrachtet man die fehlerhaften Angaben über die VSWG bei Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Stuttgart/München 2000, S. 442, 526. 23 Register zu den Bänden 1 bis 20 (1903–1928). Bearbeitet von Ludwig Klaiber. Stuttgart 1930 [108 S., eigenständige Publikation]; Register zu den Bänden 21 bis 50 (1928–1963). Bearbeitet von Erich Will. Wiesbaden 1971 [682 S., eigenständige Publikation]; Register zu den Bänden 51–75 (1964–1988), in: VSWG 76 (1989), S. 607–638; Register zu den Bänden 76–90 (1989– 2003), in: VSWG 90 (2003), S. 517–565.

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blembezüge, ferner hinsichtlich der Beurteilung der VSWG selbst, deren Arbeit in einzelnen Phasen seit 1903 sowie namentlich hinsichtlich der Herausgeber und Autoren. Manche Aufsätze sind dichte, kompakte Forschungsberichte, andere sind Essays. Die Akzentuierung ist im Einzelfall ebenso unterschiedlich wie es die Autorinnen und Autoren sind. Die Heterogenität war beabsichtigt. Gleichwohl zeigt das Zustandekommen des Bandes auch, dass der spezifische Zugang der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte über alle Konjunkturen der hundertjährigen Geschichte hinweg weiterhin eine tragfähige gemeinsame Grundlage für die deutsche und europäische Entwicklung des Fachs bietet. Im Rahmen dieser gemeinsamen Basis zielt die Konzeption des vorliegenden Bandes freilich weder auf thematische, problembezogene, räumliche und zeitliche Vollständigkeit noch auf Gleichförmigkeit bzw. Einheitlichkeit der Gewichtung. Dies spiegelt die eingangs skizzierte Linie der VSWG wider. Das Jubiläum und die damit verbundene Bestandsaufnahme waren zugleich ein willkommener Anlass, auf vernachlässigte Themen und Fragestellungen aufmerksam zu machen. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte selbst hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. In den 1960er, mehr noch in den siebziger Jahren gewann die Sozialgeschichte großes Gewicht, in den Achtzigern gefolgt von stärker kulturgeschichtlich bzw. -anthropologisch ausgerichteten Betrachtungsweisen, an die sich (de-)konstruktivistische Ansätze anschlossen. Die VSWG hat nicht alle diese Veränderungen in vollem Umfang mit vollzogen. Manche Themen und Arbeitsgebiete fanden weniger Resonanz als andere. Die Ursachen sind mannigfaltig. Die VSWG ist keine Enzyklopädie, sie zielt bei der Auswahl der Beiträge nicht auf Vollständigkeit der Themen, sondern berücksichtigt die Aufsätze, die ihr aus der laufenden Forschung angeboten werden. Nur selten fordert sie ausdrücklich dazu auf, Beiträge einzureichen.24 Im Übrigen haben sich im Laufe der Zeit immer wieder Forschungsinteressen verschoben oder sind erlahmt. Das Letztere gilt beispielsweise für die Handels- und Verkehrsgeschichte und, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Bevölkerungsgeschichte. Auch die Repräsentanz der Agrargeschichte ist zurückgegangen, teilweise hat sich das Interesse auf die Geschichte der Ernährung und der Umwelt verlagert. Andere Themen fanden mehr und mehr historisches Interesse – beispielhaft seien der tertiäre Sektor, die Frauen- und Geschlechtergeschichte und die soziale Sicherung genannt. Schließlich entstanden im Verlauf der hundertjährigen VSWG-Geschichte zahlreiche neue Zeitschriften für Spezialbzw. Subdisziplinen, so dass sich die Diskussion über die entsprechenden Themen teilweise dorthin verlagerte. Beispiele sind die Agrar-, Stadt-, Unternehmens-, Bankund Technikgeschichte sowie spezifische Ansätze bzw. Prägungen und Methoden der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – zu nennen sind etwa „Geschichte und Gesellschaft – Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ (seit 1975), das „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte“ und die „Zeitschrift für Historische Sozialforschung“ (QUANTUM). Doch davon bleibt die Aufgabe der VSWG unberührt, als Zeitschrift für ein „Brückenfach“ die Verbindung zwischen der Allgemeinen bzw. Politischen Geschichte, der Ökonomie und den Sozialwissenschaften herzustellen. 24 Ein solcher Fall war die Diskussion über den wissenschaftlichen Standort des Fachs; siehe VSWG 82 (1995).

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Angesichts der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der Fachwissenschaften, angesichts der Abwendung der Wirtschaftswissenschaften und, wenn auch später und weniger durchgreifend, der Soziologie von der Historie, angesichts zudem des Mangels an Verständnis bei vielen Historikern für die mathematischen und modellhaften Verfahren der Ökonomen ist es besonders wichtig, dass es ein Forum für verbindende Ansätze, für Austausch und Vermittlung gibt. Fortschreitende Differenzierung und Spezialisierung dürfen nicht zu fortschreitender Abschottung führen. In der wechselseitigen Befruchtung, in der Vermittlung von Themen, Untersuchungsfeldern und Methoden zwischen den Disziplinen sieht die VSWG eines ihrer wichtigsten Arbeitsgebiete – neben der gewissermaßen angestammten Aufgabe, den Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur jüngsten Geschichte eine breite Basis zu bieten.

I. Forschungsfelder: Bilanz und Perspektiven

Werner Rösener LANDWIRTSCHAFT IM MITTELALTER Die agrarhistorische Forschung in Deutschland hat in der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ (VSWG) seit ihrem Erscheinen 1903 eine wichtige Publikationsstelle gefunden. Einige interessante Aufsätze zur Agrargeschichte sind in der nachfolgenden Zeit in dieser Zeitschrift erschienen, die zum führenden Organ der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschung in Deutschland aufstieg, und haben zur allgemeinen Forschungsentwicklung in der Spezialdisziplin Agrargeschichte beigetragen. Insgesamt gesehen spielten aber agrarhistorische Themen in der VSWG nur eine periphere Rolle und standen in der Regel nicht im Zentrum der Forschungsdiskussion. Woran lag dies? Welche Gründe lassen sich für diesen ernüchternden Tatbestand anführen? Die Agrargeschichte entwickelte sich bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert in dem Agrarland Deutschland zu einem anerkannten Fach1 und fand in den historischen, juristischen und ökonomischen Fachzeitschriften Publikationsmöglichkeiten. Im 19. und auch im 20. Jahrhundert waren es vorrangig die zahlreichen landesgeschichtlichen Zeitschriften, in denen agrarhistorische Themen in zahlreichen Aufsätzen zur Sprache kamen. Im südwestdeutschen Raum war es z. B. die seit 1850 erscheinende renommierte „Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins“, in der grundlegende Aufsätze und Quellensammlungen zur Agrargeschichte publiziert wurden. Ähnliches gilt für andere landesgeschichtliche Zeitschriften wie die „Rheinischen Vierteljahrsblätter“ oder die „Mecklenburgischen Jahrbücher“. Themen zur Siedlungsgeschichte, Rechts- und Verfassungsgeschichte des ländlichen Raumes und bäuerlichen Sozialgeschichte wurden gerade in den lokal- und regionalgeschichtlichen Zeitschriften quellennah und kompetent abgehandelt. Dies setzte sich auch während des 20. Jahrhunderts bis in die jüngste Zeit fort, so dass die meisten Beiträge zur Agrargeschichte vor allem in dem reichhaltigen Spektrum landes- und ortsgeschichtlicher Zeitschriften erschienen. Die deutsche agrargeschichtliche Forschung eroberte sich bereits im 19. Jahrhundert eine anerkannte Stellung im Wissenschaftsbetrieb. Von den Arbeiten zur mittelalterlichen Agrargeschichte sind vor allem die Werke von vier Personen zu erwähnen. Auf der Grundlage umfangreicher Studien zu den Schriftquellen des Mosellandes legte Karl Lamprecht in den Jahren 1885/86 sein bedeutendes Werk „Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter“ vor, das die ältere Agrargeschichte des Rheinlandes quellennah untersuchte.2 Der Österreicher Karl Theodor von InamaSternegg, ein bedeutender Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie, publizierte seit 1879 mehrere Bände seiner „Deutschen Wirtschaftsgeschich1 2

Vgl. Werner Rösener: Einführung in die Agrargeschichte. Darmstadt 1997, S. 3; Sigmund von Frauendorfer: Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen Sprachgebiet, Band 1. Bonn u. a. 1957. Karl Lamprecht: Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. 3 Bände. Leipzig 1885/86.

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te“, in denen die Agrargeschichte des Mittelalters und die Entwicklung der großen Grundherrschaften breiten Raum einnahmen.3 Rudolf Kötzschke veröffentlichte 1901 sein bedeutendes Werk über die Grundherrschaft Werden, das die Forschungen zur Grundherrschaftsgeschichte des Mittelalters nachhaltig prägte. Schließlich ist das Monumentalwerk von August Meitzen zum Agrarwesen der älteren Völker Europas zu erwähnen, das grundlegende Ergebnisse zur historischen Siedlungskunde vorlegte und die Erforschung von historischen Flurformen und Siedlungstypen stark beeinflusste.4 Als im Jahre 1903 die erste Nummer der VSWG erschien, trat mit ihrem Hauptherausgeber Georg von Below ein Wissenschaftler in den Vordergrund, der sich neben politischen und wirtschaftlichen Themen auch bereits seit längerem mit agrarhistorischen Problemen befasst hatte.5 Below hatte sich als scharfer Kritiker von Karl Lamprecht profiliert und sich entschieden gegen dessen Wirtschafts- und Kulturauffassung gewandt. Seine agrarhistorischen Untersuchungen betrafen vorwiegend Themen zur mittelalterlichen Agrargeschichte, wie Hofrecht, Hofverfassung, Grundherrschaft und Ostkolonisation. Bemerkenswert ist auch seine heftige Kritik an der Lehre von dem ursprünglichen Gemeineigentum am Ackerland als universale Erscheinung. Eine Geschichte der deutschen Landwirtschaft des Mittelalters in ihren Grundzügen, die Below in knapper Zusammenfassung schrieb, wurde erst nach seinem Tod von Friedrich Lütge, seinem Schüler, zum Druck gebracht.6 Überblickt man die agrarhistorische Forschung bis zum Ende des Kaiserreiches im Jahr 1918, so lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden: Auf der einen Seite entstanden Untersuchungen zur Agrarverfassung und damit zu rechtlichen Aspekten der ländlichen Gesellschaft vornehmlich in Mittelalter und Früher Neuzeit. Diese Forschungen bezogen sich besonders auf die komplizierten rechtlichen Verhältnisse und Beziehungen im grund- und gutsherrlichen Bereich. Die deutsche Agrargeschichte verdankt den Beiträgen dieser Forscher, die besonders in der Historischen Schule der Rechtswissenschaft und der Nationalökonomie verwurzelt waren, hervorragende Einsichten und Ergebnisse. Dies betrifft vor allem die grundlegenden Forschungen jener Epoche über die Grundherrschaft und die Entwicklung der Gutsherrschaft, die dank der Arbeiten von Georg F. Knapp, Werner Wittich, Rudolf Kötzschke und anderen die verschiedenen Typen der deutschen Agrarverfassung genauer erkennen ließen.7 Gleichzeitig tendierte diese Richtung der Agrargeschichtsforschung einseitig zur Rechtsgeschichte, so dass jahrzehntelang rechts3 4 5 6 7

Rudolf Kötzschke: Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden an der Ruhr. Leipzig 1901. August Meitzen: Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen. 3 Bände. Berlin 1895. Otto G. Oexle: Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927), in: Notker Hammerstein (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Stuttgart 1988, S. 283–312. Georg von Below: Geschichte der deutschen Landwirtschaft des Mittelalters in ihren Grundzügen. Hg. von Friedrich Lütge. 2. Aufl., Stuttgart 1966. Georg F. Knapp: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. 2 Bände. Leipzig 1887; Werner Wittich: Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland. Leipzig 1896; Kötzschke, Studien (wie Anm. 3).

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und verfassungsgeschichtliche Fragen die Diskussion beherrschten. Auf der anderen Seite konzentrierten sich zahlreiche agrarhistorische Forschungen auf ökonomische Probleme der Landwirtschaft im Kontext der historischen Entwicklung seit dem Hochmittelalter. Die mehr an volkswirtschaftlichen Fragestellungen orientierten Arbeiten einiger Historiker entstanden teilweise im Umfeld von bedeutenden Quellenpublikationen zur Agrar- und Wirtschaftsgeschichte; Agrarpreistendenzen und der Handel mit Agrarprodukten spielten dabei eine große Rolle. Einzelbetriebliche Fragen wurden hauptsächlich in Dissertationen und Aufsätzen behandelt, die im akademischen Umfeld einzelner Universitätslehrer landwirtschaftlicher Institute entstanden.8 Der Zwang zu systematischen Vorlesungszyklen brachte agrarhistorische Überblicksdarstellungen und Lehrbücher zur Geschichte der deutschen Landwirtschaft hervor, wie dies z. B. bei Theodor von der Goltz 1902/03 der Fall war.9 In der Zeit nach 1918 setzten sich die verschiedenen Strömungen der Agrargeschichtsforschung, wie sie bereits im alten Kaiserreich bestanden hatten, in modifizierter Gestalt fort.10 Die Wirtschaftswissenschaften begannen aber, sich weiter von der Geschichtswissenschaft zu entfernen, so dass die historischen Momente weniger in Erscheinung traten. In der allgemeinen Geschichtswissenschaft wurden agrarhistorische Themen ebenfalls in geringerem Maße behandelt als vor 1918, so dass während der Weimarer Republik keine grundlegenden innovativen Werke zur Agrargeschichte zu registrieren sind. Die Agrargeschichte wurde somit während jener Epoche weder in der Geschichtswissenschaft noch in den Agrarwissenschaften intensiv betrieben; auch in der VSWG finden sich zur damaligen Zeit keine herausragenden Aufsätze zur Agrargeschichte. Als Georg von Below 1927 verstarb, übernahm Hermann Aubin die Schriftleitung der VSWG. In agrargeschichtlicher Hinsicht setzte er neue Akzente, die stärker die Aspekte der Siedlungsgeschichte, der Ostkolonisation und der Bevölkerungsgeschichte betonten. Aubin, der die Schriftleitung der VSWG bis 1967 in seinen Händen hielt, prägte fast vierzig Jahre lang die führende deutsche Zeitschrift zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und beeinflusste dadurch auch lange Zeit die agrargeschichtliche Forschung in Deutschland. Aubin war von seinen wissenschaftlichen Anfängen her Mediävist, der seit den 20er Jahren seinen Forschungsschwerpunkt auf die geschichtliche Landeskunde verlegte. Diese Disziplin, die er in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen propagierte, verdankte ihm entscheidende Impulse sowie die Gründung von eigenen Instituten. Aubins Arbeiten zur historischen Landeskunde konzentrierten sich auf rheinische und schlesische Siedlungsgeschichte, auf Dorf- und Flurformen, auf den Wandel der Mundarten sowie auf allgemeine Themen der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte.11 Besonders intensiv widmete er 8 Vgl. Rösener, Einführung (wie Anm. 1), S. 8. 9 Theodor von der Goltz: Geschichte der deutschen Landwirtschaft. 2 Bände. o. O. 1902/03. 10 Vgl. Rösener, Einführung (wie Anm. 1), S. 9 ff.; Heinz Haushofer: Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen Sprachgebiet, Band 2. Bonn 1958, S. 131 ff.; Friedrich-Wilhelm Henning: Die agrargeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1986, in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1987, S. 72–80, hier 72 f. 11 Hermann Aubin/Theodor Frings/Josef Müller: Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den

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sich der deutschen Ostsiedlung, die sich für ihn als Ostbewegung und deutsche Kolonisation im östlichen Mitteleuropa darstellte.12 In den agrarhistorischen Aufsätzen der VSWG war die österreichische Agrargeschichtsforschung weiterhin durch Beiträge bekannter Autoren vertreten. Hatte Alfons Dopsch noch 1915 in der VSWG eine Untersuchung zum Zusammenhang des Capitulare de Villis mit den Brevium Exempla und dem Bauplan von St. Gallen veröffentlicht,13 so publizierte Otto Stolz dort 1936 eine interessante Miszelle zum Verhältnis von Weistum und Grundherrschaft.14 Das Jahr 1933 und die nationalsozialistische „Machtergreifung“ brachten erst allmählich einen Wechsel der Themen und der in der agrarhistorischen Forschung behandelten Fragen mit sich. Das „Dritte Reich“ lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bewusst auf die Geschichte des als vorbildlich propagierten deutschen Bauerntums und suchte diese in seine völkische Ideologie einzubauen. Günther Franz, der 1933 sein bedeutendes Werk über den deutschen Bauernkrieg vorgelegt hatte,15 wirkte aktiv an einer nationalsozialistischen Bauerntumsgeschichte mit.16 Im Rahmen der Reichsarbeitsgemeinschaft „Agrarpolitik und Betriebslehre“ wurde ein Arbeitskreis „Bauern und Agrargeschichte“ installiert, der sich unter der Federführung von Franz zum Ziel setzte, einerseits eine Bibliographie zur deutschen Agrargeschichte zu erstellen und andererseits ein Quellenwerk mit den wichtigsten Dokumenten zur Geschichte des deutschen Bauerntums herauszugeben.17 Charakteristisch für die Jahre des „Dritten Reiches“ war im Übrigen die bewusste Förderung des Interesses für bäuerliche Familien- und Hofgeschichte. Auf lokaler Ebene wurde das Konzept der „Dorfsippenbücher“ propagiert, das die Erfassung und Edition aller Kirchenbücher anstrebte. Im Zuge dieser verstärkten Beschäftigung mit Fragen der Dorf- und Hofgeschichte entstand eine beachtliche Zahl von Stammreihen zu Bauernfamilien und Bauernhöfen, ferner von Editionen zu Weistümern und Urbaren. Dorfsippenbücher, die in einigen Regionen in größerer Zahl

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Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde. Bonn 1926; Hermann Aubin: Grundlagen und Perspektiven geschichtlicher Kulturraumforschung und Kulturmorphologie. Aufsätze zur vergleichenden Landes- und Volksgeschichte aus viereinhalb Jahrzehnten. Hg. von Franz Petri. Bonn 1965; Edith Ennen: Hermann Aubin und die Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, in: RhVjBll 34 (1970), S. 9–42. Wolfgang J. Mommsen: Vom „Volkstumskampf“ zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus, in: Winfried Schulze/Otto G. Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1999, S. 183 ff. Alfons Dopsch: Das Capitulare de Villis, die Brevium Exempla und der Bauplan von St. Gallen, in: VSWG 13 (1915), S. 41–70. Otto Stolz: Weistum und Grundherrschaft, in: VSWG 29 (1936), S. 161–179. Günther Franz: Der deutsche Bauernkrieg. 1933. 12. Aufl., Darmstadt 1984. Zu Günther Franz: Harald Winkel: Nachruf auf Günther Franz, in: ZAA 40 (1992), S. 259–260; Wolfgang Behringer: Bauern-Franz und Rassen-Günther. Die politische Geschichte des Agrarhistorikers Günther Franz (1902–1992), in: Schulze/Oexle (Hg.), Deutsche Historiker (wie Anm. 12), S. 114–141. Günther Franz (Hg.): Bücherkunde zur Geschichte des deutschen Bauerntums. Berlin 1938; ders.: Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter. 2. Aufl., Darmstadt 1974.

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entstanden, dienten in der Nachkriegszeit der demographischen Forschung als willkommene Quellenbasis für ihre Studien. Neben den ideologisch geforderten Schwerpunktsetzungen zur allgemeinen Geschichte des Bauerntums und des ländlichen Raumes18 traten in der Zeit des Nationalsozialismus einige Forschungsgebiete hervor, mit denen sich die Agrargeschichte besonders intensiv befasste. Dazu gehörte neben der Beschäftigung mit Bauernaufständen und Bauernkriegen vor allem das Thema der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, das mit den aktuellen Siedlungs- und Raumplänen im östlichen Mitteleuropa in Verbindung gebracht wurde.19 Die verstärkte Ansiedlung von Bauernfamilien im ostdeutschen Raum durch die nationalsozialistische Siedlungspolitik und der Kampf gegen die Nachbarvölker im Osten lenkte die Aufmerksamkeit auf die Geschichte der mittelalterlichen Ostsiedlung.20 Rudolf Kötzschke, der sich schon lange durch seine Arbeiten zur Agrar- und Siedlungsgeschichte einen hervorragenden Ruf in der deutschen Agrargeschichtsforschung verschafft hatte, legte 1937 ein Überblickswerk zur Geschichte der ostdeutschen Kolonisation vor.21 Weitere Untersuchungen zur mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, die in der Regel als Kolonisation kulturell unterlegener slawischer Völker verstanden wurde, und zur bäuerlichen Siedlung in anderen Gebieten folgten, doch erreichten sie nur teilweise den Standard seriöser Wissenschaftlichkeit. Hermann Aubin, seit 1929 Inhaber eines Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte an der Universität Breslau, gehörte zu den Protagonisten einer neuen Ostsiedlungsforschung. Zusammen mit Albert Bruckmann engagierte sich Aubin in der „Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“, deren Aktivitäten seit 1933 darauf gerichtet waren, den „Volkstumskampf“ gegen Polen mit historiographischen Mitteln zu unterstützen.22 Ziel dieser Bemühungen sollte es nach Aubin sein, die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes in den von ihm seit dem Mittelalter besiedelten östlichen Räumen wiederherzustellen. Als Aubin 1939 eine überarbeitete Fassung einer Aufsatzreihe „Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung“ vorlegte, wies er voll Stolz auf eine beträchtliche Zahl von Büchern und Aufsätzen hin, die seit einigen Jahren zur Ostsiedlungsgeschichte erschienen waren.23 Die Agrargeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang vor allem durch drei Wissenschaftler ge18 Vgl. Gustavo Corni: Hitler and the Peasants. Oxford 1990; Gustavo Corni/Horst Gies: „Blut und Boden“. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers. Idstein 1994. 19 Mommsen, Volkstumskampf (wie Anm. 12), S. 183 ff.; Götz Aly: Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung, in: Schulze/Oexle (Hg.), Deutsche Historiker (wie Anm. 12), S. 163 ff. 20 Vgl. Gerd Althoff: Die Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik als Paradigma für zeitgebundene Geschichtsbetrachtung, in: Ders. (Hg.): Die Deutschen und ihr Mittelalter. Darmstadt 1992, S. 147 ff.; Hermann Aubin: Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung. Leipzig 1939, S. 6 ff.; ders.: Das Gesamtbild der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, in: Hermann Aubin/Otto Brunner/Wolfgang Kothe/Johannes Papritz: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg, Band 1. Leipzig 1942, S. 331–361. 21 Rudolf Kötzschke/Wolfgang Ebert: Geschichte der ostdeutschen Kolonisation. Leipzig 1937. 22 Mommsen, Volkstumskampf (wie Anm. 12), S. 188. 23 Aubin, Zur Erforschung (wie Anm. 20), S. 6 ff.; Althoff, Beurteilung (wie Anm. 20), S. 152.

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prägt: Wilhelm Abel, Friedrich Lütge und Günther Franz. Abel gelangte über seine Dissertation, die sich mit einem Thema zum Getreidehandel beschäftigte, zur Agrargeschichte.24 Seine agrarhistorische Fragestellung war daher von Anfang an stark ökonomisch motiviert, wobei Lohn- und Preisschwankungen sowie die Einkommensverhältnisse der Landwirtschaft und die Ernährungslage der Bevölkerung im Mittelpunkt seiner Interessen standen. Seine 1935 erschienene Habilitationsschrift zur Problematik von Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom Hochmittelalter bis zum 19. Jahrhundert war der Auftakt zahlreicher Arbeiten zur Geschichte der Landwirtschaft in Mittelalter und Neuzeit.25 Mit diesen Studien wurde die alte Vorstellung revidiert, dass die Entwicklung der Agrarwirtschaft bis zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts völlig gleichförmig verlaufen sei. Die tatsächliche Entwicklung war nach Abel vielmehr von einer Aufschwungsepoche der Agrarwirtschaft vom 11. bis 13. Jahrhundert bestimmt, die dann im Spätmittelalter von einer Phase der wirtschaftlichen Regression, einer Agrarkrise, abgelöst wurde. Im Rahmen dieser agrarhistorischen Studien stieß Abel auf die Wüstungsvorgänge des Spätmittelalters, die er 1943 in seiner hervorragenden Schrift „Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters“ darstellte und durch eine enge Verknüpfung von Methoden der Siedlungsgeographie und der Agrargeschichte analysierte.26 Seit Abel 1946/49 in Göttingen als Inhaber eines Lehrstuhls für Agrarpolitik wirkte, blühte dort die agrarhistorische Forschung auf. Unter seiner Anleitung entstanden zahlreiche Dissertationen und Habilitationsschriften, die sich mit agrarhistorischen Themen sowohl zum Mittelalter als auch zur Neuzeit befassten. Die wissenschaftliche Innovationskraft Abels bewirkte, dass die agrargeschichtliche Forschung in Deutschland von Göttingen aus starke Impulse erhielt und auch auf Nachbardisziplinen ausstrahlte. Die Geschichte des ländlichen Gewerbes und der Versorgung mit Nahrungsgütern wurde nun ebenfalls stärker untersucht; ferner erforschten Abel und sein Schülerkreis intensiv die Wechselbeziehungen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Nahrungsgütererzeugung und nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten im ländlichen Raum. Im Vordergrund standen bei Abel aber weiterhin Probleme der Agrarpreisentwicklung und der Höhe bäuerlicher Abgabenbelastung. Sein Buch „Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa“, das 1974 erschien, wurde zu einem Standardwerk der Ernährungsgeschichte.27 Im Unterschied zu Abel legte Lütge seinen Schwerpunkt auf die Agrarverfassungsgeschichte, die für ihn das Gerüst zahlreicher agrargeschichtlicher Untersuchungen bildete.28 Als Schüler seines Freiburger Lehrers Georg von Below war er 24 Zu Wilhelm Abel: Günther Franz: Nachruf auf Wilhelm Abel, in: ZAA 33 (1985), S. 121–124; Henning, Forschung (wie Anm. 10), S. 76 ff. 25 Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. 1935. 3. Aufl., Hamburg 1978. 26 Wilhelm Abel: Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters. 1943. 3. Aufl., Stuttgart 1976. 27 Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Hamburg 1974. 28 Zu Friedrich Lütge: Günther Franz: Nachruf auf Friedrich Lütge, in: ZAA 17 (1969), S. 1–5; Friedrich Lütge: Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters im mitteldeutschen Raum vornehmlich in der Karolingerzeit. Jena 1937; ders.: Die mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung. 2. Aufl., Stuttgart 1957; ders.: Die bayerische Grundherrschaft. Untersuchungen über die Agrarverfassung Altbayerns im 16.–18. Jahrhundert. München 1949.

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zunächst der Tradition der deutschen Rechts- und Sozialgeschichte stark verpflichtet, weitete seine Forschungsinteressen aber allmählich auf allgemeine wirtschaftsund sozialgeschichtliche Themen aus. In einem 1937 publizierten Werk befasste er sich grundlegend mit der Agrarverfassung im mitteldeutschen Raum, nachdem er bereits 1934 eine umfangreiche Studie zur Entwicklung der Grundherrschaft in Mitteldeutschland vom 16. bis 18. Jahrhundert vorgelegt hatte. Später dehnte er seine agrarhistorischen Untersuchungen auch auf die bayerische Grundherrschaft aus, so dass wichtige Vorarbeiten für eine umfassende Geschichte der deutschen Agrarverfassung bereits von ihm selbst geleistet worden waren. Die durch Lütge von seinem Münchener Lehrstuhl betreuten Dissertationen befassten sich häufig ebenfalls mit der Entwicklung der Agrarverfassung in einzelnen Landschaften. Trotz seiner Karriere im Nationalsozialismus konnte Franz nach einer längeren Unterbrechung seine akademische Laufbahn in der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen. Die Übernahme eines Lehrstuhles für Agrargeschichte an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim bei Stuttgart war der Beginn einer neuen Phase der deutschen Agrargeschichtsforschung. Durch seine umfangreiche Organisations- und Herausgebertätigkeit konnte Franz neue Akzente in der westdeutschen Agrargeschichte setzen, die weitere Initiativen auslösten.29 Die „Gesellschaft für Agrargeschichte“ und die „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie“ wurden fester organisiert und in ihren Wirkungsmöglichkeiten nach außen verstärkt. Zusammen mit Lütge und Abel gab Franz die Reihe „Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte“ heraus, die in der nachfolgenden Zeit eine beträchtliche Zahl von Arbeiten zur Agrargeschichte umfasste. Die drei Herausgeber waren mehr als zwei Jahrzehnte lang die wichtigsten Träger und Initiatoren der agrargeschichtlichen Forschung in Westdeutschland, wobei die unterschiedliche Schwerpunktbildung in Agrarökonomie, Agrarverfassung und ländlicher Sozialgeschichte klar zu erkennen war. Diese drei Wissenschaftler bestimmten auch die Konzeption der mehrbändigen „Deutschen Agrargeschichte“, die seit 1962 erschien. Abel übernahm die Darstellung der Entwicklung der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Lütge die Geschichte der Agrarverfassung und Franz die Geschichte des Bauernstandes.30 Alle drei Autoren zogen in ihren Bereichen eine repräsentative Bilanz und fassten vor allem ihre eigenen Forschungen handbuchartig zusammen. Die Einzeldarstellung der drei Gebiete Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und der sozialen Verhältnisse hatte zur Folge, dass jeder der drei Autoren seinen Bereich nach eigener Akzentuierung behandelte und es zu zahlreichen Überschneidungen kam. Der Mangel an Übereinstimmung zwischen den drei Bänden lässt erkennen, dass keine Gesamtkonzeption erarbeitet wurde und die Wechselbeziehungen zwischen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Momenten im historischen Prozess des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu wenig reflektiert wurden. Abel 29 Winkel, Nachruf (wie Anm. 16), S. 259 ff. 30 Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1962; Friedrich Lütge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1963; Günther Franz: Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1970.

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wandte seinen theoretischen Ansatz, die Landwirtschaft in ihren Krisen und Konjunkturen im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage zu sehen, konsequent auf die vormoderne Geschichte der Landwirtschaft an. Beeindruckend war vor allem seine Darstellung der spätmittelalterlichen Epoche als Krisenzeit, die er durch eine langfristige Agrardepression gekennzeichnet sah. Lütge differenzierte in seinem Band die verschiedenen deutschen Landschaften nach Grundherrschaftstypen, deren Ausgangspunkt er in der Auflösung der Villikationsverfassung während des Hochmittelalters erkannte. Die Agrarverfassung war nach seiner Überzeugung im starken Maße von den Rechtsformen der Bodennutzung und allgemein von herrschaftlichen Grundstrukturen geprägt, die erst durch die Auflösung der Grundherrschaft und die Bauernbefreiung des 19. Jahrhunderts beseitigt wurden. Die Darstellung von Franz zur Geschichte des Bauernstandes war stark kompilatorisch und stellte handbuchartig die neueren Forschungsergebnisse zu einzelnen Epochen und Themenfelder der bäuerlichen Sozialgeschichte zusammen. Eine konsistente Gesamtinterpretation wurde nicht geleistet, was besonders für die bäuerliche Geschichte des Mittelalters galt. Hans Rosenberg hat diesen Versuch einer neuen deutschen Agrargeschichte äußerst kritisch beurteilt und aus der Perspektive der neueren Sozialgeschichte die Defizite vor allem beim Band von Lütge angemerkt.31 Ländliche Verfassungsgeschichte beinhalte nach Lütge vorrangig Begriffsgeschichte und die Erfassung des Rechtsgehalts ländlicher Grundordnungen; die Geschichte der politischen Agrarverfassung werde so auf die Klärung der juristischen Aspekte der ländlichen Herrschaftsordnungen und autoritärer Institutionen reduziert, wobei die dahinter stehenden politischen Triebkräfte und Machtkämpfe nur am Rande berührt würden. Das wechselvolle Verhältnis zwischen der Rechtslage und der Praxis des Alltagslebens bleibe daher häufig ungeklärt. Trotz ihrer offenkundigen Schwächen war die von Abel, Lütge und Franz vorgelegte deutsche Agrargeschichte eine beachtliche Leistung, die die Forschungsergebnisse der deutschen Agrargeschichte bis in die Zeit um 1970 spiegelte. Neue Darstellungen zur deutschen Agrargeschichte wurden zwei Jahrzehnte später durch Friedrich-Wilhelm Henning und Walter Achilles vorgelegt, die sich zwar als Modernisierung ihrer Vorgänger verstehen, aber ihren Ansprüchen nur teilweise gerecht werden.32 Für die Publikationsmöglichkeiten der deutschen Agrargeschichtsforschung hatte sich seit 1953 dadurch eine neue Situation ergeben, dass die „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie“ (ZAA) als Spezialorgan agrarhistorischer Beiträge dazugekommen war. Wichtige neue Aufsätze zur Agrargeschichte wurden seitdem nicht mehr in erster Linie in der VSWG, sondern vorrangig in der ZAA publiziert. In der Zeit von 1953 bis 2002 erschienen in der VSWG weiterhin Aufsätze zur Agrargeschichte, doch trat diese noch stärker in den Hintergrund, als es schon vorher der Fall gewesen war. Das breite Wissenschaftsspektrum der VSWG 31 Hans Rosenberg: Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: Ders.: Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Göttingen 1978, S. 118–149. 32 Friedrich-Wilhelm Henning: Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters, 9.–15. Jahrhundert. Stuttgart 1994; Walter Achilles: Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung. Stuttgart 1993.

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und die Zunahme der Forschungsfelder im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ließen der Agrargeschichte nur eine Randstellung übrig. Die meisten neueren Beiträge zur Agrargeschichte des Mittelalters erschienen daher entweder in der ZAA oder wie bisher vorwiegend in den zahlreichen landesgeschichtlichen Zeitschriften. Ein Blick auf die Agrargeschichtsforschung in der ehemaligen DDR zeigt, dass die Agrargeschichte dort vor allem an der Rostocker Universität, an einigen anderen Hochschulen und am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin betrieben wurde.33 Am Lehrstuhl von Gerhard Heitz in Rostock entstanden zahlreiche Dissertationen, Habilitationen und Studien, die sich mit vielfältigen Themen der deutschen Agrargeschichte befassten, wobei der Schwerpunkt der Untersuchungen in der Frühneuzeit lag. Dies zeigt der Sammelband „Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus“, der 1986 erschien und repräsentative Aufsätze zur Agrargeschichte enthielt.34 Die Agrargeschichte besaß nach Auffassung der führenden Vertreter der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR eine Schlüsselstellung bei allen Forschungen zur Struktur und Entwicklung der Feudalgesellschaft, da die Produktionsverhältnisse über Jahrhunderte hinweg von feudalen Formen der Verfügungsgewalt über das Hauptproduktionsmittel Boden bestimmt wurden und auch die gewerbliche Wirtschaft ihre Prägung vor allem von der Agrarverfassung erhielt. Die Beschäftigung mit agrarhistorischen Themen entsprach daher der marxistischen Forderung, Geschichte als Geschichte der Volksmassen, ihrer produktiven Leistungen sowie ihres Kampfes gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu verstehen. Aus diesen Prämissen erklärt sich der beträchtliche Anteil der Agrargeschichte an der Geschichtswissenschaft der DDR, was sich in einer beachtlichen Zahl von Publikationen niederschlug. Allerdings wurde keine marxistische Gesamtdarstellung der deutschen Agrargeschichte vorgelegt, die sich mit den Bänden der von Franz herausgegebenen Agrargeschichte hätte vergleichen lassen. Mustert man die agrarhistorischen Publikationen der DDR, so bemerkt man ein deutliches Übergewicht von Arbeiten zum Spätfeudalismus und ein Defizit in der Behandlung des Mittelalters. Der Zeitraum zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution bzw. den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts hatte dadurch seinen besonderen Stellenwert im historischen Gesamtverlauf, dass der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nur durch detaillierte Forschungen zu jener Epoche verstanden werden konnte. Arbeiten von Hartmut Harnisch, Hans-Heinrich Müller 33 Zur Agrargeschichte in der DDR: Rösener, Einführung (wie Anm. 1), S. 14 ff.; Gerhard Heitz: Die Erforschung der Agrargeschichte des Feudalismus in der DDR (1945–1960), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Sonderheft 8 (1960), S. 116–141; ders.: Forschungen zur Agrargeschichte, in: Historische Forschungen in der DDR 1960–1970. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Sonderband 1970, S. 121–146; ders.: Forschungen zur Agrargeschichte, in: Historische Forschungen in der DDR 1970–1980. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Sonderband 1980, S. 619–659; Ilona Buchsteiner/Gerhard Heitz/Ernst Münch: Agrarhistorische Forschungen in der DDR 1980–1990, in: Agrargeschichte 22 (1990), S. 6–76. 34 Hartmut Harnisch/Gerhard Heitz (Hg.): Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus. Berlin 1986.

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und Jan Peters trugen wesentlich zum besseren Verständnis der Agrarverhältnisse jener frühneuzeitlichen Übergangsepoche bei.35 Die Jahrhunderte des Mittelalters wurden dagegen in agrargeschichtlicher Hinsicht weniger untersucht, wenn man von den Forschungsberichten der Ostsiedlung und der Slawenforschung absieht. Für die Zeit des Hoch- und Spätmittelalters sind vor allem die agrarhistorischen Untersuchungen von Siegfried Epperlein, Ernst Münch und Liselotte Enders zu erwähnen. Epperlein analysierte in seiner Dissertation die bäuerlichen Widerstandsformen im Hochmittelalter, Münch befasste sich in seiner ungedruckten Habilitationsschrift mit der Agrarverfassung Mecklenburgs vom 12. bis 14. Jahrhundert, und Enders publizierte eine Reihe interessanter Studien zu den spätmittelalterlichen Agrarverhältnissen im brandenburgischen Raum.36 Die Ostsiedlung, die man in der DDR-Geschichtswissenschaft als „feudale Ostexpansion“ interpretierte, wurde hinsichtlich ihrer treibenden Faktoren und des sozialökonomischen Entwicklungsstandes der ostelbischen Siedlungsgebiete untersucht, während die Slawenforschung am Sorbischen Institut der Leipziger Universität und in anderen Instituten betrieben wurde. Der Leipziger Arbeitskreis „Deutsch-Slawische Forschungen“ verbreiterte die Quellenbasis für Fragen, die sich im Kontext der mittelalterlichen Ostsiedlung und der deutsch-slawischen Beziehungen stellten. In Leipzig knüpfte man demnach an Arbeiten Kötzschkes an, der mit seinem Werk „Ländliche Siedlung und Agrarwesen in Sachsen“ (1952) eine hervorragende Studie zum Siedlungswesen in Sachsen vorgelegt hatte.37 Welche bedeutsamen Forschungsergebnisse lassen sich zur deutschen Agrargeschichte des Mittelalters während der letzten drei Jahrzehnte überblicksartig herausstellen? Auf welchen Forschungsfeldern wurden neue Resultate vorgelegt? Im Folgenden sollen einige Forschungsergebnisse zur Agrargeschichte des Mittelalters schwerpunktartig in einigen wichtigen Forschungsgebieten aufgezeigt werden, wobei keine Vollständigkeit angestrebt wird.38 In der Grundherrschaftsforschung wur35 Hartmut Harnisch: Die Herrschaft Boitzenburg. Untersuchungen zur Entwicklung der sozialökonomischen Struktur ländlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Weimar 1968; ders.: Bauern – Feudaladel – Städtebürgertum. Weimar 1980; HansHeinrich Müller: Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. Potsdam 1967; Jan Peters: Ostelbische Landarmut. Sozialökonomisches über landlose und landarme Agrarproduzenten im Spätfeudalismus, in: JbWG 1967/III, S. 255–302; 1970/I, S. 97–126. 36 Siegfried Epperlein: Bauernbedrückung und Bauernwiderstand im hohen Mittelalter. Berlin 1960; ders.: Der Bauer im Bild des Mittelalters. Leipzig 1975; Ernst Münch: Die Grundherrschaft des vollentfalteten Feudalismus im Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27 (1979), S. 145–148; ders.: Bauernschaft und bäuerliche Schichten im vollentfalteten Feudalismus, in: JbWG 1980/III, S. 75–85; Liselotte Enders: Die spätmittelalterliche Grundherrschaft in der Uckermark, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 15/ I (1988), S. 56–74; dies.: Entwicklungsetappen der Gutsherrschaft vom Ende des 15. bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts, untersucht am Beispiel der Uckermark, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 12 (1998), S. 119–166. 37 Rudolf Kötzschke: Ländliche Siedlung und Agrarwesen in Sachsen. Remagen 1953. 38 Dazu Werner Rösener: Agrargeschichte an den deutschen Universitäten, in: ZAA 47 (1999), S. 111–122; Henning, Forschung (wie Anm. 10), S. 72 ff.; Peter Blickle: Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Werner Troßbach/Clemens Zimmermann (Hg.): Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven. Stuttgart 1998, S. 7–32.

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den in Fortführung älterer Ansätze neue Akzente gesetzt, die sich teilweise durch Anstöße aus der außerdeutschen Agrargeschichtsforschung ergaben. Zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte befassten sich mit den Grundbesitzungen unterschiedlicher Herrschaftsträger (König, Kirche, Adel), mit der Entwicklung der Grundherrschaftsstrukturen in einzelnen Landschaften oder mit Spezialfragen der Agrarverfassung. Wichtige neue Anstöße und Ergebnisse wurden auf vier Tagungen erzielt, die 1980 in Xanten, 1983 in Gent, 1987 in Göttingen und wiederum 1992 in Göttingen stattfanden. Anregungen aus der neueren französischen und belgischen Agrargeschichtsforschung haben dabei die deutschen Untersuchungen zur Grundherrschaftsentwicklung entscheidend beeinflusst. Die Diskussion über die Ursprünge der klassischen Grundherrschaft des Frühmittelalters war 1965 durch eine vielbeachtete Hypothese von Adriaan Verhulst entfacht worden:39 Das zweigeteilte Grundherrschaftssystem sei ein sowohl räumlich als auch zeitlich beschränktes Phänomen gewesen. In räumlicher Hinsicht habe es besonders in einigen zentralen Regionen des Frankenreiches existiert, in denen hervorragende Getreideböden und günstige Siedlungsverhältnisse vorhanden waren. In zeitlicher Hinsicht sei die klassische Grundherrschaft mit Villikationsverfassung eine Schöpfung des Frühmittelalters, die hauptsächlich während des 7. und 8. Jahrhunderts entstanden sei. Auf der Xantener deutsch-französischen Tagung wurde 1980 diese These zusammen mit anderen Fragen zur Grundherrschaftsentwicklung im Früh- und Hochmittelalter erneut lebhaft diskutiert. Im Mittelpunkt dieser Tagung stand die agrarhistorische Entwicklung im Kernraum des Frankenreiches, im Gebiet zwischen Loire und Rhein, von der Spätantike bis in das Hochmittelalter.40 Diese Diskussion wurde dann 1983 in Gent mit neuen Fragestellungen fortgeführt; im Mittelpunkt des Colloquiums standen Probleme zur Genese des zweigeteilten Grundherrschaftssystems und Untersuchungen zu einigen Grundherrschaften im Frankenreich, ferner die Frage nach den Strukturen der sächsischen Agrarverfassung.41 Hauptziel der Göttinger Tagung von 1987 war es, die Entwicklung der Grundherrschaft in den ostfränkischen Teilen des Frankenreiches intensiver zu erforschen und Vergleiche zwischen der Grundherrschaftsentwicklung in Westfranken und Ostfranken vom 8. bis 10. Jahrhundert vorzunehmen.42 In Bezug auf die neuere Forschungsentwicklung stellte sich vor allem die Frage, inwieweit die klassische Grundherrschaft mit Fronhofsverfassung überhaupt in den rechtsrheinisch-deutschen Gebieten vertreten war und ob diese Anwesenheit die Folge eines zielbewussten Auftretens von König und Kirche war. Die zweite Göttinger Tagung, die 1992 stattfand, schloss sich inhaltlich an die vorangegangenen Tagungen an, verlagerte aber das Schwergewicht der Fragestellung auf die Epoche des Hochmittelalters. Es stell39 Adriaan Verhulst: La gènese du régime domanial classique en France au haut moyen âge, in: Agricultura e mondo rurale in Occidente nell’alto medioevo. Spoleto 1966, S. 135–160. 40 Walter Janssen/Dietrich Lohrmann (Hg.): Villa – curtis – grangia. Landwirtschaft zwischen Loire und Rhein von der Römerzeit zum Hochmittelalter. München 1983. 41 Adriaan Verhulst (Hg.): Le grand domaine aux époques mérovingienne et carolingienne. Die Grundherrschaft im frühen Mittelalter. Gent 1985. 42 Werner Rösener (Hg.): Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter. Göttingen 1989.

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te sich die Aufgabe, Struktur und Entwicklung der Grundherrschaft im mitteleuropäischen Raum im Spannungsfeld der wirtschaftlichen und politischen Wandlungen des Hochmittelalters zu analysieren, wobei vor allem die Frage der Auflösung der Villikationsverfassung in den verschiedenen Regionen zur Diskussion stand.43 Die Entwicklung des klassischen Grundherrschaftssystems lässt sich auf der Grundlage der genannten Tagungen und weiterer Forschungsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte klarer verfolgen, wenngleich viele Fragen weiterhin offen sind. Die Agrarverhältnisse im merowingischen Gallien wurden zunächst offenbar von drei Formen bestimmt: Dies waren gutswirtschaftliche Sklavenbetriebe, Abgabenherrschaft über Kolonien und schließlich freibäuerliche Betriebe, die zur Steuerleistung herangezogen wurden. Die Ausbreitung des seit dem 7. Jahrhundert aufkommenden zweigeteilten Grundherrschaftssystems verlief in unterschiedlichen Bahnen und wurde von Königtum, Kirche und Adel vorangetrieben. Untersuchungen zu bedeutenden Grundherrschaften des Karolingerreiches brachten neues Licht in die Strukturen und Wandlungsprozesse der älteren Grundherrschaft. Ludolf Kuchenbuch legte eine hervorragende Studie zur Klostergrundherrschaft Prüm auf der Grundlage des Prümer Urbars von 893 vor,44 während Ulrich Weidinger und Christoph Dette Dissertationen zu den Klostergrundherrschaften Fulda und Weißenburg anfertigten.45 Aus diesen detaillierten Grundherrschaftsanalysen und anderen Arbeiten ergab sich, dass die Grundherrschaftsformen in der Karolingerzeit vielfältiger waren als man in früherer Zeit angenommen hatte.46 Neben dem Villikationssystem gab es selbst im kernfränkischen Raum den Typus der Zins- und Rentengrundherrschaft mit überwiegendem Natural- und Geldzins. Zwischen den beiden Polen der Betriebsgrundherrschaft und der Rentengrundherrschaft gab es vielfältige Mischund Übergangsformen. Diese revidierten Vorstellungen von der Verbreitung des Villikationssystems haben die Konsequenz, dass man die Forschungen in Zukunft stärker auf bestimmte Landschaften und einzelne Grundherrschaften eingrenzen muss, um landschaftsbezogene Besonderheiten und lokale Unterschiede in der Grundherrschaftsstruktur genauer wahrnehmen zu können. Zur Erfassung der verschiedenen Formen ist es zudem notwendig, auf die räumliche Verteilung der Güter und Höfe sowie ihre unterschiedliche Position in der Grundherrschaftsverwaltung zu achten. 43 Werner Rösener (Hg.): Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter. Göttingen 1995. 44 Ludolf Kuchenbuch: Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm. Wiesbaden 1978; ders.: Die Klostergrundherrschaft im Frühmittelalter. Eine Zwischenbilanz, in: Friedrich Prinz (Hg.): Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung episkopaler und monastischer Organisationsformen. Stuttgart 1988, S. 297–343; ders.: Potestas und Utilitas. Ein Versuch über Stand und Perspektiven der Forschung zur Grundherrschaft im 9.–13. Jahrhundert, in: HZ 265 (1997), S. 117–146. 45 Christoph Dette (Hg.): Liber Possessionum Wizenburgensis. Mainz 1987; Ulrich Weidinger: Untersuchungen zur Wirtschaftsstruktur des Klosters Fulda in der Karolingerzeit. Stuttgart 1991. 46 Vgl. Dieter Hägermann: Anmerkungen zum Stand und zu den Aufgaben frühmittelalterlicher Urbarforschung, in: RhVjBll 50 (1986), S. 32–58; ders.: Quellenkritische Bemerkungen zu den karolingerzeitlichen Urbaren und Güterverzeichnissen, in: Rösener (Hg.), Strukturen (wie Anm. 42), S. 47–73.

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Die neueren Forschungen zur Entwicklung der Grundherrschaft im Hochmittelalter befassten sich vor allem mit dem Problem der Auflösung der Fronhofsverfassung. In seiner grundlegenden Untersuchung zum Grundherrschaftswandel im hochmittelalterlichen Bayern, die 1982 in deutscher Übersetzung erschien, charakterisierte Philippe Dollinger diesen Wandel als „wirtschaftliche Revolution“.47 Das Hauptkennzeichen dieser Revolution bestehe in der Tatsache, dass der Grundherr das alte System der Eigenwirtschaft aufgebe und das Salland mehr oder weniger vollständig verschwinde. In seiner 1991 erschienenen Habilitationsschrift untersuchte Werner Rösener diesen Grundherrschaftswandel im südwestdeutschen Raum, indem er die Entwicklung einiger bedeutender geistlicher Grundherrschaften vom 9. bis 14. Jahrhundert analysierte.48 Der Zerfall der Villikationsverfassung fand hier vor allem im 12. und 13. Jahrhundert statt, wobei unterschiedliche Formen und Zeitabläufe auftraten. Zum Grundherrschaftswandel in anderen Landschaften liegen im Allgemeinen nur vereinzelt neuere Arbeiten vor, so dass die Forschung hier noch viele Aufgaben zu bewältigen hat, bevor ein klares Bild der hochmittelalterlichen Agrarentwicklung vermittelt werden kann. Einen anregenden Aufsatz zur Rationalität der Arbeitsverfassung in der Fronhofswirtschaft beim Übergang zum Hochmittelalter publizierte Volker Stamm 2001 in der VSWG – ein Hinweis auf die Beteiligung dieser Zeitschrift an der Forschungsdiskussion zur Agrarentwicklung des Hochmittelalters.49 Warum löste sich das Villikationssystem im Hochmittelalter auf? Hinsichtlich der Ursachen wurden die Akzente in der neueren Forschung unterschiedlich gesetzt. Ein wichtiger Grund, der auf eine allmähliche Auflösung hinwirkte, war offenbar der Umstand, dass das Villikationssystem relativ kompliziert war und einen umfangreichen Verwaltungsapparat erforderte, um die Wirtschaftsführung der Fronhöfe zu überwachen. Die Abkehr vom System der Fronhofswirtschaft und der Übergang zu einem Grundherrschaftssystem mit überwiegenden Natural- und Geldrenten, wie es im späteren Mittelalter vorherrschend war, konnten die hohen Verwaltungskosten der Grundherren beträchtlich vermindern. Auf diesen Aspekt wies Douglass C. North, der den Nobelpreis für Volkswirtschaftslehre erhielt, bereits 1971 in seinem Aufsatz über den Niedergang des Villikationssystems hin.50 Der konkrete Prozess der Auflösung der Villikationen vollzog sich in den einzelnen Grundherrschaften nach unterschiedlichen Mustern und brachte die neuen Typen der jüngeren Grundherrschaft hervor, die in zahlreichen Arbeiten mit ihren Unterschieden und 47 Philippe Dollinger: Der bayerische Bauernstand vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Hg. von Franz Irsigler. München 1982. 48 Werner Rösener: Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert. Göttingen 1991. Vgl. auch Franz Irsigler: Die Auflösung der Villikationsverfassung und der Übergang zum Zeitpachtsystem im Nahbereich niederrheinischer Städte während des 13./14. Jahrhunderts, in: Hans Patze (Hg.): Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, Band 1. Sigmaringen 1983, S. 295– 311. 49 Volker Stamm: Probleme der Rationalität der Agrar- und Arbeitsverfassung im Übergang zum Hochmittelalter, in: VSWG 88 (2001), S. 421–436. 50 Douglass C. North/Robert P. Thomas: The Rise and Fall of the Manorial System: A Theoretical Model, in: JEH 31 (1971), S. 777–803.

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Besonderheiten erforscht wurden. Diese Grundherrschaftsstudien wurden durch die beachtlichen Erfolge erleichtert, die die neuere Urbar- und Weistumsforschung erzielte.51 Der grundlegende Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft des Hochmittelalters führte im ländlichen Raum zur Herausbildung des Dorfes, wie die neuere agrarhistorische Forschung überzeugend aufzeigen konnte. Dorf und Dorfgemeinde gehen keinesfalls auf die Landnahmezeit des Frühmittelalters zurück, wie die ältere Forschung annahm. Die jüngere Siedlungsforschung hat durch detaillierte Untersuchungen nachgewiesen, dass das vollentwickelte Dorf mit Gewannflur und Flurzwang größtenteils erst im Hochmittelalter entstanden ist.52 Archäologische und siedlungsgeographische Studien zu den Siedlungsformen des Frühmittelalters haben zusammen mit wirtschaftshistorischen Beobachtungen zu dieser Erkenntnis geführt.53 Das fundamentale Werk des Rechtshistorikers Karl Siegfried Bader zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes hat wesentlich die neuen Einsichten über die Genese des mittelalterlichen Dorfes unterstützt. Bader hat in seinen drei Bänden, die von 1962 bis 1973 erschienen, das mittelalterliche Dorf unter verschiedenen Aspekten grundlegend behandelt: das Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, die Organisationsstruktur des Dorfes mit ihren Ämtern und die zu einem Dorf gehörenden Wirtschaftsflächen mit Wohnstätten, Gärten, Ackerflur und Allmende.54 Baders quellennahe Arbeiten, die sich vor allem auf Quellen aus dem südwestdeutschen Raum stützten, wurden durch komplementäre Studien zur Entstehung der Dorfgemeinde in vielen anderen Landschaften des deutschsprachigen Raumes ergänzt.55 51 Zur Urbarforschung vgl. Enno Bünz: Probleme der hochmittelalterlichen Urbarüberlieferung, in: Rösener (Hg.), Grundherrschaft (wie Anm. 43), S. 31–75; Gregor Richter: Lagerbücher – oder Urbarlehre. Stuttgart 1979. Zur Weistümerforschung vgl. Peter Blickle (Hg.): Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung. Stuttgart 1977; KarlHeinz Spieß/Christel Krämer (Hg.): Ländliche Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem. Stuttgart 1986; Werner Rösener: Frühe Hofrechte und Weistümer im Hochmittelalter, in: Agrargeschichte 23 (1990), S. 12–29. 52 Zur neueren Dorfforschung: Clemens Zimmermann: Dorf und Land in der Sozialgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland, Band 2. Göttingen 1986, S. 90–112; Karl Kroeschell: Dorf, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1 (1971), Sp. 764–774; Werner Rösener: Bauern im Mittelalter. München 1985, S. 54 ff. 53 Martin Born: Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft. Darmstadt 1974, S. 45 ff.; Hans Jänichen: Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des schwäbischen Dorfes. Stuttgart 1970; Walter Janssen: Dorf und Dorfformen des 7. bis 12. Jahrhunderts im Lichte neuer Ausgrabungen in Mittel- und Nordeuropa, in: Herbert Jankuhn/Rudolf Schützeichel/Fred Schwind (Hg.): Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters. Göttingen 1977, S. 285–356. 54 Karl Siegfried Bader: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Band 1: Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich. Weimar 1957, Band 2: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Köln u. a. 1962, Band 3: Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf. Wien u. a. 1973. 55 Theodor Mayer (Hg.): Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen. 2 Bände. Konstanz 1964; Marlene Nikolay-Panter: Entstehung und Entwicklung der Landgemeinde im Trierer Raum. Bonn 1976; Michael Mitterauer: Pfarre und ländliche Gemeinde in den österreichischen Ländern, in: BDLG 109 (1973), S. 1–30; Sigrid Schmitt: Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey vom 14. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1992.

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Die Entstehung des hochmittelalterlichen Dorfes hängt zusammen mit vielfältigen Wandlungsprozessen in Siedlungsstruktur, Wirtschaft, Herrschaft und Sozialordnung des Hochmittelalters. Bis zum 11. Jahrhundert waren im altdeutschen Siedlungsraum lediglich Elemente bäuerlichen Zusammenhalts, aber „keine bäuerlichen Gemeinden im rechtlichen Sinne“ vorhanden, wie Heide Wunder in einer zusammenfassenden Darstellung zur Geschichte der bäuerlichen Gemeinde in Deutschland resümierte.56 Erst Wandlungen im bäuerlichen Wirkungsbereich hätten seit dem 11. Jahrhundert die Herausbildung selbständiger bäuerlicher Gemeinden ermöglicht. Eine interessante Regionalstudie zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum legte Roger Sablonier 1984 vor.57 In dieser Studie wurde aufgezeigt, dass der Dorfbildungsprozess gerade im 12. und 13. Jahrhundert ein entscheidendes Stadium durchlief: Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts hat sich demnach in der Ostschweiz das Dorf „generell durchgesetzt, einzelne Elemente sogar schon in institutionalisierter Form“.58 Weitere aufschlussreiche Studien zur Dorfentwicklung und zur ländlichen Gesellschaft in der östlichen Schweiz sind in einem Sammelband enthalten, der 1999 aus dem mittelalterlichen Seminar der Universität Zürich hervorging.59 Die Dorfbildung wird demnach im Kontext eines umfassenden sozialen Prozesses gesellschaftlicher Veränderung des Mittelalters gesehen. Neben den organisations- und institutionengeschichtlichen Aspekten wird die Dorfbildung an Ort und Stelle auf ihre konkrete Ausprägung untersucht. Noch wenig erforscht sind die Erscheinungsformen des alltäglichen Zusammenlebens, z. B. der tatsächlichen Kooperation im ökonomischen Bereich, und die soziale Logik der innerdörflichen Differenzierung. Der Prozess der Dorfbildung vollzog sich im frühen Hochmittelalter unter siedlungsgenetischen Gesichtspunkten durch den Ausbau der Fluren und die Bildung von Großfeldern, sogenannten Zelgen oder Schlägen, so dass eine Dreizelgenbrachwirtschaft entstehen konnte.60 Dieser Prozess der „Verzelgung“ war in vielen Landschaften ein wichtiges Durchgangsstadium bei der Dorfgenese, da durch diese Innovation die dörfliche Feldgemeinschaft mit Flurzwang und Gewanneinteilung aufkam. Die individuelle Fruchtfolge wurde danach untersagt, und man erließ für die Nutzung des Ackerlandes feste Regeln, die für alle Bauern im Dorf verbindlich waren. Die Ausbreitung der Dreizelgenwirtschaft und die Gewannflurbildung erfolgten seit dem Hochmittelalter in den einzelnen Regionen freilich in unterschiedlichen Zeitabläufen, wie neuere Untersuchungen zu einzelnen Orten und Landschaften ergaben.61 Am frühesten wurden von diesen Prozessen offenbar Landschaften 56 Heide Wunder: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland. Göttingen 1986, S. 33. 57 Roger Sablonier: Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: Lutz Fenske/Werner Rösener/Thomas Zotz (Hg.): Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag. Sigmaringen 1984, S. 727–745. 58 Ebd., S. 737. 59 Thomas Meier/Roger Sablonier (Hg.): Wirtschaft und Herrschaft. Beiträge zur ländlichen Gesellschaft in der östlichen Schweiz (1200–1800). Zürich 1999. 60 Vgl. Werner Rösener: Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter. München 1992, S. 80; Born, Entwicklung (wie Anm. 53), S. 45. 61 Werner Rösener: Strukturen und Wandlungen des Dorfes in Altsiedellandschaften, in: Sied-

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betroffen, die an der Intensivierung der Agrarwirtschaft, an der Bevölkerungszunahme und an der Verstädterung starken Anteil hatten. Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Struktur des hochmittelalterlichen Dorfes sind in den vergangenen Jahrzehnten von der Archäologie erbracht worden. Ausgrabungen von Dörfern und ländlichen Siedlungsplätzen förderten reichhaltiges Material zutage, das deutliche Unterschiede zwischen den früh- und hochmittelalterlichen Entwicklungsstufen einzelner Orte erkennen ließ.62 Aus den Ausgrabungen hochmittelalterlicher Dörfer ließ sich in vielen Fällen erkennen, dass die Siedlungsform des mittelalterlichen Dorfes keine über lange Zeit feststehende Größe war; sie wandelte sich vielmehr in stärkerem Maße als die ältere Literatur angenommen hatte. Eine enge Verbindung von Archäologie und Agrargeschichte wurde in einer neuen Gesamtdarstellung zur deutschen Agrargeschichte konzipiert, die von der Historikerin Edith Ennen und dem Archäologen Walter Janssen in Gemeinschaftsarbeit vorgelegt wurde.63 In diesem Werk, in dem die interdisziplinäre Verknüpfung beider Forschungsbereiche nur unzureichend gelungen ist, sind vor allem die Beiträge des Archäologen bemerkenswert, die die zahlreichen neuen Ergebnisse der archäologischen Forschung für die mittelalterliche Agrargeschichte auswerten. Die schriftlichen Zeugnisse zur Agrargeschichte des Früh- und Hochmittelalters sind oft so lückenhaft, dass eine Ergänzung durch archäologische Sachquellen dringend erforderlich ist. Die Archäologie des Mittelalters kann anhand der Bodenfunde die materielle Hinterlassenschaft mittelalterlicher Agrarbetriebe gut überblicken und wichtige Aussagen zur Siedlungsstruktur und zum Alltagsleben der ländlichen Bevölkerung formulieren.64 Die geographische Siedlungskunde und speziell die Agrargeographie haben der Agrargeschichte ebenfalls wertvolle Unterstützung bei der Erforschung mittelalterlicher Siedlungsräume, der Klassifizierung ländlicher Siedlungen und Flurformen sowie bei Fragen zur Entwicklung der Agrarlandschaft zukommen lassen.65 Die Historische Agrargeographie untersucht nach Auffassung des Geographen Hans Becker „agrargeographische Sachverhalte in vergangenen Zeitabschnitten unter Verwendung aktual-geographischer Fragestellungen“.66 Zum Aufgabenkatalog der Agrargeographie gehört es demnach, Struktur und Funktion sowie Entwicklung und Dynamik der Agrarlandschaft darzustellen.

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lungsforschung 17 (1999), S. 9–27; Helmut Hildebrandt: Historische Feldsysteme in Mitteleuropa, in: Das Dorf am Mittelrhein. Stuttgart 1989, S. 103–148. Janssen, Dorf und Dorfformen (wie Anm. 53), S. 285 ff.; ders.: Königshagen. Ein archäologisch-historischer Beitrag zur Siedlungsgeschichte des südwestlichen Harzvorlandes. Hildesheim 1965. Edith Ennen/Walter Janssen: Deutsche Agrargeschichte. Vom Neolithikum bis zur Schwelle des Industriezeitalters. Wiesbaden 1979. Vgl. Rösener, Einführung (wie Anm. 1), S. 17 ff.; Günther P. Fehring: Einführung in die Archäologie des Mittelalters. Darmstadt 1987. Helmut Jäger: Entwicklungsprobleme europäischer Kulturlandschaften. Darmstadt 1987; Martin Born: Geographie der ländlichen Siedlungen, Band 1. Stuttgart 1977. Hans Becker: Allgemeine Historische Agrargeographie. Stuttgart 1998, S. 21; Alan Mayhew: Rural settlement and farming in Germany. London 1973.

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Die Erforschung bäuerlicher Widerstandsformen und Aufstände des Mittelalters ist ein Thema, das in den Bereich der Sozialgeschichte gehört. Neuere Forschungen von Ludolf Kuchenbuch, Werner Rösener, Hans-Werner Goetz und anderen zu bäuerlichen Gruppen und Schichten haben neue Erkenntnisse zur bäuerlichen Gesellschaft des Mittelalters erbracht.67 Fragen nach den Ursachen sozialer Ungleichheit und den Eigenarten sozialer Schichtung bestimmten viele sozialhistorische Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte, in denen die Sozialgeschichte in der gesamten Geschichtswissenschaft dominierte. Wichtige Beiträge zur Erforschung des bäuerlichen Widerstandes und bäuerlicher Revolten im Mittelalter lieferten schon seit den 60er Jahren die Historiker der DDR68, während sich die westdeutsche Forschung in ihren Studien zum bäuerlichen Widerstand besonders mit den Bauernrevolten des Spätmittelalters befasste, die vor allem im Umfeld der Krise des Spätmittelalters und als Vorläufer des großen Bauernkrieges von 1525 gesehen wurden.69 Diese einseitige Konzentration auf die spätmittelalterlichen Bauernerhebungen verstellte den Blick für die Tatsache, dass es Bauernrevolten und bäuerliche Widerstandsaktionen auch im Früh- und Hochmittelalter gegeben hat. In seinem Forschungsbericht zu den bäuerlichen Revolten im alten Reich behauptete Peter Bierbrauer noch 1980, dass sich seit dem Spätmittelalter mit dem Auftreten bäuerlicher Aufstände eine neue, in ihrer Bedrohlichkeit für die gesellschaftliche Sozialordnung vorher unbekannte Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung zeige.70 Resümees zu den agrarischen Konflikten des frühen und hohen Mittelalters wurden von Rodney Hilton und Werner Rösener verfasst.71 Mit dem spektakulären Aufstand der Stedinger Bauern im frühen 13. Jahrhundert befasste sich Rolf Köhn, der auch die Zusammenhänge von Kreuzzug, Verketzerung und Mentalität aufständischer Bauern ansprach.72 Heinrich Schmidt untersuchte systematisch die Bauernrevolten im südlichen Nordseeküstengebiet während des Hochmittelalters und fragte nach den Ursachen und Besonderheiten dieser bäuerlichen Aufstände in einem 67 Kuchenbuch, Bäuerliche Gesellschaft (wie Anm. 44); Rösener, Bauern (wie Anm. 52); HansWerner Goetz: Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter, in: VSWG 80 (1993), S. 153–174. 68 Siegfried Epperlein: Bäuerlicher Widerstand im frühen und hohen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), S. 314–328; Wolfgang Eggert: Rebelliones servorum. Bewaffnete Klassenkämpfe im Früh- und frühen Hochmittelalter und ihre Darstellung in zeitgenössischen erzählenden Quellen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (1975), S. 1147–1164; Münch, Bauernschaft und bäuerliche Schichten (wie Anm. 36), S. 75 ff. 69 Franz, Bauernstand (wie Anm. 30), S. 133–138; Peter Blickle: Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlich deutschen Reich, in: ZAA 27 (1979), S. 208–231; Werner Rösener: Peasant Revolts in Late Medieval Germany and the Peasants’ War of 1525, in: Kjell Haarstad/Aud Mikkelsen Tretvik (Hg.): Bonder, jord og rettigheter. Trondheim 1996, S. 17–42. 70 Peter Bierbrauer: Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Peter Blickle (Hg.): Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. München 1980, S. 1–68, hier 1 f. 71 Rösener, Bauern (wie Anm. 52), S. 246–251; Rodney Hilton: Bond Men Made Free. Medieval Peasant Movements and the English Rising of 1381. London 1973, S. 63–95. 72 Rolf Köhn: Die Teilnehmer an den Kreuzzügen gegen die Stedinger, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 53 (1981), S. 139–206.

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Raum, der wenig von grundherrschaftlichen Strukturen geprägt war.73 Die friesischen Bauern schufen sich einen festen Rückhalt in den Landesgemeinden und verteidigten ihre Freiheitsrechte gegen auswärtige Ritterheere. Was im Innern des Reiches als Auflehnung gegen die Herrschaftsordnung verurteilt wurde, war an der Nordseeküste Ausdruck eines bäuerlichen Freiheitsbewusstseins. Diese Bewegung verband die Ausbildung von landesgemeindlicher Autonomie mit breiter bäuerlicher Partizipation an öffentlichen Angelegenheiten. Spätmittelalterliche Bauernaufstände wurden in neueren Untersuchungen oft mit den Krisenerscheinungen des Spätmittelalters in Zusammenhang gebracht. So stellte Peter Blickle bereits 1975 die Frage, inwieweit die Intensivierung der Leibeigenschaft im südwestdeutschen Raum im Kontext der Agrarkrise des Spätmittelalters verstanden werden müsse.74 Die lebhafte Diskussion um die Agrarkrisentheorie von Wilhelm Abel, die dieser bereits 1935 und dann 1943 in seinem Werk über die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters vorgelegt hatte,75 dauerte auch in den letzten Jahrzehnten an.76 Das bedeutende Werk von Guy Bois über die Wirtschaftsund Bevölkerungsentwicklung der Normandie vom 14. bis 16. Jahrhundert belebte 1976 erneut die Diskussion über den Charakter der spätmittelalterlichen Agrarkrise.77 In einer ausführlichen Würdigung bemerkte Peter Kriedte 1981 zu Recht, dass mit diesem Werk das problematische Nebeneinander von Agrarkrisen- und Feudalkrisentheorie überwunden und die Aspekte des Agrarkrisenkonzepts mit einer Theorie der feudalen Produktionsweise anregend verknüpft seien.78 In seinem letzten Buch zur Krisenproblematik der spätmittelalterlichen Wirtschaft bekräftigte Abel 1980 nochmals seine Grundansichten zur Agrardepression des Spätmittelalters.79 Trotz mancher kritischen Einwände ist der Kerngehalt der Agrarkrisentheorie offenbar noch immer gültig, so dass die Wüstungen des Spätmittelalters, das niedrige Getreidepreisniveau und die gesunkenen Einkommen vieler Grundherren als Folgen einer Agrardepression zu deuten sind. Die pauschale Kritik einiger Historiker an den fundierten Untersuchungen Abels ist wenig überzeugend, solange von ihnen keine neuen Lokal- und Regionalstudien zur Agrargeschichte und Wüstungsproblematik des Spätmittelalters vorgelegt werden, die eine andersartige Interpretation nahe legen.80 73 Heinrich Schmidt: Hochmittelalterliche „Bauernaufstände“ im südlichen Nordseeküstengebiet, in: Rösener (Hg.), Grundherrschaft (wie Anm. 43), S. 413–442. 74 Peter Blickle: Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert. Stuttgart 1975, S. 39–55. 75 Abel, Agrarkrisen (wie Anm. 25); ders., Wüstungen (wie Anm. 26). 76 Vgl. Werner Rösener: Krisen und Konjunkturen der Wirtschaft im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Ferdinand Seibt/Winfried Eberhard (Hg.): Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters. Stuttgart 1984, S. 24–38. 77 Guy Bois: Crise du féodalisme. Économie rurale et demographie en Normandie orientale du début du 14e siècle au milieu du 16e siècle. Paris 1976. 78 Peter Kriedte: Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus?, in: GG 7 (1981), S. 42–68. 79 Wilhelm Abel: Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft. Stuttgart u. a. 1980. 80 Peter Schuster: Die Krise des Spätmittelalters, in: HZ 269 (1999), S. 19–55; Ernst Schubert:

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Der Überblick über die Entwicklung der deutschen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Feld der mittelalterlichen Agrargeschichte hat bereits an vielen Stellen Defizite und Forschungsaufgaben erkennen lassen.81 Diese Bilanz gewinnt noch schärfere Konturen, wenn man sie vor dem Hintergrund der Agrargeschichtsforschung im Nachbarland Frankreich betrachtet. Das Interesse an der Agrargeschichte und der historischen Entwicklung der ländlichen Welt war in Frankreich während des 20. Jahrhunderts stark ausgeprägt. Marc Bloch skizzierte 1931 Grundzüge der französischen Agrargeschichte; sein Werk hat bis heute seinen Wert behalten, mögen auch einige Teilgebiete überholt sein.82 Themen und Forschungsschwerpunkte der französischen Agrargeschichte sind seit einiger Zeit in einem von George Duby und Armand Wallon herausgegebenen vierbändigen Werk zur Geschichte des ländlichen Frankreichs zu erfassen.83 Im Jahre 1962 hatte George Duby, ein Hauptvertreter der neueren französischen Agrarhistorikergeneration, bereits ein zweibändiges Werk zur Agrargeschichte des mittelalterlichen Europa vorgelegt, das seinen Schwerpunkt im Karolingerreich und dessen Nachfolgestaaten Frankreich, Deutschland und Italien hatte.84 Duby stand der Schule der Annales nahe, die im Rahmen ihres geschichtstheoretischen Programms Klima und Umwelt, Bodenverhältnissen und Landschaften einen breiten Platz einräumte, um die Alltagswelt der Menschen in Mittelalter und Neuzeit zu erkunden.85 In großen Regionalstudien zu einzelnen Landschaften wurde dieses Programm eingelöst und das Zusammenspiel von Agrarwirtschaft, Bevölkerungsbewegung und ländlicher Gesellschaft in der vorrevolutionären Epoche aufgezeigt.86 Zwei Fachzeitschriften zur französischen Agrargeschichte verdeutlichen das starke Interesse der französischen Öffentlichkeit an der Agrargeschichte: die ältere Zeitschrift „Etudes Rurales“ und die jüngere „Histoire et Sociétés Rurales“. Letztere ist das offizielle Organ der 1994 neugegründeten „Association d’Historie des Sociétés Rurales“, die auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Historikern, Geographen und Archäologen in der agrarhistorischen Forschung Frankreichs besonderen Wert legt und bereits überzeugende Beispiele ihrer neuen agrarhistorischen Aktivität geliefert hat. In Deutschland ist der Paradigmenwechsel von der älteren zur neueren Agrargeschichtsforschung ebenfalls bereits eingeleitet worden; er ist an den veränderten Konzepten, Themen und Forschungsfeldern erkennbar, die seit einigen Jahren im-

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Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter. Darmstadt 1992, S. 5 ff. Vgl. Werner Rösener: Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters, in: Troßbach/Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 93–105; ders., Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 117. Marc Bloch: Les caractères originaux de l’histoire rurale française. 1931. 3. Aufl., Paris 1960. Georges Duby/Armand Wallon (Hg.): Histoire de la France rurale. 4 Bände. Paris 1975–1977. Georges Duby: L’économie rurale et la vie des campagnes dans l’Occident médiéval. 2 Bände. Paris 1962. Vgl. Werner Rösener: L’histoire rurale de l’Europe médiévale et l’apport de Georges Duby, in: Etudes Rurales 145/146 (1997), S. 91–102. Vgl. Emmanuel Le Roy Ladurie: Les paysans de Languedoc. 2 Bände. Paris 1966; Robert Fossier: La terre et les hommes en Picardie jusqu’ à la fin du XIIIe siècle. 2 Bände. Paris u. a. 1968.

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mer mehr Raum gewonnen haben.87 Neue Konzepte zur Erforschung agrarischer Gesellschaften sind von verschiedenen Zweigen der Sozial- und Kulturanthropologie entwickelt worden.88 Für die Analyse der mittelalterlichen und allgemeinen alteuropäischen Agrargesellschaft ist das Modell der „bäuerlichen Gesellschaft“ (peasant society) von entscheidender Bedeutung. Die Kulturanthropologie hat sich zusammen mit der Ethnologie seit längerer Zeit besonders den bäuerlichen Gruppen in komplexen Gesellschaften zugewandt.89 Die von der Ethnologie bevorzugte Mikroanalyse isolierter Gesellschaften wird dabei mit der von den anderen Disziplinen bevorzugten Makroanalyse in Beziehung gebracht. Innerhalb einer peasant society sind die Bauern in einem politischen Gesamtverband integriert, dessen nichtbäuerliche Mitglieder Forderungen gegenüber den Bauern erheben. Betrieb und Haushalt des Bauern bilden eine Produktions- und Konsumgemeinschaft, die alle dazugehörigen Personen in sich vereinigt.90 Im Unterschied zum „peasant“ arbeitet der moderne „farmer“ als Unternehmer, dessen Arbeitskräfte nicht mehr in seinem Haushalt vereint sind. Die bäuerliche Gesellschaft der Vormoderne wird nicht nur in ein Netz von Abhängigkeiten eingeordnet, sondern gleichzeitig auf Bereiche von Eigenständigkeiten bezogen. Diese Eigenständigkeit wird besonders im bäuerlichen Alltagsleben in Verhaltensformen und bäuerlicher Mentalität sichtbar.91 Das Modell der peasant society erklärt aber nicht nur viele Einstellungen und Verhaltensformen der Bauern als Bevölkerungsmehrheit in einer komplexen Gesellschaft, sondern richtet den Blick des Forschers auch auf nichtbäuerliche Gruppen in Dorf und Land, wie Grundherren, Handwerker und Dienstboten. Dieses Konzept kann demnach auch zur allgemeinen Analyse der ländlichen Gesellschaft und ihrer Kultur dienen. Das Interesse für das Konzept der peasant society und die Hinwendung zu anthropologischen Fragestellungen in der Agrargeschichtsforschung stehen im Zusammenhang mit einem Paradigmenwechsel, der sich in den letzten Jahrzehnten allmählich in der deutschen Geschichtswissenschaft vollzog. Neben den älteren Feldern der Sozialgeschichte rückten Themen zur Alltagsgeschichte und kulturgeschichtliche Fragestellungen zunehmend in den Vordergrund.92 Schichtungsanaly87 Vgl. Troßbach/Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte (wie Anm. 38). 88 Dazu Rösener, Einführung (wie Anm. 1), S. 165 ff. 89 Eric R. Wolf: Peasants. Engelwood Cliffs 1966; Teodor Shanin (Hg.): Peasants and Peasant Societies. Harmondsworth 1971. 90 Teodor Shanin: The Nature and Logic of the Peasant Economy, in: The Journal of Peasant Studies 1 (1973), S. 63–80; Alexander Tschajanow: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Berlin 1923. 91 Rösener, Bauern (wie Anm. 52), S. 15; Heide Wunder: Zur Mentalität aufständischer Bauern. Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Anthropologie, dargestellt am Beispiel des Samländischen Bauernaufstandes von 1525, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Der Deutsche Bauernkrieg 1524–1526. Göttingen 1975, S. 9–37; David Sabean: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. Berlin 1986. 92 Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996; Martin Dinges: Neue Kulturgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2002, S. 179–192.

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sen und Organisationsstudien wurden mehr und mehr durch Ansätze abgelöst, die Lebensweisen, Erfahrungen und Alltagsverhältnisse breiter Bevölkerungsschichten behandelten. Mit diesem Themenwechsel traten auch einige Defizite der deutschen Agrargeschichte stärker als früher hervor. Durch den erweiterten Kulturbegriff werden neue Ansätze zur Familien-, Haushalts-, Kriminalitäts- und Geschlechtergeschichte sichtbar und neue Forschungsmöglichkeiten erschlossen.93 Mit dieser thematischen Erweiterung geht in der Regel auch eine methodische Bereicherung einher, sei es im Zuge der Mikrogeschichte, sei es durch vergleichend angelegte Regionalstudien. Die Themen der Geschlechtergeschichte, der Kriminalitätsforschung, der Konfliktregelungen und der Gewaltverhältnisse erhalten in den neueren Agrargeschichtsstudien zunehmend Gewicht und ergänzen die älteren Forschungsfelder zu Agrarökonomie, Agrarverfassung und bäuerlichen Widerstandsformen. Agrargeschichtliche Fragestellungen sind zudem neuerdings stärker in allgemeinen Darstellungen und Forschungszusammenhängen integriert, so dass die Agrargeschichte viel selbstverständlicher als früher zum normalen Lehr- und Forschungsbetrieb gehört.94 Hier liegen auch die Chancen und Perspektiven einer erneuerten Agrargeschichte, die traditionelle Wege mit innovativen Richtungen verbindet. An agrarhistorischen Aufgabenfeldern besteht kein Mangel, sei es im Bereich der Ökologie, bei Problemen der Kulturlandschaftsentwicklung oder bei sozialgeschichtlichen Fragen zur ländlichen Gesellschaft.

93 Blickle, Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 30 ff.; Barbara Krug-Richter: Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Troßbach/Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 33–55; Ulrike Gleixner: Rechtsfindung zwischen Machtbeziehungen, Konfliktregelung und Friedenssicherung. Historische Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte in der frühen Neuzeit, in: Troßbach/Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 57–71. 94 Vgl. Rösener, Agrargeschichte (wie Anm. 38), S. 117.

Friedrich-Wilhelm Henning LANDWIRTSCHAFT IN DER NEUZEIT Die agrargeschichtliche Forschung hat in Deutschland (und in anderen europäischen Ländern) eine lange Tradition. Sie zeigt, dass die entscheidenden Impulse aus den sich wandelnden geschichtlichen Rahmenbedingungen, aus der Entwicklung in anderen Wissenschaftszweigen und schließlich auch von einzelnen Personen kamen. Nach und nach wurde damit ein Forschungsfeld aufgebaut, das inzwischen zum weit überwiegenden Teil nur noch von wenige Aspekte berücksichtigenden Personen weitergetrieben wird. Eine Betrachtung der bisherigen Entwicklung weist damit gleichzeitig die Lücken dieser Forschung auf und den künftig erforderlichen oder mindestens erwünschten Weg. Die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft sind eng miteinander verzahnt, wie dies im Untertitel des in dem wohl auch international am meisten im 20. Jahrhundert anerkannten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Werkes von einem deutschen Wissenschaftler zum Ausdruck kommt.1 Die Anfänge dieser agrargeschichtlichen Forschung liegen im Wesentlichen im 16. Jahrhundert, als im Rahmen der Renaissance, d. h. der Rückbesinnung auf das Altertum, eine systematische Durchforschung der überlieferten Schriften begann, zum Nutzen für die damals gegenwärtige Gestaltung der Agrarwirtschaft. Autoren wie Conrad von Heresbach2, Martin Grosser, Abraham von Thumshirn3 und andere versuchten, auf der Basis der Überlieferungen und unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen ihrer Zeit für die Bodennutzung und die Viehhaltung in ihrer näheren Umgebung Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit den Schriften aus dem Altertum zu gewinnen. Die Sozialgeschichte des ländlichen Raumes und die Ernährungswirtschaft blieben dabei weitgehend außerhalb der Betrachtung. Die Absicherung der Versorgung mit Nahrungsgütern blieb ein wirtschaftliches Problem. Es ging um die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Landwirtschaft und um Ertragssteigerungen, vor allem durch eine Änderung der Nutzungsstruktur (Nutz1

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Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 1935; die zweite und dritte Auflage trugen den Titel „Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter“. 2. Aufl., Hamburg/Berlin 1966, 3. Aufl. 1978. Es liegen japanische, französische, italienische und englische Übersetzungen vor. Conrad von Heresbach: Rei Rusticae Libri Quattuor, Köln 1570; Wilhelm Abel (Hg.): Conrad von Heresbach: Vier Bücher über Landwirtschaft, Band 1: Vom Landbau. Meisenheim 1970. Martin Grosser: Kurze und gar einfeltige Anleitung zu der Landwirtschaft. Görlitz 1590 (unter Berücksichtigung vor allem der schlesischen Verhältnisse); Abraham von Thumshirn: Oeconomia oder notwendiger Unterricht und Anleitung […]. 1. Aufl., Leipzig 1616; 4. Aufl. 1705 (unter Berücksichtigung vor allem der sächsisch-thüringischen Verhältnisse). Zu den beiden Werken von Grosser und Thumshirn vgl. Gertrud Schröder-Lemke (Hg.): Martin Grosser, Anleitung zu der Landwirtschaft und Abraham von Thumshirn, Oeconomia. Zwei frühe deutsche Landwirtschaftsschriften (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 12). Stuttgart 1965.

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flächen- und Ackerflächenverhältnis), was ebenfalls durch die steigenden Agrarpreise angeregt wurde. Auch in den folgenden Jahrhunderten überwog mit unterschiedlichen Akzenten das Bemühen um eine historische Fundierung der Erkenntnisse der jeweils gegenwärtigen Verhältnisse mit starker Ausrichtung auf die Zukunft. Ein isoliertes historisches Interesse allein oder überwiegend zur Erhellung der Verhältnisse in den zurückliegenden Zeiten bestimmte die Beschäftigung mit der Vergangenheit keineswegs. Im Zeitalter des Kameralismus überwog die rechtswissenschaftliche (Individualrechte und Staatsrecht bzw. Staatsverfassung)4 und die staatswirtschaftliche Ausrichtung (u. a. Möglichkeiten der Besteuerung und der Einführung oder Erhöhung anderer Einnahmen, auch aus der Landwirtschaft).5 Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenen Beschreibungen einzelner Gutswirtschaften dienten sicher der Information der Zeitgenossen über die wirtschaftlichen Möglichkeiten, brachten aber die Agrargeschichte der damaligen Zeit nicht weiter, obgleich diese Schriften heute wertvolle Quellen sind.6 Das Gleiche gilt für die Veröffentlichungen von Albrecht Thaer (1752–1828),7 Johann Nepomuk Schwerz (1759– 1844)8 und anderen, die sich mit den zeitgenössischen landwirtschaftlichen Problemen beschäftigten. Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam langsam auch das isolierte historische Interesse ohne unbedingten Bezug zur Gegenwart und zur Gestaltung der Zukunft auf,9 allerdings immer im weiteren Bereich der Agrargeschichte noch mit dem Schwerpunkt in rechtswissenschaftlicher Ausrichtung, während die staatswirtschaftlichen und die privatwirtschaftlichen Aspekte zurücktraten, nicht zuletzt weil das Interesse an den wirtschaftlichen Verhältnissen der einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe und der privaten Haushalte, auch unter Berücksichtigung ernährungswirtschaftlicher Aspekte, gering war. Die Geisteswelt der Romantik förderte zwar die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln der Menschen. Aber von den zwei Hauptaspekten, nämlich der (fast) isolierten Beschäftigung mit der Vergangenheit10 und der Rezeption der individuellen Freiheitsrechte,11 profitierte 4 Zu den Individualrechten und den naturrechtlichen Problemen vgl. Hans Planitz: Deutsche Rechtsgeschichte. 3. Aufl., bearbeitet von Karl August Eckhardt. Graz/Köln 1971, S. 301; zum Staatsrecht vgl. Heinrich Mitteis/Heinz Liebrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch. 16. Aufl., München 1981, Kap. 42, V. 5 Vgl. z. B. Leopold Krug: Betrachtungen über den National-Reichthum des preußischen Staates und über den Wohlstand seiner Bewohner. 2 Teile. Berlin 1805 (Nachdruck Aalen 1970), Teil 2, S. 471–475 und passim. 6 Z. B. Graf Henning Adrian von Borcke: Beschreibung der Stargordtschen Wirtschaft in Hinterpommern. o. O. 1779; Graf Friedrich Werner von Podewils: Wirtschaftserfahrungen in den Gütern Gusow und Platkow. 4 Teile. Berlin 1801–1804. 7 Z. B. Albrecht Thaer: Grundsätze der rationellen Landwirtschaft. 4 Bände. o. O. 1809–1812, 6. Aufl., Berlin 1880. 8 Z. B. Johann Nepomuk Schwerz: Beschreibung der Landwirtschaft in Westfalen und Rheinpreußen. 2 Bände. Stuttgart 1836 (Nachdruck Münster 1979). 9 Vgl. die Monumenta Germaniae Historica. 10 Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1958, S. 58–69 und passim. 11 Vgl. dazu Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. 5. Aufl., Stuttgart 1956, S. 158–164, insbesondere 161 f.

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der Wissenschaftszweig, der später als Agrargeschichte bezeichnet wurde, allenfalls zufällig, vor allem im Hinblick auf das Mittelalter, z. B. in den Monumenta Germaniae Historica. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann nach den Anfängen im 16. Jahrhundert erneut die systematische Beschäftigung mit der eigentlichen Agrargeschichte. Eine der ersten Publikationen war das vierbändige Werk von Christian Eduard Langethal (1806–1878). Auch wenn die Ausführungen über die Entwicklung der Agrarverfassung noch einen starken Anteil hatten, wohl weil die Behinderungen der landwirtschaftlichen Tätigkeit durch solche rechtlichen Regeln noch bekannt waren, kamen auch einzel- und gesamtwirtschaftliche Probleme zur Erörterung, von der damaligen Gegenwart ausgehend.12 Aber auch in Einzelschriften wurden bereits wirtschaftliche Probleme angesprochen. Dazu gehört z. B. die Dissertation von Carl Eduard Nobiling (1848–1878), an der Universität Leipzig abgeschlossen. Sie enthielt eine Beschreibung der Landwirtschaft im Saalkreis, d. h. in einem Gebiet, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem auf der Grundlage des Zuckerrübenanbaus in der Bodennutzung besonders weit entwickelt war.13 Diesen Entwicklungsstrang förderte im Grunde der vor seinem Studium zunächst als praktischer Landwirt in Westpreußen tätige Ordinarius für Nationalökonomie (ab 1872) an der Universität Halle/Saale Johannes E. Conrad (1839–1915). Er selbst berücksichtigte in seinen Forschungen ein breites Spektrum von wirtschaftlichen und sozialen Problemfeldern außerhalb der Landwirtschaft, aber auch für den landwirtschaftlichländlichen Bereich.14 Außerdem regte er bei seinen Schülern (Doktoranden) mehrere sich mit agrarwirtschaftlichen Problemen beschäftigende Untersuchungen an,15 die weitgehend in der von Conrad ab 1877 herausgegebenen „Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des Staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a.d. Saale“ veröffentlicht wurden. Wichtig wurde dann Freiherr Theodor von der Goltz (1836–1905). Er hatte sich vom Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit aktuellen Problemen der Landwirtschaft beschäftigt. Seine 1902/03 erschienene „Geschichte der deutschen Landwirtschaft“16 war durch die Mischung 12 Christian Eduard Langethal: Geschichte der teutschen Landwirtschaft. 4 Bände. Jena 1847– 1856. 13 Carl Eduard Nobiling: Beiträge zur Geschichte der Landwirtschaft des Saalkreises der Provinz Sachsen. Diss. Leipzig 1876, gedruckt Berlin 1876. Diese Arbeit ist eigenartigerweise nicht in die agrargeschichtliche Literatur eingegangen. Nobiling wird in der allgemeinen Geschichtsschreibung „lediglich“ wegen seines Attentats auf Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878 erwähnt. 14 Vgl. das Literaturverzeichnis in: N. N.: Conrad, Johannes E., in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 3. 3. Aufl., Jena 1909, S. 431. 15 Vgl. z. B. Graf Werner von Goertz-Wrisberg: Die Entwicklung der Landwirtschaft auf den Goertz-Wrisbergschen Gütern in der Provinz Hannover (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des Staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. Saale 2,4). Jena 1880; desgleichen Josef Heisig: Die historische Entwicklung der landwirtschaftlichen Verhältnisse auf den reichsgräflich-standesherrlich-Schaffgotschischen Güterkomplexen in PreußischSchlesien (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des Staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. d. Saale 3,3). Jena 1884. 16 Freiherr Theodor von der Goltz: Geschichte der deutschen Landwirtschaft. 2 Bände. Berlin 1902/03.

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von praktischen Erfahrungen in der Landwirtschaft, durch die theoretische Beschäftigung mit den aktuellen Problemen seiner Zeit und durch die Vertrautheit mit einer Landwirtschaft ohne ein industrielles Umfeld (Ostpreußen, wo er 1862–1885 in verschiedenen Positionen im landwirtschaftlichen Bildungsbereich tätig war) und mit einem industrialisierten Umfeld (Westfalen und Rheinland 1860–1862 und ab 1895) bestimmt. Die wirtschaftlichen Probleme der Landwirtschaft und die Landarbeiterfrage nahmen in seinen Forschungen eine wichtige Position ein. Daneben blieb aber bei eher von der Geschichtswissenschaft, von der Rechtswissenschaft oder von der Staatswissenschaft kommenden Forschern die Agrarverfassung im Vordergrund. Hier ist vor allem auch der in Straßburg lehrende Georg Friedrich Knapp (1842–1926, Hochschullehrer in Leipzig ab 1869, Professor für Nationalökonomie und Statistik in Straßburg 1874–1918) zu nennen, der mit seinem Werk über die Bauernbefreiung17 der agrargeschichtlichen Forschung (und Lehre) wichtige Impulse gab. Hier wurden auch bereits die politischen Kräfte angesprochen, die auf die Regulierung der Abhängigkeitsverhältnisse Einfluss zu nehmen versuchten. Sein Schüler Carl Grünberg (1861–1940, Studium in Straßburg um 1890 nach der Promotion zum Dr. jur. in Wien) machte sich bei Knapp mit dieser Forschungsrichtung vertraut.18 Beide legten wie allgemein die von der Rechtswissenschaft oder von der Staatswissenschaft kommenden Agrarhistoriker auf der Grundlage der vor 1914 bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse bereits Arbeiten mit sozialgeschichtlichen Bezügen vor, betrieben jedoch auch andere als agrargeschichtliche Forschungen, vor allem im Bereich der Statistik. Sie folgten dabei eher der historisch-beschreibenden Methode von Gustav Schmoller (1838–1917, ab 1864 Hochschullehrer in Halle, dann ab 1872 in Straßburg und ab 1882 in Berlin) und nicht der theoretisch-deduktiven Methode von Carl Menger (1840–1921, ab 1872 Hochschullehrer in Wien). Der wirtschaftswissenschaftliche Ansatz von Conrad und teilweise von v. d. Goltz wurde im Grunde zunächst von niemandem aufgegriffen. Conrad hatte über eine lange Zeit keinen Nachfolger, der die Agrargeschichte im wirtschaftlichen Bereich fortführte, weder in volkswirtschaftlicher noch in betriebswirtschaftlicher Ausrichtung. Dies war zunächst bis nach dem Ersten Weltkrieg auch bei August Skalweit (1879–1960) nicht der Fall, der die Agrargeschichte mit der aktuellen Agrarpolitik verband. Skalweit fühlte sich offensichtlich in der Tradition Adolf Buchenbergers (1848–1904), der als historisch orientierter Verwaltungsbeamter in seinem Lehrbuch „Agrarwesen und Agrarpolitik“19 eine kritische Bewertung der Agrarpolitik seiner Zeit unter Berücksichtigung der Entwicklung in der vorhergehenden Zeit vornahm und sich am Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere mit finanzwissenschaftlichen Problemen beschäftigte und schließlich als Finanzminister von Baden hervortat. Vor allem wurden die Ideen von Johann Heinrich von Thünen 17 Georg Friedrich Knapp: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens. 2 Bände. Leipzig 1887. 18 Z. B. Carl Grünberg: Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien. 2 Bände. Leipzig 1893/94. 19 2 Bände. Leipzig 1892/93.

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(1783–1850)20 und auch von dem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Übertragung einer entsprechenden Hochschullehrerstelle in Bonn für die landwirtschaftliche Betriebslehre wichtig werdenden Friedrich Aereboe (1865–1942)21 nicht aufgegriffen und schon gar nicht auf die historischen Sachverhalte übertragen und angewendet.22 Die Zwischenkriegszeit war zunächst vor allem durch Georg von Below (1858– 1927) und August Skalweit geprägt. Dabei ging von Below insbesondere von der Verfassungsgeschichte aus, obgleich er wie Johannes E. Conrad aus der Landwirtschaft stammte,23 während Skalweit als Nationalökonom mit der Agrarökonomie und der Einbindung in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung neue Akzente setzte.24 Insgesamt wurde die Agrargeschichte bis Ende 1932 an den wissenschaftlichen Hochschulen von Historikern, Rechtswissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaft20 Johann Heinrich von Thünen: Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie. 1. Aufl., Hamburg 1826. 21 Vgl. Friedrich Aereboe: Beiträge zur Wirtschaftslehre des Landbaues. Berlin 1905. Und vorher im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft ab 1895, vor allem auf die landwirtschaftliche Buchführung und „Rentabilitätsfragen“ ausgerichtete Veröffentlichungen. Eine lehrbuchmäßige Zusammenfassung, die dann über die Buchführung weit hinausging, erschien 1917: Friedrich Aereboe: Die Bewirtschaftung von Landgütern und Grundstücken, Teil 1: Allgemeine landwirtschaftliche Betriebslehre. Berlin 1917 (6. Aufl. 1923). Die Grundsätze der landwirtschaftlichen Betriebslehre wurden erst ab 1961 in der Agrargeschichte angewendet, nach einem Vortrag des Verfassers vor dem Doktorandenseminar Wilhelm Abels am 12. August 1961. Der Umdruck dieses Vortrages wurde nicht veröffentlicht, sondern nur den Mitarbeitern Abels und den mit einschlägigen Untersuchungen beschäftigten Doktoranden zur Verfügung gestellt. Diese Grundsätze wurden dann für die ab 1961 begonnenen und ab 1964 abgeschlossenen Dissertationen zur Belastung der Bauern im 18. Jahrhundert angewendet, zunächst bei Ulrich Risto: Abgaben und Dienste bäuerlicher Betriebe in drei niedersächsischen Vogteien im 18. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1964. Im Wesentlichen sind diese Berechnungsmethoden und möglichen Berechnungsvarianten enthalten in: Friedrich-Wilhelm Henning: Bauernwirtschaft und Bauerneinkommen im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 18). Berlin 1970, S. 149–155. In den folgenden Jahren wurde diese Berechnungsmethode außerhalb der Abel-Schule nur noch von Jürgen Karbach: Die Bauernwirtschaften des Fürstentums Nassau-Saarbrücken im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung X). Saarbrücken 1977, S. 231, angewendet, und zwar unter Berufung auf Benekendorf. Der hatte seine Überlegungen allerdings nur für Güter angestellt und außerdem nicht an der von Karbach genannten Stelle. Die Übernahme der falschen Stelle beruht darauf, dass ich selbst in dem genannten Buch über die Paderborner Bauernwirtschaft einen Schreibfehler verzeichnet habe (statt § 95 ff. wurde S. 295 ff. aufgenommen), der allerdings von mehreren Autoren nicht bemerkt wurde, da sie selbst nicht in das Werk von Benekendorf geschaut haben, sondern dies als Quelle angegeben haben, ohne allerdings zu bekennen, dass sie diese fehlerhafte Angabe bei mir entnommen haben. Man kann eine solche recht eigenartige und die persönliche Belesenheit nur scheinbar herausstellende Verfahrensweise häufig feststellen. 22 Vgl. zu den am Anfang des 20. Jahrhunderts als wichtig angesehenen Fragen der zeitgenössischen Agrargeschichtsforschung Georg Caro: Probleme der deutschen Agrargeschichte, in: VSWG 5 (1907), S. 433–457. 23 Vgl. dazu Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998, S. 24–26 und passim. 24 Vgl. August Skalweit: Agrarpolitik. Berlin/Leipzig 1923, 2. Aufl. 1924.

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lern entsprechend dem eigenen Interesse mitbetrieben. Dies ist aber nicht negativ zu sehen, denn für viele andere Wissenschaftszweige gab es ebenfalls keine speziellen Lehrstühle. Im Grunde hing und hängt es von den Wissenschaftlern ab, in welchem Maße sie ihre Lehrveranstaltungen systematisch mit eigenen Forschungen zu untermauern bereit sind oder selbst unabhängig hiervon forschen oder bei anderen Personen (vor allem Doktoranden) Arbeiten anregen. Die dadurch hervorgerufene Vielfalt ist positiv einzuschätzen, sie darf allerdings nicht im Denken von Schulen und Seilschaften verkrusten. Neue mehr wirtschaftswissenschaftlich orientierte Ansätze gingen dann in den zwanziger Jahren von den Forschungen um die Acta Borussica am Kieler Institut für Weltwirtschaft unter der Obhut August Skalweits aus. Hier entstand, angeregt durch die Mitarbeit an den Acta Borussica,25 von 1929 bis 1934 die schon genannte grundlegende Studie von Wilhelm Abel (1904–1985) über „Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert“.26 Das war eine grundsätzlich neue Dimension, die teilweise auch in Wechselwirkung mit den zahlreichen konjunkturtheoretischen Ansätzen in der nationalökonomischen und ökonometrischen Forschung, insbesondere auch den umfangreichen Forschungen von Arthur Spiethoff (1873–1957)27 und seinen Schülern stand28 und neben der langfristigen Konjunkturentwicklung auch die hiervon ausgehenden Wirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage der unterschiedlichen sozialen und Einkommensgruppen zugehörenden Landwirte und der Landarbeiter (Einkommen, herrschaftliche Verhältnisse) aufzeigte. Die Ernährungslage der einzelnen Bevölkerungsschichten (verschiedene Produkte, Mengen, Preise usw.) war ein wichtiger Teil, desgleichen der interregionale Handel mit Agrargütern in Europa und die Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Lage der Landwirtschaft, der Entwicklung der Preise für Agrarprodukte und der Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft und den Realeinkommen der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung. Damit wurde ein Teil des breiten möglichen Spektrums der Agrargeschichte deutlich. Die politischen Einflüsse konnten weitgehend außerhalb der Betrachtung bleiben, da hier im Kernbereich der Arbeit bis in das beginnende 19. Jahrhundert über den Kameralismus hinaus kaum Kräfte durchgreifend wirksam waren.

25 Z. B. August Skalweit: Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1756 bis 1806, in: Acta Borussica: Getreidehandelspolitik, IV. Berlin 1931. 26 Vgl. Anm. 1. 27 Vgl. z. B. Arthur Spiethoff: Beiträge zur Analyse und Theorie der allgemeinen Wirtschaftskrisen. Leipzig 1905, und andere Veröffentlichungen. 28 Wilhelm Abel hat allerdings erst nach seiner Habilitation den persönlichen Kontakt zu dem 31 Jahre älteren Spiethoff gesucht und in Bonn eine längere Diskussion über seine Habilitationsschrift mit Spiethoff und seinen Mitarbeitern geführt. Auskunft von Wilhelm Abel gegenüber dem Verfasser im März 1966 nach Erscheinen der zweiten Auflage der genannten Arbeit und Auskunft von Theodor Wessels (1902–1972) gegenüber dem Verfasser im Mai 1971 in Köln. Wessels war von Mitte der zwanziger Jahre bis Mitte der dreißiger Jahre im Umfeld von Herbert von Beckerath in Bonn tätig. Wessels hatte sich in Bonn mit einer Arbeit über „Die Selbstversorgung Deutschlands mit Agrarprodukten“ habilitiert und nahm an der Diskussion zwischen Spiethoff, dessen Mitarbeitern und Abel teil.

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Wie wenig diese seit den zwanziger Jahren latenten Ansätze in der volkswirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte allgemein und der Agrargeschichte im Besonderen aufgenommen wurden, zeigte die 1935 erschienene Dissertation von Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002),29 die sich immerhin mit wirtschaftlichen Problemen beschäftigte, was andere Dissertationen dieser Zeit nicht oder nur selten taten. Erstaunlich ist aber, dass die Autorin keinen Bezug zu den zeitgenössischen wirtschaftswissenschaftlichen und agrarwissenschaftlichen Forschungen genommen hat. Es wurde lediglich aus dem Familienarchiv für die Zeit bis um 1800 referiert. Auch die 1939 veröffentlichte „Geschichte der deutschen Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der technischen Entwicklung“ von Richard Krzymowski (1875–1960), der an der Universität Breslau landwirtschaftliche Betriebslehre lehrte, brachte wohl schon aufgrund des geringen Umfangs (und Inhalts) des Buches keine neuen Impulse für die agrargeschichtliche Forschung. Er schöpfte seine betriebswirtschaftlichen Spezialkenntnisse nicht aus.30 Während der nationalsozialistischen Zeit änderte sich die Situation für die Agrargeschichte grundlegend. Nunmehr standen vor allem die Siedlungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Ostkolonisation und der neuzeitlichen Bauernsiedlungen als scheinbare Rechtfertigung der geplanten Ostexpansion und die völkische Komponente der Geschichte der bäuerlichen Bevölkerung im Vordergrund. Mehrere Historiker sahen in Anbetracht der nationalsozialistischen Ideologie die Bauern und die Siedlungsgeschichte der Deutschen im östlichen Mitteleuropa als ein wichtiges Forschungsobjekt an. Es kam zu einem gewissen Gleichklang mit Äußerungen Hitlers und zahlreicher anderer Nationalsozialisten,31 vor allem im Hinblick auf die Ostexpansion auf Kosten anderer Völker in den Überlegungen und Veröffentlichungen von Hermann Aubin (1885–1969, bis 1945 in Breslau, ab 1946 in Hamburg),32 Theodor Schieder (1908–1984, ab 1934 als Assistent und Habilitant, dann ab 1942 Professor in Königsberg, ab 1947 in Köln),33 Werner Conze (1910–1986, Professor für Agrar- und Siedlungsgeschichte an der 1941 entstandenen Reichsuniversität in Posen ab 1943, ab 1957 Professor für Geschichte in Heidelberg)34 und anderen.35 Dies war zwar kein völlig neues For29 Marion Gräfin Dönhoff: Entstehung und Bewirtschaftung eines ostdeutschen Großbetriebes. Die Friedrichsteiner Güter von der Ordenszeit bis zur Bauernbefreiung. Diss. Basel 1935, gedruckt Königsberg 1935. 30 Auch die 1951 veröffentlichte zweite Auflage erweiterte diese Ausrichtung nicht. 31 Die meisten „Ostforscher“ wurden 1937 Mitglieder der NSDAP, vgl. Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000, S. 297. 32 Michael Burleigh: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich. Cambridge u. a. 1988, S. 165, 188–193 und passim; Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 11; diese frühe Installierung Aubins in Hamburg weit ab von seinen bisherigen Tätigkeitsfeldern 1946, offensichtlich ohne Prüfung seiner Aktivitäten von 1933 bis 1945, ermöglichte es ihm, bei der Installierung seiner Mitstreiter aus der Zeit vor 1945 wirksam zu werden. 33 Burleigh, Germany Turns Eastwards (wie Anm. 32), S. 55, 165 und 176–178; Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 327–331. 34 Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hamburg 1991, S. 102 f.; Conze hatte „nur“ eine venia legen-

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schungsfeld. Man baute die durchaus schon vorher vorhandenen nationalistischen Bestrebungen aus. Im Grunde wurde die jenseits der deutschen Grenzen vorgenommene bäuerliche und städtische Siedlung als (noch) nicht vollendet angesehen. Immerhin wurde 1941 die Veröffentlichung von Werner Conze: Agrarverfassung und Bevölkerung in Litauen und Weißrussland, Teil 1: Die Hufenverfassung im ehemaligen Großfürstentum Litauen (Leipzig 1940)36 in der VSWG von Carl Brinkmann (1885–1954) kritisch, aber nicht negativ besprochen.37 Conze hatte innerhalb des seit 1933 besonders aktiven „Bundes Deutscher Osten“ die Bearbeitung des Themas „Die weißrussische Frage in Polen“ übernommen.38 Zwischen Aubin und Conze bestand vor 1945 und nach 1945 ein mentaler Gleichklang, auch wenn ihre wissenschaftliche Akzentsetzung nach 1945 unterschiedlich war. Mit dem im Buchtitel Conzes von 1940 genannten Thema konnte man sich relativ objektiv auseinandersetzen. Dies muss allerdings vor dem Hintergrund der ebenfalls befürworteten Ostexpansionsideologie gesehen werden. Es betraf nicht mehr die Agrargeschichte und -politik mit der Ausrichtung auf die Verhältnisse in Deutschland, sondern bezog Gebiete im östlichen Mitteleuropa ein, die man germanisieren und dem Deutschen Reich (und damit dem Bearbeitungsfeld der deutschen Agrargeschichte) einfügen wollte. Die Dissertation von Conze aus dem Jahre 1934 beschäftigte sich bereits mit dem Problem der Deutschen in dem Gebiet jenseits der damaligen Reichsgrenze.39 Der Herausgeber der nach dem 30. Januar 1933 eröffneten Reihe, in die Conzes Arbeit aufgenommen wurde, war der Soziologe Gunther Ipsen (1899–1984), der sich wie mancher andere Wissenschaftler aus Königsberg mit zeitlichem Fortschreiten der nationalsozialistischen Herrschaft immer mehr in die neue Linie und die anscheinend neuen Möglichkeiten der Ostpolitik einbinden ließ oder sich einband. Die Siedlungsgeschichte und damit ein wichtiger Bereich der Agrargeschichte gerieten immer mehr unter diesen Einfluss.40 Die von Wilhelm Abel in seiner Habilitationsschrift angesprochene Ausrichtung fand zunächst keine Resonanz. Das Buch wurde zwar von Carl Brinkmann in

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di für Soziologie; er hatte zunächst ab Juli 1942 eine Dozentur auf Probe, vgl. Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 22 f. und 356; Conze erhielt damit die erste agrargeschichtliche Professur im Hoheitsgebiet des damaligen (Groß-)Deutschen Reiches. Burleigh, Germany Turns Eastwards (wie Anm. 32), S. 147, 165 und passim; vgl. auch Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 236 und passim; gerade die jüngeren Historiker traten 1937 zur Bewahrung ihrer beruflichen Chancen in die NSDAP ein, vgl. Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 297. Weitere Teile sind offensichtlich nicht erschienen. VSWG 34 (1942), S. 382. Burleigh, Germany Turns Eastwards (wie Anm. 32), S. 147; vgl. auch Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 284. Werner Conze: Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland (Neue deutsche Forschungen, Abtl. Volkslehre und Gesellschaftskunde 2). Berlin 1934. Vgl. auch die verschiedenen Veröffentlichungen von Hermann Aubin aus dieser Zeit: Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes. Breslau 1938; ders.: Zur Erforschung der deutschen Ostbewegung. Leipzig 1939; ders.: Geschichtlicher Aufriß des Ostraums. Leipzig 1940; vgl. auch die umfangreichen Zusammenfassungen von Hermann Aubin (Hg.): Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Teil 1, Leipzig 1942 und Teil 2, 1943.

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der VSWG rezensiert, allerdings mit einer recht herben Kritik.41 Dies mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass die Bedeutung dieser Schrift erst in der Nachkriegszeit – und nunmehr, als die Grenzen für die Wissenschaft gefallen waren, international – erkannt und anerkannt und bald in mehrere Sprachen übersetzt wurde.42 In der Zeit von 1933 bis 1945 standen bei den meisten Historikern andere Themen der Agrargeschichte im Vordergrund, entsprechend den wirklichen oder den angenommenen Wünschen der Machthaber. Auch Friedrich Lütge (1901–1968) entzog sich trotz seiner wohl eher für die nationalsozialistische Ideologie anfälligen Arbeiten den von 1933 bis 1945 modernen bzw. als modern angesehenen Forschungsrichtungen. Möglicherweise hat der seit 1933 alleinige Herausgeber der VSWG, Hermann Aubin, in der Zeit bis 1945 die falschen Konsequenzen gezogen. Friedrich Lütge und Wilhelm Abel blieben bei den in den dreißiger Jahren schwerpunktmäßig bearbeiteten Feldern, da sie sich nicht in die nationalsozialistisch beeinflusste Ausrichtung der Geschichtswissenschaft allgemein und der Agrargeschichte im Besonderen hatten einbinden lassen. Schwerpunkt waren bei Lütge neben anderen Problemen der Nationalökonomie und der Wirtschaftsgeschichte die Fragen der Agrarverfassung, teilweise in Anknüpfung, Fortsetzung und Erweiterung der Forschungen seines akademischen Lehrers von Below. Abel erweiterte seine Forschungen, die er unter der Obhut August Skalweits in Kiel begonnen und nach der zwangsweisen Umsetzung Skalweits 1933 durch die Nationalsozialisten nach Frankfurt am Main dort fortgesetzt hatte. Abel ging als einziger Mitarbeiter mit dem zwangsversetzten Skalweit, dem bisherigen Rektor der Universität Kiel, was für Abels weiteren beruflichen Werdegang zunächst (bis 1945) eine Hypothek bedeutete. Immerhin war er während des Krieges für eine kurze Zeit (ab dem 1. November 1941) an der Universität Königsberg tätig,43 teilweise neben seinem Dienst in der Wehrmacht,44 ohne sich allerdings in den Ostforschungsbereich anderer Wissenschaftler gerade an der Universität Königsberg hineinziehen zu lassen. Man konnte die Zeit der Nationalsozialisten auch ohne Kumpanei überstehen, allerdings mit beruflichen Nachteilen. So wurde Abel während des überwiegenden Teiles des Krieges zur Wehrmacht eingezogen, was den im Bereich der Volkstumspolitik tätigen Personen, obgleich in einem vergleichbaren Alter, weitgehend erspart blieb.45 41 VSWG 29 (1936), S. 325; vgl. auch die tendenziell negativen Teilrezensionen von Ernst Kelter und von Siegfried von Ciriacy-Wantrup, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 60, 1936, 2. Halbband, S. 65–72; Constantin von Dietze hob in einer anderen Rezension hervor, dass in dem Buch von Abel nicht wie in den „letzten beiden Menschenaltern die agrarökonomischen Probleme hinter den agrarsozialen Fragen“ zurückgetreten seien, vgl. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 147 (1938), S. 105. 42 Vgl. Anm. 1. 43 Vgl. die Dienstalterangabe in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Göttingen, z. B. für 1971, S. 120. 44 Auskunft Wilhelm Abels gegenüber dem Verfasser zwischen 1962 und 1967, mit zahlreichen Einzelheiten über den Ablauf des täglichen Lebens in dieser Situation. 45 Zu den Freistellungen wegen „Unabkömmlichkeit“ vgl. Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 340 f.

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Nach 1945 wechselte das Forschungsfeld der meisten teilweise auch agrargeschichtlich, hauptsächlich auf das „germanische Volkstum“ orientierten Wissenschaftler, nicht aber bei Lütge und Abel, da sie diese Ausrichtung ab 1933 nicht mitgemacht hatten.46 Sie wurden für die Agrargeschichte der ersten Jahre nach 1945 bestimmend. Sie ergänzten sich ideal, da ihre Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte unterschiedlich waren, beide aber auch mit der jeweils anderen Forschungsrichtung vertraut waren. Als dritter trat nach seiner Rehabilitierung Günther Franz (1902–1992), der jedenfalls im agrargeschichtlichen Bereich von der Bauernkriegsforschung kam, sich allerdings in die nationalsozialistische Ideologie übermäßig eingebunden hatte,47 mit dadurch bedingter zeitlicher Verzögerung 1957 hinzu, wobei der Hauptakzent nunmehr auf den „Bauernstand“ gelegt wurde. Dies war in Teilen zwar kein grundsätzlich neuer Forschungsgegenstand für die Agrargeschichte. Ein solcher Band musste aber mit einem neuen Konzept aus zahlreichen punktuellen Forschungsergebnissen zusammengetragen werden, da eine vergleichbare Übersichtsdarstellung bisher nicht vorhanden war. Die Gründung der „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie“ (ZAA) und der „Gesellschaft für Agrargeschichte“ unter der Obhut von Günther Franz 1953 war dem vorausgegangen.48 Dies war der Anfang einer intensiveren Beschäftigung mit der Agrargeschichte, die Franz dann nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Geschichte und Agrargeschichte in Hohenheim in den Mittelpunkt seiner umfangreichen wissenschaftlichen Tätigkeit stellte,49 allerdings weitgehend losgelöst von den neuen aus der Sozialwissenschaft und aus der Politikwissenschaft kommenden Forschungsimpulsen. Was man bei einem mit Spezialforschungen beschäftigten Wissenschaftler nicht als 46 Vgl. die Veröffentlichungen Abels von 1934 bis 1943 nach Ingomar Bog u. a. (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag, Band III: Wirtschaft und Gesellschaft in der Zeit der Industrialisierung (Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen 70). Hannover 1974, S. 802 und 808, und von Friedrich Lütge in dieser Zeit nach Wilhelm Abel u. a. (Hg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge. Stuttgart 1966, S. 431–434; von den Aufsätzen Lütges konnte allenfalls ein 1939 erschienener als Beitrag zur neu angestrebten Ostkolonisation angesehen werden: Die Agrarverfassung der deutschen Auslandssiedlungen in Osteuropa, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 150 (1939), S. 742–751. Lütge hatte aber offensichtlich keinen Kontakt zu dem ab 1934 in Königsberg und Breslau sich aufbauenden Kreis. 47 Franz wurde Leiter der geschichtlichen Abteilung des Reichssicherheitshauptamtes und baute dort eine Forschungs- und Publikationsabteilung für Juden- und Freimaurerfragen auf, vgl. Haar, Historiker (wie Anm. 31), S. 235; er hatte von 1941 bis 1944 den Lehrstuhl „Geschichte des deutschen Volkskörpers“ an der 1941 eröffneten „Reichsuniversität“ in Straßburg inne, vgl. Pierre Racine: Hermann Heimpel à Strasbourg, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1999, S. 142–156, hier 145. 48 Genauer: Die 1904 gegründete „Gesellschaft für Geschichte des Landvolks und der Landwirtschaft“ nahm 1953 ihre Tätigkeit wieder auf und firmierte ab 1966 als „Gesellschaft für Agrargeschichte“. 49 Vgl. hierzu Günther Franz: Die Gesellschaft für Agrargeschichte. Ein Rückblick auf die ersten 25 Jahre ihres Bestehens. Heinz Haushofer zum 80. Geburtstag am 19. Juni 1986 zugeeignet, in: ZAA 34 (1986), S. 129–136; Harald Winkel: Günther Franz, 23.5.1902–22.7.1992, in: ZAA 40 (1992), S. 259 f.; Werner Rösener: Die Stellung der Agrargeschichte in Forschung und Lehre. Ergebnisse einer Tagung, in: ZAA 48 (2000), S. 1–17.

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außergewöhnlich einordnen kann, ist bei einer einem ganzen Fach gewidmeten Zeitschrift (ZAA) eigentlich keine akzeptable Beschränkung. Die ZAA hätte eigentlich eine Konkurrenz zum agrargeschichtlichen Teil der VSWG werden können. Da dieser Teil jedoch in der VSWG wenig gepflegt wurde, war dies nicht der Fall. Trotz der Einbeziehung der Agrarsoziologie in den Titel der ZAA blieben aber auch die agrargeschichtlichen und die agrarsoziologischen Aufsätze in der ZAA nebeneinander bestehen. Es entwickelten sich keine Wechselbeziehungen, obgleich der für die Agrarsoziologie zuständige Herausgeber Ulrich Planck in seinen Veröffentlichungen durchaus die historische Basis und die historischen Hintergründe der Entwicklung in seine Analysen und Betrachtungen einbezog.50 Insbesondere wurden in den Beiträgen nicht die von den Sozialwissenschaften ausgehenden Impulse aufgenommen. Möglicherweise drückte das beengte und offensichtlich eher zufällige Spektrum der zur Aufnahme eingesandten Beiträge in der ZAA lediglich aus, dass die Agrargeschichte in Deutschland nur noch von sachlichen und personellen Zufälligkeiten abhängig war (und ist). Bei genauer Betrachtung der vorhergehenden Jahrzehnte war sie das eigentlich immer und wird dies aufgrund der sich immer mehr verringernden Bedeutung der Landwirtschaft und des zurückgehenden Interesses an der Agrargeschichte auch in Zukunft sein. Zufällige Ideen können jedoch auch in Neuland eindringen und Anregungen aus anderen Disziplinen aufnehmen. Dies geschah in den in der ZAA veröffentlichten Aufsätzen aber nur begrenzt. Alle drei für die Entwicklung der Agrargeschichte nach 1945 genannten Wissenschaftler waren nur zögernd bereit, den zusätzlichen und damit neuen Entwicklungen, die aus dem Bereich der Sozialwissenschaften kamen, zu folgen, die vor allem auch im angloamerikanischen Raum und in Frankreich entwickelt worden waren. Die Bestandsaufnahme und ihre analytische Durchdringung herrschten in allen Bänden der seit 1962 unter der Herausgeberschaft von Günther Franz veröffentlichten „Deutschen Agrargeschichte“ vor. Neue Fragen wurden zwar nicht völlig unbeachtet gelassen. Sie erhielten aber noch nicht die eigentlich erforderliche Stellung. Das Grundkonzept und die Aufteilung der Bände für das Mittelalter und für die frühe Neuzeit begünstigten diese Begrenzung. Die langsam in Heidelberg unter dem Einfluss Conzes, der ebenfalls erst 1957 einen Lehrstuhl erhalten hatte, vom sozialen und soziologischen Bereich kommenden neuen Ansätze wurden erst ab 1962 gedruckt.51 Sie schlugen sich daher in den drei Büchern von Wilhelm Abel (1962)52, Friedrich Lütge (1963)53 und Heinz Haushofer (1963)54 nur teilweise nie50 Vgl. Ulrich Planck/Joachim Ziche: Land- und Agrarsoziologie. Eine Einführung in die Soziologie des ländlichen Siedlungsraumes und des Agrarbereichs. Stuttgart 1979. 51 Werner Conze (Hg.): Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 1. Stuttgart 1962; vgl. auch das Literaturverzeichnis in der Festschrift Conze: Ulrich Engelhardt/Volker Sellin/Horst Stuke (Hg.): Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Sonderband). Stuttgart 1976. 52 Wilhelm Abel: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1962. 53 Friedrich Lütge: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1963.

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der, aber auch nicht in den weiteren Bänden zur Agrargeschichte von Herbert Jankuhn (1969)55 und Günther Franz (1970)56, von denen die beiden Letzteren durchaus diesen neuen Ansatz, der vor allem auch in der agrargeschichtlichen Forschung in anderen Ländern eine große Bedeutung erhielt, hätten rezipieren können. Mindestens ebenso wichtig wie die von Conze ausgehenden Einflüsse waren die Verbindungen zwischen Abel und dem französischen sozialwissenschaftlich orientierten Historiker Fernand Braudel (1902–1985) zum Ende der fünfziger Jahre und in den beginnenden sechziger Jahren. Hierdurch erhielt der strukturgeschichtliche Ansatz (Sozialstruktur als das Ordnungsgefüge, welches das Sozialsystem mit seinen Handlungen stabilisiert) mit der allgemein zunehmenden Hinwendung, auch Abels, zur (Agrar-)Soziologie eine Verstärkung, die sich bei der vielfältigen Forschertätigkeit Abels allerdings hauptsächlich in der Beeinflussung der Arbeit der Agrarsozialen Gesellschaft niederschlug,57 aber auch in der Förderung einzelner Wissenschaftler wie z. B. des Agrarsoziologen Peter von Blanckenburg. Dessen Einführung in die Agrarsoziologie erfasste zum ersten Mal das Grundkonzept eines neuen Faches,58 das auf zahlreichen, auch historischen Vorgaben aufbauen konnte. Welche Bedeutung die von (auch) agrargeschichtlich ausgerichteten Hochschullehrern angeregten Dissertationen für die Forschung haben können, zeigte sich bei Wilhelm Abel, bei dem in Göttingen von 1949 bis 1974 67 Dissertationen zum Abschluss kamen, davon allein 22 mit agrargeschichtlichen Themen. 21 dieser Arbeiten waren von Diplomlandwirten geschrieben worden. Hinzu kamen zwei einschlägige Habilitationsschriften. Hier zeigten sich die Vorzüge einer intensiven Einbindung in die Agrarwissenschaften und deren Lehre.59 Das breite wissenschaftliche Interesse Abels führte dann auch zu Arbeiten zum ländlichen Gewerbe, zu Wechselwirkungen mit den nichtlandwirtschaftlichen Bereichen, zur Versorgung mit Nahrungsgütern und Gewürzen, zu den sozialen Problemen der ländlichen Bevölkerung usw.60 Die Agrargeschichte wurde von Abel und seinen Schülern sehr breit definiert, was vor allem auch durch den Wandel im ländlichen Bereich im 20. Jahrhundert begünstigt wurde. Mit der genannten Errichtung eines weitgehend auf die Agrargeschichte ausgerichteten Lehrstuhls für Günther Franz 1957 in Hohenheim erhielt die Agrarge54 Heinz Haushofer: Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter. Stuttgart 1963. 55 Herbert Jankuhn: Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit. Stuttgart 1969. 56 Günther Franz: Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1970. 57 Vgl. die ab 1951 herausgegebene „Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen“. 58 Peter von Blanckenburg: Einführung in die Agrarsoziologie. Stuttgart 1962. 59 Abel vertrat die Fächer Volkswirtschaftslehre und Agrarpolitik in den Studiengängen zum Diplomlandwirt und zum Diplomvolkswirt. 60 Friedrich-Wilhelm Henning: Die agrargeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland von 1749 bis 1986, in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis und oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 84). Stuttgart 1987, S. 77 und passim; unter den Dissertationen war immerhin recht früh eine, die auch heutigen Problemansprüchen entgegenkommen würde: Hans Leichum: Ökologie und Ökonomie der Futtersaatenerzeugung in der Bundesrepublik. Diss. Göttingen 1954.

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schichte eine wichtige Basis für die weitere Entwicklung. Diese Entwicklung konnte allerdings aufgrund der begrenzten personellen Ressourcen nur in Wechselwirkung, Ergänzung und Konkurrenz zu anderen Zentren einer entsprechenden personell bestehenden Forschung (und Lehre) Erfolg haben. Abel und Lütge waren hier wichtige Beteiligte, zumal beide bereits vor 1957 durch ihre agrargeschichtlichen Forschungen eine eigenständige Bedeutung hatten. Die zahlreichen Aktivitäten von Günther Franz beschränkten sich aber weitgehend auf die traditionellen Forschungsfelder. Bei seinen Nachfolgern reduzierte sich dies noch. Ein Kontakt oder die Aufnahme von Impulsen aus anderen Bereichen unterblieben weitgehend. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre hätte die Agrargeschichtsforschung weitgehend die Entwicklungsimpulse aus anderen Ländern aufnehmen können. Dies geschah jedoch nur teilweise. Dabei standen die Anregungen aus den USA, aus Großbritannien, aus Frankreich und aus den Niederlanden im Vordergrund. Wirtschaftswissenschaftliche, statistische und teilweise ebenfalls sozialgeschichtliche Untersuchungen profitierten hiervon, allerdings nicht in der VSWG, da dieses Metier Hermann Aubin möglicherweise verschlossen blieb, wohl unterstützt auch durch persönliche Aversionen gegenüber den bisher wirtschaftswissenschaftlich orientierten Agrarhistorikern. Solche Aversionen bestanden nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst offensichtlich auch gegen den soziologisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz seit dem Beginn der sechziger Jahre. Mit der Aufnahme Werner Conzes in das Herausgebergremium durch Wolfgang Zorn im Jahre 1979, d. h. lange Zeit nach dem Ausscheiden Aubins aus der Herausgeberschaft für die VSWG, änderten sich zwar die Rahmenbedingungen, zumal Conze sich bis 1945 und teilweise darüber hinaus mit ländlichen Sozialproblemen beschäftigt hatte. Aus der Conze-Schule ist im Hinblick auf die Agrargeschichte insbesondere Wolfgang von Hippel mit seinem grundlegenden und umfangreichen Werk über die Bauernbefreiung in Württemberg zu nennen.61 Mit agrargeschichtlichen Arbeiten hat sich Conze nach seiner erneuten Einfügung in die wissenschaftliche Tätigkeit an einer Universität 1957 nicht mehr selbst grundlegend beschäftigt. Übrigens hatte sich auch Aubin aufbauend auf seinen Forschungen zur rheinischen Verfassungsgeschichte62 bemüht, die rheinische Agrargeschichte in seinem Werk „Geschichte des Rheinlandes von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart“ dem damaligen Forschungsstand entsprechend einzubinden.63 Der wirtschaftsgeschichtliche Aspekt fiel gegenüber dem verfassungsgeschichtlichen und teilweise auch gegenüber dem sozialgeschichtlichen Aspekt zurückhaltend aus. Eine Präsentation agrargeschichtlicher Abhandlungen in der VSWG wurde dadurch nicht begünstigt. Die in die VSWG aufgenommenen Aufsätze und die in die Beihefte aufgenommenen Manuskripte spiegeln die genannten unterschiedlichen Ansätze im zeitlichen Ablauf nur teilweise wider, da die Interessen der Herausgeber und die Schwerpunkte der angesprochenen Kollegen der Geschichtswissenschaft wichtig waren. In den 61 Wolfgang von Hippel: Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg. Band 1: Darstellung, Band 2: Quellen (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 1). Boppard am Rhein 1977. 62 Hermann Aubin: Die Entstehung der Landeshoheit. Bonn 1920. 63 Essen 1922.

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ersten Jahren waren die Beiträge vor allem noch häufig rechtshistorisch geprägt, entsprechend der Studienausrichtung der Historiker und der Wirtschaftswissenschaftler. Diejenigen, die stark wirtschaftswissenschaftlich orientiert waren, wie Johannes E. Conrad, sind in den ersten Bänden bis zum Tode Conrads 1915 nicht mit Aufsätzen zu finden.64 Typisch ist, dass z. B. von Carl Brinkmann ein Aufsatz über „Die ältesten Grundbücher von Novgorod in ihrer Bedeutung für die vergleichende Wirtschafts- und Rechtsgeschichte“ in Band 9 (1911) aufgenommen wurde und eine Besprechung seiner Arbeit „Wustrau. Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte eines brandenburgischen Rittergutes“ (1911) im Band 10 (1912). Danach sind nur noch eine Miszelle (1944), aber immerhin 106 Buchbesprechungen von 1913 bis 1953 zu finden, ein Zeichen dafür, dass Brinkmann weiterhin eng mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte verbunden war und sein wollte. Bücher agrargeschichtlichen Inhalts nahmen bei den Rezensionen jedoch keine zentrale Rolle ein.65 Die Agrargeschichte hatte vor allem unter dem Einfluss Hermann Aubins als Schriftleiter nach dem Tode von Belows im Jahre 1927 (als Alleinherausgeber ab 1933 bis 1967) offensichtlich nur geringe Chancen, mit Aufsätzen in die Zeitschrift und mit Manuskripten für die Beihefte aufgenommen zu werden. Günther Franz konnte 1933 einen Aufsatz zur Problematik des Bauernkrieges in der VSWG veröffentlichen, Lütge 1937 einen Aufsatz zu einem agrargeschichtlichen Thema für das Mittelalter. Weitere agrargeschichtliche Aufsätze wurden aber nicht veröffentlicht. Es erhebt sich natürlich die Frage, ob solche Aufsätze überhaupt angeboten oder ob angebotene Aufsätze nicht akzeptiert wurden. Dem Verfasser ist bekannt, dass sowohl in den dreißiger Jahren als auch nach 1945 bei bestimmten Personen ablehnend verfahren wurde. Ob dies Einzelfälle (mit möglicherweise persönlichen Aversionen) waren oder ob dahinter eine generelle Strategie stand, lässt sich wohl nicht mehr nachweisen, da für Aubin keine Notwendigkeit für schriftlich niedergelegte systematische Überlegungen bestand und den möglichen Autoren keine Begründungen für Ablehnungen mitgeteilt wurden. Aubins schriftliche Unterlagen aus der Zeit bis 1945 wurden in Breslau durch den Krieg 1945 vernichtet. Die späteren Unterlagen aus der Zeit nach 1945 zeigen nur die unter dem Einfluss der neuen Rahmenbedingungen schriftlich niedergelegten Gedanken. Im Ergebnis war die Agrargeschichte in der VSWG über Jahrzehnte wenig vertreten, ebenso die mit der ländlichen Gesellschaft verbundene Sozialgeschichte und die Ernährungsgeschichte. Wenn Otto Brunner (1898–1982) in seinem Nachruf für Hermann Aubin 1969 meinte, dass Aubin gegenüber dem Nationalsozialismus Distanz gewahrt habe,66 dann geschah dies offensichtlich aus der Erinnerung an eine gemeinsame Einbindung in das Bemühen von Historikern, die gerade mit der Ostexpansion der Nationalsozialisten in einem gewissen Gleichklang standen, letztlich 64 Johannes Conrad veröffentlichte ab 1900 offensichtlich keine historisch orientierten Manuskripte mehr. Er wurde aber auch nicht von den Herausgebern der VSGW als Rezensent umworben. 65 Möglicherweise bestanden zwischen dem in Tilsit geborenen Brinkmann und dem in Königsberg geborenen von Below mentale Beziehungen, die auch während ihrer Tätigkeit in Freiburg/ Breisgau und in Tübingen verstärkt wurden. Bemerkenswert ist immerhin, dass auch August Skalweit und Freiherr Theodor v. d. Goltz persönliche Beziehungen zu Ostpreußen hatten. 66 VSWG 56 (1969), S. 433.

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diese Ostexpansion wissenschaftlich abzusichern versuchten. Otto Brunner und Hermann Aubin gehörten dazu67 und mochten sich nach 1945 nicht mehr daran erinnern. In den Lebensläufen, Nachrufen und Laudationes vieler Historiker wurde nach 1945 die Zeit von 1933 bis 1945 ausgeblendet. Damit wurde ein wichtiger Teil der (agrar-) geschichtlichen Forschungserfordernisse gerade für diese Zeit nicht genannt. An Conzes neuen Weg ab 1957 knüpften zunächst ebenfalls die geschichtliche Forschung und die daraus erwachsende Literatur der sich herausbildenden Bielefelder Schule an, deren Forschungsergebnisse zum Teil ab 1972 in die Reihe „Kritische Studien zur Geschichte“ aufgenommen wurden.68 Die Krisen- und Konfliktforschung war weit verbreitet. Der Einfluss von Conze blieb auch, als Reinhart Koselleck (geb. 1923) nach und nach eine zentrale Rolle in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Bielefeld eingenommen hatte. Es ist daher verständlich, dass Jürgen Kocka, dessen wissenschaftlicher Lebensweg lange Zeit mit Bielefeld verbunden war, sich später gegenüber der Tätigkeit Conzes vor 1945 zurückhaltend äußerte.69 Man sollte da genauer zwischen dem unterscheiden, was war und was ist. In der Sache wird Conzes Verdienst um die neuen Anstöße nicht dadurch geschmälert, dass man auch seine unrühmliche Vergangenheit nicht verschweigt. In der genannten Reihe „Kritische Studien zur Geschichte“ wurden unter dem Einfluss Hans Rosenbergs (1904–1988) in einigen Bänden auch die aus der Landwirtschaft kommenden Einflüsse auf die politischen Verhältnisse herausgestellt, teilweise allerdings recht eng auf die politischen Grundlagen und Auswirkungen orientiert. Dabei wurde die Argumentation von einer tatsächlichen oder einer scheinbaren Theorie als Erklärungsweg, man kann teilweise auch sagen, von einer vorgefassten Meinung geprägt.70 Dies war zwar kein neuer Ansatz, wie die zeitgenössischen Äußerungen aus der Zeit von 1879 bis 1932 zeigen.71 Durch Rosenbergs Einfluss wurden aber diese Entwicklungsstränge mit grundsätzlich neuen Impulsen versehen. Die Umsetzung blieb allerdings hinter den Möglichkeiten zurück. Es wurde und wird über die politischen und wirtschaftlichen von außen kommenden Einflüs67 Burleigh, Germany Turns Eastwards (wie Anm. 32), S. 240. 68 Der erste Band dieser Reihe war eine Sammlung von Aufsätzen usw. von Wolfram Fischer: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze – Studien – Vorträge (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 1). Göttingen 1972. 69 Jürgen Kocka: Zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik. Ein Kommentar, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1999, S. 342 und passim. 70 Vgl. Hans-Jürgen Puhle: Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 16). Göttingen 1975, und von Hanna Schißler: Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 33). Göttingen 1978; vgl. auch Wolfram Pyta: Landwirtschaftliche Interessenpolitik im Deutschen Kaiserreich. Der Einfluss agrarischer Interessen auf die Neuordnung der Finanz- und Wirtschaftspolitik am Ende der 1870er Jahre am Beispiel von Rheinland und Westfalen (VSWG, Beiheft 97). Stuttgart 1991. 71 Vgl. z. B. das Literaturverzeichnis bei Karl Willy Hardach: Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 7). Berlin/München 1967.

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se hinaus zu wenig berücksichtigt, dass die auch dadurch bedingte innere wirtschaftliche Situation (Betriebe, Haushalte) einen erhebliche Einfluss auf die Mentalität und die Verhaltensweise der Menschen hatte.72 Verständlicherweise gab es hier Unterschiede bei den Lohnarbeitskräften und bei den Landwirtefamilien der unterschiedlichen Betriebsgrößen bzw. Einkommensgrößen. Man fühlte sich zwar als Erben von Rosenberg, hatte jedoch dessen vor dem Hintergrund seiner US-amerikanischen Veröffentlichungen und Arbeiten wichtige neue Impulse nur teilweise aufgenommen. Rosenberg vertiefte bei seinen Veröffentlichungen in den USA und später auch in Deutschland seine Erkenntnis, die er bei der Abfassung seines Lebenslaufs im Rahmen des Habilitationsverfahrens an der Universität zu Köln Ende 1932 folgendermaßen formulierte: „Die Einsicht in den untrennbaren Wirkungszusammenhang von Politik, Wirtschaft und Kultur“ ist „immer mehr zum historischen Elementargesetz geworden“. „Im Geiste dieses als wahr erkannten und konsequent zu verfolgenden Grundsatzes, der die Tendenz zur Querschnittsbetrachtung in sich trägt und von der Annahme ausgeht, dass man mit Gewinn nicht Wirtschaftsgeschichte ohne Wirtschaftstheorie, Geistesgeschichte ohne gründliche philosophische Schulung treiben kann, gedenke ich meine Forschungen fortzusetzen“.73 Der wirtschaftswissenschaftliche Aspekt fand aber bei den Forschungen Rosenbergs nach 1933 und auch bei den Forschungen in Bielefeld keine größere und ausreichende Beachtung. Die politische und die damit in Wechselwirkung stehende sozialwissenschaftliche Betrachtung standen im Vordergrund. Es war ein wichtiger, aber eben nur ein Aspekt der Agrargeschichte. Aufgrund der persönlichen Erfahrungen Rosenbergs in Deutschland, die zu seiner Emigration noch 1933 führten,74 und aufgrund der Rezeption der neuen Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft im anglo-amerikanischen Raum ergänzte und wandelte er diese Perspektiven: (1) Zeitlich weit zurückgreifend versuchte er, die späteren Entwicklungen aus ihren Entstehungszeiten zu analysieren. (2) Er benutzte verstärkt die Theorie in den Bereichen der Politik und der Gesellschaft, weniger der Wirtschaftswissenschaft als Mittel zum Erkenntnisgewinn. Beispielhaft sei hier seine Veröffentlichung aus dem Jahre 1958 genannt.75 Die in diesem Werk hervorgehobene enge Verbindung von Bürokratie und Adel traf jedoch mindestens für die ersten Jahrzehnte der angesprochenen Zeit nicht zu. 72 Vgl. z. B. die durchaus vergleichbare Situation im Zusammenhang mit der Agrarpolitik in der EU. 73 Universitätsarchiv Köln 197/833, Bl. 62 f.; vgl. auch Bernd Heimbüchel: Die neue Universität. Selbstverständnis – Idee und Verwirklichung, in: Senatskommission für die Geschichte der Universität zu Köln (Hg.): Kölner Universitätsgeschichte 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Köln/ Wien 1988, S. 503 f. Bei Heimbüchel heißt es „Wirtschaftshistorie“ statt „Wirtschaftstheorie“. „Wirtschaftsgeschichte“ und „Wirtschaftshistorie“ ist eine pleonastische Ausdrucksweise. Im Original wies Rosenberg auf die wichtige Basis der Theorie hin, was auch aus allen seinen Veröffentlichungen sichtbar wird. 74 Immerhin wurde noch 1934 eine Arbeit von Hans Rosenberg in den Beiheften der VSWG veröffentlicht: Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859 (VSWG, Beiheft 30). Stuttgart 1934, 2. Aufl. mit Vorbericht, Göttingen 1974. 75 Hans Rosenberg: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660– 1815. Cambridge (Mass.) 1958, 3. Aufl. 1968.

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Für das 19. Jahrhundert stellte Rosenberg dann die konservative und (rechts-) liberale Einstellung zahlreicher Personen in Politik und Interessenverbänden heraus. Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang sicher auch gewesen, einzubeziehen, in welchem Maße z. B. in Frankreich und in Großbritannien die Verhältnisse grundsätzlich anders waren. Immerhin waren die Vertreter der Interessen der Landwirtschaft und auch der nationalen Interessen in beiden Ländern wie in Deutschland in einem abgestuften Verfahren (Wahlrecht) in die verschiedenen Parlamente gewählt worden, und es gab einen gewissen Gleichklang dieser Interessen – allerdings teilweise in entscheidenden Punkten der nationalen Politik gegeneinander. Die außerparlamentarischen Einflussmöglichkeiten waren ebenfalls sehr unterschiedlich, was bei einer Berücksichtigung sicher dazu beigetragen hätte, die unterschiedlichen Wege zu erhellen. Man muss manche der Thesen und Ideen Rosenbergs schon erheblich ergänzen, um sie der Agrargeschichte umfangreich nutzbar zu machen. Sein wissenschaftliches Interesse war sehr breit gestreut. Die Agrargeschichte im engeren Sinne profitierte daher nur teilweise dauerhaft. Rosenbergs Untersuchungen zeigten, in welchem Maße agrarwirtschaftliche und damit eng verbundene Herrschaftsinteressen Ausstrahlungen hatten, die gerade in der Berührungszone zwischen Agrargeschichte und politischer Geschichte große Bedeutung hatten. Rosenberg war allerdings in den USA vor allem darauf ausgerichtet, die „Junker“ klischeehaft zu Verantwortlichen am Unglück Deutschlands ab 1933 zu deklarieren, weitgehend erklärt aus der Argumentation der Marxisten in der vorhergehenden Zeit. Der entscheidende Punkt, den er übersah, waren aber die Wahlergebnisse bis zum November 1932 und auch der daraus ersichtliche mentale Gleichklang der Nationalsozialisten mit vielen anderen Bevölkerungsgruppen bis hin zu vielen Historikern dieser Zeit. Und auch sonst waren die Junker weniger bedeutend als die demokratischen Parteien, deren Wirkungsmöglichkeiten allerdings daran scheiterten, dass sie nicht dauerhaft zueinander fanden, was ihren Zugang zu den Wählern schmälerte und damit den Übergang zum vom Reichspräsidenten abhängigen Kabinett von Heinrich Brüning (1885– 1970, Reichskanzler März 1930 bis Mai 1932) und zum „Kabinett der Barone“ unter Franz von Papen (1879–1969, Reichskanzler Juni bis November 1932) begünstigte. Die Aversionen weiter Teile der Bevölkerung und auch der demokratischen Parteien gegen den Staat der Weimarer Verfassung ergänzten sich. Die NSDAP entwickelte sich zu einer Volkspartei, d. h. zu einer Partei, die letztlich in allen Schichten der Bevölkerung eine Basis hatte, was ihre Wahlerfolge erklärt. Man kann die Schuld der Machtergreifung daher nicht auf eine kleine Gruppe verengen. Auf diese überzogene Anwendung der Modernisierungstheorie (Junker seien gegen den technischen Fortschritt in den landwirtschaftlichen Betrieben, gegen den freien Markt für Agrarprodukte außerhalb der Betriebe und gegen die uneingeschränkte Einführung der Demokratie gewesen) und auf die breite Basis der nationalistischen Politik und der Bereitschaft, den technischen Fortschritt aufzunehmen im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. auch bei den anderen selbständigen Landwirten (Bauern) wiesen vor allem Farr, Moeller und Eley hin.76 Eine Analyse der Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland ab 76 Jan Farr: ,Tradition‘ and the Peasantry. On the Modern Historiography of Rural Germany, in:

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1949, in anderen Ländern der Europäischen Union und schließlich der Europäischen Union selbst ab 1958 hätte im Übrigen deutlich gemacht, dass eine Fokussierung auf die „Junker“ dem Problemkreis nicht gerecht werden kann. Vom Lehrstuhl für Agrargeschichte in Hohenheim wurden die von der Bielefelder Schule ausgehenden Anregungen nicht aufgegriffen und dementsprechend auch nicht kritisch erörtert. Franz kam von der Geschichtswissenschaft. Er hat ein breites Interesses an vielen Teilbereichen der Agrargeschichte gezeigt,77 ohne alle auf die Agrargeschichte ausgerichteten Teilfelder abdecken zu können. Er nahm aber weder die von außen kommenden Anregungen der genannten Art auf noch konnte er sich in der Hohenheimer Hochschule Zugang zu den anderen Gebieten des landwirtschaftlichen Studienganges verschaffen. Die Ausgangsposition von Franz erlaubte dies offensichtlich nicht. So wurden unter seiner Obhut nur sechs Dissertationen verfasst, sie waren thematisch beengt.78 Sie wurden im Übrigen sämtlich nicht gedruckt, so dass sie für weitere wissenschaftliche Arbeiten nur schwer zugänglich sind. Auch die Nachfolger von Franz konnten dieses in Göttingen für Abel wichtige Terrain innerhalb der Agrarwissenschaften nicht gewinnen. Damit blieb der Agrargeschichte ein wichtiger Anknüpfungspunkt, nämlich die historische Dimension der volks- und betriebswirtschaftlichen, aber auch der naturwissenschaftlichen Fächer verschlossen. Das war eine grundsätzlich andere Situation als in Göttingen bei Wilhelm Abel.79 Es fehlte offensichtlich bei vielen Vertretern der aktuellen Fächer Aufgeschlossenheit für die historische Dimension ihres Arbeitsfeldes, wie der Verfasser dieser Zeilen bei seinen Bewerbungsgesprächen um den agrargeschichtlichen Lehrstuhl vor einem Vierteljahrhundert registrieren konnte. Die Aufnahme einer partiellen Symbiose zwischen Agrargeschichte und aktuellen Agrarwissenschaften, wie sie in Göttingen zu Abels Zeiten besonders fruchtbar war, hatte damit letztlich keine Chance. Eine Institutionalisierung agrargeschichtlicher Forschung kann fehlendes persönliches Interesse nicht ersetzen. Erst die Kombination beider kann die Agrargeschichte kompakter weiterführen. Dies zeigen zahlreiche Beispiele aus anderen Ländern. Auch die Veröffentlichungen aus der niederländischen „Landbouwhogeschool“ in Wageningen lassen trotz der Konzentration von Forschungen noch viele Richard J. Evans/William Robert Lee (Hg.): The German Peasantry. Conflict and Community in Rural Society from the Eighteenth to the Twentieth Centuries. New York 1986, S. 1–36; Robert G. Moeller: Introduction: Locating Peasants and Lords in Modern German Historiography, in: Robert G. Moeller (Hg.): Peasants and Lords in Modern Germany. Boston 1986, S. 1– 23, hier 14–17; Geoff Eley: Antisemitismus, agrarische Mobilisierung und die Krise der Deutschkonservativen Partei. Radikalismus und seine Eindämmung bei der Gründung des Bundes der Landwirte, 1892–1893, in: Geoff Eley: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland. Münster 1991, S. 174–208, hier insbesondere 178. 77 Eine kurze Darstellung der zahlreichen Bemühungen von Günther Franz in Hohenheim brachte die ZAA zu seinem 70. Geburtstag, vgl. ZAA 20 (1972), S. 1 f. 78 Fünf Arbeiten bezogen sich nur auf Württemberg oder Hohenlohe (Jürgen Schramm, 1963; Klaus Lang, 1970; Peter Steinle, 1971; Gustav Adolf Thumm, 1971; Robert Kreidler, 1972). Eine weitere Arbeit griff über Württemberg hinaus: Martin Haushofer, 1970. 79 Vgl. die bei Abel abgeschlossenen Dissertationen in: Bog u. a. (Hg.), Wirtschaftliche und soziale Strukturen (wie Anm. 46), S. 811–867.

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Wünsche offen und müssen sie offen lassen.80 Das umfangreiche, acht Bände umfassende Sammelwerk, das in Großbritannien unter der Obhut von Joan Thirks von 1972 bis 1991 entstand, zeigt, in welchem auch personell breit aufgefächerten Maße dort agrargeschichtliche Forschung betrieben wurde und wird.81 Zu erwähnen sind auch die landwirtschaftlichen Museen in Budapest und in Prag, die zentrale Stellen der agrargeschichtlichen Forschung waren und sind.82 Die Begrenzungen in Deutschland hatten mehrere Gründe: (1) Die Lehrstuhlinhaber der verschiedenen Zweige der Geschichtswissenschaft in Deutschland konnten und können ihre Forschungsschwerpunkte selbst auswählen (Freiheit der Wissenschaft). Nur wenige haben sich dabei der Agrargeschichte zugewandt, teilweise aufgrund der traditionellen Ausrichtung des jeweiligen Lehrstuhls vor allem auf die Lehre für nichtagrargeschichtliche Studiengänge, teilweise aus persönlichen Interessen, teilweise aber auch aufgrund der geringen Vertrautheit mit den Rahmenbedingungen der agrargeschichtlichen Verhältnisse. (2) Es gab zu wenig jüngere Wissenschaftler, die bereit waren und sind, sich einem Wissenschaftszweig zuzuwenden, dessen Berufsaussichten gering sind. So scheiterte z. B. der Versuch Lütges, einen Teilbereich, nämlich die regionale Akzentuierung der Agrarverfassung durch mehrere Untersuchungen erforschen zu lassen, daran, dass es letztlich an einer entsprechenden Zahl regional interessierter und geeigneter Forscher fehlte.83 Im Grunde wurde damit deutlich, dass die Agrargeschichte auch von Zufällen in der Personalausstattung abhängig war, ist und sein wird. Nicht nur die Finanzierung bewirkte Engpässe, sondern auch die Gewinnung geeigneter und interessierter Personen. Dies sollte man allerdings nicht negativ sehen, denn eine wissenschaftliche Tätigkeit lässt sich nicht erzwingen. Wie eng der personelle Rahmen in der agrargeschichtlichen Forschung ist, ergibt sich allein daraus, dass es vor gut zehn Jahren sehr schwierig war, für die Übersichtsdarstellungen in der beim Ulmer-Verlag herauskommenden Reihe zur „Deutschen Agrargeschichte“ Autoren zu finden.84 Ab 1990 wurden auch die in der DDR entwickelten Forschungsziele der Agrargeschichte übernommen, wenn auch variiert. Sie waren bis 1990 stark ideologisch ausgerichtet. Hier war vor allem das Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften in Berlin zentral für die Forschung tätig. Nur wenige Universitätsprofessoren haben wie Gerhard Heitz in Rostock, nicht zuletzt aufgrund der Stellung in der SED, einen eigenen Schwerpunkt bilden können. Die sachlichen Schwerpunkte waren zunächst durch den Marxismus-Leninismus-Stalinismus geprägt. Dabei kam es vor allem auf eine scheinwissenschaftliche Unterstützung des 80 Vgl. vor allem die Reihe A.A.G. (Afdeling Agrarische Geschiedenis) Landbouwhogeschool, Band 1. Wageningen 1958 ff. (derzeit bis Band 41, 2002). 81 Joan Thirsk (Hg.): The Agrarian History of England and Wales, Band 1 bis 8. Cambridge 1972 bis 1991. 82 Vgl. die zahlreichen Veröffentlichungen beider Einrichtungen. 83 Vgl. dazu Knut Borchardt, Friedrich Lütge, in: Abel u. a. (Hg.), Wirtschaft (wie Anm. 46), S. 7. 84 Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Die neue deutsche Agrargeschichte, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1994. München 1995, S. 17– 21.

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angeblich zwangsweise vorgegebenen Weges zur und der Entstehung der sozialistischen Landwirtschaft an. Einige Arbeiten griffen weiter in das 19. und in das 18. Jahrhundert zurück, im Grunde um die „feudalistische“ und die sich daraus entwickelnde „kapitalistische“ Landwirtschaft als Fundamente der Gesellschaftsordnungen herauszuarbeiten, die ab 1945 beseitigt worden waren.85 Die „Produktionsverhältnisse“, d. h. die „objektiven Verhältnisse oder Beziehungen, die die Menschen untereinander notwendigerweise im Prozess der Produktion, des Austausches und der Verteilung der materiellen Güter eingehen“,86 spielten eine zentrale Rolle, ohne dass allerdings auf die wirklichen wirtschaftlichen Bedingungen kritisch eingegangen wurde, was sich dann auch in der (Nicht-)Lösung der Probleme der Landwirtschaft in der Schlussphase der DDR zeigte. Dabei wurde vor allem nicht berücksichtigt, dass die Entwicklung bereits bis 1945 über diese sogenannten Stadien, wenn man sie denn ernst nehmen will, hinweggegangen war. Viele Arbeiten waren auf subtilen Archivstudien aufgebaut87 und boten, wenn man den ideologischen Schleier ignoriert, durchaus die Basis für eine Diskussion im internationalen Bereich. Bemerkenswert war aber auch die Vernichtung zahlreicher Gutsarchive und Grundbuchakten, d. h. gerade auch für die ideologisch geprägten Fragestellungen der Agrargeschichte in der DDR wichtiger Quellen. Nach der Auflösung der Forschungsorganisation des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften blieb immerhin die Arbeitsgruppe von Jan Peters unter der Obhut des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen,88 das sich bis dahin allenfalls sporadisch und zufällig durch Ankündigungen einiger Mitarbeiter mit Beiträgen zur Agrargeschichte der Neuzeit vorgestellt hatte.89 Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte hat nach der Neuorientierung in den neunziger Jahren zwar auch agrargeschichtliche Arbeiten aufgenommen, verständ-

85 Zur Ausrichtung und zu den Aufgaben der agrargeschichtlichen Forschung in den sechziger Jahren in der DDR vgl. Gerhard Heitz u. a.: Forschungen zur Agrargeschichte, in: Historische Forschungen in der DDR 1960–1970, Analysen und Berichte. Zum XIII. Internationalen Historikerkongress in Moskau 1970 (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18 (1970), Sonderband). Berlin 1970, S. 121–146. 86 Ökonomisches Lexikon L–Z. Berlin 1967, S. 450. 87 Vgl. z. B. Hans-Heinrich Müller: Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. Potsdam 1967; Hartmut Harnisch: Die Herrschaft Boitzenburg. Untersuchungen zur Entwicklung der sozialökonomischen Struktur ländlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam 6). Weimar 1968. 88 Arbeitsgruppe „Ostelbische Gutsherrschaft als sozialgeschichtliches Phänomen“, der Universität Potsdam angeschlossen. 89 Vgl. die verschiedenen Ankündigungen des zeitweiligen Mitarbeiters des Max-Planck-Instituts Bernd Ristau, die dann lediglich in der Erarbeitung von zwei Veröffentlichungen zur ostpreußischen Landschaft in den Jahrzehnten um 1800 führten: Berd Ristau: Die Anfänge der landwirtschaftlichen Kreditanstalt in Ostpreußen im späten 18. Jahrhundert: Die sozioökonomischen und politischen Voraussetzungen und Verhandlungen zur Einrichtung der ostpreußischen Landschaft und ihre Gründung im Jahre 1788. Göttingen 1976; und zehn Jahre später ders.: Das landwirtschaftliche Kreditwesen Preußens 1770 bis 1830 und seine Auswirkungen auf den adligen Grundbesitz, unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Ostpreußen und dort des Kreises Osterode. 2 Teile. Göttingen 1986.

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licherweise ohne hier einen Schwerpunkt zu bilden und damit den anderen Veröffentlichungen wirkliche Konkurrenz zu machen. Die im Grunde für die Bundesrepublik vor 1990 und nach 1990 zu findende punktuelle und nicht flächendeckende Forschungssituation lässt sich allenfalls durch Übersichtsdarstellungen, d. h. Lehrbücher, teilweise ausgleichen, nicht aber ersetzen. Mindestens können dadurch die „Forschungslücken“ deutlich gemacht werden. Dies sind aber keine wirklichen Forschungslücken, denn man kann niemals das gesamte Gebiet der Agrargeschichte abdecken. Es wird immer sogenannte Lükken geben. Hinzu kommen immer wieder neue Anforderungen, nicht zuletzt aus den Anregungen, die aus den Innovationen in den Nachbarwissenschaften stammen. Die Agrargeschichte lässt sich nicht strikt abgrenzen. Die Impulse aus Nachbarwissenschaften sind immer wieder eine Bereicherung und Ansatzpunkte für eine Erweiterung und Vertiefung.90 Dies hat zudem den Vorteil, dass sich viele Wissenschaftler der Agrargeschichte nähern können, auch wenn die Äußerungen und Bewertungen dann manchmal nicht akzeptiert werden können. So berücksichtigte z. B. Rosenberg bei seiner Kritik an der Forschungsrichtung von Lütge nicht,91 dass Lütge einen anderen Ansatz als er, Rosenberg, hatte und dass Lütge im Raster der verschiedenen Bände der Agrargeschichte Abgrenzungsprobleme vor allem zu dem von Günther Franz herausgegebenen Band beachten musste, ohne die genaue Struktur des Manuskriptes von Franz zu kennen, da der Band von Günther Franz erst acht Jahre nach dem Band von Lütge herauskam.92 Als Lütge sein Manuskript 1962, vermutlich sogar schon 1961 abgeschlossen hat, hatte Franz den anderen Autoren Lütge und Abel noch kein über allgemeine Bemerkungen hinausgehendes Konzept vorgelegt.93 Außerdem konnte Lütge noch nicht die in den sechziger und dann in den siebziger Jahren aufkommenden und rezipierten sozialwissenschaftlichen Gedanken aufnehmen. Wissenschaft ist ein vielschichtiger Prozess. Jeder steht mit seinen speziellen Fundamenten und Ausrichtungen in einem Raster von Personen und Ideen. Keiner kann die ganze Breite der erforderlichen Teilaspekte erforschen und bewältigen. Dies sollten auch die Wissenschaftler untereinander bedenken, wenn sie die Arbeiten der Kollegen kritisch berücksichtigen. Die Perspektiven für die Zukunft liegen vor allem in der Bereitschaft, neue Impulse von außen aufzunehmen und den Bestand an Entwicklungssträngen kritisch fortzuführen. Die Agrargeschichte ist wesentlich mehr als ein Spezialfach der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Eine Vielfalt von Wissenschaftszweigen ist in der 90 Zu dem breiten Spektrum der Agrargeschichte und die engen Verbindungen zu Nachbarwissenschaften vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Agrargeschichte: Ziele, Methoden, Forschungsansätze. Forderungen der Forschung an die Archivare, in: Landwirtschaft und Bergbau. Zur Überlieferung der Quellen in rheinischen Archiven (Landschaftsverband Rheinland, Archivberatungsstelle, Archivhefte 29). Köln 1996, S. 9–22. 91 Hans Rosenberg: Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: Hans Rosenberg: Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Göttingen 1978, S. 118–149. 92 Franz, Geschichte (wie Anm. 56). 93 Mündliche Äußerung von Wilhelm Abel gegenüber dem Verfasser.

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Vergangenheit Teil der Agrargeschichte gewesen oder hat ihr zugearbeitet, so wie die Agrargeschichte auch Hilfswissenschaft für zahlreiche andere Wissenschaftszweige war und ist. Das interdisziplinäre Element hat in der Agrargeschichtsforschung immer große Bedeutung gehabt. Mit der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Umfeldes wird es auch für die agrargeschichtliche Forschung neue Fragestellungen und damit zusätzliche Aufgabenfelder geben. Achilles geht davon aus, dass die drei wichtigsten Forschungsbereiche der Agrargeschichte folgendermaßen zu sehen sind: (1) „Der wirtschaftende Mensch mit seiner politischen und sozialen Stellung“. (2) Die von Menschen angewendeten Produktionsverfahren, d. h. die Gestaltung der Produktion. (3) „Das Ausmaß, in dem sie“, d. h. die Produktionsverfahren, „dem ökonomischen Grundprinzip entsprechen“.94 In dieser Zusammenstellung kommt zum Ausdruck, wie vielgestaltig die Agrargeschichte ist. Dabei standen folgende Ausrichtungen der Forschung im Vordergrund: (1) Die allgemeine Wirtschaftswissenschaft, auch im Hinblick auf die der Landwirtschaft in Stadt und Land benachbarten Wirtschaftszweige. (2) Die verschiedenen Zweige der Landbauwissenschaft, teilweise mit einem starken naturwissenschaftlichen Einschlag. (3) Die Soziologie oder allgemein die Sozialwissenschaften. (4) Die Politikwissenschaft im Hinblick auf die Wechselbeziehungen zwischen den in der Landwirtschaft lebenden Menschen und den politisch entscheidenden Personen und Institutionen. (5) Naturwissenschaften und andere Wissenschaftszweige.95 Blickt man bei der Aufzählung der mit der Agrargeschichte eng verbundenen Wissenschaftszweige auf die einzelnen Bereiche, dann wären die Demographie, die Gewerbegeschichte in Stadt und Land, die Verkehrs- und Handelsgeschichte, die Handelspolitikgeschichte zu nennen, ferner die Geschichte des Verbrauchs und der quantitativen und der qualitativen Versorgung, der politischen Geschichte, der Geschichte der Naturwissenschaften wie Agrikulturchemie, Botanik, Zoologie bzw. Pflanzenzüchtung und Tierzüchtung, aber auch Mikrobiologie, der technischen Entwicklung usw. Eng damit im Zusammenhang stand auch die Erforschung der Umweltprobleme. Hierbei handelt es sich um einen Bereich, der bereits seit langer Zeit problematisiert, aber letztlich nicht oder kaum akzeptiert worden ist. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich die Akzente und die Forschungsfelder im Laufe der Zeit gewandelt, vor allem aber erweitert haben. Damit wurde das Spektrum der agrarwissenschaftlichen Forschungen auch parallel zur allgemeinen Entwicklung in der Geschichtswissenschaft und den für die Agrargeschichte wichtigen Nachbarwissenschaften ausgedehnt. Dies bedingt verständlicherweise auch, dass eine vollständige Abdeckung des Rasters der gewünschten Forschungen nicht ausgefüllt werden kann. Das Raster ist zu ausgedehnt und es unterliegt fortwährenden Änderungen vor allem in Anpassung an neue Betrachtungsmuster und an neue Theorien in den benachbarten Wissenschaftszweigen, die man wie die Soziologie oder die Anthropologie erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allmählich rezipierte. Die anthropologische Ausrichtung ist bisher in der 94 Walter Achilles: Agrargeschichte, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft 1. Stuttgart 1977, S. 66–87. 95 Henning, Forschung (wie Anm. 60), S. 75–80; Henning, Agrargeschichte (wie Anm. 90), S. 14– 19.

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Agrargeschichte nur in Ansätzen zu finden, obgleich der anthropologische Ansatz in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bereits bald nach dem Zweiten Weltkrieg eine beachtliche Stellung hatte, vor allem in den Veröffentlichungen von Alfred Müller-Armack (1901–1978) und Gerhard Weisser (1898–1989). Zusätzliche Impulse erhielt diese Forschungsrichtung in fast allen Wissenschaftsbereichen durch die Arbeiten des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner (1892–1985).96 Scheinbar eine neue Ausrichtung war in den letzten Jahren die Alltagsgeschichte. Diese war auch schon vorher betrieben worden, ohne dass allerdings dieser Name verwendet wurde. Dabei spielen die (quantitative und qualitative) Ernährung und der Verbraucherschutz, die Hauswirtschaft und der Weinbau, aber auch viele andere Bereiche eine wichtige ergänzende Rolle. Die Siedlungsgeschichte stand im 20. Jahrhundert und steht heute in enger Verbindung mit der Wirtschaftsgeographie,97 allerdings ohne die nationalistische Komponente wie bis 1945. Seit etwa vierzig Jahren erhielt die ländliche Sozialgeschichte neue Dimensionen, da durch die Konzentration der Landnutzung vor allem die Zahl der Klein- und Mittelbauern, aber auch die der Landarbeiter und der mithelfenden Familienangehörigen ständig zurückging und gleichzeitig mit der Individualmotorisierung die Zahl der nicht mit der Landwirtschaft verbundenen Menschen in den Dörfern zunahm. Bereits mit dem ländlichen Verlagswesen kam es seit dem ausgehenden Mittelalter (hauptsächlich im Textil- und im Metallgewerbe) zur Einschränkung der Landwirtschaft als zentralem Wirtschaftsfaktor.98 Durch die Industrialisierung erweiterten sich hier die Möglichkeiten, wie z. B. im Saarland und in den rheinischen und mitteldeutschen Braunkohledörfern. In zahlreichen Kleinbauerndörfern der Realteilungsgebiete kam es zu Änderungen der dörflichen Sozialstruktur auch dann, wenn diesen Dörfern keine Industriestandorte unmittelbar benachbart waren.99 Zu Fuß oder seit dem beginnenden 20. Jahrhundert auch mit dem Fahrrad konnte man über einige Kilometer zur Arbeit fahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Flüchtlinge und Vertriebene in die Dörfer, später ab den sechziger Jahren des 96 Vgl. Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie. Frankfurt a. M. 1970; ders.: Diesseits der Utopie. Frankfurt a. M. 1974. In der (Wirtschafts-) Geographie hatte die Anthropologie immerhin bereits 1882 Eingang gefunden, vgl. Friedrich Ratzel: Anthropogeographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte. 2 Bände. Leipzig 1882/1891, 3. Aufl., Stuttgart 1909/1912. 97 Allgemein zur Verbindung von Agrargeschichte und Wirtschaftsgeographie vgl. Erich Otremba: Allgemeine Agrar- und Industriegeographie, in: Rudolf Lütgens (Hg.): Erde und Wirtschaft. Ein Handbuch der allgemeinen Wirtschaftsgeographie, Band 3. 2. Aufl., Stuttgart 1960, S. 25– 242. 98 Für die Grafschaft Mark im 18. Jahrhundert vgl. Gisela Lange: Das ländliche Gewerbe in der Grafschaft Mark am Vorabend der Industrialisierung (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte, N.F. 28). Köln 1975; für das vor allem durch das ländliche Textilgewerbe geprägte Verlagswesen in der Grafschaft Ravensberg vgl. Josef Mooser: Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64). Göttingen 1984; vgl. auch Planck/Ziche, Land- und Agrarsoziologie (wie Anm. 50), S. 81–85. 99 Vgl. z. B. Gottlieb Schnapper-Arndt: Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung über Kleinbauerntum, Hausindustrie und Volksleben (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen IV, 2). Leipzig 1883.

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20. Jahrhunderts wurden zusätzlich Wohnplätze in den Dörfern geschaffen. Man konnte hier preisgünstiger wohnen als in der Nähe des Arbeitsplatzes in der Stadt. Motorräder in den fünfziger und sechziger Jahren, dann in der Übergangszeit vom Ende der fünfziger bis zum Ende der sechziger Jahre auch Kleinstwagen (Gogomobil usw.) waren der Beginn einer Individualmotorisierung, die es erlaubte, kostengünstiger zu wohnen und unabhängig vom öffentlichen Personennahverkehr einen städtischen Arbeitsplatz zu erreichen. Die Ernährungswissenschaft konnte in ihrer historischen Forschung entscheidende Anregungen aus dem großen Kreis der sich mit aktuellen Ernährungsproblemen beschäftigenden Wissenschaftler erhalten, zumal da diese teilweise bei ihren Forschungen und vor allem Veröffentlichungen auf die Vergangenheit und die darauf basierenden Probleme der Gegenwart zurückgreifen. Unter den Historikern war bisher vor allem Hans Jürgen Teuteberg mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen, teilweise zusammen mit dem ebenfalls in Münster wissenschaftlich beheimateten Volkskundler Günter Wiegelmann, von zentraler Bedeutung.100 Gerade hier zeigt sich, dass das persönliche Interesse eines vor allem von der Sozialgeschichte kommenden Wissenschaftlers die Forschung mit vielen neuen Ideen befruchtet. Es bleibt abzuwarten, ob sich Personen finden, die diese Verbindung von Volkskunde, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und Ernährungsgeschichte fortsetzen, und zwar über den Schwerpunkt der Arbeiten von Teuteberg und Wiegelmann im Zeitalter der Industrialisierung hinaus. Auch hier wurde aber deutlich, dass viele Historiker, auch Agrarhistoriker sich kaum noch über das 19. Jahrhundert hinaus zurückwagen. Das 20. Jahrhundert und der Bezug zur Gegenwart mit den gerade im Ernährungsbereich anstehenden Problemen wird da schon eher als Forschungsgegenstand bevorzugt. Gerade die Verringerung der körperlichen Beanspruchung in einer durch zunehmenden Einsatz von Technik geprägten Arbeitswelt brachte einen Wandel in den Ernährungserfordernissen von einer quantitativen Versorgung bei schwerer körperlicher Arbeit zu einer qualitativen aber nicht zu reichlichen Versorgung bei zurückgehender körperlicher Beanspruchung. Dazu gehört auch das Problem des Ersatzes der körperlichen Beanspruchung in der Arbeitswelt durch eine entsprechende Gestaltung der Freizeit (Joggen usw.), aber auch das Problem der inzwischen weltweiten Unterversorgung eines großen Teiles der Bevölkerung. Die Ernährungsgeschichte reicht damit weit in das tägliche Leben hinein. Im Grunde gibt es hier drei Problemkreise: (1) Die von dem einzelnen Verbraucher ausgehende Forderung nach Qualität der Nahrungsgüter, nach einer entsprechenden Vorinformation durch staatliche Stellen, durch die Medien und auch durch die Mediziner. (2) Die bewusste oder unbewusste Belastung der Nahrungsgüter auf dem Weg vom Produzenten zum Verbraucher. (3) Die generelle Versorgung einer wachsenden Bevölkerungszahl weltweit und in den einzelnen Ländern bei möglicherweise nur begrenzter Produktionsmöglichkeit. 100 Hans Jürgen Teuteberg/Günter Wiegelmann: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert 3). Göttingen 1972. Beide Autoren haben noch an den Universitäten in Hamburg und in Mainz die Manuskripte erarbeitet.

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Hier zeigte sich Ende des 19. Jahrhunderts, dass der Chilesalpeter nur noch begrenzt zur Verfügung stand. Dies war einerseits der Anreiz für die chemische Industrie, andere Stickstoffquellen nutzbar zu machen. Es war der Weg zum Kalkstickstoff und zur Haber-Bosch-Synthese. Man machte sich aber auch andererseits im Bereich der Verbände und der staatlichen Verwaltungen Gedanken. Diese mündeten auf Anregung des US-Amerikaners David Lubin (1849–1919) 1905 in die Gründung des „Institut International d’Agriculture“. 46 Länder beteiligten sich an dem Institut. Da ein großer Teil der Welt noch in kolonialem Zustand war, wurde damit der überwiegende Teil der Erde (und der Menschheit) erfasst. Das Institut veröffentlichte Monatshefte zur landwirtschaftlichen Statistik, über allgemeine landwirtschaftliche Probleme, insbesondere auch über Pflanzenkrankheiten und schließlich zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Diese Veröffentlichungen sind bisher für die agrar- und ernährungsgeschichtliche Forschung praktisch nicht erschlossen worden. Die Untersuchungen, die Anregungen und die Folgen der Tätigkeit dieses Instituts, das 1945 in die auf Initiative der USA gegründete FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) eingefügt wurde, blieben bisher weitgehend isoliert. Vor allem wurden auch die Ursprünge der Entstehung der FAO bislang nicht systematisch untersucht. Die 44 Staaten, die sich im August 1943 zu einem Abkommen in Hot Springs zusammenfanden, gingen davon aus, dass die Unterversorgung während des Krieges nur durch systematische Ausdehnung der landwirtschaftlichen Erzeugung beseitigt werden kann.101 Die FAO bemühte sich, die Hungersnöte in der Welt zu bekämpfen. Eine kritische und systematische Untersuchung ihrer Aufgabenwahrnehmung, insbesondere ihres Erfolges, liegt bisher nicht vor. Die Industrieländer hatten seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine Unterversorgung mit Nahrungsgütern nur noch in Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren zu verzeichnen. Da sie zum überwiegenden Teil ihre eigene Landwirtschaft durch Schutzzölle abschirmten, sich aber auf dem wachsenden Weltagrarmarkt die erforderlichen Nahrungsgüter verschaffen konnten, wurde die Versorgung in zahlreichen Kolonien und schließlich auch in den Entwicklungsländern ein besonderes Problem.102 Neben die Versorgung der verschiedenen Regionen und Länder mit Nahrungsmitteln tritt seit einiger Zeit die Problematik der Qualität der Nahrungsgüter, begünstigt durch die wachsende Unsicherheit bei der Produktion und Verarbeitung der Nahrungsgüter unter dem Einfluss der Verwendung von chemischen Produkten und genetischen Veränderungen. Hinzu kommen Probleme des Umweltschutzes und des daraus resultierenden Naturschutzes. Einen „Generalfahrplan“ für die weiteren Forschungen in Deutschland gibt es nicht und kann es nicht geben. Dies hat mehrere Gründe: Engpässe werden immer wieder bei den personellen Ressourcen auftreten. Die Agrargeschichte ist insge101 Zu den internationalen Vereinbarungen wie dem Weizen- und dem Zuckerabkommen und den verschiedenen internationalen Organisationen, die die Landwirtschaft, die Nahrungsgüterversorgung und die Agrarmärkte vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflussten vgl. Wilhelm Abel: Agrarpolitik (Grundriss der Sozialwissenschaft 11). 2. Aufl., Göttingen 1958, S. 94. 102 Vgl. Peter von Blanckenburg: Soll und Haben in der Welternährung, in: Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft 16 (1977), S. 342–359, hier 351.

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samt in Deutschland zu wenig an den wichtigsten Forschungsstätten, nämlich den wissenschaftlichen Hochschulen, besonders in den landwirtschaftlichen Fakultäten, vertreten. Das persönliche Interesse der einzelnen Forscher trägt in vielen Fällen dazu bei, dass jeweils nur ein Mosaikstein herausgegriffen wird, ohne dass eine flächendeckende Forschungslandschaft entsteht. Im Übrigen kommen mit der Entwicklung der Agrargeschichte und der Ernährungsgeschichte auch gerade unter dem Gesichtspunkt des stärkeren Umwelt- und Gesundheitsbewusstseins, aber auch der sozialen und der weltwirtschaftlichen Probleme neue Akzente und neue Teilbereiche in die Agrargeschichte. Die Veröffentlichungen über die „Agrargeschichte an den deutschen Universitäten“ 1999103 und über „Die Stellung der Agrargeschichte in Forschung und Lehre“ 2000104 haben eigentlich die desolate gegenwärtige Stellung und die geringe Aussicht für diesen Wissenschaftszweig erneut deutlich gemacht,105 denn keiner der Beiträge hat eine zukunftsweisende Äußerung enthalten, weder personell noch sachlich. Hinter diesen beiden Aktionen steckte offensichtlich das Bemühen, zu zeigen, dass die Agrargeschichte durchaus noch betrieben wird. Leider genügen solche Aktionen nicht, wenn nicht Personen konkret motiviert werden. In die gleiche Richtung, allerdings auch Anregungen enthaltend, gehen drei Veröffentlichungen von Dipper, Rösener und Zimmermann aus den neunziger Jahren.106 Meistens werden wichtige Einzelbereiche der Agrargeschichte oder der für die Agrargeschichte wichtigen Aspekte benachbarter Wissenschaftszweige angesprochen, ohne dass man aber über diesen engen Bereich hinaus Verbindungen innerhalb des Gesamtgeflechts der Agrargeschichte herausarbeitet. Dies gilt insbesondere für die wirtschaftlichen Verhältnisse der ländlichen Bevölkerung. Es gab und es gibt zahlreiche Arbeiten, die verständlicherweise nur einen schmalen Grat betreten, denen aber häufig der Blick zu den Nachbarbereichen fehlt. Dies ist das Schicksal der meisten Forscher, auch in anderen Disziplinen. Auch ein zeitweise umfassendes Programm wie bei Wilhelm Abel in Göttingen muss viele Aspekte unberührt lassen. Es bleibt letztlich dem Interesse junger Forscher vorbehalten, die agrargeschichtliche Forschung in die eine oder die andere Richtung vorwärts zu treiben. Vorschläge dazu zu machen oder ein größeres Programm aufzustellen, ist bei der Enge der einsetzbaren personellen und sachlichen Mittel und bei der verständlichen Orientierung nicht hilfreich. Auch Lehrveranstaltungen zu agrargeschichtlichen Themen waren schon über lange Zeit des 20. Jahrhunderts nicht häufig zu finden. Sie sind inzwischen selten geworden.107 Die Forschungen sind ebenfalls selten geworden, was sowohl isolier103 104 105 106

ZAA 47 (1999), S. 111 ff. Wie Anm. 49. Vgl. zu dieser Problematik Henning, Forschung (wie Anm. 60), S. 72–80. Christof Dipper: Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußisch-deutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 38 (1993), S. 29–42; Werner Rösener: Einführung in die Agrargeschichte. Darmstadt 1997; Clemens Zimmermann: Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte, in: Werner Troßbach/Clemens Zimmer (Hg.): Agrargeschichte – Positionen und Perspektiven. Stuttgart 1998, S. 137–163; vgl. auch die anderen Beiträge in dem zuletzt genannten Sammelband. 107 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten.

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te agrargeschichtliche Themen betrifft als auch die Bestandteile anderer Untersuchungen. Dies liegt teilweise auch daran, dass junge Wissenschaftler sich kaum noch über den politisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz hinaus mit den vielfältigen Feldern der Agrargeschichte beschäftigen können, da sie meistens von der Geschichtswissenschaft, allenfalls noch von den Wirtschaftswissenschaften kommen. Die Vertrautheit mit landwirtschaftlichen und ländlichen Problemen nimmt parallel zur Verminderung der Bedeutung der Landwirtschaft und des ländlich-dörflichen Milieus immer mehr ab.

Gerhard Fouquet STADTWIRTSCHAFT: HANDWERK UND GEWERBE IM MITTELALTER I. Voraussetzungen: Städtische Wirtschaft Um die Mitte des 13. Jahrhunderts hatte sich die okzidentale Stadt ausgebildet. Der Entwicklungsprozess war langfristig und regional höchst differenziert verlaufen, auch mit charakteristischen Entwicklungsunterschieden. Innerhalb des um 1100 durch die Kommunebewegung ausgeformten ‚Stadtgürtels‘ von Mittelitalien bis Südengland entstanden im Süden Europas städtisch-gemeindliche, durch Magistrate gekennzeichnete und durch spezifische Wirtschaftsformen vom Land abgehobene Verfasstheiten ca. ein Jahrhundert vor dem Raum nördlich der Alpen, der Westen des Kontinents hatte ungefähr etwas mehr als ein halbes Säkulum Vorsprung vor dem Osten und Norden. Selbst auf engstem Raum konnten die Uhren der Stadtund Wirtschaftsentwicklung sehr unterschiedlich gehen: Flandern war neben Oberitalien bereits im 13. Jahrhundert einer der am stärksten urbanisierten Räume Europas, die Nachbarregionen Brabant, Holland und der Niederrhein dagegen vollzogen diese Entwicklung ungefähr ein Jahrhundert zeitversetzt, dann freilich mit stürmischen Schritten. Das in der Realität nicht hermetisch „geschlossene“ System der Wirtschaftseinheit von Produktions- und Verbrauchsgemeinschaft der älteren ‚Grundherrschaft‘ war während der Urbanisierung in dem vereinfachten, aber darum nicht unbedingt anachronistischen Erklärungsschema Karl Büchers von innen (u. a. aus Gründen der Disparität von Produktionskosten und Einnahmen) und außen (durch den demographischen Druck und die städtischen Märkte) aufgebrochen worden, es wurde – zumindest vom Ansatz her – in die neu entstandene Tauschwirtschaft der Städte eingebunden. Hier gab es nun im Gegensatz zur älteren Hauswirtschaft Preise und Arbeitslöhne, Pacht- und Mietzinse, Unternehmer, die nach Kapitalprofit strebten, und Lohnarbeiter.1 Mit Vorsicht wird man die europäische Stadtwirtschaft im Hinblick auf die ‚große‘ demographische Krise seit 1315 zu bewerten haben: Trotz unterschiedlicher Konjunkturen in einzelnen Wirtschaftssektoren und der differenzierten räumlichen Voraussetzungen scheint, wie die neuere Forschung zeigt, in der Tendenz folgende Faustregel zutreffend zu sein: Die während des 13. Jahrhunderts wirtschaftlich aufstrebenden, aktiven Städte Mittel- und Westeuropas (und das waren nicht nur die großen Zentren) haben sich offensichtlich weithin erfolgreich an die geänderten Gegebenheiten jenes krisenhaften 14. Jahrhunderts angepasst. Im Reichsgebiet hat man 1

Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft (1893), in: Ders.: Die Entstehung der Volkswirtschaft, Band 1. 14./15. Aufl., Tübingen 1920, S. 83–160. Im Überblick: Franz Irsigler: Urbanisierung und sozialer Wandel in Nordwesteuropa im 11. bis 14. Jahrhundert, in: Gerhard Dilcher/Norbert Horn (Hg.): Sozialwissenschaft im Studium des Rechts, Band IV: Rechtsgeschichte. München 1977, S. 109–123.

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im wirtschaftlichen Bereich trotz des Niederganges von Regensburg, der bedeutenden oberdeutschen Handelsmetropole des 12. und 13. Jahrhunderts, wenige Anzeichen für Krisen gefunden, ja, die „gewerbliche Blüte“ setzte in deutschen wie übrigens auch in englischen Städten gerade nach der Großen Pest von 1348 bis 1352 ein. Hervorgehoben wird die günstige Entwicklung im Exportgewerbe Kölns, genannt werden ausgesprochene ‚Boom-Towns‘ des 13./14. Jahrhunderts wie Lübeck und Nürnberg, die gute Kapitalversorgung von städtischem Gewerbe und Handel, die zahlreichen technischen Innovationen und vor allem die ungeheuren Gewinnmöglichkeiten im Großhandel.2 II. Der ‚Aufstand‘ der Nationalökonomen und die spätmittelalterliche Stadtwirtschaft Das Spätmittelalter als Krisenzeit – diese Charakterisierung ist ganz wesentlich auf den eigentümlichen Verlauf der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Die allgemeine Mittelalter-Begeisterung führte u. a. in Deutschland dazu, dass sich in der zweiten Hälfte des Säkulums die sogenannte ‚Jüngere historische Schule der Nationalökonomie‘ verstärkt der spätmittelalterlichen Stadtwirtschaft zuwandte. Dies bezeugt gerade die Ausrichtung ihrer Publikationsorgane – der ‚Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik‘, des ‚Jahrbuchs für Sozialwissenschaften/Schmollers Jahrbuch‘ und der ‚Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft‘. In ihnen wurden nicht nur Probleme der Wirtschaftsentwicklung des deutschen Mittelalters aufgegriffen. Es entstand vielmehr eine Bewegung, die in zahlreichen Ländern Europas und in den USA auf Widerhall stieß bzw. mit ähnlich motivierten Strömungen kooperierte – die ‚Historische Schule‘ der Nationalökonomen war eingebettet in internationale Zusammenhänge. Es waren insgesamt überwiegend nicht Historiker, sondern Wirtschaftswissenschaftler, die am Ende des 19. Jahrhunderts das Werden der Industriegesellschaft und der Weltwirtschaft in prozesshaft verlaufenden historisch-ökonomischen Entwicklungsstufen zu erklären versuchten. Die Forschungen der führenden Persönlichkeiten, Georg Schmollers ‚Straßburger Tucher- und Weberzunft‘ (1879), William Cunninghams ‚Growth of English Trade‘ (1882), James Edwin Thorold Rogers ‚Six Centuries of Work and Wages. The History of English Labour‘ (1884), Karl Büchers ‚Bevölkerung der Stadt Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert‘ (1886), Karl Lamprechts ‚Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter‘ (1885–1886), Eberhard Gotheins ‚Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes‘ (1891–1892), sind teilweise noch heute methodisch wegweisend.3 Der viel zitierte Methodenstreit um Karl Lamprecht,4 besonders die großen Veränderungen innerhalb der Nationalökonomie 2 3 4

Franz Irsigler: Stadtwirtschaft im Spätmittelalter: Struktur–Funktion–Leistung, in: Jahrbuch der Wittheit zu Bremen 27 (1983), S. 81–100. Zusammenfassend: Harald Winkel: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert (Erträge der Forschung 74). Darmstadt 1977. Louise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft

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selbst, ebenfalls in einem Methodenstreit zwischen Menger und Schmoller ausgetragen und seit dem beginnenden 20. Jahrhundert wieder zu einer verstärkten Theoriebildung und einseitig deduktiver Methodik führend, haben die Wirtschaftsgeschichte seit den 1920er Jahren personell wie organisatorisch sehr ausgedünnt.5 Immerhin bestand eines der zentralen Organe der Bewegung – freilich erheblich modifiziert – weiter: Die 1893 mit viel Aufwand und ‚großem‘ Namen gegründete, aber ohne Fortune fortgeführte ‚Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte‘ wurde 1902 unter dem Namen ‚Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte‘ wiederbelebt. Der Mitherausgeber Georg von Below hat freilich das ursprüngliche Konzept verändert: Die Zeitschrift wurde im Sinne der engeren Fachhistorie ausgerichtet, von der Nationalökonomie abgegrenzt und vor 1914 vor allem der frankophonen Wirtschaftsgeschichte geöffnet.6 Von den historischen Nationalökonomen und Geographen und der in einigen Ländern Europas entstandenen Wirtschaftsgeschichte vom „späteren Mittelalter“ (Karl Bücher) führte ein breites intellektuelles und personelles Band zu der seit 1920 in Straßburg um Lucien Febvre und Marc Bloch entstehenden Bewegung, die 1929 mit der Zeitschrift ‚Annales d’histoire économique et sociale‘ ein publizistisches Organ fand,7 in Belgien – auch vermittelt über die Kulturgeschichtsschreibung Karl Lamprechts – zu Henri Pirenne8, in Deutschland zu Wilhelm Abel und Friedrich Lütge. Diese sich in den 1920/30er Jahren ausbildende neuere Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung ordnete auch die spätmittelalterliche Wirtschaft unter den Gesichtspunkten von Periodisierung und Modellbildung neu: Henri Pirenne mit seiner ‚revisionistischen‘ These vom Stillstand der großen wirtschaftlichen Expansion Europas um 1300.9 Wilhelm Abel, dann auch Friedrich Lütge und Michael M. Postan, Roberto S. Lopez und Harry A. Miskimin, zuletzt Bernhard Kirchgässner haben das 14. Jahrhundert mit seinen für alle Bereiche der wirtschaftlichen Entwicklung folgenreichen demographischen Einbrüchen als den im Vergleich zum 16. Jahrhundert entscheidenderen Zeitabschnitt postuliert – mit den Worten Lütges: „in der

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und Politik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22). Göttingen 1984. Claus-Dieter Krohn: Wirtschaftstheorien als politische Interessen. Die akademische Nationalökonomie in Deutschland 1918–1933. Frankfurt a. M. 1984. Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998. Dazu ist in den letzten Jahren zahllose Literatur erschienen; zusammenfassend: Michael Erbe: Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung. Die Gruppe um die „Annales“ (Erträge der Forschung 110). Darmstadt 1979; Peter Burke: The French Historical Revolution. The Annales School, 1929–89. Cambridge 1990; dt: Offene Geschichte. Die Schule der „Annales“. Berlin 1991; Bryce Lyon/Mary Lyon (Hg.): The Birth of Annales History: The Letters of Lucien Febvre and Marc Bloch to Henri Pirenne (1921–1935) (Academie royale de Belgique: Commission royale d’histoire). Brüssel 1991. Bryce Lyon: Henri Pirenne. A Biographical and Intellectual Study. Gent 1974. Henri Pirenne: La civilisation occidentale au moyen âge du XIe au milieu du XVe siècle. Paris 1933; ND: Histoire économique de l’Occident médiéval. Brügge 1951; überarb. Fassung durch Hans van Werveke: Histoire économique et sociale du moyen âge. 2. Aufl., Paris 1969; dt.: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter (1946). 6. Aufl., München 1986.

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zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts“ finde „jene Zeit, die gemeinhin als Mittelalter bezeichnet wird, ihr Ende und macht einer neuartigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Platz“.10 Fernand Braudel hat in dieser Debatte mit seinem 1979 erschienenen Werk ‚Civilisation matérielle, économie et capitalisme‘, das ausdrücklich mit dem 15. Jahrhundert beginnt und bis zum Ende des 18. Säkulums führt, von Seiten der Wirtschaftsgeschichte einen zumindest vorläufigen Schlusspunkt gesetzt: Die Zeitperiode ist es, die Braudel ökonomisch mit dem Begriff „Kapitalismus“ gekennzeichnet hat.11 Den radikalsten Schritt in dieser Richtung hat in wirtschaftshistorischer Hinsicht Carlo M. Cipolla vollzogen: Alles, was sich vor dem endenden 17. Jahrhundert und nach dem Jahr 1000 als ‚Ökonomie‘ beschreiben lässt, gilt ihm „before the Industrial Revolution“.12 Aus deutscher Sicht trugen gerade die in direkter Anlehnung an die ‚Historische Schule der Nationalökonomie‘ aufgenommenen und unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre und damit auch der Fin-de-siècle-Stimmung des europäischen Bürgertums durchgeführten Forschungen Wilhelm Abels entscheidend zur wirtschaftlichen Neubewertung des Spätmittelalters bei. Abels Stichwort lautete eben ‚Krise‘, aber im Sinne von Zerfall, im Sinne eines langfristigen Abschwungs in den Konjunkturen der Weltwirtschaft. Die herangezogenen Faktoren wie Preise, Löhne, Grundrenten, landwirtschaftliche Produktion, Siedlungsvorgänge, Bevölkerungsbewegung und Lebenshaltung der breiteren Schichten sind von Abel und seiner Schule zur Theorie der ‚Agrarkrise‘ (modifiziert 1980 zur ‚Agrardepression‘) als gesamteuropäisches Phänomen geformt worden. Den Ausgangspunkt der Theorie bildete die Beobachtung und statistische Messung einer im 14. Jahrhundert europaweit sich beschleunigenden, divergierenden Entwicklung sinkender Getreidepreise einerseits und sich erhöhender Löhne – das Phänomen der Festsetzung von Maximallöhnen findet sich in der Tat erst seit ca. 1350 – bzw. steigender Preise für gewerbliche Produkte andererseits: das Modell der Lohn-PreisSchere.13 Die Rezeption der Agrarkrisen-Theorie mit ihren entscheidenden Aus10 Friedrich Lütge: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ein Überblick. 3. Aufl., Berlin/ Heidelberg/New York 1976, S. 97; Michael M. Postan/Edward Miller (Hg.): The Cambridge Economic History of Europe, Band II: Trade and Industry in the Middle Ages. 2. Aufl., Cambridge 1987; Roberto S. Lopez/Harry A. Miskimin: The Economic Depression of the Renaissance, in: The Economic History Review 2nd ser. 14 (1961/62), S. 408–426; Roberto S. Lopez: The Commercial Revolution of the Middle Ages 950–1350. Englewood Cliffs, N.J. 1971; Harry A. Miskimin: The Economy of Early Renaissance Europe, 1300–1460. 2. Aufl., Cambridge 1975; Bernhard Kirchgässner: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte: Grundriß der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches. Düsseldorf 1979. Forschungsbericht: Arnold Esch: Über den Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft in der italienischen Renaissance. Ein Forschungsbericht, in: ZHF 8 (1981), S. 179–222. 11 Fernand Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe–XVIIIe siècle. 3 Bände. Paris 1979; dt.: Sozialgeschichte des 15. –18. Jahrhunderts. 3 Bände. München 1985–1986; ND München 1990. 12 Carlo M. Cipolla: Before the Industrial Revolution. European Society and Economy, 1000– 1700. 3. Aufl., New York/London 1994. 13 Vgl. Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter (1935). 3. Aufl., Hamburg 1978; ders.:

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wirkungen auf die Stadtwirtschaft durch die europäische Forschung setzte bereits 1950 ein,14 beeinflusste, erkennbar seit 1967, auch und besonders die Lohn- und Preisgeschichte der ‚Annales‘ unter Fernand Braudel.15 III. Krisen in der städtischen Wirtschaft des Spätmittelalters? Roberto S. Lopez und Harry A. Miskimin haben 1961/62 für das städtische Gewerbe und den internationalen Handel Italiens wie für einen großen Teil Westeuropas Indikatoren vorgeführt, die auf eine „great depression“ hinweisen: Die Depressionsphase beginne im 14. und erreiche ihren Tiefpunkt im frühen 15. Jahrhundert.16 Obwohl diese Aussagen in der internationalen Stadtgeschichtsforschung nur wenige Verfechter fanden,17 passten sie doch in das Bild von der allgemeinen Krise der Zeit. Zu heftigen Debatten kam es vor allem in der angelsächsischen Forschung. Hier trat Anthony R. Bridbury 1962 entschieden der Auffassung Postans gegenüber, dass Wirtschaft und Gesellschaft Englands von einer Gesamtkrise geprägt gewesen seien, von „lymphatic peasants, demoralised merchants and brutalized ruling classes“.18 Bridbury hob vielmehr hervor, dass im 14. Jahrhundert vornehmlich die Textilproduktion19 und die Zinnerzeugung in hoher Blüte gestanden, die Preise verhältnismäßig stabil geblieben und die Kaufkraftmöglichkeiten der städtischen Bevölkerung auf ein hohes Niveau angestiegen wären. Dieses in der allgemeinen Aussage zu freundliche, harmoniebedürftige Bild der städtischen Wirtschaft Englands kontrastierten Charles Phythian-Adams und Richard B. Dobson mit Genre-Gemälden des Verfalls. Phythian-Adams stellte dabei in seiner Studie über Coventry für das 14. Jahrhundert zwar ein Wachstum der städtischen Wirtschaft fest, Zeichen des Verfalls hätten aber noch vor dem Pesteinbruch eingesetzt.20 In ähnlicher Weise machte David Nicholas in seiner besonders auf die Beispiele Florenz, Metz und London gestützten Synthese europäischer Stadtgeschichte auf Krisenerscheinungen

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Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters (1943). 3. Aufl., Stuttgart 1976; ders.: Strukturen und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft. Stuttgart/New York 1980. Michael M. Postan: Some Economic Evidence of Declining Population in the Later Middle Ages, in: The Economic History Review 2nd Ser. 2 (1950), S. 221–246. Fernand Braudel/Frank C. Spooner: Prices in Europe from 1450 to 1750, in: Edwin E. Rich/C. H. Wilson (Hg.): The Cambridge Economic History of Europe, Band IV: The Economy of Expanding Europe in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Cambridge 1967, S. 374–486. Lopez/Miskimin, Depression (wie Anm. 10); Miskimin, Economy (wie Anm. 10). Zur Debatte z. B. Carlo M. Cipolla: Economic Depression of the Renaissance?, in: The Economic History Review 2nd ser. 16 (1963/64), S. 519–524. Anthony R. Bridbury: Economic Growth: England in the Later Middle Ages. London 1962, S. 22. Anthony R. Bridbury: Medieval English Clothmaking. An Economic Survey (Pasold Studies in Textile History 4). London 1982. Charles Phythian-Adams: Desolation of a City. Coventry and the Urban Crisis of the Late Middle Ages. Cambridge 1979; Richard B. Dobson: Urban Decline in Late Medieval England, in: Transactions of the Royal Historical Society 5th ser. 27 (1977), S. 1–14.

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in der Zeit von 1270 bis ca. 1325 aufmerksam.21 Die Bemerkung Dobsons, dass mit jeder neuen Städtemonographie das Bild der englischen Stadt unklarer werde, kennzeichnet das generelle Problem besserer und schlechterer Überlieferung und wirft die methodologische Frage nach der Maßstäblichkeit des Urteilens auf. Für Barcelona beispielsweise zeigen die aus den offiziellen Quellen, aus Zollakten etc., gewonnenen Daten eine Krise der Stadtwirtschaft. Die Depression betraf aber nur den städtischen Großhandel. In diesem Sektor standen angesichts der wegbrechenden Absatzmärkte im Geflecht des internationalen Handels die Zeichen auf Sturm. Die lediglich fragmentarisch überlieferten Quellen für den ‚mercato interno‘ Barcelonas dagegen bieten ein völlig anderes Bild. Hier lässt sich nach 1380 kein Niedergang, keine Krise beobachten, noch nicht einmal ein Stillstand – im Gegenteil: Der wirtschaftliche Austausch im Stadtinneren war bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts von einer sich ständig beschleunigenden Prosperität gekennzeichnet. Barcelona hatte also trotz der Schädigung seiner nach außen orientierten Wirtschaftskraft bis in die Substanz die Regenerationsfähigkeit seiner Gesamtwirtschaft nicht verloren.22 Die deutschsprachige Stadtgeschichtsforschung geht, wie übrigens auch die dänische, nahezu generell von einer wirtschaftlichen Prosperität im Groß- und Kleinhandel, im Gewerbe sowie – mit Abstrichen – auch im Handwerk aus: Diese sehr günstige Entwicklung halte mindestens bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts an und werde danach von Kontraktionserscheinungen abgelöst.23 Nicolas Morard nannte seine Untersuchung über die Wirtschaft, namentlich über das Wollgewerbe, in Fribourg programmatisch „eine kurze Blütezeit“.24 Gleichsam einen Kompromiss zwischen tiefstem Pessimismus und allzu viel Optimismus beschreibt die Vorstellung Wolfgang von Stromers von einer säkularen Stagnationsphase zwischen den 1330er und den 1470er Jahren. Erst danach sei, 21 David Nicholas: The Growth of Medieval City. From Late Antiquity to the Early Fourteenth Century. London/New York 1997. 22 Mario Dell Treppo: I mercanti catalani e l’espansione della Corona d’Aragona nel secolo XV. 2. Aufl., Neapel 1972. 23 Erik Kjersgaard: Borgerkrig og Kalmarunion 1241–1448 (Danmarks historie 4). Kopenhagen 1963 (mit dem Beispiel Ribe). 24 Nicolas Morard: Eine kurze Blütezeit: Die Freiburger Wirtschaft im 14. und 15. Jahrhundert, in: Roland Ruffieux (Hg.): Geschichte des Kantons Freiburg, Band I. Freiburg 1981, S. 227– 274. Darüber hinaus Hektor Ammann: Die Anfänge der Leinenindustrie des Bodenseeraums, in: Alemannisches Jahrbuch (1953), S. 251–313; Bruno Kuske: Köln, der Rhein und das Reich. Beiträge aus fünf Jahrzehnten wirtschaftsgeschichtlicher Forschung. Köln 1956; Hans Conrad Peyer: Wollgewerbe, Viehzucht, Solddienst und Bevölkerungsentwicklung in Stadt und Landschaft Freiburg i. Ue. vom 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert (Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 21). Stuttgart 1975, S. 79–95; ND in: Hans Conrad Peyer: Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters, hg. von Ludwig Schmugge/Roger Sablonier/Konrad Wanner. Zürich 1982, S. 163– 182; Franz Irsigler: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (VSWG, Beiheft 65). Wiesbaden 1979; Edith Ennen: Die europäische Stadt des Mittelalters (1972). 4. Aufl., Göttingen 1987, S. 225–252.

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so Stromer, unter dem Eindruck eines wieder langsam aufstrebenden Bergbaus und einer dadurch entstehenden und mit neuen Technologien arbeitenden Metallindustrie eine nachhaltige Verbesserung der zirkulierenden Geldmenge wie der gesamtwirtschaftlichen Situation gerade in den städtischen Zentren eingetreten.25 Insgesamt wird man mit Vorsicht dem viel beschworenen Allgemeinbild von der städtischen Krise des Spätmittelalters und der städtischen Wirtschaft zu begegnen haben. IV. Zwischen Stadt und Land – Gewerbereviere und Verlagswesen Gründungsstädte des 13. Jahrhunderts wuchsen in vielfältiger Konkurrenz untereinander und der ihrer Herren26 auf Kosten des Landes, Städte des 14. Jahrhunderts konnten ihre Bevölkerungsverluste durch die dauernde Zuwanderung vom Land ausgleichen.27 Demographische Stagnation bzw. steigende Bevölkerungsziffern in den Städten setzten auf längere Sicht eine ausgeprägte Landflucht voraus, die im deutschsprachigen wie auch im französischen Raum während der letzten Jahrzehnte vielfach untersucht worden ist. In den Blick geraten ist beispielsweise die „überfüllte Städtelandschaft“ nördlich von Fribourg ebenso wie die Migration in den Stadträumen um Chartres und Périgueux.28 Als Teil der allgemeinen Handwerksgeschichte wie der modernen Migrationsforschung verstehen sich die jüngeren Untersuchungen über Handwerkerwanderungen. Auf Wanderungsbewegungen, die infolge der Konkurrenz der Gewerbestädte Oberitaliens um Fachkräfte ausgelöst wurden, wies Lorenzo Del Panta in seinem Werk über die Einwirkungen von Seuchen 25 Wolfgang von Stromer: Hartgeld, Kredit und Giralgeld. Zu einer monetären Konjunkturtheorie des Spätmittelalters und der Wende zur Neuzeit, in: Vera Barbagli Bagnoli (Hg.): La moneta nell’economica europea, secoli XIII–XVIII (Istituto Internazionale di Storia Economica ‚F. Datini‘, Prato, serie II, 7). Florenz 1981, S. 105–125. 26 Die Fürsten und Herren benutzten die Privilegierung von Städten, die Peuplierung dieser Gründungen und die Ausgestaltung ihrer Wirtschaftskraft, um sich im territorialen Neben- und Gegeneinander zu behaupten und Konkurrenten hinter sich zu lassen: Ulf Dirlmeier: Mittelalterliche Hoheitsträger im wirtschaftlichen Wettbewerb (VSWG, Beiheft 51). Wiesbaden 1966 (mit dem Beispiel Niederrhein). 27 Zur städtischen Bevölkerungsgeschichte und zu den differenzierten Urbanisierungsgraden in den Landschaften Europas als Standardwerk: Roger Mols: Introduction à la démographie historique des villes d’Europe du XIVe au XVIIIe siècle. 3 Bände. Gembloux/Löwen 1954–1956. Dazu auch Roger Mols: Die Bevölkerungsgeschichte Belgiens im Lichte der heutigen Forschung, in: VSWG 46 (1959), S. 491–511. In der deutschsprachigen Forschung hat vor allem Ammann früh und dezidiert auf die Bedeutung dieser Forschungen hingewiesen: Hektor Ammann: Die Bevölkerung von Stadt und Landschaft Basel am Ausgang des Mittelalters, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 49 (1950), S. 25–52. 28 Roland Flückiger: Mittelalterliche Gründungsstädte zwischen Freiburg und Greyerz als Beispiel einer überfüllten Städtelandschaft, in: Freiburger Geschichtsblätter 63 (1983/84), S. 5– 350; Claudine Billot: Le migrant en France à la fin du moyen âge: problèmes de méthode, in: Neithard Bulst/Jean-Philippe Genet (Hg.): Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography. Kalamazoo, Michigan 1986, S. 235–242; Arlette Higounet-Nadal: La démographie des villes françaises au moyen âge, in: Annales de démographie historique (1980), S. 187–211.

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auf die Bevölkerungsentwicklung Italiens hin.29 Die deutsche Handwerksmigration nach Italien seit den 1370er Jahren und die Ausbildung von Handwerkerkolonien vornehmlich im 15. Jahrhundert ist in den letzten Jahren Gegenstand europäischer Forschung geworden.30 Die Einzelstadt stand selten für sich. Die Wirtschaftskräfte der Großstädte vermochten nur in Kombination mit den auf sie bezogenen Netzen aus Mittel- und Kleinstädten raumgestaltende Funktionen zu entfalten. Das zeigt sich schon am Urbanisierungsgrad: Am Ende des 15. Jahrhunderts, das noch einmal von einem kräftigen Anstieg der stadtsässigen Bevölkerung gekennzeichnet war, wohnten insgesamt in West-, Mittel- und Südeuropa 20 bis 25 Prozent der Menschen in Städten. Oberitalien sowie die Niederlande erreichten dabei einen Urbanisierungsgrad von 35 bis 40 Prozent, während die Zahlen für Skandinavien und Osteuropa nur zwischen 5 und 10 Prozent schwankten. Im Reich galten während des 13. und 14. Jahrhunderts Oberschwaben mit seinem Barchentrevier, der Oberrheinraum zwischen Frankfurt, Mainz, Speyer, Straßburg und Basel, Thüringen mit seinem Waidanbau um Erfurt und der Niederrhein um Köln als Zentren der Verstädterung. Die vor allem in Belgien, Großbritannien, Deutschland, der Schweiz und Italien seit den späten 1960er Jahren intensiv betriebene Stadt-Land-Forschung, welche die Stadt nicht mehr als „Insel“ in „einem anders gearteten Raum“ betrachtet, hat sich bisher vornehmlich auf drei Forschungsansätze beschränkt: Gehandelt wurde von der Zentralität der Städte, von der Ausbeutung der Dörfer durch die Städte oder von einem Verhältnis der Harmonie. Die Perspektive der meisten Untersuchungen ist von der Stadt aus auf das Land gerichtet. Schon allein aus Quellengründen herrscht – wie überhaupt in der Stadtgeschichtsforschung – eine gewisse ‚Großstadtlastigkeit‘ vor.31

29 Lorenzo Del Panta: Le epidemie nella storia demografica italiana (secoli XIV–XIX). Turin 1980. 30 Rolf Sprandel: Ausbreitung des deutschen Handwerks im mittelalterlichen Frankreich, in: VSWG 51 (1964), S. 66–100; Philippe Braunstein: Remarques sur la population allemande de Venise à la fin du moyen âge, in: Hans-Georg Beck/Manuso Manusakas/Agostino Pertusi (Hg.): Venezia, centro di mediazione tra oriente e occidente (secoli XV–XVI. Atti et problemi). Florenz 1977, S. 233–243; Franco Franceschi: I tedeschi e l’arte della lana a Firenze fra tre e quattrocento, in: Gabriella Rossetti (Hg.): Dentro la città. Stranieri e realtà urbane nell’Europe dei secolo XII–XVI (Europa Mediterranea, Quaderni 2). Neapel 1989, S. 257–278; Knut Schulz: Deutsche Handwerkergruppen in Italien, besonders in Rom (14. –16. Jahrhundert), in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.): Le migrazioni in Europa secc. XIII–XVIII (Istituto Internazionale di Storia Economica ‚F. Datini’, Prato, serie II, 25). Florenz/Prato 1994, S. 567–591. 31 Forschungsgeschichte und Methode bei: Rolf Kießling: Stadt-Land-Beziehungen im Spätmittelalter. Überlegungen zur Problemstellung und Methode anhand neuerer Arbeiten vorwiegend zu süddeutschen Beispielen, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 40 (1977), S. 829– 867; Franz Irsigler: Stadt und Umland in der historischen Forschung. Theorien und Konzepte, in: Neithard Bulst/Jochen Hoock/Franz Irsigler (Hg.): Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. Stadt-Land-Beziehungen in Deutschland und Frankreich. 14.–19. Jahrhundert. Trier 1983, S. 13–38. Standardwerk in Deutschland: Rolf Kießling: Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert (Städteforschung, A 29). Köln/Wien 1989 (daraus Zitat, S. 1).

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Kleinstädte und Dörfer: Das im 13. Jahrhundert entstehende und im Laufe der folgenden Säkula forcierte ländlich-kleinstädtische Gewerbe wurde durch das Lohngefälle zwischen Stadt und Land sowie die kostengünstigeren Rahmenbedingungen auf den Dörfern gefördert. Freilich erhielten Landarbeiter im Florentiner ‚contado‘ wie auch andernorts nach der Pestpandemie höhere Löhne.32 Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung geht seit längerer Zeit davon aus, dass die ländliche Produktion durch die Städte und das städtische Kapital gesteuert wurde. Städte und Dörfer waren in einem sich verdichtenden Gewerbe aufeinander bezogen; Dörfer und Kleinstädte im Nahraum der beherrschenden Groß- oder Mittelstädte waren in ein auf das Zentrum fixiertes und zeitlich abgestimmtes Netz von Märkten eingeordnet, wie dies etwa am Beispiel Ostwestfalens nachgewiesen werden konnte.33 Gewerbereviere: Seit dem 13. Jahrhundert entstanden – die jüngere Forschung hat dies eindrücklich gezeigt – auf dem platten Land regelrechte Gewerbereviere.34 Auslöser für diese Revierbildungen waren vornehmlich das Tuch- und das Montangewerbe, in Thüringen, wie die neuere Landesgeschichtsforschung belegt, z. B. auch der Anbau des Färberwaids.35 Verlag: Rudolf Holbach hat in einer beeindruckenden Monographie dargelegt, dass in den verschiedenen Tuchgewerbelandschaften von Flandern bis Oberitalien der Verlag in hohem Ausmaß und differenzierten Organisationsformen die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen Stadt und Land bestimmte. In den früh urbanisierten Landschaften der Niederlande, des Niederrheins und Oberitaliens vollzog sich die Verlagerung von Teilen der Textilproduktion ins Umland und der Aufbau einer durch das Verlagssystem gelenkten Produktion spätestens im 14. Jahrhundert. Das Land nahm dadurch an der Exportproduktion teil, wurde eingebunden in die Konjunkturen der europäischen Wirtschaft.36 Gewerbliche Strukturierung des Landes: Die neuere Forschung hat verstärkt einzelne Tuch-Gewerbelandschaften in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Hingewiesen sei nur auf: Flandern und Brabant, überhaupt die Niederlande,37 auf das 32 Giuliano Pinto: La Toscana nel tardo medioevo: ambiente, economia rurale, società. Florenz 1982. 33 Friedrich-Wilhelm Hemann: Zur Telgter Wirtschaftsgeschichte im späten Mittelalter und früher Neuzeit, in: Werner Frese (Hg.): Geschichte der Stadt Telgte. Münster 1999, S. 67–100. Allgemein auch: Michael Mitterauer: Markt und Stadt im Mittelalter. Beiträge zur historischen Zentralitätsforschung. Stuttgart 1980. 34 Als Beispiele: Wolfgang von Stromer: Die Gründung der deutschen Baumwollindustrie in Mitteleuropa. Wirtschaftspolitik im Spätmittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 17). Stuttgart 1978; ders.: Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Hans Pohl (Hg.): Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 78). Stuttgart 1986, S. 39–111. 35 Wieland Held: Zwischen Marktplatz und Anger. Stadt–Land–Beziehungen im 16. Jahrhundert in Thüringen. Weimar 1988. 36 Rudolf Holbach: Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.– 16. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 110). Stuttgart 1994 (mit der gesamten relevanten Literatur). 37 In Auswahl: Henri Laurent: La draperie des Pays-Bas en France et dans les pays méditerranées (XIIe–XVe siècle): un grand commerce d’exportation au moyen âge. Paris 1935; ND Brionne 1978; John H. Munro: The Transformation of the Flemish Woollen Industries ca. 1250 – ca. 1400. The Response to Changing Factor Costs and Market Demand. Leuven 1971; David Ni-

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Elsaß,38 den Bodenseeraum und Oberschwaben mit Leinen-, Woll-, seit dem späten 14. Jahrhundert auch mit Barchentgewerbe,39 endlich, wie Alfred Doren schon 1901 nachgewiesen hat, auf die Toskana mit ihrer vornehmlich ländlichen Spinnerei.40 Neben der Spinnerei und Weberei sorgte das Montanwesen für eine gewerbliche Strukturierung des Landes: Der Bergbau auf Metalle und Salze wirkte sich in Ansätzen schon seit dem 12. Jahrhundert revierbildend aus. Der europäische Bergbau gewann allerdings erst in dem nämlichen Jahrhundert mit der stärkeren Verbreitung der Schriftlichkeit deutlichere Konturen in seinen politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und eben auch technischen Zusammenhängen. Das haben neuere Untersuchungen zu den ältesten Bergrechten in Trient und der Toskana ergeben.41 Selbst archäologische Zeugnisse reichen selten weiter zurück. Der technische Aufwand des Abbaus wuchs – dies legen die erhaltenen schriftlichen Quellen nahe – um 1200 stark an. Der Forschung gilt das 13. Jahrhundert daher als eine Wendezeit im Eisenerz- wie im Bunterzbergbau, in dessen Zentrum die Silbergewinnung stand.42 Gut untersucht und in die neuere Diskussion einbezogen sind die

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cholas: Town and Countryside: Social, Economic, and Political Tensions in Fourteenth-Century Flanders (Rijksuniversiteit te Gent. Werken uitgegeven door de Faculteit van de Letteren en Wijsbegeerte 152). Brügge 1971; Raymond van Uytven: Die ländliche Industrie während des Spätmittelalters in den Südlichen Niederlanden, in: Kellenbenz (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe (wie Anm. 24), S. 57–77; Herman van der Wee: Structural Changes and Specialization in the Industry of the Southern Netherlands 1100–1600, in: The Economic History Review 2nd ser. 28 (1985), S. 203–221; Jean-Paul Peeters: De-industrialization in the Small and Mediumsized Towns in Brabant at the End of the Middle Ages. A Case-Study: The Cloth Industry of Tienen, in: Herman van der Wee (Hg.): The Rise and Decline of Urban Industries in Italy and in the Low Countries (Late Middle Ages – Early Modern Times). Löwen 1988, S. 165–186; Marc Boone/Walter Prevenier (Hg.): La draperie ancienne des Pays-Bas: débouchés et stratégies de survie (14e–16e siècles). Drapery Production in the late medieval Low Countries: Markets and Strategies for Survival (14th–16th Centuries). Leuven/Appeldoorn 1993. Hektor Ammann: Von der Wirtschaftsgeltung des Elsaß im Mittelalter, in: Alemannisches Jahrbuch (1955), S. 95–202; ders.: La place d’Alsace dans l’industrie textile du Moyen Age, in: La bourgeoisie Alsacienne. Études d’histoire sociale (Publications de la Société savante d’Alsace et des régions de l’est 5). Straßburg 1967, S. 71–102. Ammann, Anfänge (wie Anm. 24); Hans Conrad Peyer: Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520. 2 Bände (St. Galler wirtschaftswissenschaftliche Forschungen 16,1–2). St. Gallen 1959–1960; Friedrich Wielandt: Das Konstanzer Leinengewerbe. 2 Bände (Konstanzer Stadtrechtsquellen 3). Konstanz 1950–1953; Stromer, Baumwollindustrie (wie Anm. 34); Kießling, Stadt (wie Anm. 31). Alfred Doren: Die Florentiner Wollentuchindustrie vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Kapitalismus. Stuttgart 1901; ND Aalen 1969. Dieter Hägermann/Karl-Heinz Ludwig: Europäisches Montanwesen im Hochmittelalter. Das Trienter Bergrecht 1185–1214. Köln/Wien 1986; dies.: Europäisches Bergrecht in der Toscana. Die Ordinamenta von Massa Marittima im 13. und 14. Jahrhundert. Köln 1991. Literatur in Auswahl zum Eisenerzabbau: Rolf Sprandel: Die oberitalienische Eisenproduktion im Mittelalter, in: VSWG 52 (1965), S. 289–329. Zur Silber- und Goldgewinnung: Fritz Gruber/Karl-Heinz Ludwig: Salzburger Bergbaugeschichte. Salzburg 1982; Ekkehard Westermann: Silbererzeugung, Silberhandel und Wechselgeschäft im Thüringer Saigerhandel von 1460–1620. Tatsachen und Zusammenhänge, Probleme und Aufgaben der Forschung, in: VSWG 70 (1983), S. 192–214; Marco Tangheroni: La città dell’argento, Iglesias dalle origini alle fine del medioevo. Neapel 1985. Zum Buntmetallabbau: John Hatcher: English Tin Production and Trade

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Montanregionen in England, Schweden und Nordfrankreich, im Harz, im Mansfeldischen, in den Alpen und in Oberitalien. Als ausgesprochen defizitär erscheint dagegen die Literaturlage beispielsweise zum Bergbau des kurkölnischen Sauerlands.43 Die lange Zeit trotz der viel zitierten Arbeit von John U. Nef44 lediglich als „Vorgeschichte“ eingestufte mittelalterliche Steinkohleförderung hat in ihren zentralen englischen, Lütticher und Aachener Revieren während der 1990er Jahre auch unter dem Eindruck der Umweltgeschichte eine intensivere Erforschung erfahren.45 Bergbau und Hüttenwesen zogen in gleicher Weise wie das Textilgewerbe städtisches Kapital an, wurden durch das in den letzten Jahren gut untersuchte Verlagswesen betrieblich modernisiert und nach frühkapitalistischen Grundsätzen umgebildet.46 Gleichwohl wäre es übertrieben und anachronistisch, von einer vollständigen kapitalistischen Durchgestaltung der Gesamtproduktion auszugehen. Keine Übereinstimmung herrscht in der Forschung darüber, ob im Montangewerbe von Großbetrieben gesprochen werden kann.47 Schon lange nachgewiesen ist, dass die Trennung von Kapital und Arbeit am frühesten und mit weitgehender Durchbildung im Edel- und Buntmetallsektor einsetzte.48 Beispiele für die auch in das Eisenhüttengewerbe eindringenden frühkapitalistischen Produktionsmethoden bieten die gut erforschte Steiermark und die Oberpfalz.49

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before 1500. Oxford 1973; John Hatcher/T. C. Barker: A History of British Pewter. Harlow 1974. Zu einzelnen Montanrevieren: Kjell Kumlien: Bergbau, Bürger und Bauer im mittelalterlichen Schweden, in: VSWG 52 (1965), S. 330–346; Michael Mitterauer (Hg.): Österreichisches Montanwesen. Produktion, Verteilung, Sozialformen. Wien 1974; Rudolf Palme: Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der inneralpinen Salzwerke bis zu deren Monopolisierung (Rechtshistorische Reihe 25). Frankfurt a. M. 1983; Christiane Segers-Glocke/Harald Witthöft (Hg.): Aspects of Mining and Smelting in the Upper Harz Mountains (up to the 13th/14th Century) – in the Early Times of a Developing European Culture and Economy (Sachüberlieferung und Geschichte 33). St. Katharinen 2000; Mathieu Arnoux: Mineurs, férons et maîtres de forge. Étude sur la production du fer dans la Normandie du moyen âge (XIe–XIVe siècles). Paris 1993. John U. Nef: The Rise of the British Coal Industry, Band 1. London 1932. John Hatcher: The History of the British Coal Industry, Band 1: Before 1700: Towards the Age of Coal. Oxford 1993; Jörg Wiesemann: Steinkohlenbergbau in den Territorien um Aachen 1334–1794 (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte 3–4). Aachen 1995; Claude Gaier: Huit siècles de houillerie liégeoise, histoire des hommes et du charbon à Liege. Lüttich 1988; Horst Kranz: Klerus und Kohle, ein Lütticher Fördervertrag von 1356, in: VSWG 85 (1998), S. 461–476. Holbach, Frühformen (wie Anm. 36). Michael Mitterauer: Produktionsweise, Siedlungsstruktur und Sozialformen im österreichischen Montanwesen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Mitterauer (Hg.), Montanwesen (wie Anm. 43), S. 234–315. Ernst Geis: Die Entwicklung der kapitalistischen Organisations-Formen im deutschen Erzbergbau des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit. Diss. München 1925. Othmar Pickl: Die Steiermark als Gewerbe- und Industrielandschaft vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Zur Entstehung moderner Industriereviere in alten Fortschrittsregionen, in: Pohl (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften (wie Anm. 34), S. 16–38; Franz Michael Ress: Unternehmungen, Unternehmer und Arbeiter im Eisenerzbergbau und in der Eisenverhüttung der Oberpfalz von 1300 bis um 1630, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 74 (1954), S. 49–106; Wolfgang von Stromer: Die Große Oberpfälzer Hammereinung

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V. Städtisches Handwerk, Gewerbe und ‚industrielle Revolution‘ Die Stadtwirtschaft des Spätmittelalters gestaltete sich nach einer beschleunigten technischen Entwicklung – Jean Gimpel hat 1975 die auf Gustav Schmoller (1871) zurückgehende These Eleonora Mary Carus-Wilsons (1941) von einer ‚Industriellen Revolution‘ im 13. Jahrhundert wieder aufgenommen50 –, sie beruhte auf der Arbeit des zunftgebundenen kommunalen Handwerks sowie auf dem Kapital und den Leistungen des Handels. In den städtischen Exportgewerben war dieses Verhältnis symbiotisch, wie in den letzten Jahren gerade am Beispiel des von wirtschaftsgeschichtlicher Seite lange vernachlässigten frühen Buchdrucks gezeigt worden ist.51 Die Zahl der Arbeiten über das vielgestaltige städtische Handwerk im Spätmittelalter ist Legion. Beschrieben wurden z. B. die kartellähnlichen Züge im Zunfthandwerk,52 die Zünfte selbst53 bzw. die korrespondierenden religiös-karitativen Bruderschaften.54 Behandelt wurden gerade in den letzten Jahrzehnten verstärkt die Gesellenbewegungen (an Ober- und Mittelrhein seit 1363) und die mobile Ökonomie der Handwerksgesellen55 sowie die überregionalen Handwerkerbünde.56

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vom 7. Januar 1387. Kartell und Konzerne, Krisen und Innovationen in der mitteleuropäischen Eisengewinnung, in: Technikgeschichte 56 (1989), S. 279–304. Jean Gimpel: La révolution industrielle au moyen âge. Paris 1975; dt.: Die industrielle Revolution des Mittelalters. 2. Aufl., Zürich/München 1981. Uwe Neddermeyer: Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Analyse. 2 Bände (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem deutschen Bucharchiv München 61). Wiesbaden 1998. Rainald Ennen: Zünfte und Wettbewerb. Möglichkeiten und Grenzen zünftlerischer Wettbewerbsbeschränkungen im städtischen Handel und Gewerbe des Spätmittelalters (Neue Wirtschaftsgeschichte 13). Köln/Wien 1971. Für den deutschsprachigen Raum die Sammelbände von: Rainer S. Elkar (Hg.): Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte – Volkskunde – Literaturgeschichte (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 9). Göttingen 1983; Klaus Friedland (Hg.): Gilde und Korporation in den nordeuropäischen Städten des späten Mittelalters (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, NF 29). Köln/Wien 1984; Berent Schwineköper (Hg.): Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 29). Sigmaringen 1985; Peter Johanek (Hg.): Einungen und Bruderschaften in der spätmittelalterlichen Stadt (Städteforschung, A 32). Köln/Weimar/Wien 1993. Ludwig Remling: Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 35). Würzburg 1986. Wilfried Reininghaus: Die Migration der Handwerksgesellen in der Zeit der Entstehung ihrer Gilden (14./15. Jahrhundert), in: VSWG 68 (1981), S. 1–22; ders.: Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (VSWG, Beiheft 71). Wiesbaden 1981; Knut Schulz: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1985; Kurt Wesoly: Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert (Studien zur Frankfurter Geschichte 18). Frankfurt a. M. 1985. Frank Göttmann: Handwerk und Bündnispolitik. Die Handwerkerbünde am Mittelrhein vom 14. bis zum 17. Jahrhundert (Frankfurter Historische Abhandlungen 15). Wiesbaden 1977.

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Damit wurden in der mediävistischen Handwerksgeschichte endlich auch die Methodendiskussionen aufgenommen, die in der Neueren Geschichte seit Wolfram Fischers Arbeiten selbstverständlich sind.57 Man hat seit dem Versanden der Debatte um das Zunftproblem zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch wieder Fragen handwerklicher Organisationsformen behandelt58 und dabei u. a. die reinen Handwerkskorporationen klar von den politischen Zünften geschieden, die in den Städten des späten 13. (z. B. die Kämpfe in Damme, Gent, Lille, Tournai, Ypern und Brügge) und 14. Jahrhunderts mit ihren verfassungsändernden Konsequenzen entstanden.59 Handwerkszünfte entwickelten sich dagegen bereits im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts: In Würzburg und Rouen fanden sich die Schuhmacher 1128 bzw. vor 1135 zu Vereinigungen zusammen, Weberzünfte existierten 1130 in London, Lincoln, Oxford, Winchester und Huntingdon.60 Die älteste Kölner Zunfturkunde stammt aus dem Jahr 1149. Die Etappen des Entwicklungsprozesses von Zunftentstehung sind geradezu idealtypisch anhand der Basler Zunfturkunden zwischen 1226 und 1270/74 nachzuvollziehen. Ihre spezifischen Ausprägungen erfuhren die Zünfte in den Niederlanden und Italien ebenfalls während des 13. Jahrhunderts. Vergleichende Ansätze zur Zunftgeschichte sind indes in der europäischen Forschung selten.61 Eine ausgezeichnete Momentaufnahme der Organisation der Pariser Handwerkskorporationen auch in ihrer Vermeidung von Konkurrenzpraktiken bietet ab 1258 das ‚Livre des métiers‘ des Étienne Boileau, Prévôt König Ludwigs des Heiligen.62 In der deutschsprachigen Forschung hat die ältere Arbeit von Hermann Heimpel über Regensburg (1926), ein Überblick über das gesamte Handwerk und Gewerbe einer Stadt, erst mit Franz Irsiglers Untersuchung über die Kölner Stadtwirt57 Vgl. etwa Wolfram Fischer: Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung vor der industriellen Revolution. Berlin 1955. 58 Dazu Wilfried Reininghaus: Zur Methodik der Handwerksgeschichte des 14. –17. Jahrhunderts. Anmerkung zu neuer Forschung, in: VSWG 72 (1985), S. 369–378, hier 377 f. 59 Für die Niederlande z. B.: Wim Blockmans: De ontwikkeling van een verstedelijkte samenleving (XIde–XVde eeuw), in: Els Witte (Hg.): Geschiedenis van Vlaanderen, van de oorsprong tot heden. Brüssel 1983, S. 43–103. Für das Reichsgebiet im Überblick: Knut Schulz: Die politische Zunft – eine die spätmittelalterliche Stadt prägende Institution?, in: Wilfried Ehbrecht (Hg.): Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit (Städteforschung, A 34). Köln/Weimar/Wien 1994, S. 1–20. 60 Edward Miller: Medieval England. Crafts, Trade and Townsfolk 1086–1348. Harlow 1995. 61 Steven A. Epstein: Wage Labor and Guilds in Medieval Europe. Chapel Hill/London 1991; Wilfried Reininghaus (Hg.): Zunftlandschaften in Deutschland und den Niederlanden im Vergleich (Schriften der Historischen Kommission für Westfalen 17). Münster 2000. Für die Niederlande: Pascale Lambrechts/Jean-Pierre Sosson (Hg.): Les métiers au moyen âge. Aspects économiques et sociaux (Publications de l’Institut d’Études Médiévales 15). Louvain-la-Neuve 1994. Für Italien: Donata Degrassi: L’economia artigiana nell’Italia medievale (Studi superiori NIS 273). Rom 1996. 62 Dazu bereits die ältere Arbeit von: Gustave Fagniez: Études sur l’industrie et la classe industrielle à Paris au XIIIe et au XIVe siècles. Paris 1877; ND Genf/Paris 1975. Impulsgebend für die neuere Forschung: Bronis`aw Geremek: Le salariat dans l’artisanat parisien aux XIIIe–XVe siècles. Etude sur le marché de la main d’oeuvre au moyen âge (1968). 2. Aufl., Paris/La Haye 1982.

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schaft eine kongeniale, freilich methodisch im Hinblick auf quantitative Einsichten differenzierte Fortsetzung gefunden.63 Die jüngere Genderforschung hat wesentliche Impulse zumindest im Sinne der Untersuchung weiblicher Berufsfelder in die Handwerksgeschichte getragen: Im Handwerk konnten auch Frauen, nicht in der allgemeinen Weise und vor dem Hintergrund eines namhaften Frauenüberschusses, wie noch Karl Bücher annahm,64 sondern nur sehr eingeschränkt, Meisterrechte wahrnehmen, die über das Witwenrecht hinausgingen. Köln und sein Textilgewerbe gab es beileibe nicht überall: Meisterinnen führten dort in völliger Selbständigkeit die Werkstatt, bildeten Lehrtöchter aus und kümmerten sich um die gesamte Produktion.65 In Hamburg dagegen kannte nur das Leinenweberhandwerk Meisterinnen, im Lübecker Gewerbe sind Frauen als Werkstattleiterinnen unbekannt.66 Die Berufsfelder der Frauen im spätmittelalterlichen Handwerk beschränkten sich auf abhängige Handlangertätigkeiten.67 VI. Städtische Textilerzeugung: die Niederlande, Köln und Oberitalien Die wissenschaftliche Erforschung des europäischen Tuchgewerbes im Mittelalter setzte 1879 mit Gustav Schmollers Untersuchung über die Straßburger Tucher- und Weberzunft ein, der Georges Epinas und Henri Pirenne ab 1906 eine mehrbändige Dokumentensammlung der flandrischen Draperie folgen ließen68 – insgesamt im Sinne der Wirtschaftsgeschichte „eine Wendung zum Bessern“, wie in der VSWG 1912 resümierend Rudolf Häpke feststellte.69 Die Forschung hat seitdem vielfältig 63 Hermann Heimpel: Das Gewerbe der Stadt Regensburg im Mittelalter (VSWG, Beiheft 9). Stuttgart 1926; Irsigler, Wirtschaftliche Stellung (wie Anm. 24). In Ansätzen zuvor: Theodor Th. Neubauer: Wirtschaftsleben im mittelalterlichen Erfurt, in: VSWG 12 (1914), S. 521–548 (Urproduktion/Handwerk); 13 (1916), S. 132–152 (Handel). 64 Karl Bücher: Die Frauenfrage im Mittelalter (1882). 2. Aufl., Tübingen 1910. Dagegen Kurt Wesoly: Der weibliche Bevölkerungsanteil in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten und die Betätigung von Frauen im zünftigen Handwerk (insbesondere am Mittel- und Oberrhein), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 128 (1980), S. 69–117. 65 Margret Wensky: Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, NF 26). Köln/Wien 1980; dies.: Women’s Guilds in Cologne in the Later Middle Ages, in: JEEH 11 (1982), S. 631–650. 66 Klaus Arnold: Frauen in den mittelalterlichen Hansestädten – Eine Annäherung an die Realität, in: Hansische Geschichtsblätter 108 (1990), S. 13–29; Yoriko Ichikawa: Die Stellung der Frauen in den Handwerksämtern im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 66 (1986), S. 91–118. 67 Etwa Grethe Jacobsen: Women’s Work and Women’s Role: Ideology and Reality in Danish Urban Society, 1300–1500, in: Scandinavian Economic History Review 31 (1983), S. 3–20; Erika Uitz: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt. Leipzig 1988; ND Freiburg/Basel/Wien 1992. 68 Gustav Schmoller: Die Straßburger Tucher- und Weberzunft. Urkunden und Darstellung nebst Regesten und Glossar. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Weberei und des deutschen Gewerberechts vom 13. bis 17. Jahrhundert. Straßburg 1879; Georges Espinas/Henri Pirenne (Hg.): Recueil de documents relatifs à histoire de l’industrie drapière en Flandre. 4 Bände. Brüssel 1906–1924. 69 Rudolf Häpke: Die neuere Literatur zur Geschichte der niederländischen Wollindustrie, in: VSWG 10 (1912), S. 166–184, hier 167.

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nachgewiesen, dass im Hinblick auf die Entwicklung der großen europäischen Tuchlandschaften die Tuchproduktion Flanderns, des Artois und Hennegaus bereits im Hochmittelalter einen Aufstieg nahm.70 Die günstige Verkehrslage dieses hochurbanisierten Raumes sorgte, wie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Georges Espinas’ Monographie einsetzenden intensiven Forschungen zeigen,71 für hervorragende Rohstoffe, namentlich für englische und spanische Wolle, dadurch aber auch für gravierende Abhängigkeiten von den Rohstoffimporten. Vorhanden waren in jenen Teilen der Niederlande ebenfalls qualifizierte Arbeitskräfte, ausgebildet hatte sich zumindest im 13. Jahrhundert mit dem breiten Zweimannwebstuhl etc. ein hoher technischer Standard. Arbeitskräfte und Technologien diffundierten von diesen frühen Zentren in andere Regionen: Nicht umsonst hießen schon 1208 die Färber in Wien „Flandrer“.72 Unter den Tuchstädten in Brabant und in der Maasregion ragte das Exportgewerbe Maastrichts schon im 12. Jahrhundert hervor, wie Hektor Ammanns vielfältige Spurensuchen belegen.73 Bedeutung errangen im 13. Jahrhundert noch Antwerpen, Mecheln, Brüssel, Löwen, Huy. Wollimporteure und Tuchhändler gehörten dort zum Patriziat. Von bescheidenerer, handwerklicher Herkunft waren nach André Joris die Drapiers.74 Bei der Beurteilung der Produktionsorganisation und der Rolle des Verlages in der nordwesteuropäischen Tuchmacherei galt bis zum Beginn der 1970er Jahre die an der Figur des Unternehmers Jehan Boinebroke aus Douai sich hochrankende, auf der 1904 in der VSWG veröffentlichten Arbeit von Georges Espinas beruhende Periodisierung Henri Pirennes und Hans van Wervekes unbestritten: Es habe im 13. Jahrhundert eine verlegerische Produktion in der Textilherstellung der städtischen Zentren gegeben.75 Alain Derville hat dieser Vorstellung mit guten Gründen 70 Hans van Werveke: Miscellanea Mediaevalia. Verspreide opstellen over economische en sociale geschiedenis van de middeleeuwen. Gent 1968. 71 Georges Espinas: La draperie dans la Flandre Française au moyen âge. 2 Bände. Paris 1923. 72 H. Grunfelder: Die Färberei in Deutschland bis zum Jahre 1300, in: VSWG 16 (1922), S. 307– 324, hier 323. Zur flandrischen Textilerzeugung: Guy de Poerck: La drapérie médiévale en Flandre et en Artois. 3 Bände (Riksuniversiteit te Gent. Werken uitgegeven door de Faculteit van de Wijsbegeerte en Letteren 110–112). Brügge 1951; Charles Verlinden: Marchands ou tisserands? A propos des origines urbaines, in: Annales E.S.C. 27 (1972), S. 396–406; Hans van Werveke: De omvang van de Ieperse lakenproductie in de veertiende eeuw. Brüssel 1947; Hektor Ammann: Deutschland und die Tuchindustrie Nordwesteuropas im Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 72 (1954), S. 1–63. 73 Hektor Ammann: Maastricht in der mittelalterlichen Wirtschaft, in: Mélanges Félix Rousseau. Etudes sur l’histoire du pays mosan au moyen âge. Brüssel 1958, S. 21–46. 74 André Joris: Note sur l’industrie drapière de Huy au moyen âge, in: Annales du Cercle Hutois des Sciences et Beaux-Arts 24 (1951/53), S. 399–407. 75 Georges Espinas: Jehan Boine Broke, Bourgeois et drapiers Douaisien (?–1310 env.), in: VSWG 2 (1904), S. 34–121, 219–253 und 382–412; ders.: Les origines du capitalisme 1. Sire Jehan Boinebroke, patricien et drapier Douaisien (?–1286 environ) (Bibliothèque de la Société d’histoire du droit des pays Flamands, Picards et Wallons). Lille 1933. Darüber hinaus: Pirenne, La civilisation/Histoire (wie Anm. 9); Hans van Werveke: De koopman-ondernemer en de ondernemer in de vlaamsche lakennijverheid van die middeleeuwen (Mededeelingen van de Koninklijke Vlaamsche Academie voor Wetenschappen, Letteren en schoone Kunsten van België, Klasse der Letteren, Jg. 8,4). Antwerpen/Utrecht 1946.

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widersprochen: Bis ins 14. Jahrhundert gebe es in Flandern den Kaufmann-Unternehmer nicht, die Wirtschaftsbereiche von „marchand“ und „drapier“ seien geschieden.76 Rudolf Holbach wies indes trotz der kritischen Einwände Dervilles auf Indizien hin, die Verlagsbeziehungen in der städtischen Tuchproduktion schon im 13. Jahrhundert möglich erscheinen lassen könnten. „Man wird sich“, so seine Quintessenz, „insbesondere hüten müssen, diesen Einzelfall (Boinebroke) leichtfertig zu verallgemeinern“.77 Jedenfalls geht die jüngere Wirtschaftsgeschichte davon aus, dass in der städtischen Tuchherstellung des 12./13. Jahrhunderts eine hohe Arbeitsteilung herrschte, die sich im 14. Jahrhundert verstärkte und mit frühkapitalistischen Wirtschaftsformen durchsetzt war.78 Mit Vorsicht begegnet die neuere Forschung den älteren Ansichten von einer generellen Krise der flandrischen Tuchindustrie im 15. Jahrhundert.79 Die Kölner Tuchmacherei, zweites Beispiel für die Erforschung der städtischen Textilherstellung, war seit dem 11. Jahrhundert ein Exportgewerbe. Mittelfeines Kölner Tuch wurde, wie die klassische Arbeit Franz Irsiglers 1979 zeigte, im 12. Jahrhundert auf der Linie nach Venedig gehandelt.80 Verlegerische Organisationsformen gingen in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts von Kaufleuten aus, die über das Gewandschnittmonopol verfügten. Im 14. Jahrhundert sind vor allem Weber als Handwerker-Verleger zu belegen. Dadurch wandelte sich die soziale Situation der Handwerker in den Hilfsgewerben: die Lohnarbeit hielt Einzug.81 Die von Klaus Militzer berechnete Produktion von Wolltüchern stieg in Köln bis zu den 1370er Jahren auf 15.000 bis 20.000 Stück an, der Ausstoß von Tirtei, einem Mischgewebe aus Wolle und Leinen, kletterte in den Jahren 1372–1374 auf fast 8.000 Tuche jährlich.82 Eine Blüte erreichte in dieser Zeit auch das im hausindustriellen Verlag organisierte und von Paris aus angeregte Seidengewerbe Kölns, das damit

76 Alain Derville: Les draperies flamandes et artésiennes vers 1250–1350. Quelques considerations critiques et problématiques, in: Revue du Nord 54 (1972), S. 353–370. 77 Holbach, Frühformen (wie Anm. 36), S. 56. 78 Allgemein zu den Produktionsbedingungen im Tuchgewerbe: Marco Spallanzani (Hg.): La lana come materia prima. I fenomenti della sua produzione e circolazione nei secoli XIII–XVIII (Istituto Internazionale di Storia Economica ‚F. Datini‘, Prato, serie II, 1). Florenz 1974; ders. (Hg.): Produzione, commercio e consumo dei panni di lana nei secoli XII–XVIII (Istituto Internazionale di Storia Economica ‚F. Datini‘, Prato, serie II, 2). Florenz 1976. Zur Arbeitszerlegung am Nürnberger Beispiel: Hironobu Sakuma: Die Nürnberger Tuchmacher, Färber und Bereiter vom 14. bis 17. Jahrhundert (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 51). Nürnberg 1993. 79 Vgl. etwa Henri-E. de Sagher (Hg.): Recueil de documents relatifs à histoire de l’industrie drapière en Flandre. IIe partie: Le sud-ouest de la Flandre, depuis l’époque bourguignonne. Brüssel 1961. Dazu die Besprechung: Rolf Sprandel: Zur Tuchproduktion in der Gegend von Ypern, in: VSWG 54 (1967), S. 336–340. 80 Irsigler, Wirtschaftliche Stellung (wie Anm. 24). 81 Franz Irsigler: Frühe Verlagsbeziehungen in der gewerblichen Produktion des westlichen Hanseraumes, in: Hansische Studien V. Weimar 1981, S. 175–183. 82 Klaus Militzer: Berechnungen zur Kölner Tuchproduktion des 14.–17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Kölner Geschichtsvereins 51 (1980), S. 89–106; ders.: Tuchhandel und Tuchhändler Kölns in Österreich und Ungarn um 1400, in: BDLG 114 (1978), S. 265–288.

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teilhatte an dem europaweiten ‚Seidenfieber‘, der verstärkten Nachfrage nach Seidenstoffen, nach Damast und Brokat im 14. und 15. Jahrhundert.83 Das Tuchgewerbe und die verlegerische Produktion Oberitaliens sind außergewöhnlich gut untersucht.84 Florenz war und ist dabei seit dem grundlegenden Werk Alfred Dorens (1901) Gradmesser und Abbild für viele Entwicklungen innerhalb dieser Städtelandschaft.85 Während Hidetoshi Hoshino und Ruggiero Romano die Florentiner Tuchproduktionskapazitäten entscheidend gegenüber der älteren Forschung korrigieren konnten und die Zunahme der Luxusnachfrage nach feinstem Tuch mit einer „Aristokratisierung“ der Produktion in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nachwiesen,86 hat Maureen Fennell Mazzaoui auf den zeitgleichen Trend nach geringeren Qualitäten bei Woll- und Seidentuch aufmerksam gemacht.87 Beides stützte die städtische Produktion. Das Verlagssystem im Florentiner Wolltuchgewerbe ist dargestellt bei Alfred Doren und Raymond de Roover.88 Rolle und Bedeutung des Verlags sind allerdings wie so häufig umstritten. Diskutiert wird die Reichweite des Einflusses der Unternehmer auf allen Stufen der Textilproduktion. De Roover hebt etwa die sehr differenziert zu bewertende Kontrolle über die Arbeitskräfte hervor. Volker Hunecke erörtert im Rahmen des Ciompi-Aufstandes das Problem des Ausmaßes der Lohnarbeit und ihrer Bewertung als Ausbeutungsverhältnis.89 Gertrud Hermes hat sich bereits 1916 gegen die bei Doren beschriebenen „Riesenateliers“ gewandt.90 Die neuere Forschung sieht und betont etwa am Beispiel der Unternehmungen des Kaufmannes Francesco di Marco Datini in Prato den außerordentlichen Grad der Zerlegung der Produktion.91 83 Hans Pohl: Der deutsche Seidenhandel vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.): La seta in Europa, secc. XIII–XX (Istituto Internazionale di Storia Economica ‚F. Datini‘, Prato, serie II, 25). Florenz 1993, S. 633–682. 84 Überblick über die Literatur bes. bei: Ruggiero Romano: La storia economica: Dal secolo XIV al settecento, in: Storia d’Italia, Band II. Turin 1974, S. 1813–1931; Maureen Fennell Mazzaoui: The Italian Cotton Industry in the Later Middle Ages, 1100–1600. Cambridge, Mass. 1981. 85 Doren, Wollentuchindustrie (wie Anm. 40). 86 Hidetoshi Hoshino: L’arte della lana in Firenze nel basso medioeva. Il commercio della lana e il mercato dei panni fiorentini nei secoli XIII–XV (Biblioteca Storica Toscana 21). Florenz 1980. Zusammenfassung: Ders.: The Rise of the Florentine Woollen Industry in the Fourteenth Century, in: N. B. Harte/Kenneth G. Ponting (Hg.): Cloth and Clothing in Medieval Europe. Essays in Memory of Professor E. M. Carus-Wilson (Pasold Studies in Textile History 2). London 1983, S. 184–204; Romano, La storia economica (wie Anm. 84 ), S. 1852 f. 87 Mazzaoui, Cotton Industry (wie Anm. 84). 88 Doren, Wollentuchindustrie (wie Anm. 40); Raymond de Roover: A Florentine Firm of Cloth Manufacturers. Management and Organization of a Sixteenth-Century Business, in: Speculum 16 (1941), S. 3–33. 89 Volker Hunecke: Il tumulto dei Ciompi – 600 Jahre danach. Bemerkungen zum Forschungsstand, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 58 (1978), S. 360–410. 90 Gertrud Hermes: Der Kapitalismus in der Florentiner Wollenindustrie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 72 (1916), S. 367–400. 91 Federigo Melis: Aspetti della vita economica medievale. Studi nell’archivio Datini di Prato. Siena 1962; Raymond de Roover: Labour Conditions in Florence around 1400: Theory, Policy and Reality, in: Nicolai Rubinstein (Hg.): Florentine Studies. Politics and Society in Renaissance Florence. London 1968, S. 277–313.

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VII. Stadt, Metall und Salz Einen sehr detaillierten Überblick über die unterschiedlichen städtischen Metallhandwerke und -gewerbe vermittelt Rudolf Holbach im Rahmen seiner Untersuchung über das mittel- und nordwesteuropäische Verlagswesen. Ansätze zur verlegerischen Organisation sind in vielen Handwerken und Gewerben spätestens seit dem 14. Jahrhundert belegt.92 Übergreifende bzw. länderbezogene Arbeiten speziell zum Eisengewerbe haben nach dem Zweiten Weltkrieg Bertrand Gille und Rolf Sprandel vorgelegt.93 Die deutschen Forschungen konzentrieren sich vornehmlich auf Nürnberg und Köln, den Vororten der Metallproduktion im Reich.94 Das Engagement von Kölner Kapital in europäischen Montanregionen vornehmlich des 15. und 16., aber auch mit Seitenblicken auf das 14. Jahrhundert, hat wiederum Franz Irsigler grundlegend untersucht.95 Zusammenfassende bzw. regional einführende Werke orientieren über die spätmittelalterliche Buntmetallerzeugung und das entsprechende städtische Gewerbe insbesondere in der Maasregion, die die führende Position in der Kupferverarbeitung inne hatte, über die Bedeutung des Eislebener Garkupfers für den europäischen Kupfermarkt um 1500 und über die als Produktionsstätten für Messingwaren hervorragenden Zentren Aachen und Dinant. Sie finden ihre Grundlegung in den älteren Arbeiten von Henri Pirenne (VSWG 1904) und Rudolf Arthur Peltzer (1909), die 1971 von Ekkehard Westermann kongenial fortgeführt wurden.96 Die neueren Forschungen über die städtische Salzproduktion wurden seit den 1970er Jahren namentlich durch die eingehenden Untersuchungen Harald Witthöfts angestoßen: Sie haben die überragende Bedeutung von Salz und Saline für die Wirt92 Holbach, Frühformen (wie Anm. 36), S. 209–416. 93 Bertrand Gille: Les origines de la grande industrie métallurgique en France. Paris 1947; Rolf Sprandel: Das Eisengewerbe in Mittelalter. Stuttgart 1968. 94 Hektor Ammann: Die wirtschaftliche Stellung der Reichsstadt Nürnberg im Spätmittelalter (Nürnberger Forschungen 13). Nürnberg 1970; Rainer Stahlschmidt: Die Geschichte der eisenverarbeitenden Gewerbe in Nürnberg von den Anfängen bis 1630 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 4). Nürnberg 1971; ders.: Das Messinggewerbe im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 57 (1970), S. 124–149; Irsigler, Wirtschaftliche Stellung (wie Anm. 24), S. 113–215 (mit der älteren Literatur). 95 Franz Irsigler: Rheinisches Kapital in mitteleuropäischen Montanunternehmen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: ZHF 3 (1976), S. 145–164. 96 Henri Pirenne: Les marchands-batteurs de Dinant au XIVe et au XVe siècle. Contribution à l’histoire du commerce en gros au moyen âge, in: VSWG 2 (1904), S. 442–449; Rudolf Arthur Peltzer: Geschichte der Messingindustrie und der künstlerischen Arbeiten in Messing (Dinanderies) in Aachen und den Ländern zwischen Maas und Rhein von der Römerzeit bis zur Gegenwart, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 30 (1909), S. 235–463; Ekkehard Westermann: Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt von 1460 bis 1560. Köln/Wien 1971. Neuere Zusammenfassungen bieten darüber hinaus: André Joris: Probleme der mittelalterlichen Metallindustrie im Maasgebiet, in: Hansische Geschichtsblätter 87 (1969), S. 58–76; Rudolf Holbach: Exportproduktion und Fernhandel als raumbestimmende Kräfte. Entwicklungen in nordwesteuropäischen Gewerbelandschaften vom 13.–16. Jahrhundert, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 13 (1987), S. 227–256.

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schafts- und Sozialgeschichte Lüneburgs herausgestellt.97 Über die europaweite Produktion und Distribution des Salzes, auch über die Kapitalverflechtungen zwischen der Salzgewinnung in Chioggia und dem venezianischen Handelspatriziat arbeiteten Jean-Claude Hocquet und Rudolf Palme.98 Die genannten Arbeiten wurden in den 1980/90er Jahren zum Vorbild für eine intensiv einsetzende Erforschung der Salzproduktion vornehmlich im mitteleuropäischen Raum.99 VIII. Das Baugewerbe Trotz kaum zu überschauender Einzelveröffentlichungen gerade im letzten Jahrzehnt bleibt das schon 1916 von Werner Sombart getroffene und von Hans Conrad Peyer 1982 für die Schweiz mit einigem Recht wiederholte Verdikt bestehen: „Die Wirtschaftsgeschichte des Baugewerbes ist bisher ungeschrieben geblieben“. 100 Dennoch ist auch angesichts der äußerst ungleichgewichtigen Überlieferungssituation – im Privatbau stark defizitär, im öffentlichen Bauwesen angesichts der Massen von Rechnungen für einzelne Bauten, für Kirchen, Städte und Territorien kaum zu überblicken, geschweige denn zu handhaben101 – schon mehrfach der Versuch unternommen worden, die Baugeschichte in Überblicksdarstellungen zu erfassen. Das Verdienst solcher Zusammenfassungen besteht schon allein darin, sich den Schwierigkeiten dieses multidisziplinären Forschungsobjekts gestellt zu haben, an dem Archäologen, Bau-, Kunst-, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialhistoriker sowie Ethnologen teilhaben – jede Disziplin mit teilweise andersgearteten Quellen, jede Wissenschaft mit dem legitimen Anspruch, neue und eigene Akzente in das Zentrum ihrer Forschungen zu rücken. Douglas Knoop und Gwilym Peredur Jones haben schon 1933 eine Wirtschaftsgeschichte des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen englischen Steinbaus publiziert.102 1952 folgte Louis Francis Salzman mit einem konzisen Überblick über 97 Harald Witthöft: Struktur und Kapazität der Lüneburger Saline seit dem 12. Jahrhundert, in: VSWG 63 (1976), S. 1–117. 98 Jean-Claude Hocquet: Le sel et le pouvoir. De l’an mil à la révolution française. Paris 1984; ders.: Chioggia, capitale del sale nel Medioev. Sottomarina 1991; Palme, Rechts-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte (wie Anm. 43). 99 Heinrich Wanderwitz: Studien zum mittelalterlichen Salzwesen in Bayern. München 1984; Wilhelm Rausch (Hg.): Stadt und Salz. Linz 1988; Jean-François Bergier: Die Geschichte vom Salz. Frankfurt a. M. 1989; Christian Lamschus (Hg.): Salz–Arbeit–Technik. Produktion und Distribution in Mittelalter und Früher Neuzeit. Lüneburg 1989; Jean-Claude Hocquet/Rudolf Palme (Hg.): Das Salz in der Rechts- und Handelsgeschichte. Schwaz 1991. 100 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Band II,2. 2. Aufl., München/Leipzig 1916; ND München 1987, S. 772; Hans Conrad Peyer: Entwicklung der Schweizer Bauwirtschaft vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, in: Schweizer Baublatt Nr. 82 (15.10.1982), S. 63–66; Nr. 84 (22.10.1982), S. 51–55, hier Nr. 82, S. 63. 101 Dazu im Überblick: Gerhard Fouquet: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters (Städteforschung, A 48). Köln/Weimar/Wien 1999, S. 17–35. 102 Douglas Knoop/Gwilym Peredur Jones: The Medieval Mason. An Economic history of English

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den englischen Baubetrieb bis 1540. Salzman hat dabei im Grunde den Versuch unternommen, die gesamte Breite des öffentlichen und kirchlichen Bauens darzustellen – von der menschlichen Arbeit und den Organisationsstrukturen der Betriebe und Hütten, über Baumaterial und Bautechnik bis hin zur Mechanisierung der Arbeitsvorgänge.103 Die periodischen Neuauflagen bis heute zeigen schon die Bedeutung der beiden Bücher für erste Orientierungen in einem nicht gerade leicht zugänglichen Forschungsfeld an. Die jüngste vom Hochmittelalter bis in die 1460er Jahre führende Zusammenschau auf breiter Quellen- und Forschungsgrundlage hat eine Kölner Arbeitsgruppe um Günther Binding 1993 vorgelegt.104 Es handelt sich um einen Überblick über den Baubetrieb in West- und Mitteleuropa, zentriert auf den deutschsprachigen Raum, aber auch mit Ausblicken nach England und Italien versehen. Ähnlich wie Salzman, freilich mit stärkeren Akzenten auf Organisation, Planung und Sozialgeschichte des Bauens hält das Buch hauptsächlich den kirchlichen Baubetrieb im Blick. Zweifellos lag der Schwerpunkt der Forschungen, die in erster Linie von der Kunst- und Baugeschichte geleistet wurden, seit dem 19. Jahrhundert auf dem Kathedral- und Klosterbau. Das Bauwesen der entstehenden bzw. ausgebildeten Städte sowie der Territorien wurde dagegen nicht so intensiv berücksichtigt. An dieser Akzentuierung hat sich, wie bereits hervorgehoben, bis heute nichts geändert – trotz der zahlreich erschlossenen Quellen und trotz einer ganzen Reihe neuerer Arbeiten vor allem zum territorialen Bauwesen,105 insbesondere zu dem, allerdings stark unter verfassungs- und landesgeschichtlichen Aspekten untersuchten, Burgenbau.106 Stone Building in the later Middle Ages and early Modern Times (1933). 3. Aufl., New York 1967. Aus der Feder von Jones stammt auch eine gedrängte Zusammenfassung über den mittelalterlichen Baubetrieb in Westeuropa (hauptsächlich Kirchenbau): Gwilym Peredur Jones: Building in Stone in Medieval Western Europe, in: Postan/Miller (Hg.), The Cambridge Economic History of Europe (wie Anm. 10), S. 762–787. 103 Louis Francis Salzman: Building in England down to 1540. A documentary history. Oxford 1952; ND Oxford 1992. 104 Günther Binding: Baubetrieb im Mittelalter. In Zusammenarbeit mit Gabriele Annas, Bettina Jost und Anne Schunicht. Darmstadt 1993. Wenig befriedigend bleibt dagegen die Zusammenfassung über Bau und Bautechnik während des frühen und hohen Mittelalters in der PropyläenTechnikgeschichte: Dieter Hägermann/Helmuth Schneider: Landbau und Handwerk. 750 v. Chr. bis 1000 n. Chr. (Propyläen Technikgeschichte 1). Berlin 1991, S. 440–459. Im zweiten Band der Propyläen-Technikgeschichte hat Karl Heinz Ludwig einen sehr knappen, aber durchaus lesbaren Abriss zur Baugeschichte bis 1350/1400 gegeben; Volker Schmidtchen, der den Zeitraum bis 1600 bearbeitete, schreibt dagegen fast ausnahmslos eine Geschichte der großen Architekten, berücksichtigt aber immerhin noch Branchen wie Ziegler und Pflasterer: Karl Heinz Ludwig/Volker Schmidtchen: Metalle und Macht. 1000 bis 1600 (Propyläen Technikgeschichte 2). Berlin 1992, S. 128–143, 393–451 (S. 461–465: Ziegler; 505–507: Pflasterer). 105 An neueren Untersuchungen sei verwiesen auf: Werner Meyer: Alt-Wartburg im Kanton Aargau (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 1). Olten-Freiburg/Br. 1974 (mit einer bemerkenswerten Verbindung von Besitz-, Territorialgeschichte und Archäologie); ders.: Die Burg als repräsentatives Statussymbol. Ein Beitrag zum Verständnis des mittelalterlichen Burgenbaus, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 33 (1976), S. 173–181; ders.: Zisternen auf Höhenburgen der Schweiz. Zum Problem der Trinkwasserversorgung auf mittelalterlichen Burganlagen, in: Burgen und Schlösser 20 (1979), S. 84–90; Alexander Antonow: Planung und Bau von Burgen im süddeutschen Raum.

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Eine Monographie zur städtischen Baugeschichte in Deutschland, die den Arbeiten zum kirchlichen Baugewerbe von Stephan Beissel, Joseph Neuwirth und Karl Uhlirz vergleichbar wäre,107 haben die historischen Nationalökonomen und der ihnen zuzurechnende Kreis trotz zahlreicher empirischer wie theoretischer handwerksgeschichtlicher Studien108 nicht hervorgebracht. Gewiss hat man schon 1862 bzw. 1880 von stadt- und lokalgeschichtlicher Seite aus die beiden überlieferten Baumeisterbücher Nürnbergs, die bedeutenden Aufzeichnungen Endres Tuchers (1464– 1475) und die wesentlich kürzeren Notate Lutz Steinlingers von 1452, ediert. Man hat zudem 1866 bzw. 1879 die von 1405 bis 1407 bzw. zwischen 1453 und 1455 erhaltenen Rechnungen über den Bau der Rathäuser in Bremen und Hannover herausgegeben.109 Von Seiten der historischen Nationalökonomie wurde verstärkt aber

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Frankfurt a. M. 1983; Horst Masuch: Das Schloß in Celle. Eine Analyse der Bautätigkeit von 1378 bis 1499 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 95). Hildesheim 1983 (mit wertvollen methodischen Einsichten); Thorsten Albrecht: Landesherrliche Baumaßnahmen im 16. Jahrhundert am Beispiel der Grafschaft Schaumburg im Spiegel archivalischer Quellen, in: Renaissance im Weserraum, Band II: Aufsätze (Schriften des Weserrenaissance-Museums Schloß Brake 2). München/Berlin 1989, S. 159–190; Karl E. Demandt: Rheinfels und andere Katzenelnbogener Burgen als Residenzen, Verwaltungszentren und Festungen 1350–1650 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, NF 5). Darmstadt 1990 (mit interessanten baugeschichtlichen Einblicken). Siehe auch die Überblicke: Mark Mersiowsky: Spätmittelalterliche Rechnungen als Quellen zur Baugeschichte, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 36 (1992), S. 28–33; ders.: Die Anfänge territorialer Rechnungslegung im deutschen Nordwesten. Spätmittelalterliche Rechnungen, Verwaltungspraxis, Hof und Territorium (Residenzenforschung 9). Stuttgart 2000. Aus der Fülle der Literatur nur einige neuere Arbeiten: Werner Meyer: Die Löwenburg im Berner Jura. Geschichte der Herrschaft und ihrer Bewohner (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 113). Basel/Stuttgart 1968; Rainer Kunze: Burgenpolitik und Burgbau der Grafen von Katzenelnbogen bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung 3). Marksburg über Braubach/Rhein 1969; Uwe Albrecht: Der Adelssitz im Mittelalter. Studien zum Verhältnis von Architektur und Lebensform in Nord- und Westeuropa. München/Berlin 1995. Stephan Beissel: Geldwerth und Arbeitslohn, in: Ders.: Die Bauführung des Mittelalters. Studie über die Kirche des hl. Victor zu Xanten. Bau – Geldwerth und Arbeitslohn – Ausstattung. 2. Aufl., Freiburg/Br. 1889; ND Osnabrück 1966, S. 1–190; Joseph Neuwirth (Hg.): Die Wochenrechnungen und der Betrieb des Prager Dombaues in den Jahren 1372–1378. Prag 1890; Karl Uhlirz (Hg.): Die Rechnungen des Kirchmeisteramtes von St. Stephan zu Wien. I. Abtheilung: Ausgaben auf die Steinhütte während die Jahre 1404, 1407, 1415–1417, 1420, 1422, 1426, 1427, 1429, 1430, 1535; II. Abtheilung: Einahmen und Ausgaben während der Jahre 1404, 1407, 1408, 1415–1417, 1420, 1422, 1426, 1427, 1429, 1430, 1476, 1535 (Einleitung, Beilagen, Sach- und Ortsverzeichnis). Wien 1901–1902. Zu verweisen ist in erster Linie auf die von Karl Bücher initiierte Enquête zum deutschen und österreichischen Handwerk mit seinen historischen Bezügen: Karl Bücher (Hg.): Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland. 9 Bände (Schriften des Vereins für Socialpolitik 62–70). Leipzig 1895–1897; Karl Bücher (Hg.): Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich (Schriften des Vereins für Socialpolitik 71). Leipzig 1896. Matthias Lexer/Friedrich von Weech (Hg.): Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475) (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 64). Stuttgart 1862; ND Amsterdam 1968; Ernst Mummenhoff (Hg.): Lutz Steinlingers Baumeisterbuch vom Jahre 1452, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 2 (1880), S. 15–77; D. R.

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erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts damit begonnen, das Baugewerbe einzelner Städte untersuchen zu lassen. Zu erwähnen wären die Arbeiten von Fritz Flechtner über Breslau (1897), von Richard Vockert über Leipzig (1914), von Franz Krug über Mannheim (1915), von A. F. Parizot über Bremen (1923) und von William Gerber über Hamburg (1933).110 Das Schwergewicht dieser Forschungen, die in der Regel einen Abriss vom Mittelalter bis zum 19./20. Jahrhundert bieten, lag aber auf Untersuchungen zum Baurecht, zur Gewerbe- und Zunftverfassung und zum baugewerblichen Ausbildungswesen. Arbeits- und Lohnverhältnisse, die Entwicklungen innerhalb der öffentlichen und privaten Baufinanzierung, Grundsätze von Bauplanung und -technik hat man dagegen weniger reflektiert – und wenn, dann hauptsächlich für die Neuzeit. Ausnahmen bildeten lediglich die bei Bruno Kuske gefertigte Dissertation von Annamia Deichmann und die von Heinrich Reincke betreute Promotionsschrift von Elsa Carpie, die materialreich das städtische Bauwesen Kölns und Hamburgs nachzeichneten. Die Arbeit Deichmanns findet in ähnlicher Weise wie die Studie von Carpie in der Zeit des Spätmittelalters ihren Schwerpunkt mit Untersuchungen zu den Bereichen der Baufinanzierung, der Arbeitsverhältnisse und der Baumaterialversorgung.111 Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat nach dem Zweiten Weltkrieg die Investitionen spätmittelalterlicher Städte im Bereich des Bauwesens vornehmlich im Rahmen des Gesamthaushalts wahrgenommen. Dennoch sind, angefangen von den Quellen zur Bau- und Kunstgeschichte der Stadt Baden, die Hektor Ammann und Otto Mittler 1951 zusammenstellten,112 eine ganze Reihe von Untersuchungen erschienen, die teilweise von der Architekturgeschichte selbst in ihrem ureigensten Gebiet des Kloster- und Kathedralbaus durchgeführt worden sind – zu nennen wäEhmck/H. A. Schumacher (Hg.): Das Rathaus zu Bremen, in: Bremisches Jahrbuch 2 (1866), S. 259–443, hier 272–318 (Edition); Hektor Wilhelm Heinrich Mithoff: Ausgabe-Register vom Rathausbau am Markt zu Hannover aus dem Jahre 1453, 1454 und 1455, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen (1879), S. 257–280. 110 Fritz Flechtner: Das Baugewerbe in Breslau, in: Karl Bücher (Hg.): Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Band 9: Verschiedene Staaten (Schriften des Vereins für Socialpolitik 70). Leipzig 1897, S. 377–427, bes. 377–381; Richard Vockert: Das Baugewerbe in Leipzig vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Tübinger staatswissenschaftliche Abhandlungen 6). Stuttgart 1914; Franz Krug: Das Baugewerbe in Mannheim in Vergangenheit und Gegenwart (Tübinger staatswissenschaftliche Abhandlungen 7) Berlin/Stuttgart/Leipzig 1915; A. F. Parizot: Das Baugewerbe unter besonderer Berücksichtigung bremischer Verhältnisse in geschichtlicher Entwicklung bis zur Gegenwart dargestellt. Diss. Hamburg 1923; William Gerber: Die Bauzünfte im alten Hamburg. Entwicklung und Wesen des vaterstädtischen Maurerund Zimmerergewerbes während der Zunftzeit. Hamburg 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese monographischen Darstellungen einzelner städtischer Baugewerbe fortgesetzt: Wilhelm Rust: Das Flensburger Bauhandwerk von 1388–1966. Ein Beitrag zur Baugeschichte der Stadt. Flensburg 1967; Annegret von Lüde: Studien zum Bauwesen in Würzburg 1720 bis 1750 (Mainfränkische Studien 40). Würzburg 1987. 111 Annamia Deichmann: Das Kölner Bauwesen im Mittelalter. Diss. Köln 1929; Elsa Carpie: Die Geschichte des öffentlichen Bauwesens der Stadt Hamburg 1350–1814. Diss. Hamburg 1931. 112 Hektor Ammann/Otto Mittler: Quellen zur mittelalterlichen Bau- und Kunstgeschichte aus dem Stadtarchiv Baden, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 12 (1951), S. 126–169.

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ren die Arbeiten von Audrey M. Erskine, P. Rudolf Henggeler, Anton Largiadèr, Georg Germann, Guido Rotthoff, Barbara Schock-Werner, Wolfgang Schöller, W. H. Vroom und Franz Fuchs113 – und teilweise von Seiten der Handwerks-, Finanz- und Stadtgeschichte ihre Anregungen empfangen haben. Hinzuweisen ist dabei insbesondere auf die zwischen 1946 und 1969 entstandene, u. a. für die Sozialgeschichte spätmittelalterlicher Bauhandwerker wichtige, bislang aber wenig beachtete Edition der Bauregister des Domes von Utrecht (1396–1506/07) durch Nicholas Bernardus Tenhaeff und Willem Jappe Alberts.114 Strukturelle Einsichten in die Entwicklung des kommunalen Bauhaushalts und des Baugewerbes im Spätmittelalter vermittelten in erster Linie Untersuchungen über west- und südeuropäische Städte. Wichtig wurden in gewisser Weise die Arbeiten von Jean-Pierre Sosson über Brügge, von Richard A. Goldthwaite über Florenz, von Philippe Bernardi über Aix-en-Provence und von Patrick Boucheron über Mailand.115 Im deutschsprachigen Raum haben Martin Körner und Rainer Gömmel 113 Vgl. Audrey M. Erskine (Hg.): The Accounts of the Fabric of Exeter Cathedral, Part I: 1279– 1326 (Devon & Cornwall Record Society, N.S. 24). Torquay 1981; P. Rudolf Henggeler (Hg.): Baurodel und Jahrzeitbuch der St.-Oswalds-Kirche in Zug (Quellen zur Schweizer Geschichte, II 4). Basel 1951; Anton Largiadèr: Baurodel und Jahrzeitbuch der St.-Oswalds-Kirche in Zug, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 19 (1959), S. 178–189; Georg Germann: Baubetrieb an St. Oswald in Zug 1478–1483, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 35 (1978), S. 23–31; Guido Rotthoff: Organisation und Finanzierung des Xantener Dombaues im 15. Jahrhundert, in: Xantener Domblätter 7 (1973), S. 6–26; ders. (Hg.): Die Stiftskirche des Hl. Viktor zu Xanten. Die Baurechnungen der Jahre 1438/39–1491/92 (Die Stiftskirche des Hl. Victor zu Xanten, Band IV, 2), Kevelaer 1975; Barbara Schock-Werner: Das Straßburger Münster im 15. Jahrhundert. Stilistische Entwicklung und Hütten-Organisation eines Bürger-Doms (Veröffentlichung der Abteilung Architektur des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln 23). Köln 1983; Wolfgang Schöller: Die rechtliche Organisation des Kirchenbaues im Mittelalter vornehmlich des Kathedralbaues: Baulast – Bauherrenschaft – Baufinanzierung. Köln/Wien 1989; W. H. Vroom: De financiering van de kathedraalbouw in de middeleeuwen in het bijzonder van de dom van Utrecht. Maarssen 1981; ders.: De Onze-Lieve-Vrouwekerk te Antwerpen. De financiering van de bouw tot de beeldenstorm. Antwerpen/Amsterdam 1983; Franz Fuchs: Unbekannte St. Emmeramer Baurechnungen des 14. Jahrhunderts, in: Max Piendl (Hg.): Beiträge zur Baugeschichte des Reichsstiftes St. Emmeram und des fürstlichen Hauses in Regensburg (Thurn und Taxis-Studien 15). Kallmünz 1986, S. 7–27. 114 Nicholas Bernardus Tenhaeff (Hg.): Bronnen tot de Bouwgeschiedenis van den Dom te Utrecht, Band II, 1: Rekeningen 1395–1480 (Rijks Geschiedkundige Publicatiën, Gr. Serie 88). s’-Gravenhage 1946; Willem Jappe Alberts (Hg.): Bronnen tot de bouwgeschiedenis van de Dom te Utrecht, Band II, 2: Rekeningen 1480/81–1506/07 (Rijks Geschiedkundige Publicatiën, Gr. Serie 129). s’-Gravenhage 1969. 115 Jean Pierre Sosson: Pour une approche économique et sociale du bâtiment l’éxemple des travaux publics à Bruges au XIVe et XVe siècles, in: Bulletin de la commission royale de monuments et des sites 2 (1972), S. 131–152; ders.: Les travaux publics de la ville de Bruges, XIVe–XVe siècles. Les matériaux. Les hommes (Credit communal de Belgique, collection histoire pro civitate, série in-8° 48). Brüssel 1977; ders.: Corporation et paupérisme aux XIVe et XVe siècles. Le salariat du bâtiment en Flandre et en Brabant, et notamment à Bruges, in: Tijdschrift voor geschiedenis 92 (1979), S. 557–575; Richard A. Goldthwaite: The Building of Renaissance Florence. An Economic and Social History. Baltimore/London 1980; Philippe Bernardi: Métiers du bâtiment et techniques de construction à Aix-en-Provence à la fin de l’époque gothique

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auf der Basis der städtischen Haushaltsrechnungen die ‚tres longue durée‘, die langfristigen Konjunkturen der Luzerner bzw. Nürnberger Bauinvestitionen dargestellt.116 Mit den mittelfristigen Verläufen städtischer Bauausgaben in Bamberg, Bern und Basel/Marburg, mit den Bedingungen der Refinanzierung, der Verteilung der Investitionen auf Hoch- und Tiefbau und den Arbeitsverhältnissen städtischer Handwerker beschäftigten sich jüngste Studien von Johann Georg Sichler, Roland Gerber und Gerhard Fouquet.117 Dem Bauhandwerk der Stadt Nürnberg zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert ist die Arbeit von Peter Fleischmann gewidmet.118 In Anlage und Methode eher dem Genre der Carpie, Deichmann, Krug und Vockert verpflichtet, einer gewerbegeschichtlichen Tradition, der in gewisser Weise auch das Werk Goldthwaites über Florenz und die 1970 erschienene Abhandlung von Klaus Strolz über Zürich verpflichtet sind,119 befasste sich Fleischmann mit den Bauhandwerken, den Usancen des Handwerksbetriebs (Gewerberecht, Arbeitsverhältnisse, Betriebsgröße, Arbeitszeit, Entlohnung und Materialien) sowie mit den Arbeitskräften (Meistern, Gesellen und Lehrjungen). Ganz dezidiert auf Abrechnungen beruhen endlich die Arbeiten, die sich seit den siebziger Jahren den Mikrostrukturen des städtischen Baubetriebs zugewendet haben. Die städtischen Bauhöfe in Krems, Marburg, Siegburg, Bamberg und Lüneburg wurden von ihren institutionellen Bedingungen und rechnerischen Grundlagen her von Gerhard Jaritz, Wolfgang Herborn, Carolin Göldel und Antje SanderBerke behandelt.120 Auf die Bedeutung der kommunalen Regiebetriebe für die städ-

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(1400–1550). Aix-en-Provence 1995; Patrick Boucheron: Le pouvoir de bâtir. Urbanisme et politique édilitaire à Milan (XIVe–XVe siècles) (Collection de l’École française de Rome 239). Rom 1998. Rainer A. Gömmel: Vorindustrielle Bauwirtschaft in der Reichsstadt Nürnberg und ihrem Umland (16.–18. Jh.) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 30). Stuttgart 1985; ders.: Die langfristige Bautätigkeit der Reichsstadt Nürnberg in der frühen Neuzeit, in: Ulf Dirlmeier/ Rainer S. Elkar/Gerhard Fouquet (Hg.): Öffentliches Bauen in Mittelalter und früher Neuzeit. Abrechnungen als Quellen für die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Bauwesens (Sachüberlieferung und Geschichte 9). St. Katharinen 1991, S. 27–35; Martin Körner: Luzerner Staatsfinanzen 1451–1798. Strukturen, Wachstum, Konjunkturen (Luzerner Historische Veröffentlichungen 13). Luzern/Stuttgart 1981, besonders S. 333–347. Johann Georg Sichler: Die Bamberger Bauverwaltung (1441–1481) (Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte 41). Stuttgart 1990; Roland Gerber: Öffentliches Bauen im mittelalterlichen Bern. Verwaltungs- und finanzgeschichtliche Untersuchung über das Bauherrenamt der Stadt Bern. 1300 bis 1550 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 77). Bern 1994. Kurzfassung: Ders.: Aspekte der Eigenfinanzierung. Der Berner Bauhaushalt im späten Mittelalter, in: Sébastién Guex/Martin Körner/Jakob Tanner (Hg.): Staatsfinanzierung und Sozialkonflikte (14.–20. Jahrhundert) (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 12). Zürich 1994, S. 55–73; Fouquet, Bauen (wie Anm. 101). Peter Fleischmann: Das Bauhandwerk in Nürnberg vom 14. bis zum 18. Jahrhundert (Nürnberger Werkstücke zur Stadt und Landesgeschichte 38). Nürnberg 1985. Klaus Strolz: Das Bauhandwerk im Alten Zürich unter besonderer Berücksichtigung seiner Löhne. Diss. Aarau 1970. Gerhard Jaritz: Die Rechnungen des Kremser „Stadtbaumeisters“ Wilbold Harber aus den Jahren 1457–1459, in: Mitteilungen des Kremser Stadtarchivs 15/16 (1976), S. 1–63; Wolfgang Herborn: Eine Siegburger Baurechnung von 1488 im Kölner Stadtarchiv, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises 56 (1988), S. 40–58; Carolin Göldel: Der Bamberger Bauhof und dessen

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tische Baupolitik und die Subventionierung des Privatbaus, auf die Aufgaben, Leistungen und Kosten von Ziegeleien, Steinbrüchen, Sägemühlen, Gipshäusern und Kalkrösten in Hamburg, Braunschweig, Hildesheim, Lüneburg und in anderen norddeutschen Städten sowie in Zürich haben die Forschungen von Brigitte Fiedler, Ulf Dirlmeier, François Guex, zuletzt und vor allem von Antje Sander-Berke aufmerksam gemacht.121 Unter dem Eindruck der Alltagsgeschichte und der modernen Sozialgeschichte der Arbeit entstanden in jüngster Zeit eine Reihe von Untersuchungen, welche auf der Grundlage eher zufällig erhaltener Sonderrechnungen spätmittelalterliche Baustellen in den Blickpunkt nahmen.122 Untersucht wurden in diesem Leitsektor – gerade in Anlehnung an die bedeutenden jüngeren Arbeiten zur Preis- und Lohngeschichte und Lebenshaltungsbedingungen von Charles de La Roncière (1976), der sich auf die lückenlosen Daten zur Lohnentwicklung im Wolltuchgewerbe von Florenz stützte, von Bronis`aw Geremek über Paris (1968) und von Ulf Dirlmeier über oberdeutsche Städte (1978)123 – die Arbeiter, ihr Lohn und ihre Arbeitszeit124 sowie die Bedingungen ihrer Rekrutierung, die Verpflegung auf dem Bauplatz, Sitten und Gebräuche der Handwerker, vorgestellt wurden überdies bauplanerische, -organi-

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Schriftwesen im 15. Jahrhundert, in: Berichte des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 123 (1987), S. 223–282; Antje Sander: Die Lüneburger Bauamtsrechnungen von 1386 bis 1388, in: Dirlmeier/Elkar/Fouquet (Hg.), Öffentliches Bauen (wie Anm. 116), S. 89–115. Brigitte Fiedler: Die gewerblichen Eigenbetriebe der Stadt Hamburg im Spätmittelalter. Diss. Hamburg 1974 (Maschr.); Ulf Dirlmeier/Gerhard Fouquet: Eigenbetriebe niedersächsischer Städte im Spätmittelalter, in: Cord Meckseper (Hg.): Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150–1650, Band III. Stuttgart/Bad Cannstatt 1985, S. 257– 279; François Guex: Bruchstein, Kalk und Subventionen. Das Zürcher Baumeisterbuch als Quelle zum Bauwesen des 16. Jahrhunderts (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 53). Zürich 1986; Antje Sander: Baustoffversorgung spätmittelalterlicher Städte Norddeutschlands (Städteforschung, A 37). Köln/Weimar/Wien 1995. Rainer S. Elkar/Gerhard Fouquet: Und sie bauten einen Turm … Bemerkungen zur materiellen Kultur des Alltags in einer kleineren deutschen Stadt des Spätmittelalters, in: Handwerk und Sachkultur im Spätmittelalter (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. Sitzungsberichte 513. Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 11). Wien 1988, S. 169–201; Dieter Heckmann: Ausgaben für Mauerausbesserungen der Revaler Bürgerstadt von 1388/89, in: Zeitschrift für Ostforschung 37 (1988), S. 175–186; Fouquet, Bauen (wie Anm. 101) (mit der einschlägigen weiteren Literatur). Charles de La Roncière: Florence. Centre économique et sociale au XIVe siècle. Le marché des denrées de première nécessité à Florence et dans sa campagne et les conditions de vie des salariés (1320–1380). 5 Bände. Aix-en-Provence 1976; ders.: Prix et salaires à Florence au XIVe siècle, 1280–1380. Rom 1982; Geremek, La salariat (wie Anm. 62); Ulf Dirlmeier: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhundert) (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 1978, 1). Heidelberg 1978. Im Überblick: Gerhard Fouquet: Zeit, Arbeit und Muße im Wandel spätmittelalterlicher Kommunikationsformen: Die Regulierung von Arbeits- und Geschäftszeiten im städtischen Handwerk und Gewerbe, in: Alfred Haverkamp (Hg.): Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 40). München 1998, S. 237–275.

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satorische, -technische Abläufe und Praktiken – kurzum all das, was zur alltäglichen Routine des Bauens gehörte. Sicherlich besteht bei solch verengter Perspektive auf lokal und zeitlich beschränkte Verhältnisse die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung. Derartige Mikrostudien aus dem situativen Alltag der Menschen erscheinen indes notwendig, um neben der Betrachtung großer Zahlenreihen und konjunktureller Entwicklungen der menschlichen Arbeit gerecht zu werden und zusammen mit kulturhistorischen Methoden Lebensformen und Lebenswelten des großen Baumeisters wie des kleinsten Handlangers abzubilden. Nur solche Untersuchungen bieten das methodische Instrumentarium, den in Handwerk und Gewerbe arbeitenden Menschen ihre Würde und ihren Platz in der Geschichte zu geben.

Karl Heinrich Kaufhold GEWERBE, BERGBAU UND INDUSTRIE IN DER NEUZEIT Einführung Gegenstand dieses Berichtes ist ein knapper, auswählender Überblick über die Entwicklung der Forschungen zur Geschichte des neuzeitlichen Gewerbes in seinen älteren Formen (Handwerk, Manufaktur, Verlag, Heimgewerbe), ferner der Industrie und der Montanwirtschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf deutschsprachigen Arbeiten; innerhalb dieser hebt er die Beiträge hervor, die in der VSWG (Zeitschrift und Beihefte) erschienen sind. Mit dieser allein durch den knappen Raum bedingten Beschränkung soll nicht der zum Teil erhebliche Einfluss übersehen werden, den Arbeiten vor allem aus dem französischen und dem angelsächsischen Raum auf die deutsche Forschung hatten. Er spiegelt sich in vielen der hier genannten Arbeiten, besonders in ihren Fragestellungen und Methoden und in den nach 1945 erschienenen. Räumlich konzentriert sich der Bericht auf Mitteleuropa, besonders auf Deutschland. Von der Sache her ist das im Grunde nicht zu vertreten, denn gerade beim Gewerbe gingen bekanntlich wichtige Entwicklungen von Westeuropa, vor allem von Großbritannien, aus. Sie zu berücksichtigen, hätte aber den Raum für diesen Beitrag überschritten. Doch selbst mit diesen Einschränkungen ist es nicht möglich, ein halbwegs vollständiges Gesamtbild der ebenso breiten wie differenzierten Forschungsliteratur zum Thema zu geben. Ich musste mich vielmehr mit einer Auswahl begnügen. Sie wirkt, zumindest aus der Sicht des fachkundigen Lesers, wie jede Auswahl als nicht frei von Willkür. Doch habe ich mich bemüht, die wesentlichen Entwicklungslinien der Forschung zumindest zu skizzieren, ohne auf die oft wichtigen Einzelheiten eingehen zu können. Auch bei den Titeln war aus Raumgründen lediglich eine enge Auswahl möglich, die sich weitgehend auf selbstständige Veröffentlichungen beschränkt. Die genannten Titel sollten als Beispiele verstanden werden für zahlreiche andere, die fehlen müssen, ohne dass dies eine Abwertung bedeutet. VSWGBeiträge genossen entsprechend dem Charakter des Aufsatzes Vorrang. Schließlich ist auf andere Aufsätze im vorliegenden Band hinzuweisen, besonders zur Technikund Umwelt- sowie zur Unternehmensgeschichte. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Der Einführung folgen zwei Kapitel über die beiden großen Perioden, in die sich der behandelte Zeitraum nach (noch) herrschender Meinung teilt: Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) und 19./20. Jahrhundert. Beide sind eng miteinander verzahnt, denn die zeitliche Scheide um 1800 war nicht so scharf wie die Forschung lange angenommen hat. Eine umfassende Geschichte der deutschen Gewerbe fehlt; meines Wissens wurde die letzte von H. A. Mascher 18611 vorgelegt. In neuester Zeit bieten die 1

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einschlägigen Darstellungen der Enzyklopädie Deutscher Geschichte (EDG) einen Ersatz. In aller Kürze informiert darin der „Enzyklopädische Überblick“ über die Grundzüge des Themas, der folgende Abschnitt über „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ vertieft ausgewählte Aspekte, und ein umfangreiches Literaturverzeichnis ermöglicht weitergehende Studien. Die Frühe Neuzeit ist in dieser Reihe von Wilfried Reininghaus2, das 19. und 20. Jahrhundert von Hans-Werner Hahn und Toni Pierenkemper behandelt worden (s. u.).3 Die bekannten Gesamtdarstellungen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Untersuchungszeit enthalten stets größere Abschnitte zur Gewerbe- und Industriegeschichte und binden diese in die Entwicklung der Gesamtwirtschaft und der anderen großen Wirtschaftszweige ein. Von den neueren Darstellungen der deutschen Geschichte gehen vor allem Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler4 ausführlich auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen ein. An einer auf den ersten Blick unerwarteten Stelle finden sich umfangreiche Ausführungen besonders zur Gewerbepolitik für die Zeit von 1789 bis 1933: in dem großen Werk von Ernst Rudolf Huber „Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789“.5 Die Forschungen zur Gewerbe- und Industriegeschichte zeigen dieselbe eigentümliche Entwicklung, wie sie auch bei anderen wirtschafts- und sozialgeschichtli-

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Nach Geschichte, Recht, Nationalökonomie und Statistik. Potsdam 1866. Beispiel einer umfassend angelegten Regionalstudie: Eckart Schremmer: Die Wirtschaft Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. Bergbau – Gewerbe – Handel. München 1970. – Eine umfassende Bibliographie zur deutschen Gewerbegeschichte fehlt. Für die ältere Literatur wichtig: Wieland Sachse: Bibliographie zur preußischen Gewerbestatistik 1750–1850. Göttingen 1981. Ausführliche bibliographische Angaben zur Gewerbegeschichte finden sich auch bei Hans-Ulrich Wehler: Bibliographie zur modernen deutschen Wirtschaftsgeschichte. Göttingen 1976; ders.: Bibliographie zur modernen deutschen Sozialgeschichte (18.–20. Jahrhundert). Göttingen 1976; ders.: Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte. München 1993; Wilfried Ehbrecht/Brigitte Schröder/Heinz Stoob (Hg.): Bibliographie zur deutschen historischen Städteforschung, Teil 1. Köln/Wien 1986, Teil 2. Köln/Weimar/Wien 1996; Index zu Teil 1 und Teil 2. ebd. 1996. Überblick über den Forschungsstand: Günther Schulz: Die neuere deutsche Wirtschaftsgeschichte: Themen – Kontroversen – Erträge der Forschung, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 1. Teilband. Stuttgart 1995, S. 400– 425, hier 401–410. Wilfried Reininghaus: Gewerbe in der frühen Neuzeit. München 1990. Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland. München 1998; Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1994. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918, Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, Band II: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1. Band: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815. München 1987, 2. Band: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49. München 1987, 3. Band: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849– 1914. München 1995. Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. 8 Bände. Stuttgart 1957 ff. Für die Gewerbegeschichte besonders ergiebig Band IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. Stuttgart 1969.

Gewerbe, Bergbau und Industrie in der Neuzeit

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chen Themen zu beobachten ist: Es gab sie in beachtlichem Maße und auf zum Teil hohem Niveau schon lange, bevor das Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte an den deutschen Hochschulen als akademisches Fach etabliert wurde. Die Untersuchungen wurden vorher überwiegend von Nationalökonomen durchgeführt, meist von Angehörigen der sog. jüngeren historischen Schule dieses Faches oder von deren Schülern. Für sie war es selbstverständlich, die geschichtlichen Aspekte in das Studium der wirtschaftlichen Erscheinungen einzubeziehen. So entstand ein reicher, erst zum Teil ausgeschöpfter Fundus an empirischem Material besonders zur Gewerbegeschichte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Ähnlich sieht es mit den sozialgeschichtlichen Aspekten des Themas aus. Die Forschung setzte hier später ein, und ihre Intensität blieb hinter der wirtschaftswissenschaftlichen zurück, ein Reflex der im Vergleich langsameren Entfaltung der Sozialwissenschaften in einer Zeit, in der die Nationalökonomie bereits voll entwickelt war. Wie auch immer – selbst wenn die VSWG in ihrem Titel die Sozialvor die Wirtschaftsgeschichte stellte: wirtschaftshistorische Arbeiten überwogen auch in ihr. Betrachtet man – wie es im Folgenden geschieht – die Forschungen zum Thema ohne Rücksicht auf ihre fachspezifische Herkunft als Gesamtheit, so haben sich ihre Akzente in der Untersuchungszeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart deutlich verschoben. Wie unten im Einzelnen dargestellt wird, standen bis in die 1930er Jahre zwei große Themenblöcke im Mittelpunkt, nämlich aktuelle Fragen der Gewerbe- und Sozialpolitik, meist verbunden mit deren historischer Entwicklung, historisch die Gewerbegeschichte des Mittelalters und der (um den heutigen Begriff zu verwenden) Frühen Neuzeit, gruppiert um Entstehung und Ausbreitung des (frühen) „Kapitalismus“ als wirtschaftliche und gesellschaftliche Formation, womit wieder die Brücke zu Gegenwartsfragen geschlagen werden konnte. In diesem Zusammenhang entwickelten sich auch die staatliche Gewerbeförderung (besonders für die Manufakturen) und die Zunftpolitik der Frühen Neuzeit zu wichtigen Arbeitsgebieten der gewerbegeschichtlichen Forschung. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich diese neu. Anstöße dazu kamen einmal durch die vor allem in den 1960er und 1970er Jahren nachhaltig betriebene eigenständige Etablierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Wissenschaftsbetrieb, die zahlreiche neue Forschungsmöglichkeiten eröffnete, zum anderen gleichsam von innen heraus durch einen energischen Zugriff auf Themen des 19. und 20. Jahrhunderts, oft verbunden mit einer stärkeren Anlehnung an wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Theorien, und nicht zuletzt durch die Rezeption einschlägiger Ansätze aus der französischen und der angelsächsischen Literatur. Hervorzuheben ist dabei eine deutliche Tendenz zur Quantifizierung, die eine Reihe zum Teil umfangreicher Editionen zur historischen Statistik hervorbrachte (s. u.), die aber andererseits nicht herrschend wurde. Eine weitgehende Hinwendung zur Cliometrie gab es in der Gewerbegeschichte nicht. Zwei Entwicklungen in Nachbarfächern liefen parallel: in der Allgemeinen Geschichte ein wachsendes Interesse vor allem an sozialhistorischen Fragestellungen, in der Nationalökonomie eine deutlich rückläufige Beschäftigung mit empirischhistorischen Themen. Dabei traten in der Gewerbe- und Industriegeschichte The-

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men vor allem der neueren und neuesten Zeit nach vorn. Das Interesse an den vorindustriellen Perioden ging deutlich zurück, womit sich gegenüber der Zeit vor um 1960 ein Themenwandel in der Forschung vollzog. Frühe Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert) 1. Der Begriff „Frühe Neuzeit“ hat sich auch in der Gewerbe- und Montangeschichte durchgesetzt. Zwar lässt er sich dahin kritisieren, er sei inhaltsleer, doch scheint mir gerade diese vermeintliche Schwäche seine Stärke zu sein, denn sie vermeidet die lebhaften Auseinandersetzungen, die in der älteren Literatur um eine treffende Bezeichnung für diese Periode geführt wurden. Sie sollen hier nicht nachgezeichnet werden, doch scheint mir aus der Vielfalt der vorgeschlagenen Begriffe der des „Frühkapitalismus“ der am meisten verwendete gewesen zu sein6 (zum Kapitalismus-Begriff s. u.). Sicher machte sich hier der starke Einfluss der großen Arbeit von Werner Sombart über den modernen Kapitalismus7 geltend, doch sprach auch sachlich manches für ihn. Allerdings war er mit allen Problemen des Kapitalismus-Begriffs ebenso belastet wie mit der Frage, auf welchen Zeitraum die Bestimmung „früh“ konkret zu beziehen sei. Wie Friedrich Lenger in seiner Monographie über Werner Sombart8 herausgearbeitet hat, war dessen Einfluss gerade auf die Gewerbegeschichte nicht nur durch seinen „Modernen Kapitalismus“ bedeutend. Ganze Generationen von (modern gesprochen) Wirtschafts- und Sozialhistorikern beschäftigten sich mit seinen Aussagen, und – zugespitzt formuliert – war es eine Zeitlang geradezu Mode, Sombart in Einzelfragen zu kritisieren oder (Triumph des Detailforschers) sogar zu widerlegen. Meist geschah das in Dissertationen, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Lediglich am dafür gut geeigneten Beispiel der Handwerksgeschichte soll der Tenor der damaligen Diskussion wenigstens pauschal nachgezeichnet werden. Hier dominierte das Mittelalter als die große, ruhmvolle Zeit der Meister, als Blütezeit der Zünfte und der Städte, besonders der stark gewerblich geprägten wie etwa Nürnberg. Darüber hat Gerhard Fouquet in seinem Beitrag zum vorliegenden Band gehandelt. Die Frühe Neuzeit galt dagegen als Zeit des Verfalls; sie wurde mit einer Vielzahl negativer Attribute belegt und dadurch vermeintlich gekennzeichnet. Im Vordergrund stand die Kritik an den Zünften,9 die als erstarrt und verknöchert, 6 7 8 9

Zur Begriffsgeschichte ausführlich: Art. Kapital, Kapitalist, Kapitalismus, in: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 3. Stuttgart 1982, S. 399–454. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus, Band 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. München 1916, Band 3: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. München 1927. Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie. München 1994. Eine zusammenfassende Darstellung fehlt, und auf die zahlreichen Monographien kann hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden. Zur Zunftgeschichte in den Beiheften der VSWG: Friedrich Hornschuch: Aufbau und Geschichte der interterritorialen Kesslerkreise in Deutsch-

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als fortschrittsfeindlich und daher als Hindernis für eine Fortentwicklung des Handwerks (und des Gewerbes überhaupt), als Hort eines engherzigen Egoismus der Meister angesehen wurden. Werner Sombart brachte diese Kritik auf den Punkt10 und baute sie zugleich in ein Entwicklungsmodell der Wirtschaft ein, indem er die Wirtschaftsgesinnung der Handwerksmeister als dem Nahrungsprinzip folgend bezeichnete, also als eine selbstgenügsame Wirtschaftsweise, die sich mit dem Erwerb des „standesgemäßen Lebensunterhalts“, also im Handwerk Wirtschaften im bescheidenen Zuschnitt, begnügte. Das schöpft allerdings den Begriff der „Nahrung“ nicht voll aus, und seine weitere Diskussion dürfte nicht nur für die Handwerksgeschichte ergiebig sein. Sombart stellte diesem Prinzip bekanntlich das Erwerbsprinzip als Leitlinie des aufsteigenden „modernen Kapitalismus“ gegenüber. Das Handwerk, so die herrschende Meinung der damaligen Forschung, folgte diesem Prinzip nicht und klinkte sich damit aus der „modernen“ wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung weithin aus. Es blieb zwar der mit Abstand größte Teilbereich des Gewerbes, doch ging die Führungsrolle in dessen weiterer Entfaltung auf andere Betriebsformen über: auf Verlag und Manufaktur, später auch die Fabrik. Das Handwerk wurde dagegen für viele Autoren zum Inbegriff wirtschaftlicher Rückständigkeit, und die ältere Forschung sah es in stetigem, anscheinend unaufhaltsamem Verfall. Diese Ansicht verband sich mit der herrschenden Meinung vom Verfall des Städtewesens besonders nach dem Dreißigjährigen Krieg,11 als fast überall Not und Indolenz herrschten. Dieses Zerrbild – das allerdings auch einige richtige Züge zeigte – hielt sich bis in die Gegenwart. Es ist das Verdienst besonders von Wolfram Fischer12 und Wilhelm Abel13, hier seit den 1960er Jahren Wandel geschaffen zu haben. Von Abel angeregt, erschien eine Reihe von Monographien14 (zum Teil in der Reihe „Göttinger Beiträge

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land. Stuttgart 1930 und Erich Wege: Die Zünfte als Träger wirtschaftlicher Kollektivmaßnahmen. Stuttgart 1930. Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 7). Mac Walker: German Home Towns. Community, State, and General Estate 1648–1871. Ithaca 1971. Die neueren stadtgeschichtlichen Forschungen kommen zunehmend zu einem positiveren Bild. – Grundlegender Überblick: Wolfgang Zorn: Probleme der deutschen Handels- und Gewerbegeschichte 1650–1800, in: Otto Brunner u. a. (Hg.): Festschrift für Hermann Aubin zum 80. Geburtstag. Wiesbaden 1965, S. 303–319. Wolfram Fischer: Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800. Berlin 1955; Rudolf Stadelmann/Wolfram Fischer: Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes. Berlin 1955; Wolfram Fischer: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972 (Aufsatzsammlung mit mehreren gewerbegeschichtlich wichtigen Beiträgen). Wilhelm Abel: Neue Wege der handwerksgeschichtlichen Forschung, in: Wilhelm Abel und Mitarbeiter: Handwerksgeschichte in neuer Sicht. 2. Aufl., Göttingen 1978, S. 1–25; Wilhelm Abel: Zur Ortsbestimmung des Handwerks vor dem Hintergrund seiner Geschichte, in: Deutsches Handwerksinstitut München (Hg.): Das Handwerk in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft. Bad Wörishofen 1966, S. 48–81. In Auswahl: Abel, Handwerksgeschichte (wie Anm. 13); Bernd Habicht: Stadt- und Landhandwerk im südlichen Niedersachsen im 18. Jahrhundert. Ein wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag unter Berücksichtigung von Bedingungen des Zugangs zum Markt. Göttingen 1983; Karl Hein-

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zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte“), die entsprechend Abels Forderung Wirtschafts- und nicht primär Zunftgeschichte boten. Wolfram Fischer veröffentlichte grundlegende Monographien und Aufsätze und regte ebenfalls weitere Studien an.15 Diese neue Betrachtungsweise der Handwerksgeschichte setzte sich schnell durch und brachte einen deutlichen Aufschwung der Forschung mit mehreren wichtigen Arbeiten hervor,16 von denen die von Markus A. Denzel, Reinhold Reith über „Lohn und Leistung“ und von Kristina Winzen in der Beiheft-Reihe der VSWG erschienen; auch einige Aufsätze in dieser Zeitschrift sind zu nennen.17 Im Ergebrich Kaufhold: Das Handwerk der Stadt Hildesheim im 18. Jahrhundert. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie. 2. Aufl., Göttingen 1980; ders.: Das Gewerbe in Preußen um 1800. Göttingen 1978; Arno Steinkamp: Stadt- und Landhandwerk in Schaumburg-Lippe im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Rinteln 1970. 15 Vgl. Anm. 12. Jürgen Bergmann: Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung. Berlin 1973; ders.: Wirtschaftskrise und Revolution. Handwerker und Arbeiter 1848/49. Stuttgart 1986. 16 In Auswahl: Roland Bettger: Das Handwerk in Augsburg beim Übergang der Stadt an das Königreich Bayern. Städtisches Gewerbe unter dem Einfluss politischer Veränderungen. Augsburg 1979; Markus A. Denzel: Professionen und Professionisten. Die Dachsbergsche Volksbeschreibung im Kurfürstentum Baiern (1771–1781) (VSWG, Beiheft 139). Stuttgart 1998; Gerhard Deter: Rechtsgeschichte des westfälischen Handwerks im 18. Jahrhundert: Das Recht der Meister. Münster 1990; Rainer S. Elkar (Hg.): Deutsches Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Sozialgeschichte – Volkskunde – Literaturgeschichte. Göttingen 1983; Frank Göttmann: Handwerk und Bündnispolitik. Die Handwerkerbünde am Mittelrhein vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Wiesbaden 1977; Andreas Griessinger: Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewusstsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1981; Hermann Kaiser: Handwerk und Kleinstadt. Das Beispiel Rheine/ Westf. Münster 1978; Uwe Puschner: Handwerk zwischen Tradition und Wandel. Das Münchener Handwerk an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Göttingen 1988; Reinhold Reith: Arbeits- und Lebensweise im städtischen Handwerk. Zur Sozialgeschichte Augsburger Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert (1700–1806). Göttingen 1988; ders. (Hg.): Lexikon des alten Handwerks. Vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 1990; ders.: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900 (VSWG, Beiheft 151). Stuttgart 1999; ders. (Hg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung. Frankfurt a. M./New York 1998; ders./Andreas Griessinger/Petra Eggers: Streikbewegungen deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Materialien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des städtischen Handwerks 1700–1806. Göttingen 1992; Helga Schultz: Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus. Weimar 1993; Knut Schulz: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter: Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1985; ders. (Hg.): Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. München 1999; Klaus Schwarz: Die Lage der Handwerksgesellen in Bremen während des 18. Jahrhunderts. Bremen 1975; Christine Werkstetter: Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert. Berlin 2001; Ekkehard Wiest: Die Entwicklung des Nürnberger Gewerbes zwischen 1648 und 1806. Stuttgart 1968; Kristina Winzen: Handwerk – Städte – Reich. Die städtische Kurie des Immerwährenden Reichstags und die Anfänge der Reichshandwerksordnung (VSWG, Beiheft 160). Stuttgart 2002; Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich. Göttingen 2002; Wilfried Reininghaus/Ralf Stremmel (Hg.): Handwerk, Bürgertum und Staat. Beiträge des zweiten handwerksgeschichtlichen Kolloquiums … 1995. Dortmund 1997. 17 Klaus J. Bade: Altes Handwerk, Wanderzwang und Gute Policey. Gesellenwanderung zwi-

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nis ist die oben skizzierte ältere Sichtweise der Handwerksgeschichte überholt. Das Handwerk gilt jetzt als ein wichtiger, in Grenzen auch innovativer Bestandteil der frühneuzeitlichen Wirtschaft. Ob und inwieweit es als Träger wirtschaftlichen Wachstums angesehen werden kann, diese Frage ist noch weithin offen und methodisch schwierig zu beantworten. Anregungen dafür sind wahrscheinlich im Rahmen der Diskussion über frühneuzeitliches Wachstum allgemein zu erwarten. Überblickt man die reiche neuere Literatur zur Handwerksgeschichte, so herrschen sozialgeschichtlich orientierte Themen vor. Ein weiterer Ausbau der Wirtschaftsgeschichte in diesem Bereich ist daher erwünscht. Besonders fehlt es an einer „historischen Betriebswirtschaftslehre des Handwerksbetriebes“, für die die Quellenlage allerdings in der Regel wenig günstig ist. Insgesamt aber gehört die Umorientierung der handwerksgeschichtlichen Forschung zu den bemerkenswerten innovativen Leistungen unseres Faches in den letzten Jahrzehnten. Statt sich allein an normativen Quellen zu orientieren, sucht sie die tatsächlichen Verhältnisse zu erfassen, soweit die in dieser Richtung bisweilen kargen Zeugnisse der Vergangenheit das gestatten. Die handwerksgeschichtliche Diskussion bezog sich lange Zeit nahezu ausschließlich auf das städtische Handwerk; dem ländlichen widmete die ältere Forschung wenig Aufmerksamkeit. Sie orientierte sich dabei ebenfalls stark an den Rechtsquellen,18 in denen das Landgewerbe freilich wenig Spuren hinterließ. Das Gewerberecht ging nämlich von einer arbeitsteiligen Trennung zwischen städtischer und ländlicher Wirtschaft aus, bei der den Städten Gewerbe und Handel, dem Land die Agrarproduktion zufielen. Entsprechend diesem Grundsatz war Landhandwerk in vielen Territorien mit wenigen Ausnahmen verboten. Die Realität sah freilich anders aus. Allein die häufige Wiederholung der Verbote musste stutzig machen, und so stießen die wenigen Forscher, die sich wie Fritz Hähnsen und August Skalweit19 vor 1960 mit diesem Thema beschäftigten, rasch auf ein regional oder lokal quantitativ und qualitativ bedeutendes Landhandwerk. Die neuere Forschung nahm und nimmt sich seiner verstärkt an20 und bestätigte dabei dieses Bild. schen Zunftökonomie und Gewerbereform, in: VSWG 69 (1982), S. 1–37; Wilfried Reininghaus: Zur Methodik der Handwerksgeschichte des 14.–17. Jahrhunderts. Anmerkungen zu neuer Forschung, in: VSWG 72 (1985), S. 369–378; Reinhold Reith: Zur beruflichen Sozialisation im Handwerk vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Umrisse einer Sozialgeschichte der deutschen Lehrlinge, in: VSWG 76 (1989), S. 1–27. 18 Zur Rechtsgeschichte des Gewerbes umfassend Jan Ziekow: Freiheit und Bindung des Gewerbes. Berlin 1992; ferner Karl Otto Scherner/Dietmar Willoweit (Hg.): Vom Gewerbe zum Unternehmen. Studien zum Recht der gewerblichen Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Darmstadt 1982; Hagen Hof: Wettbewerb im Zunftrecht. Zur Verhaltensgeschichte der Wettbewerbsregelung durch Zunft und Stadt, Reich und Landesherr bis zu den Stein-Hardenbergschen Reformen. Köln/Wien 1983. Quellensammlung: Hans Proesler: Das gesamtdeutsche Handwerk im Spiegel der Reichsgesetzgebung von 1530 bis 1806. Berlin 1954. 19 Fritz Hähnsen: Die Entwicklung des ländlichen Handwerks in Schleswig-Holstein. Leipzig 1913; August Skalweit: Das Dorfhandwerk vor Aufhebung des Städtezwanges. Frankfurt a. M. (1942). 20 Hermann Kellenbenz (Hg.): Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im

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2. Neben dem Handwerk fanden Verlag und das Heim- und Hausgewerbe bereits die Aufmerksamkeit der älteren Forschung,21 ohne dass diese beide Formen stets scharf unterschieden hätte. Nach den hier meist wenig ergiebigen Quellen ist das auch nicht immer befriedigend möglich. Es kam hinzu, dass beide Formen bis in das 20. Jahrhundert weiterlebten und eine Reihe von Arbeiten in erster Linie aktuellen Fragen gewidmet war.22 Denn die Probleme dieses Bereichs, vor allem die sozialen Missstände im 19. und frühen 20. Jahrhundert, fanden das Interesse der an diesen Fragen lebhaft interessierten zeitgenössischen Nationalökonomie. Zwischen gegenwartsbezogener und historischer Forschung lässt sich daher hier oft keine klare Grenze ziehen. In dieser Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart kann es auch begründet sein, dass die entwicklungsgeschichtliche Rolle beider Betriebsformen für das Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert. Stuttgart 1975. Grundlegend aus volkskundlicher Sicht: Rudolf Braun: Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800. 2. Aufl., Göttingen 1979. Weitere Arbeiten in Auswahl: Gisela Lange: Das ländliche Gewerbe in der Grafschaft Mark am Vorabend der Industrialisierung. Köln 1976; Eckart Schremmer: Überlegungen zur Bestimmung des gewerblichen und agrarischen Elements in einer Region, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert. Stuttgart 1975, S. 1–28; ders.: Standortausweitung der Warenproduktion im langfristigen Wirtschaftswachstum. Zur StadtLand-Arbeitsteilung im Gewerbe des 18. Jahrhunderts, in: VSWG 59 (1972), S. 1–40; Helga Schultz: Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Vergleichender Überblick und Fallstudie Mecklenburg-Schwerin. Berlin 1984; dies.: Die Ausweitung des Landhandwerks vor der industriellen Revolution. Begünstigende Faktoren und Bedeutung für die „Protoindustrialisierung“, in: JbWG 1982/3, S. 79–90; dies.: Landhandwerk und ländliche Sozialstruktur um 1800, in: JbWG 1981/2, S. 11–49; August Skalweit: Vom Werdegang des Dorfhandwerks, in: ZAA 2 (1954), S. 1–17; Hermann Kellenbenz: Bäuerliche Unternehmertätigkeit im Bereich der Nord- und Ostsee vom Hochmittelalter bis zum Ausgang der neueren Zeit, in: VSWG 49 (1962), S. 1–40; ders.: Ländliches Gewerbe und bäuerliches Unternehmertum in Westeuropa vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert, in: Second International Conference of Economic History II. Paris 1965, S. 377–427; Elisabeth Weinberger: Waldnutzung und Waldgewerbe in Altbayern im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 157). Stuttgart 2001; Wolfgang Zorn: Ein neues Bild der Struktur der ostschwäbischen Gewerbelandschaft im 16. Jahrhundert, in: VSWG 75 (1988), S. 153–187; Anke Sczesny: Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2002. 21 Fridolin Furger: Zum Verlagssystem als Organisationsform des Frühkapitalismus im Textilgewerbe. Stuttgart 1927; Jakob Strieder: Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen. 2 Bände. 2. Aufl., München/Leipzig 1925; Clemens Bauer: Unternehmung und Unternehmensformen im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Jena 1936; Walter Troeltsch: Die Calwer Zeughandlungscompagnie und ihre Arbeiter. Studien zur Gewerbe- und Sozialgeschichte Altwürttembergs. Jena 1897; August Skalweit: „Handelndes“ und „Verlegtes“ Handwerk vor Einführung der Gewerbefreiheit. Frankfurt a. M. 1954; Georg Jahn: Der Verlag als Unternehmensform und Betriebssystem im ostmitteldeutschen Leinengewerbe des 16. und 17. Jahrhunderts, in: VSWG 34 (1941), S. 158–180; Wolfgang von Stromer: Der Verlag als strategisches System einer an gutem Geld armen Wirtschaft, am Beispiel Oberdeutschlands in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: VSWG 78 (1991), S. 153–171. 22 Vgl. Anm. 134.

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Gewerbe und darüber hinaus für die Gesamtwirtschaft auf dem Wege hin zur Industrialisierung lange Zeit nicht oder nicht deutlich genug gesehen wurde. Am ehesten gelang das beim Verlag, obwohl es dessen bewegliche, wechselhafte Gestalt mit ihren verschiedenen Erscheinungsformen der Forschung schwer machte, ihn konkret zu erfassen. Doch wurde seine entwicklungsgeschichtliche Rolle in Verbindung mit Entstehung und Ausbreitung des Kapitalismus schon um 1900 immer klarer erkannt. Wieder spielte Werner Sombart dabei eine wichtige Rolle, indem er in der zweiten Auflage seines „Modernen Kapitalismus“ (1916)23 den Verlag als einen bedeutenden Schritt hin zur Durchsetzung des Kapitalismus im Gewerbe hervorhob. Ein Durchbruch für das Thema in der Forschung war damit allerdings noch nicht verbunden, auch wenn Jakob Strieder in seinen Studien mit Schwerpunkt auf Augsburg24 neue Akzente setzte. In der Beiheftreihe der VSWG erschien als erste größere Arbeit 1927 die von Fridolin Furger über das Verlagssystem;25 sie wurde von der Fachkritik nicht nur positiv aufgenommen. Dagegen gelang es Rudolf Holbach in seiner enzyklopädisch angelegten umfangreichen, ebenfalls als VSWG-Beiheft veröffentlichten Arbeit über das Thema,26 Ausdehnung und Differenzierung dieser Betriebsform deutlich zu machen. Unter den Fallstudien, die sich mit dem Verlag in einzelnen Gewerbezweigen und/oder Orten oder Regionen beschäftigten, fand die von Hermann Aubin und Arno Kunze über das Leinengewerbe im östlichen Mitteleuropa27 mit Recht besondere Aufmerksamkeit. Sie führte unter anderem den Begriff des „Zunftkaufs“ ein, also den Verlag ganzer leistungsfähiger Zünfte durch kapitalkräftige Großkaufleute unter regulierender Beteiligung der städtischen Obrigkeiten – ein effektives System, das Großproduktion ermöglichte, ohne die traditionelle Organisation des Handwerks aufzugeben. Das nicht nur dem Wirtschaftshistoriker vertraute Problem, produktive, rentable Gütererzeugung sozial verträglich zu gestalten, scheint hier gelöst worden zu sein. Ungeachtet dieser Arbeiten besteht beim Verlag noch erheblicher Forschungsbedarf. Verlagsunternehmen unterschiedlichen Zuschnitts rückten im 17. und 18. Jahrhundert vor und gewannen gesamtwirtschaftlich an Gewicht, ohne dass sich dies bisher in der neueren Forschung angemessen gespiegelt hätte. Diese im Ganzen unbefriedigende Forschungslage ist umso bedauerlicher, als sich in dieser Periode Verlagsbeziehungen nicht nur ausweiteten, sondern allem Anschein nach in 23 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 7). 24 Jakob Strieder: Das reiche Augsburg. Ausgewählte Aufsätze Jakob Strieders zur Augsburger und süddeutschen Wirtschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Friedrich Deininger. München 1938; ders.: Zur Genesis des modernen Kapitalismus. Forschungen zur Entstehung der großen bürgerlichen Kapitalvermögen am Ausgange des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, zunächst in Augsburg. 2. Aufl., München/Leipzig 1935. Vgl. auch Anm. 21. 25 Furger, Verlagssystem (wie Anm. 21). 26 Rudolf Holbach: Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.– 16. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 110). Stuttgart 1994. 27 Gustav Aubin/Arno Kunze: Leinenerzeugung und Leinenabsatz im östlichen Mitteldeutschland zur Zeit der Zunftkäufe. Ein Beitrag zur industriellen Kolonisation des deutschen Ostens. Stuttgart 1940.

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mehrfacher Hinsicht auch eine qualitativ neue Dimension als Bindeglied zwischen vorindustriellen und stärker industriell geprägten Formen gewerblicher Produktion erlangten. Man schmälert also Sombarts Leistung nicht, wenn man eine kritische Prüfung seiner Interpretationen im Lichte der neueren Forschung als notwendig ansieht. Wichtige Bemerkungen dazu finden sich bereits in der Sombart-Biographie von Friedrich Lenger28 und in dem von ihm herausgegebenen Sammelband über Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie.29 Die Forschung hat die traditionellen Begriffe des Verlages und des Heim- wie des Hausgewerbes im letzten Vierteljahrhundert zunehmend seltener verwendet. An ihre Stelle trat weithin der von dem amerikanischen Wirtschaftshistoriker Franklin Mendels 1972 geprägte Begriff der Proto-Industrialisierung,30 der im deutschen Sprachraum durch die Monographie von Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm mit dem paradox scheinenden Titel „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ (1977) bekannt gemacht31 und verbreitet wurde. Die Autoren entwickelten ein, auf seinen Kern verkürzt gesagt, theoretisch-systematisch orientiertes Konzept, mit dem sie den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus („Formationsperiode des Kapitalismus“) am Beispiel der kleinen Warenproduzenten auf dem Lande, also in der traditionellen Formulierung von Verlag sowie Heim- und Hausgewerbe, erklären wollten. Die Autoren verbanden traditionelle Elemente der Gewerbegeschichte, die sich bis zur jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie zurückverfolgen lassen, mit weiterführenden Überlegungen, vor allem in Verbindung mit der Bevölkerungsgeschichte. Das Buch löste lebhafte Diskussionen aus,32 die hier nicht nachgezeichnet werden können. In ihrem Verlauf zeigten sich die innovative Kraft, deutlicher freilich 28 Lenger, Sombart (wie Anm. 8). 29 Friedrich Lenger (Hg.): Handwerk, Hausindustrie und die historische Schule der Nationalökonomie. Wissenschafts- und gewerbegeschichtliche Perspektiven. Bielefeld 1998. Aufschlussreiche Fallstudien zum Thema bei Herbert Kisch: Die hausindustriellen Textilgewerbe am Niederrhein vor der industriellen Revolution. Göttingen 1981. 30 Franklin Mendels: Proto-industrialization. The First Phase of the Industrialization Process, in: JEH 32 (1972), S. 241–261. 31 Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Göttingen 1977. 32 Auswahl einiger Titel: Hans Linde: Proto-Industrialisierung. Zur Justierung eines neuen Leitbegriffs sozialgeschichtlicher Forschung, in: GG 6 (1980), S. 103–124; Eckart Schremmer: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Anmerkungen zu einem Konzept der Proto-Industrialisierung, in: GG 6 (1980), S. 420–448; Wolfgang Mager: Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: GG 14 (1988), S. 275–303. Erwiderungen der Autoren: Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Die Proto-Industrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker, in: GG 9 (1983), S. 87–105; dies.: Sozialgeschichte in der Erweiterung – Proto-Industrialisierung in der Verengung? Demographie, Sozialstruktur, moderne Hausindustrie: eine Zwischenbilanz der ProtoIndustrialisierungs-Forschung, in: GG 18 (1992), S. 70–87, 231–255; dies.: Eine Forschungslandschaft in Bewegung. Die Proto-Industrialisierung am Ende des 20. Jahrhunderts, in: JbWG 1998/2 (Themenheft zur Proto-Industrialisierung mit aufschlussreichen Beiträgen), S. 9–20.

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noch die Schwächen des bewusst zugespitzt formulierten Konzeptes, das von den Autoren dann auch Schritt für Schritt erweitert wurde.33 Aus der empirischen Forschung zum Thema sind zu nennen die drei großen Fallstudien seiner Verfasser über das Seidengewerbe in Krefeld (Kriedte), die Leinenweberei auf der Schwäbischen Alb (Medick) und das ländliche Gewerbe in Belm bei Osnabrück (Schlumbohm).34 Stark vereinfacht gesagt, belegten diese empirischen Tests das Konzept allenfalls zum Teil, wie ihre Verfasser selbst einräumten. Auf die Detailforschung kann hier nur pauschal verwiesen werden. Beispielhaft hervorzuheben sind zwei Arbeiten, die aus ihren empirischen Ergebnissen neue theoretische Ansätze entwikkeln: Ulrich Pfisters Studie über die Zürcher Fabriques und Sheilagh Ogilvies Arbeit über den Schwarzwald.35 Beide gaben neue, weiterführende Anregungen, Pfister umfassender und tiefer als Ogilvie. Beide haben aber bisher nicht das Echo gefunden, das sie verdienen und das auch notwendig wäre, um die Diskussion fruchtbar weiterzuführen, denn der Begriff der Proto-Industrialisierung hat in der Literatur inzwischen eine erstaunliche Karriere gemacht. Er steht nämlich, zunehmend verallgemeinert und unscharf verwendet, inzwischen für nahezu die gesamte nichthandwerkliche gewerbliche Produktion vor der Industrialisierung und droht zum Schlagwort zu verkommen. Wie auch immer – das Konzept der Proto-Industrialisierung hat die gewerbegeschichtliche Forschung (und nicht nur diese) für den Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Zeit unbeschadet seiner Schwächen und Einseitigkeiten in Verbindung mit der breiten Diskussion, die es auslöste, nachhaltig gefördert. 3. Als Betriebsform des vorindustriellen Gewerbes spielten die Manufakturen im späten 17. und im 18. Jahrhundert erstmals eine größere Rolle. Der von Karl Marx im „Kapital“ formulierte und auch von Werner Sombart verwendete Begriff der „Manufakturperiode“ blieb freilich umstritten und wird in der neueren Forschung kaum noch benutzt. Das ändert allerdings nichts an der entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Manufaktur als erster gewerblicher Großbetrieb („groß“ gemessen an den Maßstäben der Zeit) mit Arbeitsteilung und lohnabhängigen Arbei33 Die wohl wichtigste Erweiterung bezog das städtische Gewerbe ein: Peter Kriedte: Die Stadt im Prozess der europäischen Proto-Industrialisierung, in: Die Alte Stadt 9 (1982), S. 19–51. 34 Peter Kriedte: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1991; Hans Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte. Göttingen 1996; Jürgen Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrükkischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994. 35 Ulrich Pfister: Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert. Zürich 1992 (knapp ders.: Proto-Industrielles Wachstum: ein theoretisches Modell, in: JbWG 1998/2, S. 21–48); Sheilagh C. Ogilvie: State corporatism and proto-industry. The Württemberg Black Forest, 1580–1797. Cambridge 1997. – Sammelbände mit Fallbeispielen aus Europa: Markus Cerman/Sheilagh C. Ogilvie (Hg.): Proto-Industrialisierung in Europa. Industrielle Produktion vor dem Fabrikzeitalter. Wien 1994 (Erweiterte Fassung: Dies. (Hg.): European proto-industrialization. Cambridge 1996); René Leboutte (Hg.): Proto-Industrialization. Recent Research und New Perspectives. In memory of Franklin Mendels. Genf 1996; Dietrich Ebeling/Wolfgang Mager (Hg.): Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Bielefeld 1997.

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tern, die mit den dem Unternehmer gehörenden Produktionsmitteln arbeiteten (Trennung von Kapital und Arbeit). Zugespitzt formuliert, fehlte zur Fabrik lediglich der Ersatz der Handarbeit in den Manufakturen durch die Werkzeugmaschine.36 Manufakturen waren bekanntlich Lieblingskinder der kameralistischen Gewerbepolitik, und sie wurden entsprechend intensiv vom Staat gefördert. Das sicherte ihnen schon die Aufmerksamkeit der älteren Forschung, die sich im Rahmen ihrer Beschäftigung mit dem Absolutismus und der Entstehung des frühmodernen Staates auch intensiv mit dessen Wirtschaftspolitik (Merkantilismus/Kameralismus) und der Gewerbepolitik als eines von deren Kernstücken auseinandersetzte.37 BrandenburgPreußen stand dabei vor allem vor 1914 im Mittelpunkt. Sein Seidengewerbe, von den Zeitgenossen als Indikator für den ökonomischen Entwicklungsstand und die materielle Kultur eines Staates angesehen, wurde von Friedrich II. massiv gefördert, wie das von Gustav Schmoller und Otto Hintze herausgegebene umfangreiche Werk darüber in den Acta Borussica belegt.38 Es ist noch heute wegen seiner Kombination einer Edition ausgewählter Quellen mit einer umfassenden Darstellung vorbildlich. Darüber dürfen allerdings die zahlreichen anderen älteren Arbeiten zum Thema der Manufakturen, nicht zuletzt in Zeitschriften, nicht vergessen werden.39 Die Zwischenkriegszeit brachte für die Erforschung der Manufakturen vergleichsweise wenig.40 Dafür erlebte das Thema vom Ende der 1950er bis in die 1970er Jahre eine Blüte, in der mehrere grundlegende Arbeiten vorgelegt wurden. Sie begann 1958 mit den Studien von Rudolf Forberger über Sachsen41 und von Horst Krüger über die mittleren Provinzen Preußens,42 umfangreichen Werken über 36 Rudolf Forberger: Zur Auseinandersetzung über das Problem des Übergangs von der Manufaktur zur Fabrik, in: Beiträge zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1962, S. 171–188; ders.: Zu den Begriffen „Manufaktur“ und „Fabrik“ in technischer und technologischer Sicht, in: Ulrich Troitzsch (Hg.): Technologischer Wandel im 18. Jahrhundert. Wolfenbüttel 1981, S. 175–187. 37 Aus der sehr umfangreichen Literatur einführend: Fritz Blaich: Die Epoche des Merkantilismus. Wiesbaden 1973; Rainer Gömmel: Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800. München 1998. – Grundlegend Wilhelm Treue: Das Verhältnis von Fürst, Staat und Unternehmer in der Zeit des Merkantilismus, in: VSWG 44 (1957), S. 26–56. Regionale Fallstudie: Max Barkhausen: Staatliche Wirtschaftslenkung und freies Unternehmertum im westdeutschen und im nord- und südniederländischen Raum bei der Entstehung der neuzeitlichen Industrie im 18. Jahrhundert, in: VSWG 45 (1958), S. 168–241. 38 Gustav Schmoller/Otto Hintze: Die preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen. 3 Bände. Berlin 1892. – Zur Seidenindustrie allgemein: Herbert Hassinger: Johann Joachim Bechers Bedeutung für die Entwicklung der Seidenindustrie in Deutschland, in: VSWG 38 (1951), S. 209–246. 39 Knappe Übersicht über die Manufaktur-Forschung bei Reininghaus, Gewerbe (wie Anm. 2), S. 91–98. Aus der älteren Literatur vor allem wichtig: Jacob van Klaveren: Die Manufakturen des Ancien Régime, in: VSWG 51 (1964), S. 145–191. 40 Wichtig vor allem Kurt Hinze: Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1685–1806. Berlin 1927 (2. Aufl. mit einer Einführung von Otto Büsch. Berlin 1963). 41 Rudolf Forberger: Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin 1958. 42 Horst Krüger: Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1958.

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zwei der wichtigsten Manufakturgebiete Deutschlands, die neuere wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen aufgriffen. Weitere gründliche Untersuchungen wurden über mehrere mittelgroße und kleinere Territorien vorgelegt.43 Leider erlahmte der Schwung bald. Wichtige Gebiete blieben ununtersucht, und eine Gesamtdarstellung fehlt bis heute. Hier liegen für unser Fach lohnende Arbeiten. 4. Im Deutschen Reich fanden sich im 16. Jahrhundert bekanntlich die wichtigsten europäischen Zentren des Berg- und Hüttenwesens, und es war auf diesem Gebiet technisch wie wirtschaftlich führend. Auch in den beiden folgenden Jahrhunderten behauptete sein Montanwesen einen guten Platz. Das schlug sich in einer Fülle literarischer Zeugnisse nieder, verfasst hauptsächlich von Praktikern auf diesem Gebiet oder von Naturwissenschaftlern.44 Sie enthalten nahezu alle historische Abschnitte und haben heute den Wert gedruckter Quellen. Die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung scheint daher zunächst wenig Anlass gesehen zu haben, sich mit der Montangeschichte zu beschäftigen. Noch 1931 wurde die grundlegende Arbeit über eine der wichtigsten Stätten des mitteleuropäischen Metallerzbergbaus, den Rammelsberg bei Goslar, von dem für ihn zuständigen Berghauptmann Wilhelm Bornhardt verfasst.45 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich das allmählich zu ändern, wobei zahlreiche Arbeiten freilich bevorzugt das 19. und 20. Jahrhundert behandelten (s. u.). Für die Frühe Neuzeit zeichneten sich in der Forschung zwei institutionelle Schwerpunkte ab: einmal das Deutsche Bergbau-Museum Bochum mit seiner Schriftenreihe „Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum“ und der Zeitschrift „Der Anschnitt“, die beide die Zeit vom vorgeschichtlichen Bergbau bis zur Gegenwart abdecken, zum Zweiten die Bergakademie Freiberg, deren „Freiberger Forschungshefte“ mehrere Arbeiten über die Montangeschichte vor allem des Erzgebirges enthalten.

43 Ottfried Dascher: Das Textilgewerbe in Hessen-Kassel vom 16. bis 19. Jahrhundert. Marburg 1968; Joachim Kermann: Die Manufakturen im Rheinland 1750–1833. Bonn 1972; Ortulf Reuter: Die Manufaktur im Fränkischen Raum. Eine Untersuchung großbetrieblicher Anfänge in den Fürstentümern Ansbach und Bayreuth als Beitrag zur Gewerbegeschichte des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1961; Gerhard Slawinger: Die Manufaktur in Kurbayern. Die Anfänge der großgewerblichen Entwicklung in der Übergangsepoche vom Merkantilismus zum Liberalismus 1740–1833. Stuttgart 1966; Alfred Tausendpfund: Die Manufaktur im Fürstentum Neuburg. Erlangen/Nürnberg 1975. Einschlägig auch die Beihefte 22 und 122 der VSWG: Ludwig Ziehner: Zur Geschichte des Kurpfälzischen Wollgewerbes im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gewerbegeschichte des Merkantilismus. Stuttgart 1931 und Rolf Straubel: Kaufleute und Manufakturunternehmer. Eine empirische Untersuchung über die sozialen Träger von Handel und Großgewerbe in den mittleren preußischen Provinzen (1763 bis 1815). Stuttgart 1995; ferner: Hildegard Hoffmann: Handwerk und Manufaktur in Preußen 1769 (Das Taschenbuch Knyphausen). Berlin 1969. 44 Am bekanntesten und verbreitetsten: Georg Agricola: De Re Metallica Libri XII. Basel 1556. Deutsche Übersetzung: Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen. 5. Aufl., Düsseldorf 1978. An Agricola schließt sich eine umfangreiche Forschungsliteratur an, die hier nicht zitiert wird. 45 Wilhelm Bornhardt: Geschichte des Rammelsberger Bergbaues von seiner Aufnahme bis zur Neuzeit. Berlin 1931.

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Für die frühneuzeitliche Montangeschichte wichtig waren drei von Ekkehard Westermann veranstaltete Tagungen in Ettlingen, deren Ergebnisse unter seiner Herausgeberschaft publiziert wurden, davon zwei als Beihefte der VSWG.46 Auch die Verhandlungen der von Hermann Kellenbenz organisierten, umfassend konzipierten Tagungen über Produktion und Handel von Kupfer, Eisen sowie Precious Metals (Gold, Silber, Blei und auch Kupfer) liegen gedruckt vor.47 In der Montanwirtschaft des 16. Jahrhunderts sah die auf die Entfaltung des Kapitalismus orientierte ältere Forschung eine von dessen wichtigsten Beförderern. Ein weiteres Mal sind hier die bereits zitierten Arbeiten von Werner Sombart und Jakob Strieder zu nennen.48 Schwerpunkte der anschließenden Detailforschung bildeten Oberdeutschland und hier vor allem Nürnberg und Augsburg. Unternehmensformen, Unternehmer, Kapitalbeschaffung und -verwendung, waren die wichtigsten Themen. Dabei erlangten in Augsburg die Fugger nahezu legendären Ruhm und wurden durch umfassende Studien, besonders von Götz Freiherr von Pölnitz,49 intensiv erforscht und dargestellt. Die Schwerpunkte dieser Arbeiten lagen freilich im Handels- und im Finanzgeschäft der Unternehmen; die Montangeschichte im eigentlichen Sinne trat zurück.50 46 Werner Kroker/Ekkehard Westermann (Hg.): Montanwirtschaft Mitteleuropas vom 12. bis 17. Jahrhundert. Stand, Wege und Aufgaben der Forschung. Bochum 1984; Ekkehard Westermann (Hg.): Vom Bergbau- zum Industrierevier. Montandistrikte des 17./18. Jahrhunderts auf dem Wege zur industriellen Produktionsweise des 19. Jahrhunderts (VSWG, Beiheft 115). Stuttgart 1995; ders.: Bergbaureviere als Verbrauchszentren. Fallstudien zu Beschaffung und Verbrauch von Lebensmitteln sowie Roh- und Hilfsstoffen in Montandistrikten des vorindustriellen Europa (13. bis 18. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 130). Stuttgart 1997. 47 Hermann Kellenbenz (Hg.): Schwerpunkte der Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in Europa 1500–1650. Wien 1974; ders. (Hg.): Schwerpunkte der Kupferproduktion und des Kupferhandels in Europa 1500–1650. Köln/Wien 1977; ders. (Hg.): Precious Metals in the Age of Expansion. Stuttgart 1981. 48 Vgl. Anm. 7, 21 und 24. 49 Götz Frhr. von Pölnitz: Anton Fugger. 3 Bände in 5 Bänden. Tübingen 1958–1986; ders.: Die Fugger. 3. Aufl., Tübingen 1970; ders.: Jacob Fugger. 2 Bände. Tübingen 1949/51. 50 Auch zur Montangeschichte fehlt eine Spezialbibliographie. Aus der neueren allgemeinen Literatur seien in Auswahl genannt: Georg Schreiber: Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur. Köln/Opladen 1962; Gerhard Heilfurth: Der Bergbau und seine Kultur. Eine Welt zwischen Dunkel und Licht. Zürich 1981; Karl-Heinz Ludwig: Die Agricola-Zeit im Montangemälde. Frühmoderne Technik in der Malerei des 18. Jahrhunderts. Düsseldorf 1979; KarlHeinz Ludwig/Peter Sika (Hg.): Bergbau und Arbeitsrecht. Die Arbeitsverfassung im europäischen Bergbau des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wien 1989; Rainer Slotta/Christoph Bartels (Hg.): Meisterwerke bergbaulicher Kunst vom 13. bis 19. Jahrhundert. Bochum 1990; Lothar Suhling: Aufschließen, Gewinnen und Fördern. Geschichte des Bergbaues. Reinbek 1983; Raimund Willecke: Die deutsche Berggesetzgebung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Essen 1977; Helmut Wilsdorf: Kulturgeschichte des Bergbaus. Ein illustrierter Streifzug durch Zeiten und Kontinente. Essen 1987; Eberhard Czaya: Der Silberbergbau. Aus Geschichte und Brauchtum der Bergleute. Leipzig 1990; Thomas Sokoll: Bergbau im Übergang zur Neuzeit. Idstein 1994; Christoph Bartels/Markus A. Denzel (Hg.): Konjunkturen im europäischen Bergbau in vorindustrieller Zeit. Festschrift für Ekkehard Westermann zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2000; Ekkehard Westermann (Hg.): Quantifizierungsprobleme bei der Erforschung der europäischen Montanwirtschaft des 15. bis 18. Jahrhunderts. St. Katharinen 1988.

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Hier stoßen wir auf einen – in diesem Bereich nicht seltenen – Dissens: Zwar wurden Unternehmens- und Unternehmergeschichte gründlich bearbeitet, doch deren Grundlage – Bergbau und Hüttenwesen – fanden im Vergleich dazu geringere Aufmerksamkeit. Erst in neuerer Zeit ändert sich das allmählich, wie sich am Beispiel des in der Frühen Neuzeit bedeutenden Montanreviers des Harzes zeigen lässt. Hier erschienen grundlegende Arbeiten, unter anderem aus einem darüber jüngst beendeten Schwerpunktprogramm.51 Auch aus anderen bedeutenden Montanrevieren wie dem Erzgebirge,52 Tirol,53 Vorderösterreich,54 Steiermark55 und dem Mansfelder Land56 ließen sich vergleichbare Monographien nennen. Trotz dieser beacht51 Christoph Bartels: Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie. Erzbergbau im Oberharz 1635–1866. Bochum 1992; Ekkehard Henschke: Landesherrschaft und Bergbauwirtschaft. Zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte des Oberharzer Bergbaugebietes im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin 1974; Hans-Joachim Kraschewski: Wirtschaftspolitik im deutschen Territorialstaat des 16. Jahrhunderts: Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel (1528–1589). Köln/Wien 1978; Christiane Segers-Glocke/Harald Witthöft (Hg.): Aspects of Mining and Smelting in the Upper Harz Montains (up to the 13th/14th Century). St. Katharinen 2000. Veröffentlichungen aus dem Schwerpunktprogramm erscheinen in Christoph Bartels/Karl Heinrich Kaufhold/Rainer Slotta (Hg.): Montanregion Harz. Bisher 5 Bände. Bochum 2001 ff.; ferner: Mirja Steinkamp: Die Eisenhütte Gittelde 1700–1787. Eine betriebswirtschaftliche Untersuchung. Stuttgart 1997. 52 Otfried Wagenbreth/Eberhard Wächtler (Hg.): Bergbau im Erzgebirge. Technische Denkmale und Geschichte. Leipzig 1990; dies. (Hg.): Der Freiberger Bergbau. Technische Denkmale und Geschichte. 2. Aufl., Dresden 1988; Adolf Laube: Studien über den erzgebirgischen Silberbergbau von 1470 bis 1546. Seine Geschichte, seine Produktionsverhältnisse, seine Bedeutung für die gesellschaftlichen Veränderungen und Klassenkämpfe in Sachsen am Beginn der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus. 2. Aufl., Berlin 1976. 53 Eine neuere Gesamtdarstellung fehlt. Einzelne Orte: Erich Egg/Peter Gstrein/Hans Sternad: Stadtbuch Schwaz. Natur – Bergbau – Geschichte. Schwaz 1986; Schwazer Buch. Beiträge zur Heimatkunde von Schwaz und Umgebung. Innsbruck 1951; Ekkehard Westermann (Hg.): Die Listen der Brandsilberproduktion des Falkenstein bei Schwaz von 1470 bis 1623. Wien 1988; ders.: Zur Silber- und Kupferproduktion Mitteleuropas vom 15. bis zum frühen 17. Jahrhundert. Über Bedeutung und Rangfolge der Reviere von Schwaz, Mansfeld und Neusohl, in: Der Anschnitt 38 (1986), S. 187–211; Peter Fischer: Die Gemeine Gesellschaft der Bergwerke. Bergbau und Bergleute im Tiroler Montanrevier Schwaz zur Zeit des Bauernkrieges. St. Katharinen 2001; Ludwig Scheuermann: Die Fugger als Montanindustrielle in Tirol und Kärnten. München/Leipzig 1929. 54 Angelika Westermann: Entwicklungsprobleme der Vorderösterreichischen Montanwirtschaft im 16. Jahrhundert. Eine verwaltungs-, rechts-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studie. Idstein 1993. 55 Paul W. Roth (Hg.): Erz und Eisen in der Grünen Mark. Beiträge zum steirischen Eisenwesen. Eisenerz 1984. 56 Ekkehard Westermann: Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäischen Kupfermarkt 1460–1560. Köln/Wien 1971; Verein Mansfelder Berg- und Hüttenleute Eisleben/Deutsches Bergbau-Museum Bochum (Hg.): Mansfeld. Die Geschichte des Berg- und Hüttenwesens. Eisleben/Bochum 1999; Günter Jankowski (Hg.): Zur Geschichte des Mansfelder Kupferschieferbergbaus. Clausthal-Zellerfeld 1995; Erich Paterna: Da stunden die Bergkleute auff. Die Klassenkämpfe der Mansfeldischen Bergarbeiter im 16. und 17. Jahrhundert und ihre sozialen und ökonomischen Ursachen. 2 Bände. Berlin 1960; Ekkehard Westermann: Das „Leipziger Monopolprojekt“ als Symptom der mitteleuropäischen Wirtschaftskrise um 1527/28, in: VSWG 58 (1971), S. 1–23; ders.: Silbererzeugung, Silberhandel und Wechselgeschäft im Thü-

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lichen Leistungen liegen vor der Montangeschichtsforschung noch umfangreiche Aufgaben, die sich am besten im Zusammenwirken von Technik-, Wirtschafts- und Sozialhistorikern lösen lassen werden. 5. Dieser knappe Überblick, der sich auf die wichtigsten Züge der Entwicklung beschränken muss, macht deutlich, wie vielgestaltig sich das Gewerbe in der Frühen Neuzeit entfaltete, doch auch, wie unterschiedlich seine Erforschung verlief. Das lange wenig beachtete frühneuzeitliche Handwerk fand steigendes Interesse, und mit dem Konzept der sog. Proto-Industrialisierung gelang es, die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung von Heimgewerbe und Verlag stärker herauszuarbeiten. Auch die Manufakturen und die Montangeschichte wurden – zum Teil unter neuen, anregenden Fragestellungen – intensiv untersucht. Zusammenfassend fällt der Rückblick auf die Entwicklung der Forschungen zur Frühen Neuzeit für das Gewerbe durchaus befriedigend aus. Zwar verdienen nicht wenige wichtige Probleme (von den vielen kleineren Forschungslücken einmal abgesehen) noch weitere intensive theoretische und empirische Arbeit, doch zeichnen sich die Grundzüge einer Gewerbe- und Montangeschichte der Frühen Neuzeit für Mitteleuropa bereits ab. Allerdings besteht kein Anlass, sich entspannt zurückzulehnen. Neben zahlreichen Einzelfragen, die nach quellengestützten empirischen Forschungen verlangen, ist auf dem Gebiet der systematisch-theoretischen Aufarbeitung der Gewerbegeschichte unter den Gesichtspunkten der inneren Entwicklung auch hin zur „Moderne“ des Industriezeitalters noch viel zu tun. Hier liegen konzeptuell wie in der Erforschung der Fakten interessante, freilich auch aufwendige Aufgaben. Allerdings scheinen die Aussichten dafür wenig günstig: Denn der Frühneuzeitforschung in unserem Fach bläst (ebenso wie der über das Mittelalter) seit einiger Zeit der Wind ins Gesicht. Setzt sich die zunehmend auf das 19. und vor allem 20. Jahrhundert konzentrierte Forschungs- und Berufungspolitik fort, so wird die Forschungsarbeit über die Frühe Neuzeit allmählich versiegen – und das in einer Zeit, in der diese Periode im Ausland, besonders im angelsächsischen Bereich, in Frankreich, Italien und Spanien zunehmend an Interesse gewinnt und die herkömmliche Grenze zwischen vorindustrieller und industrieller Zeit sich gerade in der Gewerbegeschichte sachlich gut begründet auflockert, wenn nicht gar auflöst. 19. und 20. Jahrhundert 1. Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts breitete sich im Gewerbe eine neue Betriebsform aus, die in der deutschen Literatur meist als Fabrik und in ihrer Gesamtheit als Fabriksystem oder Industrie bezeichnet wird. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie auch in Deutschland im Gewerbe dominierend und entfaltete über dieses hinaus gesamtwirtschaftlich wie auch in Gesellschaft, Politik ringer Saigerhandel von 1460–1620, in: VSWG 70 (1983), S. 192–214; Hans Otto Gericke: Von der Holzkohle zum Koks. Die Auswirkungen der „Holzkrise“ auf die Mansfelder Kupferhütten, in: VSWG 85 (1998), S. 156–195.

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und Kultur erheblichen Einfluss, der auf vielen Gebieten eine „neue Welt“ schuf. Lange Zeit zog die wirtschaftshistorische (und mit ihr die gewerbegeschichtliche) Forschung daher in den Jahrzehnten vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen scharfen Trennstrich, mit dem sie den Beginn und ersten Ausbau der von der Industrie geprägten Wirtschaft und Gesellschaft von den älteren Perioden deutlich absetzte. Um die Bezeichnung dieses grundlegenden Wandels konkurrierten in jüngerer Zeit vor allem die Begriffe Industrialisierung und Industrielle Revolution, wobei „Revolution“ die gründliche Veränderung der Wirtschaftsstruktur, in der die Industrie als bedeutendster Wirtschaftszweig an die Stelle der Landwirtschaft trat, besonders klar kennzeichnet. In diesem Prozess behielten das Gewerbe und innerhalb dieses die Industrie bis zum Vorrücken der „Dienstleistungsgesellschaft“ ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die Führung. Die Fabriken traten dabei als bedeutendster Gewerbezweig an die Stelle des Handwerks, das durch ihre übermächtige Konkurrenz teilweise sogar in Existenznot geriet. 2. Dieses in der Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte Bild wurde vor allem seit den 1970er Jahren zunehmend infrage gestellt.57 Dabei ging 57 Auswahl aus der umfangreichen Literatur: Schulz, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm.1), besonders S. 401–410; Hans Mauersberg: Deutsche Industrien im Zeitgeschehen eines Jahrhunderts. Eine historische Modelluntersuchung zum Entwicklungsprozess deutscher Unternehmen von ihren Anfängen bis zum Stand von 1960. Stuttgart 1966; Toni Pierenkemper: Umstrittene Revolutionen. Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1996; ders. (Hg.): Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution. Stuttgart 1989; Thomas Kuczynski: Industrielle Revolution oder Industrialisierung?, in: JbWG 1975/1, S. 164–176; Herbert Matis: Das Industriesystem. Wirtschaftswachstum und sozialer Wandel im 19. Jahrhundert. Wien 1988; Eckart Schremmer: Wie groß war der „Technische Fortschritt“ während der Industriellen Revolution in Deutschland 1850–1913, in: VSWG 60 (1973), S. 433–458; Volker Benad-Wagenhoff (Hg.): Industrialisierung – Begriffe und Prozesse. Festschrift für Akos Pauliny zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1994; Hartmut Berghoff/Dieter Ziegler (Hg.): Pionier oder Nachzügler? Vergleichende Studien zur Geschichte Großbritanniens und Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung. Festschrift für Sidney Pollard zum 70. Geburtstag. Bochum 1995; Hans-Werner Hahn: Zwischen Fortschritt und Krisen: Die Vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts als Durchbruchsphase der deutschen Industrialisierung. München 1995; Volker Hentschel: Produktion, Wachstum und Produktivität in England, Frankreich und Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Statistische Grenzen und Nöte beim internationalen wirtschaftshistorischen Vergleich, in: VSWG 68 (1981), S. 457–510; Hartmut Kaelble: Der Mythos von der rapiden Industrialisierung in Deutschland, in: GG 9 (1983), S. l06–118; Richard H. Tilly: Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914. München 1990; ders.: Zur Entwicklung des Kapitalmarktes und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: VSWG 60 (1973), S. 145– 165; Hans Jürgen Teuteberg: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1961; Eckart Schremmer: Die badische Gewerbesteuer und die Kapitalbildung in gewerblichen Anlagen und Vorräten in Baden und in Deutschland, 1815 bis 1913, in: VSWG 74 (1987), S. 18–61. Als Beispiel einer Fallstudie: Gerhard Adelmann: Die Baumwollgewerbe Nordwestdeutschlands und der westlichen Nachbarländer beim Übergang von der vorindustriellen zur frühindustriellen Zeit 1750–1815. Stuttgart 2001; ferner Josef Ehmer: Soziale Tradi-

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und geht es weniger um den Strukturwandel, dessen Evidenz sich allenfalls für Teilbereiche bestreiten lässt, sondern um seinen Beginn, seine Reichweite und seine Geschwindigkeit. Schlagwortartig verkürzt trat an die Stelle der Revolution die Evolution, also ein allmähliches Hineinwachsen aus den alten Strukturen in die neuen. Dabei wurde auch die Vorstellung aufgegeben, der Wandlungsprozess sei tendenziell einheitlich abgelaufen. Differenzierungen nach Wirtschaftszweigen und Regionen sowie rückläufige Bewegungen in Teilbereichen (De-Industrialisierung) wurden beobachtet und in der Literatur beachtet. Die großen Themen der neueren Gewerbegeschichte, nämlich Entstehung, Entwicklung, Differenzierung und innerer Wandel des Fabriksystems sowie als Folge die Verhältnisse in den davon betroffenen älteren gewerblichen Betriebsformen, besonders im Handwerk, wurden seit den 1870er Jahren vor allem von Nationalökonomen intensiv behandelt; im 20. Jahrhundert kamen Sozialwissenschaftler hinzu. Diese Arbeiten gingen meist von aktuellen Problemen aus, die sie fundiert darstellten (wodurch sie heute oft zu Studien mit Quellencharakter geworden sind), aber nicht selten auch von historischen Entwicklungen ihres Gegenstandes. Alle diese Untersuchungen sind für die Gewerbegeschichte wertvoll, auch wenn sie nicht oder nicht ausschließlich in historischer Absicht verfasst wurden. Die Geschichtswissenschaften beschäftigten sich, von Vorläufern abgesehen, in größerem Umfang erst ab den 1950er, verstärkt ab den 1960er Jahren mit Gewerbegeschichte im „Fabrikzeitalter“, wobei die Geschichte der Industrie und deren Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft im Vordergrund standen. Dabei spielte die institutionalisierte Forschung von Anfang an eine wichtige Rolle. Mit am Beginn stand die Historische Kommission zu Berlin,58 in deren Forschungsstelle Otto Büsch, Wolfram Fischer und Wilhelm Treue zahlreiche, zum Teil umfangreiche Untersuchungen durchführten, oft verbunden mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der FU Berlin. Man war hier in dreifacher Weise tätig: Neben Tagungen, aus denen vielbeachtete Sammelbände hervorgingen,59 gab es Editionen umfangreicher quantitativer Quellen zum Berg- und Hüttenwesen des 19. und des 20. Jahrhunderts60 sowie eine Vielzahl wichtiger tionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M./ New York 1994. 58 Wolfgang Ribbe (Hg.): Die Historische Kommission zu Berlin. Forschungen und Publikationen zur Geschichte von Berlin-Brandenburg und Brandenburg-Preußen. Potsdam 2000 (enthält eine Bibliographie der Kommissions-Veröffentlichungen). 59 Zum Beispiel die Tagungen zur Inflation im Deutschen Reich und in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, denen sich eine Reihe von auch industrie- und gewerbegeschichtlich ergiebigen Einzelstudien anschloss. Eine vergleichbare Reihe von ebenfalls gewerbegeschichtlich inhaltsreichen Arbeiten zur Weltwirtschaftskrise konnte wegen der „Abwicklung“ der Forschungsstelle der Kommission nicht fortgesetzt werden. 60 Stefi Jersch-Wenzel/Jochen Krengel: Die Produktion der deutschen Hüttenindustrie 1850–1914. Ein historisch-statistisches Quellenwerk. Berlin 1984; Wolfram Fischer (Hg.): Die Statistik der Stahlproduktion im deutschen Zollgebiet 1850–1911 (alte Erfassungssystematik). St. Katharinen 1989; ders. (Hg.): Statistik der Bergbauproduktion Deutschlands 1850–1914. St. Katharinen 1989; ders. (Hg.): Statistik der Montanproduktion Deutschlands 1915–1985. St. Katharinen 1995. Die drei letztgenannten Arbeiten erschienen nicht als Veröffentlichungen der Kommission, entstanden aber in enger Zusammenarbeit mit dieser.

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Monographien,61 von den zahlreichen Aufsätzen zu schweigen. Berlin und Preußen standen dabei im Mittelpunkt, doch fehlten auch andere Regionen und internationale Vergleiche nicht. Diese Leistungen halfen der Historischen Kommission allerdings nicht: Ihre Forschungsstelle wurde aufgrund einer Empfehlung des „Wissenschaftsrates“ in den 1990er Jahren ebenso wie Forschungseinrichtungen unseres Faches in der DDR62, besonders das Institut für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, „abgewickelt“ – ein arger Aderlass auch für die gewerbegeschichtliche Forschung. Lebhafte, längere Zeit nachwirkende Impulse erhielt die Industrialisierungsforschung durch ein von Wolfram Fischer koordiniertes Schwerpunktprogramm der DFG zur Frühindustrialisierung, dem ein weiteres, ebenfalls von ihm koordiniertes zur historischen Statistik von Deutschland folgte.63 Beide Programme brachten für die Gewerbe- und Industrialisierungsgeschichte reichen Ertrag, wobei die quantitativen Aspekte besonders hervorzuheben sind. Über diesen Studien dürfen die zahlreichen außerhalb der genannten Programme entstandenen Untersuchungen (etwa aus dem Kreis der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte unter Wilhelm Treue und Hans Pohl)64 nicht vergessen werden. 61 Als Beispiele: Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens. Berlin 1984; Otto Büsch: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800–1850. Eine empirische Untersuchung zur gewerblichen Wirtschaft einer hauptstadtgebundenen Wirtschaftsregion in frühindustrieller Zeit. Berlin 1971; ders.: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin-Brandenburg, Band 2: Die Zeit um 1800/Die Zeit um 1875. Berlin 1976; ders. (Hg.): Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg. Berlin 1971; Peter Lundgreen: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe. Berlin 1975; Wolfram Fischer (Hg.): Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung. Berlin 1968; Otto Büsch/Wolfram Fischer/Hans Herzfeld (Hg.): Industrialisierung und Europäische Wirtschaft im 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht. Berlin 1976; Hans-Werner Niemann: Das Bild des industriellen Unternehmers in deutschen Romanen der Jahre 1890 bis 1945. Berlin 1982; Peter Czada: Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung. Berlin 1969. 62 In Auswahl: Hans Mottek/Horst Blumberg/Heinz Wutzmer/Walter Becker: Studien zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland. Berlin 1960; Alfred Schröter/Walter Bekker: Die deutsche Maschinenbauindustrie in der industriellen Revolution. Berlin 1962; Horst Blumberg: Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution. Berlin 1965. 63 Einige Arbeiten aus dem Schwerpunktprogramm Frühindustrialisierung sind in dieser Übersicht zitiert. Aus dem Schwerpunktprogramm zur historischen Statistik ist die von Wolfram Fischer, Franz Irsigler, Karl Heinrich Kaufhold und Hugo Ott herausgegebene Reihe „Quellen und Forschungen zur historischen Statistik von Deutschland“ (St. Katharinen 1986 ff.) hervorgegangen, in der die wesentlichen Arbeitsergebnisse dieses Programms und weitere einschlägige Publikationen veröffentlicht werden (zur Zeit 23 Bände, weitere sind in Vorbereitung). Über das Schwerpunktprogramm unterrichten: Nils Diederich/Egon Hölder/Andreas Kunz u. a.: Historische Statistik in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1990 sowie Wolfram Fischer/ Andreas Kunz (Hg.): Grundlagen der Historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele. Opladen 1991. Übersicht über die gewerbestatistischen Quellen: Pierenkemper, Gewerbe (wie Anm. 3), S. 113–120. Auch zur Gewerbestatistik wichtig: Wolfgang Köllmann (Hg.): Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815–1875. Bände 2–5, bearb. von Antje Kraus. Boppard 1989–1995. 64 Zeitschriften und Schriftenreihen: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte, Band 1 (1956) –

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3. Diese Arbeiten brachten reichen Ertrag, und da sich – wie schon gesagt – die Forschung im Fach zunehmend auf das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert konzentrierte, nimmt er weiter zu. Das heißt freilich nicht, alle wesentlichen Fragen seien geklärt. Die hochdifferenzierten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in dieser Zeit, die sich mehr und mehr mit der Politik verbanden, die wachsende Quellenflut und nicht zuletzt die auch die Forschung berührenden unterschiedlichen Interpretationen des Geschehens im „Zeitalter der Ideologien“ sorgten für immer noch beachtliche Lücken und Diskussionspunkte. Der begrenzte Raum für diesen Beitrag lässt nur einen knappen, stark auswählenden Überblick über einzelne Themen und Titel zu, und auch die etwas ausführlicheren Anmerkungen müssen sich damit begnügen.65 Ich gehe im Folgenden auf Gesamtdarstellungen und dann (in Abschnitt 4) auf Arbeiten ein, die Teilaspekte behandeln: zeitlich (a), regional (b) und einzelne Gewerbezweige (c). Die Entwicklung des vorindustriellen Gewerbes, besonders des Handwerks, wird in Abschnitt 5 knapp dargestellt, bevor ein ganz kurzer Rückblick (in Abschnitt 6) diesen Teil schließt. Gesamtdarstellungen des Industrialisierungsprozesses und seiner Folgen wurden von bedeutenden Sozialökonomen schon früh vorgelegt; sie haben die weitere Forschung zum Teil maßgeblich beeinflusst. Allerdings fassten sie ihn unter anderen Begriffen, besonders unter dem des Kapitalismus, und sie griffen für dessen Entstehen oft weit in die Zeit vor 1800 zurück und betonten damit Kontinuitätslinien. Wieder kam Werner Sombart eine wichtige Rolle dabei zu, indem er vor allem in seinem Hauptwerk über den modernen Kapitalismus66 die von Karl Marx im „Kapital“ entwickelten Analysen der „kapitalistischen Produktionsweise“ aufgriff, sie tiefgreifend verwandelt in sein System einbrachte und mit diesem den in der politischen Polemik entstandenen Begriff des Kapitalismus für die Wissenschaft „salonfähig“ machte. Annähernd gleichzeitig mit ihm legten Max Weber und Jo21 (1976) mit Beiheften; anschließend: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Band 22 ff., dazu Beihefte 10–94. Stuttgart 1977–1996. Die Reihe ist dann eingestellt worden, Nachfolge in: Beiträge zur Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1997 ff. und Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, München 1998 ff. Aus den Beiheften der VSWG sind, soweit nicht anderweit erwähnt, für die Gewerbegeschichte folgende Arbeiten zu nennen (in Klammern Jahrgang und Nummer des Beiheftes; alle Stuttgart): Mark Spoerer: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941 (1996, 123); Achim Knips: Deutsche Arbeitgeberverbände der Eisen- und Metallindustrie, 1888–1914 (1996, 124); Hans Pohl (Hg.): Competition and Cooperation of Enterprises on National und International Markets (19th –20th Century) (1997, 136); Thomas Rhenisch: Europäische Integration und industrielles Interesse. Die deutsche Industrie und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1999, 152); Bernhard Löffler: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard (2002, 162); Manuel Schramm: Konsum und regionale Identität in Sachsen. Die Regionalisierung von Konsumgütern im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung (2002, 164). 65 Vgl. die Anm. 57 und 60 bis 64. 66 Wie Anm. 7. Zu einem neueren Diskussionsbeitrag: Eckart Schremmer: Auf dem Weg zu einer allgemeinen Lehre von der Entstehung moderner Industriegesellschaften? Anmerkungen zu H. Otsukas Konzept „Der „Geist“ des Kapitalismus“, in: VSWG 70 (1983), S. 363–378.

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seph Alois Schumpeter, um nur diese zu nennen, ihre Analysen vor.67 Eine Vielzahl von Einzelstudien folgte. Dabei trat der Begriff des Kapitalismus allmählich etwas zurück, bis er ab den späten 1960er Jahren in der Bundesrepublik eine neue Konjunktur erlebte, allerdings mehr in den Sozial- als in den Geschichtswissenschaften. Hier fand er zeitweise große Aufmerksamkeit und brachte eine umfangreiche Literatur hervor, ohne freilich die Entwicklungen im Fach nachhaltig zu beeinflussen. Deutlich davon zu unterscheiden sind die in der DDR erschienenen Arbeiten, für die „Kapitalismus“ ein Leitbegriff war. Wichtige Themen bildeten Begriff und Wesen der Industriellen Revolution (mit grundlegenden Beiträgen), die Rolle des Gewerbes im Rahmen der Entfaltung der Produktivkräfte, empirische Studien mit regionalem oder lokalem Bezug oder über einzelne Gewerbezweige, ferner die Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung.68 Die Orientierung an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus war selbstverständlich (anderenfalls wäre keine Druckerlaubnis erteilt worden), doch machte das die Mehrzahl der Arbeiten auch für den Leser, der damit nichts im Sinn hatte, nicht wertlos. Die ideologischen Bindungen, in den 1950er und 1960er Jahren noch stark, lockerten sich allmählich. Eine gelegentlich zu hörende pauschale Abwertung der DDR-Forschungen ist jedenfalls nicht gerechtfertigt. In der Bundesrepublik erschien seit den 1970er Jahren eine Reihe von Monographien, die sich mit der deutschen Industrialisierung im 19. Jahrhundert und zumeist auch mit der weiteren Entwicklung der Industrie im 20. Jahrhundert beschäftigten. Sie fügen diese allerdings meist mit anderen Bereichen der wirtschaftlichen Entwicklung zusammen, besonders der Agrarwirtschaft und dem Verkehrswesen, so dass Gesamtdarstellungen der Wirtschaftsgeschichte unter dem Leitmotiv der 67 Zu nennen sind vor allem von Max Weber der Aufsatz über die Protestantische Ethik sowie Wirtschaft und Gesellschaft und Wirtschaftsgeschichte, von Joseph A. Schumpeter Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung sowie Business Cycles. 68 Die einschlägigen Veröffentlichungen von DDR-Autoren hier zu nennen, überstiege den Rahmen dieses Beitrages bei weitem. Es sei daher lediglich in Auswahl auf einige Überblicksdarstellungen verwiesen: Carl-Ludwig Holtfrerich: Zur Position und Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte in der DDR seit 1960. Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, in: GG 8 (1982), S. 145–153; Horst Handke: Sozialgeschichte – Stand und Entwicklung in der DDR, in: Jürgen Kocka (Hg.): Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Darmstadt 1989, S. 89–108 (auch gewerbegeschichtlich ergiebig); Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg.): Geschichtswissenschaft in der DDR. 2 Bände. Berlin 1988/ 90 (in Band 1 der Beitrag von Carl-Ludwig Holtfrerich: Zur Position und Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte in der DDR seit 1960. Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte – in Band 2 E. Bottigelli u. a.: Eine Auseinandersetzung mit dem Werk von Jürgen Kuczynski „Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“, Band 1–38; Margrit Grabas: „Zwangslagen und Handlungsspielräume“. Die Wirtschaftsgeschichtsschreibung der DDR im System des real existierenden Sozialismus, in: VSWG 78 (1991), S. 500–531; Wilfried Feldenkirchen: Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, in: Ebd., S. 532–548; Arnd Kluge: Betriebsgeschichte in der DDR – ein Rückblick, in: ZUG 38 (1993), S. 49–62; Wolfram Fischer/Frank Zschaler: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Jürgen Kocka/Renate Mayntz (Hg.): Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch. Berlin 1998, S. 361–434. Auch das Themenheft „Aus Politik und Zeitgeschichte B 17–18/92“ über die Geschichtswissenschaft in der DDR enthält aufschlussreiche Angaben.

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industriellen Entwicklung entstanden. Am Beginn stand 1972 die schmale, doch inhaltsreiche Arbeit von Knut Borchardt,69 die das Thema aus betont wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive in ökonomischer Fachsprache behandelte. Nahezu gleichzeitig (1973/74) erschien die breiter angelegte Darstellung von Friedrich-Wilhelm Henning,70 die stark quantitativ orientiert ist und auch sozialgeschichtliche Aspekte berücksichtigt. Beide Publikationen trugen, jede in ihrer Art, dazu bei, im akademischen Unterricht und dem interessierten Publikum fundierte Kenntnisse über den Prozess der Industrialisierung zu vermitteln. Sehr entschieden betonte die nicht auf Deutschland begrenzte Studie von Akos Paulinyi71 die „industrielle Revolution“, die durch sie ausgelöste Zäsur und den „Ursprung der modernen Technik“. Auf Deutschland konzentrieren sich dagegen die beiden dem Thema gewidmeten Bände der EDG, auf die schon in der Einführung hingewiesen wurde.72 Sie fassen den gegenwärtigen Forschungsstand knapp zusammen und werden durch die stärker sektoral ausgerichtete Darstellung von Hubert Kiesewetter über die „Industrielle Revolution in Deutschland 1815–1914“ ergänzt.73 Kiesewetter hat seine Überlegungen anschließend über Deutschland hinaus in den europäischen Rahmen erweitert. Nach einem Beitrag in der VSWG, der die Grundgedanken entwickelte,74 führte sein Buch über das „Einzigartige Europa“ den Gedanken weiter aus.75 Hier ist auch die zusammenfassende Arbeit von Christoph Buchheim über „Industrielle Revolutionen“ einzuordnen,76 die Großbritannien, Europa und Übersee in ihren unterschiedlichen Entwicklungssträngen vergleicht und deutlich macht, wie erhellend es ist, internationale Dimensionen dieses, wie man heute sagt, globalen Prozesses anzusprechen. Bei einem vielgestaltigen Phänomen wie der Industrialisierung verdienen Sammelbände besondere Aufmerksamkeit, weil sie entweder Beiträge zu mehreren Aspekten des Themas aus der Feder mehrerer Autoren bündeln oder die breit angelegte Auseinandersetzung eines Autors damit dokumentieren. In die erste Gruppe fallen zum Beispiel die Aufsätze, die Hans Mottek, Rudolf Braun und andere zu den einschlägigen Themen herausgegeben haben,77 in die zweite zum Beispiel die 69 Knut Borchardt: Die industrielle Revolution in Deutschland. München 1972. 70 Friedrich-Wilhelm Henning: Die Industrialisierung in Deutschland 1800 bis 1914. Paderborn 1973; ders.: Das industrialisierte Deutschland 1914 bis 1972. Paderborn 1974. Neuerdings heranzuziehen die wesentlich umfangreichere Darstellung: ders.: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Band 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert. Paderborn 1996. 71 Akos Paulinyi: Industrielle Revolution. Vom Ursprung der modernen Technik. Reinbek 1989. 72 Vgl. Anm. 3. 73 Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland 1815–1914. Frankfurt a. M. 1989. 74 Hubert Kiesewetter: Europas Industrialisierung – Zufall oder Notwendigkeit?, in: VSWG 80 (1993), S. 30–62. 75 Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa. Zufällige und notwendige Faktoren der Industrialisierung. Göttingen 1996. 76 Christoph Buchheim: Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee. München 1994. Vgl. auch ders.: Überlegungen zur Industriellen Revolution und langfristigen Wachstumsprozessen, in: JbWG 1995/1, S. 209–219. 77 Rudolf Braun/Wolfram Fischer/Helmut Großkreutz/Heinrich Volkmann (Hg.): Industrielle

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Sammelwerke mit Arbeiten von Wolfram Fischer, Richard H. Tilly und Gerhard Adelmann.78 Ihre Lektüre lässt die oben genannte Weite des Gegenstandes ebenso erkennen wie die Vielzahl der Wege, sich ihm zu nähern. Eine wichtige Rolle in den Diskussionen über den Industrialisierungsprozess spielte die Frage nach der Dauer, die er für seine Durchsetzung benötigte. Wesentliche Beiträge dazu kamen aus der angelsächsischen Forschung; sie wurden in Deutschland zunächst nur zögernd aufgegriffen. In den 1960er Jahren spielte die Stufentheorie von Walt W. Rostow79 eine dominierende Rolle, in der der vielzitierte „take off“ als entscheidender Auslöser des sich selbst unterhaltenden Wachstumsprozesses die zentrale Stellung einnahm, mithin nach dessen Definition bei Rostow ein eher kurzfristiger Vorgang. Obwohl die deutsche Nationalökonomie am Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Stufentheorien der wirtschaftlichen Entwicklung erarbeitet hatte, die nach (meiner Ansicht nach zutreffender) herrschender Meinung allenfalls Teilerklärungen boten, fand Rostows Lehre auch in Deutschland überraschend starke Zustimmung. In den jüngst vergangenen Jahren verbreitete sich dann, wieder ausgehend von den angelsächsischen Ländern, wie schon angedeutet auch in der deutschen Forschung die Überlegung, Industrialisierung im umfassenden Sinne als einen im Grundsatz langfristigen Vorgang zu verstehen, in dem sich Elemente des Wandels kumulierten, und zwar nicht gleichmäßig, sondern in zeitlich und sektoral unterschiedlichem Tempo und auch durchaus unterbrochen durch Rückschläge. John Komlos und Marc Artzrouni haben diesen Prozess in einem „Simulationsmodell der industriellen Revolution“ 1994 in der VSWG in mathematischer Form diskutiert.80 Wie immer man zu dieser Methode stehen mag, der Gedanke, die Industrialisierung sei ein zeitlich gestreckter Kumulationsvorgang gewesen, scheint mir fruchtbar zu sein, und er hat in den letzten Jahren im Fach an Bedeutung gewonnen. Eine eindrucksvolle Darstellung von Meinungen und Gegenmeinungen in dieser Frage verbunden mit dem Entwurf einer Synthese hat John Komlos 1997 in der VSWG vorgelegt.81 Leider wurde die Diskussion über diese grundlegenden Fragen im deutschsprachigen Raum nicht sonderlich intensiv fortgesetzt; hier besteht ein erheblicher, grundsätzlicher Forschungsbedarf.

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Revolution. Wirtschaftliche Aspekte. Köln 1972; dies. (Hg.): Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln 1973. Zu Mottek u. a. vgl. Anm. 62. Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 12); Richard H. Tilly: Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1980; Gerhard Adelmann: Vom Gewerbe zur Industrie im kontinentalen Nordwesteuropa. Gesammelte Aufsätze zur regionalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1986. Walt W. Rostow: Stadien wirtschaftlichen Wachstums. Eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie. 2. Aufl., Göttingen 1967 (englische Ausgabe Cambridge 1960). Dazu grundlegend: Volker Hentschel: Leitsektorales Wachstum und Trendperioden. Rostows Konzept des modernen Wirtschaftswachstums in theoriegeschichtlicher Perspektive, in: VSWG 80 (1993), S. 197–208. John Komlos/Marc Artzrouni: Ein Simulationsmodell der Industriellen Revolution, in: VSWG 81 (1994), S. 324–338. John Komlos: Ein Überblick über die Konzeptionen der Industriellen Revolution, in: VSWG 84 (1997), S. 461–511.

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4. Die Masse der Darstellungen zur Industriegeschichte beschäftigt sich mit Teilaspekten dieses komplexen Themas, ist also hinsichtlich des behandelten Zeitraumes und/oder des Ortes und/oder des Gewerbezweiges (der Branche) begrenzt. Literatur dieser Art erschien und erscheint vor allem seit den 1960er Jahren in einer solchen Fülle, dass hier nur einige Hinweise gegeben werden können. Leider liegt keine spezielle Bibliographie zur deutschen Gewerbegeschichte vor, auf die verwiesen werden könnte.82 Gute Dienste leisten lokale oder regionale Bücherverzeichnisse und ähnliche Hilfsmittel. Ein zentraler Nachweis der gewerbegeschichtlichen Literatur bleibt aber ein Desiderat. Im Übrigen wird zur Ergänzung der folgenden Ausführungen auf den Beitrag über Unternehmensgeschichte im vorliegenden Band verwiesen, da einzelne Unternehmen hier nur im Ausnahmefall angesprochen werden können. a. Eine eigene zeitliche Gliederung für die Industriegeschichte ist von der Forschung nicht entwickelt worden. Sie schließt sich im Allgemeinen der in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte benutzten an, die ihrerseits im 19. und 20. Jahrhundert stark von der politischen Geschichte beeinflusst wird. Die Zeitgrenze zwischen den beiden Jahrhunderten wird in der Regel mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gezogen, das 19. Jahrhundert also als ein „langes“ definiert. Die Forschung orientiert sich im Allgemeinen an dieser zeitlichen Gliederung und nimmt ihre Abgrenzungen entsprechend vor. Das gilt für Gesamtdarstellungen wie für regional und/oder sektoral begrenzte Abhandlungen, wobei hier den konkreten Umständen entsprechend Abweichungen möglich sind. Dagegen sind gewerbegeschichtliche Studien, die das gesamte Gewerbe in einer Teilperiode behandeln, selten. Es gibt keine deutsche Gewerbegeschichte des Vormärz oder der Weimarer Republik, um zwei Beispiele zu nennen. Darin mag man einen Mangel sehen, doch werden diese Teilperioden innerhalb zeitlich übergreifender Abhandlungen oft ausführlich angesprochen. b. Fruchtbar war und ist die Überlegung, Industrialisierung als einen regional differenzierten Prozess zu interpretieren. Die neuere Industrialisierungsforschung setzte anfänglich an der industriellen Entwicklung ganzer Staaten an, ging aber ab den 1980er Jahren zunehmend dazu über, den Prozess in einzelnen Regionen, gelegentlich vergleichend, zu untersuchen. Die anfänglich nur wenigen Studien fanden ein größer werdendes Echo. Als problematisch erwies sich dabei eine Definition der Region, die theoretisch befriedigend und zugleich praktisch handhabbar ist. Hier gibt es einige interessante Ansätze, doch noch keine allgemein anerkannte Lösung.83 82 Vgl. Anm. 1. 83 Auswahl aus der umfangreichen Literatur zur regionalen Industrialisierung: F. B. Tipton: Regional Variations in the Economic Development of Germany During the Nineteenth Century. Middletown (Conn.) 1976; Wolfram Fischer: „Stadien und Typen“ der Industrialisierung in Deutschland. Zum Problem ihrer regionalen Differenzierung, in: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972, S. 464–473; Rainer Fremdling/Richard H. Tilly (Hg.): Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1979; Hubert Kiesewetter: Erklärungshypothesen zur regionalen Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: VSWG 67 (1980), S. 305–333; ders.: Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung.

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Freilich, das wird von den Verfechtern der Regionalisierungsmethode gelegentlich übersehen, ist diese wirtschafts- und auch konkret industrialisierungsgeschichtlich in der deutschen Literatur allenfalls in ihrem prinzipiellen Geltungsanspruch und in dem Versuch einer stringenten methodischen Durchdringung neu. Sie hat vielmehr eine beachtliche Tradition, in der ein erheblicher Teil ihrer bisherigen Leistungen entstanden ist. Erich Maschke wies schon 1967 in einem grundlegenden Aufsatz84 auf die Verbindungen zwischen Industrialisierungs- und Landesgeschichte hin. Vor allem aber orientiert sich die laufende Forschung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert an lokal oder regional begrenzten Themen und erarbeitete dazu eine Fülle zum Teil wertvoller Beiträge. Freilich fehlen zusammenfassende Überblicke; Fallstudien über einzelne Standorte und Werke bestimmen das Bild. Sie hier sämtlich zu nennen, überstiege den Rahmen dieses Überblicks. Sie harren einer Zusammenfassung in Form einer deutschen Industrialisierungsgeschichte auf lokaler und regionaler Grundlage, für die freilich wegen der noch nicht zureichenden methodischen Reflektion des Regionsbegriffs und wegen schmerzlicher Lücken bei Einzeluntersuchungen auf diesem Feld die Zeit noch nicht reif zu sein scheint. Das zeigt bereits ein kurzer, auswählender Überblick über die vorliegenden Arbeiten. Wohl an erster Stelle zu nennen ist die große Studie von Rudolf Forberger über die „Industrielle Revolution in Sachsen 1800–1861“85, die dank der Bemühungen seiner Frau Ursula nun posthum in zwei Bänden vorliegt. Dies gilt umso mehr, als Forberger auch zu Begriffsfragen des Themas mehrfach erhellend Stellung genommen hat.86

Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: VSWG 73 (1986), S. 38–60; ders.: Zur Dynamik regionaler Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert – Lehren für die europäische Union?, in: JbWG 1992/1, S. 79–112; ders./Rainer Fremdling (Hg.): Staat, Region und Industrialisierung. Ostfildern 1985; Sidney Pollard: Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Göttingen 1980; Harald Frank: Regionale Entwicklungsdisparitäten im deutschen Industrialisierungsprozess 1849–1939. Eine empirisch-analytische Untersuchung. Münster/Hamburg 1994. Als Reihe tritt hinzu: Toni Pierenkemper (Hg.): Regionale Industrialisierung. Stuttgart 2000 ff. 84 Erich Maschke: Industrialisierungsgeschichte und Landesgeschichte, in: BDLG 103 (1967), S. 71–84. Dazu: Wolfgang Zorn: Ein Jahrhundert deutscher Industrialisierungsgeschichte. Ein Beitrag zur vergleichenden Landesgeschichtsschreibung, in: BDLG 108 (1972), S. 122–134. 85 Rudolf Forberger: Die Industrielle Revolution in Sachsen 1800–1861, Band 1 (in 2 Halbbänden): Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1800–1830. Berlin 1982, Band 2 (in 2 Halbbänden): Die Revolution der Produktivkräfte in Sachsen 1831–1861. Leipzig/Stuttgart 1999/2003. Zu Sachsen wichtig: Hubert Kiesewetter: Industrialisierung und Landwirtschaft. Sachsens Stellung im Industrialisierungsprozess Deutschlands im 19. Jahrhundert. Köln/Wien 1988. 86 Rudolf Forberger: Theoretische und empirische Bemerkungen zum Thema. Die Industrielle Revolution in der Sicht der Produktivkräfte, in: Ulrich Troitzsch/Gabriele Wohlauf (Hg.): Technik-Geschichte. Frankfurt a. M. 1980, S. 302–327; ders.: Zu den Begriffen „Manufaktur“ und „Fabrik“ in technischer und technologischer Sicht, in: Ulrich Troitzsch (Hg.): Technologischer Wandel im 18. Jahrhundert. Wolfenbüttel 1981, S. 175–187; ders.: Zur Auseinandersetzung über das Problem des Übergangs von der Manufaktur zur Fabrik, in: Beiträge zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1962, S. 171–188.

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Von den anderen Zentren der deutschen Industrialisierung wurden Berlin87 und die großen Montanreviere, das Ruhrgebiet,88 das Saarrevier89 sowie Oberschlesien90 intensiver bearbeitet. Dominieren hier mit Ausnahme Berlins die schwerindustriellen Zentren, wird das Bild bunter durch einen Blick auf den deutschen Südwesten und Süden, für die differenzierte Arbeiten über Baden,91 Württemberg92 und Bay87 Auswahl aus der umfangreichen Literatur: Lothar Baar: Die Entwicklung der Berliner Industrie in der Periode der Industriellen Revolution. Berlin 1961; Otto Büsch: Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg, Band 1: 1800–1850. Berlin 1971, Band 2: Die Zeit um 1800, die Zeit um 1875. Berlin 1977; ders. (Hg.): Untersuchungen zur Geschichte der frühen Industrialisierung vornehmlich im Wirtschaftsraum Berlin/Brandenburg. Berlin 1971; Ilja Mieck: Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Berlin 1965; Hartmut Kaelble: Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung. Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluss. Berlin 1972; Peter Czada: Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung. Berlin 1969. 88 Grundlegend Wolfgang Köllmann/Hermann Korte/Dietmar Petzina/Wolfhard Weber (Hg.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung. 2 Bände. Düsseldorf 1990 (mit umfassender Bibliographie); Klaus Tenfelde: Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert. Bonn 1977; Wilfried Feldenkirchen: Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets 1879–1914. Wachstum, Finanzierung und Struktur ihrer Großunternehmen. Wiesbaden 1982; Paul Wiel: Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietes. Tatsachen und Zahlen. Essen 1970; Christian Kleinschmidt: Rationalisierung als Unternehmensstrategie. Die Eisenund Stahlindustrie des Ruhrgebietes zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise. Essen 1993; Franz-Josef Brüggemeier: Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889– 1919. München 1983; Werner Abelshauser: Der Ruhrkohlenbergbau seit 1945. Wiederaufbau, Krise, Anpassung. München 1984. 89 Ralf Banken: Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914, 2 Bde. Stuttgart 2000/2003; Anton Hasslacher: Geschichtliche Entwicklung des Steinkohlenbergbaus im Saargebiete. Berlin 1904; Klaus-Michael Mallmann: Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar (1848– 1904). Saarbrücken 1981; ders. u. a. (Hg.): Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815–1955. Berlin/Bonn 1987; Paul Thomes: Zwischen Staatsmonopol und privatem Unternehmertum. Das Saarrevier im 19. Jahrhundert als differentielles Entwicklungsmuster im Typus montaner Industrialisierung, in: JbWG 1992/1, S. 57–78; Hans-Walter Herrmann (Hg.): Geschichtliche Landeskunde des Saarlandes, Band 3, 2. Teil: Jürgen Karbach/Paul Thomes: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Saarlandes (1792–1918). Saarbrükken 1994. 90 Konrad Fuchs: Die Wirtschaft, in: Josef Joachim Menzel (Hg.): Geschichte Schlesiens 3. Stuttgart 1999, S. 105–164; ders.: Vom Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- und Hüttenrevier. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1970; Toni Pierenkemper (Hg.): Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1992; Ernst Komarek: Die Industrialisierung Oberschlesiens. Zur Entwicklung der Montanindustrie im überregionalen Vergleich. Bonn 1998; Alfons Perlick: Oberschlesische Berg- und Hüttenleute. Lebensbilder aus dem oberschlesischen Industrierevier. Kitzingen 1953. – Zum Textilgewerbe: Alfred Zimmermann: Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien. Gewerbe- und Handelspolitik dreier Jahrhunderte. Breslau 1885. 91 Wolfram Fischer: Der Staat und die Anfänge der Industrialisierung in Baden 1800–1850, 1. Band Berlin 1962; ders.: Ansätze zur Industrialisierung in Baden 1770–1870, in: VSWG 47 (1960), S. 186–231; Eckart Schremmer: Die badische Gewerbesteuer und die Kapitalbildung in gewerblichen Anlagen und Vorräten in Baden und in Deutschland, 1815 bis 1913, in: VSWG

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ern93 vorliegen. Nördlich der Mainlinie bestehen allerdings territorial große Lükken. So ist zum Beispiel ein für die Konsumgüterproduktion hoch interessantes, allerdings stark gegliedertes Gebiet wie Thüringen noch nicht zusammenfassend bearbeitet, sieht man von einigen älteren Studien ab. Ähnlich ungünstig sieht es im Nordwesten aus, wo lediglich Schleswig-Holstein94 intensiver behandelt worden ist, und im Osten,95 hier mit der Ausnahme Oberschlesiens. Positiv heben sich dagegen das Rheinland,96 Westfalen97 und Lippe98 ab, während für Hessen eine zusammenfassende Darstellung fehlt.

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74 (1987), S. 18–61; Peter Borscheid: Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden (1848– 1914). Stuttgart 1976. Willi A. Boelcke: Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs von den Römern bis heute. Stuttgart 1987; ders.: Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800–1989. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart/Berlin/Köln 1989; ders.: „Glück für das Land“. Die Erfolgsgeschichte der Wirtschaftsförderung von Steinbeis bis heute. Stuttgart 1992; Klaus Megerle: Württemberg im Industrialisierungsprozess Deutschlands. Ein Beitrag zur regionalen Differenzierung der Industrialisierung. Stuttgart 1982; Rolf Walter: Die Kommerzialisierung von Landwirtschaft in Württemberg (1750–1850). St. Katharinen 1990; Peter Borscheid: Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung. Soziale Lage und Mobilität in Württemberg (19. Jahrhundert). Stuttgart 1978; Reiner Flik: Die Textilindustrie in Calw und Heidenheim 1750–1870. Eine regional vergleichende Untersuchung zur Geschichte der Frühindustrialisierung und der Industriepolitik in Württemberg. Stuttgart 1990. Claus Grimm/Rainer A. Müller/Konrad von Zwehl (Hg.): Aufbruch ins Industriezeitalter. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Bayerns von 1750–1850. München 1985; Hans Mauersberg: Bayerische Entwicklungspolitik 1818–1923. Die etatmäßigen bayerischen Industrie- und Kulturfonds. München 1987; Dirk Schumann: Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat 1834–1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen. Göttingen 1992; Wolfgang Zorn: Handels- und Industriegeschichte BayerischSchwabens 1648–1870. Augsburg 1961. Martin Rheinheimer: Bibliographie zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Neumünster 1997 (mit umfangreichen Angaben zur gewerblichen Wirtschaft in Teil Wi 7); Jürgen Brockstedt (Hg.): Frühindustrialisierung in Schleswig-Holstein, anderen norddeutschen Ländern und Dänemark. Neumünster 1983; Ulrike Albrecht: Das Gewerbe Flensburgs von 1770 bis 1870. Eine wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung auf der Grundlage von Fabrikberichten. Neumünster 1993; Ingwer E. Momsen (Hg.): Schleswig-Holsteins Weg in die Moderne. Zehn Jahre Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Neumünster 1988. Zu Ostpreußen: Friedrich Richter: Beiträge zur Industrie- und Handwerksgeschichte Ostpreußens 1919–1939. Stuttgart 1988; ders.: Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen. Bericht und Dokumentation. Stuttgart 1984. Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hg.): Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter. Beiträge zur Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 4 Bände. Wuppertal 1983–1985; FriedrichWilhelm Henning: Düsseldorf und seine Wirtschaft. Zur Geschichte einer Region. 2 Bände. Düsseldorf 1981; Friedrich Zunkel: Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834–1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert. Köln 1962; Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814–1857. Göttingen 1992; Gerhard Adelmann: Strukturwandlungen der rheinischen Leinen- und Baumwollgewerbe zu Beginn der Industrialisierung, in: VSWG 53 (1966), S. 162– 184; Max Barkhausen: Aus Territorial- und Wirtschaftsgeschichte. Krefeld 1963; Wolfram Fischer: Herz des Reviers. 125 Jahre Wirtschaftsgeschichte des Industrie- und Handelskammer-

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Eine Karte der deutschen Industrialisierungsforschung fällt also sehr differenziert aus;99 weiße oder nahezu weiße Flecken sind nicht selten. Sie füllen sich zum Teil, wenn Lokalstudien herangezogen werden. Hingewiesen sei aber auf einen inhaltlich wie methodisch aufschlussreichen Ansatz, die Arbeiten zur „Industriekultur“. Über den Begriff lässt sich streiten. Die vorliegenden Fallstudien100 bieten aber nicht zuletzt wegen der Kombination von Text und Abbildungen eine eindrucksvolle Gesamtschau des Industrialisierungsprozesses und seiner ökonomischen wie sozialen Folgen in diesen Räumen. c. Ein ähnlich vielgestaltiges, hochdifferenziertes Bild zeigt ein Blick auf die Geschichte einzelner Gewerbezweige. Fallstudien über dieses Thema begleiteten den Industrialisierungsprozess nahezu von Anfang an. Sie enthalten überaus reiches Material, das bei den älteren Arbeiten inzwischen Quellencharakter angenommen hat; dies ist vor dem Hintergrund wichtig, dass viele Primärquellen inzwischen verloren gegangen sind. Doch auch die neuere Forschung hat sich dieses Gegen-

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bezirks Essen, Mülheim, Oberhausen. Essen 1965; Hermann Ringel: Bergische Wirtschaft zwischen 1790 und 1860. Probleme der Anpassung und Eingliederung einer frühindustriellen Landschaft. Neustadt/Aisch 1966; Alphons Thun: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter. 2 Bände. Leipzig 1879; Klara van Eyll (Hg.): Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835–1871). Köln 1984. Düwell/Köllmann (Hg.), Rheinland-Westfalen (wie Anm. 96); Toni Pierenkemper: Die westfälischen Schwerindustriellen 1852–1913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg. Göttingen 1979; Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.): Westfalens Wirtschaft am Beginn des „Maschinenzeitalters“. Dortmund 1988; Clemens Wischermann: Preußischer Staat und westfälische Unternehmer zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus. Köln/Weimar/Wien 1992; Wolfgang Köllmann/Wilfried Reininghaus/Karl Teppe (Hg.): Bürgerlichkeit zwischen gewerblicher und industrieller Wirtschaft. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums anlässlich des 200. Geburtstages von Friedrich Harkort vom 25. bis 27. Februar 1993. Düsseldorf 1994; Ludwig Beutin: Geschichte der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen und ihrer Wirtschaftslandschaft. Hagen 1956. Peter Steinbach: Industrialisierung und Sozialsystem im Fürstentum Lippe. Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Sozialverhalten in einer verspätet industrialisierten Region im 19. Jahrhundert. Berlin 1979. Eine umfassende Grundlage dafür bietet der als Beiheft 78 der VSWG von Hans Pohl hg. Sammelband: Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Stuttgart 1986 (mit Karten). In Auswahl: Jochen Boberg/Tilman Fichter/Eckhart Gillen (Hg.): Exerzierfeld der Moderne. Industriekultur in Berlin im 19. Jahrhundert. München 1984; dies. (Hg.): Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert. München 1986; Detlef Stender (Hg.): Industriekultur am Bodensee. Ein Führer zu Bauten des 19. und 20. Jahrhunderts. Konstanz 1992; Volker Plagemann (Hg.): Industriekultur in Hamburg. Des Deutschen Reiches Tor zur Welt. München 1984; Hermann Glaser/Wolfgang Ruppert/Norbert Neudecker (Hg.): Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter. 2. Aufl., München 1983; Richard van Dülmen (Hg.): Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeit in einer Industrieregion 1840–1914. München 1989. Zur „Industriekultur“ rechnen auch die Gewerbeausstellungen, die im 19. Jahrhundert einen deutlichen Aufschwung nahmen. Dazu Utz Haltern: Die „Welt als Schaustellung“. Zur Funktion und Bedeutung der internationalen Industrieausstellung im 19. und 20. Jahrhundert, in: VSWG 60 (1973), S. 1–40 und Uwe Beckmann: Gewerbeausstellungen in Westeuropa vor 1851. Ausstellungswesen in Frankreich, Belgien und Deutschland, Gemeinsamkeiten und Rezeption der Veranstaltungen. Frankfurt a. M. 1991.

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standes intensiv angenommen. Ein weiteres Mal ist es nicht möglich, eine auch nur annähernd vollständige Übersicht zu geben; Beispiele unter Beschränkung auf die größten Branchen müssen hier genügen. Bergbau und Hüttenwesen101 erlebten mit der Industrialisierung einen beispiellosen Aufstieg, denn die Gewinnung von Steinkohle und die Herstellung von Eisen und Stahl gehörten zum Kernprozess der industriellen Revolution102 und bildeten eine ihrer wesentlichen Grundlagen. So entstanden in Deutschland die drei montan- und schwerindustriell bestimmten großen Industriereviere an Niederrhein und Ruhr, in Oberschlesien und an der Saar, und entsprechend finden sich in der oben genannten Regionalforschung103 über diese Reviere auch viele Angaben zu diesen Wirtschaftszweigen. Das Ruhrrevier als wichtigstes stand dabei im Vordergrund der Forschung, die sich mit dem Saargebiet, besonders aber mit Oberschlesien im Vergleich weniger intensiv beschäftigte. Für kleinere Reviere, etwa das Lahn-Dill-Gebiet, Eifel und Hunsrück, die Oberpfalz oder das Zwickau-Oelsnitzer Steinkohlenrevier, bleibt fast nur der Rückgriff auf die regionale oder lokale Forschung, die ungeachtet ihrer Verdienste den Wirtschafts- und Sozialhistoriker nicht immer zufriedenstellt. Gut untersuchte Sonderfälle bilden die Ilseder Hütte bei Peine104 und das Salzgittergebiet, in dem nach älteren Vorläufern ab den 1930er Jahren neben Eisenerzbergbau im Tief- und im Tagebau im großen Stil eine gigantisch konzipierte Hütte entstand.105 Günstiger ist die Lage für die übrigen Zweige des vielgestaltigen Berg- und Hüttenwesens. Den Eisen- und Metallerzbergbau in den westlichen Bundesländern hat Rainer Slotta in je einem umfangreichen Werk regional gegliedert umfassend und detailreich dargestellt.106 Neben dessen Geschichte tritt dabei eine Aufnahme 101 Eine neuere Gesamtdarstellung fehlt. Wichtige Arbeiten finden sich in der von Klaus Tenfelde hg. Reihe Bergbau und Bergarbeit; daraus als Beispiele: Gerald D. Feldman/Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter, Unternehmer und Staat im Bergbau. Industrielle Beziehungen im internationalen Vergleich. München 1989 und Klaus Tenfelde (Hg.): Sozialgeschichte des Bergbaus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1992. Für einzelne Reviere liegen zahlreiche Monographien vor: vgl. die Anm. 88, 89, 90. Ein wichtiges Spezialproblem wird behandelt in Toni Pierenkemper (Hg.): Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2002. Für die Weimarer Republik: Bernd Weisbrod: Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise. Wuppertal 1978. 102 Das Thema wird in allen Darstellungen der Industrialisierung zum Teil ausführlich behandelt. Für den Steinkohlenbergbau grundlegend: Carl Ludwig Holtfrerich: Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrbergbaus im 19. Jahrhundert. Eine Führungssektorenanalyse. Dortmund 1973. 103 Vgl. vor allem die in den Anm. 88, 89, 90 zitierte Literatur. 104 Wilhelm Treue: Die Geschichte der Ilseder Hütte. Peine 1960. 105 Wolfgang Benz (Hg.): Salzgitter: Geschichte und Gegenwart einer deutschen Stadt 1942–1992. München 1992; Mathias Riedel: Eisen und Kohle für das Dritte Reich. Paul Pleigers Stellung in der NS-Wirtschaft. Göttingen 1973; Bergbau in Salzgitter. Die Geschichte des Bergbaus und das Leben der Bergleute von den Anfängen bis in die Gegenwart. Salzgitter 1997. 106 Rainer Slotta: Technische Denkmäler in der Bundesrepublik Deutschland 5: Der Eisenerzbergbau, Teil I. Bochum 1986, Teil III: Die Hochofenwerke. Bochum 1988; ders.: Technische Denkmäler in der Bundesrepublik Deutschland 4: Der Metallerzbergbau, Teil I und II. Bochum 1983. – Auswahl weiterer Literatur: Wolfram Fischer (Hg.): Die Statistik der Stahlproduktion im deutschen Zollgebiet 1850–1911 (alte Erfassungssystematik). St. Katharinen 1989; ders.: Statistik der Montanproduktion Deutschlands 1915–1985. St. Katharinen 1995; Jochen Krengel: Die

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des Baubestandes der Werke, von denen trotz schwerer Verluste erstaunlich viel erhalten ist, bedenkt man, dass beide Bereiche in den letzten Jahrzehnten vollständig aufgegeben wurden. Neben diesen großen Arbeiten ließen sich zahlreiche Fallstudien zu einzelnen Revieren oder Werken nennen, die neben dem Bergbau oft den Hüttenbetrieb und gelegentlich auch die Weiterverarbeitung mit einbeziehen. Schwerpunkte bildeten dabei entsprechend ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Braunkohlenbergbau107 (dessen neuere Entwicklungen, besonders in den mitteldeutschen Revieren, allerdings noch zum Teil unbekannt sind) und die Gewinnung und Verarbeitung von Salzen. Hier fand vor allem die Kaliproduktion besondere Aufmerksamkeit,108 besaß Deutschland doch bis zum Ersten Weltkrieg dabei das Weltmonopol und war ihre Entwicklung auch wegen der Monopolisierungstendenzen und des zeitweise scharfen Wettbewerbs wirtschaftspolitisch hochinteressant. Auch hier fehlen zusammenfassende Überblicke, doch enthalten die zahlreichen vorliegenden Fallstudien eine Fülle von Angaben. In der Metallverarbeitung spielte von Anfang an der Maschinen- und Fahrzeugbau eine bedeutende Rolle. Neben zusammenfassende Studien109 traten auch hier deutsche Roheisenindustrie 1871–1913. Eine quantitativ-historische Untersuchung. Berlin 1983; Rainer Fremdling: Britische Exporte und die Modernisierung der deutschen Eisenindustrie während der Frühindustrialisierung, in: VSWG 68 (1981), S. 305–324; ders.: Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland. Berlin 1986; Ulrich Wengenroth: Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und die britische Stahlindustrie 1865–95. Göttingen 1986; Susanne Hilger: Sozialpolitik und Organisation. Formen betrieblicher Sozialpolitik in der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933. Stuttgart 1996; Gottfried Plumpe: Die Württembergische Eisenindustrie im 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Geschichte der Industriellen Revolution in Deutschland. Wiesbaden 1982; Yorck Dietrich: Die Mannesmannröhren-Werke 1888 bis 1920. Organisation und Unternehmensführung unter der Gründerfamilie, Bankiers und Managern. Stuttgart 1991. 107 Eine neuere Gesamtdarstellung fehlt, und man muss daher auf die Monographien einzelner Reviere zurückgreifen, z. B. Arno Kleinebeckel: Unternehmen Braunkohle. Geschichte eines Rohstoffs, eines Reviers, einer Industrie im Rheinland. Köln 1986; Werner Vogt/Andrea Dreifke-Pieper: Die Braunschweigische Kohlen-Bergwerke AG. Industriegeschichte des Helmstedter Reviers. München 1999. 108 Rainer Slotta: Technische Denkmäler in der Bundesrepublik Deutschland 3: Die Kali- und Steinsalzindustrie. Bochum 1980; Karl von Delhaes-Guenther: Kali in Deutschland. Vorindustrien, Produktionstechniken und Marktprozesse der Deutschen Kaliwirtschaft im 19. Jahrhundert. Köln/Wien 1974; Fritz Blaich: Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914. Düsseldorf 1973; Tim Mette: Kali-Industrie, Kali-Staat und Kali-Junker. Recht und Wirtschaft am Beispiel des Reichskaligesetzes vom 25. Mai 1910. St. Katharinen 1997. 109 Schröter/Becker, Maschinenbauindustrie (wie Anm. 62); Conrad Matschoss: Ein Jahrhundert deutscher Maschinenbau. Von der mechanischen Werkstätte bis zur Deutschen Maschinenfabrik 1819–1919. Berlin 1919; Fritz Blaich: Amerikanische Firmen in Deutschland 1890–1918. US-Direktinvestitionen im deutschen Maschinenbau. Stuttgart 1984; Dieter Lindenlaub: Maschinenbauunternehmen in der deutschen Inflation 1919–1923. Unternehmenshistorische Untersuchungen zu einigen Inflationstheorien. Berlin/New York 1985; Wilfried Feldenkirchen: Zu Kapitalbeschaffung und Kapitalverwertung bei Aktiengesellschaften des deutschen Maschinenbaus im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: VSWG 69 (1982), S. 38–74; Horst Wa-

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Monographien, die sich besonders dem Bau des rollenden Materials der Eisenbahnen und hier vorzüglich dem Lokomotivbau widmeten.110 Als ab den 1920er Jahren die Führung im Wachstum von den Eisenbahnen allmählich auf die Kraftfahrzeuge überging, wurde Deutschland bekanntlich zum Standort eines ausgedehnten Automobilbaus, der trotz zahlreicher aufschlussreicher Studien keineswegs befriedigend erforscht ist. Das gilt vor allem für die meist handwerklich oder kleinindustriell geprägten Anfänge, doch bleibt auch für die Konzentrationsbewegung und die Entwicklung der Großbetriebe ab den 1930er Jahren noch manches offen.111 Immerhin sind zum Beispiel, wohl weil in die Zeit des Nationalsozialismus fallend, die Anfänge der Volkswagen-Produktion gründlich behandelt worden.112 Beim Aufstieg Deutschlands zu einem der führenden Industriestaaten der Welt standen bekanntlich die chemische und die pharmazeutische sowie die elektrotechnische Industrie mit an der Spitze des Wachstums, und im 20. Jahrhundert stellten sie einen bedeutenden Teil der industriellen Erzeugung. Der Forschungsstand wird dem erst zu einem Teil gerecht, insbesondere fehlen zusammenfassende Darstellungen, die über eine Region hinausreichen.113 Großfirmen standen im Vordergrund,

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genblass: Der Eisenbahnbau und das Wachstum der deutschen Eisen- und Maschinenbauindustrie 1835 bis 1860. Ein Beitrag zur Geschichte der Industrialisierung Deutschlands. Stuttgart 1973; Eva Susanne Franke: Netzwerke, Innovationen und Wirtschaftssystem. Eine Untersuchung am Beispiel des Druckmaschinenbaus im geteilten Deutschland (1945–1990). Stuttgart 2000; Götz Albert: Vom Blauen Band zur Grundberührung: Die deutsche Schiffbauindustrie von 1850 bis 1990, in: VSWG 83 (1996), S. 155–179. Eine zusammenfassende Darstellung liegt nicht vor, doch wurden nahezu allen größeren Unternehmen Monographien gewidmet, z. B. Dieter Vorsteher: Borsig. Eisengießerei und Maschinenbauanstalt zu Berlin. Berlin 1983 und (zu Egestorff und Hanomag in Linden bei Hannover): Walther Däbritz/Erich Metzeltin: 100 Jahre Hanomag. Geschichte der Hannoverschen Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft vormals Georg Egestorff in Hannover 1835–1934. Düsseldorf 1935 und neuerdings Sabine Meschkat-Peters: Eisenbahnen und Eisenbahnindustrie in Hannover 1835–1914. Hannover 2001 (besonders S. 451–477). Grundlegend Hans Christoph Graf von Seherr-Thoss: Die deutsche Automobilindustrie. Eine Dokumentation von 1886 bis 1979. 2. Aufl., Stuttgart 1979; Hans Pohl/Stephanie Habeth/Beate Brüninghaus: Die Daimler Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Dokumentation. 2. Aufl., Stuttgart 1987; Barbara Hopmann/Mark Spoerer/Birgit Weitz/Beate Brüninghaus: Zwangsarbeit bei Daimler Benz. Stuttgart 1994; Stuttgarter Tage zur Automobil- und Unternehmensgeschichte. 3 Bände. Stuttgart 1991 ff.; Birgit Buschmann: Unternehmenspolitik in der Kriegswirtschaft und in der Inflation. Die Daimler-Motoren-Gesellschaft 1914–1923 (VSWG, Beiheft 144). Stuttgart 1998; Hansjoachim Henning: Kraftfahrzeugindustrie und Autobahnbau in der Wirtschaftspolitik des Nationalsozialismus 1933 bis 1936, in: VSWG 65 (1978), S. 217–242; Rudolf Boch (Hg.): Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Tagung im Rahmen der „Chemnitzer Begegnungen“ 2000. Stuttgart 2001. Hans Mommsen/Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996; Erhard Forndran: Die Stadt- und Industriegründungen Wolfsburg und Salzgitter. Entscheidungsprozesse im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Frankfurt a. M./ New York 1984; Ulfert Herlyn/Wulf Tessin: Faszination Wolfsburg 1938–2000. Opladen 2000. Walter Wetzel: Naturwissenschaften und chemische Industrie in Deutschland. Voraussetzungen und Mechanismen ihres Aufstiegs im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1991; Friedrich Stratmann: Chemische Industrie unter Zwang? Staatliche Einflussnahme am Beispiel der chemischen Industrie Deutschlands 1933–1949. Stuttgart 1985; Arne Andersen: Historische Technikfolgen-

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schon wegen ihrer zumeist besseren Überlieferung.114 Besondere Aufmerksamkeit fanden der Konzern der IG Farben und dessen Nachfolgeunternehmen, ferner die Firma Siemens.115 Das Interesse der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung an der Konsumgüterindustrie blieb hinter dem an der Investitionsgüterproduktion deutlich zurück.116 Einmal fehlte es hier weithin an vergleichbar auffälligen Entwicklungen (einschließlich deren Wechselwirkungen mit dem politischen Raum), zum anderen beherrschten zahlreiche differenzierte Branchen und viele kleine Betriebe mit oft fehlender oder schlechter Überlieferung das Feld. So sind die Forschungslücken erheblich, und nicht selten muss der Historiker auf die besonders für die Zeit von um 1880 bis um 1930 zahlreich vorliegenden zeitgenössischen Untersuchungen zuabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie 1850–1933. Stuttgart 1996; Hans Pohl/Ralf Schaumann/Frauke Schönert-Röhlk: Die chemische Industrie in den Rheinlanden während der industriellen Revolution, I: Die Farbenindustrie. Stuttgart 1983; Ralf Henneking: Chemische Industrie und Umwelt. Konflikte um Umweltbelastungen durch die chemische Industrie am Beispiel der schwerchemischen Farben- und Düngemittelindustrie der Rheinprovinz (ca. 1800–1914). Stuttgart 1994. Zur Elektroindustrie: Klaus Schulz-Hanssen: Die Stellung der Elektroindustrie im Industrialisierungsprozess. Berlin 1970; Gerhart JacobWendler: Deutsche Elektroindustrie in Lateinamerika. Siemens und AEG (1890–1914). Stuttgart 1982; Sigfrid von Weiher/Herbert Goetzeler: Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847–1980. Ein Beitrag zur Geschichte der Elektroindustrie. 3. Aufl., Stuttgart 1981; Wilfried Feldenkirchen: Werner von Siemens. Erfinder und internationaler Unternehmer. München 1996; ders.: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen. München/Zürich 1997; Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914. Stuttgart 1969; Christoph Conrad: Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Siemens (1847–1945). Stuttgart 1986; Tilman Buddensieg: Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914. 2. Aufl., Berlin 1981; Horst A. Wessel: Die Entwicklung des elektrischen Nachrichtenwesens in Deutschland und die rheinische Industrie. Wiesbaden 1983. 114 Hinzuweisen ist z. B. auf die Schriftenreihe des Unternehmensarchivs der Hoechst AG. Vgl. auch die Anm. 113 und 115. 115 Gottfried Plumpe: Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945. Berlin 1990. Zu Siemens vgl. Anm. 113. 116 Die wichtigsten Ausnahmen sind die Textil- und die Nahrungsmittelindustrie: Horst Blumberg: Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution. Berlin 1965; Reiner Flik: Die Textilindustrie in Calw und Heidenheim 1750–1870. Eine regional vergleichende Untersuchung zur Geschichte der Frühindustrialisierung und der Industriepolitik in Württemberg. Stuttgart 1990; Gerhard Kirchhain: Das Wachstum der deutschen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert. Eine historische Modellstudie zur empirischen Wachstumsforschung. New York 1975; Karlheinz Wiegmann: Textilindustrie und Staat in Westfalen 1914–1933 (VSWG, Beiheft 107). Stuttgart 1993. Zur Nahrungsmittelindustrie: Karl-Peter Ellerbrock: Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 1750–1914. Stuttgart 1993; Astrid Petersson: Zuckersiedergewerbe und Zuckerhandel in Hamburg im Zeitraum von 1814 bis 1834. Entwicklung und Struktur zweier wichtiger Hamburger Wirtschaftszweige des vorindustriellen Zeitalters (VSWG, Beiheft 140). Stuttgart 1998; Hans-Jürgen Teuteberg: Die Rolle des Fleischextrakts für die Ernährungswissenschaften und den Aufstieg der Suppenindustrie. Kleine Geschichte der Fleischbrühe. Stuttgart 1990; Uwe Wallbaum: Die Rübenzuckerindustrie in Hannover. Zur Entstehung und Entwicklung eines landwirtschaftlich gebundenen Industriezweigs von den Anfängen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Stuttgart 1998.

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rückgreifen, wenn er zu empirisch gehaltvollen Aussagen kommen will. Wegen der Einzelheiten wird noch einmal auf den Beitrag über die Unternehmensgeschichte verwiesen. 5. Neben der Industrie, die den Schwerpunkt der gewerbegeschichtlichen Forschung bildete, beschäftigte auch die Frage nach der Entwicklung der älteren (vorindustriellen) Betriebsformen des Gewerbes die Forschung. Im Mittelpunkt stand dabei das Handwerk117 – verständlich, denn wenn es auch seine Stellung als größter Gewerbezweig an die Industrie verlor, blieb es gesamtwirtschaftlich doch bedeutend. Zwei Merkmale machten es darüber hinaus immer wieder für die Forschung interessant: Einmal der Wandel in seiner Branchenstruktur, der sich anhaltend vollzog. Aus wichtigen Produktionsbereichen, etwa in der Herstellung von Bekleidung, verdrängten es die Fabriken; dafür eroberte es sich neue vor allem bei den Dienstleistungen wie Wartung und Reparatur. Zum anderen wurde es als wichtiger Bestandteil des „Mittelstandes“ Gegenstand grundlegender wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Diskussionen,118 die bis heute anhalten. Es überrascht daher nicht, dass auch hier die Forschungsbeiträge teils aus der Nationalökonomie (und seit den 1930er Jahren auch aus der Betriebswirtschaftslehre), teils aus der historischen Arbeit stammen. Die Manufakturen verschwanden bis auf Reste bei speziellen Produktionen, zum Beispiel Porzellan, bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verlag und Heimgewerbe verloren stark an Bedeutung, hielten sich aber in einigen Regionen und für bestimmte Erzeugnisse bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (s. u.). Fasst man zusammen, entstand eine umfangreiche, stark differenzierte und daher schwer zu überschauende Literatur. Vielleicht ist das die Ursache für das weitgehende Fehlen zusammenfassender Darstellungen zur neueren Gewerbegeschichte. Im Einzelnen lassen sich für das 19. Jahrhundert zwei Schwerpunkte der Diskussionen erkennen, an die auch die neuere Forschung anknüpfte. Der erste betraf die Einführung der Gewerbefreiheit und deren Folgen,119 ein langwieriger Prozess, der 117 Friedrich Lenger: Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800. Frankfurt a. M. 1988; Paul Hugger (Hg.): Handwerk zwischen Idealbild und Wirklichkeit. Bern 1991; Helmut Sedatis: Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland. Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen des Liberalismus und die Krise des Handwerks im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1979. Zur Handwerksgeschichte und -politik auch im 19. und 20. Jahrhundert sind die Arbeiten von Wilhelm Wernet zu nennen: Handwerkspolitik. Göttingen 1952; ders.: Zur Frage der Abgrenzung von Handwerk und Industrie. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge in ihrer Bedeutung für die Beurteilung von Abgrenzungsfragen. Münster/W. 1965; ders.: Handwerk im Widerstreit der Lehrmeinungen. Das neuzeitliche Handwerksproblem in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Münster/W. 1960. 118 Der Begriff des Mittelstandes greift weit über das Handwerk hinaus. Die Masse der Untersuchungen zum Thema ist daher nicht auf das Handwerk bezogen und aktuellen Fragen, nicht historischen Problemen gewidmet. Vgl. z. B. Hans Pohl (Hg.): Mittelstand und Arbeitsmarkt. Löst der Mittelstand die Beschäftigungsprobleme der deutschen Wirtschaft? Stuttgart 1987. 119 Das Thema wird in der gesamten wirtschafts-, gewerbe- und handwerksgeschichtlichen Literatur zum Teil ausführlich behandelt. Einführender Überblick: Karl Heinrich Kaufhold: Gewerbefreiheit und gewerbliche Entwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: BDLG 118 (1982), S. 73–114. Zum Strukturwandel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Karl Abra-

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mit ihrer Etablierung in den linksrheinischen, an Frankreich gefallenen Gebieten Ende des 18. Jahrhunderts begann und mit ihrer Aufnahme als Regelfall in die schließlich reichsweit geltende Gewerbeordnung 1869/71 vorläufig endete. Einen Höhepunkt bildete dabei ihre Verkündung in Preußen im Rahmen der sog. SteinHardenbergschen-Reformen 1810/11.120 Nahezu alle bedeutenden Volkswirte beschäftigten sich in dieser Zeit mit dem Thema – eine für den Forscher ergiebige Lektüre. Aus ihrer Zahl sei lediglich Johann Gottfried Hoffmann genannt,121 der theoretische Überlegungen mit den praktischen Erfahrungen eines Verwaltungsbeamten verband. Den zweiten Schwerpunkt bildete die im Ganzen ungünstige ökonomische und soziale Lage des Handwerks und des Heimgewerbes im letzten Drittel des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der sich vor allem der Verein für Socialpolitik und seine Mitglieder, hauptsächlich also Vertreter der sog. jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, in einer fruchtbaren Verbindung von Geschichte mit aktuellen Problemen beschäftigten. Am Beginn stand die bis heute gültig gebliebene Arbeit von Gustav Schmoller über die deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert,122 der zahlreiche Arbeiten aus seiner Schule sowie von anderen Volkswirten wie zum Beispiel Lujo Brentano, Karl Bücher, Heinrich Herkner und Werner Sombart folgten. Ein Höhepunkt war die große Erhebung des Vereins über das Handwerk (veröffentlicht 1895/97).123 Bereits vor 1914 thematisierte auch die historische Forschung beide Schwerpunkte. Im Mittelpunkt standen dabei die Wirkungen der Gewerbefreiheit auf das Handwerk, meist – entsprechend dem liberalen Zeitgeist – mit einer bisweilen unkritischen Würdigung der durch sie angeblich ausgelösten Fortschritte im Gewerbe. Als Beispiel sei die umfangreiche Studie von Kurt Rohrscheidt „Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit“ (1898)124 genannt, die eine faktenreiche Darstellung mit einem Loblied auf die positiven Folgen der Gewerbe-

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ham: Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung. Köln 1955. Grundlegend: Barbara Vogel: Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810–1820). Göttingen 1983. Sammelband über die Gewerbefreiheit hinausreichend: Bernd Sösemann (Hg.): Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen. Berlin 1993. Fallstudie: Ilja Mieck: Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus. Berlin 1965. Johann Gottfried Hoffmann: Das Interesse des Menschen und Bürgers bei den bestehenden Zunftverfassungen. Königsberg 1803. Gustav Schmoller: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen. Halle 1870. Vgl. auch Otto Thissen: Beiträge zur Geschichte des Handwerks in Preußen. Tübingen 1901. Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bände 62–70. Leipzig 1895/96; Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Österreich mit besonderer Rücksicht auf seine Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Großindustrie. Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 71. Leipzig 1896. Zusammenfassend: Wilhelm Stieda: Die Lebensfähigkeit des deutschen Handwerks. Rostock 1897. Kurt von Rohrscheidt: Vom Zunftzwange zur Gewerbefreiheit. Eine Studie nach den Quellen. Berlin 1898.

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freiheit verband, ohne die es nicht nur seiner Meinung nach die Industrialisierung unvergleichlich schwerer gehabt hätte, sich durchzusetzen. Die neuere gewerbegeschichtliche Forschung setzte hier ebenfalls an; sie beschäftigte sich am intensivsten mit der Gewerbefreiheit und hier mit den Auseinandersetzungen um diese in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie mit den Bemühungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 um diese Frage. Eine Gesamtdarstellung fehlt. Bei den vorliegenden Studien über Teilbereiche wurden in der Regel mehrere Themen miteinander verbunden, etwa in der großen Untersuchung von Reinhart Koselleck über „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (1967),125 in der die Gewerbefreiheit als ein wichtiges Element der inneren Entwicklung Preußens in dieser Zeit erscheint. Barbara Vogel zog in ihrer Arbeit „Allgemeine Gewerbefreiheit“126 den Kreis des Themas enger, bezog aber entsprechend dem zeitgenössischen Sprachgebrauch die Landwirtschaft ein. Der Kampf um die Gewerbefreiheit kulminierte bekanntlich 1848/49 in der „Handwerkerbewegung“, die mehrfach untersucht wurde,127 ohne dass die Forschung bereits alle ihre Aspekte befriedigend ausgeleuchtet hätte. Der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte beschäftigte sich auf Anregung und unter Leitung von Werner Conze Anfang der 1980er Jahre mit der Sozialgeschichte der Mittel- und Unterschichten im 19. Jahrhundert und dabei auch mit dem Handwerk.128 Gegenüber dem Vormärz weniger beachtet wurden die Jahrzehnte von um 1850 bis um 1870, obwohl sich in ihnen nicht nur die liberale Gewerbegesetzgebung mit der Gewerbefreiheit allgemein durchsetzte, sondern auch im wirtschaftlichen Bereich wichtige Veränderungen zu verzeichnen waren. Hier liegt noch ein weites Feld vor der Forschung. Die Zeit des Kaiserreichs ist besser untersucht,129 ohne dass der Forschungsstand schon voll befriedigte. Eine Gesamtdarstellung gibt es nicht, zumal trotz einer 125 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Reform und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 1967. 126 Vgl. Anm. 120. 127 Die erste größere Darstellung: Hans Meusch (Hg.): Die Handwerkerbewegung von 1848/49. Vorgeschichte – Verlauf – Inhalt – Ergebnisse. Alfeld 1949, die umfassendste Manfred Simon: Handwerk in Krise und Umbruch. Wirtschaftliche Forderungen und Sozialpolitische Vorstellungen der Handwerksmeister im Revolutionsjahr 1848/49. Köln/Wien 1983. 128 Ulrich Engelhardt (Hg.): Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Stuttgart 1984. Im Zusammenhang damit Fallstudien: Friedrich Lenger: Zwischen Kleinbürgertum und Proletariat. Studien zur Sozialgeschichte der Düsseldorfer Handwerker 1816–1878. Göttingen 1986; Gerard Schwarz: „Nahrungsstand“ und „erzwungener Gesellenstand“. Mentalité und Strukturwandel des bayerischen Handwerks im Industrialisierungsprozess um 1860. Berlin 1974. 129 Shulamit Angel-Volkov: The „Decline of the German Handicrafts“ – Another reappraisal, in: VSWG 61 (1975), S. 165–184; Wolfram Fischer: Die Rolle des Kleingewerbes im wirtschaftlichen Wachstumsprozess in Deutschland 1850–1914, in: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972, S. 338–348; Karl Heinrich Kaufhold: Das Handwerk zwischen Anpassung und Verdrängung, in: Hans Pohl (Hg.): Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870–1914). Paderborn 1979, S. 103–141; Luitgard Nipp: Landwirtschaftlicher Nebenerwerb – Hemmfaktor der Gewerbeentwicklung. Kapitalstruktur des ländlichen Kleingewerbes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in

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Reihe von kleineren Beiträgen manche Fragen besonders in der Sozialgeschichte noch offen sind. Die Quellenlage ist im Ganzen befriedigend, zumal ab 1882 die Reichsstatistik mit umfassendem Zahlenmaterial und daneben die Statistik der Bundesstaaten zur Verfügung stehen. Als Forschungsaufgabe hervorzuheben sind die Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche und politische Position des Handwerks und seiner Organisationen als „Mittelstand“ zwischen dem großen Kapital und dem Proletariat und die eng damit verbundene Handwerksschutzpolitik des Reiches.130 Die Problemlagen für das Handwerk blieben nach dem Ersten Weltkrieg im Grundsatz gleich, sie erhielten aber durch die Inflation, die Weltwirtschaftskrise und die beengte Lage der Gesamtwirtschaft zusätzliche negative Akzente. Verglichen mit der umfangreichen zeitgenössischen Literatur zu diesen Fragen ist der Ertrag der wirtschaftshistorischen Forschung bisher eher bescheiden. Dies ist angesichts des Interesses erstaunlich, das diese Zeit ansonsten gefunden hat. Die Rolle, die das Handwerk (und andere Bestandteile des „Mittelstandes“) beim Aufstieg des Nationalsozialismus in der Schlussphase der 1. Republik gespielt haben sollen, wurde mehrfach thematisiert,131 doch sind die bisherigen Ergebnisse vor dem Hintergrund der neueren Wahlforschung zumindest diskussionsbedürftig.132 Eine neuere, regional begrenzte Studie kommt auf der Grundlage umfassend ausgewerteter Quellen zu tiefen Einblicken in die inneren Verhältnisse des „zerstrittenen Berufsstandes“ zwischen 1929 und 1953.133 Für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft scheint die Grundlinie der Entwicklung klar zu sein:134 Mit der Reichshandwerksordnung von 1935 wurden dem Handwerk seine jahrzehntealten gewerbepolitischen Forderungen erfüllt, doch seine wirtschaftliche Lage verbesserte sich nicht entscheidend, denn die Staatsmit-

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Südbayern, in: VSWG 67 (1980), S. 153–176; dies.: Kapitalausstattung im ländlichen Kleingewerbe in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. New York 1981; Adolf Noll: Sozio-ökonomischer Strukturwandel des Handwerks in der zweiten Phase der Industrialisierung unter besonderer Berücksichtigung der Regierungsbezirke Arnsberg und Münster. Göttingen 1975; Shulamit Volkov: The Rise of Popular Antimodernism in Germany. The Urban Master Artisans, 1873–1896. Princeton 1978; Ulrich Wengenroth (Hg.): Prekäre Selbständigkeit. Zur Standortbestimmung von Handwerk, Hausindustrie und Kleingewerbe im Industrialisierungsprozess. Stuttgart 1989. Vgl. Anm. 129. Die Forschung weist hier erhebliche Lücken auf, obwohl diese Fragen über das Handwerk hinaus für die Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik des Kaiserreiches wichtig sind. Die vom Zentralverband des Deutschen Handwerks aus Anlass der Handwerkskammerjubiläen 2000 hg. Dokumentation von Herbert Blume: Ein Handwerk – eine Stimme. 100 Jahre Handwerkspolitik … Eine historische Bilanz handwerklicher Selbstverwaltung. Berlin 2000 konzentriert sich auf die Zeit nach 1945 und geht auf das Kaiserreich nur kurz ein. Am profiliertesten bei Heinrich August Winkler: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik. Köln 1972. Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler. München 1991. Bernd Holtwick: Der zerstrittene Berufsstand. Handwerker und ihre Organisationen in Ostwestfalen-Lippe (1929–1953). Paderborn 2000. Adelheid von Saldern: Mittelstand im „Dritten Reich“. Handwerker – Einzelhändler – Bauern. Frankfurt a. M./New York 1979. Vgl. auch Anm. 133.

Gewerbe, Bergbau und Industrie in der Neuzeit

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tel kamen zunehmend der Aufrüstung und damit der Industrie zugute. Im Einzelnen ist hier allerdings noch viel Forschungsarbeit zu leisten, um zu prüfen, ob dieses Bild nicht zu holzschnittartig ausfällt. Nach 1945 entwickelte sich das Handwerk in den beiden deutschen Staaten bekanntlich unterschiedlich – ein weites Feld für (auch) vergleichende Forschung. Obwohl allein die aktuelle Literatur dafür ein reiches Material zur Verfügung stellt, ist hier von historischer Seite bisher erst wenig getan worden. Bei Verlag und Heimgewerbe konzentrierte sich die – ohnehin nicht umfangreiche und meist zeitgenössische – Forschung darüber auf die Zeit vor 1914. Die Heimarbeit wurde mit Recht vor allem als ein sozialpolitisches Problem und als Gegenstand des Arbeitsschutzes gesehen, und die Untersuchungen sollten für eine einschlägige Gesetzgebung und Verwaltungspraxis Material bereitstellen. An erster Stelle ist hier die umfangreiche Enquete des Vereins für Socialpolitik über die Heimarbeit zu nennen.135 Auch hier stehen der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung ein weiteres Mal zahlreiche empirische Daten zur Verfügung, die sie bisher erst wenig genutzt hat. 6. Dieser knappe, in manchen Punkten auch lückenhafte Bericht zeigt, welche zentrale Bedeutung das Thema der Industrialisierung und ihrer Folgen in der neueren Gewerbegeschichte hat und welche Fortschritte die Forschung bei seiner Bearbeitung machen konnte, doch auch welche Defizite noch bestehen. Für eine befriedigende Zusammenfassung dieser Periode ist es daher meiner Ansicht nach noch zu früh, solange zum Beispiel so grundlegende Fragen wie die Begriffe Industrialisierung oder Industrielle Revolution oder eine Definition der Region nicht ausdiskutiert worden sind. Weithin Einvernehmen besteht dagegen darüber, die Industrie habe sich allmählich in einer breiten Übergangsperiode aus den vorindustriellen Strukturen entwickelt, von einer „Revolution“ könne also allenfalls im Hinblick auf die weitreichende Umwälzung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse durch sie die Rede sein. Auch die Fruchtbarkeit der Untersuchung von Teilbereichen, besonders einzelner Regionen, also eine Auflösung nationaler Komplexe in regionale Aspekte des Themas, scheint weithin anerkannt zu sein. Damit kann die gewerbegeschichtliche Forschung auf inhaltlich wie methodisch beachtlichen Grundlagen weiterbauen.

135 Die Enquete ist dokumentiert in den Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bände 39–42, 48. Leipzig 1889–1891 und Bände 84–88. Leipzig 1899/1900 (darin: Wilhelm Stieda: Litteratur, heutige Zustände und Entstehung der deutschen Hausindustrie. Nach den vorliegenden gedruckten Quellen. Leipzig 1889). Aus der reichen zeitgenössischen Literatur eine knappe Auswahl: Robert Liefmann: Über Wesen und Form des Verlages der Hausindustrie. Freiburg/Br. 1899; Paul Arndt: Die Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet. 3 Bände. Jena 1909–1914; ders.: Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Heimarbeit. 2. Aufl., Jena 1932.

Rainer Gömmel HANDEL UND VERKEHR 1. Vorbemerkung Unstrittig ist die Definition von „Handel“, nämlich „die auf Warenumsatz, also auf die Vermittlung zwischen Erzeugung und Verbrauch von Gütern gerichtete Tätigkeit, die volkswirtschaftlich und weltwirtschaftlich umso größere Bedeutung erlangt, je weiter infolge Arbeitsteilung der Weg der Ware vom Ort der Herstellung bis zum Ort des Bedarfs geworden ist.“1 Diese vermittelnde Tätigkeit geschieht mit Hilfe des Verkehrs, der als „die Beförderung von Personen, Gütern und Nachrichten zu Wasser, zu Lande oder in der Luft“2 definiert ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass Handel und Verkehr die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind, was in dem relativ selten gebrauchten Begriff „Handelsverkehr“ zum Ausdruck kommt. Insofern ist es naheliegend, dass sich die Forschung frühzeitig für die wesentlichen Elemente dieses komplexen Gebildes interessierte: Handelsgüter, Verkehrsmittel, Handels- oder Transportwege und deren Richtungen und Distanzen, Handelsplätze, d. h. Märkte, auf denen Waren (mit Hilfe des Wertmaßstabes Geld) getauscht werden sowie Handelsräume, d. h. Regionen mit überdurchschnittlicher Handelstätigkeit. Diese sichtbaren, gewissermaßen „technischen“ Komponenten von Handel und Verkehr sind untrennbar mit ihrer Organisation verbunden. Im Handel äußert sie sich in verschiedenen Handelsstufen (Lokal-, Regional- und Fernhandel, Groß- und Einzelhandel) und Betriebsformen (Einzelunternehmen, Personen- und Kapitalgesellschaft). Entsprechendes gilt für den Verkehr hinsichtlich der Träger, die bestimmte Verkehrsmittel, d. h. Transportgeräte, einsetzen. Im Übrigen kennzeichnet das Zusammenwirken der technischen und organisatorischen Einrichtungen ein Verkehrssystem.3 Mit fortschreitender Entwicklung eines Wirtschaftsraumes, insbesondere einer Volkswirtschaft, rückt die Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung in den Vordergrund und damit auch die Bedeutung von Handel und Verkehr. Das gilt gleichermaßen für die einzel- wie gesamtwirtschaftliche Betrachtung, denn je weiter sich der Prozess der Arbeitsteilung entwickelt, umso mehr müssen Transportvorgänge zwischen Produktion und Konsum eingeschoben werden. Natürlich kann eine Geschichte des Handels und Verkehrs weitergefasst werden und insbesondere politische und kulturelle Aspekte stärker betonen. Solche Untersuchungen bleiben im Folgenden aber weitgehend unberücksichtigt.

1 2 3

Horst Claus Recktenwald: Wörterbuch der Wirtschaft. 9. Aufl., Stuttgart 1981, S. 229. Ebd., S. 594. Vgl. Fritz Voigt: Verkehr. Erster Band – Erste Hälfte. Die Theorie der Verkehrswirtschaft. Berlin 1973, S. 36.

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2. Forschungsbereiche bis zum Ersten Weltkrieg Die erste intensive Berücksichtigung erfährt der Handel bei praktisch allen Merkantilisten. Für sie stand er im Vordergrund der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die sie zur Förderung von Wachstum und Entwicklung der Wirtschaft vorschlugen. Eines ihrer Hauptaugenmerke galt der aktiven Handelsbilanz, um damit dem eigenen Land Geld, insbesondere Edelmetall, zuzuführen. Dies sollte mit Hilfe einer entsprechenden Handels- und Zollpolitik geschehen, die insgesamt auf eine Begünstigung des Exports von Fertigprodukten und des Imports von Rohstoffen sowie eine Verhinderung des Exports von Rohstoffen und des Imports von Fertigprodukten gerichtet war. Vor allem Philipp Wilhelm von Hornigk (1640–1714) verfolgte in seinem Hauptwerk „Oesterreich über alles, wann es nur will“ (1684) diese Handelspolitik. Ähnliches gilt für Wilhelm Schröder (1640–1688), der aufgrund der Beeinflussung durch englische Merkantilisten die Bedeutung des Außenhandels besonders betonte und auch deren Handelsbilanztheorie in sein Hauptwerk „Fürstliche Schatz- und Rentkammer“ (1686) übernahm. Dagegen widmete sich Johann Joachim Becher (1635–1682) in seinem Standardwerk „Politische Discurs“ (1668) dem Binnen- und Außenhandel eher indirekt im Rahmen seiner Entwicklung der „consumtio interna“, der richtig proportionierten Struktur der Wirtschaftszweige, des Kampfes gegen das „Monopolium“ und das „Propolium“ (wettbewerbshemmende Verhaltensweisen). Um importierte Rohstoffe optimal an das Gewerbe zu verteilen, plädierte Becher für den genossenschaftlichen Zusammenschluss der Kaufleute und eine staatliche Lenkung des Imports.4 Mit seiner aus traditioneller, merkantilistischer Sicht atypischen Forderung nach möglichst umfassender Wirtschaftsfreiheit versuchte Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771) den Handel (und das Gewerbe) zu fördern. Mit seinen Forderungen nach einem durchschnittlichen Wertzoll von zehn Prozent und nach Verzicht auf weitere Einfuhrhemmnisse kann er bereits als Freihändler gelten.5 Er lag damit auf einer Linie mit Adam Smith, der in seinem erstmals 1776 erschienenen Hauptwerk „Wealth of Nations“ immerhin rund 230 Seiten darauf verwendet hat, die für Konsumenten schädliche Handelspolitik des „Handels- oder Merkantilsystems“ anzuprangern. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das Verkehrswesen in der wissenschaftlichen Literatur ein untergeordnetes Problem, auch wenn gelegentlich auf die Bedeutung der Transportkosten hingewiesen wurde, so etwa auch bei Adam Smith.6 Dies änderte sich mit dem Fortschritt der Nationalökonomie. Der erste Standorttheoretiker, Johann Heinrich von Thünen (1783–1850), entwickelte die Struktur seines fiktiven Wirtschaftsraumes anhand zur Entfernung direkt proportionaler Transportkosten, was im Erscheinungsjahr des ersten Teils seines Hauptwerkes „Der isolierte 4 5 6

Vgl. Fritz Blaich: Die Epoche des Merkantilismus (Wissenschaftliche Paperbacks 3). Wiesbaden 1973, S. 62–64. Vgl. Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Band 1. Göttingen 1965, S. 230. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen (Aus dem Englischen übertragen und mit einer Würdigung von Horst Claus Recktenwald). München 1974, S. 342.

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Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie“ (1826) zweifellos die Realität des damaligen gebräuchlichen Landtransportmittels, nämlich des Fuhrwerks, widerspiegelte. Die grundsätzliche Bedeutung des Verkehrs für die Wirtschaft hat von Thünen durch den Hinweis auf Unterschiede in der Verkehrserschließung vor allem durch schiffbare Flüsse und die Eisenbahn unterstrichen.7 Dieses neue Verkehrsmittel hat Friedrich List (1789–1846) Anfang des 19. Jahrhunderts wie kein anderer mit der Entwicklung eines Landes in Verbindung gebracht. Seit 1827 warb er zunächst von Nordamerika aus für die Eisenbahn, die er als leistungsfähiger erachtete als z. B. den in Bayern geplanten Donau-Main-Kanal, um dann seine Vorstellungen in mehreren Publikationen zu konkretisieren, insbesondere auch im Hinblick auf ein die wichtigsten Teile Deutschlands verbindendes Bahnsystem: „Über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahnsystems, und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden“ (Leipzig 1833), „Das deutsche National-Transportsystem in volks- und staatswirtschaftlicher Beziehung behandelt“ (Altona/Leipzig 1838), „Das deutsche Eisenbahnsystem als Mittel zur Vervollkommnung der deutschen Industrie, des deutschen Zollvereins und des deutschen Nationalverbandes überhaupt (mit besonderer Berücksichtigung auf württembergische Eisenbahnen).“8 Insbesondere der Handel konnte damit entscheidend erweitert werden, dem List herausragende Bedeutung beimaß, was in seiner Stufenlehre zum Ausdruck kommt. Demnach entwickelt sich ein Land vom wilden Zustand über den Hirtenstand, Agrikulturstand, Agrikultur-Manufakturstand zum Agrikultur-Manufaktur-Handelsstand. Außerdem ist Lists Hauptwerk „Das nationale System der politischen Ökonomie“ (Stuttgart 1841) als erster Band unter dem Titel „Der internationale Handel, die Handelspolitik und der deutsche Zollverein“ erschienen, und schließlich war List ein eifriger Vorkämpfer für den Deutschen Zollverein. Für die auf Friedrich List folgende ältere und jüngere Historische Schule waren Handel und Verkehr schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Anders verhält es sich beim Begründer der sozialistischen Wirtschaftstheorie, Karl Marx. Er untersuchte die Bedeutung von Handel und Verkehr (bzw. Transport) mikro- und makroökonomisch. Im Zusammenhang mit der Bildung von Wert, d. h. im Marxschen Sinne Mehrwert, stellte er fest: „Die Zirkulation oder der Warenaustausch schafft keinen Wert.“9 Im langfristigen Entwicklungsprozess wurde aber ein entsprechendes Transportsystem notwendig. „Die Revolution in der Produktionsweise der Industrie und Agrikultur ernötigte namentlich aber auch eine Revolution in den allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, d. h. den Kommunikations- und Transportmitteln“10 Ihr System wurde in Gestalt von „Flussdampfschiffen, Eisenbahnen, ozeanischen Dampfschiffen und Telegraphen der Produktionsweise der großen Industrie ange7 8

Vgl. Ludwig Schätzl: Wirtschaftsgeographie 1. Theorie. 2. Aufl., Paderborn u. a. 1981, S. 61. Erstmals erschienen 1841, in: Friedrich List: Schriften, Reden, Briefe, Band III: Schriften zum Verkehrswesen, 1. Teil: Einleitung und Text. Berlin 1929. 9 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band I: Der Produktionsprozess des Kapitals. 5. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973, S. 135. 10 Ebd., S. 342.

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passt.“11 Dieser Zusammenhang wurde in dem von Friedrich Engels 1885 herausgegebenen zweiten Band („Der Zirkulationsprozess des Kapitals“) etwas näher erläutert, insofern, als die „Transportindustrie“ bzw. „das in dieser angelegte produktive Kapital […] also den transportierten Produkten Wert zu[setzt], teils durch Wertübertragung von den Transportmitteln, teils durch Wertzusatz vermittels der Transportarbeit.“12 Entsprechend lässt sich neben einer Verkürzung der „Zirkulationszeit“ die Profitrate erhöhen. Engels führt als Beispiele die Einführung der Eisenbahn, „die rasche und regelmäßige Dampferlinie“, den Suezkanal und die weltumspannende Telegraphie an.13 Marx und Engels hielten den Handel als Tauschprozess also für unproduktiv, dagegen die notwendige Raumüberwindung durch den Verkehr für produktiv. Die dazu gebrauchten Beispiele für neue Transportmittel entsprachen ganz der damaligen Auffassung anderer Autoren. Im Bereich der Schifffahrt und des Landverkehrs wurden die technischen Innovationen Dampfschiff und Eisenbahn als Synonym für einen geradezu revolutionären Fortschritt im See-, Flussund Landverkehr betrachtet, unterstützt vom neuen Kommunikationsmittel der Telegraphie. Dem Eisenbahnwesen hat sich zunächst einer der führenden Vertreter der älteren Historischen Schule, Karl Knies (1821–1898) mit seiner Monographie „Die Eisenbahnen und ihre Wirkungen“ (Braunschweig 1853) gewidmet, danach vor allem der in Göttingen lehrende Gustav Cohn, der vorrangig die englischen Verhältnisse darstellte. Seine „Untersuchungen über die englische Eisenbahnpolitik“ erschienen in drei Bänden (Leipzig 1874, 1875 und 1883). In einer weiteren Schrift „Die Entwicklung der Eisenbahngesetzgebung in England“ (Leipzig 1874) zeigte Cohn, wie wichtig die Gesetzgebung für die Ausgestaltung des neuen Verkehrsmittels sein konnte. So müsse grundsätzlich geregelt werden, dass die Eisenbahn eine freie Straße sei, die wie die Landstraßen und Kanäle gegen Zahlung von „Wegegeldern“ von jedermann benutzt werden dürfe. Cohn beschränkte sich allerdings nicht auf eine deskriptive Darstellung der englischen Verhältnisse. Beispielsweise betonte er, dass sich 1826 der „Liverpool-Manchester-Railway Act“ stark an eine frühere gesetzliche Regelung eines Verkehrsmittels anlehnte, das nachweislich wesentliche Impulse zur Industrialisierung gegeben hatte, nämlich an das Rechtssystem der Kanäle.14 Außerdem erachtete er ein zu strenges Haftungs- und Strafrecht sowie einengende Anlagevorschriften als hemmend für den Wagemut von Investoren. Im Unterschied zu Marx und Engels wurde also ein produktives Verkehrsmittel von der älteren und jüngeren Historischen Schule nicht als eher logische Folge fortschreitender Industrialisierung gesehen, sondern auch umgekehrt: Mit Hilfe der Eisenbahn konnte der Staat Impulse für die Industrie geben. Als Cohn später seine wichtigsten Aufsätze 11 Ebd., S. 343. 12 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band II, Buch II: Der Cirkulationsprocess des Kapitals. Hg. von Friedrich Engels. Hamburg 1885, 2. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972, S. 140. 13 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band III, 1. Teil, Buch III: Der Gesamtprocess der kapitalistischen Produktion. Kapitel I bis XXVIII. Hg. von Friedrich Engels. Hamburg 1894, Neuausgabe Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1971, S. 67. 14 Ausführlich zur Gesetzgebung bei Cohn (Eisenbahngesetzgebung in England), S. 22, 35 ff.

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in dem Sammelband „Zur Geschichte und Politik des Verkehrswesens“ (Stuttgart 1900) veröffentlichte, hatte der Verkehr in der damaligen deutschen Volkswirtschaftslehre längst seinen Platz gefunden. Gustav Schmoller (1838–1917), führender Vertreter der jüngeren Historischen Schule, brachte 1900 den Ersten Teil seines „Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (Leipzig) heraus. Da es hier um Grundlagen wie Bevölkerung, Natur, Technik, gesellschaftliche Verfassung sowie psychologische und sittliche Grundlagen ging, wurden Handel und Verkehr erst im 1904 erschienenen Zweiten Teil bearbeitet. Allerdings ist im Ersten Teil dem vierten Kapitel des zweiten Buches „Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Arbeitsteilung“ (S. 344–393 der 3. Aufl., Leipzig 1908) ein ausführliches Literaturverzeichnis auch zum Handel vorangestellt. Die Bedeutung von Handel und Verkehr kommt für Schmoller dadurch zum Ausdruck, dass sie zusammen mit dem Markt gleich im ersten Kapitel (des Zweiten Teils) untersucht werden. Die vorangestellte Literaturübersicht zeigt eindrucksvoll, wie seit etwa 1873 das Interesse an diesem Bereich geradezu sprunghaft angestiegen ist. Neben einigen Standardwerken, die sich um eine allgemeine umfassende Darstellung bemühten,15 breitete sich eine kaum überschaubare Literatur zu Einzelfragen aus. Neben dem „Mainzer Schiffergewerbe in den letzten drei Jahrhunderten des Kurstaats“ (1898), „Die Lage der Kanalschiffer in Elsaß-Lothringen“ (1905), „Berlin als Binnenschiffahrtsplatz“ (1910) usw., wurden „Die amerikanischen Wasserstraßen“ (1877) und die „Afrikanische Binnenschiffahrt“ (1908) ebenso untersucht wie „Die thüringischen Eisenbahnverhältnisse in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen Lage“ (1910), „Sechzig Jahre hessische Eisenbahnpolitik“ (1911) und „Die Entwickelung der südafrikanischen Union auf verkehrspolitischer Grundlage“ (1910).16 Gleiches gilt natürlich für die Literatur zum Handel. Eine „Allgemeine Geschichte des Welthandels“ war bereits 1854 erschienen, zwei Bände zur „Geschichte des deutschen Handels“ (1859) und drei Bände wiederum zur „Allgemeinen Geschichte des Welthandels“ (1860 ff.) folgten. Zu weiteren Standardwerken wurden „Zur Handelsgeschichte und Warenkunde“ (1886), „Technik des Welthandels“ (1889) und „Universalgeschichte des Handels“ (1890).17 Schließlich erschien im Handbuch der politischen Ökonomie (hg. von Georg von Schönberg) im zweiten Band (4. Aufl. 1898) ein Artikel „Handel“ von Wilhelm Lexis, in dem es hauptsächlich um Begriff und Wesen des Handels ging, ähnlich wie bei Wilhelm Georg Friedrich Roscher (1817–1894) in seiner „Nationalökonomik des Handels und Gewerbefleißes“ (1. Aufl. 1881, 7. Aufl. 1899). Von der zahlreichen Spezialliteratur seien beispielhaft nur einige Themen genannt: „Geschichte des Levantehandels“ (zwei Bände, 1879 f.), „Handel und Industrie der Stadt Basel“ (1886), „Großmagazine und Kleinhandel“ (1891), „Der Kaufmann in der deutschen Vergangenheit“ (1899), „Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien“ (zwei Bände, 1900) 15 So etwa Emil Sax: Die Verkehrsmittel in Volks- und Staatswirtschaft. 2 Bände. Wien 1978 und 1879; Richard van der Borght: Das Verkehrswesen. Leipzig 1894, 2. Aufl. 1912. 16 Alle Angaben in Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2. Teil. 3. Aufl., München/Leipzig 1923, S. 2 f. 17 Vgl. ebd., 1. Teil. 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 344.

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sowie „Der Großhandel im Mittelalter“ (1901).18 In der langen Autorenliste ist auch einer der ersten Herausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ vertreten, nämlich Georg von Below mit „Großhändler und Kleinhändler im deutschen Mittelalter“, erschienen im Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 20, 1900. Bis zum Zeitpunkt des erstmaligen Erscheinens der VSWG (1903) und in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bietet die damalige Forschung zu den Bereichen Handel und Verkehr dasselbe Bild wie die Historische Schule insgesamt. Neben grundsätzlichen, systematisierenden und die volkswirtschaftliche Bedeutung herausstellenden Standardwerken entstand fast lawinenartig eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen, die sich mehr oder weniger isoliert und beschreibend einem einzelnen Thema widmeten. Häufig ist allerdings das Bemühen zu erkennen, die Verkehrs- und Handelspolitik nach ihren Auswirkungen zu hinterfragen. Das zeigt sich insbesondere im Bereich der Eisenbahn- und Zollpolitik. Was den Untersuchungszeitraum betrifft, so scheint eine gewisse Vorliebe für das Mittelalter geherrscht zu haben. Dieser Eindruck wird durch die in der VSWG bis zum Ersten Weltkrieg besprochenen Literatur bestätigt. Von 14 Monographien betrafen fünf das Mittelalter, vier die Frühe Neuzeit, vier beide Epochen zusammen und eine das 19. Jahrhundert. Bei den in der VSWG publizierten Aufsätzen und Miszellen ist die Verteilung eindeutiger. In den von 1903 bis 1918 erschienenen 31 Beiträgen betrafen 23 das Mittelalter und acht die Frühe Neuzeit. Das 19. Jahrhundert war nicht vertreten. Inhaltlich konzentrierte sich das Interesse stark auf den Handel (26 Beiträge) und weniger auf den Verkehr (fünf Beiträge). Dabei ist eine Präferenz für die Handelsgesellschaft zu erkennen. Bereits im ersten Band (1903) untersuchte J. Müller den Zusammenbruch des Welserischen Handelshauses im Jahre 1614. Hansischen Handelsgesellschaften, vornehmlich des 14. Jahrhunderts, widmete sich F. Keutgen in einem längeren Beitrag mit zwei Fortsetzungen im vierten Band (1906), den derselbe Verfasser mit einer Miszelle (siebter Band, 1909) ergänzte. Zu dieser Zeit wurde der hansische Handel zu einem bevorzugten Forschungsobjekt, das die übliche Spezialisierung erfuhr. Repräsentativ dafür sind die zwei Beiträge von G. A. Kiesselbach zur „Konzentration des hansischen Seeverkehrs auf Flandern, nach den ältesten Schiffrechten der Lübecker, Hamburger und Bremer und nach dem Seebuche“ in den Bänden acht (1910) und neun (1911) sowie eine Miszelle von K. Lehmann zu hansischen Handelsgesellschaften, ebenfalls im achten Band. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges sind zwar weitere Handelsgesellschaften, z. B. die der Imhof in Nürnberg und Basler Handelsgesellschaften (13. bzw. 14. Band) sowie sehr speziell einzelne Kaufleute wie etwa „Wilhelm Servat von Cahors als Kaufmann in London, 1273–1329“ (elfter Band, 1913) dargestellt worden, doch machte sich allmählich auch eine Tendenz zur Quellenedition bemerkbar. Ebenfalls im elften Band äußerte sich H. Bächtold zu dem Plan einer Edition der deutschen Zolltarife des Mittelalters, und in einer Miszelle rief die Münchener Historische Kommission zu einer Verzeichnung von Handlungsbüchern auf. 18 Alle Titel ebd., S. 344.

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Bemerkenswert ist der Umstand, dass Messen und Börsen offenbar noch kein sonderliches Interesse fanden. Natürlich behandelte Max Weber in seiner erstmals 1923 erschienenen „Wirtschaftsgeschichte“19 auch den Messehandel, wobei er besonders die Messen der Champagne herausstellte. Vermutlich nicht zufällig ist die zum Abschnitt „Der Messehandel“ genannte Literatur knapp. Deutsche Autoren sind E. Bassermann „Die Champagner Messen“ (Tübingen 1911), F. Rachfahl „Wilhelm von Oranien, I.“ (Halle 1906), der die Antwerpener Messe behandelt, E. Hasse „Geschichte der Leipziger Messen“ (Leipzig 1885), G. Wustmann „Geschichte der Stadt Leipzig“ (Leipzig 1905) und R. Häpke „Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt“ (Berlin 1908). Der Handel allgemein, insbesondere auch seine Betriebsformen und der Güter- (und Geld-) Verkehr sind dagegen ausführlich und in der bei Max Weber üblichen historisch gestützten Abstraktion dargestellt. 3. Forschungsbereiche nach dem Ersten Weltkrieg Als 1921 in Berlin die fünfte Auflage von Werner Sombarts „Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts“ erschien, nahmen Handel und Verkehr jeweils ein umfangreiches Kapitel ein. Da es Sombart dabei um die Genesis der modernen Volkswirtschaft ging, behandelte er vor allem den Wandel im langfristigen Verlauf. Den Handel unterteilte er in Großund Detailhandel, den Verkehr aus heutiger, oder besser: theoretischer Sicht etwas unsystematisch in „Eisenbahnen“, „Achstransport“, der ausschließlich den Straßenverkehr meint, „Binnenschifffahrt“, „Seeschifffahrt“ und „Post“. Mit Blick auf das anvisierte breite Publikum verzichtete Sombart weitgehend auf eine theoretische Analyse und stützte sich auf umfassendes Zahlenmaterial. Die fast zur selben Zeit wieder erschienene VSWG (15. Band, 1919/20) knüpfte nahtlos an die Themenbereiche der Vorkriegszeit an. Zwei Abhandlungen zur Entstehungsgeschichte des Zollgeleits und zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der habsburgischen Post im 16. Jahrhundert sowie eine Miszelle von Gustav Aubin über die Berufe der Stadt Bautzen in Handel und Gewerbe vom 15. bis 18. Jahrhundert sind vermutlich für die damalige Forschung repräsentativ, denn im Inhaltsverzeichnis der besprochenen Literatur finden sich vier Monographien, die ebenfalls als „traditionell“ bezeichnet werden können, gleichzeitig aber auch den damaligen Zeitgeist widerspiegeln: „Der Handelsvorstand Nürnberg 1560–1910“ (P. Dirr), „Deutsch-russische Handelsverträge des Mittelalters“ (L. K. Goetz), „Die Beschränkungen der Gewerbe- und Handelsfreiheit in den deutschen Schutzgebieten“ (O. Mathies) und „Argentiniens Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika“ (W. Meissner). Im Übrigen galt auch weiterhin das Interesse vorwiegend dem Handel, weniger dem Verkehr, weil das 19. Jahrhundert ziemlich vernachlässigt blieb. Aus einer Vielzahl von Beiträgen und Monographien seien nur stichpunktartig einige Beispiele genannt: „Die wirtschaftlichen Beziehungen Kölns 19 Es handelte sich dabei um eine von S. Hellmann und M. Palyi herausgegebene Vorlesung von Weber aus dem Wintersemester 1919/20.

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zu Frankfurt a. M., Süddeutschland und Italien im 16. und 17. Jahrhundert, 1500– 1650“ (E. von Ranke), „Zur Raffelstetter Zollordnung“ (G. von Below) und „Ein hansischer Großkaufmann des 15. Jahrhunderts“ (H. Nirrnheim), alle im 17. Band von 1924. Erst ab 1929 finden sich in der besprochenen Literatur vermehrt Themen zum Verkehr, so etwa „Binnenschiffahrt und Eisenbahn“ (Napp-Zinn), „Handel und Verkehr Bremens im Mittelalter“ (J. Müller), „Deutsche Verkehrsfragen unter besonderer Berücksichtigung des niederrheinisch-westfälischen Industriebezirkes“ (O. Most), jeweils im 22. Band (1929). VSWG-Beiträge konzentrieren sich aber weiterhin auf Handel und Handelspolitik: Von Clemens Bauer und Hermann Heimpel erschienen „Venezianische Salzhandelspolitik bis zum Ende des 14. Jahrhunderts“ bzw. „Zur Handelspolitik Kaiser Sigismunds“, beide in Band 23, 1930. In den beiden folgenden Jahren, also auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, setzten zwei Abhandlungen von H. Fitzler über portugiesische Überseehandelsgesellschaften (15. bis 18. Jahrhundert) und Ludwig Beutin mit „Deutscher Leinenhandel in Genua im 17. und 18. Jahrhundert“ die traditionelle Ausrichtung der Forschung fort. Bemerkenswert ist die Zeit von 1933 bis 1945, in der Hermann Aubin als alleiniger Herausgeber der VSWG fungierte insofern, als sich an der bisherigen thematischen Ausrichtung der Beiträge nichts änderte. Allenfalls die Abhandlung von W. Casper „Machtpolitische Gedankengänge in den Anfängen der modernen englischen Handelspolitik“ (33. Band, 1940) entsprach dem damaligen Zeitgeist. Ansonsten bietet sich das gewohnte Bild von äußerst speziellen Handelsthemen, wie z. B. die Miszelle von K. Bathelt „Nachrichten über den Fezexport Österreichs nach dem Orient im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert“ (29. Band, 1936), von Beiträgen über große Kaufleute, z. B. Gustav Aubin: „Bartolomäus Viatis. Ein Nürnberger Großkaufmann vor dem Dreißigjährigen Kriege“ (33. Band, 1940) und über Handelshäuser, z. B. Herbert Hassinger: „Die erste Wiener orientalische Handelskompagnie 1667–1683“, Heinrich Sieveking: „Die Anfänge des Hauses Behn-Meyer & Co in Singapore“ (jeweils 35. Band, 1942). Aus dem weiterhin weniger beachteten Bereich Verkehr verdient die umfangreiche Miszelle des damals 31-jährigen Wilhelm Treue „Zur Gründungsgeschichte des Norddeutschen Lloyd“ (33. Band, 1940) besondere Erwähnung. 4. Tendenzen der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg Der bisher entstandene Eindruck, wonach gerade die Geschichte des Verkehrs zu den eher vernachlässigten Gebieten der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehört, bestätigt sich auch für die Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst seit etwa 1990 ist ein deutlich gestiegenes Interesse festzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei geographisch in Westeuropa und zeitlich im 19. und 20. Jahrhundert, mit den Hauptthemen Eisenbahn und Binnenschifffahrt.20 Diese Vernachlässigung ist inso20 Vgl. Michael North: Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 59). München 2000, S. 57 sowie die dort genannte Literatur.

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fern erstaunlich, als sich die um 1960 in den USA etablierte „Neue Wirtschaftsgeschichte“, auch bekannt unter den Bezeichnungen „econometric history“ oder „Kliometrik“, vor allem darum bemühte, die volkswirtschaftliche Bedeutung alternativer Verkehrsmittel (Eisenbahn, Kanal, Landstraße) quantitativ zu bestimmen.21 Eindeutig in diese Richtung zielt die Untersuchung von Rainer Fremdling über den Zusammenhang von Eisenbahnen und Wirtschaftswachstum.22 Sie basiert auf der Theorie des ungleichgewichtigen Wachstums, hier der Infrastruktur als Engpassfaktor, von Albert Hirschman und ist für diese Fragestellung zum deutschen Standardwerk geworden. Gleichwohl wurden teilweise vor 1990 verschiedene Probleme im Zusammenhang mit dem Verkehr aus volkswirtschaftlicher Sicht behandelt. So untersuchte Eckart Schremmer am Beispiel Bayerns die wichtigsten Einflussfaktoren für den Transport auf unterschiedlichen Verkehrswegen im 18. Jahrhundert.23 Alternative Kosten für den Land- und Wassertransport sowie ihre Auswirkungen sind für die Zeit um 1800 für verschiedene Routen berechnet worden.24 Was die Transportkosten und ihren Einfluss auf die Integration von Wirtschaftsräumen betrifft, so existierten darüber in der Wirtschaftstheorie lange Zeit unterschiedliche Auffassungen. Ausgehend von Karl Büchers Stufenlehre25, derzufolge sich die arbeitsteiligen Volkswirtschaften sukzessive erweiterten und die Absatzwege schrittweise verlängerten, wurde die Transportrevolution (Eisenbahn und Dampfschiff) im 19. Jahrhundert als die Voraussetzung für eine „Integration der Weltwirtschaft“26 erachtet. Vor allem die Eisenbahn soll es gewesen sein, „welche den eigentlichen Durchbruch zur Weltwirtschaft im heutigen Sinne vollführte.“27 Nach Borchardt allerdings waren die im 19. Jahrhundert sinkenden Transportkosten im Vergleich mit anderen Faktoren nicht so entscheidend, zumal es auf die relative Transportkostenbelastung der Güter ankomme, d. h. auf die Relation von Transportaufwand zum Preis der Produkte. Diese Belastung sei aber in ihrer ganzen Breite vor der Transportrevolution nicht wesentlich größer gewesen als danach.28 Eine ausführliche empirische Untersuchung zeigt jedoch folgendes Ergebnis: Die Eisenbahn hat den 21 Repräsentativ dafür Robert W. Fogel: Railroads and American Economic Growth. Baltimore 1964. 22 Rainer Fremdling: Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840–1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 2). Dortmund 1975. 23 Vgl. Eckart Schremmer: Die Wirtschaft Bayerns. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung. München 1970, S. 616–633. 24 Rolf Walter: Die Kommerzialisierung von Landwirtschaft und Gewerbe in Württemberg (1750– 1850). St. Katharinen 1990, S. 67–69, 76 f.; Margarete Edlin-Thieme: Studien zur Geschichte des Münchner Handelsstandes im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1969, S. 8–10. 25 Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Tübingen 1893. 26 Andreas Predöhl: Außenwirtschaft, Weltwirtschaft, Handelspolitik und Währungspolitik. Göttingen 1949, S. 49. 27 Ernst Heuß: Wirtschaftssysteme und internationaler Handel. Zürich/St. Gallen 1955, S. 21. 28 Vgl. Knut Borchardt: Integration in wirtschaftshistorischer Perspektive, in: Weltwirtschaftliche Probleme der Gegenwart. Verhandlungen auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, im Ostseebad Travemünde 1964 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. 35). Berlin 1965, S. 388–410, hier 391, 396, 404.

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Landtransport vor allem für Massengüter (z. B. Kohle und Erz) absolut und relativ, also gemessen an den Produktionskosten, stark verbilligt. Eisenerz hatte um 1800 auf der Straße für eine Strecke von nur 10 bis 15 Kilometern eine Belastung von rund 50 Prozent, um 1880 für eine längere Strecke mit der Eisenbahn von durchschnittlich zehn Prozent. Im Übrigen ist zu bedenken, dass sinkende Frachtraten oft mit ebenfalls sinkenden Produktionskosten verbunden waren, so dass sich an der relativen Transportkostenbelastung gegebenenfalls überhaupt nichts änderte, der Absatzradius bei gleichen Verkaufspreisen aber um ein Vielfaches vergrößert werden konnte.29 Ähnliche Auswirkungen durch die Eisenbahn lassen sich für Kohle und Getreide, aber auch textile Produkte nachweisen. Außerdem sind neben der Bedeutung der Transportkosten die wesentliche Verkürzung der Transportzeit und der kontinuierliche, relativ wetterunabhängige Transport durch die Eisenbahn zu berücksichtigen, die sich in der betrieblichen Kostenkalkulation niederschlagen. Solche und andere betriebs- und volkswirtschaftlichen Probleme wurden erstmals umfassend und theoretisch von Fritz Voigt in den zwei Teilbänden des ersten Bandes („Die Theorie der Verkehrswirtschaft“, Berlin 1973) seines fundamentalen Werkes „Verkehr“ behandelt. Die zwei Teilbände des zweiten Bandes („Die Entwicklung des Verkehrssystems“), welche die Realgeschichte des Verkehrs seit dem Altertum bis in die Gegenwart (z. B. Transport von Gasen, Flüssigkeiten, Feststoffen und Elektrizität) praktisch lückenlos darstellen, waren aber bereits 1965 (Berlin) erschienen. Die bemerkenswerte zeitliche Reihenfolge, nämlich erst Daten und Fakten, dann die Theorie, demonstriert die Arbeitsweise der Historischen Schule. Umgekehrt sollen dem Leser erst die theoretischen Grundlagen vermittelt werden, um den tatsächlichen Verlauf dann besser zu verstehen. Voigt begründete seine Vorgehensweise damit, dass „mit den Werkzeugen der postkeynesianischen Schule oder der neoklassischen Lehren“ die „Tatsachen der historischen Entwicklung“ nicht hinreichend erklärt werden konnten. Vielmehr mussten durch die Auseinandersetzung mit der Realität, die es eben erst zu erforschen galt, viel differenziertere analytische Methoden angewendet werden.30 Etwa zur selben Zeit wie Voigts „Verkehr“ erschien ein Sammelband zu Schwerpunkten der deutschen Wirtschaftsgeschichte.31 Von den sechs Teilen trägt einer den Titel „Die Verkehrsmittel“. Davon widmen sich je zwei Themen der Eisenbahn32 und der Schifffahrt33, also den zwei seit jeher als am wichtigsten erachteten Verkehrsmitteln im Industrialisierungsprozess. Bei Henderson wird der Frage nachgegangen, warum es in Preußen zu einem „gemischten System“, also teils staatlichen, teils privatwirtschaftlichen Eisenbahnen kam. Bloemers „Eisenbahntarif29 Ausführlich dazu, auch für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Rainer Gömmel: Transportkosten und ihr Einfluß auf die Integration von Wirtschaftsräumen, in: Economia 1986. Aachen 1986, S. 1–23. 30 Voigt, Verkehr (wie Anm. 3), Vorwort. 31 Karl Erich Born (Hg.): Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Köln/Berlin 1966. 32 W. O. Henderson: Die Entstehung der preußischen Eisenbahnen 1815–1848 (S. 137–150) und Kurt Bloemers: Der Eisenbahntarif-Kampf (S. 151–170). 33 Ludwig Beutin: Der Norddeutsche Lloyd (S. 171–177) und Günther Leckebusch: Der Beginn des deutschen Eisenschiffbaues 1850–1890 (S. 178–199).

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Kampf“ ist Teil einer bereits 1922 erschienenen Monographie und sollte zeigen, wie wichtig niedrige Frachttarife für die Schwerindustrie im Hinblick auf die englische Konkurrenz waren. Besondere Beachtung verdient weiterhin der erstmals 1953 erschienene Beitrag von Ludwig Beutin. Auf nur wenigen Seiten werden hier volksund betriebswirtschaftliche Ursachen für den Aufstieg des Norddeutschen Lloyd und ganz beiläufig für den Rückgang der amerikanischen Handelsflotte genannt. Um den Zusammenhang zwischen Schiffbau und Eisenindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht es in dem Beitrag von Günther Leckebusch, der im Übrigen durch viele technische Details zur Entwicklung der Panzerplatte gekennzeichnet ist, die vermutlich eher den Technikhistoriker interessieren. In der VSWG hat sich das früher auf dem Handel liegende Schwergewicht nach dem Zweiten Weltkrieg eher noch verstärkt. Bis zur Gegenwart wurde der Verkehr nur in einem halben Dutzend Abhandlungen berücksichtigt, zumeist in Verbindung mit dem Handel. Dessen Darstellung blieb auch hinsichtlich der Methode und des untersuchten Zeitraums ziemlich gleich, d. h. es dominiert die Geschichte der großen Handelshäuser34 sowie das Mittelalter 35 und die Frühe Neuzeit.36 Seit etwa den 1970er Jahren ist allerdings auch ein stärkerer Akzent auf wirtschaftswissenschaftlichen Problemen und dem 19. und 20. Jahrhundert festzustellen.37 Damit liegt die deutsche Forschung durchaus im internationalen Trend, der im Zuge der ständig wachsenden Bedeutung des internationalen Handels dessen Bedingungen zu ergründen sucht. Der schon früher beliebte Forschungsgegenstand „Gewürzhandel“ erhielt seit etwa 1970 neue Impulse.38 Faktoren wie Frachtkosten, Organisation (z. B. der Handelsgesellschaften), Monopole und Wettbewerb sowie Schiffbau und Waffentechnik werden mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden untersucht.39 Vor allem auf dem IX. Internationalen Kongress für Wirtschaftsgeschichte in Bern 1986 wurde unter Leitung von Wolfram Fischer, Jürgen Schneider und R. Marvin McInnis das Entstehen einer Weltwirtschaft von 1500 bis 1914 unter verschiedenen Aspekten diskutiert. Während im ersten Teil (1500–1850) erstmals eine starke Betonung monetärer Einflüsse auf den internationalen Handel festzustellen 34 Als Beispiel genannt sei Wolfgang Zorn: Grundzüge der Augsburger Handelsgeschichte 1648– 1806, in: VSWG 43 (1956), S. 97–145. 35 Vgl. z. B. Heinz Thomas: Beiträge zur Geschichte der Champagne-Messen im 14. Jahrhundert, in: VSWG 64 (1977), S. 433–467. 36 Beispielsweise Ekkehard Westermann: Silbererzeugung, Silberhandel und Wechselgeschäft im Thüringer Saigerhandel von 1460–1620, in: VSWG 70 (1983), S. 192–214. 37 Z. B. Rolf-Horst Dumke: Intra-German Trade in 1837 and Regional Economic Development, in: VSWG 64 (1977), S. 468–496; Ulrich Pfister: Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: VSWG 87 (2000), S. 38–66. 38 Auslöser war wohl Niels Steensgaard: European Shipping to Asia 1497–1700, in: Scandinavian Economic History Review 18 (1970), S. 1–11. 39 Als neuere Beispiele Martin Krieger: Konkurrenz und Kooperation in Ostindien: Der europäische country-trade auf dem Indischen Ozean zwischen 16. und 18. Jahrhundert, in: VSWG 84 (1997), S. 322–355, und Helmut E. Braun: Zum interkontinentalen Transport von Gewürzen in der Frühen Neuzeit, in: Gewürze: Produktion, Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit. Beiträge zum 2. Ernährungshistorischen Kolloquium im Landkreis Kulmbach 1999, hg. von Markus A. Denzel. St. Katharinen 1999, S. 123–148.

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ist, stehen im zweiten Teil (1850–1914) Investition, Transport, Kommunikation, Handelsgüter, aber auch der internationale Goldstandard im Vordergrund.40 Gerade dieses rein volkswirtschaftliche Problem des internationalen Handels bis zum Ersten Weltkrieg wird in neuester Zeit offenbar anders als bisher gesehen, d. h. im Vergleich zu einem System flexibler Wechselkurse als eher handelshemmend bewertet.41 Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, ist erst seit etwa 1990 ein gestiegenes Interesse an der Entwicklung von Handel und Verkehr in Deutschland, dabei wiederum bezogen auf das 20. Jahrhundert, festzustellen. Dafür sind mehrere Gründe verantwortlich. Hinsichtlich des Verkehrs wird die Vermutung geäußert, dass es lange eine Annahme gegeben habe, wonach weder das Auto noch die Eisenbahn die Funktion von wirtschaftlichen Leitsektoren des 20. Jahrhunderts einnahmen. Bei der Eisenbahn kommt hinzu, dass sie „aufgrund ihrer in sich widersprüchlichen Zwitterstellung zwischen einem Wirtschaftsbetrieb und einer hoheitlichen Verwaltungseinheit […] mitten zwischen die Forschungsgebiete der Unternehmensgeschichte und der Politikgeschichte [fiel].“42 Eine umfassende Gesamtdarstellung aus wirtschaftshistorischer Sicht zur Geschichte der Eisenbahn erschien erst 1999.43 Bereits zuvor war ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt im Rahmen der „Historischen Statistik von Deutschland“ durchgeführt worden.44 Zwar wurde schon frühzeitig die Faszination der durch Automobil und Motorrad vermittelten Mobilität und Geschwindigkeit erkannt,45 die in Deutschland mit Hilfe der Steuerpolitik seit 1928 zunächst das Motorrad zu einem Volksverkehrsmittel bis zum Zweiten Weltkrieg machte und im Nationalsozialismus durch das „Volkswagen“-Projekt den Wunsch breiter Bevölkerungsschichten nach einem Automobil verstärkte, der dann seit den 1950er Jahren wegen steigender Einkommen immer mehr erfüllt werden konnte, doch interessierten Motorrad und Automobil die Wirtschaftswissenschaft erst relativ spät.46 Vor allem die technische Entwick40 Wolfram Fischer/R. Marvin McInnis/Jürgen Schneider (Hg.): The Emergence of a World Economy 1500–1914 (Papers of the IX. International Congress of Economic History). Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. von H. Kellenbenz, E. Schmitt und J. Schneider, Band 33, I und II. Wiesbaden 1986. 41 Vgl. Margarete Wagner-Braun: Commercial Integration during the Era of the Classic Gold Standard, in: Markus A. Denzel (Hg.): From commercial communication to commercial integration (Middle Ages to XIX. Century) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 96), (S. 64– 85, im Druck). 42 Christopher Kopper: Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 63). München 2002, S. 83. 43 Lothar Gall/Manfred Pohl (Hg.): Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999. 44 Rainer Fremdling/Ruth Federspiel/Andreas Kunz (Hg.): Statistik der Eisenbahnen in Deutschland 1835–1989. St. Katharinen 1995. 45 Vgl. z. B. Werner Sombart: Der Bourgeois – Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. München/Leipzig 1913, S. 221. 46 Aufsätze wie der von Fritz Blaich: Die „Fehlrationalisierung“ in der deutschen Automobilindustrie 1924–1929, in: Tradition 18 (1973), S. 18–33 waren eher die Ausnahme.

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lung stand zunächst im Vordergrund.47 In einem Sammelband über den Zusammenhang von Motorisierung und Verkehrswesen seit den Anfängen des Automobilbaus wurde dann erstmals 1988 vorwiegend wirtschaftshistorischen Fragestellungen nachgegangen.48 Nicht zuletzt die nach 1990 aufgekommene Diskussion um die Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland rückte das Automobil und die Eisenbahn verstärkt in das Blickfeld eines breiten Forschungsinteresses.49 Ein wesentlich größeres Forschungsdefizit existiert im Bereich des Handels, über den es für das 20. Jahrhundert bislang keine Gesamtdarstellungen gibt, mit Ausnahme eines ersten Versuchs aus betriebswirtschaftlicher Sicht.50 Selbst unternehmensgeschichtliche Studien über einzelne Warenhäuser (z. B. Karstadt, Wertheim, Schocken, Neckermann) seit den 1990er Jahren sind eher selten.51 Demgegenüber findet der mit dem Handel eng verbundene Konsum verstärkt wirtschaftshistorisches Interesse, was jüngst durch die 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (vom 23.–26. April 2003 in Greifswald) deutlich wurde. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der derzeit beste Überblick zu den Bereichen Handel und Verkehr im 20. Jahrhundert sowohl hinsichtlich der Realgeschichte als auch der Grundprobleme und Tendenzen der Forschung von Christopher Kopper (vgl. Anm. 42) vorgelegt worden ist. Dort sind die einzelnen Verkehrsmittel (Eisenbahn, Straßenverkehr, Binnenschifffahrt und Luftfahrt) sowie der Handel in die Zeiträume Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und Deutschland seit 1945 eingeordnet.

47 Vgl. z. B. Martin Limpf: Das Motorrad – Seine technische und geschichtliche Entwicklung. München 1983. 48 Hans Pohl/Beate Brüninghaus (Hg.): Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986 (ZUG, Beiheft 52). Stuttgart 1988. 49 Vgl. dazu die umfangreichen Literaturangaben bei Kopper, Handel und Verkehr (wie Anm. 42), insbesondere S. 84 und allgemein S. 126–134. 50 Ludwig Berekoven: Geschichte des deutschen Einzelhandels. Frankfurt a. M. 1986. 51 Vgl. die bei Kopper, Handel und Verkehr (wie Anm. 42) S. 135 f. genannte Literatur.

Hans Pohl KREDIT- UND VERSICHERUNGSWESEN I. Frühe Neuzeit Die Grundlagen des modernen Bankgeschäfts in Deutschland1 wurden in der Frühen Neuzeit geschaffen, als durch den Aufschwung des Fernhandels innovative Finanzierungsinstrumente und Kredittechniken aus Norditalien und den westeuropäischen Handelsplätzen Eingang in das Deutsche Reich fanden. Noch im 16. Jahrhundert hatten die großen süddeutschen Handelshäuser (Fugger, Welser, Imhof etc.), deren größtes dem Zeitalter seinen Namen gab, ihr Geschäft in traditioneller Weise ohne bemerkenswerte Neuerungen oder Spezialisierungen betrieben, d. h. sie verbanden den Fernhandel mit europaweiten Wechselgeschäften, vergaben Kredite an Fürsten, Könige und Kaiser und investierten in Bergbauprojekte, die auf Konzessionen dieser kreditnehmenden Fürsten basierten. Der Erfolg dieser „frühkapitalistischen“, familienorientierten Unternehmensform zog bereits früh die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich. Viele der auch heute noch unverzichtbaren Standardwerke über die einzelnen oberdeutschen Handelshäuser sind daher schon von beträchtlichem Alter.2 Da die Abwicklung von bankmäßigen Geschäften unmittelbar mit dem Warenhandel verknüpft blieb, ist die Bankengeschichte der Frühen Neuzeit ein inhärenter Bestandteil der Handelsgeschichte. Erst im 19. Jahrhundert tritt der „Unternehmertyp“ des „Privatbankiers“ in Erscheinung, der ausschließlich bankmäßige Geldgeschäfte ohne Warenhandel betrieb. Aufgrund der engen Wechselbeziehungen zwischen Handels- und Bankgeschäften umfasst ein großer Teil der umfangreichen Literatur zum frühneuzeitlichen Handel im Grunde auch die Frühformen des Bankgeschäfts. 1

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Bisher gibt es nur wenige Überblicksdarstellungen: Ernst Klein: Von den Anfängen bis zum Ende des alten Reiches (1806). Frankfurt a. M. 1982 (Institut für bankhistorische Forschung (Hg.): Deutsche Bankengeschichte. Band 1); Helma Houtman-De Smedt/Herman van der Wee: Die Entstehung des modernen Geld- und Finanzwesens Europas in der Neuzeit, in: Hans Pohl (Hg.): Europäische Bankengeschichte. Frankfurt a. M. 1993, S. 73–173; Michael North: The Great German Banking Houses and International Merchants, Sixteenth to Nineteenth Century, in: Alice Teichova/Ginette Kurgan-van Hentenryk/Dieter Ziegler (Hg.): Banking, Trade and Industry. Europe, America and Asia from the Thirteenth to the Twentieth Century. Cambridge 1997; ders.: Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 59). München 2000. – Ich danke meinem früheren wissenschaftlichen Assistenten, Herrn Thorsten Beckers, für die tatkräftige Unterstützung bei der Abfassung dieses Forschungsberichts. Richard Ehrenberg: Das Zeitalter der Fugger. 2 Bände. Jena 1896; G. Freiherr von Pölnitz: Jakob Fugger. Kaiser, Kirche und Kapital in der oberdeutschen Renaissance. 2 Bände. Tübingen 1949–1951; ders.: Anton Fugger. 5 Bände. Tübingen 1958–1986; Wolfgang von Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350–1450. 3 Bände (VSWG, Beihefte 55–57). Wiesbaden 1970; Mark Häberlein/Johannes Burkhardt (Hg.): Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses (Colloquia Augustana 16). Berlin 2002.

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Seit dem späten 16. Jahrhundert kann die Einführung und Verbreitung einiger wichtiger Innovationen beobachtet werden, an der in besonderem Maße Immigranten aus Italien und den Niederlanden Anteil hatten. Die Erforschung der Anwendungsweise und regionalen Verbreitung der neuen Finanzierungsinstrumente, z. B. der rechtlich verbesserten Inhaberschuldverschreibung, des Wechsel-Indossaments oder des Diskonts, war ein Ausgangspunkt für die Aufarbeitung der rechtlichen Ursprünge der Bankgeschäfte.3 Für das deutsche Reichsgebiet warfen dabei die kredittechnische Rückständigkeit der Hanse und die daraus gefolgerte angebliche „Kreditfeindlichkeit“ wichtige Forschungsfragen auf.4 Vorherrschend auf deutschem Gebiet war der „Unternehmertyp“ des merchant banker oder marchand banquier, der sich als Fernhändler stark in Geldgeschäften engagierte. Das Herzstück seiner Bankgeschäfte bildete der Wechsel als Instrument des internationalen (bargeldlosen) Zahlungsverkehrs und der Handelsfinanzierung, er führte aber auch eine Reihe weiterer Kreditformen in seinem Angebot. Eine leitende Fragestellung beschäftigt sich mit den Beweggründen und den Methoden einzelner Kaufleute, sich allmählich von ihrer Berufsgruppe zu emanzipieren, sich zu spezialisieren und in großem Umfang bestimmte Bankgeschäfte zu betreiben.5 Mit der Entstehung eines spezialisierten Bankiersstandes war die Entwicklung verschiedener Handelsplätze zu Finanzplätzen verbunden, die sich in der Regel durch die Ausdifferenzierung verschiedener Funktionen der Messen seit dem 18. Jahrhundert vollzog:6 Die bis dahin vorherrschenden Messen wurden allmählich von Börsen und Privatbankiers ersetzt, die ihre Dienste effizienter und kostengünstiger anbieten konnten. Es gelang den Privatbankiers, durch das Knüpfen von Geschäftsbeziehungen zu Bankiers in anderen Städten und Ländern ein Finanzierungsnetz über 3

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Raimond de Roover: L’évolution de la lettre de change, XIVe–XVIIe siècles. Paris 1953; Georg Schaps: Zur Geschichte des Wechselindossaments. Stuttgart 1892; Peter Opitz: Der Funktionswandel des Wechselindossaments. Berlin 1968; Jürgen Schneider: Hat das Indossament zum Niedergang der Wechselmessen im 17. und 18. Jahrhundert beigetragen?, in: Michael North (Hg.): Geldumlauf, Währungssysteme und Zahlungsverkehr in Nordwesteuropa 1300–1800. Köln 1989, S. 183–193. Stuart Jenks: War die Hanse kreditfeindlich?, in: VSWG 69 (1982), S. 305–338; Wolfgang von Stromer: Die oberdeutschen Geld- und Wechselmärkte. Ihre Entwicklung vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, in: Scriptae Mercaturae 10 (1976), S. 23–49; Michael North: Banking and Credit in Northern Germany in the 15th and 16th Centuries, in: Banchi pubblici, banchi privati e monti di pieta nell’Europa preindustriale, Band 2. Genua 1991, S. 810–826. Hugo Rachel/Johannes Papritz/Paul Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Band 1: Bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Berlin 1934; Hugo Rachel/Paul Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Band 2: Die Zeit des Merkantilismus 1648–1806. Berlin 1938. Hans-Peter Ullmann: Der Frankfurter Kapitalmarkt um 1800. Entstehung, Struktur und Wirken einer modernen Finanzierungsinstitution, in: VSWG 77 (1990), S. 75–92; Rolf Walter: Geldund Wechselbörsen vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Hans Pohl (Hg.): Deutsche Börsengeschichte. Frankfurt a. M. 1992, S. 13–76; Karl Heinrich Kaufhold: Der Übergang zu Fonds- und Wechselbörsen vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Ebd., S. 77–132; Carl-Ludwig Holtfrerich: Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum. München 1999; Hans Pohl (Hg.): Geschichte des Finanzplatzes Berlin. Frankfurt a.M. 2002; Uwe Perlitz: Das Geld-, Bankund Versicherungswesen in Köln 1700–1815 (Untersuchungen über das Spar-, Giro- und Kreditwesen, Abt. A: Wirtschaftswissenschaft 84). Berlin 1976.

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den gesamten europäischen Kontinent aufzubauen, wie zuletzt an einem Beispiel eindrucksvoll dargelegt wurde.7 Die ersten öffentlichen Bankgründungen dienten der Sicherung des Wechselhandels, der in jener Zeit durch Münzverschlechterung und -manipulation gefährdet war. Die in Hamburg (1619) und Nürnberg (1621) nach dem Vorbild der Amsterdamer Wisselbank gegründeten Giro- und Wechselbanken zogen in jenen Städten sämtliche Wechselgeschäfte, die einen bestimmten Wert überschritten, an sich und begegneten den Wertschwankungen der Münzen durch die Einführung einer Buchwährung, in der die kontoführenden Händler ihre Wechselgeschäfte abwikkeln konnten. Sie fungierten also in Wirklichkeit vor allem als Clearing-Stelle für die ortsansässigen Kaufleute und weniger als Banken. Ein anderer Weg der Spezialisierung ist bei der Entstehung des Hoffaktorwesens seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs zu beobachten, für das jedoch keine neueren Untersuchungen vorliegen.8 Nicht zuletzt mangels Alternativen bei der Wahl ihrer Tätigkeit nahmen jüdische Geldverleiher – wie sich anhand zahlreicher Beispiele zeigen lässt – äußerst risikoreiche Kreditbeziehungen zu den fürstlichen Landesherren auf. Diese benötigten aufgrund der Zerstörungen des Krieges und der steigenden Haushaltsausgaben große Kapitalien, erwiesen sich aber häufig als schlechte Schuldner. Die jüdischen Hoffaktoren refinanzierten die von ihnen ausgegebenen Kredite durch Geldwechselgeschäfte, Depositengeschäfte und mit Hilfe weitreichender Familienbeziehungen. Eng verbunden mit der Betrachtung des Hoffaktors ist der Blick auf die Entwicklung der Staatsfinanzen und des Staatsschuldenwesens. Auf dem Gebiet des Agrarkredits begann die Ausbildung eines institutionell organisierten Kreditsystems im 18. Jahrhundert in Preußen mit der Schaffung der „Landschaften“, die den Kreditbedarf der Rittergutsbesitzer decken und damit zur Stabilisierung dieser Gesellschaftsschicht beitragen sollten, die nach Missernten und durch die Auswirkungen des Siebenjährigen Kriegs in Not geraten war. Die „Landschaften“ waren ständisch-genossenschaftliche Zwangsvereinigungen der adligen Großgrundbesitzer. Sie vergaben mit wohlwollender Unterstützung des Landesherrn günstige Kredite zur Ablösung teurer Kredite, zum Grundbesitzerwerb und zur Finanzierung von Meliorationen an ihre Mitglieder. Die „Landschaften“ wirtschafteten nicht gewinnorientiert und refinanzierten sich durch die Ausgabe von „landschaftlichen Pfandbriefen“, deren Deckung die der Solidarhaftung der Mitglieder war; sie wurden meist von städtischen Kapitalgebern erworben. Die Pfandbriefe wurden in aller Regel dem kreditnehmenden Gutsherrn übergeben, der dann selbst einen Gläubiger ausfindig machen musste, dem er sie gegen Bargeld übergeben konnte.9 Die „Landschaften“ waren zwar keine Banken im modernen Sinne, sind 7 8 9

Friedrich Zellfelder: Das Kundennetz des Bankhauses Gebrüder Bethmann, Frankfurt am Main, im Spiegel der Hauptbücher (1738–1816) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 56). Stuttgart 1994. Daher weiter grundlegend: Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Geschichte und System der Hoffaktoren an deutschen Fürstenhöfen im Zeitalter des Absolutismus. 6 Bände. Berlin 1953–1967. Willi A. Boelcke: Der Agrarkredit in deutschen Territorialstaaten vom Mittelalter bis Anfang

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aber aufgrund ihrer Organisationsform und ihres Instrumentariums (Entwicklung des Pfandbriefs als Refinanzierungsinstrument) als Vorläufer des modernen Hypothekarkreditwesens anzusehen. Wenn auch die Leihhäuser nicht zu den eigentlichen Vorläufern der modernen Banken gezählt werden können (sie fallen eher in den Bereich der kommunalen Fürsorgeeinrichtungen) und für die zukünftige Entwicklung des Kreditwesens nicht wegweisend waren, soll dennoch kurz auf ihre Erforschung hingewiesen werden, da sie immerhin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig zusammen mit Sparkassen gegründet wurden bzw. mit diesen vorübergehend eine verwaltungsmäßige und geschäftliche Einheit bildeten.10 II. 19. und 20. Jahrhundert II. 1. Bankwesen Die Entwicklung des Bankwesens im Industriezeitalter rückte erst spät in den Blickpunkt der Historiker und ist daher als ein noch junger Zweig der Wirtschaftsgeschichte anzusehen, der jedoch in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung erlebte. Auf den relativ kurzen Forschungszeitraum ist es auch zurückzuführen, dass bisher nur wenige Versuche unternommen wurden, den Forschungsstand in Überblicksdarstellungen zusammenzufassen. Die wenigen existierenden Überblickswerke geben zum Teil lediglich einen älteren Forschungsstand wieder;11 immerhin wurden mittlerweile für einzelne Zeiträume zusammenfassende Untersuchungen vorgelegt, die jedoch meist einzelne Aspekte des Bankwesens in den Vordergrund des Interesses stellen.12 Auch die Erforschung der Bankengeschichte aus des 18. Jahrhunderts, in: Michael North (Hg.): Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Köln/Wien 1991, S. 193–213; Maria Blömer: Die Entwicklung des Agrarkredits in der preußischen Provinz Westfalen im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 16). Frankfurt a. M. 1990. 10 Wolfgang Kellner: Das Fürstliche Leyhaus zu Braunschweig, in: VSWG 51 (1964), S. 302– 369.; vgl. dazu auch die entsprechende Literatur über die Frühzeit der Sparkassenentwicklung. 11 Karl Erich Born: Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1976; Wissenschaftlicher Beirat des Instituts für bankhistorische Forschung e.V. (Hg.): Deutsche Bankengeschichte, Band 2 und 3. Frankfurt a. M. 1982 und 1983; Eckhard Wandel: Banken und Versicherungen im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 54). München 1990; die einzelnen Länderkapitel in: Pohl (Hg.), Europäische Bankengeschichte (wie Anm. 1); verwiesen sei an dieser Stelle auf den jährlichen Rezensionsbericht über bankhistorische Neuerscheinungen in der Zeitschrift „Bankhistorisches Archiv. Zeitschrift zur Bankengeschichte“. 12 Richard Tilly: An Overview on the Role of the Large German Banks up to 1914, in: Youssef Cassis (Hg.): Finance and Financiers in European History, 1880–1960. Cambridge 1992, S. 93– 112; Gerald D. Feldman: Banks and Banking in Germany after the First World War: Strategies of Defence, in: Ebd., S. 243–262; Carl-Ludwig Holtfrerich: Zur Entwicklung der deutschen Bankenstruktur, in: Deutscher Sparkassen- und Giroverband (Hg.): Standortbestimmung. Entwicklungslinien der Kreditwirtschaft. Stuttgart 1984; Gerd Hardach: Banking in Germany, 1918–1939, in: Charles H. Feinstein (Hg.): Banking, Currency, and Finance in Europe between the Wars. Oxford 1995, S. 269–295; Theo Balderston: German Banking between the Wars. The

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regionaler Perspektive steckt noch in ihren Anfängen und bedarf – nicht zuletzt was die theoretische Erfassung der Beziehungen zwischen Banken und regionaler Wirtschaft und Gesellschaft betrifft – noch grundlegender Anstrengungen.13 Da es die Bankengeschichte in erster Linie mit Unternehmen als Forschungsgegenstand zu tun hat, kann der bankhistorisch Interessierte von zahlreichen Festschriften profitieren, die von den einzelnen Kreditinstituten zu bestimmten Anlässen veröffentlicht wurden. Schon viel ist über die sogenannten „Jubelschriften“ gesagt worden, mit denen ohne Distanz zum Untersuchungsobjekt vor allem die Absicht verfolgt wurde, die Leistungen der jeweiligen Bank öffentlichkeitswirksam herauszustellen. Und in der Tat stellen bis heute Festschriften, die von unabhängigen Fachleuten und Forschern verfasst wurden und wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, eine kleine Minderheit dar. Dennoch bietet auch die Vielzahl der übrigen Publikationen – bei sorgfältiger Abwägung des Aussagewertes – mitunter wertvolle Informationen, z. B. was statistische Daten oder technisch-organisatorische Angelegenheiten betrifft, die auf anderem Wege nur mühsam gewonnen werden könnten. II. 1. 1. Bankenkrisen Ihren Einzug in die deutsche akademische Forschung hielt die Bankengeschichte erst 1967 mit der Untersuchung von Karl Erich Born über die Bankenkrise in Deutschland Anfang der 1930er Jahre.14 Die Wahl der Thematik lag nahe, war die Bankenkrise doch eines der markantesten Ereignisse in der Geschichte der deutschen Kreditwirtschaft, dessen Wirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft ausstrahlten und die weitere Entwicklung des Kreditsystems wesentlich beeinflussten. Dass der Stabilität bzw. Instabilität des Bankensystems hohe Bedeutung beigemessen wird, resultiert aus der besonderen Stellung des Bankwesens in einer modernen Volkswirtschaft. Denn anders als Krisensituationen bei Unternehmen anderer Wirtschaftsbereiche kann der drohende Kollaps einer Bank durch eine Kettenreaktion zu einer Gefährdung von anderen Banken oder gar des gesamten Währungssystems führen: Ein Verlust des Vertrauens in die Zahlungsfähigkeit der Banken kann Sparer und Depositare veranlassen, in einem „Run“ auf die Bankschalter ihre Gelder massenhaft zurückzufordern. Kaum ein anderes Ereignis in der Geschichte des deutschen Kreditwesens ist so nachhaltig in das „kollektive Gedächtnis“ eingegangen wie die Krise von 1931. Ihre Crisis of the Credit Banks, in: BHR 66 (1991), S. 565–581; Hans Pohl (Hg.): Geschichte der deutschen Kreditwirtschaft seit 1945. Frankfurt a. M. 1998. 13 Erste Ansätze: Erich Achterberg: Kleine Hamburger Bankengeschichte. Hamburg 1964; Manfred Pohl: Hamburger Bankengeschichte. Mainz 1986; ders.: Baden-Württembergische Bankgeschichte. Stuttgart 1992; Olaf Schmidt: Bankwesen und Bankpolitik in den Freien Hansestädten um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 10). Frankfurt a. M. 1988; Holtfrerich, Finanzplatz Frankfurt (wie Anm. 6); Hans Weber: Der Bankplatz Berlin. Köln/Opladen 1957; Pohl (Hg.), Finanzplatz Berlin (wie Anm. 6); als Beispiel für die Darstellung einer regional operierenden Aktienbank: Willi A. Boelcke: 125 Jahre Baden-Württembergische Bank. Auch eine Geschichte des guten Geldes. Stuttgart 1996. 14 Karl Erich Born: Die deutsche Bankenkrise 1931. Finanzen und Politik. München 1967.

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wissenschaftliche Analyse, die auch bei Wirtschaftswissenschaften großes Interesse findet,15 ist jedoch auch mehr als dreißig Jahre nach der Veröffentlichung des Werkes von Born noch nicht abgeschlossen, wie das Erscheinen neuerer Arbeiten zeigt.16 Vor allem die Ursachen der Krise sind nach wie vor umstritten, wobei es sich in erster Linie um die Frage handelt, ob das marktorientierte Bankensystem an strukturimmanenten Schwächen scheiterte oder ob der Staat, d. h. Reich, Länder und Kommunen, durch sein außen-, finanz- bzw. währungspolitisches Verhalten zu einer Destabilisierung des Bankensystems maßgeblich beitrug. Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb von Bedeutung, weil sie die Gestaltung von Vorsichtsmaßnahmen zur Vermeidung zukünftiger Krisen beeinflusst: Gibt man den Banken – seien es private oder öffentlich-rechtliche – die Hauptschuld für diese und ähnliche Krisenerscheinungen, so scheint die Ausweitung der staatlichen Aufsicht und Regulierung im Bankwesen angezeigt. Macht man dagegen die Politik des Staates bzw. sogar seine Regulierungsbemühungen im Bankensektor verantwortlich, wird man staatlichen Kontrollfunktionen erheblich kritischer gegenüberstehen. Außer der Bankenkrise des Jahres 1931 sind Krisenerscheinungen des deutschen Bankwesens bisher nur sporadisch behandelt worden.17 II. 1. 2. Geschäftsbanken Aktienbanken Am Beginn der bankhistorischen Forschung stand die Untersuchung der institutionellen Entstehungsgeschichte des Bankensystems, dessen Wahrnehmung seit Ende des 19. Jahrhunderts von den Aktiengroßbanken geprägt wird. Dementsprechend 15 Weitere Titel zur Bankenkrise von 1931: Harold James: The Causes of the German Banking Crisis 1931, in: Economic History Review (1983), S. 68–87; Joachim Blatz: Die Bankenliquidität im Run 1931. Statistische Liquiditätsanalyse der deutschen Kreditinstitutsgruppen in der Weltwirtschaftskrise 1929–1933 (Bankwirtschaftliche Sonderveröffentlichungen des Instituts für Bankwirtschaft und Bankrecht an der Universität zu Köln 16). o. O., o. J.; Rolf E. Lüke: 13. Juli 1931. Das Geheimnis der deutschen Bankenkrise. Frankfurt a. M. 1981; Otmar Escher: Die Wirtschafts- und Finanzkrise in Bremen 1931 und der Fall Schröderbank (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 11). Frankfurt a. M. 1988; mit ausführlichen Kapiteln zur Bankenkrise: Harold James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936. Stuttgart 1988; Theo Balderston: The Origins and Course of the German Economic Crisis. November 1923 to May 1932 (Schriften der Historischen Kommission zu Berlin 2). Berlin 1993; Rainer Meister: Die große Depression. Zwangslagen und Handlungsspielräume der Wirtschafts- und Finanzpolitik in Deutschland 1929–1932 (Kölner Schriften zur Sozial- und Wirtschaftspolitik 11). Regensburg 1991. 16 Albert Fischer: „Schuld und Schicksal“ in der Bankenkrise – eine westdeutsche Perspektive, in: VSWG 86 (1999), S. 181–209; ders.: Der Kollaps vor dem Kollaps. Zwei Akzentverschiebungen in Sachen Bankenkrise, in: Bankhistorisches Archiv 25 (1999), S. 5–22; Christoph Kaserer: Die deutsche Bankenkrise von 1931 – Marktversagen oder Staatsversagen?, in: Bankhistorisches Archiv 26 (2000), S. 3–26; Theo Balderston: The Banks and the Gold Standard in the German Financial Crisis of 1931, in: Financial History Review 1 (1994), S. 43–68. 17 Richard H. Tilly (Hg.): Bankenkrisen in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Geld und Kapital 3). Stuttgart 1999; Christoph Kaserer: Der Fall der Herstatt-Bank 25 Jahre danach. Überlegungen zur Rationalität regulierungspolitischer Reaktionen unter besonderer Berücksichtigung der Einlagensicherung, in: VSWG 87 (2000), S. 166–192.

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stand die Frage im Mittelpunkt, warum und auf welche Weise sich gerade eine Reihe junger Aktienbanken seit der Liberalisierung des Aktienrechts Anfang der 1870er Jahre gegen die Konkurrenz der regional bzw. international operierenden Privatbankhäuser durchsetzen, sie in wesentlichen Bereichen zurückdrängen und sich zu Großbanken entwickeln konnte. Einzeldarstellungen der Großbanken gibt es meist in Form von Festschriften, die aber mit wenigen Ausnahmen18 kaum wissenschaftlichen Ansprüchen genügen – eine Rückständigkeit gegenüber der angelsächsischen Forschung, die inzwischen eine Reihe ausgezeichneter Einzeldarstellungen hervorgebracht hat. Da zurzeit diesbezügliche Forschungsarbeiten im Gange sind, wird sich der Forschungsstand jedoch in absehbarer Zeit verbessern. Eng verbunden mit dem Aufstieg der Aktienbanken ist die Frage nach der Durchsetzung des Universalbankprinzips in Deutschland, das den Aktienbanken (mit Ausnahme der Realkreditinstitute) im Gegensatz zum Trennbankensystem (Großbritannien) alle Arten des Kreditgeschäfts erlaubt, z. B. den kurzfristigen Handelsund Betriebsmittelkredit, den mittel- und langfristigen Investitionskredit, das Emissionsgeschäft, den Effektenhandel und das Depositengeschäft.19 In Anlehnung an die Studie von Gerschenkorn über „ökonomische Rückständigkeit in historischer Perspektive“20 wurde der Erfolg der Universalbanken in einer globalen These auf die „relative“ Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft zurückgeführt, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein durch eine nur wenig konzentrierte Nachfrage nach Kapital und eine geringe Streuung der Ersparnisse in der Bevölkerung gekennzeichnet gewesen sei. Als seit den 1850er Jahren die Investitionsanforderungen der Unternehmen der neuen Industrien erheblich anstiegen, hätten die Universalbanken als „Privatbankiers von erhöhter Potenz“ aufgrund ihres besonderen Potentials zur Kapitalakkumulation und Kreditvergabe diesem Bedürfnis am besten entsprochen; sie seien in der Lage gewesen, durch ihr umfassendes Engagement zu einem Gutteil die nur spärlich vorhandene Unternehmerschicht zu „ersetzen“ und sich zu einem „Führungssektor“ im Industrialisierungsprozess zu entwickeln.21 Namentlich das Engagement im Kreditgeschäft mit Industrieunternehmen und das Akquirieren von 18 Lothar Gall/Gerald D. Feldman/Harold James/Carl-Ludwig Holtfrerich/Hans E. Büschgen: Die Deutsche Bank 1870–1995. München 1995; Hans G. Meyen: 120 Jahre Dresdner Bank. Unternehmens-Chronik 1872 bis 1992. Frankfurt a. M. 1992. 19 Manfred Pohl: Entstehung und Entwicklung des Universalbanksystems. Konzentration und Krise als wichtige Faktoren (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 7). Frankfurt a. M. 1986. 20 Alexander Gerschenkorn: Economic Backwardness in Historical Perspective. Cambridge/Mass. 1962. 21 Richard Tilly: Zur Entwicklung des Kapitalmarktes und Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: VSWG 60 (1973), S. 146–165; ders.: German Banking, 1850–1914: Development Assistance for the Strong, in: JEEH 15 (1986), S. 113–152; ders.: Zur Entwicklung der deutschen Universalbanken im 19. und 20. Jahrhundert. Wachstumsmotor oder Machtkartell?, in: Sidney Pollard/Dieter Ziegler (Hg.): Markt, Staat, Planung. Historische Erfahrungen mit Regulierungs- und Deregulierungsversuchen der Wirtschaft. St. Katharinen 1992, S. 128–156; Dieter Ziegler: The Influence of Banking on the Rise and Expansion of Industrial Capitalism in Germany, in: Teichova/Kurgan-van Hentenryk/Ziegler (Hg.), Banking, Trade and Industry (wie Anm. 1), S. 131–156.

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Einlagen dank des Aufbaus eines umfangreichen Filialnetzes werden als Erfolgsfaktoren gewertet.22 Neuere Forschungsansätze, die sich theoretische Arbeiten aus der Wirtschaftswissenschaft, u. a. aus der Institutionenökonomie, zu Nutze machen, stellen die Vorstellung, dass die „relative“ gesamtwirtschaftliche Rückständigkeit entscheidend für die Durchsetzung des Universalbankprinzips gewesen sei, grundsätzlich in Frage. Sie machen geltend, dass für diesen Prozess eher soziale, politische und aufsichtsrechtliche Aspekte ausschlaggebend gewesen seien, und überdies viele Vorteile, die Universalbanken zugeschrieben würden, in Wirklichkeit nicht von der Beschaffenheit des Bankensystems abhingen, wie ein Vergleich mit andersartigen Systemen zeige. Insofern hätten die Universalbanken als „Typus“ nicht in außergewöhnlicher Weise zum Wirtschaftswachstum beigetragen. Im Gegenteil wird darauf hingewiesen, dass Universalbanken anders als Investmentbanken des Trennbankensystems verstärkt zu Risikoscheu neigen und unter bestimmten Umständen sogar zu einer Gefahr für die Stabilität des gesamten Finanzsystems werden können.23 Forschungsansätze, die zur Klärung dieser Frage beitragen können, müssen den Blick auf das Innere des Bankbetriebs richten und versuchen, neben den Vorteilen des Universalbankbetriebs auch die „Kosten“ zu ermitteln. Sie stecken allerdings erst in den Anfängen und erfordern noch grundlegende systematische Untersuchungen, obwohl sie eigentlich unmittelbar an die Anfänge der Bankenforschung anknüpfen. Tatsächlich bleibt die grundlegende Frage zu klären, in welchem Maße Rekrutierungsmodi, Führungsstile und Geschäftsstrategien (Informationsverarbeitung, Einführung von Innovationen etc.) zum Erfolg oder Misserfolg von deutschen Großbanken oder von Auslandsbanken in Deutschland beigetragen haben.24 Eng verbunden mit dem Wachstum der Aktiengroßbanken ist auch die Frage nach dem Verlauf der Konzentrationsbewegungen, die im Bankwesen so ausgeprägt waren wie in nur wenigen anderen Wirtschaftsbereichen. Man hat verschiedene Konzentrationsbewegungen ausgemacht, die sich quantitativ und qualitativ un-

22 Wilfried Feldenkirchen: Kapitalbeschaffung in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets, in: ZUG 24 (1979), S. 39–81; ders.: Zur Kapitalbeschaffung und Kapitalverwendung bei Aktiengesellschaften des deutschen Maschinenbaus im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: VSWG 69 (1982), S. 38–74. 23 Caroline Fohlin: The Universal Banks and the Mobilization of Capital in Imperial Germany, in: Philip L. Cottrell/Gerald D. Feldman/Jaime Reis (Hg.): Finance and the Making of Modern Capitalism. Aldershot 1997; dies.: Universal Banking in Pre-World War I Germany: Model or Myth?, in: Explorations in Economic History 36 (1999), S. 305–343; Charles W. Calomiris: The Costs of Rejecting Universal Banking: American Finance in the German Mirror, 1870– 1914, in: Naomi R. Lamoreaux/Daniel M. G. Raff (Hg.): Coordination and Information. Chicago 1995, S. 257–321. 24 Carsten Hartkopf: Die Geschäftspolitik amerikanischer Banken in Deutschland, 1960–1990 (Europäische Hochschulschriften V, 2701). Frankfurt a. M. u. a. 2000; Morten Reitmayer: Führungsstile und Unternehmensstrategien deutscher Großbanken vor 1914, in: ZUG 46 (2001), S. 160–180; Institut für bankhistorische Forschung (Hg.): Internationalisierungsstrategien von Kreditinstituten (Bankhistorisches Archiv, Beiheft 42). Stuttgart 2003.

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terscheiden und in mehrere Phasen einteilen lassen.25 Zu einer ersten Konzentrationswelle kam es zwischen 1895 und 1914, als Interessengemeinschaften zwischen Großbanken und Provinzbanken geschlossen wurden und besonders die Provinzaktienbanken verstärkt kleinere Bankhäuser übernahmen. Die Großbanken begannen mit dem Aufbau eines Filialnetzes erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durch Fusion mit lokalen und Provinzbanken. Zwischen 1914 und 1932 fand der stärkste Konzentrationsprozess statt, als die Großbanken zahlreiche Provinzbanken übernahmen und auch erstmals größere Aktienbanken fusionierten. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ist von zwei Vorgängen geprägt: einerseits der Konzentration im Sparkassen- und Genossenschaftsbereich, durch die als unrentabel erachtete kleinere Kreditinstitute beseitigt werden sollten, und andererseits von der Konzentration durch die Übernahme von Spezialinstituten durch die Großbanken (z. B. „Hypothekenbankkarussell“ Anfang der 1970er Jahre). Beide Erscheinungen sind bisher noch nicht näher untersucht. Die Fokussierung in der Wahrnehmung des deutschen Kreditwesens auf die Großbanken brachte es mit sich, dass in der öffentlichen Diskussion in regelmäßigen Abständen das Schlagwort der „Macht der Banken“ auftauchte, das schließlich auch die historische Forschung angeregt hat. Gemeint ist damit, dass mit der Konzentration von Geschäftsfeldern und Geschäftsvolumina in den großen Universalbanken eine massive Machtballung einhergegangen sei, die es den Großbanken erlaubt habe, ihre Interessen gegenüber Kunden und Konkurrenten in volkswirtschaftlich schädlichem Maße durchzusetzen. Angeführt werden von den Kritikern des Universalbanksystems zum Beispiel folgende Schwächen: Innerhalb des Universalbanktyps kann es zu erheblichen Interessenkollisionen kommen, da diese Unternehmen gleichzeitig verschiedenartige Bankgeschäfte betreiben. So kann die gleichzeitige Ausführung des Effekten(kommissions)geschäfts und des Industriekreditgeschäfts die Universalbanken in die Lage versetzen, sich oder bevorzugten Kunden durch Insider-Wissen Vorteile zu verschaffen. Auch wird die personelle (Aufsichtsratsmandate) und finanzielle Verflechtung der Kreditinstitute mit Nicht-Banken, insbesondere mit Industrieunternehmen, ebenso beargwöhnt wie das Recht der Banken, ein Depotstimmrecht für ihre Aktionäre auszuüben. Obwohl solche Vorwürfe seit Ende des 19. Jahrhunderts im Raum standen, wurden erst spät die ersten historischen Untersuchungen darüber vorgelegt, wie weit die Macht der Großbanken bei den industriellen Kunden nun tatsächlich reichte.26 Dabei kam man für die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik anhand von Fallstudien – vorwiegend über Unternehmen der kapitalintensiven Schwer25 Manfred Pohl: Konzentration im deutschen Bankwesen (1848–1980) (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 4). Frankfurt a. M. 1982. 26 Volker Wellhöner: Großbanken und Großindustrie im Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 85). Göttingen 1989; Harald Wixforth: Banken und Schwerindustrie in der Weimarer Republik (Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 1). Köln/Wien/Weimar 1995; Volker Wellhöner/Harald Wixforth: Unternehmensfinanzierung durch Banken – Ein Hebel zur Etablierung der Bankenherrschaft? Ein Beitrag zum Verhältnis von Banken und Schwerindustrie in Deutschland während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Dietmar Petzina (Hg.): Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung (Schriften des Vereins für Socialpolitik 196). Berlin 1990, S. 11–33.

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industrie, mit denen die Großbanken bevorzugt ihre Geschäfte abschlossen – zu differenzierten Bewertungen. Demnach ist die Vorstellung einer branchenübergreifenden oder gar gesamtwirtschaftlichen „Herrschaft der Banken über die Industrie“ kaum noch zu halten. Weder konnten die Banken über einen längeren Zeitraum ihren Zinsanteil an den Unternehmensprofiten oder ihre Gewinnmargen bei den Kapitalmarkttransaktionen der Unternehmen erhöhen noch waren sie in der Lage, entscheidenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Unternehmen zu nehmen, obwohl Letzteres durchaus versucht wurde. Letztlich war die Bedeutung der einzelnen Bank für die direkte und indirekte Finanzierung eines Großunternehmens im Allgemeinen zu begrenzt und die Konkurrenz zwischen den Banken trotz Konzentration zu hoch, um die Geschäftspolitik der Großunternehmen für längere Zeit tatsächlich maßgeblich zu beeinflussen. Ausnahmen bestätigen zwar auch hier die Regel, und besonders in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg erkämpften sich die Großbanken wichtige Positionen in der Wirtschaft. Aber da bei der Schwerindustrie in der Regel der Bankeneinfluss begrenzt blieb, gilt dies aller Wahrscheinlichkeit nach um so mehr für den Rest der Wirtschaft – ganz abgesehen davon, dass die Abwehr externer Kräfte, wie des Bankeneinflusses, zu den wichtigsten unternehmerischen Zielen der Industrieunternehmen zählte. Weit weniger intensiv als den Universalbanken des Kaiserreichs widmete sich die Forschung den Kreditbanken auf Aktienbasis, die in einer ersten Gründungsphase bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Finanzierung von Handel und Industrie bzw. für die Ausübung des Emissions- und Gründungsgeschäfts gegründet worden waren.27 In jener Zeit bedurfte die Gründung einer Aktiengesellschaft noch der Konzessionierung durch die Obrigkeit, die diese jedoch aus Vorbehalten gegenüber dem „anonymen Kapital“ nur punktuell gewährte – erst die Liberalisierung des Aktienrechts Anfang der 1870er Jahre machte Schluss mit dem Konzessionierungszwang. Die erste Aktienbank entstand in Preußen im Jahre 1848, als das in Not geratene Kölner Privatbankhaus Schaaffhausen in einer Rettungsaktion in eine Aktienbank umgewandelt wurde; aufgrund der besonders von der preußischen Obrigkeit nur mit äußerster Vorsicht gehandhabten Konzessionierung gab es bis 1870 nur wenige Neugründungen, die häufig in der Rechtsform von Kommanditgesellschaften auf Aktien (z. B. die Disconto-Gesellschaft und die Berliner HandelsGesellschaft) vorgenommen wurden, um so den Vorbehalten gegen die Aktiengesellschaft zu begegnen. Die Banken auf Aktienbasis waren das Ergebnis von Bemühungen fortschrittlich gesinnter Unternehmer, die mit der Durchsetzung der neuen Unternehmensform, die im westlichen Ausland bereits im Bankgeschäft eingesetzt wurde, zur Förderung der Industrie in den gewerbereichen Regionen beitragen wollten – zuweilen 27 Walther Däbritz: Gründung und Anfänge der Disconto-Gesellschaft, Berlin. Ein Beitrag zur Bank- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands in den Jahren 1850 bis 1875. München/Berlin 1931; Disconto-Gesellschaft (Hg.): Die Disconto-Gesellschaft 1851–1901. Denkschrift zum 50jährigen Jubiläum. Berlin 1901; John M. Kleeberg: The Disconto-Gesellschaft and German Industrialization. A Critical Examination of the Career of a German Universal Bank, 1851– 1914 (unveröffentl. Manuskript). Oxford 1989; Berliner Handelsgesellschaft (Hg.): Die Berliner Handels-Gesellschaft in einem Jahrhundert deutscher Wirtschaft, 1856–1956. Berlin 1956.

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unterstützt von dem jeweiligen Landesherrn, wie im Falle der Bank für Handel und Industrie, Darmstadt, der vierten Bankengründung auf Aktienbasis mit überregionaler Bedeutung. Da jedoch die meisten in jener Zeit gegründeten Aktienbanken Notenbanken waren, werden diese in dem entsprechenden Abschnitt behandelt. Abschließend sollen noch jene Institute Erwähnung finden, die entweder als spezialisierte Konzernbanken errichtet oder von der Privatwirtschaft als Spezialinstitute zur Unternehmensfinanzierung gegründet wurden. Die Tätigkeit von Konzernbanken, die aufgrund ihrer jeweils besonderen Geschäftsausrichtung große Unterschiede aufweisen, wurde an den Beispielen der Metallbank (zur Metallgesellschaft gehörig) und der Continentalen Handelsbank (zum Deutschen Kalisyndikat gehörig) dargestellt.28 Die Industriekreditbank AG bietet den Fall einer Bank, die zwar von deutschen Unternehmen als Bank in privatem Eigentum gegründet und nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen geführt wurde; sie hat aber im Laufe der Zeit verschiedenartige Aufgaben übernommen, die weit in den öffentlich-rechtlichen Bereich hineinragten, aber vom Staat auf die Privatwirtschaft übertragen worden waren. So wurde das Kreditinstitut im Jahre 1924 als Bank für deutsche Industrie-Obligationen (Bafio) von 16 Unternehmen und 18 Banken gegründet, um die Finanzierung der von der deutschen Industrie übernommenen Reparationsverpflichtungen sicherzustellen. In den 1930er Jahren wurde die Bank – schon mit der Firma „Industriebank“ – in Maßnahmen zur Schuldenkonsolidierung der Landwirtschaft eingebunden, vergab nach dem Zweiten Weltkrieg als „Industriekreditbank“ langfristige Kredite an die Industrie, zum Teil refinanziert durch öffentliche Mittel, und wurde schließlich in die Aufbringung der Investitionshilfe für die Grundstoffindustrie einbezogen.29 Privatbankhäuser Bis zum Aufkommen der ersten Aktienbanken Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Privatbankhäuser – abgesehen von einigen Sparkassen – die einzigen Finanziers von Handel, Handwerk und entstehender Industrie; unangefochten war ihre vorherrschende Stellung im Effektengeschäft. Privatbankhäuser waren im Grunde auch „Universalbanken“, da sie – in ihrer Gesamtheit – nahezu alle Bankgeschäfte ausführten, auch wenn dies natürlich nicht bei den einzelnen Bankhäusern der Fall war. Die Erforschung des Privatbankwesens wird dadurch erheblich erschwert, dass die Quellenlage für die weitaus meisten Bankhäuser sehr zu wünschen übrig lässt. Für das Gros der Institute, die ihre Geschäfte aufgaben oder deren Existenz als eigenständige Unternehmen durch Übernahme oder Fusion endete, gilt, dass die Quellenbestände entweder verschwunden, vernichtet oder nicht erschlossen sind. Hinzu kommt, dass die Privatbankiers keine homogene Gruppe bildeten, sondern unter sehr unterschiedlichen Bedingungen wirtschafteten, was eine „Kollektiv“-Darstel28 Stefanie Knetsch: Das konzerneigene Bankinstitut der Metallgesellschaft im Zeitraum von 1906 bis 1928 (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 6). Stuttgart 1998; Harm G. Schröter: Die Continentale Handelsbank zu Amsterdam 1919–1940. Vom Institut für Fluchtkapital zur deutschen Konzernbank, in: Bankhistorisches Archiv 27 (2001), S. 102–114. 29 Siegfried C. Cassier: Unternehmerbank zwischen Staat und Markt 1924–1995. Der Weg der IKB Deutschen Industriebank. Frankfurt a. M. 1996.

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lung dieses „Unternehmertyps“ erheblich erschwert. Die Literatur umfasst neben Einzeldarstellungen einiger Bankiers bzw. Bankhäuser nur wenige systematische Darstellungen des Privatbankwesens.30 Das Privatbankhaus war der dominierende Bankentypus im deutschen Kreditwesen bis in die 1870er Jahre. Die größeren Bankhäuser beherrschten nicht nur seit den Napoleonischen Kriegen das Staatsanleihegeschäft, sondern spielten auch die wichtigste Rolle bei der Finanzierung der entstehenden Eisenbahnlinien und der aufkommenden Industrieunternehmen. Erforscht sind die Industriegeschäfte besonders gut für die preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen, den beiden neben Sachsen und Berlin führenden Regionen während der Frühindustrialisierung.31 Noch in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der privaten Bankhäuser vermutlich spürbar an, so dass nicht von einem „Aussterben“ des Privatbankwesens nach dem Aufkommen der Aktienbanken gesprochen werden kann. Dennoch veränderte sich das Geschäftsumfeld – wenn auch je nach Geschäftsausrichtung sehr unterschiedlich – für alle Privatbanken so sehr, dass sie – was ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung betraf – merklich an Gewicht verloren. Die größten Konkurrenten schufen sich die Privatbankiers selbst, da sie bei der Gründung der großen Aktienbanken in den 1870er Jahren an führender Stelle beteiligt waren. Die Hoffnung der Privatbankiers, dass ihre Bankhäuser und die neuen Aktienban30 Den aktuellen Forschungsstand zum Thema Privatbankier findet man in: Institut für bankhistorische Forschung (Hg.): Der Privatbankier. Nischenstrategien in Geschichte und Gegenwart (Bankhistorisches Archiv, Beiheft 41). Stuttgart 2003. Als Beispiele für fundierte Einzeldarstellungen seien genannt: Friedrich Lenz/Otto Anholtz: Die Geschichte des Bankhauses Gebrüder Schickler. Festschrift zum 200-jährigen Bestehen. Berlin 1912; Michael Stürmer/Gabriele Teichmann/Wilhelm Treue: Wägen und Wagen. Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie. München/Zürich 1989; Egon Caesar Conte Corti: Der Aufstieg des Hauses Rothschild 1770–1830. Leipzig 1927; ders.: Das Haus Rothschild in der Zeit seiner Blüte 1830–1871. Leipzig 1928; Niall Ferguson: The House of Rothschild. Money´s Prophets 1798–1848. New York u. a. 1998; Thomas Weichel: Gontard & MetallBank. Die Banken der Frankfurter Familien Gontard und Merton. Stuttgart 2000; Gabriele Jachmich: Die Anfänge des Privatbankwesens in Berlin: Delbrück, Schickler & Co., in: Kristina Hübener/Wilfried G. Hübscher/Detlev Hummel: Bankgeschäfte an Havel und Spree. Geschichte – Traditionen – Perspektiven (Brandenburgische Historische Studien 6). Potsdam 2000, S. 51–68; daneben gibt es zahlreiche Festschriften verschiedener Bankhäuser, die zwar mitunter interessante Informationen liefern, aber insgesamt wissenschaftlichen Ansprüchen nur selten gerecht werden. 31 Richard Tilly: Financial Institutions and Industrialization in the Rhineland, 1815–1870. Madison 1966; Kurt Grunwald: Europe´s Railways and Jewish Enterprise. German Jews as Pioneers of Railway Promotion, in: Leo-Baeck-Institute Yearbook 12 (1967), S. 163–209; Peter Coym: Unternehmensfinanzierung im frühen 19. Jahrhundert – dargestellt am Beispiel der Rheinprovinz und Westfalens. Diss. Hamburg 1971; Wolfgang Hoth: Zur Finanzierung des Eisenbahnstreckenbaus im 19. Jahrhundert in Deutschland, in: Scripta Mercaturae 12 (1978), S. 1–19; Wilfried Feldenkirchen: Kölner Banken und die Entwicklung des Ruhrgebiets, in: ZUG 27 (1982), S. 39–81; Toni Pierenkemper: Finanzierungen von industriellen Unternehmensgründungen im 19. Jahrhundert – mit einigen Bemerkungen über die Bedeutung der Familie, in: Petzina (Hg.), Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung (wie Anm. 26), S. 69–97; Gabriele Teichmann: Das Bankhaus Oppenheim und die industrielle Entwicklung im Aachener Revier von 1836 bis 1855, in: Manfred Köhler/Keith Ulrich (Hg.): Banken, Konjunktur und Politik. Beiträge zur Geschichte der deutschen Banken im 19. und 20. Jahrhundert (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 4). Essen 1995, S. 9–23.

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ken als gleichsam gleichberechtigte Partner mit getrennten Geschäftsfeldern dauerhaft nebeneinander bestehen könnten, erfüllte sich nicht. Schon seit ungefähr 1890 wurden die privaten Bankhäuser auf breiter Basis in bestimmten Geschäftsfeldern, besonders im Kredit- und Emissionsgeschäft mit Großunternehmen, von den Aktienbanken zurückgedrängt, die sich – anders als zunächst vorgesehen – zu Universalkreditinstituten entwickelten. Die Privatbankhäuser reagierten darauf mit einer ersten Spezialisierung in Bereichen, in die die Aktienbanken und die sich ebenfalls zu Universalkreditinstituten entwickelnden Genossenschaftsbanken und Sparkassen noch nicht vorgedrungen waren. Es war der Beginn der Suche nach Nischen: Die großen Privatbanken konnten im nationalen und internationalen Anleihegeschäft eine bedeutende Stellung behaupten, verschafften sich aber auch „strategische Vorteile“ durch zahlreiche Sitze in Aufsichtsräten von Unternehmen. Kleinere Privatbanken profitierten vom Wirtschaftsaufschwung der Jahre 1895 bis 1914, der mit der Bildung erheblicher Vermögen einherging und den Privatbanken neue Kunden zuführte, deren Portfolio eine professionelle Betreuung verlangte.32 In der Zeit zwischen 1914 und 1927 sorgten in besonderem Maße drei dieser Nischen dafür, dass die Privatbanken die gesamtwirtschaftlichen, durch Weltkrieg und Hyperinflation ausgelösten Verwerfungen überstanden: der Wertpapierhandel, die Vermittlung von Auslandskrediten und schließlich die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten in zahlreichen Großunternehmen, die ein Ausdruck des „sozialen Prestiges“ und der persönlichen Integrität des jeweiligen Privatbankiers waren. Der drastische Einbruch, den das Privatbankgeschäft in Deutschland Anfang der 1930er Jahre erlitt und von dem es sich nicht mehr erholte, wurde durch wirtschaftliche und politische Faktoren verursacht: die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die Benachteiligung der Privatbanken seitens des Staates bei der Bewältigung der Bankenkrise von 1931 und schließlich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die sogenannten „Arisierungsmaßnahmen“. Das Schicksal der jüdischen Privatbankhäuser im „Dritten Reich“ bildete in den letzten Jahren einen Forschungsschwerpunkt.33 32 Klaus A. Donaubauer: Privatbankiers und Bankenkonzentration in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1932 unter besonderer Berücksichtigung der Übernahmen und Kommanditierungen der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank und der Bayerischen Disconto- und Wechsel-Bank (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 9). Frankfurt a. M. 1988; Morten Reitmayer: Aus dem Zentrum in die Nische. Privatbanken und die Unterbringung deutscher Staatsanleihen 1867 bis 1914, in: Bankhistorisches Archiv 25 (1999), S. 71–100. 33 Christopher Kopper: Privates Bankwesen im Nationalsozialismus. Das Hamburger Bankhaus M. M. Warburg & Co., in: Werner Plumpe/Christian Kleinschmidt (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht: Aspekte deutscher Unternehmens- und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 1). Essen 1992; Albert Fischer: Jüdische Privatbanken im „Dritten Reich“, in: Scripta Mercaturae 28 (1994), S. 1– 54; Keith Ulrich: Aufstieg und Fall der Privatbankiers. Die wirtschaftliche Bedeutung von 1918 bis 1938 (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 20). Frankfurt a. M. 1998; ders.: Das Privatbankhaus Simon Hirschland im Nationalsozialismus, in: Köhler/Ulrich (Hg.), Banken, Konjunktur und Politik (wie Anm. 31), S. 129–142; Julius H. Schoeps: Das Ende von Mendelssohn & Co. Ungereimtheiten bei der „Liquidierung“ bzw. „Arisierung“ einer Berliner

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Privatbankiers, aber auch Spitzenmanager der Aktienbanken, finden als Mitglieder des Wirtschaftsbürgertums auch das Interesse der sozialhistorischen Bürgertums- und Elitenforschung.34 Dieser Ansatz bietet eine Möglichkeit, über die Darstellung von Einzelfällen hinaus die Bankiers und Manager als Angehörige einer gesellschaftlichen Gruppe zu betrachten. Aufstiegsmöglichkeiten und Machtverschiebungen innerhalb der unternehmerischen Elite der Hochfinanz werden ebenso aufgearbeitet wie die sich im Verlauf der Entstehung der modernen Industriegesellschaft verdichtenden gesellschaftlichen und geschäftlichen Verflechtungen. Dies konnte bei den Spitzenvertretern zu einer wirtschaftlichen Machtballung führen, die höchstes soziales Prestige und in Einzelfällen auch großen politischen Einfluss35 mit sich brachte. Das führende Wirtschaftsbürgertum kann auch als Promotor der bürgerlichen (und jüdischen) Emanzipation angesehen werden. Die Erforschung des Judentums in Deutschland gibt vereinzelt Hinweise auf die Lebensweise der jüdischen Bankiers, die in Deutschland bis in die 1930er Jahre hinein einen überproportional großen Anteil an den Führungspersönlichkeiten im Bankwesen hatten.36 Biographien tragen sicherlich ihren Teil zur sozialgeschichtlichen Erforschung der Privatbankiers bzw. des Spitzenmanagers bei; allein sie sind rar gesät. Realkreditinstitute Neben den bereits seit dem 18. Jahrhundert existierenden „Landschaften“ und ähnlichen Kreditinstitutionen, die ausschließlich der Gutsbesitzerschicht zugute kamen und sich von Preußen aus im Laufe des 19. Jahrhunderts auf andere deutsche Staaten ausdehnten, etablierten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersPrivatbank in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Hübener/Hübscher/Hummel, Bankgeschäfte an Havel und Spree (wie Anm. 30), S. 69–85; Harald Wixforth/Dieter Ziegler: Deutsche Privatbanken und Privatbankiers im 20. Jahrhundert, in: GG 23 (1997), S. 205–235; dies.: The Niche in the Universal Banking System. The Role and Significance of Private Bankers within German Industry, 1900–1933, in: Financial History Review 1 (1994), S. 5–25; Wilhelm Winterstein: Privatbanken, in: Hans Pohl (Hg.): Das Bankwesen in Deutschland und Spanien 1860– 1960 (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 20). Frankfurt a. M. 1997, S. 87–108. 34 Morten Reitmayer: Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 136). Göttingen 1999; Dolores L. Augustine: The Banker in German Society, in: Cassis (Hg.), Finance and Financiers in European History (wie Anm. 12), S. 161–186; Hanns Hubert Hofmann (Hg.): Bankherren und Bankiers. Büdinger Vorträge 1976 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 10). Limburg a. d. L. 1978; Ingo Köhler: Wirtschaftsbürger und Unternehmer – Zum Heiratsverhalten deutscher Privatbankiers im Übergang zum 20. Jahrhundert, in: Dieter Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert (Bürgertum 17). Göttingen 2000, S. 116– 143; Rainer Liedtke: Zur mäzenatischen Praxis und zum kulturellen Selbstverständnis der jüdischen Wirtschaftselite in Deutschland: Die Hamburger Warburgs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 187–203. 35 Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurt a. M. u. a. 1978. 36 Rolf Walter: Jüdische Bankiers in Deutschland bis 1932, in: Werner E. Mosse/Hans Pohl (Hg.): Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1992, S. 78–99; Frank Bajohr: „Arisierung“ in Hamburg. Hamburg 1997; Albert Fischer: Jüdische Privatbanken im „Dritten Reich“, in: Scripta Mercaturae 28 (1994), S. 1–54.

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ten Kreditinstitute für die Bauern, die über den althergebrachten „Rentenkauf“ die Kreditmöglichkeiten im ländlichen Raum erweiterten. Durch die auf dem gesamten deutschen Gebiet sukzessive durchgeführten Maßnahmen zur Bauernbefreiung wuchs der Kreditbedarf der Bauern enorm an. Doch zunächst wurde den Bauern eine eigenständige Kreditorganisation verweigert, da man ihnen das „Schuldenmachen“ nicht zu sehr erleichtern wollte. Stattdessen erhielten sie in einigen Gebieten Zugang zu den „Landschaften“. Als es zu erheblichen Problemen und Verzögerungen der bäuerlichen Ablösezahlungen kam, wurden seit 1850 in allen preußischen Provinzen per Gesetz zeitlich begrenzte staatliche Landrentenbanken ins Leben gerufen, die diesem Problem entgegenwirken sollten. Ihre Aufgabe bestand in der Gewährung von Krediten an Bauern, die durch Ausgabe von festverzinslichen Wertpapieren, den Landesrentenbriefen, refinanziert wurden. In den Klein- und Mittelstaaten kam es darüber hinaus zur Gründung von Landeskreditkassen, die unter staatlicher Aufsicht Garantieleistungen boten und Ablösungskredite vergaben. Aufgrund der regional unterschiedlichen Ausprägungen der verschiedenen Institutionen und des Umstandes, dass es sich häufig um sehr kleine Institutionen handelte, die nur über einen oder zwei Mitarbeiter verfügten, ist eine Gesamtschau mühsam.37 Anders als die großen Universalbanken haben die Hypothekenbanken in der wirtschaftshistorischen Forschung bislang auffällig wenig Aufmerksamkeit gefunden, obwohl bereits 1835 die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank als erste Hypothekenbank gegründet wurde. Es finden sich kaum Beiträge, die nicht in Festschriften erschienen sind, so dass es über Einzelstudien hinaus kaum Literatur über die Entwicklung des Hypothekenbankwesens gibt.38 Aufgrund ihrer Bedeutung für den Kapitalmarkt auf der einen und ihrer wichtigen Rolle für die Stadtentwicklung auf der anderen Seite sind Aussagen über Hypothekenbanken auch in der Literatur über die Kapitalmarkt- bzw. Börsenentwicklung und – spärlicher – in Werken der Urbanisierungsforschung zu entdecken. Die Zurückhaltung der Historiker mag damit zusammenhängen, dass es im Hypothekenbankwesen aufgrund der speziellen Geschäftsbedingungen keine ähnlich spektakulären Konzentrations- und Zentralisationsbewegungen gegeben hat wie bei den großen Universalbanken, vielmehr die regionale Anbindung der Banken von großer Bedeutung war. Auch wenn sich München und Berlin als Zentren des Hypothekarkreditgeschäfts herausbildeten, nahm die Bedeutung der beiden Städte gemessen an der Ausweitung des gesamten Hypo37 Aus der DDR-Forschung: Edwin Sternkiker: Die Rentenbanken in Preußen. Zu ihrer Geschichte, Organisation und Rolle im Prozeß der kapitalistischen Bauernbefreiung. Diss. Rostock 1987; siehe auch: Walter Girnth: 100 Jahre Landesrentenbank. Bonn 1953. 38 Grundlegend immer noch: Knut Borchardt: Realkredit- und Pfandbriefmarkt im Wandel von 100 Jahren, in: 100 Jahre Rheinische Hypothekenbank. Frankfurt a. M. 1971, S. 105–196; darüber hinaus: Eduard Christ: Westdeutsche Bodenkreditanstalt. Ihre Geschichte und ihr Aufgabengebiet. Frankfurt a. M. 1961; Hundert Jahre Württembergische Hypothekenbank. Frankfurt a. M. 1967; Erich Achterberg: Süddeutsche Bodencreditbank. Ein Jahrhundert Werden und Wirken. Frankfurt a. M. 1971; eine Quellensammlung: Die Anfänge der Bayerischen Hypotheken- und Wechsel-Bank aus den Protokollen der Administration 1835–1850. Ausgewählt und eingeleitet von Franziska Jungmann-Stadler. München 1985.

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thekarkreditgeschäfts im Deutschen Reich schon vor dem Ersten Weltkrieg eher ab als zu. Im Deutschen Reich schuf erst das Hypothekenbankgesetz von 190039 eine einheitliche rechtliche Grundlage für die Geschäftstätigkeit der Hypothekenbanken und etablierte diese als eigenständigen Bankentypus. Zuvor waren die Hypothekenbanken häufig als Gemischtbanken konzessioniert, die neben der Gewährung von Realkrediten und der Ausgabe von Pfandbriefen auch andere Bankgeschäfte betrieben. Die Hypothekenbanken waren zunächst vorwiegend im ländlichen Kredit tätig, ehe sie den Schwerpunkt ihrer Geschäfte seit der Urbanisierungsphase, in der sie eine Blütezeit erlebten, auf das städtische Hypothekengeschäft verlagerten. Die Pfandbriefe, mit denen sich Hypothekenbanken hauptsächlich refinanzieren, sind bis heute neben den öffentlichen Anleihen (und seit jüngstem auch den Unternehmensanleihen) die wichtigsten Rentenwerte auf dem deutschen Wertpapiermarkt und stellen daher einen wichtigen Faktor der Kapitalbildung und -anlage dar. Zwar waren Universalbanken schon an der Gründung vieler Hypothekenbanken beteiligt, um auch in diesem Bankengeschäft – das sie in dieser Form selbst nicht ausüben durften und wollten – präsent zu sein. Zu einer ausgeprägten Konzentrationswelle kam es aber erst relativ spät, als sich die Bankkonzerne Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre Hypothekenbanken angliederten und später zum Teil auch in ihren Konzern eingliederten. Trotz der beachtlichen Bedeutung für den langfristigen Kredit und den Kapitalmarkt – sie stellen heute in Deutschland einen Anteil von etwa 15 Prozent am Gesamtkreditvolumen – steckt die historische Aufarbeitung des Realkreditbankwesens noch in ihren Anfängen. Öffentlich-rechtliches Kreditwesen Die Forschungen über die Entwicklung der Sparkassen von ihren bescheidenen Anfängen als Banken für die unteren Bevölkerungsschichten im frühen 19. Jahrhundert zu eigenständigen, kapitalkräftigen Universalkreditinstituten standen lange Zeit im Schatten der Beschäftigung mit dem privatrechtlichen Bankwesen. Nicht zuletzt dank eines wachsenden Interesses an der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, das so manche Sparkasse, aber auch einige Sparkassenverbände veranlasst hat, historische Forschungen anzustoßen, hat die Erforschung des Sparkassenwesens jedoch in den vergangenen beiden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung erlebt. Nunmehr liegen eine Reihe von Aufsätzen40 und vor allem Einzelstudien über Sparkassen vor, die weit über die Qualität der als „Jubelschriften“ verschrienen früheren Festschriften hinausreichen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.41 Der damit erreichte Kenntnisstand sollte zu einem weitergehenden Schritt 39 Eine Gesetzessammlung zum Hypothekenbankwesen von 1900 bis zur Gegenwart: Verband deutscher Hypothekenbanken (Hg.): 100 Jahre Hypothekenbankgesetz. Textsammlung und Materialien. Frankfurt a. M. 1999. 40 Hingewiesen sei auf die „Zeitschrift für bayerische Sparkassengeschichte“, hg. von Manfred Pix im Auftrag des Bayerischen Sparkassen- und Giroverbandes. 41 Zu den älteren Darstellungen, die man auch heute noch mit Gewinn liest, zählen: Ferdinand Carl: Die Städtische Sparkasse in Nürnberg, ihre Entstehung und Entwicklung. Nürnberg 1906; Josef Klersch: 125 Jahre Sparkasse der Stadt Köln 1826–1951. Köln 1951; als hervorragende neuere Studien seien beispielhaft angeführt: Ernst Joachim Haas: Stadt-Sparkasse Düsseldorf

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der Forschung anregen: Über den örtlich begrenzten Wirkungsbereich der einzelnen Sparkasse hinaus fehlen immer noch vergleichende Studien auf regionaler Ebene, die zur Klärung der Frage beitragen könnten, welche Wechselwirkungen es zwischen den dezentral operierenden Sparkassen und ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld gegeben hat. Für Deutschland, das sehr unterschiedlich strukturierte Wirtschaftsregionen besitzt, könnten hier noch interessante Erkenntnisse zu erwarten sein. Auf jeden Fall besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.42 Neben den Einzelstudien gibt es ebenfalls bereits grundlegende Untersuchungen des Sparkassenwesens auf gesamtstaatlicher Ebene, die über die Entwicklungsschritte der Sparkassenorganisation Aufschluss geben und mit Hilfe aggregierter Datenreihen die Wirkungen der Sparkassentätigkeit nachzeichnen.43 Sie machen 1825–1972. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der Landeshauptstadt Düsseldorf (Untersuchungen über das Spar-, Giro- und Kreditwesen, Abt. A: Wirtschaftswissenschaft 85). Berlin 1976; Friedrich Lauf: Im Zeichen des Bienenkorbes. Chronik der Frankfurter Sparkasse von 1822 (Polytechnische Gesellschaft) 1822–1981. Frankfurt a. M. 1984; Paul Thomes: Die Kreissparkasse Saarbrücken (1854–1914). Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Sparkassen Preußens (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 6). Frankfurt a. M. 1985; Josef Wysocki: 25 Thaler gut angelegt. 150 Jahre Sparkasse Krefeld. Krefeld-Uerdingen 1990; ders.: Passauer Land. Gesellschaft und Wirtschaft im Spiegel der Sparkassengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Passau 1992; Werner Abelshauser: „Zur Vorbeugung der Armuth …“. Der Kreis Herford im Spiegel seiner Sparkasse 1846–1996. Stuttgart 1996; Frank Finzel/Michael Reinhart: Spuren. 175 Jahre Sparkasse Coburg. Hauptwege, Nebenwege, Irrwege. Stuttgart 1996; Richard Merz: Stadtsparkasse Augsburg 1822–1997. Stuttgart 1997; Harald Wixforth: Bielefeld und seine Sparkassen. 175 Jahre Sparkasse in Bielefeld. Stuttgart 2000; Karl Heinrich Kaufhold (Hg.): 200 Jahre Sparkasse Göttingen 1801–2001. Älteste deutsche kommunale Sparkasse. Stuttgart 2001. 42 Erste Versuche: Marlis Lippik: Die Entstehung des Sparkassenwesens in Schleswig-Holstein 1790–1864 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 10). Neumünster 1987; Torsten Föh: Die Entwicklung des Sparkassenwesens in Schleswig-Holstein 1864– 1914 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 16). Neumünster 1988; Kristina Hübener: Geschichte und Entwicklung der brandenburgischen Sparkassen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Hübener/Hübscher/Hummel, Bankgeschäfte an Havel und Spree (wie Anm. 30), S. 191–214; Hans Pohl: Die rheinischen Sparkassen. Entwicklung und Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft von den Anfängen bis 1990. Stuttgart 2001. 43 Adolf Trende: Geschichte der deutschen Sparkassen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1957; Josef Wysocki: Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der deutschen Sparkassen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1980; Günter Ashauer: Von der Ersparungscasse zur Sparkassen-Finanzgruppe. Die deutsche Sparkassenorganisation in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1991; Jens Piorkowski: Die deutsche Sparkassenorganisation 1924 bis 1934 (Sparkassen in der Geschichte, Abt. 3, Forschung 14). Stuttgart 1997; Jürgen Mura: Entwicklungslinien der deutschen Sparkassengeschichte. 2 Bände (Sparkassen in der Geschichte, Abt. 3, Forschung 2 und 9). Stuttgart 1987 und 1995; demnächst: Untersuchungen zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte der deutschen Sparkassen im 20. Jahrhundert von Hans Pohl, Bernd Rudolph und Günther Schulz; hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die publizierten Beiträge der inzwischen jährlich stattfindenden Symposien der Wissenschaftsförderung der Sparkassen-Finanzgruppe e. V., die jeweils einen Aspekt des Sparkassenwesens in den Mittelpunkt stellen (z. B. Auslandsgeschäft, die verschiedenen Kreditarten, Personal- und Bildungswesen, Konjunktur und Krisen, Zahlungsverkehr, Einlagengeschäft etc.).

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deutlich, dass sich die einzelnen Sparkassen nicht nur zu Universalbanken fortentwickelt haben, sondern durch ihren Zusammenschluss in Sparkassenverbänden und ihre partielle Aufgabenteilung mit den Landesbanken/Girozentralen und der Deutschen Girozentrale zu einer Organisationsform gefunden haben, die sie zur stärksten Finanzgruppe in Deutschland macht. Damit ist ein verlässlicher Überblick über die Grundzüge der Sparkassengeschichte – vor allem für die Zeit bis zum Ende der Weimarer Republik – gegeben, die durch Untersuchungen über die Tätigkeit der Sparkassenverbände ergänzt wird.44 Eine genauere Analyse der Rolle der Landesbanken/Girozentralen, die sich mehr noch als die Sparkassen in dem Konfliktfeld zwischen öffentlichem Auftrag und marktwirtschaftlichem Wettbewerb bewegen, steht dagegen zum großen Teil noch aus.45 Zu den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten zählt neben den Sparkassen auch eine Anzahl verschiedenartiger Banken, die von den öffentlichen Körperschaften zu sehr unterschiedlichen Zwecken ins Leben gerufen wurden. In aller Regel dienen sie im öffentlichen Auftrag der Versorgung von bestimmten, als förderungswürdig anerkannten Wirtschaftsbereichen mit besonders günstigen Refinanzierungsangeboten und Dienstleistungen. Der Ausbau des öffentlichen Kreditwesens, der ja auch schon bei den Sparkassen und besonders bei den Landesbanken immer weiter voranschritt, wurde allerdings keineswegs nur positiv beurteilt. Seit den 1920er Jahren kritisiert das private Bankgewerbe regelmäßig in scharfer Form die immer unübersichtlicher werdenden Förderangebote der öffentlichen Banken, von denen seiner Ansicht nach eine massive Einschränkung des Wettbewerbs ausgeht. Für die historische Betrachtung ist gerade dieses Grenzfeld zwischen marktwirtschaftlichem Wettbewerb und wirtschaftspolitischen Maßnahmen reizvoll. Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung waren bisher nur wenige Banken in Staatseigentum bzw. in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts: die Preußische Seehandlung (gegr. 1772), die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Staatsbank Preußens entwickelte und gleichzeitig mit dem Auftrag, das Gewerbe in Preußen zu fördern, vorübergehend zum größten Besitzer von Gewerbebetrieben wurde, ehe sie nach der Revolution von 1848/49 zu einem reinen Bankinstitut umgewandelt wurde;46 einige Spezialinstitute zur Förderung des 44 Wolfram Dorn: Der Rheinische Sparkassen- und Giroverband 1881–1981. 100 Jahre Sparkasseneinheit. Stuttgart 1981; Manfred Biehal: Der Württembergische Sparkassenverbund 1916– 1982 (Untersuchungen über das Spar-, Giro- und Kreditwesen, Abt. A: Wirtschaftswissenschaft 119). Berlin 1984; Gabriele Jachmich: Die Geschichte des Hessischen Sparkassen- und Giroverbandes (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 18). Frankfurt a. M. 1995; Ute Haese/Torsten Prawitt-Haese: „Zur Beförderung des heilsamen Sparkassenwesens“. 100 Jahre Sparkassen- und Giroverband für Schleswig-Holstein. Stuttgart 1998. 45 Hans Pohl: WestLB. Von der Hülfskasse von 1832 zur Landesbank. Düsseldorf/Münster 1982; Albert Fischer: Die Landesbank der Rheinprovinz. Aufstieg und Fall zwischen Wirtschaft und Politik (Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 6). Köln/Weimar/Wien 1997. 46 Die Preußische Staatsbank – Seehandlung – 1772–1922. Berlin 1922; Hans-Wilhelm Rudhart: Die Preußische Staatsbank (Seehandlung) mit besonderer Berücksichtigung der letzten zwei Jahrzehnte. Diss. Würzburg 1927; Wolfgang Radtke: Die Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 30). Berlin 1981.

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Agrarkredits: die Preußische (später: Deutsche) Landesrentenbank und die Deutsche Siedlungsbank, die seit den 1920er Jahren vor allem der mittel- und langfristigen Kreditvergabe an die Landwirtschaft dienten, aber auch zahlreiche Sonderaufgaben übernahmen und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Tätigkeit auf die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in den westdeutschen Agrarsektor konzentrierten;47 die Deutsche Rentenbank, die zur Durchführung der Währungsreform 1923/24 ins Leben gerufen worden war und seit 1925 als Deutsche RentenbankKreditanstalt – mitunter in enger Zusammenarbeit mit dem Genossenschaftswesen – ebenfalls der mittel- und langfristigen Kreditvergabe zu günstigen Konditionen an die Landwirtschaft diente;48 schließlich die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die auf Initiative der anglo-amerikanischen Besatzungsmächte im Jahr 1948 gegründet wurde, um langfristige Kredite an volkswirtschaftlich besonders bedeutsame Wirtschaftsbereiche zu vergeben. Auf Wunsch der deutschen Verwaltung wurde sie als maßgebliche Vergabestelle für die im Rahmen des Marshall-Plans vergebenen ERPGegenwertmittel eingeschaltet. Sie entwickelte sich schließlich zur größten Förderbank im Besitz des Bundes mit zahlreichen Sonderaufgaben in verschiedensten Bereichen (Mittelstandsförderung, Exportfinanzierung, Finanzierung von „Entwicklungshilfe“- und von Umweltschutzprogrammen etc.).49 Andere Institute fanden bisher kaum Berücksichtigung, auch wenn sie von einiger Bedeutung waren bzw. noch sind. Dies entspricht in gewisser Weise der geringen öffentlichen Aufmerksamkeit, die diese staatseigenen Banken erfahren haben, z. B. die Kommunalbanken Anfang der 1920er Jahre, die Deutsche Ausgleichsbank (ehemals Lastenausgleichsbank. Bank für Vertriebene und Flüchtlinge), die Deutsche Verkehrs-Kredit-Bank und vor allem die Förderbanken der Länder (z. B. die Bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung, die Saarländische Investitionskreditbank, die Staatliche Kreditanstalt Oldenburg-Bremen etc.). Genossenschaftsbanken Für das Genossenschaftsbankwesen – wie die Sparkassenorganisation eine dezentral aufgebaute Finanzgruppe – fällt die Bilanz im Hinblick auf ihre historische Aufarbeitung ernüchternd aus; das historische Wissen über diesen Bankentyp steht in einem krassen Gegensatz zu seiner gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Bedeutung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Gesamtdarstellung des genossenschaftlichen Bankwesens ragen bislang wenige grundlegende Arbeiten einsam aus den ersten historischen Forschungsansätzen heraus.50 Zwar sind 47 Hans E. Büschgen: Zur Geschichte einer erfolgreichen Bank. 150 Jahre DSL Bank. Frankfurt a. M. 2000. 48 Manfred Pohl/Andrea H. Schneider: Die Rentenbank. Von der Rentenmark zur Förderung der Landwirtschaft. München 1999. 49 Manfred Pohl: Wiederaufbau. Kunst und Technik der Finanzierung 1947–1953. Die ersten Jahre der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Frankfurt a. M. 1973; Heinrich Harries: Wiederaufbau, Welt und Wende. Die KfW – eine Bank mit öffentlichem Auftrag. Frankfurt a. M. 1998; Jan Klasen: Die Kreditanstalt für Wiederaufbau und ihre Rolle bei der westdeutschen Wohnungsbaufinanzierung 1949–1967 (Studien zur Zeitgeschichte 18). Hamburg 1999. 50 Arnd Holger Kluge: Geschichte der deutschen Bankgenossenschaften. Zur Entwicklung mitgliederorientierter Unternehmen (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 17). Frank-

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im genossenschaftlichen Sektor in jüngerer Zeit einige wenige Darstellungen über einzelne Volks- und Raiffeisenbanken erschienen, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden;51 doch sind noch viele Einzelstudien notwendig, ehe weiterführende systematische Untersuchungen möglich sein werden. Erschwert werden solche Arbeiten durch den schwierigen Zugriff auf Quellen: Aufgrund der regionalen Streuung der zahlreichen Genossenschaftsbanken, der großen Aktenverluste durch Kriegseinwirkung bzw. infolge der zahlreichen Fusionen im Genossenschaftssektor und des mangelnden Interesses der oftmals kleinen Genossenschaftsbanken an der Aufbewahrung bzw. Archivierung ihrer Altakten muss sich die quellengestützte Arbeit als sehr aufwendig erweisen. Anders als bei den Sparkassen, die als öffentlich-rechtliche Kreditinstitute unter staatlicher Aufsicht standen und daher umfangreiches Aktenmaterial in öffentlichen Archiven hinterlassen haben, setzt die historische Aufarbeitung des genossenschaftlichen Bankwesens eine Verbesserung der Archivsituation in den Volks- und Raiffeisenbanken selbst voraus. Bankwesen im Nationalsozialismus Die Zeit des Nationalsozialismus wurde von der Bankgeschichtsforschung bemerkenswert lange Zeit gemieden.52 Zu einem gewissen Teil mag dies daran gelegen haben, dass die Aufarbeitung dieser Zeit durch den oftmals versperrten Weg zu den Quellen erschwert wurde. Die Banken selbst hielten sich bedeckt und gewährten kaum Zutritt zu den bedeutsamen Archivbeständen – soweit die maßgeblichen Akten überhaupt archiviert waren. Auf der anderen Seite vermutete man wichtige Quellenbestände, wie dies z. B. für die Akten des Reichswirtschaftsministeriums (als Aufsichtsbehörde der Kreditwirtschaft), der Reichsbank und der Deutschen Bank tatsächlich der Fall war, in öffentlichen Archiven außerhalb der Bundesrepublik Deutschland, die während des „Kalten Krieges“ nicht zugänglich waren. Bewegung kam erst in den 1990er Jahren in die Forschungstätigkeit, als nach dem Fall der Mauer zusätzliches Archivmaterial aus der ehemaligen DDR und den ehemaligen Ostblock-Ländern, aber auch aus den USA nach und nach verfügbar wurde. Erste Forschungsarbeiten beschäftigten sich Mitte der 90er Jahre vornehmlich mit der staatlichen Bankenpolitik, präsentierten dabei aber auch neue Erkenntnisse über die Verstrickung von Banken und Verbänden in das Wirtschafts- und Herrschaftssystem der Nationalsozialisten.53

furt a. M. 1991; ders.: Das genossenschaftliche Bankwesen in Berlin und Brandenburg, in: Hübener/Hübscher/Hummel, Bankgeschäfte an Havel und Spree (wie Anm. 30), S. 215–248. 51 Z. B. Rolf Lüer: Sozialer Anspruch und ökonomische Rationalität. Zur Geschichte des genossenschaftlichen Bankwesens im ehemaligen Kreise Winsen. Hamburg 1998. 52 Einzelaspekte des Bankwesens wurden behandelt in: Willi A. Boelcke: Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933–1948. Paderborn 1985; Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Der historische und ideologische Hintergrund. Frankfurt a. M. 1988. 53 Christopher Kopper: Zwischen Marktwirtschaft und Dirigismus. Bankenpolitik im „Dritten Reich“ 1933–1939. Bonn 1995; ders.: Kreditlenkung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Köhler/Ulrich (Hg.), Banken, Konjunktur und Politik (wie Anm. 31), S. 117–128.

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Als in einem durch das Ende des Kalten Krieges veränderten politischen und gesellschaftlichen Umfeld bei US-Gerichten Sammelklagen eingingen, mit denen Entschädigungsleistungen deutscher Unternehmen angestrebt wurden, und zugleich eine breite Öffentlichkeit auf die Tätigkeit der Kreditinstitute zwischen 1933 und 1945 aufmerksam wurde, führte dies auch bei den Banken zu einem grundsätzlichen Umdenken im Umgang mit der eigenen Vergangenheit – nicht zuletzt auf Druck der öffentlichen Meinung, die Kritik an der Zurückhaltung der Banken bei der Aufarbeitung der eigenen Geschichte geübt hatte. Besonders die Großbanken mussten sich dabei mit der seit Kriegsende in weiten Teilen der öffentlichen Meinung verbreiteten Überzeugung auseinandersetzen, sie selbst hätten in maßgeblicher Weise zur „Machtergreifung“ Hitlers, zur Finanzierung von Aufrüstung und Kriegsführung beigetragen – eine Meinung, die vor allem auf die Vorstellungen und Untersuchungen der amerikanischen Militärregierung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zurückgeht.54 Zwar wurde der Quellenwert der Materialsammlungen der Militärregierung von der Wissenschaft seit langem kritisch beurteilt, da sie sehr selektiv mit dem Ziel zusammengestellt worden waren, die Bemühungen der Amerikaner um die Bankendezentralisierung zu stützen. Doch erst in den letzten Jahren erfolgte eine umfassende Überprüfung der Bankentätigkeit, die eine genauere Beurteilung erlaubt. Der Einstellungswechsel der Kreditinstitute wurde auch an äußeren Zeichen sichtbar. Sie erleichterten den Zugang zu den Archiven bzw. trieben erst einmal den Aufbau von Archiven durch die Sammlung verstreut lagernder Aktenbestände voran. Die Großbanken gaben der Forschung darüber hinaus eigene Impulse, indem sie eine Historikerkommission (Deutsche Bank) bzw. Lehrstühle an der Technischen Universität Dresden (Dresdner Bank) und an der Humboldt-Universität Berlin (Commerzbank) mit der Erforschung ihrer Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus beauftragten. Erste Ergebnisse zu besonders sensiblen Bereichen wie der „Arisierung“, dem Goldhandel und der Tätigkeit der Banken in besetzten Gebieten liegen bereits vor;55 die Gesamtergebnisse werden in Kürze erwartet. Auch außerhalb solcher Historiker-Kommissionen intensivierten sich die Forschungen, und eine Reihe von Untersuchungen wurde vorgelegt,56 so ließ auch der Bundesverband deutscher Banken die Tätigkeit seiner Vorläuferinstitution im „Dritten Reich“ aufarbeiten.57 54 OMGUS, Finance Division, Financial Investigation Section: Ermittlungen gegen die Dresdner Bank, 1946. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. Nördlingen 1986; OMGUS, Finance Division, Financial Investigation Section: Ermittlungen gegen die Deutsche Bank, 1946/47. Hg. von Hans Magnus Enzensberger. Nördlingen 1985. 55 Johannes Bähr: Der Goldhandel der Dresdner Bank im Zweiten Weltkrieg. Dresden/Leipzig 1999; Dieter Ziegler: Die Verdrängung der Juden aus der Dresdner Bank, in: VfZG 47 (1999), S. 187–216; Harald Wixforth: Auftakt zur Ostexpansion. Die Dresdner Bank und die Umgestaltung des Bankwesens im Sudetenland1938/39 (Hannah-Arendt-Institut, Berichte und Studien 31). Dresden 2001; Jonathan Steinberg: Die Deutsche Bank und ihre Goldtransaktionen während des Zweiten Weltkrieges. München 1999; Harold James: Die Deutsche Bank und die „Arisierung“. München 2001. 56 Vgl. die in Anm. 33 angeführte Literatur; darüber hinaus: Harald Wixforth (Hg.): Finanzinstitutionen in Mitteleuropa während des Nationalsozialismus (Geld und Kapital 4). Stuttgart 2000.

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II. 1. 3. Notenbanksystem Die Ausbildung eines Notenbanksystems in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert geht mit der Entwicklung einer Währungspolitik durch den Staat einher. Aufgrund der Bedeutung der Notenbanken für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat ihre Tätigkeit nicht nur große Aufmerksamkeit bei den bankgeschichtlich spezialisierten Historikern gefunden, sondern auch bei zahlreichen Wirtschaftshistorikern und Wirtschaftswissenschaftlern – auch marxistisch-leninistischer Provenienz. Um einen Überblick über die Literaturlage zu erlangen, soll der – zugegebenermaßen schwierige – Versuch unternommen werden, sich auf die Literatur zu beschränken, die sich eingehend mit der institutionellen Entwicklung des Notenbankwesens und den Beziehungen zwischen Notenbank(en) und Geschäftsbanken beschäftigt. Die Erforschung des Geld- und Währungswesens, z. B. der mühsame Weg über Münzkonventionen und Münzunionen zu einer einheitlichen Währung in Deutschland zu gelangen, die Entwicklung von internationalen Währungssystemen usw., soll an dieser Stelle weitgehend vernachlässigt werden. Die Bemühungen um die Gründung der ersten Notenbanken spielten sich vor dem Hintergrund der umfangreichen Debatten um das Für und Wider einer Zulassung von Banknoten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab. Nach den Erfahrungen mit den in verlässlicher Regelmäßigkeit katastrophal endenden Experimenten mit Staatspapiergeld teilten sich die Gegner und Befürworter in zwei Lager: Die Gegner übertrugen die Erfahrungen mit dem Staatspapiergeld auf die Banknoten, die als papierene Wertzeichen ebenfalls der Gefahr eines rapiden Wertverlustes ausgesetzt waren. Die Befürworter sahen den Vorteil der Banknoten darin, dass sie dem Handel und den jungen Industrieunternehmen nutzen und damit die gesamtwirtschaftliche Entwicklung forcieren konnten, indem sie eine im Vergleich zum Gebrauch von Metallmünzen erhebliche Erleichterung des Zahlungsverkehrs und eine Mobilisierung von brachliegendem Kapital bewirken konnten. Nicht zuletzt hofften manche Staatsbeamten darauf, dass privilegierte und vom Staat kontrollierte Notenbanken zur Sanierung der Staatshaushalte bzw. zur Staatsfinanzierung beitragen würden. Das Bild von den zähen Auseinandersetzungen um die ersten Notenbankgründungen sowie die Darstellung der Tätigkeit der ersten Notenbanken wurden lange Zeit von älteren, noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Werken geprägt, die das Geschehen vor dem Hintergrund der preußischen Rolle bei der Nationalstaatsgründung interpretierten.58 Nachdem die historische Forschung diese

57 Harold James: Verbandspolitik im Nationalsozialismus. Von der Interessenvertretung zur Wirtschaftsgruppe: Der Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes 1932–1945. München 2001. 58 Vor allem: Walther Lotz: Geschichte und Kritik des deutschen Bankgesetzes vom 14. März 1875. Leipzig 1888 (ND Glashütten i. T. 1976); ders.: Geschichte der Deutschen Notenbanken bis zum Jahre 1857. Diss. Leipzig 1888; Heinrich von Poschinger: Bankwesen und Bankpolitik in Preussen, Band 1: Von der ältesten Zeit bis zum Jahre 1846. Berlin 1878; Band 2: Die Jahre 1846 bis 1857. Berlin 1879; Band 3: Die Jahre 1858 bis 1870. Berlin 1879 (ND Glashütten i. T. 1971).

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Entwicklungsphase lange Zeit nur sporadisch behandelt hatte,59 erweitern Studien aus der jüngsten Zeit den Blick für die Notenbankentwicklung vor 1870.60 Mit der Schaffung einer einheitlichen Währung und der Gründung der Reichsbank als zentraler Notenbank durch Umwandlung der Preußischen Bank im Jahr 1875 setzten sich nach langwierigen Auseinandersetzungen diejenigen Kräfte durch, die zugunsten eines stärkeren gesamtwirtschaftlichen Wachstums ein Ende der unübersichtlichen Währungsvielfalt forderten. Sowohl die Quellen- als auch die Literaturlage ist für die Zeit nach Errichtung der Reichsbank ungleich besser als für den vorhergehenden Zeitraum. Die Reichsbank zählte bei den umwälzenden gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen und tiefgreifenden Zäsuren in der Zeit zwischen 1875 und 1945, die sich ja zum großen Teil auf finanz- und währungspolitischem Gebiet abspielten, immer wieder zu den entscheidenden Akteuren. Ihre Tätigkeit, ihre Stellung im politischen System (Frage nach der Unabhängigkeit der Zentralbank) und die Fortentwicklung, die das notenbankpolitische Instrumentarium in jener Zeit erfuhr,61 zogen daher das Interesse zahlreicher Wirtschaftshistoriker auf sich: Der Beitrag der Reichsbank zum wirtschaftlichen Aufschwung von ihrer Gründung bis zum Ersten Weltkrieg,62 ihre Einbindung in die Finanzierung des Ersten Weltkriegs,63 ihre Rolle in der Großen Inflation,64 bei der Währungsreform 1923/ 24,65 in der Stabilisierungsphase 1925–1929 sowie in der Weltwirtschafts- und Ban59 Zum Beispiel: Hans-Ulrich Gutschmidt: Der Aufbau und die Entwicklung des Notenbankwesens in Bayern (1834–1881) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Diss. Köln 1969. 60 Jörg Lichter: Preußische Notenbankpolitik in der Formationsphase des Zentralbanksystems 1844 bis 1857 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 55). Berlin 1999; Frank Otto: Die Entstehung eines nationalen Geldes. Integrationsprozesse der deutschen Währungen im 19. Jahrhundert (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 71). Berlin 2002. 61 Dieter Lindenlaub: Auf der Suche nach einem Instrumentarium zur Kontrolle der Geldschöpfung. Notenbank und Banken in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Bankhistorisches Archiv 26 (2000), S. 117–151. 62 Manfred Seeger: Die Politik der Reichsbank von 1876–1914 im Lichte der Spielregeln der Goldwährung (Volkswirtschaftliche Schriften 125). Berlin 1968; Karl Erich Born: Der Ausbau der Reichsinstitutionen und das Notenbankproblem. Die Herstellung der Währungseinheit und die Entstehung der Reichsbank, in: Johannes Kunisch (Hg.): Bismarck und seine Zeit. Berlin 1991; für die Geschichte der Reichsbank von 1876 bis Mitte der 1920er Jahre: Gert von Eynern: Die Reichsbank. Probleme des deutschen Zentralnoteninstituts in geschichtlicher Darstellung. Jena 1928. 63 Axel Frhr. von Ruerdorffer: Reichsbank und Darlehnskassen in der Kriegsfinanzierung 1914– 18 (Bankwirtschaftliche Sonderveröffentlichungen des Instituts für Bankwirtschaft und Bankrecht an der Universität zu Köln 9). Köln 1968; Reinhold Zilch: Die Reichsbank und die finanzielle Kriegsvorbereitung 1907–1914. Berlin (Ost) 1987. 64 Carl-Ludwig Holtfrerich: Reichsbankpolitik 1918–1923 zwischen Zahlungsbilanz- und Quantitätstheorie, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (1977), S. 193–214; wichtige Ergebnisse auch in: ders.: Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive. Berlin/New York 1980. 65 Karl-Bernhard Netzband/Hans Peter Widmaier: Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther 1923–1925 (Veröffentlichungen der List Gesellschaft e. V. 32). Basel 1964; Hans Otto Schötz: Der Kampf um die Mark 1923/24. Die deutsche Währungsstabilisierung unter dem Einfluß der nationalen Interessen Frankreichs, Großbritanniens und der USA (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 68). Berlin/New York 1987.

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kenkrise66 und schließlich ihre Stellung im Wirtschaftssystem des nationalsozialistischen Regimes waren wiederholt Gegenstand des Forschungsinteresses. Einen Einblick in das währungs- und bankpolitische Wirken der Reichsbank geben die älteren, von der Reichsbank selbst verfassten Festschriften,67 während bei den neueren, von der Bundesbank herausgegebenen Bänden unabhängige Historiker und Wirtschaftswissenschaftler einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung leisten, die sich von den Anfängen des deutschen Zentralbankwesens bis in die unmittelbare Gegenwart erstreckt.68 Was die Deutsche Bundesbank betrifft, so wurde über die in den beiden Bundesbank-Publikationen erschienenen Aufsätze hinaus die Entstehungsgeschichte der Bank deutscher Länder und des Bundesbankgesetzes genau nachgezeichnet.69 Auch einige Aspekte der Tätigkeit der Bundesbank in den Nachkriegs- und Wiederaufbaujahren wurden inzwischen detailliert offengelegt.70 Ein Werk aus der Feder eines englischen Journalisten, das eine spezifisch angelsächsische Sichtweise entwikkelt, widmet sich der Tätigkeit der Bundesbank im Rahmen des europäischen Machtgefüges.71 Schließlich sind Beiträge von Wirtschaftswissenschaftlern in einem Sammelband vereinigt, die sich mit der Frage auseinandersetzen, welche Lehren aus dem Wirken der Bundesbank und ihrer Stellung innerhalb des politischen Systems für die zukünftige Gestaltung der Währungspolitik der Europäischen Zentralbank gewonnen werden können.72 66 Harold James: The Reichsbank and Public Finance in Germany 1924–1933. A Study of the Politics of Economics during the Great Depression (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 5). Frankfurt a. M. 1985; Gerd Hardach: Reichsbankpolitik und wirtschaftliche Entwicklung 1924–1931, in: Schmollers Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 90 (1970), S. 563–592; Jürgen Flaskamp: Aufgaben und Wirkungen der Reichsbank in der Zeit des Dawes-Plan. Bergisch-Gladbach 1986; Simone Reinhardt: Die Reichsbank in der Weimarer Republik. Eine Analyse der formalen und faktischen Unabhängigkeit. Frankfurt a. M. u. a. 1999; Heinz Habedank: Die Reichsbank in der Weimarer Republik. Zur Rolle der Zentralbank in der Politik des deutschen Imperialismus (Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte 12). Berlin (Ost) 1981. 67 Die Reichsbank 1901–1925. Berlin 1925; Von der Königlichen Bank zur Deutschen Reichsbank. 175 Jahre deutscher Notenbankgeschichte 20. Juli 1765 – 20. Juli 1940. Im Auftrage des Reichsbankdirektoriums bearbeitet in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Reichsbank. Berlin 1940. 68 Deutsche Bundesbank (Hg.): Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975. Frankfurt a. M. 1976; Deutsche Bundesbank (Hg.): Fünfzig Jahre Deutsche Mark. Notenbank und Währung in Deutschland seit 1948. München 1998, S. 29–89. 69 Eckhard Wandel: Die Entstehung der Bank deutscher Länder und die deutsche Währungsreform 1948 (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung 3). Frankfurt a. M. 1980; Volker Hentschel: Die Entstehung des Bundesbankgesetzes 1949–1957. Politische Kontroversen und Konflikte, in: Bankhistorisches Archiv 14 (1988), S. 3–31, 79–115. 70 Monika Dickhaus: Die Bundesbank im westeuropäischen Wiederaufbau. Die internationale Währungspolitik der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1958 (Schriftenreihe der VfZG 72). München 1996; Helge Berger: Konjunkturpolitik im Wirtschaftswunder. Handlungsspielräume und Verhaltensmuster von Bundesbank und Regierung in den 1950er Jahren (Beiträge zur Finanzwissenschaft 2). Tübingen 1997. 71 David Marsh: Die Bundesbank. Geschäfte mit der Macht. München 1992. 72 Jakob de Haan (Hg.): The History of the Bundesbank. Lessons for the European Central Bank (Routledge International Studies in Money and Banking 9). London/New York 2000.

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II. 1. 4. Staatliche Bankenpolitik Im Bereich der Wirtschaft hatte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das liberale Gedankengut in Deutschland weitgehend durchgesetzt, das dem Staat Zurückhaltung auch im Hinblick auf ein Eingreifen in den Marktmechanismus des Bankwesens auferlegte. Die krisenhaften Erscheinungen zwischen 1873 und den 1890er Jahren veranlassten den Staat, erstmals gesetzgeberisch im Bereich des Bankwesens und des Kapitalmarktes tätig zu werden. Als erstes Gesetz in diesem Bereich wurde das Börsengesetz von 1896 verabschiedet, dessen Auswirkungen auch auf den Bankensektor ausstrahlten. Es ist als eines von wenigen Gebieten des Börsenwesens und des Kapitalmarktes in den letzten Jahren umfassend erforscht worden.73 Vor dem Ersten Weltkrieg wurde darüber hinaus lediglich das bereits erwähnte Hypothekenbankgesetz aus dem Jahre 1900 erlassen. Insgesamt blieb das Bankwesen, dessen Vertreter – nicht zuletzt aufgrund der ausgeprägten internationalen Finanzverflechtungen – weiterhin überwiegend liberal gesinnt waren, anders als andere Wirtschaftsbereiche weitgehend von staatlichen Interventionen verschont. Auch die in der Vergangenheit betonte Verstrickung des Bankwesens in die „imperialistische“ Kolonialpolitik des Reichs wurde in der jüngeren Forschung stark relativiert. Bei ihrem Auslandsengagement verfolgten die deutschen Banken – ähnlich wie ihre europäischen Konkurrenten – in erster Linie eigene, d. h. betriebswirtschaftliche, Interessen, die nicht immer mit den politischen Wünschen der Reichsführung übereinstimmten. Erst in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bediente sich das Reich aus politischem Kalkül verstärkt des von den Banken entwickelten Finanzinstrumentariums. Aber auch das Zeitalter des „Imperialismus“ brachte für das Bankwesen keine Veränderung in Form von gesetzlichen Vorschriften. Wenn das Reich Einfluss auf die Banken ausüben wollte, so geschah dies vor allem auf informelle Weise, durch Absprachen, Androhung von Druckmitteln etc.74 Während des Ersten Weltkriegs konzentrierten sich die Eingriffe des Staates auf den Kapitalmarkt, wodurch für eine reibungslose Unterbringung von Kriegsanleihen gesorgt werden sollte. Sofern der Staat Einfluss auf die Banken nahm, geschah dies offenbar weiterhin auf informelle Weise. Die Folgen staatlicher Eingriffe in den Kapitalmarkt und die daraus resultierenden Auswirkungen auf das Bankwesen sind bislang ebensowenig systematisch untersucht worden wie die Versuche der Einflussnahme seitens des Staates auf die Banken.

73 Rainer Gömmel: Entstehung und Entwicklung der Effektenbörse im 19. Jahrhundert bis 1914, in: Pohl (Hg.), Deutsche Börsengeschichte (wie Anm. 6), S. 133–207; Johann Christian Meier: Die Entstehung des Börsengesetzes vom 22. Juni 1896 (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 9). St. Katharinen 1992; Wolfgang Schulz: Das deutsche Börsengesetz. Die Entstehungsgeschichte und wirtschaftlichen Auswirkungen des Börsengesetzes von 1896. Frankfurt a. M. 1994; Christoph Wetzel: Die Auswirkungen des Reichsbörsengesetzes von 1896 auf die Effektenbörsen im Deutschen Reich, insbesondere auf die Berliner Fondsbörse (Münsteraner Beiträge zur Cliometrie und Quantitativen Wirtschaftsgeschichte 4). Münster 1996. 74 Boris Barth: Die deutsche Hochfinanz und die Imperialismen. Banken und Außenpolitik vor 1914 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 61). Stuttgart 1995.

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Massive Folgen für die Entwicklung des Bankwesens hatte die staatliche Regulierungstätigkeit durch die Notverordnungen während der Bankenkrise, die für die Geschäftstätigkeit der Banken weitreichende Konsequenzen hatte. Über die Bestimmungen der Notverordnungen hinaus wurde eine systematische Regulierung des Bankwesens ins Auge gefasst, um zukünftigen Krisen vorzubeugen. Man führte also die Krisenerscheinungen zum größten Teil auf das Versagen einzelner Banken bzw. Bankmanager zurück. Zur Vorbereitung der für notwendig erachteten Regulierungsmaßnahmen wurde ein Enquete-Ausschuss ins Leben gerufen, der nach der Anhörung von Sachverständigen 1933/34 das Kreditwesengesetz ausarbeitete. Das Gesetz war eine Reaktion auf die Bankenkrise, fiel aber bereits in die Zeit des nationalsozialistischen Regimes, das in der Folgezeit mit seiner Banken- und Kapitalmarktpolitik eine umfassende Lenkung großer Teile des Finanzmarktes anstrebte. Auf die Forschungslage die Bankenkrise von 1931 bzw. ihre Folgen und die nationalsozialistische Bankenpolitik betreffend wurde bereits in den entsprechenden Abschnitten hingewiesen. Historisch erforscht sind mittlerweile auch die Versuche der Alliierten, besonders der amerikanischen Militärregierung, das Zentralbankwesen und die Großbanken nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu dezentralisieren und als wirtschaftliche und politische Machtfaktoren zu neutralisieren – ein Versuch, der nur wenig Erfolg hatte, wurden Großbanken und Zentralbank doch im Jahre 1957 wieder zu einheitlichen zentralen Unternehmen bzw. Institutionen zusammengefügt.75 II. 2. Versicherungswesen Befindet sich die Bankengeschichte innerhalb der Wirtschaftsgeschichte dank der Forschungsleistungen der letzten Jahre auf einem guten Wege, so ist im Hinblick auf das Versicherungswesen wohl noch einige Pionierarbeit zu leisten, da bislang nur sehr wenige Wirtschaftshistoriker ihr Augenmerk auf die deutschen privaten Versicherungsunternehmen gelenkt haben. So stehen wenigen systematischen Gesamtanalysen der Entwicklungsgeschichte der Versicherungswirtschaft, die einen Einblick in die ideellen Ursprünge des Versicherungsgedankens und die geschäftliche Entwicklung der verschiedenen Versicherungszweige nachzeichnen,76 eine Reihe von Festschriften gegenüber, von denen einige solide Ergebnisse bieten.77 75 Theo Horstmann: Die Alliierten und die deutschen Großbanken. Bankenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland. Bonn 1991. 76 Ludwig Arps: Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914. Göttingen 1965; ders.: Durch unruhige Zeiten. Deutsche Versicherungswirtschaft seit 1914. 2 Bände. Karlsruhe 1970/76; Peter Borscheid: Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert. Zum Durchsetzungsprozeß einer Basisinnovation, in: VSWG 70 (1983), S. 305–330; Dieter Krüger: Privatversicherung und Wiederaufbau. Probleme der Reorganisation des Versicherungsgewerbes in Westdeutschland 1945–1952, in: VSWG 74 (1987), S. 514–540; Hans Pohl: Versicherungsgeschichte – Wirtschaftsgeschichte – Versicherungspraxis, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 67 (1978), S. 163–183. 77 Hervorgehoben seien die Arbeiten von Peter Borscheid: 100 Jahre Allianz 1890–1990. München 1990; ders.: Mit Sicherheit Leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungs-

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Noch eindrücklicher als bei den Genossenschaftsbanken muss daher darauf hingewiesen werden, dass das Niveau der historischen Erforschung der Versicherungswirtschaft in deutlichem Widerspruch zu ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung steht. Sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ist dabei von Interesse, inwieweit sich die Lebensgestaltung der Individuen (z. B. Altersvorsorge) bzw. die Geschäftsentfaltung von Unternehmen durch die neuen Absicherungsmöglichkeiten verändert haben. Auch wären die Konzentrationsbewegungen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngst verstärkt zu beobachtenden Verflechtung von Bank- und Versicherungsgeschäften im Rahmen von „Allfinanz“-Strategien, im Versicherungssektor noch herauszustellen. Finanzgeschichtlich steht dagegen vor allem eine eingehende Untersuchung der – aufgrund des regelmäßigen Prämienaufkommens, das nach Anlagemöglichkeiten sucht – starken Stellung der privaten Versicherungen, besonders der Lebensversicherungen und der Rückversicherungen, auf dem Kapitalmarkt an. Das Verhalten bzw. die Handlungsspielräume einer großen Versicherungsgesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus wurden kürzlich am Beispiel der Allianz untersucht.78

wirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherungsanstalt von Westfalen, Band 1: Von den Anfängen bis zur Währungsreform von 1948; Band 2: Von der Währungsreform von 1948 bis zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes. Greven 1989/Münster 1993; ders.: Sicherheit in der Risikogesellschaft. Zwei Versicherungen und ihre Geschichte. Stuttgart 1999. 78 Gerald D. Feldman: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933–1945. München 2001.

Gerold Ambrosius STAATSTÄTIGKEITEN UND STAATSUNTERNEHMEN I. Einführende Bemerkungen Das Thema ‚Staatstätigkeiten und Staatsunternehmen‘1 findet am Anfang des 21. Jahrhunderts eigentlich nur noch dann breitere Aufmerksamkeit, wenn es um ‚Entstaatlichung‘ geht, d. h. um die Rückführung von Staatsquoten, die Verschlankung der öffentlichen Verwaltung, die Deregulierung von Märkten und um die Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Dies war vor hundert Jahren, als der erste Band der VSWG erschien, ganz anders: Kommunen, Länder und Reich waren am Anfang des 20. Jahrhunderts gerade dabei, ihre interventionistische Kompetenz zu entdecken und ihr eigenproduzierendes Potential zu entwickeln. Heute blickt man dagegen auf ein Vierteljahrhundert liberaler Renaissance zurück, in dem es vornehmlich darum ging, den ‚Steuerstaat‘ und ‚Sozialstaat‘, den ‚Interventionsstaat‘ und ‚Unternehmerstaat‘ in die Schranken zu weisen, in dem mit Konzepten wie dem zur „zivilen Bürgergesellschaft“ die Eigenverantwortung des Individuums gestärkt und mit der liberalen Euphorie der „Mythos Staat“ vom „Mythos Markt“ abgelöst wurde. Jeder weiß zwar, dass der Staat auch im gegenwärtigen Wirtschaftsund Sozialsystem eine überragende Bedeutung besitzt, fasziniert sind die Menschen aber von den Möglichkeiten, die der Markt angeblich bietet. Das klassische Thema des ‚Regierens‘ wird von der Wissenschaft nur noch sporadisch thematisiert. Es interessiert vornehmlich die Verklammerung von öffentlicher und privater Sphäre, der in private Netzwerke eingebundene ‚kooperative‘ oder ‚verhandelnde‘ Staat, die Implementierung neuer Steuerungsmodelle in die öffentliche Verwaltung – mit anderen Worten die Ökonomisierung des Staates in all ihren Schattierungen. Der ,Staat‘ kann auf unterschiedliche Weise bestimmt werden, u. a. institutionell: Zum einen gehören zur staatlichen Sphäre die Parlamente, Regierungen und Verwaltungen der verschiedenen Gebietskörperschaften. Zum Zweiten werden die öffentlichen Versicherungsanstalten dazu gerechnet. Zum Dritten zählt man üblicherweise die öffentlichen Unternehmen, Sondervermögen (Bahn, Post) und die Zentralbank zum Staat. Ob Berufsgenossenschaften, Zwangsinnungen oder Kammern ebenfalls zum Staat gehören, ist umstritten.2 Der Staat ist somit kein einheitliches exekutiv-administratives Organ – manche assoziieren mit ‚Staat‘ ausschließlich die Verwaltungen der Zentralregierung –, sondern im Gegenteil ein extrem he1

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Der vorliegende Beitrag ist nicht als Forschungsbericht im Sinne einer detaillierten Bilanz der bisherigen Forschungsergebnisse konzipiert, die sich im Übrigen angesichts des auch für den Spezialisten nicht mehr zu überschauenden Themenfeldes auf die sozial- und wirtschaftshistorischen Veröffentlichungen im engeren Sinne beschränken müsste. Er ist vielmehr als Problemaufriss angelegt, der einen Überblick über zentrale Fragen und Forschungsansätze bietet, die für die Gegenwart und die Zukunft von Bedeutung sind bzw. werden dürften. Einen historischen Überblick über die Entwicklung des Staates bietet Stefan Breuer: Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien. Reinbek bei Hamburg 1998.

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terogenes Gebilde mit komplizierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen innerhalb verschiedener parlamentarischer, administrativer, unternehmerischer und genossenschaftlicher Organisationen. Hier sollen die staatlichen Verwaltungen und Unternehmen im Vordergrund stehen, also die Bereiche, in denen öffentliche Dienstleistungen und Güter im engeren Sinne produziert werden. Mit ‚Staatsunternehmen‘ sind alle öffentlichen Betriebseinrichtungen gemeint, die mehr oder weniger aus der Kern- oder Hoheitsverwaltung ausgegliedert sind, ganz gleich ob sie den Kommunen, den Ländern oder dem Zentralstaat gehören, und bei denen der Staat maßgeblichen Einfluss ausübt. Zwischen Begriffen wie Staat, staatliche Sphäre, öffentlicher Sektor oder öffentliche Hand wird im Folgenden kein Unterschied gemacht. II. Produzierende Tätigkeiten des Staates Staatstätigkeiten erwachsen aus den sozialen und ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnissen historischer Epochen. Etwa seit dem 17. Jahrhundert griff der ‚merkantilistische Ständestaat‘ zunehmend in das wirtschaftliche Geschehen ein und zwar punktuell, unmittelbar und relativ unsystematisch. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bzw. Wirtschaft wandelte sich dann tiefgreifend beim Übergang zum Liberalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildende ‚liberale Ordnungsstaat‘ schuf mit grundlegenden Gesetzen den verfassungsrechtlichen Rahmen für das neue bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftssystem, hielt sich im Vergleich zur vorangegangenen Epoche aber zurück und überließ die Wirtschaft weitgehend sich selbst. Seit den 1870er Jahren begann der Staat wieder verstärkt zu intervenieren. Das Kaiserreich präzisierte mit weiteren konstitutiven Gesetzen nicht nur die Wirtschaftsordnung, sondern begann diese auch zunehmend mit regulierenden Vorschriften auszufüllen. Insofern kann man für diese Phase vom ‚regulierenden Ordnungsstaat‘ sprechen. Der direkte diskretionäre Interventionismus drückte dieser Epoche noch nicht seinen Stempel auf. Er setzte als dritter Paradigmawechsel in vollem Umfang erst mit der keynesianischen „Revolution“ in den 1930er Jahren ein und prägte in den folgenden Jahrzehnten den ‚dirigistischen Leistungsstaat‘. Seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre begann dann das Pendel wieder von der interventionistischen zur liberalen Seite zurückzuschwingen; das Verhältnis von Staat und Wirtschaft änderte sich seit dem 17. Jahrhundert zum vierten Mal grundlegend. Tendenziell zieht sich der Staat seither erneut aus der Wirtschaft zurück und vertraut als ‚gewährleistender Regulierungsstaat‘ wieder stärker den Marktkräften. Diesen Paradigmawechseln folgte der Ausbau der öffentlichen Verwaltungen nur bedingt. Ihr Umfang nahm seit dem 18. Jahrhundert mehr oder weniger kontinuierlich zu, so dass sie am Ende des 20. Jahrhunderts gut 15 Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigten. Gut 5 Prozent arbeiteten in öffentlichen Unternehmen. Anders als die Entwicklung zum ‚Verwaltungsstaat‘ folgte die zum ‚Unternehmerstaat‘ allerdings der zyklischen Bewegung im Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Im 17. und 18. Jahrhundert nahm der Umfang der öffentlichen Wirtschaft zu und nach der

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Wende zum 19. Jahrhundert dann ab. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich die öffentliche Wirtschaft erneut aus und bildete sich seit den 1980er Jahren wieder zurück. Seit dieser Zeit scheint sich insofern ein neues Paradigma durchzusetzen, als der Staat nur noch regulierend und gewährleistend ein Grundangebot an infrastrukturellen Leistungen sichern soll – gewährleistend, weil er diese nicht mehr selbst produzieren muss, sondern private Unternehmen mit der Bereitstellung beauftragen kann.3 III. Perspektiven der produzierenden Tätigkeiten 1. Dogmengeschichtliche Perspektive Staatstätigkeiten im Allgemeinen waren zu allen Zeiten ein Thema, mit dem sich die Menschen intensiv auseinander setzten. Auf das Universum von Staatstheorien und Staatsphilosophien, von Ansätzen der ökonomischen Staatsableitung und solchen der idealistischen Staatsüberhöhung soll hier allerdings nicht eingegangen werden. Auch Staatsunternehmen im Besonderen wurden in der Forschung durchgängig thematisiert. Die Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts schrieben ebenso ausführlich über sie wie die Institutionalisten der Historischen Schule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und liberale und interventionistische Autoren des 20. Jahrhunderts. Sowohl die neoklassische Theorie hat sich mit ihnen beschäftigt als auch die Theorie der Gemeinwirtschaft. In der Frühen Neuzeit wurden sie als systemkonforme Finanzierungsquelle der Territorialherren und als soziale Einrichtungen der Gemeinden angesehen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als antikapitalistisches Ordnungsprinzip auf sozialistischer und als antimonopolistisches auf bürgerlicher Seite befürwortet, über eine ganze Reihe von Jahrzehnten im 20. Jahrhundert als marktwirtschaftliches Regulativ akzeptiert, in jüngster Zeit allerdings als ordnungswidriges Element kritisiert oder als „Tafelsilber“ verkauft. Dieser veränderten Einschätzung liegt vornehmlich ein gewandeltes Paradigma der Gemeinwirtschaftlichkeit zugrunde. Die Vorstellung, individuelle Not durch Güter und Dienste aus öffentlicher Eigenproduktion zu mildern, ist alt. In den frühneuzeitlichen ‚Policeyordnungen‘ wurde der mittelalterliche Gedanke des ‚gemeinen Besten‘, der vornehmlich Gerechtigkeit und Frieden verfolgte, erweitert, indem das Ziel der Wohlfahrtsförderung einbezogen wurde. Im Zuge der Industrialisierung baute man ihn dann zu einem Konzept umfassender Versorgung aus: Der Staat sollte seine Bürger möglichst großzügig mit sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturleistungen zu günstigen Preisen aus eigener Produktion bedienen. Auf die Kommunen bezogen sprach man im Kaiserreich vom ‚Munizipalsozialismus‘, auf alle Gebietskörperschaften bezogen seit den 1930er Jahren von der ‚Daseinsvorsorge‘.4 3 4

Martin Oldies (Hg.): Daseinsvorsorge durch Privatisierung. Wettbewerb oder staatliche Gewährleistung. Baden-Baden 2001. Wolfgang R. Krabbe: Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster. Stuttgart 1985; ders.: Die Stadt als „Unternehmer“. Münsters Entwicklung zum Dienstleis-

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Der Anspruch auf einen so verstandenen service public wurde in fast allen europäischen Ländern zu einem wirtschaftlichen oder sozialen Bürgerrecht.5 Der technische Fortschritt, der liberale Zeitgeist, die Finanzkrise und das europäische Wettbewerbskonzept ließen dann seit den 1980er Jahren den gemeinwirtschaftlichen Gedanken der Umverteilung über den Staat bzw. über die öffentlichen Unternehmen in den Hintergrund und den individualwirtschaftlichen der Eigenversorgung über den Markt bzw. die privaten Unternehmen in den Vordergrund treten. Aus dem Konzept großzügiger ‚daseinsvorsorgender Leistungen‘, das in praktisch allen europäischen Staaten akzeptiert war, entwickelt sich unter maßgeblicher Beteiligung der Europäischen Kommission ein Konzept notwendiger ‚Universaldienste‘.6 Die dogmengeschichtliche Perspektive ist im Hinblick auf die Bestimmung von Staatstätigkeiten so intensiv bearbeitet worden, dass es wohl auch dem Spezialisten nicht mehr gelingt, den Überblick zu behalten.7 Demgegenüber gibt es zur Dogmengeschichte der öffentlichen Eigenproduktion und Daseinsvorsorge – um diesen Begriff für die gesamte Neuzeit zu verwenden – relativ wenig Literatur. Das gilt sowohl für die Theoriegeschichte der Politischen Ökonomie im engeren als auch für die der gesellschaftspolitischen Entwürfe im weiteren Sinn. Im Zusammenhang mit der ‚dritten Staatsaufgabe‘ (third duty) bei Adam Smith ist mehr als zweihundert Jahre darüber diskutiert worden, welche öffentlichen Einrichtungen zur Sicherung der ökonomischen und sozialen Infrastruktur er für notwendig hielt. Dass er eine starke Animosität gegen öffentliche Verwaltungen hegte, ist bekannt. Lässt man die Rückblicke zur Entwicklung der (neo)klassischen Theorie im Hinblick auf öffentliche und meritorische8 Güter außer Acht, so hat die Dogmengeschichte zur weiteren Entwicklung der Wirtschafts- und Staatswissenschaften den Aspekt der Eigenproduktion öffentlicher Verwaltungen und Unternehmen in grundsätzlich liberal-marktwirtschaftlichen Systemen nur noch sporadisch aufgegriffen.9 Dies ist insofern bedauerlich, als die Europäische Kommission in den letzten Jahren mehrfach auf das „europäische Gesellschaftsmodell“ hingewiesen hat, dessen „Kern“ bzw. „Schlüsselelement“ die öffentlichen Dienstleistungen seien, die die eigentliche „Originalität Europas“ ausmachen würden.10 Sie ist auf der Suche nach einem Konzept des service public, das von allen Mitgliedern der Europäischen Union ak-

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tungszentrum, in: Franz-Josef Jakobi (Hg.): Geschichte der Stadt Münster, Band II. Münster 1993, S. 587–612. Uwe Kühl (Hg.): Der Munizipalsozialismus in Europa. München 2001. Heike Schweitzer: Daseinsvorsorge, service public, Universaldienste. Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrag und die Liberalisierung in den Sektoren Telekommunikation, Energie und Post. BadenBaden 2002; Rudolf Hrbek/Martin Nettesheim (Hg.): Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge. Baden-Baden 2002. Um dennoch einen ersten Einblick in die Vielfalt des 19. Jahrhunderts zu bekommen, siehe Volker Müller: Staatstätigkeit in den Staatstheorien des 19. Jahrhunderts. Opladen 1991. Güter, die der Markt gar nicht oder nur unvollkommen bereitstellt. Theo Thiemeyer: Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip. Grundlegung einer Theorie gemeinnütziger Unternehmen. Berlin 1970; Achim von Loesch: Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Ein Überblick über die Argumente. Baden-Baden 1987. Mitteilungen der Kommission: Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa (2001/C 17704) vom 19.1.2001.

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zeptiert werden kann, wobei über die dogmenhistorischen Wurzeln dieses Schlüsselelementes sowohl hinsichtlich der nationalspezifischen Entwicklungen als auch im internationalen Vergleich relativ wenig bekannt ist.11 Dabei geht es um eine wichtige gesellschaftspolitische Frage: Sind die europäischen Gesellschaften auch in Zukunft bereit, den Gedanken der gemeinwirtschaftlichen Umverteilung bei der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur zu pflegen, oder folgen sie dem US-amerikanischen Gesellschaftsmodell, in dem den Bürgern lediglich Mindestleistungen geboten werden, sie sich ansonsten aber eigenverantwortlich über den Markt versorgen müssen? Wie eng diese Frage mit der nach Sinn und Zweck öffentlicher Eigenproduktion und/oder öffentlicher Gewährleistung daseinsvorsorgender Leistungen verbunden ist, zeigt die gegenwärtige Diskussion. Immer deutlicher wird nämlich, dass das Vorhaben, öffentliche Unternehmen zu privatisieren und gleichzeitig das bisherige Versorgungsniveau aufrechtzuerhalten, kaum realistisch ist. Dahinter steht die Idee, innerhalb von Unternehmen, die „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (Art. 86 EWG-Vertrag) erbringen, nach wettbewerblicher und gemeinwirtschaftlicher Produktion zu unterscheiden. Bei der wettbewerblichen soll die Entgeltfinanzierung nach dem Gewinnprinzip erfolgen, bei der gemeinwirtschaftlichen die Mischfinanzierung nach dem Alimentationsprinzip. Der marktgesteuerte Bereich soll den gemeinwirtschaftlichen subventionieren dürfen, nicht aber umgekehrt der gemeinwirtschaftliche den marktgesteuerten. In der Praxis zeigt sich, dass es ausgesprochen schwierig ist, diese Idee umzusetzen.12 2. Faktoranalytische Perspektive Gesamtwirtschaft: Staatstätigkeiten finden ihren Niederschlag oftmals in Staatsausgaben. Schon Adolph Wagner hatte, als er 1863 zum ersten Mal das „Gesetz der Ausdehnung der öffentlichen und speziell der Staatstätigkeiten“ aufstellte, auch die Staatsausgaben im Sinn. Wenn man diese in Relation zum Sozialprodukt setzt, lassen sich so genannte Staatsquoten errechnen, die einen ersten quantitativen Eindruck von der Bedeutung des Staates für Gesellschaft und Wirtschaft vermitteln. Beschränkt man sich auf die Produktion öffentlicher Verwaltungen, ist die sinnvollste Messziffer die so genannte Realausgabenquote. Auch andere, spezifische Arten 11 CEEP – Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft: Europa, Wettbewerb und öffentliche Dienstleistungen, hg. von der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft. Berlin 1996; Günter Püttner: Daseinsvorsorge und service public im Vergleich, in: Helmut Cox (Hg.): Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union. Zum Widerstreit von freiem Wettbewerb und Allgemeininteresse. Baden-Baden 2000, S. 45–55; Gert D. Breidenstein: Das Recht des service public in Frankreich. Diss. Würzburg 1969; Helmut Lecheler: Die Versorgung mit Strom und Gas als service public und die Bedeutung der service publicDoktrin für Art. 90 Abs. 2 EGV, in: Recht der Energiewirtschaft, Heft 6, 1996, S. 212–227. 12 Außer den bereits genannten Titeln zur Diskussion um die Daseinsvorsorge siehe Helmut Cox: Das Angebot von Universaldienstleistungen und Probleme ihrer Vergabe im öffentlichen Bieterwettbewerb, in: Ders. (Hg.): Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen in der Europäischen Union. Zum Widerstreit von freiem Wettbewerb und Allgemeininteresse. Baden-Baden 2000, S. 73–95.

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von Staatsausgaben oder Staatsquoten werden als abhängige Variablen in Beziehung zu sozialen, ökonomischen, technischen und demografischen Faktoren als unabhängige Variablen gesetzt, um nachzuweisen, wie stark die Einflüsse dieser „natürlichen“ Faktoren auf die Staatstätigkeiten sind.13 Es handelt sich also um statistisch-induktive Erklärungen, deren empirische Basis allerdings ungenügend ist, weil immer wieder auf dieselben Statistiken zurückgegriffen wird. Für Deutschland bis in die 1950er Jahre sind das vor allem die Daten des Statistischen Reichsamtes – die ersten Berechnungen des Sozialprodukts stammen aus den 1920er Jahren – und die, die Walther G. Hoffmann und seine Forschergruppe in den 1960er Jahren vorgelegt haben, für die Bundesrepublik die seit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes.14 Es gibt vereinzelt Versuche, diese Daten zumindest kritisch zu hinterfragen; größer angelegte Neuberechnungen gibt es aber nicht. Das Projekt der „Historischen Statistik“ aus den 1980er Jahren hat hier ebenfalls eine Lücke gelassen.15 Es gilt also – soweit das aufgrund des quantitativen Quellenmaterials überhaupt möglich ist –, die mangelhafte statistische Basis zu erweitern und mit neueren cliometrischen Modellen die Beziehungen zwischen den Staatsausgaben und den sie beeinflussenden Faktoren schärfer zu fassen. Der internationale Vergleich eröffnet ein zusätzliches weites Forschungsfeld – trotz oder gerade wegen der wenigen vorhandenen Statistiken in diesem Bereich.16 Seit den 1950er bzw. 1960er Jahren legen zwar UNO, OECD und EWG international vergleichbare Sozialproduktberechnungen vor. Die unterschiedlichen Definitionen des Staates machen einen Vergleich der Staatsquoten und deren Einflussfaktoren aber immer noch schwierig. Seit den 1980er Jahren gibt es auch Statistiken, die weiter in die Vergangenheit zurückreichen und für eine ganze Reihe von Ländern vergleichend berechnet wurden. Die enormen methodischen und statistischen Probleme lassen sie aber lediglich als erste Versuche erscheinen.17 Auch die faktoranalytische Perspektive ist aktuell, wenn man an die politischen Auseinandersetzungen um die 13 Aus der Vielzahl der Untersuchungen seien hier nur erwähnt: Norbert Leineweber: Das säkulare Wachstum der Staatsausgaben. Eine kritische Analyse. Göttingen 1988; Horst C. Recktenwald: Umfang und Struktur der öffentlichen Ausgaben in säkularer Entwicklung, in: Fritz Neumark (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Band I. Tübingen 1977, S. 713–753. 14 Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik Deutschland; Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin u. a. 1965. 15 Rainer Fremdling: German National Accounts for the 19th and 20th Century. A Critical Assessment, in: VSWG 75 (1988), S. 339–357; Rainer Metz: Trend, lange Wellen, Strukturbrüche oder nur Zufall: Was bestimmt die langfristige Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsproduktes, in: Ernst Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. Stuttgart 1998, S. 117–164. 16 Einer der ersten, der Staatsquoten unter vergleichender Perspektive untersucht, ist David R. Cameron: The Expansion of the Public Economy: A Comparative Analysis, in: The American Political Science Review 72 (1978), S. 1243–1261. Seitdem sind zahlreiche Untersuchungen zu diesem Thema vorgelegt worden. 17 Brian R. Mitchell: European Historical Statistics, 1750–1975. London 1981; ders.: International Historical Statistics: Africa and Asia. London 1982; Peter Flora: State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975. A data handbook. Frankfurt a. M. 1983; Angus Maddison: Monitoring the World Economy 1820–1992. Paris 1992.

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Rückführung der Staatsquoten denkt. Die Frage, inwieweit sich Staatsausgaben einer politischen Gestaltung entziehen und durch strukturelle, politisch kaum beeinflussbare Faktoren bestimmt werden, ist ja durchaus offen. Kommunalwirtschaft: Präziser sind die Zusammenhänge für die kommunale Ebene untersucht worden. Schon immer waren die Infrastrukturleistungen, die den Bürgern angeboten wurden, hinsichtlich der Qualität und des Preises von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Diese Ungleichheit könnte sich angesichts des Trends zur Ausgliederung und Privatisierung in Zukunft noch verstärken. Der Frage, welches die Faktoren sind, die das Niveau der Versorgungsleistungen bestimmen, sind in den letzten Jahren auch historische Untersuchungen nachgegangen. Dabei wurden zunächst traditionelle historische Methoden angewendet.18 Später versuchte man mit cliometrischen Modellen, statistische Korrelationen zwischen quantitativ messbaren Versorgungsleistungen als abhängige Variablen und demografischen, politischen, sozialen oder ökonomischen Faktoren als unabhängige Variablen herzustellen.19 Die Mehrzahl der Arbeiten konzentriert sich auf die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, in denen die moderne Versorgungswirtschaft aufgebaut wurde. Diese Untersuchungen machen deutlich, dass sich öffentliche Dienstleistungssysteme nicht aufgrund ökonomisch-technischer Naturgesetze oder Zwänge entwickelten, sondern in politisch-gesellschaftlichen Interessenkonflikten und Entscheidungsprozessen entstanden. Nicht allein die Größe der Städte und ihr Bevölkerungswachstum waren wichtig, sondern auch ihr Charakter als Industrie- oder Verwaltungsstadt, ihr Wohlstand und ihr Steueraufkommen, die soziale Schichtung ihrer Bürger und die politische Zusammensetzung ihrer Magistrate und vieles mehr. Differenzierte Aussagen über die Entwicklung öffentlicher Dienstleistungen müssen diese Faktoren berücksichtigen, deren Einfluss sich zudem noch im Laufe der Zeit veränderte. Falls es so etwas wie ein generelles Entwicklungsmuster geben sollte, sind noch zahlreiche weitere Fallstudien notwendig, um aus den Ergebnissen der empirischen Forschung eine allgemeine Entwicklungslogik ableiten zu können. Dies gilt in noch stärkerem Maß für den internationalen Vergleich. Sieht man von den lokalen oder regionalen Besonderheiten ab und überschaut größere Zeit18 Wolfgang R. Krabbe: Städtische Wirtschaftsbetriebe im Zeichen des „Munizipalsozialismus“. Die Anfänge der Gas- und Elektrizitätswerke im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hg.): Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik. Köln/Wien 1990, S. 117–135; Tae Yel Kwack: Die Entwicklung der Kommunalunternehmen in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert – unter besonderer Berücksichtigung finanz- und sozialpolitischer Aspekte. Diss. Münster 1990; Marjatta Hietala: Beziehungen zwischen Urbanisierung und Dienstleistungen an Beispielen deutscher Großstädte 1890–1910, in: Heinz Heineberg (Hg.): Innerstädtische Differenzierung und Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert. Geographische und historische Aspekte. Köln/Wien 1987, S. 331–347. 19 Michael Hühner: Kommunalfinanzen, Kommunalunternehmen und Kommunalpolitik im Deutschen Kaiserreich (Münsteraner Beiträge zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte 6). Münster 1998; Richard H. Tilly: Investitionen der Gemeinden im Deutschen Kaiserreich, in: Karl Heinrich Kaufhold (Hg.): Investitionen der Städte im 19. und 20. Jahrhundert. Köln u. a. 1997, S. 39–59; James C. Brown: Reforming the Urban Environment: Sanitation, Housing, and Government Intervention in Germany, 1870–1910. Michigan 1987.

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räume, so bleibt festzuhalten, dass sich die Versorgungswirtschaft in vielen Staaten Europas recht ähnlich entwickelte. Bei einem sehr allgemeinen Zugriff wird man allerdings auch nur sehr allgemeine Erklärungen bieten können: Der technische Fortschritt ermöglichte die Ausbreitung von Gas, Elektrizität und öffentlichem Nahverkehr. Die Urbanisierung im Rahmen der Industrialisierung erzwang den Aufbau von Versorgungssystemen. Die Demokratisierung ließ Parteien und Politiker an die Macht kommen, die das Ziel verfolgten, die Kommunen auch in infrastruktureller Hinsicht zu modernisieren. Bei einem differenzierten Zugriff werden sich die Verhältnisse in den einzelnen Städten Frankreichs, Italiens oder Großbritanniens ähnlich komplex darstellen wie in Deutschland. Im internationalen Vergleich kommen zusätzlich nationalspezifische Besonderheiten hinzu. Zwar gab es auch zwischen den deutschen Bundesstaaten des Kaiserreichs Unterschiede, die für den Aufbau öffentlicher Dienstleistungen relevant waren: unterschiedliche Dreiklassenwahlrechte, unterschiedliche Steuersysteme oder unterschiedliche Kommunalverfassungen. Im internationalen Vergleich dürften aber zusätzlich auch kulturelle Differenzen eine Rolle gespielt haben. Wiederum eröffnet sich unter international vergleichender Perspektive ein Forschungsfeld, das weitgehend unbearbeitet ist und auf dem differenziertere Aussagen über die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen und sonstigen Einflussfaktoren einerseits und dem Versorgungsniveau mit öffentlichen Dienstleistungen andererseits gewonnen werden könnten. 3. Mikroökonomische Perspektive Schon die staatliche Gewehrmanufaktur des 18. Jahrhunderts stellte einen Betrieb mit einer „Betriebswirtschaft“ dar. Schon in dieser Zeit gab es eine Diskussion darüber, ob staatliche Manufakturen allein deswegen nicht so produktiv und rentabel wirtschafteten wie private, weil sie von „Beamten“ geführt wurden und oftmals ein Monopol besaßen. Diese Diskussion riss eigentlich nie ab. Öffentliche Betriebseinrichtungen stehen als hybride Gebilde zwischen Verwaltungen und Unternehmen, zwischen öffentlichem Auftrag und Marktorientierung, zwischen Sachzielen wie beispielsweise Beschäftigungssicherung und dem Formalziel der Gewinnerbringung. Zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es eine ausgeprägte Tendenz zur Übernahme von privatwirtschaftlichen Organisationsformen und Führungsstilen. Diese mag sich in jüngster Vergangenheit noch verstärkt haben, wobei das, was als Corporate oder New Governance öffentlicher Unternehmen bezeichnet wird, letztlich nichts anderes ist als das, was schon seit dem vorletzten Jahrhundert oder noch früher angestrebt wurde: die Verbindung von Gemeinwirtschaftlichkeit und Eigenwirtschaftlichkeit.20 Die Geschichtsschreibung hat sich der Betriebswirtschaft 20 Einen Überblick bietet Gerold Ambrosius: Der Staat als Unternehmer im Merkantilismus des 18. Jahrhunderts. Forschungsstand, methodische Überlegungen und forschungsrelevante Probleme, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen 10 (1987), S. 231– 245.

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von Staatsunternehmen nur sehr vereinzelt gewidmet.21 Welche Folgen die Übernahme privatwirtschaftlicher Organisationskulturen für die interne Aufbau- und Ablauforganisation hat, welche Konsequenzen sich für die Erfüllung des öffentlichen Auftrags ergeben, wie sich der Einfluss der Trägerkörperschaften bzw. der Politik auf die Unternehmen verändert, welche Konsequenzen sich für das Selbstverständnis der Beschäftigten ergeben und viele andere Fragen, die aktuell gestellt werden, könnten anhand wirtschaftshistorischer Fallstudien zumindest für die Vergangenheit beantwortet werden. Wie sehr sich einerseits ein Unternehmen verselbständigen kann, so dass politische Vorgaben kaum noch berücksichtigt wurden, zeigt das Beispiel des RWE vor dem Ersten Weltkrieg.22 Welchen Druck andererseits Kommunen in finanzieller Not auf ihre verselbständigten Unternehmen ausübten, wurde exemplarisch während der Weltwirtschaftskrise 1929/32 deutlich. Es kam praktisch zu einer Rekameralisierung, weil es nur noch um möglichst hohe Gewinnabführungen zugunsten der kommunalen Haushalte ging. Eine verantwortungsbewusste Abschreibungs- und Investitionspolitik war unter diesen Umständen ebenso wenig möglich wie eine sozialpolitisch orientierte Preis- und Tarifpolitik. Die Geschichte öffentlicher Unternehmen ist Teil der modernen Unternehmensgeschichte und kann sich deren Methoden bedienen. Der aktuelle Trend zum nur noch gewährleistenden Staat beinhaltet ein anderes Verhältnis von öffentlicher und privater Sphäre, die sich auf neue Weise zu mischen scheinen. Schlagworte wie das vom ,kooperativen Staat‘ sollen dies ebenso ausdrücken wie das von der Public Private Partnership. Schon für Werner Sombart stellte in den 1920er Jahren das gemischtwirtschaftliche Unternehmen die eigentumsrechtliche Form der Zukunft dar. Heute gelten öffentlich-private Koopera21 Es gibt wenige neuere Untersuchungen zum Thema „öffentliche Wirtschaft“ oder „öffentliche Unternehmen“: Ernst Klein: Der Staat als Unternehmer im saarländischen Steinkohlenbergbau 1750–1850, in: VSWG 57 (1970), S. 323–349; Jürgen Schneider (Hg.): Öffentliches und privates Wirtschaften in sich wandelnden Wirtschaftsordnungen (VSWG, Beiheft 156). Stuttgart 2001; Jürgen Kocka: Eisenbahnverwaltung in der industriellen Revolution. Deutsch-amerikanische Vergleiche, in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 84). Stuttgart 1987, S. 259– 277; Jan Otmar Hesse: Im Netz der Kommunikation. Die Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung 1876–1914. München 2002; Hans-Liudger Dienel (Hg.): Mobilität für alle. Geschichte des öffentlichen Personennahverkehrs in der Stadt zwischen technischem Fortschritt und sozialer Pflicht (VSWG, Beiheft 129). Stuttgart 1997; Gerold Ambrosius: Die öffentliche Wirtschaft in der Weimarer Republik. Kommunale Versorgungsunternehmen als Instrumente der Wirtschaftspolitik. Baden-Baden 1984; ders.: Die wirtschaftliche Entwicklung von Gas-, Wasserund Elektrizitätswerken seit dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Hans Pohl (Hg.): Kommunale Unternehmen. Geschichte und Gegenwart (ZUG, Beiheft 42). Wiesbaden 1987, S. 125– 153. Eine der besser untersuchten Branchen, in denen öffentliche Unternehmen eine wichtige Rolle spielen, ist das Bankwesen; siehe z. B. Jürgen Mura: Entwicklungslinien der deutschen Sparkassengeschichte. Stuttgart 1994; Hans Pohl (Hg.): Geschichte der deutschen Kreditwirtschaft seit 1945. Frankfurt a. M. 1998. Porträts zu einzelnen öffentlichen Unternehmen, die meist auch die historische Entwicklung beleuchten, finden sich in der Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen. 22 Hans Pohl: Vom Stadtwerk zum Elektrizitätsgroßunternehmen. Gründung, Aufbau und Ausbau der „Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG“ (RWE) 1898–1918. Stuttgart 1992.

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tionsformen immer noch oder wieder als zukunftsweisend. Zumindest sind die Vorund Nachteile nicht neu, die das Zusammenwirken von öffentlichen Händen und privaten Unternehmern in gemeinsamen Rechtsgebilden mit sich bringen. Gemischtwirtschaftliche Unternehmen und privat-öffentliche Kooperationen gab es schon immer und die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung könnte sicherlich zu ihrem besseren Verständnis beitragen.23 Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang erwähnt werden soll, sprengt die mikroökonomische oder betriebswirtschaftliche Perspektive. Die Tendenz zur Ökonomisierung des Staates drückt sich auch darin aus, dass die Kommunen immer mehr Verwaltungseinheiten als „Derivative“ in der Form öffentlicher Betriebe führen, d. h. aus der Kernverwaltung ausgliedern und in öffentlichrechtliche Betriebseinrichtungen oder privatrechtliche Unternehmen umwandeln. Gleichzeitig findet eine funktionale Privatisierung statt, d. h. die Übertragung der Aufgabenerfüllung an Private. Dieser Ausgliederungs- und Privatisierungsprozess könnte dazu führen, dass die Leistungsverwaltung, die im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung seit dem 19. Jahrhundert aufgebaut wurde, wieder verschwindet. Die eigentliche Kommunalverwaltung würde sich dann erneut auf die hoheitlichen Aufgaben beschränken. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Tendenzen wäre es interessant zu erfahren, wie die Kommunen bisher die damit zusammenhängenden Probleme bewältigt haben. Was waren die Gründe für die Privatisierung von Verwaltungsleistungen? Wie weit ergab sich daraus eine Verklammerung von öffentlicher und privater Sphäre, die der traditionellen Vorstellung von der Dichotomie zwischen privater Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung widerspricht? Hatten solche Ausgliederungen Auswirkungen auf administrative Organisationsformen und Führungsstile in den Verwaltungen? Wurde ein Kompromiss zwischen Gemeinwirtschaftlichkeit und Privatwirtschaftlichkeit gefunden? Grundsätzlich ist das Phänomen der Ausgliederung von Verwaltungseinheiten und die Privatisierung von Verwaltungsleistungen ja nicht neu, selbst wenn sie bisher nicht so weit getrieben wurden wie dies heute der Fall ist. 4. Regulierungspolitische Perspektive Das ,Unternehmen‘, das ja eigentlich die ursprüngliche Organisationsform privaten Wirtschaftens ist, setzte sich als eine Form der öffentlichen Steuerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch deshalb durch, weil Reich, Länder und Gemeinden noch über keine Möglichkeiten öffentlichrechtlicher Regulierung verfügten, um private Unternehmen zu bestimmtem Verhalten zu zwingen. Eine solche Regulierung wurde in den folgenden Jahrzehnten erst allmählich aufgebaut. Sie betraf zum einen speziell die öffentlichen Unternehmen; vom preußischen Kommu23 Gerold Ambrosius: Public Private Partnership und Gemischtwirtschaftlichkeit – neue Formen öffentlich-privater Kooperation in historischer Perspektive, in: Matthias Frese/Burckhard Zeppenfeld (Hg.): Kommunen und Unternehmen im 20. Jahrhundert. Wechselwirkungen zwischen öffentlicher und privater Wirtschaft. Essen 2000, S. 199–214.

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nalabgabengesetz von 1893 über kriegswirtschaftliche Sonderbestimmungen bis zur Deutschen Gemeindeordnung, zur Rücklagenverordnung oder zur Eigenbetriebsverordnung aus den 1930er Jahren sowie den entsprechenden Novellen seit den 1950er Jahren führte der Weg zu immer differenzierteren Bestimmungen, mit denen ausschließlich öffentliche Unternehmen reguliert wurden. Sie betraf zum zweiten generell Wirtschaftszweige von besonderer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Hier kann der Bogen von den frühneuzeitlichen Regalien über das preußische Eisenbahngesetz von 1838, die Kleinbahn- oder Versicherungsgesetze aus dem Kaiserreich und die Regulierungsgesetze für die Energie-, Verkehrs- oder Kreditwirtschaft aus den 1930er Jahren bis zu den europäischen Regulierungsrichtlinien der 1990er Jahre gespannt werden. Letztere öffneten die lange Zeit monopolisierten Märkte erneut dem Wettbewerb. Mit der Frage, ob der Staat in bestimmten Wirtschaftszweigen mit eigenen Unternehmen aktiv werden oder ob er private Unternehmen regulieren soll, beschäftigten sich bereits die kameralistischen Klassiker des 18. Jahrhunderts. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie von den gemeinwirtschaftlichen Theoretikern wie Emil Sax, Adolph Wagner oder Albert Schäffle wieder aufgegriffen, im Laufe des 20. Jahrhunderts von der Wissenschaft aber nur sporadisch behandelt und erst in jüngster Zeit auf theoretischer Ebene wieder eingehender untersucht. Auch die historische Forschung ist nur vereinzelt auf sie eingegangen.24 Mit dem technischen Fortschritt, der Öffnung der Märkte und dem Konzept der Universaldienste gewinnt das Thema: ,öffentliche‘ und/oder ,private, öffentlich regulierte‘ Unternehmen seit jüngster Zeit aber neue Aktualität.25 Da dieses Themenfeld theorie- und dogmengeschichtlich ebenso wenig aufgearbeitet ist wie realgeschichtlich, bieten sich interessante Forschungsperspektiven an. Unter dogmenhistorischer Perspektive könnte die bereits erwähnte Diskussion der Gemeinwirtschaftstheoretiker im Kaiserreich oder die Auseinandersetzung um eine Theorie der öffentlichen Regulierung oder Bindung im 20. Jahrhundert aufgearbeitet werden. Unter realhistorischer Perspektive ist kaum eines der zentralen Regulierungsgesetze eingehender behandelt worden, weder die am Anfang der modernen Regulierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die der 1930er Jahre oder deren Novellen nach dem Zweiten Weltkrieg.26 Das Thema öffentliche 24 Gerold Ambrosius: Kommunalwirtschaft im Spannungsfeld von Autonomisierung/Privatisierung und Bindung/Regulierung (vom 19. Jahrhundert bis zu den 1930er Jahren), in: Josef Wysocki (Hg.): Kommunalisierung im Spannungsfeld von Regulierung und Deregulierung im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1995, S. 141–163; ders.: Zurück zu den Anfängen? Die institutionelle Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs bis zum Zweiten Weltkrieg unter der Perspektive der aktuellen Regionalisierung, in: Günter Püttner (Hg.): Der regionalisierte Nahverkehr. Baden-Baden 1997, S. 11–49. 25 CEEP – Europäischer Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft: Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse. Regulierung, Finanzierung, Evaluierung, vorbildliche Praktiken. o. O. 2000. 26 Zur Regulierung der Kleinbahnen siehe Dieter Ziegler: Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich. Stuttgart 1996; zur Regulierung von Lebensmitteln Karl-Peter Ellerbrock: Lebensmittelqualität vor dem Ersten Weltkrieg: Industrielle Produktion und staatliche Gesundheitspolitik, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmit-

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Unternehmen und öffentliche Regulierung dürfte auch für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Wirtschaftsgeschichte noch von Interesse sein. Verlässt man den engeren Bereich der Versorgungswirtschaft, in dem die öffentliche Hand traditionell eigenwirtschaftlich tätig ist, eröffnet sich mit dem generellen Thema ,Regulierung‘ ein weiteres Forschungsfeld, das bisher kaum bearbeitet worden ist. Dabei wird der regulierende Staat auf nationaler wie auf europäischer Ebene in Zukunft eine noch größere Rolle als bisher spielen. Warum wurde der Staat auf den verschiedenen Feldern der Regulierung – denen der Nahrungsmittel, der Banken und Versicherungen, der Energie, der Produkte und Prozesse usw. – aktiv? Welche Interessen auf Seiten der Erzeuger und der Verbraucher spielten dabei eine Rolle? Wie ordneten sich die spezifischen Formen der Regulierung in die übergeordneten Paradigmen von Liberalismus und Interventionismus ein? Welche Bedeutung hatten die unterschiedlichen politischen Systeme auf die konkrete Gestaltung der Regulierung? Gab es institutionelle Konkurrenz zwischen den deutschen Bundesstaaten? Welche Auswirkungen ergaben sich aus der Regulierung im Hinblick auf die Allokation der Produktionsfaktoren und die Distribution der Produkte? All das sind Fragen, denen bisher kaum nachgegangen wurde.27 In internationaler Perspektive spielt der Regulierungs- bzw. institutionelle Wettbewerb zwischen Staaten eine immer wichtigere Rolle. Ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit dringt er zwar erst, seit die Globalisierung den Standortwettbewerb verschärft, er hat aber eine lange Tradition in der europäischen und deutschen Geschichte. Dennoch wird er in der historischen Forschung erst allmählich entdeckt.28 5. Administrative Perspektive Unter der mikroökonomischen Perspektive wurden Probleme aufgezeigt, die vornehmlich die öffentliche Wirtschaft betreffen. Jetzt soll es um die öffentliche Verwaltung gehen. Staatstätigkeit findet zu einem großen Teil in Verwaltungen statt. telqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters. Münster 1987, S. 127–188; Eberhard Schmauderer: Die Beziehung zwischen Lebensmittelwissenschaft, Lebensmittelrecht und Lebensmittelgesetzgebung im 19. Jahrhundert problemgeschichtlich betrachtet, in: Edith Heischkel-Artelt (Hg.): Ernährung und Ernährungslehre im 19. Jahrhundert. Göttingen 1976, S. 154– 177. 27 Gerold Ambrosius: Institutionelle Konkurrenz und Harmonisierung im Kaiserreich – das Beispiel der Regulierung von Lebensmitteln, erscheint demnächst in einem Sammelband von KarlPeter Ellerbrock und Clemens Wischermann zur Neuen Institutionenökonomik. Zur Vereinheitlichung weiterer Regulierungsgesetze im engeren Sinne während des Kaiserreichs siehe Karl Otto Schwerner: Rechtsvereinheitlichung für grenzüberschreitende Leistungen: Eisenbahnen, Banken, Versicherungen, in: Christian Starck (Hg.): Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze – Bedingungen, Ziele, Methoden. Göttingen 1991, S. 42–80. 28 Oliver Volckart: Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen im vormodernen Deutschland 1000–1800. Tübingen 2002; ders.: Zur Transformation der mitteleuropäischen Wirtschaftsordnung, 1000–1800, in: VSWG 88 (2001), S. 281–310; ders.: Systemwettbewerb als historisches Phänomen: Das Beispiel Deutschlands vom 10. bis zum 18. Jahrhundert, in: Manfred E. Streit/ Michael Wohlgemuth (Hg.): Systemwettbewerb als Herausforderung an Politik und Theorie. Baden-Baden 1999, S. 191–209.

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Seit etwa 20 Jahren gibt es eine weltweite Bewegung, die Staat und Verwaltung im Hinblick auf Aufbau- und Ablauforganisation modernisieren will. Sie wird allgemein als New Public Management bezeichnet und beschäftigt sich zum einen mit der gewandelten Rolle und den (Kern-) Tätigkeiten des Staates, zum Zweiten mit den Möglichkeiten einer Effizienzerhöhung der Verwaltung und zum Dritten mit Versuchen, durch Stärkung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen die Leistung des Staates zu verbessern. Hier interessiert vor allem das Bemühen, Effizienz und Effektivität durch verwaltungsinterne Veränderungen zu fördern, was in Deutschland seit einigen Jahren durch das so genannte ‚Neue Steuerungsmodelle‘ erreicht werden soll. Outputdenken, Kosten-Leistungsrechnung oder Budgetierung sollen zu stärkerer Beachtung des Wirtschaftlichkeitsprinzips führen. Spätestens seit Max Weber hat sich die systematische Bürokratieforschung zwar immer wieder mit diesen Problemen beschäftigt, der politische Druck, grundsätzliche Reformen in Angriff zu nehmen, hat sich in den letzten Jahren aber deutlich verstärkt. Auch von der historischen Bürokratieforschung sind diese Themen nicht ignoriert worden.29 Sie hat sich bisher aber vornehmlich den „klassischen“ Aspekten der Verwaltungsgeschichte gewidmet wie formalen Organisationsstrukturen, Professionalisierung und Qualifikation, Beamtentum und Beamtenpolitik oder Besoldung und Arbeitsbeziehungen.30 Dabei hat es seit dem 18. Jahrhundert immer wieder Versuche gegeben, Verwaltungshandeln zu rationalisieren und damit kostengünstiger zu gestalten. Über die diesen Versuchen zugrunde liegenden theoretischen Ansätze, über die konkreten Instrumente, ihre Implementierung und über ihre Erfolge oder Misserfolge ist allerdings relativ wenig bekannt. Hier eröffnet sich für den Wirtschafts-, ebenso wie für den Politik- und Verwaltungshistoriker, ein weiteres Forschungsfeld auf dem der In- und Output staatlicher Verwaltungen im Hinblick auf die konkreten Bedingungen ihrer Produktion, ihrer ,Betriebs- oder Verwaltungswirtschaft‘ untersucht werden können, was zudem ausgesprochen aktuell ist. 6. Methodische Perspektive Das Thema ,Staatstätigkeiten und Staatsunternehmen‘ eröffnet schließlich methodische Perspektiven. Die traditionelle Wirtschaftsgeschichte analysiert vornehmlich auf hermeneutischer Grundlage; sie versucht Quellen zu verstehen und zu interpretieren und geht historisch-induktiv – im Gegensatz zu systematisch-deduktiv – vor. Die moderne Wirtschaftsgeschichte hat dagegen eine gewisse Affinität zur wirtschaftswissenschaftlichen Modellökonomik, tut sich aber schwer, die teilweise sehr abstrakten Ansätze so operational zu formulieren, dass sie für eine historische Untersuchung geeignet sind. Das größte Problem besteht darin, dass die herkömm29 Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 9 (1997): Informations- und Kommunikationstechniken der öffentlichen Verwaltung. 30 Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie. Frankfurt a. M. 1986; Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte diverse Jahrgänge; Hans Fenske: Bürokratie in Deutschland vom späten Kaiserreich bis zur Gegenwart. Berlin 1985.

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liche Neoklassik eine Lehre ausschließlich von Gütern und Preisen ist, die gesellschaftliche Normen und spezifische Interessen, politische und staatliche Einrichtungen, Gesetze und Verordnungen in ihren Analysen nicht berücksichtigt.31 Mit der Neuen Institutionenökonomik hat sich seit den 1960er Jahren allerdings eine Theorierichtung auf prinzipiell neoklassischer Grundlage entwickelt, die für sich in Anspruch nimmt, sowohl informelle oder interne „Institutionen“ wie Sitten, Normen oder ganz allgemein kulturell geprägte Verhaltensweisen als auch formelle oder externe wie Verfassungen, Gesetze oder ganz allgemein staatlich gesetzte Regeln einer wirtschaftswissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Neben den Institutionen spielen dabei die Transaktionskosten und die Vertragsbeziehungen als Theorieelemente eine Rolle. Ein Ansatz, der sich ausdrücklich zum Ziel setzt, die Entstehung und den Wandel auch externer Institutionen zu erklären, muss sich vornehmlich mit dem Staat und seinen Tätigkeiten beschäftigen. Die damit verbundenen spezifischen Themen können ein „Einfallstor“ für die Neue Institutionenökonomik in die historische Forschung sein. Umgekehrt müssen geschichtliche Fallstudien zeigen, ob dieser Ansatz für empirische Untersuchungen überhaupt geeignet ist. Erst in Zukunft wird man sehen, ob er wirklich einen fruchtbaren Beitrag zur Analyse von Staatstätigkeiten leisten kann.32 Ein weiteres Theorieelement im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik stellen die Property Rights oder Verfügungsrechte dar.33 Sie sind besonders für die Untersuchung von Staatsunternehmen relevant und können vielleicht einen neuen Blickwinkel auf öffentliches Produktionsvermögen eröffnen. Die Neoklassik geht zwar prinzipiell davon aus, dass Privateigentum im Hinblick auf Effizienz und Effektivität dem Gemeineigentum überlegen ist. Die Vertreter der Neuen Institutionenökonomik betonen aber, dass ihr Ansatz gegenüber unterschiedlichen Eigentums- und Besitzformen nicht nur offen ist, sondern dass diese Formen durch die differenzierte Definition von Verfügungsrechten überhaupt erst adäquat erfasst werden können.34 Ob dies tatsächlich so ist, wird ebenfalls die Zukunft zeigen müssen, denn es gibt bisher nur wenige empirisch fundierte Fallstudien.35 Der institutionenökonomische Ansatz sollte keinen Wert an sich darstellen. Mit ihm sollten vielmehr neue Fragen gestellt, neue Forschungsfelder eröffnet, alte Themen neu bearbeitet und hoffentlich neue Antworten gefunden werden. Neben oder innerhalb der Neuen Institutionenökonomik hat sich mit der Neuen Politischen Ökonomik eine weitere Theorierichtung entfaltet, die für das hier be31 Siehe den Beitrag von Oliver Volckart in diesem Band. 32 Einen ersten Überblick in dieser Hinsicht bietet Douglass C. North: Theorie des institutionellen Wandels. Tübingen 1988. 33 Clemens Wischermann: Der Property-Rights-Ansatz und die „neue“ Wirtschaftsgeschichte, in: GG 19 (1993), S. 239–258. 34 Werner W. Engelhardt: Der Beitrag der Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North zu Theorien der öffentlichen Unternehmen und Genossenschaften, in: Peter Friedrich (Hg.): Beiträge zur Theorie öffentlicher Unternehmen. In memoriam Theo Thiemeyer. Baden-Baden 1992, S. 83–107. 35 Zu den wenigen Ausnahmen siehe Gerold Ambrosius: Neue Institutionenökonomik und Kommunalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein wirtschaftshistorisches Fallbeispiel zur Illustration einiger theoretischer Argumente, in: JbWG 1 (1999), S. 35–53.

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handelte Thema ebenfalls relevant ist.36 Sie versucht den entscheidungstheoretischen Ansatz der Neoklassik von den wirtschaftlichen auf die politischen „Märkte“ des politischen, staatlichen und administrativen Bereichs zu übertragen. Wähler, Politiker oder Bürokraten verhalten sich genauso wie Konsumenten und Investoren: Sie versuchen ihren Nutzen zu maximieren. In Anlehnung an die neben dem Markt existierenden gesellschaftlichen Koordinierungsverfahren – Wahl, Hierarchie, Verhandlung – haben sich ökonomische Theorien der Demokratie, der Bürokratie und der Kollektiventscheidungen entwickelt. In der traditionellen (wirtschafts)historischen Forschung hat das Eigeninteresse von Bürokraten zwar implizit – teilweise auch explizit –, kaum aber systematisch und theoriegeleitet Beachtung gefunden. Ebenso wie bei den anderen Theorieelementen der Neuen Institutionenökonomik könnten einerseits mit Hilfe einer ökonomischen Theorie der Bürokratie eventuell neue Erkenntnisse über Verwaltungshandeln, über bürokratisch-politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, über die Angebotsseite öffentlicher Leistungen generell gewonnen werden. Andererseits ist gerade die Verwaltungsgeschichte prädestiniert, die Validität der bürokratietheoretischen Überlegungen zu testen. Außerdem würde ein theorieorientiertes Gegengewicht gegen faktoranalytische Ansätze geschaffen, die Staatstätigkeiten und -leistungen vornehmlich von der Nachfrageseite her zu erklären versuchen. IV. Abschließende Bemerkungen Grenzt man, wie hier geschehen, das Thema ,Staatstätigkeiten und Staatsunternehmen‘ auf die öffentliche Eigenproduktion von Verwaltungs- und Versorgungsleistungen ein – lässt also den gesamten Bereich der „Produktion“ von „Politikleistungen“ unberücksichtigt –, so fällt auf, dass sich die VSWG bisher nur wenig damit beschäftigt hat. Dies erstaunt umso mehr, als sie bei ihrer Gründung am Anfang des 20. Jahrhunderts als historisch orientierte Zeitschrift ja gerade nicht der theoretischen Volkswirtschaftslehre verpflichtet war, sondern eher in der Tradition der Historischen Schule stand und diese Prägung letztlich bis heute beibehalten hat. Allerdings spiegelt die VSWG nur die Forschungspraxis der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wider und die hat sich für die hier angesprochenen Themen eben nur bedingt interessiert. Dies mag daran liegen, dass sich für die Entwicklung von Staatsquoten – insbesondere aus statistischer oder ökonometrischer Sicht – vornehmlich Ökonomen interessieren, für den bürokratiegeschichtlichen Aspekt eher Politik- und Verwaltungshistoriker und der unternehmensgeschichtliche als zu exotisch empfunden wurde. Zudem bevorzugt der Wirtschaftswissenschaftler, der theoretische Überlegungen mit empirischen und damit historischen Sachverhalten zu verbinden versucht, die einschlägigen Zeitschriften seiner engeren Zunft. Auch wenn angesichts der Tendenz zur Entstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft der Eindruck entsteht, dass der Staat mit seinen Verwaltungen und Unternehmen an Be36 Vgl. Bruno S. Frey/Gerhard Kirchgässner: Demokratische Wirtschaftspolitik. Theorie und Anwendung. München 1984; Patrick Dunleary: Democracy, Bureaucracy, and Public Choice. Economic Explanation in Political Science. New York 1991.

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deutung verliert, so bleibt er doch auch in Zukunft von zentraler Bedeutung für das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems. Die Modernisierung der Verwaltung durch das Neue Steuerungsmodell, das kooperative Verhältnis zwischen öffentlicher Verwaltung und privater Wirtschaft oder die Verflechtung von nationaler und europäischer Verwaltung sind nicht nur von verwaltungsinterner, sondern auch von wirtschafts-, letztlich gesellschaftspolitischer Brisanz. Im Hinblick auf öffentliche Unternehmen bzw. betriebliche Einrichtungen darf man sich von den formellen und materiellen Privatisierungen, die alle Gebietskörperschaften vollziehen, nicht täuschen lassen. Gleichzeitig wachsen durch Ausgliederungen und Neugründungen immer wieder öffentliche Unternehmen nach, besonders auf kommunaler Ebene. Zudem zeigen Großbritannien und andere Länder, dass das Thema der staatlichen Eigenproduktion aktuell bleiben wird. Dort hat eine radikale Privatisierungspolitik dazu geführt, dass die Versorgung der Menschen mit sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturleistungen in der Zwischenzeit so schlecht geworden ist, dass dies von weiten Teilen der Bevölkerungen nicht mehr akzeptiert wird. Diese Länder machen deutlich, wie problematisch es ist, daseinsvorsorgende Leistungen in angemessener Form durch private Unternehmen bereitstellen zu lassen und vom Staat nur noch halbherzig zu gewährleisten. Offensichtlich gibt es erhebliche Schwierigkeiten, private Unternehmen bei der Produktion und beim Angebot sozialer und wirtschaftlicher Infrastrukturleistungen durch öffentliche Regulierung zu einer verantwortungsbewussten Investitions-, Qualitäts- und Preispolitik zu zwingen. Dies mag Politiker und Wissenschaftler, die vom Segen liberalisierter Märkte überzeugt sind, überraschen. Der Historiker kann dagegen auf das 19. Jahrhundert verweisen, in dem diese Erfahrung schon einmal gemacht wurde und zum Aufbau der öffentlichen Wirtschaft führte. In jedem Fall wirft das Thema „Staatstätigkeiten und Staatsunternehmen“ unter aktueller Perspektive eine Fülle von interessanten Fragen auf, die darauf warten, von der historischen Forschung aufgegriffen zu werden.

Markus A. Denzel KONJUNKTUREN IM MITTELALTER UND IN DER FRÜHEN NEUZEIT „Entscheidend ist, wie Krisis und Aufschwung definiert werden, woran es leider vielfach noch fehlt.“ (Wilhelm Abel)1

Einleitung Vor einem Vierteljahrhundert konstatierte Richard Tilly eine „Renaissance der historischen Konjunkturforschung in Deutschland“,2 worunter „die theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung zyklischen Wirtschaftswachstums im historischen Zeitverlauf [verstanden wird]. Damit umschreibt ‚historische Konjunkturforschung‘ zugleich ein eigenes, interdisziplinär angelegtes Forschungsfeld, in dem Ansätze aus unterschiedlichen Bereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aufgenommen und angewandt werden, um die komplexen historischen Konjunkturphänomene zu beschreiben, zu analysieren und nach Möglichkeit zu erklären.“3 Nach Reinhard Spree kann Konjunktur begriffen werden als „eine Bewegung innerhalb komplexer Strukturen, die sich erst auf einem relativ hohen Aggregationsniveau erfassen läßt“ – d. h. wohl in der Regel auf der Ebene von Volkswirtschaften –, wobei der Begriff meist zusätzlich auf Industriewirtschaften eingeengt wird.4 Nach diesen exemplarischen Zitaten scheint die Erforschung von Konjunkturgeschichte in vorindustriellen Wirtschaften in der einschlägigen neueren wirtschaftshistorischen Forschung nur auf geringes Interesse zu stoßen, wenn sie denn überhaupt vorgesehen ist. Sie wird aber nichtsdestoweniger seit mehr als sieben Jahrzehnten in Deutschland ebenso wie international praktiziert. Der folgende Beitrag versucht daher, drei Fragen zu beantworten: – Ist der Begriff „Konjunktur“ bzw. „Konjunkturgeschichte“ überhaupt auf die vorindustrielle Zeit anwendbar und, wenn ja, in welchem Maße und mit welcher Aussagekraft? – Welche zentralen Forschungsgegenstände, -richtungen und -erkenntnisse wurden im Bereich der vorindustriellen Konjunkturgeschichte in Mitteleuropa aufgegriffen und diskutiert? 1 2 3 4

Wilhelm Abel: Struktur und Krisen der spätmittelalterlichen Wirtschaft. Stuttgart/New York 1980, S. 132. Richard Tilly: Konjunkturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, in: Wilhelm Heinz Schröder/ Reinhard Spree (Hg.): Historische Konjunkturforschung. Stuttgart 1981, S. 18–28, hier 18. Wilhelm Heinz Schröder/Reinhard Spree: Historische Konjunkturforschung: Aufriß und Desiderata, in: Ebd., S. 7–17, hier 7. Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880 mit einem konjunkturstatistischen Anhang. Berlin 1977, S. 37 sowie 16.

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Wo gibt es Desiderate, wo liegen Ansätze und Chancen für künftige, vertiefende Forschungen? Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes unmöglich, dabei nach Vollständigkeit der Facetten dieses umfangreichen Themas oder der hierzu erschienenen Literatur zu streben; insbesondere im zweiten Teil können nur einige zentrale Grundlinien aufgezeigt und vor allem, aber nicht ausschließlich – wie im Konzept für den vorliegenden Band vorgesehen – durch Beiträge in der VSWG und ihren Beiheften untermauert werden. Ein räumlicher Schwerpunkt der folgenden Ausführungen wird auf Deutschland gelegt, ein zeitlicher auf das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis in das ausgehende 18. Jahrhundert. Auf die zahlreichen europäischen und nordamerikanischen Beiträge zur vorindustriellen Konjunkturgeschichte kann im hier gesteckten Rahmen nur dann eingegangen werden, wenn sich unmittelbare Bezüge zur Konjunkturgeschichte Mitteleuropas ergeben. Zum Begriff der „Konjunkturgeschichte“ für die vorindustrielle Zeit Wie bereits angedeutet, ist es keine Selbstverständlichkeit, den Begriff „Konjunkturgeschichte“ auch im Rahmen der Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit anzuwenden, da das in industriellen Volkswirtschaften festzustellende wirtschaftliche Wachstum in der vorindustriellen Zeit (weitgehend) fehlte. Die vorindustrielle Zeit galt und gilt den Ökonomen vielfach als eine „Vorgeschichte der Konjunkturbewegungen“, die mindestens bis in die 1950er Jahre hinein als „eine Geschichte von Krisen gekennzeichnet [wird], die nach verbreiteter Auffassung – meist als Handelskrisen – auf einer vorkapitalistischen Entwicklungsstufe, möglicherweise schon im Altertum, den im übrigen mehr oder minder ruhigen Fluß des wirtschaftlichen Geschehens als von außen kommende Ereignisse störten“.5 Derartige Unregelmäßigkeiten im wirtschaftlichen Geschehen konnten durch Kriege und Naturkatastrophen hervorgerufen werden, die sich zudem in bestimmten Epochen häuften. Solche Krisenzeiten in der Antike herrschten nach Schumpeter um 594 v. Chr. in Athen unter Solon und dann während des Übergangs der Römischen Republik in den Principat in den ausgehenden 30er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr.6 Die zweifellos wichtigste „konjunkturelle“ Erfahrung in den agrarischen Gesell5

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Gustav Clausing: Art. „Konjunkturen“, in: Erwin von Beckerath u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Zugleich Neuauflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, 6. Band: Klasse und Stand – Lösch. Göttingen 1959, S. 133–141, hier 134 (Hervorhebung im Original). – Nach Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zu Gegenwart, II. Band: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert, 1. Halbband. 2. Aufl., München/Leipzig 1916, S. 211, handelte es sich hierbei um Absatzkrisen. Joseph A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. 2 Bände. Göttingen 1961 (Original: Business Cycles. A Theoretical, Historical, and Statistical Analysis of the Capitalist Process. New York/London 1939), Band I, S. 234–236. Vgl. auch Fritz M. Heichelheim: Wirtschaftliche Schwankungen der Zeit von Alexander bis Augustus. Jena 1930.

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schaften der gesamten vorindustriellen Zeit war die Abfolge von Wohlstands- und Hungerperioden infolge meist wetterbedingter Ernteschwankungen. Als Paradebeispiel solcher Ernteschwankungen wird dabei regelmäßig auf die sieben fetten und die sieben mageren Jahre im Ägypten des biblischen Joseph (Gen. 41, 1-36) verwiesen.7 Im mittelalterlichen Europa waren nach Joseph Schumpeter zyklische Schwankungen im Kreditsektor im Mittelmeerraum bereits seit dem 12. Jahrhundert feststellbar. Die „Konjunkturschwankungen des kapitalistischen Zeitalters“ lässt er dann mit der Wirtschaftskrise in den Niederlanden von 1565, mit der Tulpenkrise von 1634–1637/39, der Gründungskrise um die Banque Générale und die Compagnie d’Occident in Frankreich und dem Südsee-Schwindel (South Sea Bubble) um 1720, den periodischen Krisen in England im 18. Jahrhundert und der Handels- und/ oder Kreditkrise von 1763 einsetzen.8 Arthur Spiethoff, der den „geschichtlichen Ablauf der wirtschaftlichen Wechsellagen“ in die drei Stufen Altertum, Frühkapitalismus und Übergangszeit gliederte, sah in der Epoche des Frühkapitalismus die Spekulation in Wechselbriefen und staatlichen Anleihen des 16. und 17. Jahrhunderts als bedeutsam für die europäische Entwicklung an, die er allerdings nicht als Kapitalkrisen einstufte, sondern auf die Misswirtschaft der Fürsten zurückführte. Er führt dabei dieselben Beispiele wie Schumpeter an und lässt ab etwa 1790 die „Übergangsphase“ beginnen, die durch kurzfristig aufeinanderfolgende Krisen und kurze Wirtschaftsschwankungen gekennzeichnet sei.9 Diesen beiden maßgeblichen Einschätzungen folgt im Wesentlichen auch die moderne volkswirtschaftliche Konjunkturtheorie, die diese Krisen als Überspekulationskrisen im Bereich des Warenoder später des Effektenhandels bewertet.10 Dieser auch in der wirtschaftshistorischen Forschung oft vertretenen Ansicht, wie das obige Zitat von Spree beispielhaft belegt, setzt der Ökonom und Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel11 im ersten seiner beiden Spätwerke entgegen: „Doch schließt die somit recht spät erst anhebende Geschichte der modernen Konjunktur nicht aus, daß es eine Vorgeschichte gibt, die, wenn auch nicht auf den Kern, so doch auf gewisse Randerscheinungen, vielleicht sogar unabdingbare Elemente des 7 Hans-Jürgen Vosgerau: Art. „Konjunkturtheorie“, in: Willi Albers u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW). Zugleich Neuauflage des Handwörterbuchs der Sozialwissenschaften. Ungekürzte Studienausgabe, 4. Band: Handelsrechtliche Vertretung bis Kreditwesen der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart u. a. 1988, S. 478–507, hier 485. 8 Schumpeter, Konjunkturzyklen (wie Anm. 6), Band I, S. 234–236, 292 Anm. 69. Vgl. auch Michael von Tugan Baranowsky: Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England. Jena 1901; Mentor Bouniatian: Geschichte der Handelskrisen in England, 1640 bis 1840. München 1908; und, obwohl keine konjunkturgeschichtliche Studie im eigentlichen Sinne, Stephan Skalweit: Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763 und ihre Hintergründe (VSWG, Beiheft 34). Stuttgart 1937. 9 Arthur Spiethoff: Art. „Krisen“, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Aufl., Band IV, 1925. Erneut abgedruckt in: Arthur Spiethoff: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Aufschwung, Krise, Stockung. Tübingen u. a. 1955. 10 Clausing, Art. „Konjunkturen“ (wie Anm. 5), S. 134; Vosgerau, Art. „Konjunkturtheorie“ (wie Anm. 7), S. 485. 11 Vgl. Hermann Kellenbenz: Nachruf Wilhelm Abel (1904–1985), in: VSWG 73 (1986), S. 297– 300.

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modernen Konjunkturgeschehens abhebt.“12 Abel geht demnach für die vorindustrielle Zeit nicht nur von einzelnen besonders markanten Krisen aus, sondern von konjunkturellen Erscheinungen, die zumindest für einzelne Sektoren der Wirtschaft – insbesondere ihren im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wichtigsten: die Landwirtschaft – nachweisbar sind. Diese von Abel seit den 1930er Jahren vertretene und vielfach belegte These (auf die unten noch näher einzugehen sein wird) fand teilweise Eingang auch in die volkswirtschaftliche Theorie, wie beispielsweise in die Konjunkturlehre von Günter Schmölders: „Die engen Beziehungen, die zwischen den Getreidepreisen und der Bevölkerungsbewegung zutagetraten, sind somit gewissermaßen die erste Konjunkturstatistik; die wirtschaftliche Lage der Bauern spiegelt sich in der Zahl ihrer Eheschließungen und Geburten anschaulich wider, und schwere Zeiten, Mißernten und Teuerungen sind von Auswanderung, Bevölkerungsstillstand und einem Absinken der Heiratshäufigkeit begleitet.“13 Allerdings räumt auch Abel ein: „Hebt man dagegen auf industrielle Investitionen ab, so wird Sombarts These kaum bestritten werden können, daß konjunkturelle Schwankungen nicht vor der Phase verstärkter industrieller Bindungen, bei Sombart dem ‚Hochkapitalismus‘, auftreten können.“14 Ähnlich äußerte sich Hermann Kellenbenz in seinem Resümee zur 8. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Köln 1979,15 die sich mit dem Thema „Wirtschaftliche Wechsellagen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft“ auseinandersetzte: „Über dieses Thema läßt sich begreiflicherweise hauptsächlich etwas für die Industrialisierungsphase aussagen; in einem weiteren Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung Europas bietet es aber auch für die vorhergehende ‚prästatistische‘ Phase gewisse Aspekte von Interesse. Jedenfalls gilt dies für den, der den Industrialisierungsprozeß nicht mit der Wattschen Dampfmaschine beginnen läßt, sondern den ins Mittelalter zurückreichenden Horizont einbezieht.“16 Das zentrale Problem der Konjunkturgeschichtsforschung für die vorindustrielle Zeit sah Abel darin, dass eine „Typologie der Krisen, Zyklen und Zyklenfolgen“ fehle.17 Allenfalls gebe es bislang verschiedene Bezeichnungen für die unterschiedlichen Krisen. So differenzierte beispielsweise Mentor Bouniatian in allgemeine und spezielle Wirtschaftskrisen; bei Letzteren konnte es sich um eine Geld- oder 12 Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg/Berlin 1974, S. 310 (Hervorhebung im Original). 13 Günter Schmölders: Konjunkturen und Krisen. Hamburg 1955, S. 19. 14 Abel, Massenarmut (wie Anm. 12), S. 310 nach Sombart, Der moderne Kapitalismus II/1 (wie Anm. 5), S. 208–228; III. Band: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, 2. Halbband: Der Hergang der hochkapitalistischen Wirtschaft. Die Gesamtwirtschaft. München/ Leipzig 1927, S. 563–586. 15 Vgl. Jörg Rode: Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1961–1998). Stuttgart 1998, S. 60–62. 16 Hermann Kellenbenz: Schlußbetrachtung. Wirtschaftliche Wechsellagen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft, in: Ders. (Hg.): Wachstumsschwankungen. Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen (Spätmittelalter bis 20. Jahrhundert). Stuttgart 1981, S. 317–337, hier 317. 17 Abel, Massenarmut (wie Anm. 12), S. 311. Vgl. Fernand Braudel/Frank C. Spooner: Prices in Europe from 1450 to 1750, in: Cambridge Economic History of Europe, Vol. 4. Cambridge 1967, S. 374–486, hier 438.

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Kreditkrise, eine Krise der Güterproduktion (Agrar- oder Industriekrise) oder eine Handelskrise (Krise des Güterverkehrs/Handelswarenkrise oder des Kapitalverkehrs/Börsenkrise) handeln. Dabei trennte Bouniatian zwischen den verschiedenen speziellen Krisen strikt und vernachlässigte somit die Interdependenz der in den Markt einbezogenen Größen in ihren Auswirkungen auf die Entwicklung von Krisen.18 Gerade die anachronistische Übertragung von Konjunkturzyklen, die für die industrielle Ära festgestellt wurden, in die vorindustrielle Zeit lehnt Abel massiv ab: „Die Verwirrung wird auf die Spitze getrieben, wenn Bezeichnungen wie Kitchin-Zyklus, Juglar-Zyklus und Kondratieff-Zyklus, die von der neueren Konjunkturforschung geprägt wurden, auf frühere Jahrhunderte übertragen werden, weil in den Preisschwankungen Längen gefunden wurden, die der Dauer dieser Zyklen zu entsprechen scheinen.“19 Abel kritisiert in diesem Zusammenhang auch das Vorgehen von Fernand Braudel und Frank C. Spooner,20 die bei ihren preis- und konjunkturhistorischen Untersuchungen eben diesen „Fehler“ begangen hätten. Braudel sieht die Wirtschaftskonjunktur als Teil einer allgemeinen Konjunktur21 und stellt dabei die Preiskonjunktur in den Mittelpunkt. Er unterscheidet zwischen kurzfristigen Schwankungen der Konjunktur, hervorgerufen durch Missernten und anderweitige Verknappung von Gütern, und wesentlich längerfristigen Bewegungsvorgängen oder sogenannten „Konjunkturzyklen“, wobei er den sechs- bis achtjährigen Juglar-Zyklus22 als für die Wirtschaft des Ancien Régime typisch erachtet.23 Er sieht aber auch drei- bis vierjährige Kitchin-Zyklen – im Handelsverkehr von Sevilla im 16. Jahrhundert (Pierre Chaunu; s. u.) – und bis zu einem halben Jahrhundert dauernde KondratieffZyklen – im Falle der Kölner Getreide- und Brotpreise zwischen 1368 und 179724 – als erwiesen an.25 18 Mentor Bouniatian: Wirtschaftskrisen und Überkapitalisation: Eine Untersuchung über die Erscheinungsformen und Ursachen der periodischen Wirtschaftskrisen. München 1908, S. 8. 19 Abel, Massenarmut (wie Anm. 12), S. 311 (Hervorhebung durch Verfasser). 20 Braudel/Spooner, Prices in Europe (wie Anm. 17), S. 423 ff. 21 Diese allgemeine Konjunktur setzt Braudel mit dem von G. H. Bosquet 1923 geprägten Begriff der „sozialen Bewegung“ gleich, worunter man sich „sämtliche Bewegungen innerhalb einer Gesellschaft vorzustellen [hat], die durch ihr Zusammenwirken die Konjunktur ergeben. Oder, besser, die Konjunkturen, die sich auf den verschiedensten Sektoren feststellen lassen: in Wirtschaft, Politik und Bevölkerungsentwicklung so gut wie bei der Bewußtseinsbildung und der kollektiven Mentalität, im Ansteigen und Abflauen der Kriminalität, in der Abfolge der Kunstrichtungen, literarischen Strömungen und sogar der im Westen ganz dem Augenblick verhafteten Mode. Diese überaus komplexe Konjunkturgeschichte aber ist, da nur die Wirtschaftskonjunktur ernstlich untersucht, wenn schon nicht in letzter Konsequenz erforscht wurde, recht lückenhaft“; Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. München 1986 (Original: Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe– XVIIIe siècle. Le temps du monde. Paris 1979), S. 74. 22 Clement Juglar: Des crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux États-Unis. Paris 1862. 23 Braudel, Aufbruch zur Weltwirtschaft (wie Anm. 21), S. 74 f. 24 Dietrich Ebeling/Franz Irsigler: Getreideumsatz, Getreide- und Brotpreise in Köln 1368–1797. 2 Bände. Köln u. a. 1976. 25 Braudel, Aufbruch zur Weltwirtschaft (wie Anm. 21), S. 76.

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Mit Wilfried Reininghaus bleibt festzuhalten: „Vorindustrielle Konjunkturen reagierten nicht auf Schwankungen in der Investitionsquote, also auf einzelunternehmerische Entscheidungen, sondern hatten überwiegend Ursachen, die nicht in den Bereich Handel oder Produktion fielen. Die natürlichen Rahmenbedingungen, vor allem die Ernteergebnisse, bemaßen den Spielraum für den Absatz gewerblicher Produkte. […] Weil sich die Konjunkturverläufe der vorindustriellen von denen der kapitalistischen [vielleicht besser: industriellen; Anmerkung des Autors] Zeit wegen der Dominanz exogener Faktoren unterscheiden, hat die moderne Konjunkturgeschichte einen Trennungsstrich zwischen beiden Epochen gezogen.“26 Für den Wirtschaftshistoriker ist es demnach sinnvoll, auch für die Jahrhunderte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit konjunkturgeschichtliche Entwicklungen zu erforschen, und er kann durchaus zusammenfassend von „Konjunkturgeschichte“ sprechen; er hat sich allerdings dessen bewusst zu sein, dass er – bedingt durch die vorhandenen Quellen – allenfalls einzelne konjunkturgeschichtliche Entwicklungen erfassen kann, und dies auf der Grundlage von größtenteils anderen Indikatoren und folglich auch mit Hilfe eines anderen methodischen Instrumentariums als für die industrielle und statistische Zeit seit dem 19. Jahrhundert verfügbar. Der Konjunkturhistoriker der vorindustriellen Zeit wird demnach vorrangig zu zeitlich, regional oder sektoral (mindestens) eingeschränkten Aussagen über konjunkturelle Schwankungen gelangen, die ihm aber nichtsdestoweniger wichtige Aufschlüsse über wesentliche Teilaspekte, vielfach auch über Grundtendenzen von gesamtwirtschaftlichen konjunkturellen Entwicklungen vermitteln. Gerade diese Vielfalt, „dieses räumliche und zeitliche Durcheinander der verschiedenen Teilkonjunkturen“, kann nach Sombart „geradezu als das Hauptkennzeichen der Marktverhältnisse“ der vorindustriellen Ära angesehen werden.27 Zum Forschungsstand 1. Indikatoren vorindustrieller Konjunkturen Anders als für die Erforschung der Konjunkturgeschichte der industriellen Zeit steht für die des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – die vorstatistische Epoche – nur in begrenztem Umfang brauchbares Quellenmaterial zur Verfügung, das Aussagen über konjunkturelle Entwicklungen zulässt, da kaum einschlägige Daten vorhanden sind, die heute für Konjunkturforschung verwandt werden (z. B. Auftragslage, Lagerhaltung oder Kapazitätsauslastung der Unternehmen).28 Geeignete und sinnvolle Indikatoren zu finden, war und ist für die konjunkturgeschichtliche Forschung somit immer ein zentrales Anliegen, zumal die gefundenen Indikatoren und Quellen die möglichen Erkenntnisse determinieren (können). Besonders drastisch ist dies 26 Wilfried Reininghaus: Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700–1815). Dortmund 1995, S. 365. 27 Sombart, Der moderne Kapitalismus II/1 (wie Anm. 5), S. 225. 28 Reininghaus, Iserlohn (wie Anm. 26), S. 366.

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für das Mittelalter der Fall, wofür Jan van Houtte vor allem Produktionsdaten, Handelsumsätze, Münzprägungen und Bevölkerungszahlen als Indikatoren der Wirtschaftsentwicklung anführt, auch wenn diese fast ausschließlich erst für das spätere Mittelalter (ab dem 13./14. Jahrhundert) und auch hier nur rudimentär, jedoch kaum in serieller Form zur Verfügung stehen. Daher „müssen sich Betrachtungen über ma. K. [mittelalterliche Konjunktur] insgesamt auf allg. Eindrücke stützen und auf langfristige Trends beschränken.“29 Das Problem, geeignete serielle, wirtschaftshistorisch-statistische Daten auch für die vorindustrielle Zeit zu erhalten, um die von der Konjunkturtheorie behaupteten „langen Wellen“ im Ablauf der Konjunkturzyklen zu belegen, führte zur systematischen Aufarbeitung von Preisen und Löhnen, die in Deutschland durch die deutsche Arbeitsgruppe des „Internationalen Komitees für die Geschichte der Preise und Löhne“ unter der Leitung von Moritz J. Elsas Anfang der 1930er Jahre einsetzte.30 Demzufolge stand auch die Erarbeitung „langer Reihen“ deutlich mehr im Vordergrund dieser Forschungen als die Frage nach der Homogenität der Daten und die Frage, ob es sich um typische Wirtschaftsabläufe und um echte Preise und Löhne handelt. Deswegen wurden vorrangig Quellen ausgewertet, die weitgehend ununterbrochene serielle Daten liefern, wie vor allem die Rechnungen öffentlicher Körperschaften oder sozialer Institutionen (vor allem von Hospitälern). Die Wiederaufnahme der preishistorischen Forschungen in großem Stil nach dem Zweiten Weltkrieg geschah dann in den beginnenden 1960er Jahren unter Wilhelm Abel, der die Preis- und Lohngeschichtlichen Sammlungen des 1933 nach Großbritannien emigrierten und 1952 verstorbenen Elsas an das Göttinger Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte holte,31 wo sie zu einer zentralen Materialgrundlage für die einschlägigen Arbeiten Abels und seiner Schüler wurden.32 1967 bis 1971 wurde die Sammlung durch umfangreiche Daten zur Lohngeschichte ergänzt,33 in den 1980er Jahren dann auch nochmals zur Preisgeschichte.34 Die erarbeiteten preis- und lohn29 Jan A. van Houtte: Art. „Konjunktur“, in: Lexikon des Mittelalters V: Hiera-Mittel bis Lukanien. München/Zürich 1991, Sp. 1333 f., hier 1333. 30 Moritz J. Elsas: Umriß einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland. Bände I, II A und II B. Leiden 1936, 1940 (herausgegeben 1946), 1949. 31 Wilhelm Abel: Preis-, Lohn- und Agrargeschichte, in: Heinz Haushofer/Willi A. Boelcke (Hg.): Wege und Forschungen der Agrargeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Günter Franz (ZAA, Sonderband 3). Frankfurt a. M. 1967, S. 67–79. – Diese Sammlungen stehen (nach einer kurzen Phase der Verwaltung durch die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen in den Jahren 2001 und 2002) seit 2003 am Historischen Seminar der Universität Leipzig der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung. Einschlägige Anfragen werden an den Verfasser dieses Beitrags erbeten. 32 Für Abel waren Preise das „wichtigste Material der Konjunktur- und Krisengeschichte“; Abel, Massenarmut (wie Anm. 12), S. 259. Vgl. Hans-Jürgen Gerhard: Frühneuzeitliche Preisgeschichte: Historische Ansätze und Methoden, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. 17. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Jena 1997 (VSWG, Beiheft 145). Stuttgart 1998, S. 73–87, hier 74. 33 Großenteils ediert: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.): Löhne im vor- und frühindustriellen Deutschland. Materialien zur Entwicklung von Lohnsätzen von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1984. 34 Großenteils ediert: Ders./Karl Heinrich Kaufhold: Preise im vor- und frühindustriellen Deutsch-

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geschichtlichen Materialbände sind bislang nur zu Teilen ausgewertet, insbesondere von den Bearbeitern selbst.35 Eine kritische Bilanz dieser ersten veröffentlichten preis- und lohngeschichtlichen Sammlungen, die der Gewinnung des „Urmaterial[s] für die statistischen Manipulationen“ dienten, zog Franz Lerner für Deutschland in einem Sammelbericht in der VSWG bereits 1952:36 Er betonte dabei die gegenüber vergleichbaren preishistorischen Arbeiten in den Niederlanden, Österreich oder Italien festzustellenden Schwächen der Elsas’schen Bände, die er in der relativ mangelhaften methodischen Durchdringung des Materials und in der Verzeichnung der Preise und Taxen in „Denaren der Zeit“ gegeben sah, die keinerlei „Vergleichsmöglichkeit in vertikaler und interlokaler Richtung“ gestatteten. „Dagegen lassen sich u.U. dank der Fülle der Waren recht aufschlußreiche horizontale Preisreihen zusammenstellen, wobei allerdings eine kritische Musterung auf Grund der Erläuterungen unerläßlich ist.“37 Dem ist bis heute nichts hinzuzufügen. – Ähnliche Probleme ergaben sich auch im Bereich der bisherigen Lohnforschung, die nach Reinhold Reith in der Regel auf einen Teilbereich des Gewerbes (vorrangig das Baugewerbe), auf eine Lohnform (Zeitlohn in der Form des Taglohns) und auf eine Form des Einkommens (Geldlohn) begrenzt blieb. Dabei wurde versucht, die Nominallöhne auf der Grundlage von Getreideäquivalenten (sogenannten Kornlöhnen) oder mit Hilfe eines Warenkorbes zur Kaufkraftmessung in Reallöhne umzurechnen, um einerseits intertemporale und interlokale Vergleiche zu ermöglichen und andererseits durch die Verschränkung von Preisen und (Real)Löhnen Aussagen über säkulare Trends des Lebensstandards und der Lebensbedingungen treffen zu können.38 Preise und Löhne sind demnach wichtige, aber methodisch sehr umstrittene und diskussionswürdige Indikatoren für konjunkturgeschichtliche Fragestellungen. Ge-

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land. Grundnahrungsmittel. Göttingen 1990; dies.: Preise im vor- und frühindustriellen Deutschland. Nahrungsmittel – Getränke – Gewürze, Rohstoffe und Gewerbeprodukte. Stuttgart 2001. – Zur Geschichte dieser preis- und lohngeschichtlichen Sammlungen: Karl Heinrich Kaufhold: Forschungen zur deutschen Preis- und Lohngeschichte (seit 1930), in: Hermann Kellenbenz/ Hans Pohl (Hg.): Historia Socialis et Oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 84). Stuttgart 1987, S. 81–101; ders.: Die Bestände der preis- und lohngeschichtlichen Sammlungen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, in: VSWG 76 (1989), S. 76–79. U. a. aus konjunkturgeschichtlicher Perspektive von Interesse: Hans-Jürgen Gerhard: Diensteinkommen der Göttinger Officianten 1750–1850. Göttingen 1978; ders.: Gewürzpreise in europäischen Handelszentren im 18. Jahrhundert, in: Markus A. Denzel (Hg.): Gewürze: Produktion, Handel und Konsum in der Frühen Neuzeit. Beiträge zum 2. Ernährungshistorischen Kolloquium im Landkreis Kulmbach. St. Katharinen 1999, S. 149–186; Hans-Jürgen Gerhard: Entwicklungen auf europäischen Kaffeemärkten 1735–1810. Eine preishistorische Studie zur Geschichte eines Welthandelsgutes, in: Markus A. Denzel/Rainer Gömmel (Hg.): Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 159). Stuttgart 2002, S. 151–168. Franz Lerner: Neue Beiträge zur Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland, Holland und Italien, in: VSWG 39 (1952), S. 251–265, hier 251. Ebd., S. 257. Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900 (VSWG, Beiheft 151). Stuttgart 1999, S. 28 f.

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rade um die Aussagekraft von Preisen und Löhnen als Indikatoren zu untermauern, betonte bereits Ernst Wagemann, der Gründer des Instituts für Konjunkturforschung in Deutschland, daneben auch die Güterseite und forderte die Heranziehung von Produktions- und Umsatzreihen aus Bergbau, Gewerbe, Handel (Ein- und Ausfuhr) und Transportleistung.39 Insbesondere für den Bereich der Handelskonjunkturen – hier verstanden im Sinne von konjunkturellen Entwicklungen im Handel mit Gütern und Geld – sowie der Konjunkturen im Bergbau ist ein deutlich größeres Indikatorenbündel als allein Preise und Löhne erforderlich. Dabei erscheint es für die vorindustrielle Zeit geradezu unabdingbar, von der gesamtwirtschaftlichen Ebene auf die regionale oder lokale „herunterzusteigen“, denn „unterhalb der Makroebene sind Aussagen zu den wirtschaftlichen Wechsellagen einzelner Orte und Regionen möglich, wenn man sich bewußt auch solchen Fakten nähert“40, die als „Sinntexturen, die aus begrenzten empirischen Befunden abgeleitet werden“41, begriffen werden. Drei Beispiele der jüngeren Forschung mögen verdeutlichen, wie ein derartiges Indikatorenbündel, abhängig einerseits von der Quellenlage, andererseits von der Fragestellung, zur Erforschung von Handelskonjunkturen zusammengesetzt sein kann: Wilfried Reininghaus nennt an heranzuziehenden exogenen Faktoren für die konjunkturelle Entwicklung der Stadt Iserlohn Kriege und (Natur)Katastrophen, Handelshemmnisse (vor allem die Zollpolitik) und -sperren (zum Beispiel die Kontinentalsperre42), Agrar- und Rohstoffpreise, wobei gerade die Getreidepreise den Zusammenhang mit den europäischen Agrarkonjunkturen herstellen. Zu berücksichtigen sind aber auch Innovationen,43 die Einführung neuer Produkte und die Erschließung neuer Märkte, die sich ja durchwegs positiv auf die Konjunktur auswirkten. Als quantifizierbare Indikatoren für die Konjunkturlage führt er Beschäftigten-, Produktions- und Absatzzahlen44 in einzelnen Gewerbezweigen, Konkurse, Veränderungen in der Größe der Stadtbevölkerung bzw. der Häuserzahl sowie die Bautätigkeit in einer Stadt an.45 Michael North rekonstruiert den Konjunkturverlauf 39 Ernst Wagemann: Konjunkturlehre: Eine Grundlage zur Lehre vom Rhythmus der Wirtschaft. Berlin 1928. Vgl. auch Ullrich Heilemann: Zu den Anfängen der Konjunkturforschung in Deutschland (1925–1933). Dortmund 1998. 40 Reininghaus, Iserlohn (wie Anm. 26), S. 366. 41 Spree, Wachstumszyklen (wie Anm. 4), S. 47. 42 Vgl. Diedrich Saalfeld: Die Kontinentalsperre, in: Hans Pohl (Hg.): Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 11. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 9. bis 13. April 1985 in Hohenheim (VSWG, Beiheft 80). Stuttgart 1987, S. 121– 139. 43 Zur Bedeutung von Innovationen in diesem Zusammenhang Schumpeter, Konjunkturzyklen (wie Anm. 6), Band 1, S. 94–116; Fritz Redlich: Die Neuerung im Geschäftsleben, in: Ders.: Der Unternehmer. Wirtschaft- und Sozialgeschichtliche Studien. Göttingen 1964, S. 124–131, hier 128. Vgl. auch Christian Reinicke: Agrarkonjunktur und technisch-organisatorische Innovationen auf dem Agrarsektor im Spiegel niederrheinischer Pachtverträge 1200–1600. Köln/ Wien 1989, der allerdings die konjunkturelle Entwicklung nicht berücksichtigt. 44 Eine hervorragende Quelle für die Absatzlage sind Messeberichte; Reininghaus, Iserlohn (wie Anm. 26), S. 367. 45 Ebd., S. 365 ff.

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in einzelnen norddeutschen Städten an der Preisentwicklung, am Schiffs- und Warenverkehr und an der Entwicklung von Vermögen und Rentenmarkt.46 Markus A. Denzel arbeitet zur Erforschung der Messekonjunkturen in Braunschweig mit dem Indikatorenbündel Besucherverkehr, Preisentwicklung, Warenverkehr und Spekulationsgeschäfte sowie Absatzentwicklung, Geld- und Kreditwesen.47 2. Arbeitsfelder vorindustrieller Konjunkturgeschichtsforschung Als die drei wichtigsten Arbeitsfelder vorindustrieller Konjunkturgeschichtsforschung in Mitteleuropa, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, sind Agrarkonjunkturen, Konjunkturen im Bergbau und Handelskonjunkturen anzuführen. 1. Im Bereich der Agrarkonjunkturen und ihren Auswirkungen auf die vorindustrielle Wirtschaft und Gesellschaft übten im mitteleuropäischen Raum, doch auch weit darüber hinaus zweifelsohne die Studien von Wilhelm Abel den bedeutendsten Einfluss aus – sei es als Anregung zur Weiterarbeit und Vertiefung, sei es zur kritischen Hinterfragung. In seiner richtungsweisenden Habilitationsschrift entwickelte Abel das Verfahren, das Auf und Ab der Agrarkonjunktur aus dem Verlauf verschiedener Preis- und Lohnreihen abzulesen.48 Dieses Buch stellte nach Frantiãek Graus in der Zwischenkriegszeit „den eigentlichen Wendepunkt in der Diskussion“ um die sogenannte Krise des Spätmittelalters dar, da hierdurch der Begriff der „Agrarkrise“ zu einem fest umrissenen „quasi technischen Begriff der Wirtschaftsgeschichte“ wurde.49 Die innovative Methode der Aufstellung von Lohn-Preis-Scheren zieht sich durch das gesamte Werk Abels und erfuhr auch in späteren Publikationen und Neuauflagen keine wesentliche Veränderung. Allerdings begann Abel selbst in seinem Spätwerk den Begriff der „Agrarkrise“ durch den der „Agrardepression“ zu ersetzen, denn ihm erschien der Begriff der „Krisis“ nur mehr im Hinblick auf die Produktionsseite der Wirtschaft gerechtfertigt, da er einen Anstieg des relativen Sozialprodukts, d. h. der Masseneinkommen und des Verbrauchs hochwertiger Nahrungsmittel, konstatieren zu können glaubte.50 In seiner Habilitationsschrift wie auch in seinen späteren Studien griff Abel nicht auf die von der Volkswirtschaftslehre bis 1935 entwickelten Modelle zurück und betonte nicht die relativ kurzfristigen Ereignisse im Konjunkturverlauf, son46 Michael North: Geldumlauf und Wirtschaftskonjunktur im südlichen Ostseeraum an der Wende zur Neuzeit (1440–1570). Untersuchungen zur Wirtschaftsgeschichte am Beispiel des Großen Lübecker Münzschatzes, der norddeutschen Münzfunde und der schriftlichen Überlieferung. Sigmaringen 1990. 47 Markus A. Denzel: Die Braunschweiger Messen als regionaler und überregionaler Markt im norddeutschen Raum in der zweiten Hälfte des 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert, in: VSWG 85 (1998), S. 40–93, hier 73–88. 48 Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin 1935. 49 Frantiãek Graus: Das Spätmittelalter als Krisenzeit. Ein Literaturbericht als Zwischenbilanz, in: Medievalia Bohemica, Supplementum I. Prag 1969. 50 Abel, Struktur und Krisen (wie Anm. 1), S. 5 f., 131.

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dern stellte die von ihm so bezeichneten „säkularen Trends“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Dies gelang ihm durch Verwendung von Zehnjahresdurchschnittspreisen und -löhnen, von denen er zudem jeweils drei zu gleitenden Durchschnittswerten zusammenfasste, um relativ kurzfristige konjunkturelle Entwicklungen möglichst vollständig auszuschließen. Der Entwicklungstrend von Preisen und Löhnen war das zentrale Erkenntnisobjekt von Abels Untersuchungen, um mit Hilfe der säkularen Preistrends das Verhältnis zwischen Nahrungsspielraum und Bevölkerungsbewegung zu analysieren.51 Damit unterschied sich der Konjunkturbegriff Abels grundlegend von dem der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre.52 Sein Krisenbegriff53 orientierte sich am Verlaufsschema für Agrarkrisen von Ernest Labrousse.54 Wie anregend die Abelschen konjunkturhistorischen Forschungen für weitere Arbeiten waren, mögen einige Beispiele zeigen: B. H. Slicher van Bath bemühte sich um eine grundsätzliche Festlegung des Verhaltens von Löhnen und Preisen in agrarischen Konjunkturen unter Zuhilfenahme wirtschaftswissenschaftlicher Modelle.55 Heinrich Rubner verteidigte die Grundkonzeption der Agrarkrisentheorie von Abel, wählte aber eine andere Periodisierung.56 Ingomar Bog unternahm unter Bezug auf Abel eine auf die moderne Konjunkturtheorie gestützte Trendanalyse der oberdeutschen Wirtschaft.57 Hubert Freiburg untersuchte die Aussagekraft der sä51 Ders., Agrarkrisen (wie Anm. 48), S. 13 f., 22. 52 Zu Letzterem vgl. übersichtsartig Günter Schmölders: Konjunkturen und Krisen, Hamburg 1955, S. 24 ff. 53 Die Agrarkrisentheorie von Abel ist ausführlich dargelegt in: Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. 2. Aufl., Hamburg/Berlin 1966, S. 42 ff., 57 ff.; ders.: Wachstumsschwankungen mitteleuropäischer Völker seit dem Mittelalter, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 142 (1935), S. 670–692, hier 677 ff.; ders.: Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters [1941]. 3. Aufl., Stuttgart 1976, besonders S. 103 ff., 110 ff., 179–181; ders.: Wüstungen und Preisfall im spätmittelalterlichen Europa, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 165 (1953), S. 380–427, hier 400, 422, 426; ders.: Hungersnöte und Absatzkrisen im Spätmittelalter, in: Festschrift für Hermann Aubin zum 80. Geburtstag, Band 1. Wiesbaden 1965, S. 3–18, hier 8–10, 13; ders.: Wüstungen in Deutschland. Ein Sammelbericht (ZAA, Sonderheft 2), 1967, S. 8–13; ders.: Landwirtschaft 1350–1500, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschaftsgeschichte, Band 1. Stuttgart 1971, S. 300–333, hier 307–310, 318, 333. Vgl. auch FriedrichWilhelm Henning: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands 1). Paderborn u. a. 1991, S. 497 f.; ders.: Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters. 9. bis 15. Jahrhundert. Stuttgart 1994, 3. Kap. 54 Ernest Labrousse: Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au XVIIIe siècle. Paris 1933; ders.: La crise de l’économie française à la fin de l’Ancien Régime et au début de la Révolution. Paris 1944. Das Verlaufsschema ist auch dargelegt bei S. Landes: The Statistical Study of French Crises, in: JEH 10 (1950), S. 195 f.; Abel, Agrarkrisen (wie Anm. 53), S. 22– 26. 55 B. H. Slicher van Bath: The Agrarian History of Western Europe A. D. 500–1850. London 1963. 56 Heinrich Rubner: Die Landwirtschaft der Münchner Ebene und ihre Notlagen im 14. Jahrhundert, in: VSWG 51 (1964), S. 433–453. 57 Ingomar Bog: Wachstumsprobleme der oberdeutschen Wirtschaft, 1450–1618, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 179 (1966), S. 493–537.

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kularen Wellen der Preise und Löhne im Hinblick auf die Entwicklung der bäuerlichen Einkommen.58 Uneingeschränkt vertraten die Abelschen Thesen auch Walter Achilles59, Hugo Wermelinger60, Fritz Blaich und Diedrich Saalfeld.61 Nicht Getreide-, sondern Äcker- und Wiesenpreise sowie die Häufigkeit von Besitzwechseln verwendet Rudolf Schlögl als Indikatoren für seine Untersuchung zur Entwicklung der bayerischen Bauernwirtschaft im 17. Jahrhundert.62 Ulf Dirlmeier kann in seiner Habilitationsschrift – anders als Abel – kein „Goldenes Zeitalter der Lohnarbeit“ feststellen, sieht aber trotzdem keinen Widerspruch zu den „allgemein anerkannten Thesen über den Konjunkturverlauf im Spätmittelalter. […] Doch braucht die Richtung des säkularen Trends nicht grundsätzlich bestritten zu werden, wenn er sich im städtischen Alltagsleben weniger deutlich ausgewirkt hat, als oft angenommen wird.“63 Von großer Bedeutung für die – überwiegend positive – internationale Resonanz der Abelschen Thesen war zum einen die durch François-G. Dreyfus angestoßene Diskussion auf dem Ersten Internationalen Kongress für Wirtschaftsgeschichte 1960 in Stockholm,64 zum anderen die Tatsache, dass Fernand Braudel und Frank Spooner die Abelschen Ergebnisse in ihren Beitrag in der Cambridge Economic History of Europe65 übernahmen, wobei sie aber betonten, dass in Deutschland ei-

58 Hubert Freiburg: Agrarkonjunktur und Agrarstruktur in vorindustrieller Zeit. Die Aussagekraft der säkularen Wellen der Preise und Löhne im Hinblick auf die Entwicklung der bäuerlichen Einkommen, in: VSWG 64 (1977), S. 289–327. 59 Walter Achilles: Getreidepreise und Getreidehandelsbeziehungen europäischer Räume im 16. und 17. Jahrhundert. Göttingen 1959; ders.: Getreidepreise und Getreidehandelsbeziehungen europäischer Räume im 16. und 17. Jahrhundert, in: ZAA 7 (1959), S. 32–55. 60 Hugo Wermelinger: Lebensmittelteuerungen, ihre Bekämpfung und ihre politischen Rückwirkungen in Bern vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in die Zeit der Kappelerkriege. Bern 1971. 61 Fritz Blaich: Fleischpreise und Fleischversorgung in Oberdeutschland im 16. Jahrhundert, in: Beiträge zu Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsstruktur im 16. und 19. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Socialpolitik NF 163), 1971, S. 29–56, hier 31 f.; Diedrich Saalfeld: Die Wandlungen der Preis- und Lohnstruktur während des 16. Jahrhunderts in Deutschland, in: Ebd., S. 9–28, hier 15–17, 19–21. 62 Rudolf Schlögl: Zwischen Krieg und Krise. Situation und Entwicklung der bayerischen Bauernwirtschaft im 17. Jahrhundert, in: ZAA 40 (1992), S. 133–167. 63 Ulf Dirlmeier: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhunderts). Heidelberg 1978, S. 533. Dieses Ergebnis liegt in der Fragestellung und Intention des Autors begründet, dessen Untersuchung die Frage klärt, „warum die Agrarpreisdepression nach dem Befund der Steuerlisten nicht zu breiterer Ersparnis- und Vermögensbildung innerhalb der Städte geführt hat“; ebd., S. 534. 64 François-G. Dreyfus: Remarques sur le mouvement des prix et la conjoncture en Allemagne de la seconde moitié du XVIIe siècle à la fin du XVIIIe siècle, in: First International Conference of Economic History, Contributions – Communications, Stockholm, August 1960/Première Conférence internationale d’Histoire Économique, Contributions – Communications, Stockholm, août 1960. Paris/The Hague 1960, S. 445–455. Vgl. auch ders.: Beitrag zu den Preisbewegungen im Oberrheingebiet im 18. Jahrhundert, in: VSWG 47 (1960), S. 245–256. 65 Braudel/Spooner, Prices in Europe (wie Anm. 17), S. 374–486, hier 402 f., 413 f., 455.

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nerseits und im übrigen Europa andererseits von unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen ausgegangen werden müsse. Selbstverständlich blieb auch Kritik an Abels Überlegungen nicht aus, die bereits mit den ersten Rezensionen der Abelschen Habilitationsschrift 1936 einsetzte:66 Sie bezog sich zum einen auf die Ausdehnung des Konjunkturmodells auf das späte Mittelalter. Zum anderen wurde mindestens als schwerwiegendes Problem angesehen, ja teilweise sogar als unbrauchbar kritisiert, dass Abel „Kornlöhne“ verwandte, da Brot allein nicht die Vielzahl der mit dem Lohn erworbenen Güter repräsentiere. Aber ebenso problematisch erschien die Umrechnung in Gramm Silber bzw. Edelmetall allgemein: „Ist also der Wert eines Gutes immer nur in Relation zum Wert anderer Güter zu bestimmen, so kann auch der Silberwert oder der Preis in Gramm Silber nicht zu einer über Jahrhunderte unveränderten Größe werden.“67 Statt dessen verwandte etwa Walter Bauernfeind – mit wohl kaum hinreichend dezidierter Begründung – den Preistrend von Butter als Indikator für die Wertschätzung der Ware Gold und als Grundlage für die Errechnung von „Realpreisen“ und erarbeitete, darauf basierend, Juglar- und Kondratieff-Zyklen.68 Diese Diskussion um die „richtige“ oder zumindest eine sinnvolle Umrechnung von historischen Preisen und Löhnen, um eine interlokale und eine intertemporale Vergleichbarkeit zu erhalten, ist bis zur Gegenwart nicht abgeschlossen, wie die intensiven Diskussionen hierzu in der Sektion 15 zu „Global Monies and Price Histories, 16th–18th Centuries“ auf dem 13. Internationalen Wirtschaftshistorikerkongress in Buenos Aires 2002 zeigten.69 Über diese zentrale Kritik an Abels Thesen hinaus hielt Ernst Pitz eine an der modernen Konjunkturtheorie orientierte Interpretation des spätmittelalterlichen Wirtschaftsablaufs aufgrund der Quellenlage für ausgeschlossen und postulierte statt

66 Carl Brinkmann: Rezension von „Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1935“, in: VSWG 29 (1936), S. 325 f.; Ernst Kelter/Siegfried von Ciriacy-Wantrup: Rezension von „Wilhelm Abel: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1935“, in: Schmollers Jahrbuch 60 (1936), S. 65–72. 67 Walter Achilles: Grundsatzfragen zur Darstellung von Agrarkonjunkturen und -krisen nach der Methode Wilhelm Abels, in: VSWG 85 (1998), S. 307–351, hier 347. Vgl. auch Melchior Palyi: Ein Jahrhundert Preise und Reallöhne, in: ASS 60 (1928), S. 410–417, hier 411 f., und die Diskussion zwischen Sprenger und Saalfeld: Bernd Sprenger: Preisindices unter Berücksichtigung verschiedener Münzsorten als Bezugsgröße für das 16. und 17. Jahrhundert – dargestellt anhand von Getreidepreisen in Frankfurt/Main, in: Scripta Mercaturae 11/1 (1977), S. 57–72; Diedrich Saalfeld: Zur Problematik der Preisentwicklung und der Münzverhältnisse in der frühen Neuzeit – Eine Replik zu dem Artikel von Bernd Sprenger in „Scripta Mercaturae“, Heft 1/ 1977, S. 57–72, in: Scripta Mercaturae 12/1 (1978), S. 138–146; Bernd Sprenger: Zur vorstehenden Replik von Saalfeld, in: Ebd., S. 147 f. 68 Walter Bauernfeind: Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Preisentwicklung und Agrarkonjunktur am Nürnberger Getreidemarkt von 1339 bis 1670. Nürnberg 1993, insbesondere S. 350–353. 69 Vgl. hierzu Markus A. Denzel/Hans-Jürgen Gerhard: Inflationäre Prozesse in Nordwestdeutschland im 18. Jahrhundert, in: VSWG 90 (2003), S. 1–24, der als deutscher Beitrag zu diesem Aspekt in die Diskussion eingebracht wurde.

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dessen einen tiefgreifenden Strukturwandel.70 Ernst Kelter lehnte die These einer permanenten Depression ab, konnte sich aber – nicht zuletzt aufgrund unzureichender Quellenbelege – nicht durchsetzen.71 Wilhelm Schönfelder versuchte die Erfassung eines gesamtwirtschaftlichen Trends als Ersatz für das nicht ermittelbare Sozialprodukt.72 Ursula Hauschild versuchte, die Agrarkrisentheorie zu widerlegen, konnte allerdings nur ein Zurückbleiben der Löhne im 15. Jahrhundert und die charakteristische Lohn-Preis-Schere aufzeigen.73 Die kritischen Anmerkungen der letzten Jahre, insbesondere von Ernst Schubert,74 aber auch von anderen,75 können wohl durch das das Werk Abels kritisch würdigende Resümee des Abel-Schülers Walter Achilles als widerlegt angesehen werden.76 Insgesamt kann das Abelsche Agrarkrisenmodell bis heute im Wesentlichen als anerkannt gelten:77 „Ob ein Historiker Abels Agrarkrisenmodell ablehnt oder ihm zustimmt, ist so lange gleichgültig, so lange man sich vergewissert, was dieses Modell zu leisten vermag. Es ist auch heute noch keineswegs überholt, wenn man es als Anstoß zu wissenschaftlichem Fragen betrachtet. […] Wie es scheint, sind die weiterführenden Ansätze, die bei Abel reichlich zu finden sind, bislang höchstens ansatzweise in den Blick geraten.“78 Allerdings werden auch in jüngerer Zeit noch Dissertationen auf dem theoretischen Fundament des Agrarkrisenmodells von Abel geschrieben – und dies mit sehr überzeugenden Ergebnissen.79 Eine deutlich von der Abelschen Konzeption abweichende Richtung der Agrarkonjunkturforschung konnte sich mit Christian Pfister etablieren, der „Agrarkonjunktur“ wie folgt definiert: „Dieser Begriff umfasst gemäss der nationalökonomischen Terminologie sämtliche Bewegungserscheinungen am Markt, also den Aufschwung und die Krise. Klassischer Indikator für den Verlauf der Agrarkonjunktur der vorindustriellen Ära und wichtigstes sozioökonomisches Barometer ist der Getreidepreis. Erst wenn es gelingt, die Fluktuationen der Getreidepreise mit bestimm70 Ernst Pitz: Die Wirtschaftskrise des Spätmittelalters, in: VSWG 52 (1965), S. 347–367. 71 Ernst Kelter: Das deutsche Wirtschaftsleben des 14. und 15. Jahrhunderts im Schatten der Pestepidemien, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 165 (1953), S. 161–208. 72 Wilhelm Schönfelder: Die wirtschaftliche Entwicklung Kölns von 1350–1513. Dargestellt mit linearen Trendfunktionen samt Analyse ihrer Bestimmungsfaktoren. Köln 1970, insbesondere S. 114. 73 Ursula Hauschild: Studien zu Löhnen und Preisen in Rostock im Spätmittelalter. Köln 1973, S. 177–185, 202–206. 74 So insbesondere Ernst Schubert: Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter. Darmstadt 1992, S. 9. 75 So etwa Bauernfeind, Materielle Grundstrukturen (wie Anm. 68), S. 4; Josef Dolle: Zu der Theorie einer „spätmittelalterlichen Agrarkrise“. Eine kritische Untersuchung am Beispiel des Altkreises Göttingen, in: Göttinger Jahrbuch 42 (1994), S. 55–94, hier 78. 76 Achilles, Grundsatzfragen (wie Anm. 67), passim. 77 So u. a. auch Peter Kriedte: Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus?, in: GG 7 (1981), S. 42–68, hier 59; Werner Rösener: Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter. München 1992, S. 99 ff. 78 Achilles, Grundsatzfragen (wie Anm. 67), S. 350 f. 79 So Uwe Schirmer: Das Amt Grimma 1485 bis 1548. Demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit. Beucha 1996, S. 358.

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ten klimatischen Konstellationen zu erklären, ist die Beweiskette geschlossen.“80 Pfister unterscheidet dabei drei „Bewegungskomponenten“: die saisonale Schwankung, die Jahresschwankung und den stetigen Preisanstieg, den er mit der heutigen Inflationsrate vergleicht.81 „Bei der Glättung der grossen Preissprünge durch Mittelwerte geht ein fundamentaler Charakterzug der traditionellen Wirtschaft verloren. Ferner werden die Einflüsse und kürzeren Klimaschwankungen verwischt.“82 Diese Kritik an Abel ist zwar berechtigt, berücksichtigt jedoch nicht Abels Intention. 2. Im Bereich des sekundären Sektors sind konjunkturgeschichtliche Entwicklungen in der vorindustriellen Zeit vorrangig Interessensgegenstand der montanhistorischen Forschung, sieht man einmal von einzelnen Studien, etwa zur Bauwirtschaft83 oder zur Bierbrauerei84, ab. Ein Charakteristikum dieser montankonjunkturgeschichtlichen Arbeiten ist ihr fast durchwegs festzustellender regionaler Bezug, d. h. hier ihre Ausrichtung auf einzelne Reviere.85 Denn „Bergbaureviere sind hervorragende Beispiele zum Studium wirtschaftlicher Wechsellagen und der sie begleitenden sozialen Spannungen, Konflikte und Kompromisse.“86 Im Bereich des Bergbaus können sich Aussagen über konjunkturelle Entwicklung nicht nur auf Preise und Löhne gründen, auch wenn diese ähnlich wie im Bereich der Landwirtschaft ebenfalls wichtige Indikatoren sind;87 die Quellenlage erlaubt es zudem bei vielen Revieren, auch die Produktionsseite zu berücksichtigen.88 Im Rahmen eines von 80 Christian Pfister: Agrarkonjunktur und Witterungsverlauf im westlichen Schweizer Mittelland 1755–1797. Bern 1975, S. 15. 81 Ebd., S. 150. 82 Ebd., S. 150 f. Vgl. Jean Meuvret: Les oscillations des prix des céréales aux XVIIe et XVIIIe siècles en Angleterre et dans les pays du Bassin Parisien, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 16 (1969), S. 540–554, hier 542; erneut abgedruckt in: Ders.: Études d’histoire économique. Recueil d’articles. Paris 1971, S. 113–124, hier 114. 83 Rainer Gömmel: Vorindustrielle Bauwirtschaft in der Reichsstadt Nürnberg und ihrem Umland (16.–18. Jh.). Stuttgart 1985, S. 69–84. 84 Franz Irsigler: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (VSWG, Beiheft 65). Stuttgart 1979, S. 175, 271 f. 85 So beispielsweise Ferdinand Tremel: Das Eisenwesen in der Steiermark und in Tirol 1500– 1650, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Schwerpunkte der Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in Europa 1500–1650. Köln/Wien 1974, S. 285–308, hier 296; JoÏe ·orn: Eisengewerbe in Jugoslawien von 1500–1650, in: Ebd., S. 338–345, hier 344. 86 Ekkehard Westermann: Forschungsausblick, in: Ders. (Hg.): Vom Bergbau- zum Industrierevier. Stuttgart 1995, S. 481–492, hier 488. Vgl. auch Christoph Bartels: Umschwünge in der Entwicklung des Oberharzer Bergbaureviers um 1630, 1760 und 1820 im Vergleich. Eine Erörterung von Zusammenhängen zwischen räumlichem Ausgriff und sozialen Folgen, in: Ebd., S. 151–175. 87 So etwa Hans-Jürgen Gerhard: Eisenmarkt und Eisenpreise im Kurfürstentum BraunschweigLüneburg 1733–1807. Eine preishistorische Marktanalyse, in: Karl-Heinrich Kaufhold/Friedrich Riemann (Hg.): Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag. Göttingen 1984, S. 145–167. 88 Ekkehard Westermann: Das Eislebener Garkupfer und der europäische Kupfermarkt 1460–1560. Köln 1971, S. 163 ff.; Ian Blanchard: England and the International Bullion Crisis of the 1550s, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Precious Metals in the Age of Expansion. Papers of the XIVth

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Karl Heinrich Kaufhold geleiteten Forschungsschwerpunktes wurde dies am Fallbeispiel des Montanreviers Harz unternommen: „Zum ersten Male eröffnet sich in der bisherigen Erforschung der europäischen Montanwirtschaft des vergangenen Jahrtausends am Beispiel der ‚Montanregion Harz‘ die Möglichkeit, Krisen und Konjunkturen des Berg- und Hüttenwesens mit denen der Landwirtschaft vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts begründet miteinander in Beziehung zu setzen.“89 Für andere Montanreviere in Mitteleuropa sind derartige konjunkturgeschichtliche Untersuchungen bislang nur in Ansätzen erfolgt, so etwa für das Siegerland.90 Daher versuchte die Festschrift für Ekkehard Westermann – seine oben zitierten Anregungen aufgreifend – zum Thema „Konjunkturen im europäischen Bergbau in vorindustrieller Zeit“ ein Resümee bisheriger Forschungen für einzelne Reviere, so – innerhalb Mitteleuropas – für Tirol (Rudolf Palme), den westlichen Harz (Karl Heinrich Kaufhold), Böhmen (Jifii Majer), Skandinavien (Björn Ivar Berg) und die Grafschaft Mark (Michael Fessner), wie auch einen Aufriss von Forschungsproblemen in der Konjunkturgeschichte des Montansektors, wie beispielsweise zur Bergbaukrise des Spätmittelalters (Christoph Bartels), zu den Wechselwirkungen zwischen Bergbaukonjunkturen und bergbaulicher Arbeitsverfassung (Hans-Joachim Kraschewski) sowie zur Verflechtung von Kupfermärkten (Markus A. Denzel, Hans-Jürgen Gerhard und Alexander Engel).91 Im Ergebnis zeigt sich dabei die Abhängigkeit der konjunkturellen Entwicklungen der einzelnen Reviere von lokalen und regionalen Faktoren einerseits, von internationalen andererseits. Zugleich wird aber auch der immer noch hohe Forschungsbedarf deutlich, insbesondere was die Aufarbeitung der Produktionszahlen der verschiedenen Reviere betrifft, die derzeit in hinreichender Detailliertheit wohl nur – durch Ekkehard Westermann selbst – für die Brandsilberproduktion des Falkenstein bei Schwaz/Tirol92 geleistet ist und für die Montanregion Harz93 vorgenommen wird.

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International Congress of the Historical Sciences. Stuttgart 1981, S. 87–118. Vgl. auch Alexander Zschocke: Ein statistisches Verfahren zur Überprüfung historischer Zeitreihen. Angaben über die Produktion der Lüneburger Saline als Fallbeispiel, in: VSWG 71 (1984), S. 377–383. Ekkehard Westermann: Zusammenhänge und offene Fragen in der Erforschung der Harzer Montangeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, in: Hans-Jürgen Gerhard/Karl Heinrich Kaufhold/Ekkehard Westermann (Hg.): Europäische Montanregion Harz. Bochum 2001, S. 11–18, hier 14. Jürgen H. Schawacht: Zum Problem der Erfassung wirtschaftlicher Wechsellagen im Siegerländer Eisengewerbe der frühen Neuzeit, in: Kellenbenz (Hg.), Wachstumsschwankungen (wie Anm. 16), S. 47–60; Harald Witthöft/Bernd D. Plaum/Thomas A. Bartolosch: Phasen montangewerblicher Entwicklung im Siegerland. Erzbergbau, Hütten- und Hammerwesen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Westermann (Hg.), Vom Bergbau- zum Industrierevier (wie Anm. 86), S. 85–111. Markus A. Denzel/Christoph Bartels (Hg.): Konjunkturen im europäischen Bergbau in vorindustrieller Zeit. Festschrift für Ekkehard Westermann zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2000. Ekkehard Westermann: Über Beobachtungen und Erfahrungen bei der Vorbereitung der Edition einer vorindustriellen Produktionsstatistik. Zur Brandsilberproduktion des Falkenstein bei Schwaz/Tirol von 1470–1623, in: Ders. (Hg.): Quantifizierungsprobleme bei der Erforschung der europäischen Montanwirtschaft des 15. bis 18. Jahrhunderts. St. Katharinen 1988, S. 27– 42; ders. (Hg.): Die Listen der Brandsilberproduktion des Falkenstein bei Schwaz von 1470 bis 1623. Wien 1988.

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Einer der zentralen Faktoren für konjunkturelle Entwicklungen im Bergbau und damit ein wichtiger Indikator war – neben der Produktion – zweifelsohne die Energieversorgung, d. h. die Versorgung mit Holzkohle bzw. Koks.94 Hierzu hat Hans Otto Gericke jüngst einen Beitrag verfasst, der am Beispiel der Mansfelder Kupferhütten eine „statistisch hinreichend abgesicherte Darstellung der Holznotproblematik“ gibt und die „Holzkrise[n]“ als typisch vorindustrielle Krisenerscheinungen erkennen lässt, die durch den ‚neuen‘ Energieträger Kohle spätestens im beginnenden 19. Jahrhundert ihre Brisanz verloren.95 3. Auch bei der Erforschung von Handelskonjunkturen – und hierunter wird im Folgenden der Handel mit Gütern und Geld verstanden – kann nicht nur auf die Preis- und Lohnentwicklungen zurückgegriffen werden. Daher wurde im Bereich des Warenhandels auch der Zusammenhang zwischen Transportaufkommen bzw. leistung und konjunktureller Entwicklung betrachtet. Als richtungsweisend wird dabei Pierre Chaunus Studie über die Schiffsbewegungen während der spanischen Carrera de las Indias im 16. Jahrhundert angesehen.96 Die „Quinta Settimana di Studio“ in Prato 1973 versuchte eine Bilanz zur Interdependenz zwischen Transportwesen und Wirtschaftsentwicklung auf gesamteuropäischer Ebene, in der auch zahlreiche Aspekte der konjunkturellen Entwicklung angesprochen wurden.97 Dass von diesen Forschungsansätzen für den mitteleuropäischen Raum keine nennenswerten Impulse ausgingen, war wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass die hierfür erforderlichen Quellen – etwa Schifffahrtsakten in Form von seriellen Quellen – nicht in hinreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Eine Ausnahme jedoch stellt die Habilitationsschrift von Dietrich Ebeling dar, der für den Holländerholzhandel in den Rheinlanden die Konjunkturen aus den verfügbaren Preisen wie auch aus den transportierten Mengen entwickelt.98 Daher behalf man sich bei der Erforschung der konjunkturellen Entwicklungen etwa im Hanseraum mit der Heranziehung von Zolldaten, die ja ebenfalls indirekt über den Umfang der transportierten, ein- und ausgeführten Waren informieren. So 93 Dies geschieht auf der Grundlage einer älteren Veröffentlichung: Hans-Jürgen Gerhard: Die Entwicklung der Input-Output-Relationen in Harzer Eisenhütten 1747–1806 und ihre Rolle in der Preisbildung verschiedener Hüttenprodukte, in: Westermann (Hg.), Quantifizierungsprobleme (wie Anm. 92), S. 170–213. 94 U. a. Joachim Radkau: Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: GG 9 (1983), S. 513–543; ders.: Zur angeblichen Energiekrise im 18. Jahrhundert. Revisionistische Betrachtungen über die „Holznot“, in: VSWG 73 (1986), S. 1–37; Hans-Jürgen Gerhard: Holz im Harz. Probleme im Spannungsfeld zwischen Holzbedarf und Holzversorgung im hannoverschen Montanwesen des 18. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 66 (1994), S. 47–77. 95 Hans Otto Gericke: Von der Holzkohle zum Koks. Die Auswirkungen der „Holzkrise“ auf die Mansfelder Kupferhütten, in: VSWG 85 (1998), S. 156–193, hier 157, 192. 96 Pierre Chaunu: Seville et l’Atlantique (1504–1680), Vol. 8 (2): La conjoncture (1504–1592). Paris 1959, insbesondere S. 14–25. 97 Anna Vannini Marx (Hg.): Trasporti e sviluppo economico, secoli XIII–XVIII (Atti della „Quinta Settimana di Studio“ [4–10 maggio 1973]). Firenze 1986. 98 Dietrich Ebeling: Der Holländerholzhandel in den Rheinlanden. Zu den Handelsbeziehungen zwischen den Niederlanden und dem westlichen Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 101). Stuttgart 1992, S. 72–95.

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verwandte Walther Vogel bereits 1934 die Höhe der Hamburger Werkzolleinnahmen als Indikator für die Handelskonjunktur der Stadt.99 In wesentlich größerem Umfang zog dann Pierre Jeannin die Sundzollregister heran, um über die Konjunkturen am Öresund, d. h. für den Handel zwischen Atlantik und Ostsee, Aufschluss zu gewinnen.100 Die für die deutschen Hansestädte umfangreichste Quelle dieser Art, die Hamburger Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebücher, die über einen Großteil der seewärtigen Einfuhren Hamburgs zwischen 1737 und 1800 Auskunft geben,101 wird allerdings erst derzeit im Rahmen einer Dissertation umfassend ausgewertet,102 während frühere Arbeiten sie allenfalls am Rande oder nur auszugsweise berücksichtigten.103 Dass diese und andere derartige, für die Erforschung von Handelskonjunkturen sehr hilfreiche Quellen104 bislang nicht in hinreichendem Umfang ausgewertet worden sind, liegt zweifelsohne in den Schwierigkeiten begründet, die – vor dem Einsatz der EDV – ihrer Erfassung, davon unabhängig vor allem aber ihrer konkreten Nutzung geschuldet sind. Denn diese Quellen verzeichnen die Höhe von Zöllen, allenfalls noch den Wert und die Qualität der verzollten Ware und ihre Verpackungseinheiten, nicht aber ihre gewichtsmäßige Menge. Damit ist ihre Aussagekraft zwangsläufig eingeschränkt. Versuche, von Verpackungseinheiten unter Zuhilfenahme von verfügbaren Preisangaben in Gewichtsgrößen zurückzurechnen, werden zwar derzeit unternommen, müssen aber noch bedeutend vertieft werden, um größeren Untersuchungen zur Handelskonjunktur als Hilfsmittel zu genügen.105 Ähnliches gilt im Übrigen auch für Ein- und Ausfuhrstatistiken, die ebenfalls in der Regel Wertangaben der importierten und exportierten Güter verzeichnen. Trotzdem können sie als Indikatoren für Handelskonjunkturen herangezogen werden, wie 99 Walther Vogel: Handelskonjunkturen und Wirtschaftskrisen in ihrer Auswirkung auf den Seehandel der Hansestädte 1560–1806 [1934], in: VSWG 74 (1956), S. 50–64. 100 Pierre Jeannin: Les comptes du Sund comme source pour la construction d’indices généraux de l’activité économique en Europe, in: Revue historique 231 (1964), S. 55–102, 307–340; erneut abgedruckt in: Ders.: Marchands du Nord. Espaces et trafics à l’époque moderne. Textes réunis par Philippe Braunstein/Jochen Hoock. Paris 1996, S. 1–62. 101 Jürgen Schneider/Otto-Ernst Krawehl/Markus A. Denzel (Hg.): Statistik des seewärtigen Hamburger Einfuhrhandels im 18. Jahrhundert nach den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebüchern (Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland XX). St. Katharinen 2001. 102 Vgl. Frank Schulenburg: Die Auswertung der hamburgischen Admiralitätszoll- und Convoygeld-Einnahmebücher: Ein Beitrag zur Geschichte der wirtschaftlichen Rückwirkungen der europäischen Expansion, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 1 (2001), S. 175– 180. 103 So beispielsweise jüngst Klaus Weber: Les livres douaniers de l’amirauté de Hambourg au XVIIIe siècle, une source de grande valeur encore inexploitée, in: Bulletin du centre d’histoire des espace atlantiques, nouv. série 9 (1999), S. 95–126. 104 Vgl. etwa Udo Obal: Zollregister als Quelle einer Handelsstatistik des Kurfürstentums/Königreichs Hannover, in: Karl Heinrich Kaufhold/Markus A. Denzel (Hg.): Der Handel im Kurfürstentum/Königreich Hannover (1780–1850). Stuttgart 2000, S. 51–100. 105 Markus A. Denzel/Frank Schulenburg: Packstücke und Gewichtsangaben in Kaufmannshandbüchern – Fallbeispiele für den Hamburger Markt im 18. Jahrhundert, in: Scripta Mercaturae 36/1 (2002), S. 2–32.

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dies Wilhelm Kaltenstadler für den österreichischen Seehandel über Triest106 und Elisabeth Harder-Gersdorff für den lübeckisch-russischen Seeverkehr des 18. Jahrhunderts107 taten. Derartige frühe Handelsstatistiken liegen – aller methodischen Probleme ungeachtet108 – jedoch allenfalls für die ausgehende vorindustrielle Zeit vor. Schließlich sind Konjunkturen auch für einzelne kommerzielle Institutionen untersucht worden, so insbesondere für Messen, vor allem für die west- und südeuropäischen Messen des Spätmittelalters und des 15. und 16. Jahrhunderts, aber auch den marché permanent Antwerpen109. Für den mitteleuropäischen Raum wurden Ansätze zur Herausarbeitung einer Messekonjunktur erstmals von Manfred Straube – anhand der Leipziger Geleitsrechnungen110 –, später auch von Nils Brübach auf der Grundlage der städtischen Messeeinnahmen in Frankfurt am Main und Leipzig111 unternommen. Eine dezidierte Untersuchung von Messekonjunkturen wurde in der neueren Forschung112 nur für die Braunschweiger Messen für die Zeit von 1767 bis 1807 versucht. Hierfür stand jedoch in den zeitgenössischen Berichten des Polizei-Departements über die Messen, die jeweils Informationen von verschiedenen Kaufleuten sammelten, eine außergewöhnlich aussagekräftige Quellengrundlage zur Verfügung.113 106 Wilhelm Kaltenstadler: Der österreichische Seehandel über Triest im 18. Jahrhundert, in: VSWG 55 (1968), S. 481–500; 56 (1969), S. 1–103. 107 Elisabeth Harder-Gersdorff: Handelskonjunkturen und Warenbilanzen im lübeckisch-russischen Seeverkehr des 18. Jahrhunderts, in: VSWG 57 (1970), S. 15–45. 108 Martin Kutz: Außenhandel und Krieg 1789–1817. Eine quantitative Analyse der Außenhandelsbeziehungen in Europa und nach Übersee und der Strukturveränderungen des Außenhandels durch Krieg und Wirtschaftskrieg, in: Wolfram Fischer/R. Marvin McInnis/Jürgen Schneider (Hg.): The Emergence of a World Economy 1500–1914. Papers of the IX. International Congress of Economic History. Stuttgart 1986, S. 199–277, hier 200–214. – Für die Zeit um und nach 1800 vgl. ders.: Deutschlands Außenhandel von der Französischen Revolution bis zur Gründung des Zollvereins. Eine statistische Strukturuntersuchung zur vorindustriellen Zeit. Wiesbaden 1974. 109 Herman van der Wee: The Growth of the Antwerp Market and the European Economy, Vol. II. The Hague 1963, S. 389 ff., 407 ff.; vgl. auch ders.: Das Phänomen des Wachstums und der Stagnation im Lichte der Antwerpener und südniederländischen Wirtschaft des 16. Jahrhunderts, in: VSWG 54 (1967), S. 203–247, und zur speziellen Konjunktur im Bereich des Textilwarenhandels ders.: Konjunktur und Welthandel in den Südlichen Niederlanden (1538–44), in: Jürgen Schneider (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz. 5 Bände, Band II: Wirtschaftskräfte in der Europäischen Expansion. Stuttgart 1978, S. 133–144. 110 Manfred Straube: Zum überregionalen und regionalen Warenverkehr im thüringisch-sächsischen Raum, vornehmlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 2 Bände. Diss. Leipzig 1981. 111 Nils Brübach: Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig (14.– 18. Jahrhundert). Stuttgart 1994, insbesondere S. 596–610. 112 In einem sehr weiten Sinne von „Konjunktur“ könnte hier auch Ernst Hasse: Geschichte der Leipziger Messen (Preisschriften der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft zu Leipzig 25). Unveränd. Nachdruck der Ausg. von 1885, Leipzig 1963, Erwähnung finden, der aber die Entwicklung der Leipziger Messen fast ausschließlich chronologisch darstellt, hingegen kaum systematisch analysiert. 113 Denzel, Braunschweiger Messen (wie Anm. 47).

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Ähnlich wie bei den Messen ergibt sich auch für einzelne Finanzmärkte die Möglichkeit, zumindest Tendenzen einer konjunkturellen Entwicklung festzustellen. Sowohl aus Quellengründen als auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die wichtigsten Finanzmärkte Europas bis in das 16. Jahrhundert hinein im Westen und Süden des Kontinents zu finden waren, konzentrierten sich einschlägige Arbeiten bislang vorrangig auf Finanzmärkte dieses Raumes, worunter vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich Wechselmärkte (der Wechsel war das wichtigste bargeldlose Zahlungsmittel und Kreditinstrument) zu verstehen sind. Insbesondere sind hier die Untersuchungen über Brügge (um 1400)114, Venedig (um 1500)115, die Genfer Messen (15. Jahrhundert)116, den marché permanent von Antwerpen (s. o.), die Messen von Lyon und die Kastilischen Messen (alle 16. Jahrhundert) sowie die Genuesischen Wechselmessen von Bisenzone (16./17. Jahrhundert)117 zu nennen, worin nicht zuletzt auch die Vielfältigkeit der Einflussfaktoren auf den konjunkturellen Verlauf an Fallbeispielen detailliert herausgearbeitet worden ist.118 Als Indikatoren für konjunkturelle Entwicklungen erscheinen in unterschiedlichen Verknüpfungen die jeweiligen Wechselkursnotierungen, Wechselumsätze, die Verfügbarkeit von Edelmetallen und die Edelmetallproduktion, die Zinsentwicklung und die über diese Märkte abgewickelte Verschuldung von Fürsten. Für den deutschen Raum liegt erstmals mit Pierre Jeannins neuer Studie über Augsburg (um die Mitte des 16. Jahrhunderts)119 ein derartiger Versuch vor. Die Erforschung der konjunkturellen Entwicklung von Wechselmärkten ist insbesondere dann sehr gut durchführbar, wenn der rechtliche Zwang für die mit Wechseln handelnde Kaufmannschaft bestand, über eine bestimmte Organisation – in der Regel eine Bank – solche Wechselgeschäfte abzuwickeln, die eine gewisse Summe überschritten. Die daraus resultierenden Unterlagen geben damit Auskunft – wie am Beispiel des Nürnberger Banco Publico im ausgehenden Alten Reich gezeigt120 – nicht nur über die Konjunktur der Bank selbst, sondern – zumindest tendenziell – auch über die des lokalen Wechselmarktes. Neben den Wechselmärkten wurden auch Rentenmärkte – erstmals wohl von Ahasver von Brandt121 – für konjunkturhistorische Untersuchungen herangezogen. So stellten Rolf Sprandel und seine Schüler am Beispiel von Hamburg im Spätmittelalter einen engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskonjunktur und Renten114 Raymond de Roover: The Bruges Money Market around 1400. Brussels 1968. 115 Reinhold C. Mueller: The Venetian Money Market. Banks, Panics, and the Public Debt, 1200– 1500 (Money and Banking in Medieval and Renaissance Venice, Vol. II). Baltimore/London 1997, insbesondere S. 230–251. 116 Jean-François Bergier: Genève et l’économie européenne de la Renaissance. Paris 1963. 117 José Gentil da Silva: Banque et crédit en Italie au XVIIe siècle. 4 Vols. Paris 1969. 118 Zur Vielfalt der Einflußfaktoren und ihren Interdependenzen aus französischer Sicht vgl. Michel Morineau: La conjoncture ou les cernes de la croissance, in: Histoire économique et sociale de la France 1, 1450–1660. Paris 1977, S. 867 ff., 941 ff., 1001 ff. 119 Pierre Jeannin: Change, crédit et circulation monétaire à Augsbourg au milieu du 16e siècle. Paris 2001, S. 136–140. 120 Markus A. Denzel: Der Nürnberger Wechselmarkt im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Denzel/Gömmel (Hg.), Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung (wie Anm. 35), S. 169–192. 121 Ahasver von Brandt: Der Lübecker Rentenmarkt von 1320–1350. Diss. Düsseldorf 1935.

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markt fest, der Kredite für die Erweiterung des bestehenden Handels und den Eintritt neuer Kaufleute in das Handelssystem bereitstellte.122 Michael North untersuchte für den südlichen Ostseeraum die „Einflüsse der verschiedenen monetären und konjunkturellen Faktoren auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“. Im Ergebnis relativiert die Studie den Einfluss der Geldmenge und betont die Bedeutung der zunehmenden Umlaufgeschwindigkeit des Geldes für die konjunkturelle Entwicklung während der sogenannten Preisrevolution.123 Eine Untersuchung des Kapitalmarktes von Frankfurt am Main um 1800, die am Rande auch konjunkturelle Entwicklungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts berücksichtigt, unternahm Hans-Peter Ullmann.124 Vielleicht noch eine Art „Sonderrolle“, aber sicher von richtungsweisender Bedeutung für künftige konjunkturgeschichtliche Forschungen zur vorindustriellen Zeit spielt die regionale Konjunkturgeschichte, für die insbesondere Wilfried Reininghaus mit seiner Habilitationsschrift über die Stadt Iserlohn ein beeindrukkendes Plädoyer gegeben hat.125 Es ist die erste Studie, die, ausgehend von den kommerziellen Entwicklungen, mit einem umfangreichen Indikatorenbündel (s. o.) die Konjunktur eines städtischen Gemeinwesens in seiner Gesamtheit (nicht nur einen Markt, einen Handelszweig, eine Institution oder einen Aspekt126) zu erfassen versucht. Gerade diese regional konzentrierte Konjunkturforschung erfüllt damit ein 1981 von Hermann Kellenbenz formuliertes Desiderat, der im Hinblick auf die seit den 1960er Jahren intensiver diskutierte „Krisis des 17. Jahrhunderts“127 122 Hans Peter Baum/Rolf Sprandel: Zur Wirtschaftsentwicklung im spätmittelalterlichen Hamburg, in: VSWG 59 (1972), S. 473–488; Hans-Joachim Wenner: Handelskonjunkturen und Rentenmarkt am Beispiel der Stadt Hamburg um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Hamburg 1972, insbesondere S. 94–108; Hans-Peter Baum: Hochkonjunktur und Wirtschaftskrise im spätmittelalterlichen Hamburg. Hamburger Rentengeschäfte 1371–1410. Hamburg 1976; Klaus Richter: Untersuchungen zur Hamburger Wirtschafts- und Sozialgeschichte um 1300 unter besonderer Berücksichtigung der städtischen Rentengeschäfte 1291–1330. Hamburg 1971; Klaus-J. Lorenzen-Schmidt: Umfang und Dynamik des Hamburger Rentenmarktes zwischen 1471 und 1570, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 64 (1978), S. 21–52. Vgl. auch Rolf Sprandel: Der städtische Rentenmarkt in Nordwestdeutschland im Spätmittelalter, in: Hermann Kellenbenz (Hg.): Öffentliche Finanzen und privates Kapital im späten Mittelalter und in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bericht über die 3. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mannheim am 9. und 10. April 1969. Stuttgart 1971, S. 14–23, hier 22 f. Dagegen Hans-Jörg Gilomen: Art. „Rente, -nkauf, -nmarkt“, in: Lexikon des Mittelalters VII, Sp. 736 f., hier 737. – Helga Haberland: Der Lübecker Renten- und Immobilienmarkt in der Zeit von 1285–1315. Ein Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftspolitik der Hansestadt. Lübeck 1974; für Stade Jürgen Ellermeyer: Stade 1300–1399. Liegenschaften und Renten in Stadt und Land. Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialstruktur einer hansischen Landstadt im Spätmittelalter. Stade 1975. 123 North, Geldumlauf und Wirtschaftskonjunktur (wie Anm. 46), S. 11 f. (Zitat S. 11), 174–223, 228. 124 Hans-Peter Ullmann: Der Frankfurter Kapitalmarkt um 1800: Entstehung, Struktur und Wirken einer modernen Finanzierungsinstitution, in: VSWG 77 (1990), S. 75–92. 125 Reininghaus, Iserlohn (wie Anm. 26), S. 365–402. 126 So etwa Dietrich Ebeling: Versorgungskrisen und Versorgungspolitik während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Köln, in: ZAA 27 (1979), S. 32–59. 127 U. a. Trevor Aston (Hg.): Crisis in Europe 1560–1660. London 1965; Ruggiero Romano: Tra

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forderte, „durch Regionalstudien […] zu einem klareren, besser artikulierten Gesamtbild des Ablaufs zu gelangen“,128 was auch für das 18. Jahrhundert gilt. Ansätze künftiger Forschungen Als langfristiges Ziel der konjunkturgeschichtlichen Forschungen der vorindustriellen Zeit ist zweifelsohne ein Gesamtbild der mitteleuropäischen Konjunkturen in ihren gesamteuropäischen Interdependenzen anzustreben, wie es Kellenbenz bereits 1981 forderte. Wichtige Etappen auf dem Weg dorthin können Studien zu Konjunkturschwankungen auf Märkten oder in Regionen sein, denn „das endgültige Bild verlangt auch hier noch zahlreiche Einzelarbeiten.“129 Die Erforschung regionaler, ja lokaler Konjunkturen, wie sie Reininghaus für Iserlohn modellhaft vorgelegt hat, entspräche dabei zugleich den Wirtschaftsstrukturen des Alten Reiches, da in Mitteleuropa bis zum Zollverein kein einheitlicher Wirtschaftsraum bestand, auch wenn die Integration von Teilmärkten (etwa der Wechselmärkte130) schon sehr weit fortgeschritten war. Regionale Konjunkturforschung hat damit nach F. B. Tipton jr. mindestens bis in die Anlaufphase der Industrialisierung ihre unumstößliche Berechtigung: „All cycles are regional cycles in their origin“.131 Die angestrebten Einzelstudien zu konjunkturellen Entwicklungen auf bestimmten Märkten oder in ausgewählten Städten bzw. Regionen sollten dabei insbesondere die Interdependenz zwischen Konjunkturen verschiedener Sektoren untersuchen. So stellte beispielsweise im Falle des Zusammenhangs zwischen Agrar- und Handelskonjunkturen Friedrich-Wilhelm Henning am Beispiel der Handelskrise von 1559132 die These auf, „daß Handel und Exportwirtschaft in zunehmendem Maße auch eine von der Landwirtschaft unabhängige Konjunktur aufzuweisen hatten“,133 was der Überprüfung durch eine breiter angelegte Untersuchung bedürfte. In ähnlicher Weise könnte auch der Zusam-

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XVI–XVII secolo, una crisi economica: 1619–1622, in: Revista storica 74/3 (1962), S. 480– 531; ders.: L’Italia nella crisi del secolo XVII, in: Studi storici 9 (1968), S. 723–741; Pierre Chaunu: Réflexions sur le tournant des années 1630–1650, in: Cahiers d’histoire 12/3 (1967), S. 249–268; Geoffrey Parker/L. M. Smith: The General Crisis of the Seventeenth Century. London 1978; Peter Kriedte: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1980, Kap. 2. Hermann Kellenbenz: Schlußbetrachtung. Wirtschaftliche Wechsellagen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft, in: Ders. (Hg.), Wachstumsschwankungen (wie Anm. 16), S. 317– 337, hier 323 f. Ebd., S. 320 f. (Zitat S. 321). Markus A. Denzel: Die Integration Deutschlands in das internationale Zahlungsverkehrssystem im 17. und 18. Jahrhundert, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Integration in historischer Sicht. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg 1995 (VSWG, Beiheft 128). Stuttgart 1996, S. 58–109. F. B. Tipton jr.: National Growth Cycles and Regional Economic Structures in Nineteenth Century Germany, in: Schröder/Spree (Hg.), Historische Konjunkturforschung (wie Anm. 2), S. 29– 46, hier 32. Henri Hauser: The European Financial Crisis of 1559, in: Journal of Economic and Business History 2 (1929/30), S. 241–255. Henning, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 53), S. 598.

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menhang zwischen Agrar- und Montankonjunkturen, wie es Westermann fordert (s. o.), stärker herausgearbeitet werden – und in beiden Fällen wäre dann, was bislang viel zu wenig geschehen ist, ein besonderes Augenmerk auf die aus den konjunkturellen Entwicklungen resultierenden sozialen Folgen zu legen. Um ein derartiges ‚Programm‘ verwirklichen zu können, dürfte es unabdingbar sein, zahlreiche mit der konjunkturgeschichtlichen Forschung vor allem der vorindustriellen Zeit in unmittelbarer Beziehung stehende methodische Probleme erneut oder erstmals aufzugreifen. Zwei Problembereiche drängen sich hierbei geradezu auf: Erstens ist die Diskussion um die sinnvolle ‚Basisgröße‘ anzuführen, um die interregionale und intertemporäre Vergleichbarkeit von Preis- und Lohnentwicklungen zu erlangen. Ob in Korn oder Butter, in Silber oder Gold, in „Denaren der Zeit“ oder in einer Bankwährung sinnvoll gerechnet werden kann, ob die Verwendung von Warenkörben (und wenn ja in welcher Zusammensetzung) weiterhelfen könnte, wenn sie denn überhaupt aus dem vorliegenden Quellenmaterial erarbeitet werden könnten, ob bestimmte Methoden der Indizierung angewandt werden können – diese und andere Fragen stellen wohl immer noch eines der drängendsten Probleme der vorindustriellen Konjunkturgeschichte dar, da mit ihrer Beantwortung Ergebnisse der Quellenauswertung in gewissem Sinne mehr oder minder stark determiniert werden. Ihre Beantwortung zu unterlassen, hieße allerdings, weitgehend auf das theoretisch-methodische Fundament zu verzichten und damit nur sehr eingeschränkt Aussagen zu vorindustriellen Konjunkturverläufen zu gewinnen. Zweitens ist es gerade für die Erforschung von Handelskonjunkturen unabdingbar, stärker als bisher Arbeiten aus der Historischen Metrologie als methodisches Instrumentarium einer historischen Grundwissenschaft vor allem dann mit heranzuziehen, wenn Handelsstatistiken der sogenannten vorstatistischen Zeit ausgewertet werden. Wie oben bereits angesprochen, stellt sich hier das zentrale Problem, wie die verfügbaren Angaben zum Handelswert, die zuvor selbstverständlich preisbereinigt werden müssen, in Gewichtseinheiten umgerechnet werden können, um eine objektivierte Datengrundlage zu erhalten, die auch mit späteren Statistiken – etwa des Zollvereins – vergleichbar ist. Um neue, innovative Methoden empirisch in hinreichender Detailliertheit überprüfen zu können, bedarf es der Auswertung und Erschließung neuen Materials, und zwar über alle intensiven bisherigen Bemühungen hinaus auch im Bereich der Preise und Löhne. Dies liegt zum einen darin begründet, dass die veröffentlichten Daten, zum Beispiel die von Elsas, heutigen methodischen Anforderungen nicht mehr genügen. Zum anderen sind einige Regionen des Alten Reiches – insbesondere der Nordwesten – bei den bisherigen Quellenerhebungen wesentlich stärker berücksichtigt worden als etwa Süd- und Mitteldeutschland, für die somit ein ‚Nachholbedarf‘ besteht, um entsprechende interlokale und interregionale Vergleiche zu ermöglichen. Die von Abel, Kaufhold und Gerhard bislang zusammengetragenen, seit 2003 am Historischen Seminar der Universität Leipzig zur Verfügung stehenden Preis- und Lohngeschichtlichen Sammlungen (nunmehr: Währungs- und Wirtschaftshistorischen Sammlungen) bieten demnach mit ihrer vorrangigen Ausrichtung auf den nordwestdeutschen Raum eine solide Ausgangsgrundlage, bedürfen aber trotz ihres großen Umfangs zweifellos weiterer Ergänzungen für das Gebiet

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des frühneuzeitlichen Alten Reiches, aber auch für die maßgeblichen Handelsstädte des europäischen Kontinents.134 Hierbei können die Forschungen von John J. McCusker und seinen Mitarbeitern über Preiskuranten des 17. und 18. Jahrhunderts ein wichtiger Leitfaden künftiger Forschungen sein;135 da diese Quellen in der Regel offizielle oder private Großhandelsangebotspreise beinhalten, können sie wesentlich besser, d. h. objektiver, über konjunkturelle Entwicklungen auf einzelnen Märkten Auskunft geben als etwa streng reglementierte Taxpreise.136 Neben Preisen und Löhnen haben andere Indikatoren für konjunkturelle Entwicklungen gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend Interesse gefunden; ihnen sollte künftig stärkere Aufmerksamkeit als bisher zuteil werden. Es ist dabei einerseits an verfügbare Produktionsstatistiken zu denken, die insbesondere im Bergbau oftmals über sehr lange Zeiträume und mit großer Gewissenhaftigkeit geführt wurden. Ihre Aufarbeitung und Auswertung würde die systematische Erfassung und Interpretation der mitteleuropäischen Montankonjunkturen erst in der Weise ermöglichen, wie sie etwa für den skandinavischen Raum bereits geleistet wurden.137 Andererseits besteht für den Bereich der Handelskonjunkturen ein mindestens ebenso großer Bedarf, einschlägiges Material als Indikatoren aus den Quellen zu erarbeiten. Dass die wenigen verfügbaren Handelsstatistiken138 aus methodischen Gründen hierbei oft nicht für befriedigend belegte Aussagen ausreichen, sollte allerdings kein Grund sein, sie, wie bislang häufig geschehen, außer Acht zu lassen. Weitere Indikatoren – von Transportstatistiken über Besucherzahlen von Messen bis hin zu Umsätzen auf einem Renten- oder Wechselmarkt –, die in den Quellen in wesentlich größerem Umfang zur Verfügung stehen als vielfach angenommen, erlauben die Herausarbeitung mindestens von ‚Teilkonjunkturen‘ für einzelne Wirtschaftsbereiche, die dann langfristig zu einem Gesamtbild vereinigt werden können. Für deren Interpretation können dann, wenn vorhanden, mit großem Gewinn zeitgenössische Berichte über Handelstätigkeit, Messe- oder Bankwesen herangezogen werden. So informieren die Berichte beispielsweise über die 134 Vgl. etwa für Nantes und seine überseeischen Handelsgüter Markus A. Denzel: Der Preiskurant des Handelshauses Pelloutier & Cie aus Nantes (1763–1793). Stuttgart 1997. 135 John J. McCusker/Cora Gravesteijn: The Beginnings of Commercial and Financial Journalism: The Commodity Price Currents, Exchange Rate Currents, and Money Currents of Early Modern Europe, Amsterdam 1991; vgl. auch ders.: Information and Transaction Costs in Early Modern Europe, in: Denzel/Gömmel (Hg.), Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung (wie Anm. 35), S. 69–83, hier 78 f. 136 Vgl. Gerhard, Frühneuzeitliche Preisgeschichte (wie Anm. 32), passim. 137 Vgl. hierzu den Überblick von Björn Ivar Berg: Krisen und Konjunkturen im skandinavischen Bergbau bis 1800, in: Denzel/Bartels (Hg.), Konjunkturen im europäischen Bergbau (wie Anm. 91), S. 85–101. 138 Vgl. für Österreich Herbert Hassinger: Der Außenhandel der Habsburger Monarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Friedrich Lütge (Hg.): Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Bericht über die erste Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mainz, 4.–6. März 1963. Stuttgart 1964, S. 61–98; Gustav Otruba: Der Außenhandel Österreichs unter besonderer Berücksichtigung Niederösterreichs nach der älteren amtlichen Handelsstatistik. Wien 1950; Roman Sandgruber: Wirtschafts- und Sozialstatistik Österreichs 1750–1918, in: VSWG 64 (1977), S. 74–83.

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Braunschweiger Messen ausführlich über die im Bereich der Landwirtschaft (Ernteerträge) und des Transportwesens (Handelskriege) liegenden Hintergründe der Messekonjunkturen.139 Am Ende dieses Beitrags mag noch einmal die eingangs erwähnte These von Tilly in Erinnerung gebracht werden: Ob die Konjunkturgeschichte und gerade die der vorindustriellen Zeit in der deutschsprachigen wirtschaftshistorischen Forschung derzeit – ähnlich wie in den ausgehenden 1970er Jahren – Konjunktur hat, mag eine müßige Frage sein; für die VSWG und ihre Beihefte, die diesen Zweig der Wirtschaftsgeschichte seit nunmehr fast sieben Jahrzehnten kritisch begleitet, ist sie sicherlich zu bejahen.

139 Denzel, Braunschweiger Messen (wie Anm. 47), passim.

Rainer Metz KONJUNKTUREN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT 1. Einleitung Konjunktur ist ein Thema, für das seit jeher die geschichtliche Betrachtung eine große Rolle spielt. Wird doch das Phänomen, um das es geht, erst in seiner zeitlichen Entwicklung sichtbar und ist ohne die historische Dimension gar nicht vorstellbar. So ist es nicht verwunderlich, dass es gerade im Bereich der Konjunkturforschung vielfältige Berührungspunkte zwischen der ökonomischen und der wirtschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise gibt.1 Konjunkturforschung wird hier verstanden als die Gesamtheit des wissenschaftlich-methodischen Bemühens, die konjunkturelle Entwicklung zu beschreiben, zu diagnostizieren, zu erklären und zu prognostizieren.2 Träger der Konjunkturforschung sind heutzutage öffentliche und private Forschungsinstitute,3 statistische Ämter und Ministerien4 und schließlich die Ökonomen und Wirtschaftshistoriker an den Universitäten, alle mit freilich unterschiedlichen Zielsetzungen und Herangehensweisen. Konjunkturforschung war bis weit ins vorige Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich Sache der Ökonomen. Allerdings kann man, zumindest bis zur Weltwirtschaftskrise, einen großen Teil der von den Ökonomen betriebenen Konjunkturforschung auch als wirtschaftsgeschichtliche Forschung bezeichnen, da diese, auch unter dem Einfluss der historischen Schule der Nationalökonomie, meist sehr stark historisch orientiert war.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Konjunkturforschung besonders unter dem Einfluss der keynesianischen Wirtschaftslehre und der Ökonometrie in eine universitär-theoretische und eine institutionell-empirische Forschung aufgespalten. Die Wirtschaftshistoriker in Deutschland haben sich

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Wolfgang Zorn: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2. Aufl., München 1974; Ludwig Beutin/Hermann Kellenbenz: Grundlagen des Studiums der Wirtschaftsgeschichte. Köln/Wien 1973 (Neuauflage von Ludwig Beutin: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte 1958); Rolf Walter: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Paderborn u. a. 1994; jeweils mit weiterer Literatur. Damit folgen wir nicht der häufig anzutreffenden Charakterisierung, wonach mit Konjunkturforschung lediglich die empirische Forschung gemeint ist. Wie z. B. das ifo-Institut in München oder das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Vgl. z. B. Statistisches Bundesamt (Hg.): Konjunkturforschung heute – Theorie, Messung, Empirie (Schriftenreihe: Forum der Bundesstatistik 35). Wiesbaden 2000; Wolfgang Strohm: Amtliche Konjunkturstatistik im Europäischen Rahmen, in: Allgemeines Statistisches Archiv 82 (1998), S. 53–65; Reiner Stäglin: Beiträge der Wirtschaftsforschungsinstitute zur kurzfristigen Wirtschaftsbeobachtung, in: Allgemeines Statistisches Archiv 82 (1998), S. 66–80. Paradebeispiel ist Joseph A. Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. 2 Bände. Göttingen 1961 (Original: Business Cycles. A Theoretical, Historical, and Statistical Analysis of the Capitalist Process. New York/London 1939).

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konjunkturgeschichtlichen Themen intensiv erst in den 1970er Jahren zugewandt. Diese Zeit markiert gleichzeitig einen Höhepunkt der historischen Konjunkturforschung in Deutschland. Im vorliegenden Beitrag geht es darum, die Konjunkturforschung und ihre wichtigsten Ergebnisse in ihrer zeitlichen und zeitbedingten Entwicklung nachzuzeichnen.6 Zunächst werden die in diesem Zusammenhang wichtigsten Begriffe und die sich im Laufe der Zeit verändernden Konzeptualisierungen des Forschungsgegenstandes erläutert. Daran anschließend wird auf Messkonzepte und Indikatoren eingegangen, um danach einen Überblick über die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft vom Beginn des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu geben. Versteht man, wie noch zu zeigen sein wird, unter Konjunktur die regelmäßige Abfolge von kumulativen Auf- und Abschwungphasen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität, so ergibt sich daraus zunächst die Frage, ob und wenn ja, wie man die Gesetzmäßigkeit der Abfolge von Auf- und Abschwüngen theoretisch, also über den Einzelfall hinaus, erklären kann. Diese Fragestellung ist Gegenstand der Konjunkturtheorie. Zum anderen ergibt sich aber auch die Frage, wie man bestimmte Konjunkturphasen in ihrer jeweiligen Konstellation und historischen Bedingtheit erklären kann. Sofern dabei die Gegenwart im Mittelpunkt steht, ist dies vornehmlich Sache der empirischen Konjunkturforschung.7 Sofern es aber die Vergangenheit betrifft, ist diese Frage genuiner Gegenstand der historischen Konjunkturforschung. An ausgewählten Beispielen sollen deshalb abschließend Fragestellungen und Ergebnisse der historischen Konjunkturforschung skizziert werden. Da die VSWG grundlegende Forschungsbeiträge dazu veröffentlichte, wird im Folgenden entsprechend auf sie Bezug genommen. 2. Grundbegriffe und Konzepte Der Wechsel von guten und schlechten wirtschaftlichen Zeiten ist ein Phänomen, das nicht auf die neuere Zeit beschränkt ist. Auch in vorindustrieller Zeit gab es solche Veränderungen der Wirtschaftslage.8 Diese können einzelne Regionen, Branchen oder Sektoren betreffen. Manchmal sind sie nur für die Bewohner einer bestimmten Region, für die Beschäftigten eines bestimmten Wirtschaftszweiges oder für Bezieher bestimmter Einkommensarten spürbar. Sie können aber auch die gesamte Volkswirtschaft umfassen. In diesem Fall spricht man von gesamtwirtschaft-

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Vgl. auch den Überblick von Reinhard Spree: Konjunktur, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. München 1996, S. 157–73, aktualisiert und überarbeitet in: Reinhard Spree: Business Cycles in History (Münchner Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge 02-01). München 2002. Dass wir in unserer Darstellung andere Schwerpunkte setzen als Markus A. Denzel in diesem Band, liegt in der Sache begründet. So z. B. Hans-Werner Sinn: Die rote Laterne. Die Gründe für Deutschlands Wachstumsschwäche und die notwendigen Reformen. ifo-Schnelldienst 23 (2002). Vgl. den Beitrag von Markus A. Denzel im vorliegenden Band.

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lichen Wechsellagen9 oder von Konjunktur.10 Diese ist es, der unser Interesse im Folgenden vor allem gilt.11 Unter Konjunktur versteht man das Zusammenwirken sämtlicher ökonomischer Bewegungsvorgänge zu einer in ihrer Richtung und Intensität bestimmten wirtschaftlichen Gesamtlage. Der Begriff Konjunktur steht also für ein Phänomen, das sich aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl einzelwirtschaftlicher Aktivitäten ergibt. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung haben sich Eigenart und Erscheinungsweise der gesamtwirtschaftlichen Wechsellagen grundlegend verändert. Sie vollzogen sich zunehmend vor dem Hintergrund eines Wirtschaftswachstums, das in Ausmaß und Tempo alle bisherigen Vorstellungen sprengte.12 Dabei versteht man unter Wachstum den zeitlich über die Konjunkturschwankungen hinausreichenden langfristigen Anstieg des Produktionspotenzials einer Volkswirtschaft, oder anders ausgedrückt: Wachstum bezeichnet die trendmäßige Entwicklung des Sozialprodukts.13 Das Vorherrschen wirtschaftlichen Wachstums, besonders in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, hat dazu geführt, in den Konjunkturschwankungen lediglich die kurzfristigen Abweichungen von einem solchen Wachstumspfad zu sehen, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von Wachstumszyklen14 gesprochen und dabei den alten Konjunkturzyklus gleichzeitig für tot erklärt

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Ein Begriff, den Spiethoff geprägt hat; vgl. Arthur Spiethoff: Die wirtschaftlichen Wechsellagen. Aufschwung, Krise, Stockung. Tübingen/Zürich 1955. Das Wort Konjunktur stammt aus der Astronomie und Astrologie und bedeutet dort die Verknüpfung der Bahnen der einzelnen Sterne. Im 17. Jahrhundert erfährt der Begriff eine umgangssprachliche Erweiterung. Er bezeichnet nun die allgemeine Lage der Dinge. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts benutzen Kaufleute das Wort Konjunktur, wenn es um das „Auf“ und „Ab“ der Geschäfte geht. Die Literatur ist unübersehbar. Statt vieler seien genannt: Walter Adolf Jöhr: Die Konjunkturschwankungen (St. Gallener wirtschaftswissenschaftliche Forschungen 1/II). Tübingen/Zürich 1952; Günter Schmölders: Konjunkturen und Krisen. Hamburg 1955; Victor Zarnowitz: Business Cycles. Theory, History, Indicators, and Forecasting. Chicago 1992. Wirtschaftliches Wachstum ist deshalb zu einem Schlüsselbegriff der modernen Wirtschaftsgeschichte geworden; vgl. Reinhard Spree: Wachstum, in: Ambrosius/Petzina/Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 6), S. 137–156 sowie Hermann Kellenbenz/Jürgen Schneider/Rainer Gömmel (Hg.): Wirtschaftliches Wachstum im Spiegel der Wirtschaftsgeschichte (Wege der Forschung 376). Darmstadt 1978. Einen Überblick über die frühen Arbeiten der quantitativen Wachstumsforschung geben Jos Delbeke/Herman van der Wee: Quantitative Research in Economic History in Europe after 1945, in: Rainer Fremdling/Patrick K. O’Brien (Hg.): Productivity in the Economies of Europe (Historische Sozialwissenschaftliche Forschungen 15). Stuttgart 1983, S. 11–29. Zur ökonomischen Theorie des gesamtwirtschaftlichen Wachstums vgl. Alfred Maußner/Rainer Klump: Wachstumstheorie. Berlin u. a. 1996. Bezeichnend für die Auffassung, wonach die Konjunktur in kurzfristigen Wachstumsschwankungen zum Ausdruck kommt, ist die Definition in Wilhelm Weber/Hubert Neuss: Entwicklung und Probleme der Konjunkturtheorie, in: Wilhelm Weber unter Mitarbeit von Hubert Neuss (Hg.): Konjunktur- und Beschäftigungstheorie. Köln/Berlin 1967, S. 13–23, hier 13: „Das wirtschaftliche Wachstum der marktwirtschaftlich organisierten Industriestaaten vollzieht sich nicht stetig, sondern in kurzfristigen Schwankungen um einen längerfristigen Wachstumstrend.“

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hat.15 In wachsenden Volkswirtschaften sind Konjunktur und Wachstum nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch eng miteinander verknüpft. Da sich modernes Wirtschaftswachstum niemals stetig, sondern immer nur unter mehr oder weniger starken Schwankungen vollzogen hat, hängt es vom jeweiligen Messkonzept und den theoretischen Annahmen ab, wie die Fluktuationen in der zeitlichen Entwicklung ökonomischer Größen auf konjunkturelle und wachstumsbedingte Veränderungen zurückgeführt werden. Eng verbunden mit dem Begriff Konjunktur ist die Vorstellung der Regelmäßigkeit in der Abfolge von Aufschwung und Abschwung, von Prosperität und Depression. Die sich nach einem bestimmten Muster wiederholenden Veränderungen der Gesamtlagen der Volkswirtschaft bezeichnet man deshalb auch als Konjunkturzyklen. Obwohl man sich darüber einig ist, dass sich bestimmte Wirtschaftslagen nie in genau derselben Weise wiederholen, besteht doch weitgehend Konsens darin, dass die Regelmäßigkeiten größer sind als die Unregelmäßigkeiten und dass daher das Phänomen grundsätzlich einer theoretischen Erörterung zugänglich ist.16 Auch die Gegenposition, wonach die Unregelmäßigkeiten bei den einzelnen Konjunkturschwankungen schwerer wögen als die zu beobachtenden Regelmäßigkeiten und daher eine theoretische Erklärung überhaupt nicht möglich sei, wurde von prominenten Autoren vertreten.17 Der Zyklus ist damit im Gegensatz zu den ständigen Veränderungen der wirtschaftlichen Gesamtlage keine schlicht gegebene und jedermann einleuchtende Tatsache, impliziert er doch Regelmäßigkeiten und damit das Wirken systemimmanenter Ursache/Wirkungskonstellationen. Ein Konjunkturzyklus lässt sich anhand seiner Länge, seiner Amplitude (damit ist das Ausmaß der Schwankungen gemeint) und anhand der ihn konstituierenden Phasen beschreiben, deren Abfolge dem Zyklus sein spezifisches Gepräge geben. Die Forschung hat im Laufe der Zeit Zyklen unterschiedlicher Länge ausgemacht und dafür unterschiedliche Erklärungen gegeben.18 Bereits 1862 hat der Franzose Juglar19 15 „Is the business cycle obsolete?“ war das Thema einer Tagung, die 1967 in London stattfand; vgl. Martin Bronfenbrenner (Hg.): Is the Business Cycle Obsolete? New York 1969 und Edgar Salin: Art. „Spiethoff, Arthur“, in: Erwin von Beckerath u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, zugleich Neuauflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, 12. Band. Stuttgart u. a. 1965, S. 651–652, hier 652, stellt die Frage, „ob das Zeitalter der wirtschaftlichen Wechsellagen endgültig vorüber“ sei. 16 Diese Position vertritt z. B. Adolf Löwe: Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?, in: Weltwirtschaftliches Archiv 24 (1926), S. 165–197. 17 Z. B. Friedrich Lutz: Das Konjunkturproblem in der Nationalökonomie. Jena 1932. Ein weiterer Grund, um an der Regelmäßigkeit von Auf- und Abschwungphasen zu zweifeln, ist die Tatsache, dass man selbst mit Reihen von Zufallszahlen auf einfache Weise konjunkturähnliche Schwankungen erzeugen kann. Darauf hat erstmals Eugen Slutsky: The Summation of Random Causes as the Source of Cyclical Processes, in: Econometrica 5 (1937), S. 105–146, hingewiesen. 18 Ausführlich dazu Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49. 3. Aufl., München 1996, S. 597 ff. 19 Clement Juglar: Des crises commerciales et leur retour périodique en France, en Angleterre et aux États-Unis. Paris 1862.

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für die Wirtschaftskrisen anhand ökonomischer Reihen eine Periodizität von sieben bis elf Jahren festgestellt. Sehr kurze Zyklen, die „Kitchins“, entdeckten die Amerikaner Crum und Kitchin.20 Die Existenz von Zyklen mit 40- bis 60jähriger Dauer („Lange Wellen“) identifizierte in den 1920er Jahren der Russe Kondratieff. 21 Kuznets schließlich stellte für amerikanische Reihen Zyklen mit 15- bis 20jähriger Dauer („long swings“) fest.22 Neben den Konjunkturschwankungen gibt es noch, sofern die Beobachtungen unterjährig vorliegen, Saisonschwankungen, die auf Kalendereinflüsse zurückzuführen sind. Beiden Schwankungen ist gemeinsam, dass für sie eine gewisse Regelmäßigkeit angenommen wird. Dagegen wird das Wirtschaftswachstum anhand des Trends dargestellt, der die Grundrichtung der Zeitreihe angibt und keine periodische Bewegung darstellt. Hat man eine Reihe in Trend, Zyklus und Saison aufgeteilt, bleibt der Zufall quasi als Rest übrig. Er lässt sich in keines dieser Bewegungsmuster einordnen, gleichwohl kommt gerade ihm in der neueren Konjunktur- und Wachstumsforschung große Bedeutung zu.23 Neben der Länge spielen die einzelnen Phasen und die sich daraus ergebenden Wendepunkte für Beschreibung und Diagnose des Konjunkturzyklus eine wichtige Rolle. Auch hier gibt es unterschiedliche Vorstellungen, sowohl hinsichtlich der Anzahl als auch der Bezeichnung der Phasen.24 Spiethoff25 hat fünf solcher Phasen unterschieden, die er Wechselstufen nannte, Burns und Mitchell26 gingen sogar von neun Phasen pro Konjunkturzyklus aus. Grundsätzlich lassen sich für jeden Zyklus eine Aufschwungphase (Expansion), oberer Wendepunkt, Abschwungphase (Kontraktion) und unterer Wendepunkt unterscheiden. Dieses Vier-Phasen-Schema wurde von Haberler27 vorgeschlagen und genießt die wohl größte Akzeptanz. Die Auf-

20 William Leonard Crum: Cycles of Rates on Commercial Paper, in: Review of Economic Statistics 5 (1923), S. 17–27; Joseph Kitchin: Cycles and Trends in Economic Factors, in: Review of Economic Statistics 5 (1923), S. 10–16. 21 Nikolaus D. Kondratieff: Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56 (1926), S. 573–609. 22 Simon Kuznets: Secular Movements in Production and Prices. Boston u. a. 1930. Zum Problem der Kuznets-Zyklen für die deutsche Wirtschaft vgl. Rainer Metz/Reinhard Spree: KuznetsZyklen im Wachstum der deutschen Wirtschaft während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Dietmar Petzina/Ger van Roon (Hg.): Konjunktur, Krise, Gesellschaft. Wirtschaftliche Wechsellagen und soziale Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (Bochumer Historische Studien 25). Stuttgart 1981, S. 343–378. 23 Vgl. Rainer Metz: Trend, Zyklus und Zufall. Bestimmungsgründe und Verlaufsformen langfristiger Wachstumsschwankungen (VSWG, Beiheft 165). Stuttgart 2002. Darauf werden wir im Abschnitt zur historischen Konjunkturforschung noch ausführlicher eingehen. 24 Vgl. Marlene Amstad: Konjunkturelle Wendepunkte: Datierung und Prognose. Chronologie unterschiedlicher Wendepunkttypen und Entwicklung eines Frühwarnsystems mittels MarkovSwitching-Modellierung von Schweizer Unternehmensumfragedaten. Diss. St. Gallen 2000. 25 Spiethoff, Wechsellagen (wie Anm. 9). 26 Arthur F. Burns/Wesley C. Mitchell: Measuring Business Cycles. New York 1947. 27 Gottfried Haberler: Prosperität und Depression. Eine theoretische Untersuchung der Konjunkturbewegungen. Bern 1948.

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und Abschwungphasen lassen sich weiter untergliedern, z. B. in Erholung, Expansion, Hochkonjunktur, Krise, Entspannung, Abschwung.28 3. Messung und Datierung der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur Wendet man sich der Messung und Datierung gesamtwirtschaftlicher Konjunkturschwankungen zu, muss man sich vor allem mit zwei Fragen auseinandersetzen. Erstens: Anhand welcher ökonomischer Größen bzw. Indikatoren lässt sich die gesamtwirtschaftliche Konjunktur messen?29 Die zweite Frage ist: Wie lässt sich für eine bestimmte Reihe die konjunkturelle Bewegung von den anderen Bewegungskomponenten trennen, also insbesondere vom Wachstum, von der Saison und vom Zufall?30 Mit der zweiten Frage ist das Problem verbunden, wie sich mit Hilfe von Statistik und Ökonometrie Veränderungs- bzw. Wachstumsraten ökonomischer Größen in verschiedene Bewegungskomponenten aufspalten lassen. Wachstum und Konjunktur bezeichnen dabei zwei Dimensionen ökonomischer Entwicklungsprozesse, die nur mit einem einzigen Maß ungetrennt erfasst werden können, nämlich der absoluten oder relativen Veränderung der entsprechenden ökonomischen Variablen pro Zeiteinheit. Im Hinblick auf die erste Frage, auf die wir uns zunächst beschränken wollen,31 gibt es im Prinzip zwei grundlegende Vorstellungen.32 Einmal die des „cycle as a consensus“ und zum anderen die Vorstellung, wonach Konjunktur in den Auslastungsschwankungen eines stetig zunehmenden Produktionspotenzials zum Ausdruck kommt (Konzept des Wachstumszyklus). Für die erste Vorstellung steht das vor allem vom National Bureau of Economic Research (NBER) in den 1920er Jahren favorisierte Konzept des sogenannten „klassischen“ Konjunkturzyklus. Danach ist Konjunktur ein gesamtwirtschaftliches Phänomen, das sich nicht lediglich anhand

28 Vgl. auch Gunther J. Tichy: Konjunkturschwankungen. Theorie, Messung, Prognose. Berlin u. a. 1976 sowie ders.: Konjunktur. Stilisierte Fakten, Theorie, Prognose. Berlin u. a. 1994. 29 Einen breiten, auch historische Einblicke gewährenden Überblick gibt Karl Heinrich Oppenländer: Konjunkturindikatoren. Fakten, Analyse, Verwendung. München/Wien 1995. Vgl. auch Ulrich van Suntum: Konjunkturindikatoren. Aussagefähigkeit und Treffsicherheit, in: Allgemeines Statistisches Archiv 82 (1998), S. 81–95. Das Indikatorproblem in der historischen Konjunkturforschung behandelt Reinhard Spree: Zur Theoriebedürftigkeit quantitativer Wirtschaftsgeschichte (am Beispiel der historischen Konjunkturforschung und ihrer Validitätsprobleme), in: Jürgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers (GG, Sonderheft 3). Göttingen 1977. 30 Vgl. zu diesem Problem der Zeitreihenanalyse ausführlich Metz, Trend (wie Anm. 23) sowie Regina Kaiser/Agustín Maravall: Measuring Business Cycles in Economic Time Series (Lecture Notes in Statistics 154). New York u. a. 2001. 31 Auf das Messproblem werden wir im Kontext der historischen Konjunkturforschung noch eingehen. 32 Zum Folgenden ausführlich Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880 mit einem konjunkturstatistischen Anhang. Berlin 1977 sowie Tichy, Konjunkturschwankungen (wie Anm. 28).

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einer Reihe, z. B. anhand der realen Wertschöpfung, sondern nur anhand einer Vielzahl konjunkturrelevanter Größen darstellen lässt („cycle as a consensus“). Danach manifestiert sich Konjunktur in sogenannten Konjunkturmustern, die es zu identifizieren und zu erklären gilt. Die Herausarbeitung solcher Konjunkturmuster galt geradezu als die Hauptaufgabe der empirischen Konjunkturforschung in der Zwischenkriegszeit.33 Das Wesen einer so verstandenen Konjunktur kommt in folgendem Zitat von Mitchell deutlich zum Ausdruck: „Business cycles are a type of fluctuations found in aggregate economic activity of nations that organize their work mainly in business enterprises: a cycle consists of expansions occuring at about the same time in many economic activities, followed by similarly general recessions, contractions, and revivals which merge into the expansion phase of the next cycle; this sequence of changes is recurrent but not periodic; in duration business cycles vary from more than one year to ten or twelve years; they are not divisible into shorter cycles of similar character with amplitudes approximating their own.“34 Zwei Größen werden dabei zur Messung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität herangezogen. Zur Datierung der Wendepunkte dient der „reference cycle“, der aus speziell ausgewählten konjunkturreagiblen Reihen berechnet wird. Zur Messung der Amplitude wird der Diffusionsindex verwendet. Dieser Index misst den Anteil expandierender und kontrahierender Reihen in einer Auswahl von Indikatoren auf der Grundlage der jährlichen Wachstumsraten und ist ein Maß für die Schwankungen der „allgemeinen ökonomischen Aktivität“. Konjunktur wird dabei als das Vorherrschen von Aufschwungs- bzw. Abschwungstendenzen in den ausgewählten Sektoren verstanden. Je größer der Anteil positiver Wachstumsraten ist, desto höher ist der Wert des Diffusionsindexes und umgekehrt.35 Als nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftliches Wachstum zur vorherrschenden Bewegungsrichtung der ökonomischen Entwicklung wurde, hat sich mehr und mehr die Vorstellung durchgesetzt, wonach Konjunkturschwankungen lediglich transitorische Fluktuationen um einen langfristigen Wachstumstrend seien, weshalb man in diesem Zusammenhang auch von Wachstumszyklen spricht. Konjunkturschwankungen sind dann nichts anderes als Auslastungsschwankungen eines langfristig steigenden Produktionspotenzials.36 Wendepunkte und Länge der Trendab-

33 Dies gilt nicht nur für das NBER, sondern für das Harvard Institut ebenso wie das von Friedrich August von Hayek geleitete Österreichische Institut für Konjunkturforschung. 34 Wesley C. Mitchell: Business Cycles: The Problem and its Setting. New York 1913. Deutsche Übersetzung der 2. Aufl.: Der Konjunkturzyklus. Leipzig 1931, zit. nach Tichy, Konjunktur (wie Anm. 28), S. 38. 35 Die Konstruktion des Indexes erfordert keine aufwendigen zeitreihenanalytischen Verfahren, da er auf den Schwankungen im absoluten Niveau der Reihen basiert und verzichtet auf die Unterscheidung von Konjunktur, Wachstum und Zufall. Er ist jedoch stark von den verwendeten Indikatoren und damit von der Annahme abhängig, dass diese auch tatsächlich die gesamtwirtschaftliche Konjunktur repräsentieren. 36 Die verschiedenen Konjunkturtheorien unterscheiden sich nur dadurch, dass sie unterschiedliche Ursachen für Abweichungen vom langfristigen Trendwachstum in den Vordergrund rücken, vgl. Peter Kugler: Neuere Entwicklungen der Konjunkturtheorie, in: Allgemeines Statistisches Archiv 82 (1998), S. 25–36, hier 26.

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weichungen sowie die Tiefe der Einbrüche galten als die Messgrößen der Konjunkturschwankungen. Vielfach glaubte man sogar, die Länge der Zyklen und die Tiefe der Einbrüche prognostisch verwerten zu können. Obwohl Konjunkturschwankungen dabei anhand zahlreicher makroökonomischer Aggregate gemessen wurden (z. B. Privater Konsum, Staatsausgaben, Bruttoanlageinvestitionen), avancierte die Reihe des Bruttosozialprodukts (BSP), später die des Bruttoinlandsprodukts (BIP), zur Referenzgröße für Wachstum und damit für Konjunktur schlechthin.37 Probleme bereitet hier vor allem die Bestimmung des Potenzialwachstums bzw. die statistische Trennung von Trend und Konjunktur. Bei der dafür erforderlichen Zeitreihenzerlegung, die übrigens auf Schumpeter zurückgeht, behilft man sich in der Regel damit, das Wachstum durch eine deterministische Funktion der Zeit zu approximieren.38 Mit dem Nachlassen des Wachstums in den 1970er Jahren wurde Kritik zunehmend nicht nur an den damals vorherrschenden keynesianisch orientierten Konjunkturtheorien laut, sondern auch an dem dahinter stehenden Konzept der Wachstumszyklen. In einem einflussreichen Aufsatz hat Lucas 197739 nicht nur eine erneute Umdefinition des Gegenstandes der Konjunkturtheorie gefordert und damit die Diskussion um die Konjunkturmuster wiederbelebt,40 er hat auch den Grundstein für die sogenannte Gleichgewichtskonjunkturtheorien gelegt, die seit einigen Jahren unter dem Begriff „Real Business Cycle“-Theorien intensiv diskutiert werden.41 Nicht Länge, Form und Wendepunkte von Zyklen in ausgesuchten Einzelreihen sind vor allem zu erklären, sondern die im Zeitablauf typischen Relationen bestimmter Größen untereinander. Zarnowitz bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: „The term ,business cycle‘ is a misnomer insofar as no unique periodicities are involved, but its wide acceptance reflects the recognition of important regularities of long standing. The observed fluctuations vary greatly in amplitude and scope as well as duration, yet they also have much in common. First, they are national, indeed often international, in scope, showing up in a multitude of processes, not just in total output, employment, and unemployment. Second, they are persistent – lasting, as a rule several years, that is, long enough to permit the development of cumulative movements in the downward as well as upward direction. […] For all their

37 Hans J. Barth: Die Konjunkturzyklen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Darstellung, in: Hans-Georg Wehling (Hg.): Konjunkturpolitik. Fachwissenschaftliche Analysen. Unterrichtsempfehlungen. Opladen 1976, S. 9–19; Tichy, Konjunkturschwankungen (wie Anm. 28). 38 Da in der neoklassischen Wachstumstheorie das Wachstum unter der Annahme von vollkommenen Märkten durch die Entwicklung des Arbeitsvolumens, die Sachkapitalakkumulation und den technischen Fortschritt bestimmt wird, und man davon ausgeht, dass sich diese Faktoren gleichmäßig über die Zeit entwickeln, lässt sich dieses Vorgehen auch theoretisch begründen. 39 Robert E. Lucas: Understanding Business Cycles, in: Karl Brunner/Allan H. Meltzer (Hg.): Stabilization of the Domestic and International Economy. Amsterdam 1977, S. 7–29, wiederabgedruckt in Robert E. Lucas: Studies in Business Cycle Theory. Cambridge/Mass. 1981. 40 Lucas verweist hier ausdrücklich auf Burns/Mitchell, Measuring (wie Anm. 26) und Wesley C. Mitchell: What Happens During Business Cycles: A Progress Report. New York 1951. 41 Zum Konzept dieser RBC-Theorien vgl. unten.

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differences, business expansions and contractions consist of patterns of recurrent, serially correlated and cross-correlated movements in many economic (and even other) activities.“42 Anstelle des „entire meaningless vocabulary associated with full employment, phrases like, potential output, full capacity, slack, and so on […]“ sieht Lucas das Wesen der Konjunkturschwankungen in systematisch aufeinander bezogenen Fluktuationen ökonomischer Variablen, die auch als „stylized facts“ bezeichnet werden. Diese und nicht die Zyklen sind es, die von der Konjunkturtheorie zu erklären seien. Lucas nennt z. B. folgende „stylized facts“: Parallelbewegung sektoraler OutputReihen, erheblich größere Amplitude bei der Produktion von dauerhaften als von nicht-dauerhaften Gütern, starker Gleichlauf bei Unternehmergewinnen, prozyklische Entwicklung der Preise, prozyklische Entwicklung der kurzfristigen und schwach prozyklische der langfristigen Zinsen sowie prozyklische Entwicklung der monetären Aggregate.43 An dieser Liste ist vielfach Kritik geübt worden, und man wird wohl zu dem Schluss kommen müssen, dass alle derartigen Aufzählungen letztendlich ein gewisses Maß an Willkür enthalten.44 Wachstumszyklen und Konjunkturmuster stehen heute, zumindest was die empirische Forschung betrifft, wohl gleichwertig nebeneinander.45 Beide weisen Vorund Nachteile auf und enthalten, wie erwähnt, immer ein gewisses Maß an Willkür. Bei den Wachstumszyklen ist dies vor allem die Wahl des Trends bzw. die Bestimmung des Potenzialwachstums, bei den Konjunkturmustern ist es die Auswahl der Indikatoren. So hängen Wendepunkte, Länge der Zyklen und Zusammenhang der Reihen (worin sich ja die Wirkungsmechanismen zeigen sollen) grundsätzlich vom verwendeten Konzept und damit vom theoretischen Konjunkturverständnis des Forschers ab. 4. Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert Für den Versuch, die gesamtwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu datieren, erscheint es zweckmäßig, folgende Strukturperioden zu unterscheiden: Erstens die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, zweitens die Kriegs- und Zwischenkriegszeit und drittens die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg.46 Unsere Datierung der Konjunkturzyklen, die für

42 Zarnowitz, Business Cycles (wie Anm. 11), S. 22. Diese Definition lehnt sich eng an jene von Mitchell an, vgl. Anm. 34. 43 Lucas, Understanding (wie Anm. 39). 44 Dies betont nachdrücklich z. B. Tichy, Konjunktur (wie Anm. 28), S. 72. 45 Vgl. z. B. Bernd Schips: Konjunkturtheorie und empirische Konjunkturanalyse. HWWA Discussion Paper. Hamburg 2002. Dass sich die moderne Konjunkturtheorie ausschließlich auf die Konjunkturmuster beschränken würde, wie das Spree, Konjunktur (wie Anm. 6) und ders., Business Cycles (wie Anm. 6) behauptet, wird man wohl nur dann sagen können, wenn man unter „moderner“ Konjunkturtheorie ausschließlich die RBC-Theorien versteht. 46 Diese Einteilung ist weithin üblich, vgl. z. B. Angus Maddison: Dynamic Forces in Capitalist

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den gesamten Zeitraum (1820–2000) in Tabelle 1 wiedergegeben ist, beschränkt sich auf die Angabe der oberen und unteren Wendepunkte und damit auf die Aufund Abschwungphasen.47 Für Deutschland gibt es, im Gegensatz z. B. zu den USA,48 keine offizielle Konjunkturchronologie, weshalb die Datierung der einzelnen Zyklen stark vom Messkonzept und der Indikatorenauswahl des jeweiligen Forschers abhängt.49 Das 19. Jahrhundert (1820 bis 1914) Bereits frühzeitig hat sich die empirische Konjunkturforschung mit der Datierung der Konjunkturphasen im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt. In diesem Jahrhundert vollzog sich in Deutschland der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft. An die Stelle der vornehmlich durch Ernteschwankungen beeinflussten Agrarkonjunktur trat der industrielle Konjunkturzyklus. Ernst Wagemann50, Leiter des Berliner Instituts für Konjunkturforschung und Präsident des Statistischen Reichsamtes, hat in den Eheschließungen den wichtigsten Indikator für die Gesamtbewegung der deutschen Wirtschaft im 19. Jahrhundert gesehen. Da Wohlstand und Heiratsmöglichkeit in gewisser Weise zusammenhängen, würden die Eheschließungen, so seine Argumentation, die Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Ein-

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Development. A Long-Run Comparative View. Oxford/New York 1991 und Michael U. Bergmann/Michael D. Bordo/Lars Jonung: Historical Evidence on Business Cycles: The International Evidence, in: Jeffry C. Fuhrer/Scott Schuh (Hg.): Beyond Shocks: What Causes Business Cycles? Federal Reserve Bank of Boston, Conference Series No. 42, 1998, S. 65–113. Eine andere Einteilung findet sich z. Z. in Gustav Clausing: Art. „Konjunkturen“, in: Erwin von Beckerath u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, zugleich Neuauflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, 6. Band. Göttingen 1959, S. 133–141. Auf die Datierung der Konjunkturphasen kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Sie ist im Übrigen nur bei unterjährigen Reihen sinnvoll. Für das Ende des 19. Jahrhunderts sei diesbezüglich hingewiesen auf die grundlegende Studie von Margrit Grabas: Konjunktur und Wachstum in Deutschland von 1895 bis 1914 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 39). Berlin 1992 und für die Weimarer Zeit auf Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre (JbWG, Beiheft 2). Berlin 2002. James H. Stock/Mark W. Watson: Business Cycle Fluctuations in U.S. Macroeconomic Time Series. NBER Working Paper 6528, 1998. Vgl. auch die entsprechenden Angaben auf den Internetseiten des NBER. Einen Überblick über den konjunkturgeschichtlichen Hintergrund vermitteln z. B. Knut Borchardt: Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen 1800–1914, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1976, S. 198–275; ders.: Wachstum und Wechsellagen 1914– 1970, in: Ebd., S. 685–740; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2 (wie Anm. 18) sowie ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995, S. 91–99, 552–610. Ernst Wagemann: Einführung in die Konjunkturlehre. Leipzig 1929. Zu Person und Wirkung von Wagemann vgl. Albert Wissler: Ernst Wagemann. Begründer der empirischen Konjunkturforschung in Deutschland (DIW, Sonderheft 26). Berlin 1954.

4)

3)

2)

1)

Die Angaben basieren auf Spree, Konjunktur (wie Anm. 6). Die Angaben basieren auf Spiethoff, Wechsellagen (wie Anm. 9). Von 1919 bis 1949 basieren die Angaben auf den aus Albrecht Ritschl/Mark Spoerer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901-1995. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1997), S. 27-54 Die Angaben basieren auf Spree, Business Cycles (wie Anm. 6).

Reihenfolge der Zahlen: unterer-oberer-unterer Wendepunkt Zahlen in eckigen Klammern: Länge der Auf- bzw. Abschwungphasen; Zahlen in runden Klammern: Länge des Zyklus

Tabelle 1: Konjunkturzyklen der deutschen Wirtschaft 1821–2000

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kommensschwankungen gut widerspiegeln.51 Nach Wagemanns Auffassung ist die deutsche Wirtschaft bis in die 1860er Jahre durch die Agrarkonjunktur determiniert. Bei dieser haben wetterbedingte Ernteschwankungen meist überproportionale Veränderungen der Agrar- und Getreidepreise zur Folge und bestimmen damit die Realeinkommen breiter Bevölkerungsschichten. Aufgrund des hohen Anteils der Nahrungsausgaben am Haushaltskorb – noch bis ins 19. Jahrhundert zwischen 40 und 60 Prozent – bestimmen Ernteschwankungen auch die Nachfrage nach anderen Konsumgütern – z. B. Textilien – und damit auch die Investitionen in Handwerk und Gewerbe. Wagemann weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich in England die agrarwirtschaftliche Abhängigkeit der Eheschließungen schon in den 1820er Jahren verloren habe und statt dessen seit den 30er Jahren eine deutliche Gleichbewegung zwischen den Eheschließungen und den Preisen der Industriewaren festzustellen sei. Aufgrund der Heiratsziffer in Preußen kommt Wagemann zu dem Ergebnis, dass die deutsche Wirtschaft von 1825 bis 1913 elf Konjunkturzyklen durchlaufen hat, diese mithin eine durchschnittliche Länge von acht Jahren aufweisen. In die Jahre 1867 bis 1872 fällt der kürzeste und in die Jahre 1872 bis 1885 der längste Zyklus.52 Eine genaue Datierung der Aufschwungs- und Stockungsphasen der deutschen Wirtschaft von 1842 bis 1913 unternimmt auch Spiethoff im Rahmen seiner Konjunkturforschungen.53 Den wichtigsten Indikator für die industriewirtschaftlich bestimmte Konjunktur sieht er im Eisenverbrauch pro Kopf der Bevölkerung.54 Spiethoff identifiziert für den Zeitraum von 1842 bis 1913 acht Konjunkturzyklen (vgl. Tabelle 1, Spalte II) mit einer durchschnittlichen Länge von etwa acht Jahren, wobei die Länge der Zyklen zwischen sieben und elf Jahren variiert. Spiethoff weist zudem darauf hin, dass sich die kurzfristigen Juglar-Zyklen vor dem Hintergrund längerfristiger Wechselspannen vollziehen. Während in Aufschwungsspannen die konjunkturellen Aufschwungsjahre dominieren, ist es in den Stockungsspannen umgekehrt. Nach Spiethoff sind die Perioden 1843 bis 1868 und 1895 bis 1913 Aufschwungsspannen, während er die Periode von 1869 bis 1894 als Stockungsspanne bezeichnet.55 Die genaueste Datierung der Konjunkturzyklen im 19. Jahrhundert verdanken wir Spree,56 nach dessen Auffassung die Phase der Frühindustrialisierung in 51 Der Zusammenhang zwischen demographischen Variablen und Agrarkonjunktur wird auch von Reinhard Spree: Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913. Göttingen 1978, S. 115 ff., eingehend diskutiert. 52 Wagemann datiert nach den oberen Wendepunkten. 53 Arthur Spiethoff: Beiträge zur Analyse und Theorie der allgemeinen Wirtschaftskrisen. Leipzig 1905; ders.: Art. „Krisen“, in: Ludwig Elster u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band VI. 4. Aufl., Jena 1925, S. 8–91; ders., Wechsellagen (wie Anm. 9). 54 Diese Reihe zeigt unsere Abbildung 1. 55 Wagemann, Einführung (wie Anm. 50) hat diese Periode als „strukturelle Depression“ bezeichnet. Schumpeter, Konjunkturzyklen (wie Anm. 5) hat die Wechselspannen in sein Modell langfristiger Kondratieffzyklen integriert. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Spiethoffschen Wechselspannen findet sich bei Spree, Wachstumstrends (wie Anm. 51), S. 109 ff. 56 Vgl. Reinhard Spree/Jürgen Bergmann: Die konjunkturelle Entwicklung der deutschen Wirtschaft 1840–1864, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 11). Göttingen 1974, S. 289–325; Spree, Wachstumszyklen (wie Anm. 32); ders., Wachstumstrends (wie Anm.

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Deutschland Mitte der 1840er Jahre endet. In den Jahren von 1848 bis 1873 sieht Spree die Kernphase der Industriellen Revolution, den sogenannten „take-off“, in dem die Wirtschaft in das selbsttragende moderne Wirtschaftswachstum überging. Die daran anschließende Hochindustrialisierung brach mit dem Ersten Weltkrieg ab. Um die gesamtwirtschaftlich relevante Konjunkturbewegung datieren zu können, konstruiert Spree einen Diffusionsindex aus 18 Indikatoren.57 Konjunktur wird dabei, wie erwähnt, als das Vorherrschen von Aufschwungs- bzw. Abschwungstendenzen in den ausgewählten Sektoren verstanden. Anhand dieses Indexes identifiziert Spree für die Zeit von 1820 bis 1913 13 Zyklen, deren Länge zwischen 13 Jahren (1866–1879) und vier Jahren (1826–1830) schwankt und die rein rechnerisch eine Durchschnittslänge von etwa sieben Jahren aufweisen (vgl. Tabelle 1, Spalte I). Der von Spree konstruierte Diffusionsindex ist in Abbildung 1 zusammen mit der Spiethoffschen Reihe des Roheisenverbrauchs pro Kopf abgebildet.58 Den ersten Konjunkturzyklus neuen Typs, dessen Impulse primär aus dem industriell-gewerblichen Bereich stammen, datiert Spree in die Jahre 1843 bis 1848. Ab dieser Zeit setzte sich, so seine Argumentation, der industrielle Wachstumszyklus als ein Basisprozess durch, dessen Rhythmus zunehmend die gesamte Transformation der Gesellschaft bestimmte. Für die Phase des „take-off“, also von 1848 bis 1873, betont Spree die Abhängigkeit der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur von den schwerindustriellen Wachstumszyklen (vor allem Eisen, Kohle und Stahl), die herausragende Bedeutung der zeitlich vorgelagerten Investitionszyklen im Eisenbahnbau sowie den konjunkturellen Einfluss der Schwerindustrie bereits ab den 1840er Jahren auf die Zirkulationssphäre, also auf Geld, Handel und Verkehr. Demnach ist die Phase des „take-off“ bereits durch die neue Form der Konjunkturzyklen geprägt.59 Diese entfalten sich als ein Prozess, in dem Investition und Kapitalakkumulation in den Führungssektoren, die Gewinnerwartungen von Unternehmern und Kapitalisten sowie die Erfolge in den Investitionsgüterbranchen, nicht aber die Präferenzen und die Konsumwünsche der privaten Haushalte dominieren. Dieses kapitalistische Verhalten hat sich – nach Ansicht von Spree – bereits frühzeitig auf die Gesamtentwicklung durchgeschlagen und damit die Agrarkonjunktur abgelöst. Bemerkenswert ist, dass Sprees Datierung der Zyklen ab 1860 weitgehend mit jener von Spiethoff übereinstimmt, was ein Indiz dafür ist, dass sich ab dieser Zeit die gesamtwirtschaftlichen Konjunkturschwankungen wohl recht deutlich herausgebildet haben.60

57 58 59 60

51); ders.: Veränderungen der Muster zyklischen Wachstums der deutschen Wirtschaft von der Früh- zur Hochindustrialisierung, in: GG 5 (1979), S. 228–250. Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Spree, Wachstumstrends (wie Anm. 51). Diese berücksichtigen die Bevölkerung, die Landwirtschaft, das Geld- und Kreditwesen, das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe, den Steinkohlenbergbau, die Eisenhütten-Industrie und die Textil- bzw. Baumwollindustrie. Die Abbildung soll eine Vorstellung von Art und Ausmaß der Schwankungen vermitteln, die der Konjunkturdatierung zugrunde liegen. Wir werden uns mit dieser These im Rahmen unserer Ausführungen zur historischen Konjunkturforschung noch einmal auseinandersetzen. In diesem Sinne auch Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum (wie Anm. 49), S. 256 ff.

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Kriegs- und Zwischenkriegszeit (1914 bis 1945) Bevor wir uns den Zyklen im Einzelnen zuwenden, sei noch auf eine Besonderheit hingewiesen. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stützt sich die Konjunkturchronologie primär auf Reihen zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, also auf Bruttosozial- bzw. Bruttoinlandsprodukt. Da sie dies für das 19. Jahrhundert im Allgemeinen nicht tut, obwohl entsprechende Reihen ab 1850 vorliegen,61 geht man offensichtlich davon aus, dass im 19. Jahrhundert das BSP bzw. das BIP die Schwankungen der allgemeinen ökonomischen Aktivität nicht valide abbilden. Dahinter verbirgt sich das Argument, dass in weiter zurückliegenden historischen Perioden die regionalen und sektoralen Märkte gar nicht oder nur schwach miteinander verbunden waren.62 Dies würde freilich bedeuten, dass es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nur regionale und sektorale, jedoch keine gesamtwirtschaftlichen Konjunkturbewegungen gegeben habe. Dieser Einwand hat sicher seine Berechtigung, wenn man die gewerblich und industriewirtschaftlich bedingten Konjunkturphasen betrachtet. Für die Agrarkonjunktur kann dies nicht gelten, denn sonst ließe sich der oben erörterte generelle Zusammenhang zwischen Getreidepreisen und Eheschließungen nicht feststellen. Wenden wir uns nun auf der Basis des realen BSP pro Kopf der Bevölkerung den Konjunkturschwankungen von 1914 bis 1945 zu.63 Diese Jahre markieren in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Periode. Zwei Weltkriege, eine Inflation und die Weltwirtschaftskrise haben den Konjunkturverlauf entscheidend geprägt. Kennzeichnend für die Konjunkturdynamik dieser Zeit ist die dramatische Abfolge von zum Teil weltweiten krisenhaften Störungen und Perioden schnellen wirtschaftlichen Wachstums. Trotz des starken Wachstums der 1920er Jahre und des NSBooms ist diese Epoche durch starke Rückschläge und ausgeprägte Depressionsphasen gekennzeichnet. Die sich hinter dieser Entwicklung verbergende „Dramatik“ geht deutlich aus Abbildung 2 hervor, in der die jährlichen Wachstumsraten des realen BSP bzw. BIP pro Kopf der Bevölkerung ab 1919 wiedergegeben sind. Der erste Zyklus brach 1923 mit der Inflation ab, die zunächst Vollbeschäftigung und ein hohes Investitionsvolumen in der Industrie brachte. Der nachfolgende Zyklus hatte 1927 seinen Höhepunkt. Der Abschwung mündete in die Weltwirtschaftskrise, in der das Sozialprodukt in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden Jahren (1929–1932) zurückging. Sie markiert den nachhaltigsten Einschnitt im System des industriellen Kapitalismus und führte zu einer völligen Neuorientierung der Konjunkturtheorie.

61 Walther G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin u. a. 1965 und international vergleichend Angus Maddison: The World Economy. A Millennial Perspective. Paris 2001. 62 Spree, Business Cycles (wie Anm. 6). 63 Zahlen aus Albrecht Ritschl/Mark Spoerer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901–1995, in: JbWG 2 (1997), S. 27–54.

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Für die Zeit danach hängt die Datierung der Konjunktur davon ab, ob man das Niveau des BIP oder seine Wachstumsraten betrachtet. Folgt man den absoluten Werten, ist die Wirtschaft von 1932 bis 1943 von einem durchgängigen Aufschwung charakterisiert.64 Der NS-Boom, der nach neuesten Forschungen bereits 1932 einsetzte, brach 1943, zwei Jahre vor Kriegsende ab. Dabei verdoppelte sich von 1933 bis 1938 die Industrieproduktion, das Sozialprodukt je Einwohner wuchs um durchschnittlich 10,4 Prozent. Betrachtet man dagegen die Wachstumsraten, erreichte die Konjunktur 1936 einen ersten Höhepunkt und ging 1937 und 1938 wieder zurück. Der nachfolgende Aufschwung brach 1941 ab, 1944 war ein Tiefpunkt erreicht. 1946 lag das reale BIP je Einwohner in den vier Besatzungszonen bei etwa 60 Prozent des Standes von 1913. „Golden Age“ und „gebremstes Wachstum“ (1945 bis 2000)65 Die konjunkturelle Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in drei Phasen einteilen. Die erste reichte bis zur Ölpreiskrise von 1973. Die zweite brachte bis etwa 1984 mit geringen Wachstums- und hohen Inflationsraten das Phänomen der Stagflation sowie den „klassischen“ Konjunkturzyklus wieder ins Bewusstsein der Zeitgenossen. In der dritten Phase, die bis zur Gegenwart reicht, wurde bei anhaltender Wachstumsschwäche die extrem hohe Arbeitslosigkeit zum drängendsten wirtschaftspolitischen Problem. Für den gesamten Zeitraum lassen sich zehn Konjunkturzyklen identifizieren. Sechs davon fallen in die erste und je zwei in die beiden anderen Phasen (vgl. Tabelle 1, Spalte I und Abbildung 2). Im Zeitraum von 1950 bis 1973, dem „Golden Age“, lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der realen Pro-Kopf-Produktion mit 4,9 Prozent wesentlich höher als je zuvor und danach in der Geschichte. Der Konjunkturzyklus galt als überwunden. Mit dem von den Ökonomen konzipierten und durch die keynesianische Theorie gestützten Modell stetigen Wachstums war der Glaube an die unbegrenzte Steuerungsfähigkeit des Wirtschaftsprozesses verbunden. Mit den sogenannten Wachstumszyklen, die mit vier bis fünf Jahren kürzer als die klassischen Juglars sind, glaubte man an eine neue Form wirtschaftlicher Dynamik. Wachstumszyklen führten nun nicht mehr zu einem absoluten Rückgang des Sozialprodukts, sondern nur noch zu Veränderungen in der Höhe des jeweiligen positiven Zuwachses. Gleichwohl ist bereits seit Ende der 1950er Jahre ein kontinuierliches Nachlassen des Wachstumstempos unübersehbar. Mitte der 1960er Jahre kam es zu einer ersten Wachstumskrise, in deren Folge 1967 das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ verabschiedet wurde. Bereits 1968 trat je-

64 So Spree, Business Cycles (wie Anm. 6). 65 Die beiden Begriffe in Anlehnung an Peter Temin: The Golden Age of European Growth. A Review Essay, in: European Review of Economic History 1 (1997), S. 127–149 und Herman van der Wee: Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum und Strukturwandel 1945– 1980 (Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert 6). München 1984.

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doch erneut Hochkonjunktur ein.66 1973 führte die Verteuerung und Verknappung des Erdöls (Ölkrise) zur bis dahin längsten wirtschaftlichen Rezession der Nachkriegsgeschichte. In der zunehmenden Inflationsrate (teilweise mehr als 7 Prozent) zeichnete sich die Überleitung zur Stagflation der 1980er Jahre ab. Der Konjunkturzyklus wurde wieder deutlicher spürbar. Der Rückgang des realen BIP im Jahre 1975 um -0,6 Prozent markiert die bis dahin schwerste Nachkriegsrezession der Bundesrepublik. In der „hartnäckigen Stockung“ von 1980 bis 1982 wirkte sich besonders die zweite Ölkrise von 1979/80 nachteilig aus. Im Jahr 1982 fiel die BIPWachstumsrate auf -0,8 Prozent, und erreichte damit den zweiten Tiefpunkt dieser Periode (1973–1984). Parallel dazu war die Arbeitslosigkeit dramatisch angestiegen. In Folge des Konjunkturabschwungs von 1974/75 überstieg sie in den Jahren 1975 bis 1978 das Niveau von vier und 1983, als Folge der Krise von 1980/82, sogar das von neun Prozent. Zunächst brachte die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten (3. Oktober 1990) einen Wirtschaftsboom, bei dem sich das BIP 1990 und 1991 um jeweils knapp vier Prozent erhöhte. Damit unterschied sich die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland zunächst wesentlich von den übrigen OECD-Staaten, die von einer weltwirtschaftlichen Rezession betroffen waren (z. B. Großbritannien -1,9, USA -0,7 und Frankreich +1,2 Prozent). Erst 1992 schlug diese Rezession auch auf die westdeutsche Wirtschaft durch, 1993 ging das BIP um 1,8 Prozent zurück. Als immer drängenderes Problem erweist sich die hohe Arbeitslosigkeit.67 Flankiert wird diese Problematik von einer anhaltend hohen öffentlichen Verschuldung. Die Möglichkeit, durch größere Investitionen bzw. gezielte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegenzusteuern, wie dies Keynes empfohlen hatte, ist allein schon deshalb stark eingeschränkt. 5. Die theoretische Erklärung des Phänomens Der Gang durch die Geschichte hat auf der einen Seite ein recht heterogenes Bild der Konjunkturschwankungen erbracht, auf der anderen Seite kann man sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich hierbei um ein universelles Phänomen der Instabilität der kapitalistischen Entwicklung handelt. So überrascht es nicht, dass die Versuche, diese Schwankungen theoretisch zu erklären, so vielschichtig sind, dass ihre Systematisierung zu einem eigenständigen Problem geworden ist. Eine häufig anzutreffende Klassifizierung orientiert sich an der Frage, ob die Konjunkturschwankungen durch Störungen, die von „außen“ auf das Wirtschaftssystem einwirken, oder durch Kräfte „innerhalb“ des Wirtschaftssystems ausgelöst werden. Demzufolge wird zwischen „exogenen“ und „endogenen“ Ursachen unterschieden.68 Für den Histori66 Eine kenntnisreiche Schilderung dieser Entwicklungen vor dem Hintergrund der Geldpolitik findet sich in Rudolf Richter: Deutsche Geldpolitik 1948–1998. Tübingen 1999. 67 Die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Westdeutschland lag von 1985 bis 1998 bei immerhin ca. neun Prozent. 68 Vgl. Solomos Solomou: Economic Cycles. Long Cycles and Business Cycles since 1870. Man-

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ker besonders plausibel ist natürlich die Annahme, dass Zyklen sowohl durch äußere Impulse (exogene Schocks) als auch durch systemimmanente Wirkungsmechanismen entstehen. Die folgende Darstellung ist historisch orientiert. Zunächst werden die konjunkturtheoretischen Bemühungen bis zur Weltwirtschaftskrise betrachtet, wobei auch die Entstehung der empirischen Konjunkturforschung und der Ökonometrie kurz gestreift wird.69 Die sich daran anschließenden (post)keynesianischen Konjunkturtheorien konnten sich bis in die 1960er Jahre nahezu unangefochten halten. Die dann einsetzenden wirtschaftlichen Probleme haben zur Kritik an diesem sog. „Standard-Paradigma“70 und zu mehreren konkurrierenden Theorien geführt. Die Konjunkturtheorie bis zur Weltwirtschaftskrise Obwohl Juglar mit seinem 1862 erschienenen Werk71 als Begründer der modernen Konjunkturanalyse gilt, wurde der Konjunkturzyklus als zusammenhängende Erscheinung von Auf- und Abschwung erst relativ spät erkannt. Lange Zeit waren es die einzelnen Krisen, die sich mit dem Fortschreiten der Industrialisierung immer deutlicher ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drängten und die wissenschaftliche Analyse herausforderten.72 Da aufgrund des Say’schen Theorems eine allgemeine Überproduktion oder gar ein allgemeines Ungleichgewicht für die meisten Ökonomen nicht vorstellbar war, konnten die auftretenden Krisen nicht systemimmanent, sondern nur als vorübergehende Störungen (exogen) erklärt werden. Krisen markieren nach Lexis „einen Wendepunkt, einen Umschlag von einem Zustand in einen anderen, und zwar von einer aufsteigenden, aber inhaltlich nicht haltbaren Bewegung zu einem Zusammenbruch.“73

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chester/New York 1998. Diese Einteilung findet sich zum ersten Mal bei Mentor Bouniation: Geschichte der Handelskrisen in England, 1640 bis 1840. München 1908. Die Krisen- und Konjunkturtheorien bis zur Weltwirtschaftskrise sind dargestellt in Haberler, Prosperität (wie Anm. 27). Hans J. Ramser: Stand und Entwicklungsperspektiven der Konjunkturtheorie, in: Manfred Timmermann (Hg.): Nationalökonomie morgen. Ansätze zur Weiterentwicklung wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Stuttgart u. a. 1981, S. 27–58 und Knut Borchardt: Konjunkturtheorie in der Konjunkturgeschichte: Entscheidung über Theorien unter Unsicherheit ihrer Gültigkeit, in: VSWG 72 (1985), S. 537–555. Juglar, Des crises commerciales (wie Anm. 19). An zeitgenössischen Werken sind zu nennen: Eugen von Bergmann: Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien. Stuttgart 1895; Heinrich Herkner: Art. „Krisen“, in: Johann Conrad u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 6. 3. Aufl., Jena 1910, S. 253–276; Wilhelm Lexis: Art. „Krisen“, in: Ludwig Elster (Hg.): Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, Band 2. 2. Aufl., Jena 1907, S. 328–334. Juglar hat ja bezeichnenderweise die Periodizität der Krisen und nicht die der Konjunkturschwankungen behauptet. Vgl. auch Paul Mombert: Einführung in das Studium der Konjunktur. Leipzig 1921. Eine gute Darstellung der frühen Ansätze findet sich bei Jürgen Kromphardt: Die Konjunktur- und Krisentheorie der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Bertram Schefold (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie VII. Berlin 1989, S. 9–34. Lexis, Krisen (wie Anm. 72), S. 120, zitiert nach Knut Borchardt: Wandlungen im Denken über

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Im Prinzip lassen sich zwei Typen von Krisenerklärungen unterscheiden: Die erste, die dominierende, sieht die Krise als Reaktion auf die vorangehende Hausse. Die Krise ist die Korrektur vorangegangener Spekulationskäufe und „Übertreibungen“, wobei bereits frühzeitig die spekulative Überproduktion als Erklärungsmoment hinzutritt. Die zweite versucht die Krisen aus dem kapitalistischen Produktions- und Verteilungssystem und, insbesondere bei Marx, aus ihren inneren Widersprüchen zu erklären.74 Aus diesen Krisen- bzw. Konjunkturtheorien lassen sich zwei wichtige Erkenntnisse ableiten: Erstens können Krisen und die davon ausgehenden Zyklen durch realökonomische oder monetäre Faktoren bedingt sein, und zweitens bewirken diese Faktoren stets ein Ungleichgewicht zwischen der Produktion auf der einen und der Konsumtion auf der anderen Seite. Man unterscheidet demzufolge zwischen Unterkonsumtionstheorien einerseits und Überproduktions- (bzw. Überinvestitions-) Theorien andererseits. Nach Ansicht der Vertreter der Unterkonsumtionstheorien75 führt die Kapitalakkumulation im Aufschwung zu einer überproportionalen Erhöhung der Konsumgüterproduktion. Da Löhne und Gehälter nicht in gleichem Ausmaß wie die Konsumgüterpreise steigen, fehlt es den privaten Haushalten an Kaufkraft, so dass dem vermehrten Konsumgüterangebot eine zu geringe Nachfrage gegenübersteht. Ungleichheit der Einkommensverteilung kann die zu geringe Nachfrage verstärken. Bezieher hoher Einkommen sparen im Aufschwung zu viel und konsumieren zu wenig. Im Gegensatz dazu gehen die Vertreter der Überinvestitionstheorien davon aus, dass Schwankungen der Investitionstätigkeit Schwankungen bei den Konsumenteneinkommen erzeugen und nicht umgekehrt, wie es die Vertreter der Unterkonsumtionstheorien behaupten.76 Auslösendes Moment der Konjunkturbewegung bei den Überinvestitionstheorien sind entweder monetäre Effekte, wie eine Diskrepanz zwischen „natürlichem“ Zins (Gleichgewichtszins) und Marktzins (monetäre Überinvestitionstheorie), oder nicht monetäre Effekte. Für die Auffassung, wonach dem kapitalistischen Wirtschaftssystem eine Tendenz zu einer periodischen Überproduktion innewohnt, die durch Übersteigerungen des Investitionsverhaltens der Unternehmer hervorgerufen wird, sind unterschiedliche Begründungen gegeben worden. So von Tugan-Baranowsky,77 Spiethoff78 und Cassel.79 Besonders die Konjunkturtheorie Spiethoffs war von großem Einfluss auf

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wirtschaftliche Krisen, in: Krzysztof Michalski (Hg.): Über die Krise, Castelgandolfo Gespräche 1985. Stuttgart 1986, S. 127–153, hier 128. Vgl. Kromphardt, Konjunktur- und Krisentheorie (wie Anm. 72). Neben Klassikern wie Malthus, Sismondi und Marx sind hier vor allem zu nennen John Atkinson Hobson: The Problem of the Unemployed. London 1896; William T. Foster/Waddill Catchings: Money. Boston 1923; Erich Preiser: Grundzüge einer Konjunkturtheorie. Tübingen 1923; Emil Lederer: Konjunktur und Krisen (Grundriß der Sozialökonomik IV). Tübingen 1925; ders.: Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit. Tübingen 1931. Haberler, Prosperität (wie Anm. 27); Kromphardt, Konjunktur- und Krisentheorie (wie Anm. 72), S. 38 f. Michael Tugan-Baranowsky: Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England. Jena 1901. Vgl. die in Anm. 53 genannten Werke. Gustav Cassel: Theoretische Sozialökonomie. Leipzig 1918.

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die zeitgenössische Konjunkturdebatte in Deutschland.80 Zudem erweist sich Spiethoffs Erklärung der Krise als ein wichtiger Baustein für die auf der Interaktion von Akzelerator- und Multiplikatorprozessen beruhende keynesianische Konjunkturtheorie. Zentrale Bedeutung bei den Überinvestitionstheorien haben die langen Ausreifungszeiten der Produktionsanlagen, die eine Umstrukturierung des Produktionsapparates mit sich bringen, bei der die Produktionsstufen größer und die Produktionsumwege länger werden, so dass die Kapitalintensität steigt. Aber auch die Erschließung neuer Märkte oder Erfindungen kommen als auslösende Faktoren in Betracht.81 Für die weitere Entwicklung der Konjunkturtheorie bis zur Weltwirtschaftskrise sind vor allem drei Aspekte bedeutsam: Erstens das Entstehen der Konjunkturforschungsinstitute, zweitens die Begründung der Ökonometrie und drittens die Tatsache, dass sich die Weiterentwicklung der Konjunkturtheorie im Wesentlichen auf die Überinvestitionstheorien beschränkte.82 Die Geburtsstunde der empirischen Konjunkturforschung wird häufig in das Jahr 1913 datiert, in dem das Buch „Business Cycles“ von Mitchell erschien.83 Die Datensammlung und systematische Beschreibung der Realität wurde mehr und mehr von empirischen Forschungsinstituten übernommen. Damit war die Entwicklung einer Konjunkturlehre verbunden, deren Erkenntnisinteresse auf die „Bewegungen und Bewegungsverflechtungen der Wirtschaft“ gerichtet war.84 Richtungweisend für die damalige empirische Konjunkturforschung waren das 1917 bzw. 1920 gegründete Harvard University Committee on Economic Research sowie das National Bureau of Economic Research. In Deutschland war Prototyp dieser institutionalisierten Forschung das 1925 von Ernst Wagemann in Berlin ins Leben gerufene Institut für Konjunkturforschung, später Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.85 Bewusst hat sich die empirische Konjunkturforschung nicht an den vorhandenen

80 Vgl. Bernd Kulla: Die Anfänge der empirischen Konjunkturforschung in Deutschland 1925– 1933. Berlin 1996. 81 Einen Überblick vermittelt Wolfgang J. Mückl: Wodurch werden Konjunkturzyklen ausgelöst? Lehrmeinungen über verschiedene Entstehungsursachen, in: Wehling (Hg.), Konjunkturpolitik (wie Anm. 37), S. 38–51. 82 Man könnte darüber hinaus die Tatsache erwähnen, dass mit Schumpeters Konjunkturtheorie, die als dynamisch-evolutorische Entwicklungstheorie außerhalb des Gleichgewichtsparadigmas bezeichnet werden kann, auch die Grundlage für die Innovationsforschung gelegt wurde, die dann ab den 1970er Jahren zunehmende Bedeutung erfahren, und die auch der historischen Konjunkturforschung, vor allem bei der Frage nach den „Langen Wellen“ der Konjunktur, wichtige Impulse gegeben hat. Vgl. den Überblick von Reinhard Spree: Lange Wellen wirtschaftlicher Entwicklung in der Neuzeit. Historische Befunde, Erklärungen und Untersuchungsmethoden (Historical Social Research/Historische Sozialforschung, Suppl. 4). Köln 1991. 83 Mitchell, Business Cycles (wie Anm. 34). Zum Folgenden auch Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse (Grundriß der Sozialwissenschaft 6). Göttingen 1965, S. 1409 ff. 84 Wagemann, Einführung (wie Anm. 50), S. 19. 85 Rolf Krengel: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (Institut für Konjunkturforschung) 1925–1979. Berlin 1986. Für das Kieler Institut vgl. Ulf Beckmann: Von Löwe bis Leontief. Pioniere der Konjunkturforschung am Kieler Institut für Weltwirtschaft. Marburg 2000.

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Konjunkturtheorien orientiert, sondern an praxisrelevanten Gesichtspunkten. So betonten die Konstrukteure des Harvard-Barometers ausdrücklich, dass sie keinerlei Abart jenes „verrufenen und kompromittierenden Monstrums“86 verwenden würden, das Wirtschaftstheorie heiße. Obwohl unbestritten ist, dass die damalige Konjunkturlehre bis dahin nicht erreichte Einblicke in den Wirtschaftsprozess ermöglichte, hat sie als diagnostisches und prognostisches Instrument vor und während der Weltwirtschaftskrise versagt. Zwar haben, nach Schumpeters Ansicht, die Barometerkurven den herannahenden Zusammenbruch des Jahres 1929 klar angezeigt, eine Kausalanalyse der Krisenursachen, die für ein effizientes wirtschaftspolitisches Gegensteuern notwendig gewesen wäre, konnte mit ihnen jedoch nicht geleistet werden. So waren es vor allem die Probleme der Weltwirtschaftskrise, die mit der keynesianischen Wirtschaftslehre zu einer völligen Neuorientierung der Konjunkturtheorie, ja der Nationalökonomie überhaupt, führten. Für die weitere Entwicklung der Konjunkturtheorie höchst bedeutsam ist auch die Tatsache, dass mit der 1929 in Amerika gegründeten „Econometric Society“ ein völlig neues Forschungsprogramm etabliert wurde. Die Ökonometrie war, wie Schumpeter bemerkte, das statistische Pendant zur keynesianisch fundierten dynamischen Makrotheorie.87 Die Intention der Ökonometrie bestand darin, Aussagen über die empirische Gültigkeit von Theorien mit Hilfe der Statistik und Mathematik abzuleiten, um damit in empirisch-quantitativer Weise zwischen konkurrierenden Theorien diskriminieren zu können.88 Der dritte Aspekt betrifft die Feststellung, dass sich die konjunkturtheoretischen Arbeiten nach 1914 im Wesentlichen auf den Ausbau und die Verfeinerung der Überinvestitionstheorien konzentrierten.89 Vor allem die monetäre Überinvestitionstheorie („Zinsspannentheorie“) war wirtschaftspolitisch äußerst wirksam; man kann sie geradezu als die herrschende Lehre am Vorabend der Weltwirtschaftskrise bezeichnen.90 Bei dieser Theorie wird der Aufschwung durch ein Sinken des Geldzinses unter den natürlichen Zins ausgelöst. Durch die Zinssenkung werden mehrergiebige Produktionsumwege rentabel (Investitionen), die beim natürlichen Zins 86 Schumpeter, Geschichte (wie Anm. 83), S. 1416. 87 Gebhard Kirchgässner: Ökonometrie: Datenanalyse oder Theorienüberprüfung?, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 198 (1983), S. 511–538. 88 Entscheidenden Einfluss auf diesen Forschungsansatz hatte Karl R. Popper: Logik der Forschung. 10. Aufl., Tübingen 1994, der die Wissenschaftslehre des kritischen Rationalismus begründete. Eine kenntnisreiche Schilderung der historischen Entwicklung der Forschungskonzepte von Statistik und Ökonometrie bietet Thomas Rahlf: Deskription und Inferenz. Methodologische Konzepte in der Statistik und Ökonometrie (Historical Social Research/Historische Sozialforschung, Suppl. 9). Köln 1998. 89 Bekanntlich vertrat Schumpeter, Geschichte (wie Anm. 83), S. 1362 die Ansicht, dass alle wichtigen konjunkturtheoretischen Einsichten bereits 1914 vorgelegen hätten. Vgl. auch Gertrud Pütz-Neuhauser: Zur Entwicklung der Konjunkturtheorie im deutschen Sprachraum in der Zwischenkriegszeit, in: Bertram Schefold (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie VIII (Schriften des Vereins für Socialpolitik 115). Berlin 1989, S. 87–102, hier 90 f. 90 Ihre grundlegenden Aussagen gehen zurück auf den schwedischen Nationalökonomen Knut Wicksell: Vorlesungen über Nationalökonomie auf der Grundlage des Marginalprinzipes. 2 Bände, insbesondere Band 2: Theoretischer Teil, Geld und Kredit. Jena 1922.

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nicht rentabel waren: Die Investitionen steigen. Der obere Wendepunkt wird erreicht, wenn sich herausstellt, dass der Subsistenzmittelfonds z. T. nur vorgetäuscht war und nicht aus „echten“ Ersparnissen bestand. Das heißt, es kommt ein Zeitpunkt, zu dem sich herausstellt, dass die „konsumreifen Unterhaltsmittel aufgezehrt sind, ehe die in der Produktion tätigen Kapitalgüter sich in Konsumgüter verwandelt haben“.91 Dies ist der eigentliche, realwirtschaftliche Grund für das Umschlagen von der Prosperität zur Depression. Aus dieser Theorie folgt als konjunkturpolitisches Heilmittel am oberen Wendepunkt vermehrtes Sparen, weil eben durch die Geldschöpfung der Banken ein größerer Subsistenzmittelfonds vorgetäuscht wurde als wirklich vorhanden war. So hat Hayek in der Weltwirtschaftskrise zu vermehrtem Sparen aufgerufen. Das war bekanntlich auch die Konzeption, die der damalige Reichskanzler Brüning mit seiner Sparpolitik verfolgte. Keynes und die keynesianische Konjunkturtheorie Mit der Weltwirtschaftskrise und der „General Theory“ von Keynes92 vollzog sich die Abkehr von der „klassischen“ Prämisse einer automatisch zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht tendierenden Wirtschaft und damit eine tiefgreifende Neuorientierung der Konjunkturtheorie. In der Analyse von Keynes erweist sich der Kapitalismus als ein instabiles, aufgrund unsicherer, hin- und herschwankender Erwartungen heftigen Konjunkturbewegungen unterworfenes System, in dem überdies die ungleiche Einkommensverteilung die Konsumfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten unnötig niedrig hält und somit eine Tendenz zur Unterbeschäftigung hervorruft.93 Danach ist das Konjunkturproblem die Achillesferse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung; und Keynes zeigt, welche Maßnahmen erforderlich sind, um dieses System zu stabilisieren. Die zentrale Botschaft der keynesschen Theorie war das Ende des Konjunkturphänomens als eines inhärenten Prozesses der kapitalistischen Entwicklung. Der Beginn der modernen, auf Keynes basierenden Konjunkturtheorie wird häufig ins Jahr 1950 datiert, in dem Hicks sein Konjunkturmodell vorstellte, das lange Zeit als Höhepunkt der modernen Konjunkturtheorie galt.94 Deren wichtigste Bausteine sind das Multiplikator- und das Akzeleratorprinzip. Ersteres bezeichnet den Sachverhalt, dass eine autonome Einkommensänderung zu einer (abnehmenden)

91 Ludwig von Mises, zit. nach Alfred E. Ott: Wirtschaftstheorie. Eine erste Einführung. 2. Aufl., Göttingen 1992, S. 123. 92 John Maynard Keynes: General Theory of Employment, Interest and Money. London 1936. Deutsche Übersetzung: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. München/Leipzig 1936. 93 Jürgen Kromphardt: Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus – von seiner Entstehung bis zur Gegenwart. 3. Aufl., Göttingen 1991, S. 168 ff. 94 John R. Hicks: A Contribution to the Theory of the Trade Cycle. Oxford 1950. Hierzu Gottfried Bombach: Konjunkturtheorie einst und heute (Konstanzer Universitätsreden 181). Konstanz 1991.

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Folge von weiteren Einkommensänderungen führt, so dass das Gesamteinkommen schließlich ein Mehrfaches der ursprünglichen Änderung ausmacht. Mit dem Akzeleratorprinzip wird ein möglicher Zusammenhang zwischen einer Einkommens- oder Produktionsänderung einerseits und der Investition andererseits analysiert, wobei die Investition als die abhängige Größe betrachtet wird. Mit dem Akzeleratorprinzip lässt sich in den Konjunkturmodellen nicht nur die Beschleunigung von expansiven und kontraktiven Prozessen, sondern vor allem auch die Umkehr in der Richtung dieser Prozesse erklären. Dies bedeutet die Möglichkeit einer systemimmanenten Erklärung zyklischer Wirtschaftsabläufe, so dass auf die Annahme von exogenen „Schocks“ verzichtet werden kann. Die im Anschluss an Hicks entwickelten Modelle versuchten eine simultane Erklärung von Konjunktur und Wachstum, was insofern dem empirischen Befund entsprach, als die Wirtschaftsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Form von Wachstumszyklen hatte. Konjunkturtheorie wurde zur weitgehend mathematisch formulierten reinen Modelltheorie, die das dynamische Verhalten von wenigen makroökonomischen Aggregaten (wie Volkseinkommen, Investition, Konsum) in ihrer Wechselwirkung beschreibt. Grundlage sind Oszillationsmodelle (auf der Basis von Differenzen- bzw. Differentialgleichungen), die den Konjunkturzyklus als Schwingungsvorgang um einen Wachstumstrend darstellen. Damit ist die formale Integration von Konjunktur und Wachstum in einer dynamischen Makrotheorie vollzogen. Diese Konjunkturmodelle haben, in Verbindung mit Ökonometrie und volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, den Glauben genährt, Konjunktur und Wachstum seien nicht nur in mathematisch eleganter Weise erklär- und prognostizierbar, sondern letztlich auch beliebig steuerbar. Mit zunehmenden wirtschaftlichen Problemen und der Rückkehr des „klassischen“ Konjunkturzyklus hat sich dies als Fehlurteil erwiesen. Die Konjunkturtheorie begann sich neu zu orientieren, wobei der Versuch einer Mikrofundierung im Vordergrund stand. Neben monetaristisch orientierten Konjunkturtheorien entstanden die neue keynesianische und die neue klassische Makroökonomik. Es würde zu weit führen, wollte man hier die verschiedenen Bemühungen auch nur ansatzweise nachzeichnen.95 Stattdessen soll kurz auf die oben erwähnten Real Bussines Cycle-Theorien (RBC) eingegangen werden, denen in der neueren Forschung besondere Bedeutung zukommt.96 Ihre Entwicklung begann in den 1980er Jahren mit einer Arbeit

95 An Überblicken seien genannt: Jürgen Kromphardt: Über den heutigen Stand der Konjunkturtheorie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 193 (1978), S. 97–114; Gunther Tichy: Neuere Entwicklungen in der Konjunkturtheorie, in: ifo-Studien, Zeitschrift für empirische Wirtschaftsforschung 28 (1982), S. 213–238; Kugler, Neuere Entwicklungen (wie Anm. 36); Christian Conrad: Entwicklungen der Konjunkturtheorie seit Keynes und ihr Beitrag zur Konjunkturpolitik – eine vergleichende kritische Bewertung, in: Konjunkturpolitik 45 (1999), S. 188–220. 96 James E. Hartley/Kevin D. Hoover/Kevin D. Salyer (Hg.): Real Business Cycles. A Reader. London 1998; George W. Stadler: Real Business Cycles, in: Journal of Economic Literature 32 (1994), S. 1750–1783.

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von Kydland und Prescott.97 Zwei wichtige Ziele waren damit verbunden: Erstens die Dynamisierung des neoklassischen Ansatzes und zweitens die Bestimmung der Ursachen von Schwankungen ökonomischer Aggregate. RBC-Modelle basieren auf der Walrasianischen Gleichgewichtsvorstellung, nach der Wirtschaftssubjekte aufgrund von Preissignalen sofort und effizient auf exogene Störungen reagieren (Idee der Gleichgewichtszyklen). Das System ist deshalb immer im Gleichgewicht, es gibt keine Marktunzulänglichkeiten, zudem schaltet die rationale Erwartungshypothese Effekte staatlicher Eingriffe und der Geldpolitik aus.98 Was sind nach dieser Theorie die Ursachen für die Veränderungen ökonomischer Zeitreihen? Meistens werden die als exogen gegeben angenommenen zufälligen Veränderungen der Technologie als wichtigste Ursache angesehen.99 In einem solchen Modell von Gleichgewichtszyklen, welche allein durch exogen bedingte Technologieschocks verursacht werden, macht die Unterscheidung von Wachstum und Konjunktur wenig Sinn. Ökonomische Zeitreihen werden daher nicht mehr in Zyklus und Trend aufgespalten. Konjunkturen sind keine Störungen, sondern der Prozess selbst. Sie sind der Normalfall.100 Die zeitliche Dynamik und die Beziehungen zwischen den Reihen werden mit Hilfe statistischer Kennziffern abgebildet. Diese Kennziffern für Variabilität und serielle Abhängigkeit repräsentieren die stilisierten Fakten – oder mit anderen Worten: die Konjunkturmuster, die es durch das jeweilige Modell zu erklären gilt. Als wesentliche Kritik an den RBC-Modellen wird, besonders im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, die implizierte Gleichgewichtsvorstellung kritisiert. Bezüglich der Technologieschocks lässt sich einwenden, dass diese nicht ausschließlich exogen bedingt und dass sie auch nicht die einzige Ursache für die Veränderungen ökonomischer Aggregate sein müssen.101

97 Finn E. Kydland/Edward C. Prescott: Time to Build and Aggregate Fluctuations, in: Econometrica 50 (1982), S. 1345–1370. Vgl. auch Charles I. Plosser: Understanding Real Business Cycles, in: Journal of Economic Perspectives 3 (1989), S. 51–77. 98 N. Gregory Mankiw: Real Business Cycles: A New Keynesian Perspective, in: Journal of Economic Perspectives 3 (1989), S. 79–90. 99 James E. Hartley: Does the Solow Residual Actually Measure Changes in Technology, in: Review of Political Economy 12 (2000), S. 27–44. 100 Ernst Helmstädter: Konjunkturprognosen ohne Zyklusvorstellung, in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung 34 (1995), Heft 2. 101 Lawrence H. Summers: Some Sceptical Observations on Real Business Cycle Theory, in: Federal Reserve Bank of Minneapolis Quarterly Review 10 (1986), S. 23–27; Martin Eichenbaum: Real Business Cycle Theory: Wisdom or Whimsy?, in: Journal of Economic Dynamics and Control 14 (1991), S. 607–626; Gary D. Hansen/Edward C. Prescott: Did Technology Shocks Cause the 1990–1991 Recession?, in: American Economic Review 83 (1993), S. 280– 286.

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6. Historische Konjunkturforschung Die Erörterung der Konjunkturtheorien hat gezeigt, dass im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Ursachen und Wirkungsmechanismen der Konjunkturschwankungen ausgemacht wurden. Borchardt hat in einem grundlegenden Aufsatz102 nicht nur darauf hingewiesen, dass es zu jeder Zeit eine Vielzahl konkurrierender Theorien gab, er hat auch nachdrücklich betont, dass es nicht möglich ist, und darüber ist man sich heute weitgehend einig, den Streit um die Gültigkeit von Theorien mit Hilfe empirischer Daten und ökonometrischer Methoden zu entscheiden.103 Dies hat für die historische Konjunkturforschung weitreichende Bedeutung: Sie kann sich keinesfalls auf das ökonometrische Testen von Theorien beschränken. Diese sind für den Historiker vielfach nur heuristische Erkenntnismittel, die seinen Blick in eine bestimmte Richtung lenken. Man denke an die Bedeutung der Investitionen in der keynesianischen oder der Innovationen in der schumpeterianischen Konjunkturtheorie. Auch die Frage nach der Bedeutung exogener Schocks, seien es nun technologische oder monetäre, erhält durch die Theorie Realer Konjunkturzyklen eine neue Dimension. Für die historische Konjunkturforschung ist offensichtlich eine spezifische Interdependenz von theoretischen Modellen, adäquaten Messkonzepten und aussagekräftigen Daten geradezu konstituierend. In diesem Sinne haben Schröder und Spree 1980 in einem programmatischen Aufsatz Erfahrungsgegenstand und Erkenntnisziele der historischen Konjunkturforschung thematisiert.104 Danach ist historische Konjunkturforschung ein eigenes, interdisziplinäres Forschungsfeld, um die komplexen historischen Konjunkturphänomene auf sektoraler, regionaler und nationaler Ebene zu beschreiben und zu erklären. Neben die Instrumente der Deskription tritt meist eine pragmatische Anwendung von Theorien, formalen Modellen und statistischen Methoden. Häufig werden die theoretischen Konzepte durch die Konfrontation mit dem empirischen Material modifiziert und weiterentwickelt. Die historische Konjunkturforschung leistet die inhaltliche Bestimmung der relevanten Prozesse, die kausale und funktionale Verknüpfung der zu untersuchenden Wirklichkeitsbereiche sowie die Feststellung von Interdependenzen und Wirkungszusammenhängen. Sicherlich muss man die Arbeiten von Rosenberg zur Weltwirtschaftskrise von 1857 bis 1859105 und zur „Großen Depression“ von 1873 bis 1896106 als wichtige 102 Borchardt, Konjunkturtheorie (wie Anm. 70). 103 Kirchgässner, Ökonometrie (wie Anm. 87). 104 Wilhelm H. Schröder/Reinhard Spree: Historische Konjunkturforschung: Aufriß und Desiderata, in: Dies. (Hg.): Historische Konjunkturforschung (Historisch Sozialwissenschaftliche Forschungen 11). Stuttgart 1980, S. 7–17. 105 Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise von 1857–1859 (VSWG, Beiheft 30). Stuttgart 1934, Neudruck Göttingen 1974. 106 Hans Rosenberg: Political and Social Consequences of the Great Depression of 1873–1896 in Central Europe, in: Economic History Review 13 (1943), S. 58–73; ders.: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. Berlin 1967. In dieser Tradition steht Hans-Ulrich Wehler: Bismarck und der Imperialismus. 4. Aufl., München 1976.

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Vorläufer einer solchen Konjunkturforschung betrachten, da hier zum ersten Mal der Brückenschlag zwischen Geschichte und Ökonomie von Seiten eines Historikers unternommen wurde.107 Einen Höhepunkt erreichte die historische Konjunkturforschung in Deutschland jedoch in den 1970er Jahren.108 Einerseits stand sie dabei in der Tradition der empirischen Konjunkturforschung der 1920er und1930er Jahre, andererseits bezog sie aber das Phänomen wirtschaftlichen Wachstums und besonders das der langfristigen Wachstumsschwankungen systematisch in die Analyse ein.109 Darüber hinaus haben sich die westdeutschen Wirtschaftshistoriker intensiv auch mit jenen – vorwiegend ostdeutschen – Autoren auseinandergesetzt, die die offensichtlichen Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Aktivität als Krisenerscheinungen im Sinn der Marxschen Theorie interpretierten.110 Dass mit der Renaissance der Konjunkturforschung111 auch gleichzeitig eine Renaissance der Spiethoffschen Wechselspannen bzw. der von Kondratieff und Schumpeter favori-

107 Hans-Ulrich Wehler: Vorwort, in: Ders. (Hg.), Sozialgeschichte heute (wie Anm. 56), S. 9–21. Stephan Skalweit: Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763 und ihre Hintergründe (VSWG, Beiheft 34), S. III, vertritt dagegen die Auffassung, durch „eine schlichte Erzählung des tatsächlichen Geschehens auch dem Konjunkturforscher besser zu dienen, als durch eine krisentheoretische Betrachtung.“ 108 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Knut Borchardt: Trend, Zyklus, Strukturbrüche, Zufall: Was bestimmte die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts?, in: VSWG 64 (1974), S. 145–178; ders.: Wandlungen des Konjunkturphänomens in den letzten hundert Jahren (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte der Philosophisch-historischen Klasse, H. 1). München 1976; ders., Wirtschaftliches Wachstum (wie Anm. 49); ders., Wachstum (wie Anm. 49); Volker Hentschel: Prosperität und Krise in der württembergischen Wirtschaft 1871–1879. Methodische Überlegungen und deskriptive Untersuchung, in: VSWG 63 (1976), S. 339–389; Jürgen Freiherr von Kruedener: Die Jahresberichte der Preußischen Bank (1847–1875) als Quelle zur Konjunkturgeschichte, in: VSWG 62 (1975), S. 465–499; Spree, Wachstumszyklen (wie Anm. 32); ders., Wachstumstrends (wie Anm. 51); ders., Veränderungen (wie Anm. 56); ders.: Zur quantitativ-historischen Analyse ökonomischer Zeitreihen: Trends und Zyklen in der deutschen Volkswirtschaft von 1820–1913, in: Heinrich Best/Reinhard Mann (Hg.): Quantitative Methoden in der historischsozialwissenschaftlichen Forschung (Historisch Sozialwissenschaftliche Forschungen 3). Stuttgart 1977, S. 126–161; Spree/Bergmann, konjunkturelle Entwicklung (wie Anm. 56). Vgl. auch Richard Tilly: Konjunkturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, in: Schröder/Spree, Historische Konjunkturforschung (wie Anm. 104), S. 18–28 sowie die anderen Beiträge in diesem Sammelband. 109 Neben den in Anm. 108 aufgezählten Arbeiten seien, wiederum ohne Anspruch auf Vollständigkeit, genannt: Rainer Fremdling: Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840– 1979. 2. Aufl., Dortmund 1985; Rainer Gömmel: Wachstum und Konjunktur der Nürnberger Wirtschaft (1815–1914) (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte 1). Stuttgart 1978; Gerd Hohorst: Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914: Zur Frage demo-ökonomischer Entwicklungszusammenhänge. New York 1977; Carl-Ludwig Holtfrerich: Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert – Eine Führungssektoranalyse. Dortmund 1973; Günter Kirchhain: Das Wachstum der deutschen Baumwollindustrie im 19. Jahrhundert. Diss. Münster 1971. 110 Vgl. hierzu besonders Spree, Wachstumszyklen (wie Anm. 32), S. 1 ff. 111 Richard Tilly: Renaissance der Konjunkturgeschichte?, in: GG 6 (1980), S. 243–262.

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sierten „Langen Wellen“ der Konjunktur einherging,112 war mitbegründet durch die Tatsache, dass in den 1970er Jahren die Wachstumsdynamik spürbar nachgelassen hatte. Mit den Arbeiten der 1970er Jahre hat sich die historische Konjunkturforschung als eigenes Forschungsfeld innerhalb der Wirtschaftsgeschichte etabliert. Zahlreiche Forscher haben dieses Thema seither weitergeführt und mit grundlegenden Beiträgen zu Beschreibung und Erklärung der konjunkturellen Entwicklung der deutschen Wirtschaft beigetragen.113 Die Industrialisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert, die Weimarer Republik und das Zeitalter des „Golden Age“ bilden dabei zeitliche Schwerpunkte. Da mit diesen Studien vielfach auch neue konjunkturstatistische Daten publiziert wurden, hat sich auch die Datenbasis der historischen Konjunkturforschung nachhaltig verbessert.114 Besonders zu erwähnen ist hier der von der DFG von 1981 bis 1991 finanzierte Schwerpunkt „Historische Statistik von Deutschland“, der zur Publikation einer Vielzahl konjunkturrelevanter Daten auf sektoraler und regionaler Ebene geführt hat.115 Nicht zu vergessen sind auch jene

112 Stellvertretend für viele seien genannt: Hermann Kellenbenz (Hg.): Wachstumsschwankungen. Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen (Spätmittelalter bis 20. Jahrhundert). Stuttgart 1981; Dietmar Petzina/Ger van Roon (Hg.): Konjunktur, Krise, Gesellschaft. Wirtschaftliche Wechsellagen und soziale Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (Bochumer Historische Studien 25). Stuttgart 1981. 113 Auch hier stellvertretend für viele: Helge Berger: Konjunkturpolitik im Wirtschaftswunder. Handlungsspielräume und Verhaltensmuster von Bundesbank und Regierung in den 1950er Jahren. Tübingen 1997; Thomas Bittner: Das westeuropäische Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Planification und der Sozialen Marktwirtschaft. Münster 2001; Knut Borchardt: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik: Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1982; Grabas, Konjunktur (wie Anm. 47); Volker Hentschel: Leitsektorales Wachstum und Trendperioden. Rostows Konzept modernen Wirtschaftswachstums in theoriegeschichtlicher Perspektive, in: VSWG 80 (1993), S. 197–208; Rainer Klump: Kondratieff-Zyklen, Gibson-Paradoxon und Klassischer Goldstandard, in: VSWG 80 (1993), S. 305–318; Joachim Liese/ Max-Stephan Schulze: Geldpolitik und Konjunktur in Österreich: Die „Pleiner’sche Stagnation“ 1862 bis 1866, in: VSWG 80 (1993), S. 510–530; Ludger Lindlar: Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 77). Tübingen 1997; Ritschl, Deutschlands Krise (wie Anm. 47); Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 81). Tübingen 1993. 114 Zahlreiche Daten der historischen Konjunkturforschung sind in elektronischer Form im Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung (ZA) in Köln archiviert und stehen dort für weitere Forschungen zur Verfügung. Das ZA bemüht sich gegenwärtig um den Aufbau einer Datenbank zur Historischen Statistik von Deutschland im Internet (www.histat.gesis.org). 115 Wolfram Fischer/Franz Irsigler/Karl Heinrich Kaufhold/Hugo Ott (Hg.): Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland. St. Katharinen 1986 ff. Bislang sind 24 Bände erschienen. Vgl. auch Wolfram Fischer/Andreas Kunz (Hg.): Grundlagen der Historischen Statistik von Deutschland. Quellen, Methoden, Forschungsziele. Opladen 1991; Karl Heinrich Kaufhold: Neuere Quellen und Veröffentlichungen zur historischen Statistik von Deutschland, in: HZ 262 (1996), S. 127–136.

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Arbeiten, die sich mit dem Einfluss des statistischen Instrumentariums auf die substanzwissenschaftlichen Ergebnisse auseinandergesetzt haben und so zu einem kritischen Methodenbewusstsein innerhalb der historischen Konjunkturforschung beitrugen.116 Erwähnt sei schließlich noch, dass auch in der ökonometrischen Forschung seit einigen Jahren zunehmend mit historischen Daten gearbeitet wird. Obwohl es angesichts der Komplexität der dort verwendeten Methoden nicht einfach ist, die Bedeutung der Ergebnisse für die historische Forschung zu erschließen, ergeben sich doch vielfältige Berührungspunkte und interessante neue Fragen.117 Trotz dieser insgesamt breiten und intensiven Forschungstätigkeit sind auch gegenwärtig noch viele Fragen ungeklärt. Auf einige sei kurz hingewiesen. So wird z. B. die 1976 von Borchardt118 diskutierte Frage nach dem periodenspezifischen Wandel in der Erscheinungsform des Zyklus immer noch kontrovers diskutiert. Lange Zeit galt es als sicher, dass sich der Konjunkturzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders vor dem Hintergrund des starken Wirtschaftswachstums, verändert habe. Gegenwärtig tendiert die Forschung zu der Ansicht, dass die Konjunkturzyklen trotz des ökonomisch-strukturellen Wandels und der veränderten politischen Rahmenbedingungen eine bemerkenswerte Kontinuität aufweisen.119 Die Diskussion um die Bedeutung exogener Schocks wurde vor allem durch die Theorie Realer Konjunkturzyklen neu belebt und ist gegenwärtig hochaktuell.120 Neben monetären Faktoren wird hier der Technologie eine bedeutende Rolle zugesprochen. Damit verbunden ist, ganz im Sinne Schumpeters, die Frage nach der Bedeutung der Innovationen für Konjunktur und Wachstum. Mit den sogenannten „General Purpose Technologies“121 wurde die Diskussion um innovationsinduzierte langfristige Wachstumsschwankungen wieder aufgenommen. Neben Geld und Technologie spielt das Wetter als exogener Faktor für die Agrarkonjunktur des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle.122 Sollte sich bestätigen, was neuere Stu-

116 Rainer Metz: Trend, Lange Wellen, Strukturbrüche und Zufall: Was bestimmt die langfristige Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsprodukts, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode (VSWG, Beiheft 145). Stuttgart 1998, S. 117– 164; Ulrich Woitek: Business Cycles. An International Comparison of Stylized Facts in a Historical Perspective. Heidelberg 1997; Alexander Zschocke: Ein statistisches Verfahren zur Überprüfung historischer Zeitreihen. Angaben über die Produktion der Lüneburger Saline als Fallbeispiel, in: VSWG 71 (1984), S. 377–383. 117 Metz, Trend (wie Anm. 23). 118 Borchardt, Wandlungen (wie Anm. 108). 119 Bergmann/Bordo/Jonung, Historical Evidence (wie Anm. 46); Christina D. Romer: Changes in Business Cycles: Evidence and Explanations, in: Journal of Economic Perspectives 13 (1999), S. 23–44; Brian A’Hearn/Ulrich Woitek: More International Evidence on the Historical Properties of Business Cycles, in: Journal of Monetary Economics 47 (2001), S. 321–346. 120 Fuhrer/Schuh (Hg.), Beyond Shocks (wie Anm. 46). 121 Elhanan Helpman (Hg.): General Purpose Technologies and Economic Growth. Cambridge 1998; Joachim K. Rennstich: The New Economy, the Leadership Long Cycle and the Nineteenth K-Wave, in: Review of International Political Economy 9 (2002), S. 150–182. 122 Prominent Solomou, Economic Cycles (wie Anm. 68) mit weiterer Literatur sowie Solomos Solomou/Weike Wu: Weather Effects on European Agricultural Output, 1850–1913, in: European Review of Economic History 3 (1999), S. 351–373.

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dien behaupten, dass nämlich das Wetter im 19. Jahrhundert einen großen Anteil agrarischer Produktionsschwankungen erklärt, so wäre, trotz einer sich rasch entwickelnden Industriekonjunktur, der wetterbedingte Ernterhythmus und damit der „Zufall“ bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine wichtige Einflussgröße gesamtwirtschaftlicher Konjunkturschwankungen geblieben. Zusätzlich zu diesen inhaltlichen Themen wird das Problem, wie bei ökonomischen Zeitreihen die Konjunkturkomponente von den anderen Einflussfaktoren getrennt werden kann, nach wie vor intensiv diskutiert. In den vergangenen Jahren wurde dabei auf der Basis stochastischer Zeitreihenmodelle die Gültigkeit traditioneller Methoden radikal in Frage gestellt.123 Die damit verbundenen Probleme seien zum Abschluss an einem Thema illustriert, für das es bis heute nicht nur gänzlich unterschiedliche Sichtweisen gibt, sondern das auch seit langem als Desiderat der historischen Konjunkturforschung gilt. Es ist die Frage, wann und wie im 19. Jahrhundert der vorindustrielle Erntezyklus durch den kapitalistischen Konjunkturzyklus abgelöst wurde. Hierzu gibt es, wie erwähnt, unterschiedliche Auffassungen. Auf der einen Seite wird behauptet, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem die witterungsbedingten Unterschiede der landwirtschaftlichen Erträge die gesamtwirtschaftliche Lage bestimmt hätten. So vertritt Henning124 die These einer Dominanz des Agrarsektors bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Dies erscheint nicht unplausibel, wenn man bedenkt, dass der Wertschöpfungsanteil des sekundären Sektors erst Ende der 1880er Jahre dem des primären Sektors entsprach und beim Beschäftigtenanteil erst 1904 Gleichstand der beiden Sektoren zu verzeichnen war. Die These Hennings wird gestützt durch eine neue, methodisch anspruchsvolle Untersuchung von Berger und Spoerer,125 die eine deutlich gegenläufige Beziehung zwischen der Agrar- und Gewerbekonjunktur noch bis 1850 feststellen. Danach hätten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts steigende Agrarpreise regelmäßig in gewerblichen Produktionskrisen niedergeschlagen. Auch Borchardt betont, dass ab den 1840er Jahren bis zur Reichsgründung eine mehrere Jahrzehnte dauernde Überlappung von Agrar- und Industriekonjunktur stattgefunden habe – er spricht vom Dualismus der Übergangsgesellschaft.126 Konträr zu diesen Sichtweisen verhält sich die Feststellung Sprees, wonach die konjunkturelle Ausstrahlungskraft der Landwirtschaft auf andere Branchen bzw. auch auf die Gesamtwirtschaft selbst während der Frühindustrialisierung statistisch

123 Metz, Trend (wie Anm. 23). 124 Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Band 2: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Paderborn u. a. 1996, S. 682 ff. 125 Helge Berger/Mark Spoerer: Nicht Ideen, sondern Hunger? Wirtschaftliche Entwicklung in Vormärz und Revolution 1848 in Deutschland und Europa, in: Dieter Langewiesche (Hg.): Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen. Karlsruhe 1998, S. 140–184; dies.: Economic Crises and the European Revolutions of 1848, in: JEH 61 (2001), S. 293–326. 126 Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum (wie Anm. 49), S. 256 ff.

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kaum nachweisbar sei.127 Sprees Ergebnisse sind auf breiter empirischer Grundlage und mit Methoden abgeleitet worden, die zur damaligen Zeit den „State of the Art“ repräsentierten. Grundlegend für seine Ergebnisse sind neben den verwendeten Indikatoren sein theoretisches Konzept sowie sein methodisches Vorgehen. Wachstum bedeutet für ihn die langfristige Veränderung des Produktionspotenzials, während die Konjunktur in den kurzfristigen Auslastungsschwankungen eben dieses Produktionspotenzials zum Ausdruck kommt (Wachstumszyklen). Spree stellt das Wachstum als deterministische Trendkurve dar. Konjunktur ergibt sich als rechnerische Differenz zwischen Reihen- und Trendwert. Mit der Festlegung des Wachstumstrends liegt bei diesem Verfahren also auch die Konjunktur fest. Kritisch ist anzumerken, dass nach diesem Verfahren Konjunktur und Zufall zu einer Komponente zusammengefasst werden. Man muss aber davon ausgehen, dass die Reihenwerte stets auch irreguläre Einflüsse enthalten. Diese schränken nicht nur die Vergleichbarkeit der Ergebnisse ein, sondern vor allem auch ihre diagnostische Aussagekraft. Irreguläre Schwankungen können zutreffende Diagnosen nachhaltig behindern und sogar verhindern, falls sie bei der Diagnose nicht berücksichtigt werden. Ein deutlicher Hinweis auf solche Irregularitäten sind Sprees Ergebnisse bezüglich der Länge der Konjunkturzyklen in den einzelnen Reihen, die so starke Variationen aufweisen, dass die Angabe von Durchschnittswerten kaum möglich erscheint. Außerdem ergeben sich beim Vergleich der verschiedenen Indikatoren erhebliche Unterschiede in der Länge der identifizierten Zyklen.128 Spree selbst gibt zu bedenken, dass die Datierung der Konjunkturzyklen teilweise zu fiktiven Ergebnissen führt, dass aber eine Entzerrung unterschiedlicher, sich überlagernder Schwankungen in einer Zeitreihe nicht möglich sei.129 Erst in den letzten Jahren wurden Verfahren entwickelt, die Trend und Konjunktur den Eigenschaften der Reihe entsprechend modellieren und zudem störende, irreguläre Einflüsse erkennen und ausschalten. Alle diese Verfahren basieren auf sog. stochastischen Trendmodellen, die eine grundsätzlich plausiblere und brauchbarere Grundlage für die Konjunktur- und Wachstumsforschung darstellen als die traditionellen Modelle. Besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang strukturelle Zeitreihenmodelle, die auf Arbeiten des Statistikers Harvey130 zurückgehen. Mit diesen Modellen können auch mehrere sich überlagernde Zyklen identifiziert und ebenso können in das Modell auch die Wirkungen von externen Einflüssen auf den Prozess eingebaut werden.131 Diese Verfahren erlauben es, Konjunktur127 Spree, Wachstumstrends (wie Anm. 51) S. 125 ff. 128 So zeigt z. B. die Bevölkerungsreihe von 1820 bis 1913 fünf etwa 20-jährige Zyklen, während die Agrarproduktion 15 Zyklen zu je etwa fünf Jahren aufweist. 129 Spree, Wachstumstrends (wie Anm. 51), S. 99. 130 Andrew C. Harvey: Forecasting, Structural Time Series Models and the Kalman Filter. Cambridge 1998. Eine Diskussion dieser Modelle findet sich in Metz, Trend (wie Anm. 23), S. 273 ff. 131 Die Stärke aller genannten Einflüsse wird in dem Strukturmodell durch Zustandsparameter dargestellt, die jedoch nicht als konstant, sondern als zeitlich variabel unterstellt werden. Mit dem von R. E. Kalman entwickelten Verfahren ist es möglich, schrittweise die jeweils aktuellen Werte der Zustandsparameter und daraus Schätzwerte für die Wirkung der Einflussgrößen zu ermitteln.

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zyklen, Wachstumstrends und irreguläre Einflüsse in ihrem zeitlichen Verlauf darzustellen. Damit ist die Grundlage sowohl für Diagnose und Interpretation von Wachstum, Konjunktur und Zufall als auch für die Identifikation konjunktureller Zusammenhänge gegeben. Die erste wirtschaftsgeschichtliche Arbeit auf der Grundlage eines solchen Modells stammt von Crafts, Leybourne und Mills aus dem Jahr 1989.132 Seither wurden weitere derartige Studien durchgeführt.133 Sie alle zeigen, dass traditionelle Verfahren der Zeitreihenanalyse nicht nur zu Fehlspezifikationen von Trend und Zyklus führen, sie sind zudem auch nicht in der Lage, irreguläre Einflüsse zu erkennen und auszuschalten. So darf man gespannt sein, wie sich die Bedeutung der Agrarkonjunktur für die deutsche Wirtschaft im 19. Jahrhundert im Lichte dieser neueren Verfahren darstellen wird und welche Rolle dann letztlich die exogenen Schocks, seien sie nun witterungs- oder technologiebedingt, tatsächlich spielen. Unsere Ausführungen zur Bedeutung der Agrarkonjunktur im 19. Jahrhundert sollten vor allem auf die engen Bezüge hinweisen, die zwischen methodischem Vorgehen und substanzieller Interpretation in der historischen Konjunkturforschung bestehen, denn das häufig zitierte Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Empirie134 bedeutet für sie eine wissenschaftliche Herausforderung besonderer Art. Sie muss nämlich bei dem Versuch, den historischen Konjunkturprozess mit Hilfe ökonomischer Theorien und statistischer Modelle zu beschreiben und zu erklären, der Heterogenität der historischen Ereignisse, deren Gebundenheit an Raum und Zeit und nicht zuletzt den individuellen Akteuren genauso Rechnung tragen wie überindividuellen Prozessen und Strukturen. Es bleibt zu hoffen, dass sowohl das Fach Wirtschaftsgeschichte als auch die Zeitschrift, deren Jubiläum hier gefeiert wird, für die Konjunkturforschung auch in Zukunft jene Bedeutung haben werden, die ihnen von der Sache her zukommt. In der Vergangenheit haben sie, das haben unsere Ausführungen auch zu zeigen versucht, diese Bedeutung in vielfältiger Weise eindrucksvoll demonstriert.

132 Nicholas F. R. Crafts/S. J. Leybourne/Terence C. Mills: Trends and Cycles in British Industrial Production, 1700–1913, in: Journal of the Royal Statistical Society, Ser. A 152 (1989), S. 43– 60. 133 Vgl. Metz, Trend (wie Anm. 23) S. 356 ff. 134 Vgl. z. B. Günther Schulz: Die neuere deutsche Wirtschaftsgeschichte: Themen – Kontroversen – Erträge der Forschung, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft – Gesellschaft – Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 1. Teilband: Wirtschaft (VSWG, Beiheft 120a). Stuttgart 1995, S. 400–425, hier 425.

Jörn Sieglerschmidt BEVÖLKERUNGSGESCHICHTE Einleitung Die Bevölkerungsgeschichte in Deutschland ist, kurz nachdem sie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine nachholende Entwicklung begonnen hatte, als Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung wieder verschwunden, einzelne lokal- oder regionalhistorische Forschungen ausgenommen. Die VSWG spiegelt in den hundert Jahren ihrer Geschichte die Nachrangigkeit bevölkerungsgeschichtlicher Fragen symptomatisch wider. Wirtschaftsgeschichtliche Forschung ohne starke Berücksichtigung bevölkerungsgeschichtlicher Fragen erscheint im Lichte ökonomischer Theorietradition zwar kaum denkbar; gleichwohl sind in der VSWG in 100 Jahren nur 27 Artikel erschienen,1 die in einem sehr weit gefassten 1

Soweit nicht anders angegeben, bezieht sich im Folgenden die Angabe von Bandzahl und Erscheinungsjahr stets auf die VSWG: Henri Pirenne: Les dénombrements de la population d’Ypres au XVe siècle (1412–1506), in: 1 (1903), S. 1–32; Friedrich Noack: Die französische Einwanderung in Freiburg i. B. 1677–1698, in: 23 (1930), S. 324–341; Luise Sommer: Momberts Bevölkerungslehre, in: 24 (1931), S. 169–178; Fritz Stoy: Zur Bevölkerungs- und Sozialstatistik kursächsischer Kleinstädte im Zeitalter der Reformation, in: 28 (1935), S. 209–242; Rudolf Till: Zur Herkunft der Wiener Bevölkerung im 19. Jahrhundert, in: 34 (1941), S. 15–37; Wolfgang Köllmann: Industrialisierung, Binnenwanderung und ‚Soziale Frage‘ (Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Industriegroßstadt im 19. Jahrhundert), in: 46 (1959), S. 45–70; Roger Mols: Die Bevölkerungsgeschichte Belgiens im Lichte der heutigen Forschung, in: 46 (1959), S. 491–511; Wolfgang Köllmann: Die Bevölkerung Rheinland-Westfalens in der Hochindustrialisierungsperiode, in: 58 (1971), S. 359–388; W. Robert Lee: Probleme der Bevölkerungsgeschichte in England 1750–1850. Fragestellungen und vorläufige Ergebnisse, in: 60 (1973), S. 289–310; ders.: Zur Bevölkerungsgeschichte Bayerns 1750–1850: Britische Forschungsergebnisse, in: 62 (1975), S. 309–338; Markus Mattmüller: Das Einsetzen der Bevölkerungswelle in der Schweiz. Versuch eines Überblicks über den Stand der Forschung, in: 63 (1976), S. 390–405; Dieter Langewiesche: Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880– 1914, in: 64 (1977), S. 1–40; Werner Conze: Sozialgeschichte der Familie. Neue Literatur – Probleme der Forschung, in: 65 (1978), S. 357–369; Charles Verlinden: Ist mittelalterliche Sklaverei ein bedeutsamer demographischer Faktor gewesen?, in: 66 (1979), S. 153–173; Antje Kraus: ‚Antizipierter Ehesegen‘ im 19. Jahrhundert. Zur Beurteilung der Illegitimität unter sozialgeschichtlichen Aspekten, in: 66 (1979), S. 174–215; Reinhard Schiffers: Sozialgeschichtliche Forschung zum Industriezeitalter in Belgien. Historische Grundlagen und gegenwärtiger Stand, in: 67 (1980), S. 22–80, hier 58 f.; Claude Bruneel: Quelques traits démographiques des Augustins Allemands 1650–1950, in: 67 (1980), S. 356–369; Klaus Tenfelde: Großstadtjugend in Deutschland vor 1914. Eine historisch-demographische Annäherung, in: 69 (1982), S. 182– 218; Wolfgang Zorn: Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerische Bezirksärzte-Landesbeschreibung von 1860/1862, in: 69 (1982), S. 219–231; Werner Conze: Neue Literatur zur Sozialgeschichte der Familie, in: 71 (1984), S. 59–72; Arthur E. Imhof: Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Ein folgenschwerer Wandel im Verlaufe der Neuzeit, in: 71 (1984), S. 175–198; Jörg Vögele: Sanitäre Reformen und der Sterblichkeitsrückgang in deutschen Städten, 1877–1913, in: 80 (1993), S. 345–365; John Komlos/Marc

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Sinne der Bevölkerungsgeschichte zugerechnet werden können. Auch im Rezensionsteil ist die Bevölkerungsgeschichte nicht umfänglich berücksichtigt: Wichtige Veröffentlichungen wurden dort nicht wahrgenommen.2 Von den bislang mehr als 160 Beiheften der VSWG beschäftigt sich nicht ein einziges mit einem bevölkerungsgeschichtlichen Thema im engeren Sinne.3 Dieser Befund erstaunt und bedarf einer Erklärung, zumal der Bezug bevölkerungs- und wirtschaftgeschichtlicher Entwicklungsreihen sowohl makro- als auch mikroökonomisch sehr eng ist. Es ist zu vermuten, dass – – – – –

die spezifische Ausrichtung der deutschen Geschichtswissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, der deutsche Sonderweg zwischen 1933 und 1945, die Probleme, den Anschluss an die internationale Forschung und die von ihr verfolgten methodologischen Pfade zu finden, die mangelnde Integration der seit den siebziger Jahren aufblühenden Bevölkerungsgeschichte in die aktuelle demographische Forschung, schließlich die schnelle Wendung zur Kulturgeschichte in den achtziger Jahren, die dem kurzen Intermezzo bevölkerungsgeschichtlicher Konjunktur ein jähes Ende bereitete,

jeweils ihren Beitrag zum geschilderten Befund geleistet haben. Es sind also Fragen der fachlichen Ausrichtung der Herausgeber und der in den redaktionellen Beiträgen erkennbaren Präferenzen, der fachlichen Situierung der Bevölkerungsgeschichte im Rahmen nicht nur der Wirtschaftsgeschichte, sondern auch der allgemeinen Geschichte sowie Fragen methodologischer Art aufzunehmen und am Beispiel der Beiträge in der VSWG zu klären. Deren sicherlich wünschenswerte Bearbeitung auf der Basis archivalischer Quellen, vor allem der Nachlässe, ist nicht erfolgt. Das brächte erheblichen Erkenntnisgewinn zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft insgesamt, wie die gründliche Arbeit zu Georg von Below zeigt, dem wichtigsten Mitherausgeber der VSWG am Beginn

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3

Artzrouni: Ein Simulationsmodell der Industriellen Revolution, in: 81 (1994), S. 324–338; Uwe Schirmer: Die Bevölkerungsbewegung in Sachsen zwischen 1743 und 1815, in: 83 (1996), S. 25–58; Jörg Baten: Der Einfluß von regionalen Wirtschaftsstrukturen auf den biologischen Lebensstandard. Eine anthropometrische Studie zur bayerischen Wirtschaftsgeschichte im frühen 19. Jahrhundert, in: 83 (1996), S. 180–213; John Komlos: Ein Überblick über die Konzeptionen der Industriellen Revolution, in: 84 (1997), S. 461–511; Alfons Labisch/Reinhard Spree: Neuere Entwicklungen und aktuelle Trends in der Sozialgeschichte der Medizin in Deutschland – Rückschau und Ausblick, in: 84 (1997), S. 171–210, 309–321; Michel Hau: Übervölkerung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert: der elsässische Fall, in: 88 (2001), S. 199–209. Z. B. Jean-Pierre Bardet, Jean-Noël Biraben, Karlheinz Blaschke, Esther Boserup, Jacques Dupâquier, D. E. C. Eversley/David S. Glass, John Knodel; die zahlreichen deutschen, weniger bekannten Arbeiten zur Demographie sollen nicht einzeln aufgezählt werden: vgl. für die Frühe Neuzeit das Literaturverzeichnis bei Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 28). München 1994, S. 126– 140. Allenfalls Renate Vowinckel: Ursachen der Auswanderung, gezeigt an badischen Beispielen aus dem 18. und 19. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 37). Stuttgart 1939, könnte dazu gerechnet werden.

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des 20. Jahrhunderts.4 Below ist aber bisher der Einzige, der neben seinem ärgsten Widersacher Karl Lamprecht in einer solch gründlichen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung gewürdigt wurde. Für die spätere Zeit fehlen solche Arbeiten.5 Das ist bedauerlich, da sich in den unveröffentlichten Stellungnahmen die Entstehung der epistemischen Dinge, der Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die der täglichen Arbeit zugrunde liegen, sehr viel besser nachvollziehen ließe.6 Hier muss es bei der Analyse der gedruckten Beiträge bleiben. Zugleich ist mit der fehlenden archivalischen Grundlage auch eine Einschätzung der so wichtigen professionellen Netzwerke schwierig, da vieles nicht öffentlich geäußert wird. Eine wichtige vertiefende Darstellung kann in Hinsicht auf die hier in Rede stehende Bevölkerungsgeschichte also zum hundertsten Jubiläum der VSWG trotz des Wunsches von Wolfgang Zorn nicht vorgelegt werden.7 Im Folgenden wird versucht, am Beispiel der VSWG mögliche Bedingungen der geschilderten Entwicklungen aufzuzeigen. Um diesen Weg beschreiten zu können, muss erst geklärt werden, was unter Bevölkerungsgeschichte oder historischer Demographie verstanden werden soll. Danach ist an den wesentlichen Punkten der Beschäftigung mit der Bevölkerungsgeschichte die Ausrichtung der VSWG nachzuzeichnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass wissenschaftliche Zeitschriften nicht allein der Wahrheitsfindung dienen, sondern auch der Platzierung wissenschaftlicher Meinungen in der sozialen Welt einer institutionell organisierten Wissenschaft. Es geht zugleich um die Platzierung von Personen, den Ein- oder Ausschluss, Förderung oder Abbrechen wissenschaftlicher Karrieren. Es geht also neben dem intellektuellen Kapital auch um das symbolische Kapital wissenschaftlicher Anerkennung. Das gilt in besonderem Maße für eine Zeitschrift, die von Beginn an maßgeblichen Einfluss auf Wissenschaft und Wissenschaftspolitik entfalten konnte, deren erster Mitherausgeber nicht ohne Recht als Mandarin, als Angehöriger einer intellektuellen Machtelite bezeichnet werden kann, zumal er mit Fug als maßgebliche Integrationsfigur gilt, die die Reputation der VSWG begründen half.8 Wissenschaft findet nicht im Elfenbeinturm der Wahrheitssuchenden statt, sondern hat wesent4 5

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Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998. Hans-Erich Volkmann: Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 32–49, ist ein gelungener Anfang, da er archivalisches Material, u. a. aus dem Herder-Institut, heranzieht; Eduard Mühle: Hermann Aubin, der ‚deutsche Osten‘ und der Nationalsozialismus. Deutungen eines akademischen Wirkens im Dritten Reich, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Kulturwissenschaften im Nationalsozialismus. Göttingen [im Druck] war mir leider nicht zugänglich. Zum Begriff Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001, S. 24–30. In der VSWG 72 (1985), S. 495 in besonderer Hinsicht auf Georg von Below und Hermann Aubin. Cymorek, Georg von Below (wie Anm. 4), S. 71 f., 225–230; zum Begriff hinsichtlich der Wissenschaft auch Noam Chomsky: American power and the new Mandarins: historical and political essays. New York 1969 [dt.: Amerika und die neuen Mandarine: politische und zeitgeschichtliche Essays. Frankfurt a. M. 1969], der die Beteiligung sozialwissenschaftlicher Forschung an Urbanisierungsprogrammen während des Vietnamkrieges beschreibt.

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lich mit Machtdurchsetzung und ökonomischem Erfolg zu tun, wie die neuere wissenschafts- und technikhistorische Forschung gezeigt hat.9 Vor allem hat der historische Durchgang wesentliche Desiderate der aktuellen Forschung aufzuzeigen. Die gesamten hundert Jahre einzubeziehen, ist nicht möglich. Daher wird hier lediglich die Zeit nach 1945 behandelt.10 1. Bevölkerungsgeschichtliche Artikel und Rezensionen Bevölkerungsgeschichte kann in einem sehr weiten Sinne alle Arbeiten umfassen, die über historische Zustände von Bevölkerungszahl, Bevölkerungsbewegung und Bevölkerungsaufbau räumlich und zeitlich spezifiziert Auskunft geben. Wird unter Bevölkerungsaufbau – und das wäre üblich – die Sozialstruktur einer Bevölkerung verstanden,11 so wäre der Anteil bevölkerungsgeschichtlicher Texte in der VSWG sehr viel höher zu veranschlagen. Die Arbeiten zur Vermögens-, zur beruflichen Struktur von Städten und Territorien müssten dazugezählt werden, da auch solche Quellen im Allgemeinen Auskunft über bevölkerungsgeschichtlich relevante Tatbestände geben, zumal in vorstatistischer Zeit, deren Ende hier konventionellerweise um 1800 angesetzt wird, ohne im Einzelnen auf die aus der Verwissenschaftlichung der Politik stammende Etymologie bis zum Beginn einer institutionell abgesicherten Statistik näher einzugehen.12 Nicht gefolgt wird der Unterscheidung von Bevölkerungsgeschichte als makrodemographisch und historischer Demographie als mikrodemographisch orientierter Forschung, da erster und zweiter Begriff in der Bedeutung deckungsgleich sind.13 Gleichwohl soll die Unterscheidung von makrodemographischer – großräumig ausgerichteter – und mikrodemographisch – kleinräumig ausgerichteter – Forschung beibehalten werden.14 Unter Bevölkerungsgeschichte im hier gemeinten, engeren Sinne sollen alle Arbeiten verstanden werden, die in erster Linie quantitative Daten zur Bevölkerungszahl bzw. zum Bevölkerungszustand (status animarum), zur Bevölkerungsbewegung (Geburtlichkeit bzw. Fruchtbarkeit, Ehehäufigkeit, Sterblichkeit, Wanderung) und zum biologischen 9

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Bruno Latour: The pasteurization of France. Cambridge 1988; ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2002; Thomas Parkes Hughes: The evolution of large technological systems, in: Ders./Wiebe Bijker/Trevor Pinch (Hg.): The social construction of technological systems. Cambridge 1989, S. 51–82. Unter http://www.phil.uni-mannheim.de/geschichte/neuzeit/personal/download/bevoelkerung.pdf ist der vollständige Text nachzulesen, der auch auf die Zeit von 1903–1950 eingeht. Ingeborg Esenwein-Rothe: Einführung in die Demographie. Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsprozess aus der Sicht der Statistik (Statistische Studien 10). Wiesbaden 1982, S. 87– 142. Viktor John: Geschichte der Statistik. Ein quellenmäßiges Handbuch für den akademischen Gebrauch wie für den Selbstunterricht, Erster Teil: Von dem Ursprung der Statistik bis auf Quetelet (1835). Stuttgart 1884, bes. S. 3–15. Wolfgang Köllmann: Bevölkerungsgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Band II: Handlungsräume des Menschen in der Geschichte. Göttingen 1986, S. 9– 31, hier 19. Arthur E. Imhof: Einführung in die historische Demographie. München 1977, S. 9 f.

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Aufbau (Alter, Geschlecht, Körpergröße, Krankheit) der Bevölkerung erheben und interpretieren. Dass dabei selbstverständlich Fragen der sozialen Gliederung, der wirtschaftlichen Tragfähigkeit etc. eine wichtige Rolle spielen, soll eigens betont werden. 2. Bevölkerungsgeschichte als wichtiger Bestandteil einer strukturgeschichtlich orientierten Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wolfgang Köllmann stellte 1972 fest, dass die guten Ansätze demographischer Forschung in Deutschland, die er mit den Namen Franz Oppenheimer, Paul Mombert, Josef Kulischer, Rudolf Heberle und selbst Friedrich Burgdörfer verknüpfte, durch die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus verdrängt und verfälscht worden seien. Daher habe die Demographie in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 eine Randstellung eingenommen.15 Für die historische Demographie in Deutschland gilt das gleichermaßen, zumal auch die VSWG einen Zustand spiegelt, der zeigt, dass die alten Zeiten keineswegs ganz vergangen sind. Keyser, der am Herder-Institut in Marburg und als Direktor der Niedersächsischen Akademie für Raumforschung und Landesplanung, an der auch Günther Franz zeitweise versorgt wurde, seine berufliche Karriere fortsetzte16 – allerdings nicht mehr als Hochschullehrer –, publizierte bis 1967 Rezensionen, in denen er zumindest anfangs teilweise die alten ideologischen Bezüge deutlich werden ließ. Die späte, im Übrigen außerordentlich positive Besprechung der wichtigen Arbeit von Wilhelm Bickel zur Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, insbesondere zu den Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs, entschuldigte Keyser mit den „wirren kulturellen Verhältnisse[n] in den ersten Jahren nach dem letzten Kriege“.17 Am Bevölkerungs-Ploetz bemängelte er, darin sei „darauf verzichtet worden, die körperliche und geistige Artung und auch die stammliche, ständische und familiäre Gliederung der Völker zu behandeln“. Zwar sah er, dass die Verknüpfung von Raum und Bevölkerung entscheidende Vorteile bringt, lobte aber insbesondere die Darstellung zu Vorgeschichte und Mittelalter, während die neuartige Darstellung von Wolfgang Köllmann zum Industriezeitalter kein entsprechendes Lob fand. Schließlich rief Erich Keyser noch 1964 die Geschichtswissenschaft auf, den Ruf der Anthropologie nicht zu überhören.18 Sicher: auch hier ist richtig, dass die evolutionstheoretische Forschung von der De15 Wolfgang Köllmann: Einleitung. Entwicklung und Stand demographischer Forschung, in: Ders./ Peter Marschalck (Hg.): Bevölkerungsgeschichte (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 54). Köln 1972, S. 9–17, hier 11. 16 Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1993 [Erstveröffentlichung München 1989 als Beiheft 10 der HZ], S. 322. 17 Rezension zu Wilhelm Bickel: Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik der Schweiz seit dem Ausgang des Mittelalters. Zürich 1947, in: VSWG 44 (1957), S. 155–157. 18 Besprechung zu Ilse Schwidetzky (Hg.): Die neue Rassenkunde. Stuttgart 1962, in: VSWG 51 (1964), S. 370–373. Schon früher war von Herbert Schlenger in: VSWG 42 (1955), S. 152 f., die Arbeit von Ilse Schwidetzky: Das Problem des Völkertodes. Eine Studie zur historischen Bevölkerungsbiologie. Stuttgart 1954, zu Problemen der Rassenmischung und des Rassenwandels besprochen worden.

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mographie wahrgenommen werden sollte, dass ein biologisch-anthropologischer Populationsbegriff von einem historischen abzugrenzen sei und dass Blutgruppenforschung oder Körperwachstum lohnende Forschungsgegenstände der Bevölkerungsgeschichte sein können. Doch solange der enge Bezug zum erbbiologischen Gedankengut des Nationalsozialismus bleibt, kann daraus kein Erkenntnisgewinn erwachsen.19 Es bleibt anzumerken, dass die Spuren der alten fachlichen Netzwerke erkennbar sind, wenn auch schwach. Aubin, der an maßgeblicher Stelle zusammen mit Keyser und anderen Historikern wie Conze, Schieder und Brunner den deutschen Volkstumskampf im Osten ausgefochten hat, konnte sich den damit verbundenen Verpflichtungen nicht ganz entziehen.20 Einen Nachruf erhielt Keyser 1969 nicht. Dass die fachlich einflussreiche und für die spätere deutsche Forschung zur historischen Demographie bedeutsame Arbeit von Gerhard Mackenroth nicht rezensiert wurde, mag mit der Vorbelastung seiner Person zusammenhängen, bleibt aber angesichts der ansonsten wahrgenommenen Literatur nicht verständlich. Vermutlich wurde die Arbeit von Mackenroth als bevölkerungswissenschaftliche und als nicht einschlägig für die VSWG angesehen, wie das in vergleichbaren Fällen – Ingeborg Esenwein-Rothe – auch später geschah.21 Denn seit der Wiederaufnahme der Publikationsreihe erhielt die VSWG wieder ihr früheres Gesicht aus der Zeit vor 1933: breite fachliche Streuung zumindest im Rezensionsteil, Berücksichtigung vieler geistes- und sozialwissenschaftlicher Nachbardisziplinen, Beobachtung der fremdsprachigen Literatur, die zwischen 1933 und 1945 in den bevölkerungsgeschichtlichen Teilen kaum noch wahrgenommen worden war. In der Bevölkerungsgeschichte war mit diesem Wechsel die breite Berücksichtigung der Industrialisierung und damit bevölkerungshistorischer Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden. Es blieb aber, wie Aubin anlässlich des fünfzigsten Bandes feststellte, beim wirtschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt.22 Der 1968 vollzogene Wechsel der Herausgeberschaft zu Otto Brunner, Hermann Kellenbenz und Wolfgang Zorn war daher kein deutlich sichtbarer Epochenabschnitt, obwohl er das Ende der über vierzigjährigen, zumeist alleinigen Herausgeberschaft Hermann Aubins darstellte. 19 Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Arbeiten, z. B. der Geschichte des Bauernkrieges von Günther Franz, wird die Bevölkerungsgeschichte von Erich Keyser nach 1945 auch nicht wieder aufgelegt, weil neben der durchaus auch vorhandenen Übersicht über viele Aspekte der deutschen Bevölkerungsgeschichte die zeitbedingten Fragestellungen und das zeitbedingte Vokabular zu bestimmend sind. 20 Zu diesen politischen Aktivitäten siehe Karen Schönwalder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (Historische Studien 9). Frankfurt a. M. 1992; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der ‚Volkstumskampf‘ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000. Dass die Verführbarkeit der Wissenschaft auch im Zeichen des Antikommunismus möglich bleibt, versucht Chomsky, Amerika (wie Anm. 8) zu zeigen. 21 So werden die Arbeiten des fertility survey, z. B. die von John Knodel: The decline of fertility in Germany: 1871–1939 (Series on the decline of European fertility 2). Princeton 1974, nicht einmal rezensiert. 22 Hermann Aubin: Zum 50. Band der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 1–24, hier 18.

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Zunächst stand die Rezeption der internationalen Literatur im Vordergrund. Auf die Arbeit von Wilhelm Bickel zur schweizerischen Bevölkerungsgeschichte wurde schon hingewiesen. Ebenfalls dem Zweck, einen Überblick über den Stand der Forschung zu geben, diente die 1949 erstmals veröffentlichte Studie von Marcel R. Reinhard zur Geschichte der Weltbevölkerung, die zusammen mit André Armengaud, Jacques Dupâquier und später anstelle von Marcel Reinhard von JeanNoël Biraben herausgegeben wurde.23 Einen Überblick über die Bevölkerungsgeschichte europäischer Städte gab Roger Mols, wobei Philippe Dollinger anmerkte, dass Mols wohl eher eine Bevölkerungslehre als eine Arbeit zur Demographie der Städte schreiben wollte, die Städte also nur Material für etwas anderes seien.24 Obwohl Dollinger Defizite in der Behandlung wichtiger, der Bevölkerungsgeschichte vorgelagerter Gebiete wie Medizin, Gesundheit, Rasse, Familie, Sitten, Religion, Wirtschaft sieht, hielt er diese hervorragende Zusammenfassung des Wissensstandes für ein unentbehrliches Hilfsmittel der Forschung. Zusammenfassende Überblicke dieser Art blieben, was die deutsche Bevölkerungsgeschichte angeht, selten,25 während in der Schweiz, Frankreich und England Arbeiten vergleichbarer Art vorgelegt wurden.26 2.1 Grundprobleme der historischen Demographie Die auf der Auswertung von Kirchenbüchern basierenden Studien wurden begrüßt, da sie durch ihre quellenmäßig fest fundierten Ergebnisse neues Material für die Bevölkerungs- und Sozialgeschichte bereitstellten, wie Ulrich Hinz feststellte.27 Hermann Kellenbenz verwies in einem Bericht über den Scandinavian Economic History Review auf die Forschungen von Gustav Utterström, der 1953/54 für Skandinavien und Island auf die klimatische Grundlage – z. B. die sog. kleine Eiszeit – 23 Histoire de la population mondiale de 1700 à 1948. Paris 1949. Erich Keyser rezensiert in VSWG 40 (1953), S. 262 das Buch durchgängig positiv, kritisiert jedoch die mangelnde Berücksichtigung der deutschen Verhältnisse und der deutschen Forschung, wobei er unbelehrbar bemerkt: „Sehr eingehend werden die Maßnahmen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik dargestellt. Sie werden vielfach günstig beurteilt.“ 24 Rezension von Philippe Dollinger in: VSWG 45 (1958), S. 405–408, zu Roger Mols: Introduction à la démographie historique des villes d’Europe du XIVe au XVIIIe siècle. 3 vol. Louvain 1954–1956. Roger Mols wird für den darauf folgenden Band der VSWG zu einem Beitrag aufgefordert, ein häufig feststellbarer Usus der VSWG-Redaktion: wie Anm. 1. 25 Rolf Gehrmann zu Pfister, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 2), in: VSWG 82 (1995), S. 81 f.; vgl. die mit den Namen Markus Mattmüller (Schweiz), Edward Anthony Wrigley (England) und Jacques Dupâquier (Frankreich) verbundenen Bemühungen. 26 Edward A. Wrigley/Roger S. Schofield/Ronald Demos Lee: The population history of England 1541–1871: a reconstruction (Studies in social and demographic history 2). London 1981; Jacques Dupâquier/Jean-Pierre Bardet: Histoire de la population Française. 4 Bände. Paris 1988; Markus Mattmüller: Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, Teil 1: Die frühe Neuzeit 1500– 1700 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 154). 2 Bände. Basel 1987. 27 Rezension zu Etienne Hélin: La population de l’ancienne paroisse Sainte-Catherine à Liège de 1650 à 1791 (Travaux du Séminaire de Sociologie de la Faculté de Droit de Liège 2). Liège 1951, in: VSWG 40 (1953), S. 185.

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wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und neben Missernten auf Ernährungsgewohnheiten, Wohnumgebung, Epidemien, Kinderpflege, Hygiene wie Medizin als beachtenswerte Aspekte bei der Betrachtung von Sterblichkeit hinwies.28 Im Zusammenhang mit einem Bericht über den ersten internationalen Kongress für Wirtschaftsgeschichte 1960 in Stockholm vermerkte Herbert Hassinger die Forderung von D. E. C. Eversley nach bevölkerungsgeschichtlichen Arbeiten zur Industriellen Revolution, insbesondere durch Auswertung von Kirchenregistern.29 Es war Keyser, der am Beispiel der bahnbrechenden Arbeit von Pierre Goubert darauf hinwies, dass die „französische Geschichtswissenschaft […] sich in den letzten Jahrzehnten in einem so großen Umfange, wie es in Deutschland kaum vorstellbar ist, der Erforschung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte zugewendet“ habe. „Wenn auch seine Meinung über die fast gesetzmäßige Periodisierung und Wechselwirkung der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung noch überprüft werden sollte, kommt ihm das sehr große Verdienst zu, in das vielfältig verschlungene Gewebe des wirtschaftlichen und sozialen Lebens genauer, als es meist geschieht und geschehen kann, hineingeleuchtet zu haben. Das umfangreiche Werk dürfte auch für die deutsche Forschung von höchstem Nutzen sein.“30 Allerdings war Keyser die französische Forschung keineswegs so geläufig, dass die Arbeiten von Jean Meuvret bekannt gewesen wären,31 dessen Thesen u. a. Grundlage der Arbeit von Pierre Goubert waren. Keyser entging zudem der Ansatz einer histoire totale, wie er von Fernand Braudel und Emmanuel LeRoy Ladurie formuliert wurde und selbstverständlich Bevölkerungsgeschichte als integralen Bestandteil umfasste. Kurze Zeit später machte Ernst Pitz auf die Verbindung von landschaftlicher Monographie und Beantwortung zentraler Fragen der europäischen Wirtschaftsgeschichte aufmerksam, auf die Berücksichtigung – neben Preisen und Löhnen – auch der Rechtsordnung oder der Geisteskultur, die auf eine ‚historische Psychologie‘ hinausgehe, wie sie Robert Mandrou vertrete.32 Karl Josef Seidel hob den methodischen Vorsprung der französischen Forschung in der Sozialgeschichte hervor, indem er auf den Einsatz quantifizierender Methoden und der EDV einging, deren zu ausführliche Dar28 In: VSWG 47 (1960), S. 270 f. zu The Scandinavian Economic History Review (SEHR) 1953/ 54 und in: VSWG 47 (1960), S. 276 zu SEHR 1955/57, wo die Arbeiten von E. Jutikkala zur Bevölkerungszahl Finnlands in vormoderner Zeit und zur großen Hungersnot von 1696/97 erwähnt werden. Nochmals berichtet Hermann Kellenbenz in: VSWG 53 (1966), S. 257–288, hier 260 f., über bevölkerungsgeschichtliche Arbeiten von Gustaf Utterström, Aksel Lassen und Arvo M. Soininen. 29 In: VSWG 47 (1960), S. 511, 515–520. Das Ergebnis ist: David S. Glass/David Edward Charles Eversley (Hg.): Population in history. Essays in historical demography. London 1965. 30 VSWG 49 (1962), S. 259 f., Rezension zu Pierre Goubert: Beauvais et le Beauvaisis de 1600 à 1730. Contribution à l’histoire sociale de la France du XVIIe siècle. 2 vol. Paris 1960; vgl. auch den Hinweis von François-G. Dreyfus zu Pierre Goubert: Familles marchandes sous l’Ancien Régime: Les Danse et les Motte de Beauvais. Paris 1959, in: VSWG 48 (1961), S. 396 f., wo die Fruchtbarkeit der genealogischen Methode für die Erarbeitung historischer Zusammenhänge hervorgehoben wird. 31 Jean Meuvret: Les crises de subsistances et la démographie de la France d’ancien régime, in: Population 1 (1946), S. 643–650. 32 Besprechung von Emmanuel LeRoy Ladurie: Les paysans de Languedoc. Paris 1966, in: VSWG 54 (1967), S. 369.

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stellung er allerdings bemängelte.33 Auch Heinrich Rubner verwies trotz aller Bewunderung für die Bemühungen der französischen (Goubert und Braudel) und Schweizer Forschung auf die Tatsache, dass Louis Henry in seiner Studie zu Crulai auch ohne EDV zu bedeutenden Ergebnissen gekommen sei.34 Unerwähnt blieb, dass die französische Forschung zur Bevölkerungsgeschichte in mehrfacher Weise institutionell gesichert war. Wichtige Anregungen gingen (und gehen) vom Institut National d’Économie et de Démographie (INED) sowie von der Sixième Séction der École Pratique des Hautes Études aus. Zudem stehen der französischen Forschung bis heute die Zeitschriften Annales E.S.C., Population und die Annales de Démographie Historique zur Verfügung. Während die Studie von Wrigley zur Industrialisierung nur angezeigt wurde,35 kam die Besprechung des bahnbrechenden englischen Sammelbandes zur Einführung in die historische Demographie zum Ergebnis, dass in England die bevölkerungsgeschichtliche Forschung auf die Familiengeschichte und ihre wichtigsten Quellen, die Kirchenbücher, beschränkt werde.36 Das Vorbild von Henry war präsent, auch wenn die zugleich erwähnte Cambridge Group for the History of Population and Social Structure nicht nur diesen Weg ging, sondern angeregt durch Peter Laslett mit Arbeiten zur Struktur vorindustrieller Haushalte neue Methoden und Fragestellungen in die historische Demographie einführte.37 Neben den Arbeiten von Michael W. Flinn und Thomas H. Hollingsworth wurde die Auseinandersetzung mit den neueren englischen Beiträgen zur Bevölkerungsgeschichte mit der Besprechung des als Grundlagenwerk bezeichneten Bandes zur englischen Bevölkerungsgeschichte abgeschlossen.38 In diesen Arbeiten wurde deutlich gemacht, dass geringere regionale Unterschiede als im übrigen Europa auftraten, dass außerdem in einem System niedriger Sterblichkeitsund Fruchtbarkeitsraten das Heiratsverhalten zur entscheidenden Triebfeder des demographischen Wandels wurde. Bemerkenswert ist der im Vergleich zu anderen eu33 Besprechung von Marcel Couturier: Recherches sur les structures sociales de Châteaudun 1525– 1789 (École pratique des hautes études, 6e section, Centre des recherches historiques, Démographies et sociétés 10). Paris 1969, in: VSWG 59 (1972), S. 274–276. 34 Anzeige des dritten Bandes der Annales de démographie historique, in: VSWG 57 (1970), S. 429–431; Rolf Gehrmann bespricht die Bibliographie internationale de la démographie historique 1986. Liège 1986, in: VSWG 76 (1989), S. 102–104. 35 Edward Anthony Wrigley: Industrial Growth and Population Change. Cambridge 1961. 36 Besprechung Erich Keysers über Edward Anthony Wrigley (Hg.): An introduction to English historical demography. From the sixteenth to the nineteenth century. London 1966, in: VSWG 54 (1967), S. 362 f. 37 Peter Laslett/Richard Wall (Hg.): Household and family in past time. Cambridge 1972, ein Buch, das dem Rezensionsteil der VSWG entgeht. Peter Laslett: The world we have lost. London 1965, wird – etwas verspätet – von Hans Jürgen Teuteberg wegen der Behandlung strukturund alltagsgeschichtlicher Probleme mit Arbeiten von Otto Brunner, Philippe Ariès und Fernand Braudel verglichen, in: VSWG 60 (1973), S. 213. 38 Antje Kraus zu Michael W. Flinn: British population growth 1700–1850. London 1970, in: VSWG 59 (1972), S. 270 f.; Kristin De Blonde-Cottenier über Thomas Henry Hollingsworth: Historical demography. London 1969, in: VSWG 60 (1973), S. 411 f.; Andrea Wagner über E. A. Wrigley/R. S. Davies/J. E. Oeppen/R. S. Schofield: English population history from family reconstitution 1580–1837 (Cambridge Studies in Population, Economy, and Society in Past Time 32). Cambridge 1997, in: VSWG 88 (2001), S. 493 f.

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ropäischen Ländern frühe Beginn und das um das Mehrfache höhere Bevölkerungswachstum seit 1730, das auf das Sinken des Heiratsalters und die Verkürzung der intergenetischen Intervalle, also Fertilitätsfaktoren zurückgeführt wurde. Die englischen Arbeiten sind institutionell weiterhin abgesichert durch die Cambridge Group und einer auch für Arbeiten zur Bevölkerungsgeschichte offenen Zeitschrift: Population Studies.39 Das ermöglicht eine kontinuierliche Weiterarbeit an dem Quellenmaterial, das auf diese Weise auch langfristig gesichert ist und neuen Fragestellungen offen steht. Bemerkenswert an der englischen Vorgehensweise ist im Übrigen die koordinierte Anstrengung bei der Sammlung und Auswertung des umfangreichen Materials, eine auch in Frankreich nicht in vergleichbarer Weise verfolgte langfristige – und vermutlich nachhaltige – Strategie. Die Schweizer Arbeiten sind, wie Arthur E. Imhof feststellt, sehr eng an den Methoden der Annales-Schule und der Sixième Section orientiert.40 Daran erinnerte auch Albert Tanner, als er auf die außergewöhnlichen Bedingungen im Schweizer Hirtenland mit hoher Kinder- und Säuglingssterblichkeit und einer an hoher Verschuldung sowie Ab- und Saisonwanderung erkennbaren Armut hinwies. Er kritisierte die enge Beschränkung auf die demographische Analyse, die einen Vergleich mit anderen Regionen kaum möglich mache.41 Seine eigene Arbeit dagegen behandelte mit Appenzell-Außerrhoden ein protoindustrielles Gebiet, das im 19. Jahrhundert eine ganz andere, bereits im 18. Jahrhundert vorgezeichnete Entwicklung durchlief.42 Allerdings nahmen die Arbeiten von Tanner und Ruesch nicht die beginnende Debatte um die Protoindustrialisierung auf. Zudem wurde Ruesch zwar zugutegehalten, dass durch die Einbeziehung der Ergebnisse der vergleichenden Sozialgeschichte, der Industrialisierungs- und Alltagsgeschichte der Horizont nicht auf das Appenzell beschränkt blieb, dennoch bei solcherart regional beschränkten Studien die Gefahr der Isolierung der Ergebnisse bestehe. Zusammen mit den übrigen Arbeiten zur Landschaft Basel und zu Luzern wurde dieser Gefahr durch die bisher leider nicht über 1700 hinausgehende Zusammenschau von Markus Mattmüller begegnet.43 Martin Körner referiert, 39 . Die Beiträge zu Population Studies schließen selbstverständlich solche zu den international ausgerichteten Zeitschriften wie Annales E.S.C. und Annales de Démographie Historique nicht aus. Wichtige Arbeiten erscheinen außerdem im JEH. 40 Besprechung von Silvio Bucher: Bevölkerung und Wirtschaft des Amtes Entlebuch im 18. Jahrhundert: eine Regionalstudie als Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im Ancien Régime (Luzerner Historische Veröffentlichungen 1). Luzern 1974, in: VSWG 62 (1975), S. 263. 41 Besprechung von Markus Schürmann: Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft in Appenzell Innerrhoden im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Appenzell 1974, in: VSWG 65 (1978), S. 249 f. 42 Vgl. Besprechung Elisabeth Harder-Gersdorff über Albert Tanner: Spulen – Weben – Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell-Außerrhoden. Zürich 1983, in: VSWG 72 (1985), S. 110 f.; zum 18. Jahrhundert vgl. die Rezension von Peter Steinbach zu Hanspeter Ruesch: Lebensverhältnisse in einem frühen schweizerischen Industriegebiet. Sozialgeschichtliche Studie über die Gemeinden Trogen, Rehetobel, Wald, Gais, Speicher und Wolfhalden des Kantons AppenzellAußerrhoden im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 139). Basel/Stuttgart 1979, in: VSWG 68 (1981), S. 585 f. 43 Josef Rosen zu Franz Gschwind: Bevölkerungsgeschichte und Wirtschaftsstruktur der Landschaft Basel im 18. Jahrhundert. Ein historisch-demographischer Beitrag zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der langfristigen Bevölkerungsentwicklung

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dass in der Schweiz die Pest bis zu ihrem Verschwinden 1670 ein stärkerer Wachstumsregulator gewesen sei als der Hunger, dass Solddienste sowie Auswanderung einen Ausgleich in Notzeiten schufen und dass das Grundmodell nach Malthus gültig sei: hohe Geburtenziffern, mangelnde Geburtenbeschränkung, wobei eine erste demographische Transition um die Mitte des 17. Jahrhunderts im Rahmen einer nach wie vor herrschenden Demographie der knappen Ressourcen festzustellen sei. Auf die österreichische Forschung, die sich mehr auf die familien- und haushaltsgeschichtlichen Aspekte konzentriert,44 sowie auf weitere Beispiele internationaler Forschung soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden.45 Noch bevor im Anschluss an die französische Forschung die Bevölkerungsgeschichte in Deutschland jenseits der erbbiologischen Ausrichtung eine neue Grundlegung erfuhr, wurde die Bevölkerungsgeschichte der beginnenden Industrialisierung bis in die Zeit der Hochindustrialisierung zum Thema der VSWG. Erstmals wurde mit zwei Artikeln von Wolfgang Köllmann auf Bevölkerungsprobleme der beginnenden und der Hochindustrialisierungsphase eingegangen. In der ersten Arbeit lag der Schwerpunkt auf Fragen nach der Entstehung der Arbeiterschaft, nach unterschiedlichen Zuwanderungsprofilen von Städten und nach damit verbundenen Problemen des Pauperismus, Fragen, die die enge Verbindung zur Forschung Conzes, seines Lehrers, zeigten. Die zweite Arbeit verdeutlichte an weiteren Beispielen die Probleme einer sehr stark durch Migrationsvorgänge, hier selbstverständlich durch Zuwanderung, geprägten städtischen Bevölkerung.46 Diese Arbeiten waren weder in methodischer Hinsicht noch theoretisch innovativ, zeigten vielmehr, dass bevölkerungsgeschichtliche Forschungen dieser Art noch ganz am Anfang standen. Theoretisch kamen die Arbeiten über das bei Mackenroth und Ipsen bereits Bekannte nicht wesentlich hinaus. Noch 1972 sprach Köllmann übrigens in bewusster Anknüpfung an seinen Lehrer Ipsen, der nach 1945 in der Sozialforschungsstelle in Dortmund gearbeitet hatte, von Volkskörper, ohne allerdings die bei Ipsen damit verbundenen rassebiologischen Gedankengänge weitertragen zu wollen, die von Stadt (seit 1100) und Landschaft (seit 1500). Liestal 1977, in: VSWG 67 (1980), S. 413 f.; Busso von der Dollen über Hans-Rudolf Burri: Die Bevölkerung Luzerns im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Demographie und Schichtung einer Schweizer Stadt im Ancien Régime (Luzerner Historische Veröffentlichungen 3). Luzern 1975, in: VSWG 67 (1980), S. 252; Martin Körner über Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 26), in: VSWG 75 (1988), S. 571 f. 44 Verwiesen sei hier lediglich auf die Arbeiten von Heimold Helczmanovszki (Hg.): Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. Nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik. Wien 1973 und München 1973, rezensiert von Gustav Otruba in: VSWG 62 (1975), S. 367 f., und Herbert Matis in: VSWG 64 (1977), S. 557–559; Peter Becker: Leben und Lieben in einem kalten Land. Sexualität im Spannungsfeld von Ökonomie und Demographie. Das Beispiel St. Lambrecht 1600–1850 (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 15). Frankfurt a. M./New York 1990. 45 Charles Verlinden über Claude Bruneel: La mortalité dans les campagnes: Le duché de Brabant aux XVIIe et XVIIIe siècles (Université Louvain, Recueil de Travaux d’Histoire et de Philologie, 6e série, fascicule 10). Loewen 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 285; Frank Daelemans über Myron P. Gutman: War and rural life in the early modern Low Countries (Maaslandse Monografieën 31). Assen 1980, in: VSWG 68 (1981), S. 565 f. 46 Köllmann, Industrialisierung (wie Anm.1); ders., Bevölkerung (wie Anm.1).

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z. B. bei Mackenroth noch nachzuvollziehen sind.47 Besonders Marschalck wie auch Mackensen machen deutlich, dass die politischen Implikationen mancher bevölkerungstheoretischer Äußerung damals zwar empfunden, aber nicht thematisiert wurden.48 In einem weiteren Beitrag machte Robert Lee auf den Widerspruch einer – im internationalen Vergleich – hervorragenden Quellenlage in Deutschland und dem mageren Beitrag deutscher Forschung zur Bevölkerungsgeschichte aufmerksam – er nennt die Arbeiten von Köllmann und Karlheinz Blaschke.49 Das stehe in Widerspruch zu den wichtigen Beiträgen, die deutsche Forschung zuvor zu bevölkerungsgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Fragen geliefert habe. Die Ausgangsfrage bleibe die nach dem demographischen Übergang und der Frage, ob steigende Fruchtbarkeit – so die gängige Meinung – oder sinkende Sterblichkeit – so A. J. Coale/E. M. Hoover –50 ausschlaggebend gewesen seien. Bayern, wie sich im Fortgang der Untersuchung zeigte, sei kein geeignetes Beispiel für eine der beiden Theorien, da die wirtschaftlichen Probleme des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sowohl die Geburtenrate sinken als auch die Sterblichkeit steigen ließen. Einzelne Probleme dieser Sonderentwicklung bedürften daher der genaueren Untersuchung. Der Beitrag endet mit dem Aufruf an die Wirtschaftshistoriker, die hervorragenden bevölkerungsgeschichtlichen Quellen stärker zu nutzen. Diesem Aufruf sind in Deutschland nicht viele gefolgt. Die neuere deutsche Forschung wurde von Peter Burg zunächst nicht gut aufgenommen.51 Er bemängelte, dass das Vorgehen zu wenig theoriegeleitet erscheine, d. h. erst das Material aufbereitet und dann Fragen gestellt worden seien. Daher stünden die weiterführenden preis- und klimageschichtlichen Beiträge unverbunden neben den Ergebnissen zur Bevölkerungsgeschichte. Trotz weiterer Einwände im Detail sah Peter Burg die Bedeutung des Beitrags von Arthur E. Imhof und die Notwendigkeit, im internationalen Vergleich die demographische Forschung in Deutschland voranzutreiben. 47 Wolfgang Köllmann: Zur Bevölkerungsentwicklung ausgewählter deutscher Großstädte in der Hochindustrialisierungsperiode, in: Ders./Marschalck (Hg.), Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 15), S. 258–274; in demselben Band, S. 84–93, wird im Übrigen die maßgebliche, aus dem Jahre 1933 stammende Arbeit von Gunther Ipsen abgedruckt, wie mit Hans Harmsen und Friedrich Burgdörfer zwei weitere alte Kämpfer zu Wort kommen; Gerhard Mackenroth: Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953, vor allem im Kapitel III/2–8, S. 226–298, das allerdings mit einigen beachtenswerten Bemerkungen zum Sozialdarwinismus abgeschlossen wird. 48 Stellungnahmen von beiden in Rainer Mackensen (Hg.): Bevölkerungsfragen auf Abwegen der Wissenschaften. Zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften in Deutschland im 20. Jahrhundert. Opladen 1998, S. 219–229, bes. 223–226. 49 Lee, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 1). 50 Ansley J. Coale/E. M. Hoover: The effects of economic development on population growth and the effects of population growth on economic development. Princeton 1958. 51 Peter Burg über Arthur E. Imhof (Hg.): Historische Demographie als Sozialgeschichte. Gießen und Umgebung vom 17. zum 19. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 31). Darmstadt/Marburg 1975, in: VSWG 66 (1979), S. 143–146; Peter Burg verweist auf die vorbildliche, bei Wolfgang Köllmann entstandene Arbeit von Adelheid von Nell: Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart (Bochumer Historische Arbeiten 1). Phil. Diss. Bochum 1973.

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Burg sprach dabei einen wunden Punkt der neuen, auf Kirchenbuchauswertung beruhenden Forschung an: Der Aufwand für die Erarbeitung des Materials ist auch zeitlich erheblich und steht, zumal bei Anfängerarbeiten, in keinem sinnvollen Verhältnis zu den Ergebnissen. Die häufig ausschließlich durch das Interesse, das umfangreiche Material auszubreiten, motivierte Wiedergabe von Fruchtbarkeitsziffern, Ziffern zur differentiellen Mortalität, zur Häufigkeit der und dem Alter bei Eheschließung lassen ein theoriegeleitetes Vorgehen vermissen, da zudem die Anknüpfung an bevölkerungswissenschaftliche Theorien ebenfalls vielfach fehlt. So ersetzten lange Zeit die gängigen Fragestellungen und Methoden in der Nachfolge von Louis Henry, Pierre Goubert und Jacques Dupâquier die eigene theoretische Neugier. Dabei muss für Deutschland berücksichtigt werden, dass es wie in Österreich und der Schweiz lediglich Einzelbemühungen gab, keine gemeinsamen Anstrengungen mit einheitlichen Methoden und dem Versuch, die unterschiedlichen Fragestellungen zu koordinieren. Insofern wirkt das Bild der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung in Deutschland nach 1945 uneinheitlich. So blieb der Grundton der Besprechungen der in der VSWG wahrgenommenen deutschen Arbeiten zur Bevölkerungsgeschichte eher kritisch.52 Äußerte sich Adelheid zu Castell zur ersten Arbeit von Walter Rödel noch wohlwollend, so wurde demselben Autor später vorgeworfen, er habe bereits bekannte Ergebnisse zur traditionellen Bevölkerungsweise erarbeitet, vergleiche zu wenig mit anderen Städten und komme daher auch nicht zu solchen weiterführenden Ergebnissen wie Peter Zschunke, der für Oppenheim differentielle generative Muster der unterschiedlichen Konfessionen nachweisen konnte, gleichwohl aber den obrigkeitlichen Einfluss für die Perpetuierung traditioneller Verhaltensmuster als entscheidend ansah.53 Auch die weiteren Arbeiten von Arthur E. Imhof wurden mit Ausnahme der medizinhistorisch-epidemiologischen meist nicht uneingeschränkt positiv aufgenommen. So sah Wolfgang Zorn Darstellungsmängel, ebenso wie später Robert Jütte, der sich über die Wandlung vom „rückwärts gewandten Propheten (F. Schlegel)“ zum „in die Zukunft schauenden (Gesundheits-) Politikberater“ und kunsthistorisierenden Lebensberater mokierte. Sachlich wandte er ein, dass der Mortalitätswandel 52 Nicht besprochen werden so wichtige Arbeiten wie die von Wilhelm Norden: Eine Bevölkerung in der Krise. Historisch-demographische Untersuchungen zur Biographie einer norddeutschen Küstenregion (Butjadingen 1600–1850) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34). Hildesheim 1984; Peter Zschunke: Konfession und Alltag in Oppenheim: Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 115). Wiesbaden 1984; Rolf Gehrmann: Leezen, 1720–1870. Ein historisch-demographischer Beitrag zur Sozialgeschichte des ländlichen Schleswig-Holstein. Neumünster 1984; Thomas Kohl: Familie und soziale Schichtung. Zur historischen Demographie Triers 1730–1860 (Industrielle Welt 39). Stuttgart 1985. 53 Adelheid Castell über Walter G. Rödel (Hg.): Bevölkerungsbewegung und soziale Strukturen in Mainz zur Zeit des Pfälzischen Krieges (1680–1700) (Geschichtliche Landeskunde 19). Wiesbaden 1978, in: VSWG 67 (1980), S. 139 f.; Wolfgang Weber über Walter G. Rödel: Mainz und seine Bevölkerung im 17. und 18. Jahrhundert. Demographische Entwicklung, Lebensverhältnisse und soziale Strukturen in einer geistlichen Residenzstadt (Geschichtliche Landeskunde 28). Stuttgart 1985, in: VSWG 73 (1986), S. 433 f.

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und die gestiegene Lebenserwartung nicht in engem Zusammenhang mit dem epidemiologischen Wandel, sondern vornehmlich hinsichtlich der sozialen Auswirkungen diskutiert wurden.54 Klaus Jürgen Matz dagegen verteidigte die für ein größeres Publikum und daher populär geschriebenen Arbeiten.55 Eine ganze Reihe von Beiträgen zur Bevölkerungsgeschichte wurde dagegen positiv aufgenommen. Dazu zählte der Beitrag von Matz zu den gesetzlichen Ehebeschränkungen im 19. Jahrhundert, der auch an demographischem Material deren Unwirksamkeit nachwies, ein Ergebnis, das in bevölkerungsgeschichtlicher Hinsicht und im Detail nochmals von Antje Kraus bestätigt wurde.56 Wieland Sachse begrüßte, dass allzu statische Vorstellungen von Familiengrößen oder Warenkörben auf der Grundlage dichten Materials dynamisiert werden, das auch Feststellungen zur Demographie zulässt.57 Auf weitere neuere Arbeiten kann hier nicht eingegangen werden.58 Es lässt sich feststellen, dass in der VSWG in guter Tradition ein theoriegeleitetes Vorgehen gefordert wird, keine Materialhuberei, die wichtige Fragestellungen nicht wirklich weiterbringt. Hier haben es die frühen, am französischen Methodenvorbild geschulten deutschen Arbeiten zur historischen Demographie schwer. Leichter fällt die gestellte Aufgabe, wenn Einzelfragen behandelt werden, die zugleich den Wandel in Richtung auf kulturgeschichtliche Fragestellungen anzeigen, zumindest die Möglichkeit eröffnen, Quantifizierbares sinnvoll mit Textmaterial zu verbinden. Nicht dass das nicht auch schon zuvor geschehen wäre, aber im Zuge einer kulturgeschichtlichen Ausrichtung bestimmen die von den Texten kommenden Fragen die Richtung der quantifizierenden Forschung. Es geht um Themen wie Jugend, Alter, Familie, Stadt und Wanderung, Tragfähigkeit und Hunger als Teilprobleme der historischen Demographie, schließlich um das Thema Protoindustrialisierung, ein eher wirtschafts- als bevölkerungsgeschichtliches Problem. 54 Wolfgang Zorn über Arthur E. Imhof: Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. Ein historischer Essay. München 1981, in: VSWG 70 (1983), S. 97 f.; Robert Jütte über Arthur E. Imhof/Rita Weinknecht (Hg.): Erfüllt leben – in Gelassenheit sterben. Geschichte und Gegenwart (Berliner Historische Studien 19). Berlin 1994, in: VSWG 82 (1995), S. 82; Robert Jütte über Arthur E. Imhof (Hg.): Lebenserwartungen in Deutschland, Norwegen und Schweden im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin 1994, in: VSWG 82 (1995), S. 547 f. 55 Klaus-Jürgen Matz über Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns so schwer damit tun … München 1984, in: VSWG 72 (1985), S. 572 f. 56 Harald Winkel über Klaus-Jürgen Matz: Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts (Industrielle Welt 31). Stuttgart 1980, in: VSWG 68 (1981), S. 421 f.; Kraus, Ehesegen (wie Anm.1). 57 Gerhard Schildt: Tagelöhner, Gesellen, Arbeiter. Sozialgeschichte der vorindustriellen und industriellen Arbeiter in Braunschweig 1830–1880 (Industrielle Welt 40). Stuttgart 1986, in: VSWG 75 (1988), S. 137. 58 Margarete Schindler über Eva-Maria Dickhaut: Homberg an der Ohm. Untersuchungen zur Verfassung, Verwaltung, Finanzen und Demographie einer hessischen Territorialstadt (1648– 1806) (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 13). Marburg 1993, in: VSWG 81 (1994), S. 560 f.; Paul Thomas über Charlotte Glück-Christmann: Familienstruktur und Industrialisierung. Der Wandlungsprozeß der Familie unter dem Einfluß der Industrialisierung und anderer Modernisierungsfaktoren in der Saarregion 1800 bis 1914 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 564). Frankfurt a. M. 1993, in: VSWG 83 (1996), S. 80 f.

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Klaus Tenfelde hat die demographischen Entwicklungen der Kaiserzeit, insbesondere Wanderung und Alterszusammensetzung, auf ihre sozialen Auswirkungen hin betrachtet und folgende Bereiche benannt: kommunale und Arbeitssozialisation, soziale Vagabundage, Wohnungselend, Großstadtdelinquenz, kommunale Steuer- und Leistungsverwaltung, Gruppenbildung, -artikulation und Konfliktverhalten.59 Dabei wird deutlich, dass ein solcher Zugang, der auch die augenblicklich in der historischen Demographie wieder aktuell werdenden Probleme der Generationenfolge und -konflikte einbezieht, bevölkerungsgeschichtliches Material sinnvoll in größere sozialgeschichtliche Zusammenhänge einordnen und zu deren Erklärung beitragen kann. Die in den Großstädten um 1900 außergewöhnlich gut vertretenen mittleren Jahrgänge brachten eine höhere Geburtlichkeit, die im entsprechenden Abstand, also um 1930, zu stark besetzten Jahrgängen führte. Arbeitslosigkeit, höhere Delinquenz und andere Folgen waren zudem ein Ergebnis der wanderungsbedingten Verwerfungen mit einem höheren Anteil männlicher und jüngerer Migranten. Klaus Tenfelde bemängelte an vielen Stellen – trotz der Vorarbeiten von Köllmann – das Fehlen ausreichend differenzierter Daten, d. h. mangelnde Vorarbeit der historischen Demographie für den Sozialhistoriker. Er vermutete, dass auch die politischen Parteien der zwanziger und dreißiger Jahre durch solche generationellen Gewichtungen geprägt worden seien – junge KPD und USPD gegenüber einer vergreisenden SPD – und forderte weitere Untersuchungen in diese Richtung. Es lässt sich hinzufügen: Solche Forschungen sollten ethnologisches Material einbeziehen.60 Mortalität als wichtiges Teilthema der historischen Demographie wurde lange Zeit in Hinsicht auf die Übersterblichkeit in Krisenzeiten (Epidemie, Hunger, Krieg) diskutiert. Epidemiologische Überlegungen waren frühzeitig Bestandteil dieser Forschungen und sind es geblieben.61 Dazu gehörten Analysen zur sozial differenziellen Sterblichkeit und zur Sterbewahrscheinlichkeit bzw. dem Sterbealter. Obwohl nicht erst seit Johann Peter Süßmilch eine lange Tradition der Sterbetafelberechnung besteht, haben solche Berechnungen erst spät Eingang in das methodische Repertoire der historischen Demographie gefunden. Die Beschäftigung mit der Lebenserwartung rückte bei steigendem Durchschnittsalter einer Bevölkerung die sozialen und ökonomischen Folgeprobleme in den Vordergrund. Von Seiten der historischen Demographie gibt es dazu noch nicht viele Vorarbeiten. Volker Hentschel stellte 1984 fest, dass Gerontologie und eine sich mit der Geschichte des Alterns beschäftigende historische Demographie einander wenig zu sagen hätten, dass aber gleichwohl eine Beschäftigung mit den historischen Problemen erforderlich sei.62 59 Tenfelde, Großstadtjugend (wie Anm.1), S. 185. 60 Vgl. Martinus Emge über Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend. Frankfurt a. M. 1986, in: VSWG 75 (1988), S. 135 f. 61 Vgl. das Schwerpunktthema der Annales de Démographie Historique 1996: morbidité, mortalité, santé, und 2001: Lutter contre la mort. Le rôle des politiques publiques. In der VSWG kommen Imhof, Lebenszeit (wie Anm.1), mit einer Zusammenfassung seiner zuvor vielfältig dargelegten Argumente einschließlich Bildinterpretationen und hortativem Appell sowie Vögele, Sterblichkeitsrückgang (wie Anm.1), zu Wort. 62 Volker Hentschel über Christoph Conrad/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hg.): Gerontolo-

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Zehn Jahre später sah Robert Jütte die Wende von der Sozialgeschichte zur Kulturgeschichte, d. h. den Repräsentationen des Alterns, bereits vollzogen, während Peter Borscheid das detaillierte Eingehen auf das demographische Material wie die Vernachlässigung des öffentlichen Ansehens alter Menschen bemängelte.63 Es ist deutlich, dass die deutsche Geschichtswissenschaft weder genuin demographische Fragestellungen (Lebenserwartung, Morbidität, Gesundheit) noch ökonomische (soziale Sicherungssysteme) ausreichend behandelt hat. Dazu trägt sicherlich bei, dass die systematische und umfassende Erarbeitung des Materials noch aussteht. Auch das Thema des Hungers und der Ernährung ist in Deutschland von Seiten der historischen Demographie nicht ausreichend erörtert worden. Viele einzelne Arbeiten setzen sich mit diesem Thema zwar auseinander, nehmen sich dieser Spezialthematik aber nicht ausführlich und systematisch an. Obwohl seit Malthus die Tragfähigkeit Dauerthema der historischen Demographie war, hat sich dieser Frage kaum jemand systematisch genähert und wenn, dann eher durch die Untersuchung der Bedingungen, weniger der (sozialen) Folgen mangelnder Tragfähigkeit.64 Werner Conze setzte sich zweimal mit neuerer Literatur zur Sozialgeschichte der Familie auseinander.65 Er sah nach der Konzentration der Sozialgeschichte auf soziale Bewegungen und soziale Organisationen die aus aktuellen sozial-politischen Erwägungen gespeiste Hinwendung zur Geschichte von unten. Dadurch werde der bisher fehlende Unterbau der Sozialgeschichte erarbeitet, u. a. eben die Sozialgeschichte der Familie. Während die später erschienene Studie von Lawrence Stone wegen ihrer Klarheit und kritischen Distanz gelobt wurde,66 kam die bahnbrechende Studie von Peter Laslett schlecht weg: die frühere Großfamilien-Orthodoxie sei durch eine neue Kleinfamilien-Orthodoxie ersetzt worden. Diese Kritik kam zu spät, denn sie erfasst den zunächst statisch konzipierten Ausgangspunkt der Debatte um Haushaltsgrößen, die in den folgenden Jahren das bringt, was Conze einforderte: die Betrachtung der Haushalte als eine im Lebenszyklus der Menschen sich verändernde Sozialform, wie die von Richard Wall 1983 herausgegebenen Arbeiten zei-

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gie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters (Beiträge zur Gerontologie und Altenarbeit 48). Berlin 1983, in: VSWG 71 (1984), S. 399–401. Robert Jütte über Christoph Conrad/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hg.): Zur Kulturgeschichte des Alterns. Toward a cultural history of aging. Berlin 1993, in: VSWG 81 (1994), S. 579; Peter Borscheid über Christoph Conrad: Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 104). Göttingen 1994, in: VSWG 84 (1997), S. 583–585. Vgl. dazu die Forschungen von Christian Pfister, die anfänglich vornehmlich diesem Problem gewidmet waren, auch wenn die Klimageschichte im Vordergrund stand: Peter Brimblecombe/ Christian Pfister (Hg.): The silent countdown: essays in European environmental history. Berlin/Heidelberg 1990; außerdem: Franz Lerner über Robert L. Rotberg/Theodore K. Rabb (Hg.): Hunger and history. The impact of changing food production and consumption patterns on society. Cambridge 1985, in: VSWG 73 (1986), S. 108–110, bemängelt hinsichtlich anthropometrischer Forschung den deutschen Forschungsrückstand; Hans J. Teuteberg kritisiert die mangelnde Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung des Hungers, der Einflüsse von Religion, Magie, Kultur darauf bei Lucile F. Newman (Hg.): Hunger in history. Food shortage, poverty, and deprivation. Cambridge 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 227. Conze, Sozialgeschichte der Familie (wie Anm. 1); ders., Neue Literatur (wie Anm. 1). The family, sex and marriage in England, 1500–1800. London 1977.

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gen.67 An ihnen bemängelte Conze fehlende geographische Vollständigkeit – Deutschland sei kaum behandelt – und ungenügende Einbeziehung der Vererbungsgewohnheiten, die er bei Jack Goody berücksichtigt sah.68 Ihm ging es um die Einbettung der Familiengeschichte in umfassende gesellschaftlich-wirtschaftliche Zusammenhänge. Es war daher konsequent, dass er nochmals auf die von Hans Medick veranlasste Rezeption der Arbeiten von Aleksandr Vasil’eviã âajanov zurückkam, da dieser eine Theorie der Familienwirtschaft entwickelte, allerdings ausschließlich für die Landwirtschaft.69 Neben einigen beispielhaften Beiträgen zur Familiengeschichte verwies Conze auf das neu gegründete Journal of Familiy History und neuere Arbeiten zur ökonomischen Theorie der Familie.70 Ebenso wie Conze und Kraus widersprechen einige Beiträge eines dem Thema Heirat gewidmeten Bandes der von Edward Shorter vorgebrachten, umstrittenen These von der sexuellen Revolution um 1800.71 Ganz im Sinne von Kraus sah auch Michael Mitterauer die hohen Illegitimitätsraten keineswegs als Zeichen einer oder gar zweier sexueller Revolutionen, sondern als Übergangsphänomen von der durch das European marriage pattern geprägten Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft.72 Eine Weiterführung dieser Problematik gelang Josef Ehmer mit dem Vergleich der englischen und kontinentaleuropäischen Verhältnisse. Er stellte fest, dass in England die Möglichkeit der Gesellenheirat auffällig mit stetig sinkendem Heiratsalter korrelierte, in Kontinentaleuropa aber das die Gesellenheirat ausschließende Stellenprinzip im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu steigendem Heiratsalter führte. Er erkannte außerdem einen Unterschied zwischen guts- und grundherrschaftlich geprägten Agrarregionen hinsichtlich des Heiratsalters: in den erstgenannten war es durchschnittlich niedriger. Der Unterschied habe eher etwas mit sozialer Kontrolle von Gesinde und Gesellen als mit Tragfähigkeit zu tun. 67 Laslett/Wall (Hg.), Household (wie Anm. 37); Richard Wall (Hg.): Family forms in historic Europe. Cambridge 1983. 68 Jack Goody: The development of family and marriage in Europe. Cambridge 1983. 69 AÎeÍcảp BacËθe‚˘ óaflÌo‚: Op„aÌËÁaˆËfl ÍooÔepaÚË‚Ìo„o c·˚Úa. 2. ËÁ‰. MocÍ‚a 1922; Aleksandr Vasil’eviã âajanov: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft: Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Berlin 1923. 70 Jack Goody (Hg.): Family and inheritance: rural society in Western Europe, 1200–1800. Cambridge 1976; Richard J. Evans/William Robert Lee (Hg.): The German family: essays on the social history of the family in nineteenth- and twentieth-century Germany. London 1981; Neithard Bulst/Joseph Goy/Jochen Hoock (Hg.): Familie zwischen Tradition und Moderne: Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 48). Göttingen 1981; Heinz Reif (Hg.): Die Familie in der Geschichte (Kleine Vandenhoeck Reihe 1474). Göttingen 1982; Michael Mitterauer (Hg.): Historische Familienforschung (stw 387). Frankfurt a. M. 1982; William H. Hubbard: Familiengeschichte: Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. München 1983. Erstaunlicherweise entgeht auch Werner Conze die in der Geschichtswissenschaft nicht rezipierte Arbeit von Gary S. Becker: A treatise on family. Cambridge 1981. 71 Beate Brüninghaus über Robert I. Rotberg/Theodore K. Rabb (Hg.): Marriage and fertility. Studies in interdisciplinary history. Princeton 1980, in: VSWG 69 (1982), S. 575 f.; Edward Shorter: The making of the modern family. New York 1975; Conze, Sozialgeschichte der Familie (wie Anm. 1), S. 368 f.; Kraus, Ehesegen (wie Anm. 1). 72 Beate Brüninghaus über Michael Mitterauer: Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa. München 1983, in: VSWG 74 (1987), S. 111 f.

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Familien- oder besser: haushaltsgeschichtliche Forschung nahm eine ähnliche Entwicklung wie die historische Demographie: sie wurde immer weniger Gegenstand sozialgeschichtlicher Forschung. Das französische, kulturvergleichend angelegte Grundlagenwerk war ebenso Ergebnis der Forschungen der siebziger und achtziger Jahre wie die beiden von Michael Mitterauer herausgegebenen Aufsatzbände,73 von denen einer die auch in der historischen Demographie diskutierte Theorie der Ökotypen problematisierte. Die von O. Löfgren auf der Basis der Energienutzung entwickelten Ökotypen von Agrargesellschaften (peasant ecotypes) gelten zugleich als überindividuelle Muster von Sozialgefüge, Institutionen, Rechtsordnung, Denkund Verhaltensweisen.74 Der Vorteil dieses Zugangs liegt in der methodischen Verknüpfung demographischer und geographisch differenzierter Daten anderer Bereiche, z. B. Erbgewohnheiten. Auch kulturgeschichtlich angelegte Studien zur Familie weisen inhaltlich und methodisch in die Zukunft.75 Grundlage für Forschungen zum 19. Jahrhundert ist ein von Franz Rothenbacher erarbeitetes Zahlenwerk.76 Die historische Demographie hat sich methoden- und zeitbedingt lange Zeit vornehmlich mit ländlichen Regionen beschäftigt. Das gilt international für sämtliche seit den sechziger Jahren anlaufenden Forschungsprogramme, die zudem einen Schwerpunkt auf die Zeit des ancien régime legten. Auch zur historischen Demographie der Städte wurde auf der inzwischen eingeführten methodischen Basis vor allem zur Frühen Neuzeit geforscht. Die Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert bedienten sich der Möglichkeiten der amtlichen Statistik, so dass methodisch eine 73 Peter Borscheid über André Burguière/Christiane Klapisch-Zuber/Martine Segalen/Françoise Zonabend (Hg.): Geschichte der Familie, Band 1: Altertum; Band 2: Mittelalter; Band 3: Neuzeit. Frankfurt a. M. 1996/97, in: VSWG 87 (2000), S. 220–222; Peter Borscheid über Michael Mitterauer: Familie und Arbeitsteilung. Historisch vergleichende Studien (Kulturstudien 26). Wien/Köln/Weimar 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 348; nochmals als Überblick auch über aktuelle Probleme der Forschung vgl. die Besprechung von Peter Borscheid zu Andreas Gestrich: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 50). München 1999, in: VSWG 87 (2000), S. 516 f. 74 Peter Borscheid über Michael Mitterauer: Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen (Kulturstudien 15). Köln/Wien 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 420: Sammlung der verstreuten Aufsätze zum Thema „Kernfamilie, späte Heirat, geringer Altersabstand der Ehepartner und Zugehörigkeit des Gesindes zu Haushalt und Familie“; Behandlung der „Begrifflichkeit der modernen Familienforschung“, der „Entstehungsursachen der Familienformen“. Zum Ökotypenkonzept vgl.: Christian Pfister: Geschichte des Kantons Bern seit 1798, Band IV: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700– 1914 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 78). Bern 1995, S. 27–29, 161 und Pfister, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 2), S. 122 f.; außerdem Franz Mathis über Pier Paolo Viazzo: Upland communities. Environment, population and social structure in the Alps since the sixteenth century (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 8). Cambridge 1989, in: VSWG 79 (1992), S. 252 f. 75 Peter Borscheid über Jürgen Schlumbohm (Hg.): Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen vom 15. bis 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 31; Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 17). Hannover 1993, in: VSWG 83 (1996), S. 79 f. 76 Peter Borscheid über Franz Rothenbacher: Historische Haushalts- und Familienstatistik von Deutschland 1815–1900. Frankfurt a. M./New York 1997, in: VSWG 87 (2000), S. 351.

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zweigeteilte historische Demographie entstand, insbesondere hinsichtlich der Städte: auf der einen Seite die mikrodemographischen Untersuchungen zur vorstatistischen Zeit, die sich ihr Zahlenmaterial selbst erarbeiten mussten, auf der anderen Seite die makrodemographischen Untersuchungen. Zugleich wurde ein methodisches Problem der Bevölkerungsgeschichte lange Zeit nicht wahrgenommen: Wanderung. Das mag mit dem alten Bild einer immobilen vorindustriellen Bevölkerung zu tun haben. Inzwischen ist klar, dass auch die vorindustriellen Bevölkerungen – vielfach aus anderen Beweggründen – außerordentlich mobil waren und damit methodische Probleme verursachen, die wandernde Personen am Ausgangs- und Zielort statistischen Erhebungen bereiten, zumal in vorindustrieller Zeit zuverlässige Angaben über Wanderungsvorgänge selten vorhanden sind und daher meist erschlossen bzw. geschätzt werden müssen. Typisch blieben die Monographien, die sich auf eine Stadt konzentrierten, teilweise unter Berücksichtigung weiterer Aspekte städtischen Lebens. Das konnten methodische,77 konfessionelle,78 schichtungsanalytische bzw. alltagsgeschichtliche79 oder bereits auf neuere Ansätze verweisende Aspekte der Hygiene und medizinischen Versorgung sein.80 Ausschließlich die Bevölkerungsgeschichte behandelnde Arbeiten waren selten,81 wobei die nach wie vor unerreichte, aber leider um 77 Rezension von Gisela Perner über Gerhard Köhn: Die Bevölkerung der Residenz. Festung und Exulantenstadt Glückstadt von der Gründung 1616 bis zum Endausbau 1652. Methoden und Möglichkeiten einer historisch-demographischen Untersuchung mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 65). 2 Bände. Neumünster 1970/74, in: VSWG 66 (1979), S. 507 f.; es geht u. a. um einen Abgleich des Bürgerbuches mit anderen personengeschichtlichen Quellen. 78 Rezension von Bernd Balkenhol über Heinz Krümmer: Die Wirtschafts- und Sozialstruktur von Konstanz in der Zeit von 1806 bis 1850 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 19). Sigmaringen 1973, in: VSWG 63 (1976), S. 519 f., weist bereits vor späteren Arbeiten zu diesem Thema (vgl. die Arbeit von Zschunke [wie Anm. 52]) und Manfred Agethen zu Etienne François: Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33). Sigmaringen 1991, in: VSWG 81 (1994), S. 245 f. auf die konfessionell unterschiedliche Kindersterblichkeit hin. 79 Herbert Knittler über Franz Mathis: Die Bevölkerungsstruktur österreichischer Städte im 17. Jahrhundert (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 11). München/Wien 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 567 f.; Ilja Mieck über Helga Schultz: Berlin 1650–1800. Sozialgeschichte einer Residenz. Berlin 1987, in: VSWG 77 (1990), S. 115–117; Mark Häberlein über Martin Burkhardt: Konstanz im 18. Jahrhundert. Materielle Lebensbedingungen einer landstädtischen Bevölkerung am Ende der vorindustriellen Gesellschaft (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 36). Sigmaringen 1997, in: VSWG 87 (2000), S. 504 f. 80 Antje Kraus über Werner Schüpbach: Die Bevölkerung der Stadt Luzern 1850–1914. Demographie, Lohnverhältnisse, Hygiene und medizinische Versorgung (Luzerner Historische Veröffentlichungen 17). Luzern/Stuttgart 1983, in: VSWG 72 (1985), S. 232; vgl. auch MarieElisabeth Hilger über Richard J. Evans: Death in Hamburg. Society and politics in the cholera years 1830–1910. Oxford 1987, in: VSWG 77 (1990), S. 125 f. 81 Erich Keyser über Etienne Hélin: La démographie de Liège aux XVII et XVIII siècles. Bruxelles 1963, in: VSWG 51 (1964), S. 412 f.; Clemens von Looz-Corswarem über die Annales de Démographie Historique 1982: Villes du passé, in: VSWG 72 (1985), S. 249 f.; Stefan Kroll über Raimo Pullatz: Die Stadtbevölkerung Estlands im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung Universalgeschichte 38). Mainz 1997, in: VSWG 87 (2000), S. 203 f.

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die mikrodemographischen Aspekte nicht weitergeführte Arbeit von Alfred Perrenoud in der VSWG nicht ausreichend gewürdigt wurde.82 Das 19. und 20. Jahrhundert wurden seltener behandelt,83 wobei mit Stockholm ein Beispiel betrachtet wurde, das den Übergang von der vorindustriellen Residenzstadt zur Industriemetropole aufzeigte. Bemerkenswert waren der Rückgang der Textilindustrie durch verlegtes Handwerk auf dem Lande, das Bevölkerungswachstum trotz Deindustrialisierung und eine nicht an die Reallohnentwicklung gekoppelte Mortalität.84 Lange Zeit blieb unwidersprochen, dass die Stadt wegen der höheren Mortalität auf Zuzug angewiesen sei.85 A. M. v. d. Woude zeigte jedoch bereits 1982 in den Annales de Démographie Historique, dass in den Städten der nördlichen Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert keine erhöhte Sterblichkeit herrschte. Robert Wood wies in einem methodisch interessanten Beitrag nach, dass es nicht unerhebliche Gruppen von Zuwandernden gab (Dienstboten, Gesellen, Lehrlingen, Künstlern), die wenig zur Geburtlichkeit, aber zur Sterblichkeit beitrugen. Es stand daher zu vermuten, dass die Städte durch natürliches Wachstum hätten größer werden können, wenn es diese Gruppen nicht gegeben hätte.86 Nur Analysen der differentiellen Profile der Wanderung könnten in dieser Hinsicht Aufschluss geben. Diesem Problem widmete sich Dieter Langewiesche, indem er auch auf die innerstädtische Wanderung einging. Er wies nochmals auf das Ausmaß des Wanderungsvolumens hin, das konjunkturabhängig war. Dabei sei bisher zuwenig beachtet worden, dass das gesamte Wanderungsvolumen zu einem nicht unerheblichen Teil (bis 80 Prozent) durch Abwanderung aus den Städten verursacht wurde. Wenige Zuwanderer würden sesshaft (in den USA im Verhältnis 1:20, in Deutschland 1:10). Viele blieben nur kurz (wenige Monate, ein Jahr). Die Wohnungsbelegung zeige das deutlich: nur wenige Mieter blieben mehrere Jahre in ihrer Wohnung. Bis dahin unbeachtet sei vor allem die Stadt-Land-Wanderung, die saisonbedingt den ländlichen Arbeitsmarkt bediente und im Winter ggf. den städtischen belastet habe. Klar sei, dass der Bezug zum Land für viele in den Städten Wohnende noch außerordentlich lebendig war. Das genaue Ausmaß dieser Wanderung lasse sich nur schwer feststellen, da die Land-Stadt-Wanderung dieses Phänomen verdecke. In 82 Arthur E. Imhof über Alfred Perrenoud: La population de Genève du seizième au début du dixneuvième siècle. Étude démographique, Tome premier: Structures et mouvements (Mémoires et documents publiés par la Société d’histoire et d’archéologie de Genève 47). Genf/Paris 1979, in: VSWG 67 (1980), S. 375 f. 83 Jürgen H. Schawacht über Wolfgang Herbig: Wirtschaft und Gesellschaft der Stadt Lüdenscheid im 19. Jahrhundert (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 3). Dortmund 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 139; Günther Schulz über Berthold Grzywatz: Arbeit und Bevölkerung im Berlin der Weimarer Zeit. Eine historisch-statistische Untersuchung (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 63). Berlin 1988, in: VSWG 76 (1989), S. 405 f. 84 Claus Wohlert über Johan Söderberg/Ulf Jonsson/Christer Persson (Hg.): A stagnating metropolis. The economy and demography of Stockholm, 1750–1850 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 13). Cambridge 1991, in: VSWG 79 (1992), S. 529 f. 85 So noch Raimo Pullatz (wie Anm. 81). 86 Edith Ennen über Richard Lawton (Hg.): The rise and fall of great cities. Aspects of urbanization in the Western World. London/New York 1989, in: VSWG 77 (1990), S. 109 f.

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jedem Fall zeigten die vorhandenen Zahlen eine hohe Fluktuation städtischer Bevölkerung, die nur bei hohen Wanderungszahlen wachse. Die interstädtische Mobilität war im Gegensatz zu zeitgenössischen Urteilen über das neue Nomadentum vernachlässigenswert. Die sozial differenzierende Analyse der Wanderungen zeigte das übliche Bild: Vorherrschen – insbesondere bei Fernwanderung – der Einzelgegenüber der Familienwanderung (3:1), die Letztere bildete eine Form der Wanderung vor allem aus dem agrarischen Bereich; Konjunkturabhängigkeit der männlichen Wanderung; Wanderung vor allem im Alter um Mitte zwanzig; nach Erreichen von dreißig Jahren im Arbeitermilieu Abstiegswanderung, im bürgerlichen Milieu Aufstiegswanderung, die einen erheblichen Teil der interstädtischen Mobilität ausmachte. Abschließend betont Langewiesche, dass die hohe Fluktuation in ihrer Auswirkung auf Kommunalpolitik und Gewerkschaftsengagement viel zu wenig berücksichtigt werde.87 Nachfolgearbeiten hat diese vorbildliche Analyse bislang nicht gefunden. Probleme der Wanderung in vorindustrieller Zeit wurden im Zusammenhang mit der Auswanderung Deutscher vornehmlich nach Osteuropa behandelt.88 Das 20. Jahrhundert mit seinen kriegsbedingten Flüchtlingsströmen und Umsiedlungsaktionen ist für die historische Demographie bis heute kein wichtiges Thema. Erst die um Anfang der achtziger Jahre einsetzenden Forschungen von Klaus J. Bade stellten eine Verbindung von demographischen Fragen mit solchen der sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen der Wanderungen her.89 Wanderung sowohl in vorindustriellen als auch in Industriegesellschaften wird ein wichtiges Thema künftiger Forschung sein müssen.90 87 Wie Anm. 1. 88 Hugo Weczerka über Friedrich-Karl Hüttig: Die pfälzische Auswanderung nach Ost-Mitteleuropa im Zeitalter der Aufklärung, Napoleons und der Restauration. Marburg 1958, in: VSWG 46 (1959), S. 410–412; Otto Renkhoff über Wolf-Heino Struck: Die Auswanderung aus dem Herzogtum Nassau (1806–1866). Ein Kapitel der modernen politischen und sozialen Entwicklung (Geschichtliche Landeskunde, Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde Mainz 4). Wiesbaden 1966, in: VSWG 54 (1967), S. 520; Hans Fenske über Wolfgang von Hippel: Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert (Industrielle Welt 36). Stuttgart 1984, in: VSWG 72 (1985), S. 215. 89 Antje Kraus über Klaus J. Bade: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980 (Beiträge zur Zeitgeschichte 12). Berlin 1983, in: VSWG 72 (1985), S. 117; Dietrich von Delhaes-Guenther über Klaus J. Bade (Hg.): Auswanderer, Wanderarbeiter, Gastarbeiter, Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderung in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 2 Bände. Ostfildern 1984, in: VSWG 72 (1985), S. 576 f. 90 Friedrich Wilhelm Henning über Ad van der Woude/Jan de Vries/Akira Hayami (Hg.): Urbanization in history. A process of dynamic interactions. Oxford 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 554: Wanderung und demographische Entwicklung vor- und industrieller Großstädte, auch der sog. Dritten Welt; so bemängelt Wolfgang Reinhard in der ansonsten positiven Besprechung zu Piet C. Emmer/Magnus Mörner (Hg.): European expansion and migration. Essays on the intercontinental migration from Africa, Asia and Europe. New York/Oxford 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 388 f., das fehlende Eingehen auf die asiatische und afrikanische Migration; Hans Fenske über Dirk Hoerder/Jörg Nagler (Hg.): People in transit. German migrations in comparative perspective 1820–1930. Cambridge 1995, in: VSWG 84 (1997), S. 260–262.

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2.2 Protoindustrialisierung Mit den Arbeiten von Robert Lee, einem in Deutschland selbst unter Bevölkerungswissenschaftlern wenig bekannten britischen Ökonomen und Demographen, kam erstmals eine dezidiert an wirtschaftshistorischen Fragestellungen orientierte Ausrichtung in die deutsche Debatte. Er behandelte die Zusammenhänge von Industrialisierung und Bevölkerungsentwicklung, die Bedeutung der Bevölkerungsmechanismen im Prozess sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung am Beispiel Englands.91 Die Reallohnentwicklung, die nach dem herkömmlichen Modell sich etwa auf demselben Niveau halte, könne sich auch an die Bevölkerungsentwicklung so anpassen, dass ein langfristiges Wirtschaftswachstum ohne malthusian checks in Gang komme. Erst differenzierte Fragen nach demographischen Fakten könnten aber Antworten geben auf ökonomische Wirkungen demographischer Prozesse, z. B. die möglichen Impulse für den Konsum oder Arbeitsmarkt. Ob das vorindustrielle Bevölkerungswachstum den takeoff ausgelöst habe, diese Frage lasse sich erst beantworten, wenn präzisere Zahlen über den Bevölkerungsprozess in England vor 1800 vorlägen. Diese aber könnten – mit Verweis auf die Arbeiten von Roller, Gautier/ Henry und Wrigley – nur auf der Grundlage der Kirchenbücher erarbeitet werden. Erst bei Vorliegen genaueren Materials könne auch die Frage entschieden werden, ob das Bevölkerungswachstum eine Folge gestiegener Fruchtbarkeit, so die übliche Anschauung, oder sinkender Sterblichkeit sei. Zusammen mit der letzteren These kommen medizinhistorische Fragen ins Spiel, in deren Zusammenhang Lee die Arbeiten von Thomas McKeown und P. E. Razzell vorstellt. Die vor allem in Frankreich – Meuvret und Goubert werden genannt – diskutierte Frage, ob die Verbesserung der Landwirtschaft und damit der Ernährungssituation zum Bevölkerungswachstum beigetragen habe, sei nicht eindeutig beantwortet. Schließlich fehlten Auskünfte über altersspezifische Mortalität, da weder Heiratsziffern noch die gewerbliche Entwicklung – Lee spricht hier von Industrialisierung und Protoindustrialisierung –92 ausreichende Erklärungen gäben. Eine mögliche erste Antwort auf die von Robert Lee aufgeworfenen Fragen versuchte Markus Mattmüller einige Jahre später zu geben.93 Er war einer derjenigen, der für die Schweiz – aber auch beispielgebend für Deutschland – in der Zeit um 1970 eine Arbeitsgruppe begründete, die in der Folgezeit bis etwa Mitte der achtziger Jahre Anschluss vornehmlich an die französische Bevölkerungsgeschichte finden wollte.94 Wie alle Bevölkerungshistoriker dieser Zeit bezog sich Mattmüller 91 Lee, England (wie Anm.1). 92 Ebd., S. 309; fraglich ist, ob er den Aufsatz von F. F. Mendels: Proto-industrialization: the first phase of the industrialization process, in: JEH 32 (1972), S. 241–261, bereits wahrgenommen und verarbeitet hat. 93 Mattmüller, Bevölkerungswelle (wie Anm.1). 94 Es ist festzuhalten, dass neben den Schweizer Arbeitsgruppen um Markus Mattmüller, Christian Pfister und Rudolf Braun sowie der familien- bzw. haushaltsgeschichtlich orientierten Wiener Arbeitsgruppe um Michael Mitterauer in Deutschland nur wenige Arbeitsgruppen bestanden: neben der Gießener, später Berliner Arbeitsgruppe von Arthur E. Imhof sowie der Arbeitsgruppe um Wolfgang Köllmann in Bochum diejenigen im MPI für Geschichte Göttingen, von Ernst Hinrichs in Oldenburg, Horst Rabe in Konstanz und von Walter Rödel in Mainz. Von

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wie selbstverständlich auf den Begriff der Bevölkerungsweise von Mackenroth, zugleich aber auch auf Marcel Reinhard, der von ancien et nouveau régime démographique sprach. Das wesentliche Ergebnis der Studie war der Nachweis, dass in bestimmten Schweizer Regionen vor allem die Verbindung von Landwirtschaft und Gewerbe (Heimindustrie) zu langfristig besserer Versorgung und einem Sinken der Mortalität namentlich in den mittleren Jahrgängen geführt habe. Im Ergebnis wachse u. a. dank der geringeren Sterblichkeit bei den reproduktionsfähigen Jahrgängen die Bevölkerung in solchen Regionen. Es ist erstaunlich, dass die referierten Beiträge angesichts der später einsetzenden Diskussion um das Konzept der Protoindustrialisierung nicht durch weitere Beiträge in der VSWG fortgeführt worden sind, obwohl von Beginn an erhebliche Einwände gegen das Konzept erhoben wurden. Das ursprüngliche Konzept wurde von Karl Heinrich Kaufhold positiv beurteilt, insbesondere der an Aleksandr âajanov anschließende analytische Ansatz hervorgehoben, schließlich die angekündigte Detailforschung begrüßt.95 Kaufhold führte zunächst das gegen das Konzept der Protoindustrialisierung sprechende Beispiel Hagen an, wo die gewerbliche Entwicklung mit Hinweisen auf einsetzende Geburtenbeschränkung einhergehe.96 Außerdem sei dieses Konzept zu linear.97 Diederich Saalfeld hielt mit Dietrich Ebeling und Peter Klein am Ravensberger Beispiel die Kennzeichnung der Protoindustrialisierung als Gelenkstück zwischen ancien régime und Moderne für überzeichnet, weil beim Hausgewerbe Wichtiges fehle: Immigration von Arbeitskräften in moderne Gewerbezentren, räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz, monotone produktionstechnische Spezialisierung, keine verbilligte Massenproduktion bei höherem Kapitaleinsatz, keine Effizienzsteigerung der Arbeit.98 Kaufhold vermisste in der ersten Fallstudie von Peter Kriedte über Krefeld, die er als Markstein der gewerbe- und sozialgeschichtlichen Forschung bezeichnete, klare Bezüge zum Konzept der Protoindustrialisierung.99 Friedrich Lenger sah in der Bilanz Sidney Pollards zur Protoindustrialisierungsforschung wichtige Elemente frühindustrieller Entwicklung vernachlässigt: Märkte, Kaufmannskapital und städtische Wirtschaft, Kon-

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diesen deutschen Arbeitsgruppen ist lediglich Arthur E. Imhof – allerdings vornehmlich virtuell – noch präsent. Ansonsten ist bevölkerungsgeschichtliche Forschung in Deutschland weder institutionell verankert – wie in Frankreich oder dem Vereinigten Königreich – noch in laufenden Forschungszusammenhängen präsent. Karl Heinrich Kaufhold über Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 53). Göttingen 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 136 f. Karl Heinrich Kaufhold über Gerd Hohorst: Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsentwicklung in Preußen 1816 bis 1914. New York 1977, in: VSWG 69 (1982), S. 276 f. Karl Heinrich Kaufhold über Maxine Berg/Pat Hudson/Michael Sonenscher (Hg.): Manufacture in town and country before the factory. Cambridge 1983, in: VSWG 72 (1985), S. 81 f. Diedrich Saalfeld über Ernst Hinrichs/Henk van Zon (Hg.): Bevölkerungsgeschichte im Vergleich: Studien zu den Niederlanden und Nordwestdeutschland. Aurich 1988, in: VSWG 76 (1989), S. 237 f. Karl Heinrich Kaufhold über Peter Kriedte: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 97). Göttingen 1991, in: VSWG 78 (1991), S. 559 f.

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summuster.100 Friedrich Wilhelm Henning bemerkte, dass die Bedeutung des Verlegers nicht ausreichend berücksichtigt werde, das am flandrischen Modell des ländlichen Textilgewerbes gewonnene Konzept keineswegs überall tauglich sei, schließlich das russische kustar’-Gewerbe in die Analysen einbezogen werden solle.101 Ebenso hob Walter Achilles die regionalen Besonderheiten bestimmter Fälle und damit die Probleme der Generalisierbarkeit auch vieler Einzelstudien hervor.102 Schließlich resümierte Kaufhold: „Die Diskussion über das Konzept der sog. Protoindustrialisierung ist nach einem vielversprechenden Anfang deutlich verflacht, da der Begriff häufig nicht mehr im Sinne des mit ihm ursprünglich verbundenen theoretischen Konzepts, sondern als eine Art Passepartout für nahezu alle Arten von heimgewerblicher und verlagsmäßig organisierter gewerblicher Produktion in der vorindustriellen Zeit verwendet wird und dabei an Trennschärfe verloren hat.“ Er begrüßte die Neudefinition durch Ulrich Pfister: langfristiges Wachstum bei konstant bleibender Arbeits- und Kapitalproduktivität, mithin ohne technischen Fortschritt, der für industrielles Wachstum bestimmend wird; folglich seien vier Faktoren maßgeblich: kontinuierliche Zunahme des Einsatzes von Arbeit und Kapital, Produktion für einen wachsenden Exportmarkt, Zunahme der Nahrungsmitteleinfuhren zu konstanten Preisen; protoindustrielle Bevölkerungsweise lasse sich nur für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeschränkt nachweisen, nicht die ganze Periode könne summarisch als protoindustriell bezeichnet werden, da Protoindustrie dann stagniere, wenn inhärente Strukturprobleme nicht gelöst würden.103 Es ist erstaunlich, dass eine bevölkerungshistorische Debatte, die von Seiten der analytischen Schärfe sowie der Einbeziehung ökonomischer Fragestellungen den in der Vergangenheit zu beobachtenden methodologischen Ansprüchen der VSWG ganz entspricht, lediglich im Rezensionsteil Resonanz findet.104 Zudem wird ein Aspekt vernachlässigt, der auch anderswo kaum deutlich angesprochen ist: das Problem der räumlichen Differenzierung der Wirtschaft und der Bevölkerung. Tatsächlich können die punktuellen bevölkerungsgeschichtlichen Studien lediglich Hinweise geben. Durch die Erarbeitung räumlich differenzierter Modelle könnte diese Debatte weitergeführt und die zuweilen an landeshistorische Debatten erinnernde Auseinandersetzung – in meiner Region, meiner Stadt, meinem Dorf sieht es ganz anders aus – hinsichtlich der bevölkerungsgeschichtlichen Probleme in größere Zusammenhänge eingebettet werden. 100 Friedrich Lenger über Maxine Berg (Hg.): Markets and manufactures in early industrial Europe. London/New York 1991, in: VSWG 78 (1991), S. 558. 101 Friedrich Wilhelm Henning über Sheilagh C. Ogilvie (Hg.): Proto-Industrialization in Europe (Continuity and Change 8/2). Cambridge 1993, in: VSWG 82 (1995), S. 574 f. 102 Walter Achilles über Jürgen Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860 (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 110). Göttingen 1994, in: VSWG 82 (1995), S. 530 f., bei aller Anerkennung der methodischen und inhaltlichen Fortschritte. 103 Karl Heinrich Kaufhold über Ulrich Pfister: Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert. Zürich 1992, in: VSWG 83 (1996), S. 116 f. 104 Vgl. dagegen die Annales E.S.C. 39 (1984); die übrigen Belege bei Peter Kriedte/Hans Medick/ Jürgen Schlumbohm: Sozialgeschichte in der Erweiterung – Protoindustrialisierung in der Verengung? Demographie, Sozialstruktur, moderne Hausindustrie: eine Zwischenbilanz der Protoindustrialisierungs-Forschung, in: GG 18 (1992), S. 70–87, 231–255.

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2.3 Quantifizierende Methoden Angesichts einer langen Tradition bei der Nutzung quantifizierender Methoden erscheint es erstaunlich, dass die rechnergestützte Datenverarbeitung in der VSWG zunächst auf wenig Zustimmung stieß. Hans Pohl bestritt den Innovationsanspruch der neuen rechnergestützten Ansätze, indem er auf die schon immer bestehende Arbeit mit quantifizierender Methodik hinwies und fand, dass eine Zeitlang die maschinelle Auswertung von Daten ohne Rücksicht auf Kosten, Effektivität und Zielvorgaben in Mode gewesen sei. Henning sah die aus der Sozialwissenschaft kommenden quantifizierenden Methoden ebenfalls als Mode und hob hervor, dass diese weder etwas Neues darstellten noch mehr seien als lediglich methodisches Hilfsmittel, insbesondere was den Einsatz der EDV angehe. Außerdem vermisste er das Eingehen auf new economic history und histoire économique quantitative.105 Die durch konkrete Quellenarbeit und daher mehr Skepsis und Sachbezug ausgezeichneten Arbeiten von Erdmann Weyrauch, Erwin K. Scheuch, Peter Borscheid, Heilwig Schomerus und Jürgen Kocka werden dagegen positiver beurteilt, wiewohl auch hier nochmals betont wurde, dass quantifizierende Methoden in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit hundert Jahren üblich seien.106 Das sind Einwände gegen eine Euphorie, die tatsächlich viele zur damaligen Zeit von einem neuen methodischen Zugang sprechen ließ, zuweilen auch ohne zu bedenken, dass die theoriegeleitete Fragestellung im Vordergrund zu stehen hat. Dennoch machen die Einführungen in quantitative Methoden für die Geschichtswissenschaft deutlich, dass auch hier die differenzierten Analyseinstrumente der Statistik Einzug halten.107 Günther Schulz machte schließlich hinsichtlich der EDV nochmals auf die Probleme der methodischen Wahrheit aufmerksam, was Datengewinnung und -verarbeitung angeht.108 Allerdings ist für zahlreiche Analyseverfahren auch entsprechendes Zahlenmaterial notwendig, das in der erforderlichen Dichte und Menge häufig nicht verfügbar ist. Damit ist ein wichtiges Problem insbesondere der Bevölkerungsgeschichte angesprochen: das häufig mangelhafte, vielfach in ungenügender Menge vorliegende Quellenmaterial. Ein Weiteres kommt hinzu: das zu interpretierende Material liegt zumindest für die Zeit vor 1850 nicht in leicht zugänglichen Datenreihen vor, sondern muss aufwendig aus den Quellen extrahiert werden, bevor es analysiert und 105 Hans Pohl über Wolfgang Bick/Paul J. Müller/Herbert Reinke: Quantitative historische Forschung 1977. Eine Dokumentation der Quantum Erhebung. Stuttgart 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 112 f.; Friedrich-Wilhelm Henning über Konrad Jarausch (Hg.): Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten. Düsseldorf 1976, in: VSWG 64 (1977), S. 531–533. 106 Friedrich-Wilhelm Henning über Paul J. Müller (Hg.): Die Analyse prozeß-produzierter Daten (Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen 2). Stuttgart 1977, in: VSWG 66 (1979), S. 113 f. 107 Norbert Ohler über Roderick Floud: Einführung in quantitative Methoden für Historiker. Stuttgart 1980, in: VSWG 69 (1982), S. 240. 108 Günther Schulz über Karl Heinrich Kaufhold/Jürgen Schneider (Hg.): Geschichtswissenschaft und elektronische Datenverarbeitung (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 36). Stuttgart 1988, in: VSWG 77 (1990), S. 107.

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interpretiert werden kann. Tatsächlich kann es zuweilen so erscheinen, als ob die Entdeckung eines hervorragenden Quellenbestandes vor der Entwicklung der Fragestellungen gestanden habe. Insofern bedarf es der Veröffentlichung von Datenreihen, die dann befragt werden können.109 Da anders als in England das bisher erhobene bevölkerungsgeschichtliche Material in Deutschland nirgendwo zentral gesammelt worden ist, wird auch nie die Möglichkeit bestehen, solchermaßen zugängliche große Quellenbestände mit neuen Fragestellungen zu untersuchen. Das gilt selbst für zahlreiche Datenreihen des 19. Jahrhunderts. Inzwischen wird manches mühsam erhobene Material schon aus technischen Gründen nicht mehr zugänglich sein. In allen genannten Bereichen – Datenerhebung und -aufbereitung sowie langfristige Datenhaltung – ist noch viel zu tun. Wilfried Reininghaus hebt mit Recht hervor, wie viel Material das sog. vorstatistische Zeitalter noch bereithalte, und Martin Krieger benennt die Defizite zuverlässiger Bevölkerungszahlen für das Heilige Römische Reich wie auch für die meisten Territorien.110 3. Neuere Ansätze 3.1 Kulturgeschichte Ohne in nähere Erörterungen über den Begriff der Kulturgeschichte eintreten zu wollen, soll hier darunter das stärkere oder ausschließliche Eingehen auf Wahrnehmungsformen historischer Erscheinungen verstanden werden. Nicht die Erhebung quantitativen Materials zur Auswirkung z. B. der Pest ist Gegenstand einer Untersuchung, sondern die symbolische Verarbeitung des als gegeben vorausgesetzten 109 Grundsätzlich Harald Winkel über Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hg.): Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Staatsbeschreibung und Statistik 1). Paderborn 1980, in: VSWG 70 (1983), S. 123–125; Materialsammlungen vgl. Albin Gladen über Gerd Hohorst/Jürgen Kocka/Gerhard A. Ritter (Hg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870–1914. München 1975, in: VSWG 68 (1981), S. 571 f.; Albin Gladen über Dietmar Petzina/ Werner Abelshauser/Anselm Faust (Hg.): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III: Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945. München 1978, in: VSWG 69 (1982), S. 281– 283; Josef Wysocki über Birgit Bolognese-Leuchtenmüller: Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750–1918 (Wirtschafts- und Sozialstatistik Österreich-Ungarns 1; Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1). München 1978; Roman Sandgruber: Österreichische Agrarstatistik 1750–1918 (Wirtschaftsund Sozialstatistik Österreich-Ungarns 2; Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2). München 1978, in: VSWG 69 (1982), S. 274–276; Hans Pohl über Antje Kraus (Hg.): Quellen zur Bevölkerungsstatistik Deutschlands 1815–1875 (Quellen zur Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstatistik Deutschlands 1815–1875, Band 1; Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 2/1). Boppard 1980, in: VSWG 71 (1984), S. 265–268. 110 Wilfried Reininghaus über Karl Heinrich Kaufhold/Uwe Wallbaum (Hg.): Historische Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland 1744–1806 (Quellen zur Geschichte Ostfrieslands 16). Aurich 1998, in: VSWG 87 (2000), S. 341 f.; Martin Krieger über Brage bei der Wieden: Die Entwicklung der pommerschen Bevölkerung 1701–1918. Köln/Weimar/Wien 1999, in: VSWG 88 (2001), S. 213.

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Vorgangs. Die Behandlung quantitativer Aspekte eines Problems hat offensichtlich an Wert verloren. Damit wird den nie bekehrten wie den neuen Anhängern hermeneutischer, textauslegender Methoden stärker Rechnung getragen, die schon immer bezweifelten, dass Zahlenhuberei historische Erkenntnis befördern könne, zumal der anfänglich von manchen Vertretern quantifizierender Methoden vorgetragene Objektivitätsanspruch sich leicht hat entkräften lassen. Bereits Imhof hat diese Wende in den achtziger Jahren eingeleitet, um die demographischen Ergebnisse in einen weiten sozialgeschichtlichen Horizont einzufügen.111 Die Fertilität, lange Zeit ein bevorzugtes Thema der historischen Demographie, ist bisher außer in dogmengeschichtlichen Arbeiten (z. B. zum Thema Populationistik) selten behandelt worden. Angus McLaren trägt in einem kulturanthropologischen Zugriff wichtige Erkenntnisse zur Wahrnehmung von Geburtenbeschränkung, Sexualität und Abtreibung im frühneuzeitlichen England zusammen. Insbesondere das Eingehen auf die Erosion einer unabhängigen weiblichen sexuellen Kultur sowie die Auseinandersetzung zwischen volkskulturellen Praktiken und den professionellen Elitekulturen der Juristen bzw. Mediziner sind bemerkenswert.112 Ebenfalls der Geburtenbeschränkung widmet sich eine Arbeit, die Rolf Gehrmann als historische Enzyklopädie zu Techniken der Geburtenverhütung bezeichnet. Es handelt sich nicht um eine groß angelegte mentalitätsgeschichtliche Studie, sondern um eine genaue Beschreibung der Methoden der Kontrazeption einschließlich Haberlandts Versuchen mit Östrogen Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Besonders der Erste Weltkrieg habe zur Verbreitung des Kondoms beigetragen, damals zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Zugleich wird auf die zeitgenössische Debatte um den Geburtenrückgang eingegangen.113 In beiden Arbeiten geht es ausdrücklich nicht um die Erarbeitung statistischen Materials. Weitere Arbeiten zur Scheidung – ein von der historischen Demographie bisher vernachlässigtes Gebiet –, zum Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern im 15. und 16. Jahrhundert, zum Selbstmord, zum Kindsmord, zum Tod werden hier nicht im Einzelnen angesprochen, um den Wechsel von der historischen Demographie, die in der großen Mehrheit der Fälle sich nie mit reinem Zahlenwerk und spezialistischer Detailanalyse begnügt hat, zur Kulturgeschichte zu verdeutlichen.114 Die we111 Justin Stagl über Arthur E. Imhof (Hg.): Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. München 1983, in: VSWG 72 (1985), S. 113 f. 112 Christoph Conrad über Angus McLaren: Reproductive Rituals: The perception of fertility in England from the sixteenth to the nineteenth century (University Paperbacks 875). London/ New York 1984, in: VSWG 73 (1986), S. 282 f. 113 Rolf Gehrmann über James Woycke: Birth control in Germany 1871–1933. London/New York 1988, in: VSWG 79 (1992), S. 230 f. 114 Peter Borscheid über Mathias Beer: Eltern und Kinder des späten Mittelalters in ihren Briefen. Familienleben in der Stadt des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung Nürnbergs (1400–1550) (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 44). Nürnberg 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 421 f.; Peter Borscheid über Otto Ulbricht: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 18). München 1990, in: VSWG 79 (1992), S. 232 f.; Barbara Wolf-Braun über Michael MacDonald/ Terence R. Murphy: Sleepless souls. Suicide in early modern England. Oxford 1990, in: VSWG 79 (1992), S. 399–401; Kurt Kluxen über Lawrence Stone: Road to divorce. England 1530–

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nigen, noch nach 1990 erschienenen Arbeiten zur historischen Demographie wurden bereits erwähnt. 3.2 Anthropometrische Forschungen Noch eine Rezension von 1963 machte deutlich, in welchem historischen Konnex anthropologische Forschungen standen: Karl Valentin Müller lobte den Überblick Hubert Walters über die Bevölkerungs- und Volksgeschichte. Er resümierte als Ergebnis dieser „Untersuchung der rassischen Verhältnisse der herkunftsmäßig gemischten Bevölkerung“: „Kein Schmelztiegel also, sondern ein Siebwerk für die nach sozialer Bewegungsfähigkeit laufend überprüften genischen Elemente.“115 Hier scheint noch das erbbiologische und sozialdarwinistische Argument durch, das für die nationalsozialistischen Beiträge zur Bevölkerungsgeschichte und -wissenschaft bestimmend war. So sehr Fragestellungen sich gewandelt haben, so bleibt zumindest eine eng mit den erbbiologischen Vorstellungen verhaftet: die der Erblichkeit z. B. von Krankheiten oder von Langlebigkeit. Trotz der Ansätze von Eckart Voland stecken solche Forschungen noch ganz in den Anfängen, wären aber mit aktuellen Forschungen zur Langlebigkeit gut zu verknüpfen.116 Wie dargestellt, geht es heute um ganz andere Zusammenhänge: vor allem um die Bezüge zur gewerblichen Entwicklung, zur Industrialisierung und der damit zusammenhängenden Verbesserung der materiellen Versorgung. Längenwachstum, wie es in Musterungsakten festgehalten wurde, kann als Indikator für eine sozioökonomische Situierung gelten, da Krankheiten, Ernährung, Lebensführung sich im Längenwachstum manifestieren. Reinhard Spree hat weitere methodische Zweifel formuliert, aber zugleich darauf hingewiesen, dass die entsprechenden Zusammenhänge ausreichend geprüft wurden. Auch die Regressionsmodelle, mit denen 1987. Oxford 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 256–258; Peter Borscheid über Lawrence Stone: Uncertain Unions. Marriage in England 1660–1753. Oxford 1992, in: VSWG 82 (1995), S. 543 f.; Robert Jütte über Vera Lind: Selbstmord in der frühen Neuzeit. Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 146). Göttingen 1999, in: VSWG 88 (2001), S. 85 f.; Marie-Elisabeth Hilger über Heike Düselder: Der Tod in Oldenburg. Sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen zu Lebenswelten im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34; Quellen und Untersuchungen zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit 20). Hannover 1999, in: VSWG 88 (2001), S. 86 f. 115 Karl Valentin Müller über Hubert Walter: Untersuchungen zur Sozialanthropologie der Ruhrbevölkerung (Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde, Reihe 1, Heft 12). Münster 1962, in: VSWG 50 (1963), S. 280 f.; zur Volksgeschichte und den nationalsozialistischen Beiträgen zur Bevölkerungsgeschichte vgl. die Langfassung dieses Beitrages (wie Anm. 10). 116 Eckart Voland/Claudia Engel: Women’s reproduction and longevity in a premodern population (Ostfriesland, Germany, 18th century), in: Anne E. Rasa/Christian Vogel/Eckart Voland (Hg.): The Sociobiology of Sexual and Reproductive Strategies. London/New York 1989, S. 194– 205.

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die Daten von Männern geschätzt wurden, die die vorgeschriebene Mindestgröße nicht erreichten, scheinen ihm plausibel, weswegen er die Daten als repräsentativ für die Unterschichten der Zeit ansieht. Bemerkenswert an den Ergebnissen ist, dass ein Ende des 18. Jahrhunderts in England beginnendes Größenwachstum zwischen 1830 und 1890 nicht anhielt, sondern erst spät in beständiges Wachstum überging. Anpassungsschwierigkeiten – auch soziale – an die städtische Umwelt und fehlende Assanierung der Städte scheinen mögliche Gründe für diese Stagnation zu sein, da gleichzeitig die Reallöhne stiegen.117 Bemerkenswert ist außerdem, dass Körperlängen in abgelegenen ländlichen Gebieten nachweislich größer waren, da diese Bevölkerungen wegen besserer Ernährung und geringerer Exposition gegenüber Krankheiten in ihrem Körperwachstum weniger beeinträchtigt waren.118 Methodisch kritisiert Bernard Harris an den anthropometrischen Arbeiten, dass bereits die Aufbereitung des Materials soviel Arbeit erfordere, dass die Einbettung der Ergebnisse in größere Zusammenhänge häufig nicht gelinge, ein Argument, das auch hinsichtlich der historischen Demographie bereits vorgebracht worden ist.119 Gleichwohl zeigen vor allem die Forschungen von John Komlos, dass der Anspruch anthropometrischer Forschung weiter geht und in ein Modell der industriellen Revolution mündet, in dem die Bevölkerungsgeschichte eine zentrale Rolle spielt.120 Er und Marc Artzrouni legen ein nichtlineares, stochastisches Modell vor, dessen Ziel es ist, die Konzepte von Malthus und Esther Boserup miteinander zu verbinden.121 Das Modell soll die Zeit der Agrargesellschaft von der neolithischen bis zur industriellen Revolution erfassen, eine Zeit, in der die Bevölkerungsentwicklung unstetig verläuft, Wachstum sich langsam vollzieht und die vorindustrielle Wirtschaftsentwicklung statisch bleibt. Fünf Merkmale werden einbezogen: Bevölkerung (Arbeitskraft in der Landwirtschaft und in Gewerbe/Handel/Dienstleistung), Kapitalstock (Land, Human-, Sachkapital, Wissen, Infrastruktur, Institutionen), technischer Fortschritt, Subsistenz (Existenzminimum) und Sparquote.122 Erste Tests, die noch weitergeführt werden müssen, ergeben: „Zusammenfassend haben wir ein plausibles Modell aufgestellt, das mit fünf charakteristischen Merkmalen des vorindustriellen Wirtschaftswachstums in Europa übereinstimmt. Es ist das erste Wachstumsmodell, mit welchem die demographische Entwicklung der Welt 117 Reinhard Spree über Roderick Floud/Kenneth Wachter/Annabel Gregory: Height, health and history. Nutritional status in the United Kingdom, 1750–1980. Cambridge 1990, in: VSWG 79 (1992), S. 401–404; außerdem: Franz Mathis über John Komlos: Nutrition and economic development in the eighteenth-century Habsburg monarchy. An anthropometric history. Princeton 1989, in: VSWG 79 (1992), S. 210 f.; Christian Pfister über John Komlos: The biological standard of living in Europe and America, 1700–1900. Studies in anthropometric history. Aldershot 1995, in: VSWG 86 (1999), S. 402 f. 118 Sidney Pollard über John Komlos (Hg.): Stature, living standards and economic development. Essays in anthropometric history. Chicago/London 1994, in: VSWG 82 (1995), S. 527 f. 119 Bernard Harris über John Komlos (Hg.): The biological standard of living on three continents. Further explorations in anthropometric history. Boulder 1995, in: VSWG 83 (1996), S. 554 f. 120 Komlos/Artzrouni, Simulationsmodell (wie Anm.1); erweitert um eine kritische Analyse bisheriger Konzepte zur industriellen Revolution: Komlos, Überblick (wie Anm. 1). 121 Ebd., S. 324. 122 Ebd., S. 327–332.

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verfolgt werden kann und das in der Lage ist, die demographisch-industrielle Revolution des späten 18. und 19. Jahrhunderts ohne eine sprunghafte Verschiebung der Produktionsfunktion zu simulieren. Unser Modell ist fähig, die industrielle Revolution in einem zeit-invarianten Prozess durch langsame aber beständige Kapitalakkumulation zu erzeugen. Das Bevölkerungswachstum ist hierbei zwar die unmittelbare Ursache der industriellen Revolution, die erbrachten Leistungen der vorangegangenen Jahrtausende liefern jedoch die Voraussetzung dafür, dass die Dynamik der Wirtschaft, die durch das Bevölkerungswachstum ausgelöst wurde, in Gang gehalten werden kann.“123 3.3 Sozialgeschichte der Medizin und historische Epidemiologie Es ist erstaunlich, dass ein Thema, das vornehmlich als Sozialhygiene einmal zu den wichtigen Forschungsthemen in Deutschland um 1900 gehörte, lange Zeit vollkommen aus dem Blickfeld geraten ist. Wie Hans Jürgen Teuteberg noch 1980 bemerkte, ist die Medizingeschichte lange Zeit eine Dogmengeschichte geblieben – von Ärzten für Ärzte geschrieben –, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte habe medizingeschichtliche Fragestellungen nicht wahrgenommen.124 Anfänglich konzentrierte sich die bevölkerungsgeschichtliche Diskussion vornehmlich auf die großen Epidemien, allen voran die Pest, sowie in Deutschland um die Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjährigen Krieg.125 Die Beachtung anderer Erkrankungen, z. B. typhoider Krankheiten und der Cholera, begann erst mit der Wiederentdeckung der alten sozialhygienischen Fragestellungen. Staatliche und kommunale Politik spielten hier eine erhebliche Rolle, so dass politisches und Verwaltungshandeln teil123 Ebd., S. 337 f. 124 Hans J. Teuteberg über Arthur E. Imhof/Øivind Larssen: Sozialgeschichte der Medizin. Probleme der Quellenbearbeitung in der Sozial- und Medizingeschichte. Oslo/Stuttgart 1975, in: VSWG 67 (1980), S. 261 f.; Werner Conze über Arthur E. Imhof (Hg.): Biologie des Menschen in der Geschichte. Beiträge zur Sozialgeschichte der Neuzeit aus Frankreich und Skandinavien (Kultur und Gesellschaft 3). Stuttgart 1978, in: VSWG 68 (1981), S. 270 f. 125 Erich Keyser: Neue deutsche Forschungen über die Geschichte der Pest, in: VSWG 44 (1957), S. 243–253, mit Hinweisen auf Arbeiten von Karl Halleiner, M. Postan, Erich Woehlkens, Heinrich Reinke, Karl Kisskalt sowie hinsichtlich der Wüstungsforschung Friedrich Lütge, Wilhelm Abel und Heinz Polendt; Franz Mathis über Silvio Bucher: Die Pest in der Ostschweiz (119. Neujahrsblatt des Historischen Vereins des Kantons S. Gallen). St. Gallen 1979, in: VSWG 68 (1981), S. 263; Robert Jütte über Manfred Vasold: Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. München 1991, in: VSWG 79 (1992), S. 397 f.; Kurt Kluxen über Paul Slack: The impact of plague in Tudor and Stuart England. Oxford 1990, in: VSWG 79 (1992), S. 398 f.; Robert Jütte über Terence Ranger/Paul Slack (Hg.): Epidemics and ideas. Essays on the historical perception of pestilence. Cambridge 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 393 f.; Norbert Ohler über Frank Hatje: Leben und Sterben im Zeitalter der Pest. Basel im 15. bis 17. Jahrhundert. Basel/Frankfurt 1992, in: VSWG 81 (1994), S. 264 f.; Philipp R. Schofield über Rosemary Horrox (Hg.): The black death. Manchester/New York 1994, in: VSWG 82 (1995), S. 542 f.; vgl. auch Ragnhild Münch über Martin Dinges/Thomas Schlich (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 6). Stuttgart 1995, in: VSWG 83 (1996), S. 555 f.

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weise stärker im Vordergrund standen als bevölkerungsgeschichtliche Fragestellungen.126 Das gilt nicht für die Studie von Jörg Vögele, der sich der epidemiologischen Transition, speziell den Ursachen des Mortalitätsrückgangs in den Städten zuwendet. Nach lange üblicher Meinung waren die Fortschritte der Medizin und der medizinischen Versorgung für den Rückgang der Mortalität verantwortlich. Dagegen behauptet Thomas McKeown, dass die Sterblichkeit aufgrund bestimmter Krankheiten bereits zurückgeht, bevor wirksame Therapien entwickelt werden mit Ausnahme der Kuhpocken, die aber keine nennenswerte zahlenmäßige Wirkung gehabt hätten; verantwortlich für den Mortalitätsrückgang sei die Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere der Ernährung. Vögele will am Beispiel der städtischen Entwicklung, die Thomas McKeown wenig beachtet, zeigen, dass öffentliche Gesundheitsfürsorge und sanitäre Reformen im Laufe des 19. Jahrhunderts einen bisher unterschätzten Beitrag zum Mortalitätsrückgang geleistet haben.127 Die städtischen Sterberaten lagen bis Ende des 19. Jahrhunderts zumeist über den Werten für ländliche Regionen (urban penalty). Die differentielle Sterblichkeit, was Geschlechts- und/oder Altersunterschiede betrifft, war erheblich; die Säuglingssterblichkeit ging in den Städten früher zurück als auf dem Lande.128 Todesursachen zeigen das Vorherrschen der Krankheiten der Atmungs- (Tuberkulose) und der Verdauungsorgane, doch ist die Zunahme der modernen Todesursachen (Herz, Kreislauf, Krebs) bereits erkennbar. Der Anteil der Krankheiten der Verdauungsorgane an den Todesursachen sinkt in den Städten signifikant stärker als auf dem Land. Da diese Krankheiten in erheblichem Maße umweltbedingt sind, werden die städtischen Assanierungsmaßnahmen wichtig. Vor allem am Beispiel der Stadt Hamburg lässt sich gut belegen, wie mit Abschluss dieser Maßnahmen nicht nur die Sterblichkeit aufgrund von Abdominaltyphus und Verdauungskrankheiten, sondern auch die Kindersterblichkeit sank.129 Fazit: Die Assanierung ist ein äußerst wichtiger Faktor des Mortalitätsrückgangs, aber die Verbesserung des Lebensstandards müsste in eine differentielle Betrachtung einbezogen werden.130 126 Erich Keyser: Besprechung von Louis Chevalier (Hg.): Le choléra, la première epidémie du XIXe siècle. La Roche-s.Yon 1958, in: VSWG 46 (1959), S. 571 f.; zu Richard J. Evans vgl. Anm. 80; Ragnhild Münch über Barbara Dettke: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/ 1831 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 89). Berlin/New York 1995, in: VSWG 83 (1996), S. 555 f., und über Michael Stolberg: Die Cholera im Großherzogtum Toskana. Ängste, Deutungen und Reaktionen im Angesicht einer tödlichen Seuche. Landsberg 1995, in: VSWG 83 (1996), S. 557 f.; auch Slack (wie Anm. 125) bemerkt, dass die Ausweitung der kommunalen Befugnisse zur Eindämmung der Pest beigetragen habe; bevölkerungsgeschichtlich sind die geringen langfristigen Auswirkungen auf die betroffenen Bevölkerungen bemerkenswert; dafür sind die sozioökonomischen Folgen erheblich. 127 Vögele, Sanitäre Reformen (wie Anm. 1), S. 345 f. 128 Ebd., S. 349–352. 129 Ebd., S. 352–363. 130 Ebd., S. 364 f.; vgl. die verwaltungs- und politikgeschichtliche Untersuchung in der Besprechung von Reinhard Spree über Peter Münch: Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 49). Göttingen 1995, in: VSWG 83 (1996), S. 90–92.

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Niemand anderer als Imhof hat in Deutschland nach 1945 allererst zur Zusammenführung der Fragestellungen von Medizingeschichte und historischer Demographie beigetragen. Nach Antje Kraus geht es um den „Einfluß exogener Faktoren auf die Gesundheit wie z. B. Wohnungs- und Arbeitsverhältnisse, Wasserversorgung, soziale Position, alters- und geschlechtsspezifische Ungleichheiten, nach Einstellungs- und Verhaltensweisen erkrankter Menschen, nach Art und Methoden des Heilpersonals und der Medikation sowie nach der Organisation und Handhabung des öffentlichen Gesundheitswesens in Europa seit dem 16. Jahrhundert.“131 Die neueren Arbeiten, darunter so bedeutsame wie die von Robert Jütte und Alfons Labisch, können an diese frühen Ansätze einer Sozialgeschichte der Medizin anknüpfen.132 Die Veröffentlichungen Imhofs zur Säuglingssterblichkeit und zur Lebenserwartung waren beispielgebend für viele Untersuchungen dieser Art. Als einer der Ersten hat Imhof nicht nur auf die Bezüge zur Sozialhygiene um 1900 aufmerksam gemacht, sondern auch auf eine Quellengattung, die in erheblichem Maße zur Klärung von Fragen der täglichen Lebensführung und Hygiene der armen Bevölkerung beitragen kann: die sogenannten medizinischen Topographien. Wolfgang Zorn beschreibt den Weg der staatlichen Gesundheitsaufsicht von den ersten Verordnungen (Baden-Durlach 1767) und medizinischen Topographien bis in das 19. Jahrhundert, als in Deutschland in großer Zahl schriftliche bzw. gedruckte Topographien erschienen.133 131 Antje Kraus über Arthur E. Imhof (Hg.): Mensch und Gesundheit in der Geschichte (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 39). Husum 1980, in: VSWG 68 (1981), S. 126. 132 Ulrich Knefelkamp über Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München/Zürich 1991, in: VSWG 79 (1992), S. 397; Ragnhild Münch über Roger French/Andrew Wear (Hg.): British Medicine in an age of reform. London/New York 1991, in: VSWG 80 (1993), S. 105 f.; Andrew Wear (Hg.): Medicine in society. Historical essays. Cambridge 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 196 f., und Roy Porter: Doctor of society. Thomas Beddoes and the sick trade in late-enlightment England. London/New York 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 107 f.; Peter Borscheid über Bettina Wischhöfer: Krankheit, Gesundheit und Gesellschaft in der Aufklärung. Das Beispiel Lippe 1750–1830 (Forschungsberichte des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik 19). Frankfurt a. M./New York 1991, in: VSWG 80 (1993), S. 108; Robert Jütte über Alfons Labisch: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit. Frankfurt a. M./New York 1992, in: VSWG 80 (1993), S. 109; Robert Jütte über Marlene Ellerkamp: Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 95). Göttingen 1991, in: VSWG 83 (1996), S. 249 f. 133 Zorn, Medizinische Volkskunde (wie Anm. 1); vgl. auch: Wolfgang Zorn über Jan Brügelmann: Der Blick des Arztes auf die Krankheit im Alltag 1779–1850. Medizinische Topographien als Quelle für die Sozialgeschichte des Gesundheitswesens. Köln 1983, in: VSWG 71 (1984), S. 94 f.; Eckart Schremmer über Monika Bermeier: Wirtschaftsleben und Mentalität. Modernisierung im Spiegel der bayerischen Physikatsberichte 1858–1862 (Mittelfranken, Unterfranken, Schwaben, Pfalz, Oberpfalz) (tuduv-Studien: Reihe Sozialwissenschaft 49). München 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 410–412; Peter Borscheid über Hedwig Schwanitz: Krankheit – Armut – Alter. Gesundheitsfürsorge und Medizinalwesen in Münster während des 19. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, N.F. 14). Münster 1990, in: VSWG 78 (1991), S. 240 f., mit Bezug zur Medizinalordnung von 1777 zu Johann

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Einen zusammenfassenden Überblick über die bisherigen Entwicklungen geben Labisch und Spree. Sie resümieren: „Die Sozialgeschichte der Medizin ist in Deutschland eine lebendige Disziplin geworden. Sie hat an institutioneller und thematischer Breite und Vielfalt gewonnen. […] Dagegen gibt es kaum Beziehungen zur Soziologie und zur Ökonomie, obwohl neue Schwerpunktthemen wie öffentliche Gesundheit, Sozialstaat oder das Krankenhaus die Kooperation mit diesen Disziplinen nahe legen. Schwächer geworden sind auch die Impulse vonseiten der Historischen Demographie. Aber diese fristet in Deutschland sowieso ein Schattendasein.“134 4. Schlussbemerkung Patrice Bourdelais blickte 1996 auf mehr als dreißig Jahre Forschung zur historischen Demographie in Frankreich zurück.135 Ohne im Einzelnen zu begründen, auf welchen Gebieten der von ihm festgestellte Mangel an Erkenntniszuwachs hinsichtlich der auf Familienrekonstitution aufbauenden Arbeiten zu verzeichnen ist, nennt er drei Gebiete, die aktuell und für die Zukunft bedeutsam bleiben: die Möglichkeit, dichte soziale Netze in langen Generationenabfolgen zu rekonstruieren, die Geschichte der Familie als eines dynamischen Konzeptes und die Sozialgeschichte der Medizin. Diese drei Vorschläge decken sich mit den geschilderten aktuellen Entwicklungen der historischen Forschung. Für die Sozialgeschichte der Medizin könnte insbesondere Material über Mortalität und Morbidität zu weiteren Erkenntnissen führen. Auch anthropometrische und auf biologischen Fragestellungen beruhende Forschungen (Erblichkeit bestimmter körperlicher Merkmale) bleiben weiterhin wichtig, soweit solche Forschungen nicht in Naturalismus und Determinismus verfallen. Genealogische Untersuchungen sind für die Erkennung langfristiger sozialer Entwicklungen von großem Wert, wie die Forschungen vor allem der Mitterauer-Schule gezeigt haben. Schließlich ist die stärkere Berücksichtigung geographischer, ökonomischer und demographischer Modelltheorien in der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zu fordern. Auf diese Weise könnte die historische Demographie in Deutschland wiederum wichtige Beiträge nicht nur zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte leisten, sondern auch zur Erweiterung der historischen Perspektive der verwandten systematischen Disziplinen. Jedem, der sich der mühevollen Arbeit der Familienrekonstitution unterzogen hat, ist klar, dass dieser Aufwand selten lohnt, um die wenigen gesicherten Daten zur Bevölkerungsgeschichte eines meist kleinen Ortes präsentieren zu können. VielPeter Frank: System einer vollständigen medizinischen Polizey. 1779–1788; Paul Weindling über Jens Lachmund/Gunnar Stollberg (Hg.): The social construction of illness. Illness and medical knowledge in past and present (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 1). Stuttgart 1992, in: VSWG 81 (1994), S. 263 f., mit diskurstheoretischen Ansätzen. 134 Labisch/Spree, Neuere Entwicklungen (wie Anm. 1), S. 320. 135 Pour un renouvellement de la démographie historique, in: Annales de Démographie historique 1996, S. 9–11.

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mehr lohnt sich diese Arbeit nur, wenn zugleich die soziale Reproduktion miterfasst wird, wenn zusätzlich zu den bevölkerungsgeschichtlichen Quellen solche der Sozial-, Wirtschafts-, Kulturgeschichte ausgewertet und in eine sogenannte dichte Beschreibung eingebracht werden, ein Verfahren, das in den Arbeiten von Medick und Schlumbohm vorbildlich vorgeführt wurde. Doch wer will heutzutage solch zeitaufwendige Arbeit auf sich nehmen? Und: Haben die Detailstudien die Theorie der Protoindustrialisierung weitergebracht? Die Zweifel daran überwiegen. Die bisherigen Überlegungen zeigen zugleich, dass die Fragestellung selbst wichtig bleibt, dass aber in Deutschland ohne eine konzentrierte und konzertierte Anstrengung die bevölkerungsgeschichtliche Forschung das von Labisch und Spree diagnostizierte Schattendasein weiterführen wird. Wie diese Forschung organisiert sein könnte, soll hier nicht erörtert werden. Dass die VSWG im Gegensatz zur bisherigen Tradition ein Motor dieser Forschung sein sollte, wäre eine wichtige Forderung.

Günther Schulz SOZIALGESCHICHTE Sozialgeschichte ist ein schwieriger Begriff. Werner Conze definierte ihn 1962 als „Geschichte der Gesellschaft, genauer der sozialen Strukturen, Abläufe und Bewegungen“1 doch ganz zufrieden kann man damit nicht sein. Es macht die Sozialgeschichte aus, dass sie „das Soziale“ in historischer Perspektive untersucht.2 Einfacher ist es, zu bestimmen, was Sozialgeschichte nicht ist. Sie ist weder auf die Geschichte der sozialen Frage oder einzelner Schichten oder Gruppen begrenzt, noch ist sie – nach der berühmten Definition von George M. Trevelyan – „history of a people with the politics left out“.3 Moderne Sozialgeschichte umfasst – ähnlich wie die Wirtschaftsgeschichte – als Sammelbegriff, doch mit spezifischer – eben sozialgeschichtlicher, auf die Gesamtgesellschaft bezogener – Akzentuierung die meisten Gegenstände, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes behandelt werden: Die Geschichte der Bevölkerung und des Alters, Frauen-/Gender-, Agrar-, Unternehmens- und Handelsgeschichte etc. sind stets auch Sozialgeschichte. Freilich wird Sozialgeschichte im folgenden Beitrag nicht als partikularer, sondern als umfassender Begriff benutzt, der die Strukturen und den Wandel der Gesamtgesellschaft, ihrer Schichten und Gruppen in den Mittelpunkt rückt, die Formen der Gesellung und Organisierung, die Verbände zur Organisation der Interessen, die gesellschaftliche Lage und die Konflikte. Sozialgeschichte hat auf Grund ihres umfassenden Ansatzes stets eng mit anderen Disziplinen kooperiert. Die engste Verbindung bestand und besteht zwischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Dies galt und gilt gleichermaßen in inhaltlicher und methodischer Hinsicht wie in institutioneller und personeller. Die „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, die „Gesellschaft für Sozial- und 1

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Werner Conze: Sozialgeschichte, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 6. Tübingen 1962, S. 169–176, hier 169. – Für Unterstützung bei der Literaturrecherche für den vorliegenden Beitrag danke ich Herrn Phillip-Alexander Harter. Zur Entwicklung des Fachs bzw. des Interesses an der Sozialgeschichte siehe Jürgen Kocka: Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945. Aufstieg – Krise – Perspektiven. Vortrag auf der Festveranstaltung zum 40jährigen Bestehen des Instituts für Sozialgeschichte am 25. Oktober 2002 in Braunschweig. Bonn 2002; ders.: Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme. 2. Aufl., Göttingen 1986; Gerhard A. Ritter: Die neuere Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Kocka (Hg.): Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Darmstadt 1989, S. 19–88; zur Entwicklung der europäischen Sozialgeschichte vgl. Peter N. Stearns (Hg.): Encyclopedia of European Social History from 1350 to 2000. New York 2001. George M. Trevelyan: Illustrated English Social History. London/Toronto/New York 1951, S. XI. – Sozialgeschichte wurde in älteren Definitionen oft als Geschichte der Klassen und insbesondere der Arbeiterklasse verstanden, so z. B. die Definition von Ernest Labrousse „l’histoire des classes et des groupes“, in: Atti del X. Congresso internazionale die Scienze storici, Rom 4 –11 September 1955, S. 593.

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Wirtschaftsgeschichte“ und zahlreiche Professuren tragen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gemeinsam im Namen.4 Des Weiteren bestehen enge Verbindungen zu zahlreichen anderen Disziplinen, darunter zur Soziologie, zur Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft, zur Volkskunde und Kulturgeschichte, zur Anthropologie und Sozialpsychologie. I. Die Ursprünge und Anfänge a. Bis zum Ende des Kaiserreiches Als Buchtitel und als Bezeichnung eines wissenschaftlichen Fachs bzw. seines Gegenstandes ist „Sozialgeschichte“ – offenbar aus dem angelsächsischen und österreichischen Sprachraum kommend – in Deutschland erst im ausgehenden 19. Jahrhundert greifbar.5 Der Sache nach aber ist die Sozialgeschichte viel älter. Sie hat im 19. und frühen 20. Jahrhundert vier wichtige Wurzeln: Erstens solche Autoren, die an der sozialen Frage interessiert und häufig auch sozial engagiert waren. Als Beispiel seien Lorenz von Stein und seine „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“ genannt, die stark von der Französischen Revolution beeinflusst war.6 Auch Marx und der Marxismus verschafften dem „Sozialen“ gewaltige Schubkraft und schärften das Instrumentarium der Analyse, doch die – im engeren Sinne – politische Aufladung war für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialhistorischen Themen hinderlich. Freilich war insbesondere die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung stets eine wichtige, häufig gesellschaftskritische Traditionslinie der deutschen Sozialgeschichte. Die zweite Wurzel ist der Streit in der deutschen Geschichtswissenschaft um und mit Karl Lamprecht in den 1890er Jahren; er betraf teils inhaltliche, teils methodisch-handwerkliche Fragen. Lamprechts methodischer Ansatz einer auf einem allgemeinen Kulturbegriff aufbauenden deutschen Geschichte wurde in Deutschland von den Fachhistorikern einhellig abgelehnt. Hingegen wurde sein kulturhistorischer Ansatz von den Vertretern der New History in den USA und der französischen Schule der „Annales“ aufgegriffen und weitergedacht.7 Im Ergebnis zog der 4

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Zur Verbindung zwischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte siehe Günther Schulz: Die neuere deutsche Wirtschaftsgeschichte: Themen – Kontroversen – Erträge der Forschung, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 1. Teilband: Wirtschaft. Stuttgart 1995, S. 400–425; Wolfram Fischer: Sozialgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklung und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Band I: Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1986, S. 53–67. Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ – Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900, in: VSWG 72 (1985), S. 457–475, hier 469. Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850). 3 Bände. Neudruck Darmstadt 1959. Siehe den Gedankengang und weitere Literatur bei Ritter, Die neuere Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 21 f. Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1859–1915). New Jersey 1993;

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Lamprecht-Streit die Trennungslinie zwischen der stärker auf die Politik im engeren Sinne und den Staat konzentrierten Allgemeinen und der Sozialgeschichte kräftiger durch. Etwa zur selben Zeit wie Lamprecht warfen – drittens – die Vertreter der jüngeren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie um Gustav Schmoller und Lujo Brentano sozialgeschichtliche Fragen auf. Doch dies blieb meist ein Nebenprodukt wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. In der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen beschränkten die Vertreter dieser Schule sozialgeschichtliche Fragen im Wesentlichen auf die Geschichte der sozialen Frage. Schmollers Auffassung, dass der Staat eine bedeutende Rolle für Wirtschaft und Gesellschaft spiele, führte nicht zu Staat und Gesellschaft umfassenden Fragestellungen.8 Auf dieser Schule aufbauend, doch in der Methodik weit über sie hinausgehend, bemühte sich Max Weber um einen universalhistorischen Zugang zur Geschichte der westlichen Gesellschaft – die vierte hier zu nennende Wurzel der heutigen Sozialgeschichte. Webers Ansätze wurden von den Fachhistorikern seiner Zeit nicht weiterverfolgt und wirkten stärker auf die Soziologie und die Politikwissenschaft als auf die Geschichte, befruchteten allerdings die deutsche sozialhistorische Forschung seit den späten 1960er Jahren stark, z. B. hinsichtlich der wissenschaftlichen Analyse- und Ordnungskriterien, der Typenbildung und der Methode des Vergleichs.9 b. In der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur Die Fachhistorie hielt während der Weimarer Republik weitestgehend an der Fokussierung auf Politik und Staat fest. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte blieb eine Randdisziplin. Zudem lag der Schwerpunkt der Forschung an den Lehrstühlen für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, von denen viele an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt waren, überwiegend auf der Wirtschaftsgeschichte, so dass Themen der Sozialgeschichte doppelt randständig waren. Freilich war die Einbindung in das Brückenfach „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ mit seinen institutionellen und personellen Möglichkeiten eine günstige Voraussetzung für die Weiterentwicklung zur modernen deutschen Sozialgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Daneben gewann die „Volksgeschichte“ seit den 20er Jahren an Bedeutung. Im Mittelpunkt solcher Untersuchungen stand nicht der Staat als politische Einheit, sondern die Ethnie. Die „Volkshistoriker“ untersuchten u. a. Wanderungen, soziale Strukturen, Siedlungs-, Einkommens- und Familienverhältnisse. Nicht wenige die-

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Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984; dies.: Karl Lamprecht und die Internationale Geschichtswissenschaft an der Jahrhundertwende, in: Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985), S. 417–464. Gustav von Schmoller: Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Band 1. Leipzig u. a. 1902. Siehe dazu Ritter, Die neuere Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 22 ff. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., Tübingen 2002; siehe dazu Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland (wie Anm. 2), S. 9–40; ders. (Hg.): Max Weber, der Historiker. Göttingen 1986.

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ser Forschungen standen im Kontext nationalkonservativer oder nationalsozialistischer Prägung. Dies sowie die Förderung solcher Forschungen durch das nationalsozialistische Regime diskreditierten diese Strömung nach 1945 völlig. Einige Forscher wie Otto Brunner, Theodor Schieder und vor allem Werner Conze gelangten allerdings durch die disziplinenübergreifende Forschung zu neuen Ansätzen. So verband Werner Conze in seiner Arbeit über die Deutschen im Baltikum die völkische Soziologie Hans Freyers sowie die statistischen und bevölkerungssoziologischen Methoden Gunther Ipsens mit Anleihen bei Geographie und Volkskunde und gelangte zu einer innovativen Zugangsweise zur Geschichte des Sozialen.10 Seit den 1990er Jahren diskutiert die Geschichtswissenschaft heftig über die Belastungen dieser Generation, die den späteren Aufbau der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik mitprägte.11 c. Die fünfziger Jahre In den 50er Jahren blieb die Sozialgeschichte zunächst weiterhin Randdisziplin. Gerhard Ritter forderte zwar bereits beim ersten Historikertag nach dem Krieg 1949 in München seine Kollegen zu „rückhaltlos kritischer Überprüfung unserer Traditionen“ auf, die Wirkungen des Appells waren jedoch vorerst begrenzt.12 Nur wenige Wissenschaftler griffen die Reformansätze auf. Hier ist vor allem Werner Conze zu nennen. Zusammen mit Kollegen wie Otto Brunner forderte er, die überkommene Hermeneutik solle sich mit analytischen Methoden verbinden. Conze lehnte sich dabei an den von Fernand Braudel geprägten Begriff der Strukturgeschichte an, ohne die Ansätze der Schule der „Annales“ völlig zu übernehmen.13 Unter Einbeziehung des Strukturbegriffs sollten die Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft miteinander verbunden und die Arbeit des Historikers auf das Ganze der Geschichte hin ausgerichtet werden. 10 Werner Conze: Die deutsche Volksinsel Hirschenhof im gesellschaftlichen Aufbau des baltischen Deutschtums, in: Auslandsdeutsche Volksforschung 1 (1937), S. 152–163. 11 Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und Völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945. Göttingen 1993; Winfried Schulze/OttoG. Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1999; Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften von 1931–1945. Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Die deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000; Lutz Raphael: Einleitung: Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte: Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945–1968, in: Ders. (Hg.): Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte. Die Anfänge der westdeutschen Sozialgeschichte 1945–1968 (Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung). Leipzig 2002, S. 7–11. 12 Gerhard Ritter: Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, in: HZ 170 (1950), S. 1–22, hier 2 f. 13 Conze sprach von einer „distanzierten Anlehnung“; dazu ders.: Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, in: Christoph Schneider (Hg.): Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Beispiele, Kritik, Vorschläge. Weinheim u. a. 1983, S. 73–81, hier 74; zur Strukturgeschichte siehe Werner Conze: Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, in: Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaft, Band 1. Düsseldorf 1957.

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Neben methodischen Neuansätzen und richtungweisenden Arbeiten14 hat die Sozialgeschichte Werner Conze vor allem ihre weitere Institutionalisierung zu verdanken. Er baute in Heidelberg das „Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ auf und war der spiritus rector des „Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte“.15 Dort arbeiteten Soziologen wie Freyer und Ipsen mit Historikern wie Conze, Brunner und Theodor Schieder zusammen.16 Der Letztere verband in Köln idealtypische Strukturanalyse mit narrativer Darstellung und äußerte sich in grundlegenden Aufsätzen zur Methodologie der Geschichtswissenschaft. Ferner wirkte er vor allem als akademischer Lehrer auf die deutsche Sozialgeschichte. Nicht allein Theodor Schieder und Werner Conze prägten die Sozialgeschichtsforschung der 1950er Jahre, innovativ und wirkungsvoll waren auch die Arbeiten von Wilhelm Treue über die Geschichte der Unternehmen, Technik und Naturwissenschaften, von Wolfram Fischer, Rudolf Stadelmann, Wilhelm Abel auf dem Gebiet der Agrargeschichte und von Friedrich Lütge – um nur diese zu nennen.17 In den 1950er Jahren wurden die Grundlagen für den Aufschwung der Sozialgeschichte in den 1960er Jahren gelegt. Bereits weiter war die Mediävistik, die schon lange sozialgeschichtliche Ansätze ebenso wie solche der Rechts-, Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte nutzte, um gesellschaftliche Gebilde unter Einschluss der sozialen und politischen Aktionen zu untersuchen.18

14 Conzes umfassenden Zugriff demonstriert z. B. sein wichtiger, mehrfach abgedruckter Aufsatz: Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: VSWG 41 (1954), S. 333–364. 15 Zur Gründung siehe Werner Conze: Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 1979, S. 23–32; siehe im einzelnen Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. München 2001. 16 Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland (wie Anm. 2), S. 9. 17 Exemplarisch seien genannt: Wilhelm Treue: Ilseder Hütte 1858–1958. Ein Unternehmen der eisenschaffenden Industrie. München 1958; Wolfram Fischer: Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung vor der industriellen Revolution. Berlin 1955; ders./Georg Bajohr (Hg.): Die soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung. Stuttgart 1967. Rudolf Stadelmann verstarb 1949, seine Werke wurden zum Teil post mortem von Wolfram Fischer veröffentlicht, so Rudolf Stadelmann/Wolfram Fischer: Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes. Berlin 1955; Wilhelm Abel: Agrarpolitik. 4 Bände. Salzgitter 1949–1967; ders.: Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum neunzehnten Jahrhundert. Stuttgart 1962; Friedrich Lütge: Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Nachdruck der 3. Aufl., Berlin 1979. 18 Otto Brunner problematisierte die europäische Sozialgeschichte vom Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, ohne sozialwissenschaftliches Instrumentarium, als zwei sich schneidende Kreise der Traditionalität und der Rationalität und verdeutlichte so bereits in den 1950er Jahren, dass die Mediävistik zu umfassenden Fragestellungen gekommen war; Otto Brunner: Sozialgeschichte Europas im Mittelalter. 2. Aufl., Göttingen 1984. Siehe dazu Stefan Weiß: Otto Brunner und das Ganze Haus oder Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 273 (2001), S. 335–369.

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II. Umbrüche und Erweiterung a. Die sechziger Jahre In den 1960er Jahren begann sich die Geschichtswissenschaft vom traditionellen Historismus ab- und neuen Modellen zuzuwenden. Neben Kontroversen über Inhalte – insbesondere über die Rätebewegung und den Weg in den Nationalsozialismus – kam eine Diskussion über Theorie- und Methodenfragen auf. Historiker der jüngeren Generation wie Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey kritisierten, die Geschichte habe gegenüber den Sozialwissenschaften ein Theoriedefizit.19 HansUlrich Wehler, Jürgen Kocka und andere reagierten mit der Entwicklung eines Konzepts von Geschichte als „Historischer Sozialwissenschaft“, das sich an die Forschungspraxis der Frankfurter Schule anlehnt und inhaltlich einen „emanzipatorischen“ Ansatz mit methodisch struktureller Analyse verbindet.20 Dabei gingen die Vertreter der „Historischen Sozialwissenschaft“ über die Ansätze der von Conze erarbeiteten Strukturgeschichte hinaus. Sie kritisierten, die Strukturgeschichte französischer Prägung, an der sich Conze orientierte, habe zu stark formalen Charakter. Die „Historische Sozialwissenschaft“ solle Hypothesen über das Zusammenwirken von Wirtschaft und Gesellschaft, Staat und Kultur und deren Veränderungen in der Geschichte erarbeiten.21 Die Veränderungen der sozialen und ökonomischen Prozesse, die für die Zeitgenossen oft kaum erkennbar waren, solle der Historiker oder „Historische Sozialwissenschaftler“ mit Hilfe von Theorien, deren Kategorien den Gegenwartskenntnissen entstammen, erschließen und so das Quellenmaterial strukturieren. Mehr noch als der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ beeinflusste Hans Rosenberg die Theoretisierung der Geschichte im Sinne der „Historischen Sozialwissenschaft“. Rosenberg, in den 1930er Jahren in die USA emigriert, lehrte 1949/50 als Gastprofessor an der Freien Universität Berlin. Seine schon früh entwickelten methodischen Ansätze fanden in den 1960er Jahren den Weg in die deutsche historische Debatte. Ähnlich erging es den Schriften Eckhardt Kehrs, Ernst Fraenkels und anderer. Vor allem Rosenberg und seine Rezeption durch Gerhard A. Ritter und dessen Schüler beeinflussten die deutsche Sozialgeschichte. Ritter lehrte in den 1960er Jahren am Otto-Suhr-Institut und scharte einen Kreis von Forschern, Schülern und Doktoranden um sich, darunter Jürgen Kocka, Hartmut Kaelble, Klaus Tenfelde, Marie-Luise Recker und Rüdiger vom Bruch.22 Die „Historischen Sozialwissenschaftler“ lösten mit ihren Forderungen umfangreiche Kontroversen aus. Die Gegner zweifelten an der Tragfähigkeit und Ange19 Hans-Ulrich Wehler: Sozialökonomie und Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 14 (1969), S. 344–374; Thomas Nipperdey: Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, in: VSWG 55 (1968), S. 145–164. 20 Der Begriff „Historische Sozialwissenschaft“ wurde erst zu Beginn der 1970er Jahre zum Feldzeichen der hier genannten Tendenzen. Dazu Wolfgang J. Mommsen: Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971, S. 33; Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1973. 21 Kocka, Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 48–51. 22 Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland (wie Anm. 2), S. 14.

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messenheit des Zugriffs. Inzwischen sind teils der Eifer und Unbedingtheitsanspruch geschwunden, mit dem das Konzept gelegentlich verbunden wurde; teils sind die aufs Strukturelle zielenden methodischen Ansätze akzeptiert worden; teils auch haben sich ereignis- und personenorientierte Zugriffe, allen strukturellen Bemühungen zum Trotz, behauptet und als zukunftsfähig erwiesen; teils schließlich haben sich konkurrierende Ansätze – wie die Alltagsgeschichte – etabliert und damit das Spektrum der konzeptionellen Optionen offengehalten und erweitert. In den 1960er Jahren griff die Sozialgeschichte weitere ökonomische und soziologische Theorien auf, wie die Theorie des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, die Theorie von den konjunkturellen Zyklen und die Klassen- und Konflikttheorien, um die Geschichte der Industrialisierung zu untersuchen. Vor allem die theoretischen Vorarbeiten von Karl Marx, Max Weber23 und Joseph A. Schumpeter wurden herangezogen, um die dynamische Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu untersuchen. Die Industrialisierung, die Klassenbildung, die politischen Organisationen und vor allem die Arbeiterschaft waren Ziel solcher Untersuchungen. Damit wurde begonnen, einen Rückstand gegenüber der internationalen Forschung aufzuholen, denn im Vergleich mit den USA, Großbritannien und Frankreich waren diese Themen von der deutschen Historiographie vernachlässigt worden. Ähnlich der amerikanischen und französischen Forschung wurden dazu nicht nur die bereits genannten theoretischen Modelle, sondern auch statistische Methoden systematisch genutzt.24 Die narrative Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft verhinderte jedoch eine starke Mathematisierung und Formalisierung im Stile der amerikanischen Kliometriker. Kritisch anzumerken ist, dass den gesellschaftlichen Beharrungskräften der Vormoderne erst wenig Beachtung geschenkt wurde. Auch die Verlierer der Industrialisierung wie Adel und Bauern wurden weit weniger untersucht als etwa Arbeiter und Unternehmer, zudem war eine deutliche Konzentration auf die deutsche Geschichte bemerkbar. Gemäß ihrer Anlehnung an die Soziologie und Philosophie der Frankfurter Schule fühlte sich die „Historische Sozialwissenschaft“ der Aufklärung der deutschen Gesellschaft vor dem Hintergrund der NS-Diktatur verpflichtet, so dass zahlreiche Arbeiten auf das Besondere an der Entwicklung Deutschlands fokussiert blieben.25 23 Exemplarisch setzte Jürge Kocka die idealtypische Methode Max Webers in seiner Dissertation ein: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung. Organisation und Herrschaft im Industriebetrieb des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1969. 24 Der Wirtschaftshistoriker Walther G. Hoffmann und seine Mitarbeiter unternahmen bereits vor 1965 den Versuch, konsistente lange Reihen wirtschaftlicher Grunddaten zu ermitteln. Walter G. Hoffmann: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1965; siehe dazu jetzt Rainer Fremdling/Reiner Stäglin: Die Industrieerhebung von 1936. Ein Input-Output Ansatz zur Rekonstruktion der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert – ein Arbeitsbericht, in: VSWG 90 (2003), S. 416– 428. 25 Thomas Kroll: Sozialgeschichte, in: Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaft. Eine Einführung. Frankfurt a. M. 2000, S. 149–161, hier 155 f. Die Debatte über einen deutschen Sonderweg während der Industrialisierung wurde maßgeblich angestoßen von Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871–1918. Göttingen 1973; dazu auch Thomas Nipperdey: Wehlers Kaiserreich, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neue-

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Zur selben Zeit wurden auch außerhalb der theoretischen Diskussion vermehrt sozialgeschichtliche Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft behandelt. Ein Beispiel sind die „Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte“, die seit den frühen 1960er Jahren unter dem Stichwort „Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit“ Aufstiegsprozesse seit dem ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit zu ihrem Gegenstand machen und Adel, Patriziat, leitende Beamte und weitere Gruppen untersuchen.26 Zudem nahm die Zahl der Foren für Sozialgeschichte in den 1960er Jahren zu. Ein wichtiges Forum für den fachinternen Austausch und eine Vertretung gegenüber der Öffentlichkeit erhielt die Sozialgeschichte 1961 durch Gründung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG).27 Günther Eckert veröffentlichte seit 1961 als Jahrbuch der Friedrich-Ebert-Stiftung das „Archiv für Sozialgeschichte“. Anfänglich noch stark auf Fragen der Arbeiterbewegung beschränkt, öffnete sich die Zeitschrift bald auch für andere sozialgeschichtliche Themen.28 Das Institut für Sozialgeschichte Bonn-Braunschweig, lange von Eckert geleitet, entwickelte sich parallel dazu zu einem wichtigen Diskussionsforum für sozialgeschichtliche Fragestellungen. An den Universitäten stieg das Interesse an Sozialgeschichte. An vielen Hochschulen wurden im Zuge des Ausbaus der 1960er Jahre Lehrstühle für Sozialgeschichte eingerichtet, meist in der traditionellen Verbindung mit der Wirtschaftsgeschichte. 1972 war die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an 23 von 38 in einer Erhebung erfassten Universitäten und Hochschulen verankert.29 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die deutsche Sozialgeschichte in den 1950er Jahren erst allmählich wieder Anschluss an die internationale Forschung fand. Dies betraf die methodischen und konzeptionellen Ansätze ebenso wie die institutionellen. Doch die Vorarbeiten begannen Wirkung zu entfalten, begünstigt vom Ausbau der Hochschulen und der dadurch bedingten Verjüngung der Historikerschaft. Sozialgeschichtliche Themen und Fragestellungen fanden zunehmend Interesse.

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ren Geschichte. Göttingen 1977, S. 360–389; Ritter, Die neuere Sozialgeschichte (wie Anm. 2), S. 52–58. Heute halten nur noch sehr wenige Historiker an der These von einem deutschen Sonderweg fest. Hellmuth Rössler (Hg.): Deutscher Adel 1430–1555. Darmstadt 1965; ders. (Hg.): Deutscher Adel 1555–1740. Darmstadt 1965; ders. (Hg.): Deutsches Patriziat 1430–1740 (Schriften zur Problematik der Deutschen Führungsschichten in der Neuzeit 1-3). Limburg/Lahn 1968; ders. (Hg.): Universität und Gelehrtenstand 1400–1800 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 4). Limburg/Lahn 1970; Günther Franz (Hg.): Beamtentum und Pfarrerstand 1400–1800 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 5). Limburg/Lahn 1972. Die GSWG wurde 1961 unter der Federführung von Friedrich Lütge, Wilhelm Abel, Hermann Kellenbenz und Hermann Hassinger in Frankfurt am Main als nationale Vereinigung der internationalen Gesellschaft für Wirtschaftsgeschichte gegründet. Lütge war ihr erster Vorsitzender. Vgl. Jörg Rode: Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1961–1998) (Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 84). Stuttgart 1998. Bisher erschienen 43 Bände und 22 Beihefte des Archivs für Sozialgeschichte. Denkschrift der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom November 1973 zur Lage und zu den Aufgaben der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland. Stand: Sommer 1972. Typoskript, S. 14.

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b. Die 1970er Jahre. Aufschwung und Kritik Die Entwicklungen, die in den 1960er Jahren begonnen hatten, beschleunigten sich im Folgejahrzehnt. Die Bemühungen um den Ausbau der Universitäten wurden verstärkt. An den vorhandenen Universitäten profitierten auch die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Institute von der Bereitstellung größerer Mittel, neue Universitäten wie Bochum (Eröffnung 1965) und Bielefeld (1969) kamen hinzu.30 Neue Zeitschriften entstanden – wie „Geschichte und Gesellschaft“ (1975), die zum Focus der „Historischen Sozialwissenschaft“ wurde. Große wissenschaftliche Werke wie das „Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ erschienen.31 Die Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung blieb weiterhin ein zentrales Forschungsfeld,32 doch wurde zunehmend auch die Entwicklung anderer Gruppen und Schichten untersucht. Die Angestellten und Handwerker standen im Mittelpunkt mehrerer empirischer Studien.33 Das erweiterte Forschungsfeld schloss zunehmend auch vorpolitische Phänomene ein. Struktur und Entwicklung einzelner Bevölkerungsgruppen und Minderheiten wurden von Sozialhistorikern ebenso untersucht wie beispielsweise die Bedeutung der Familie in der Gesellschaft.34 Das Interesse wandte sich zunehmend auch den Epochen vor der industriellen Revolution zu. Richtungweisend waren Wilhelm Abels Bücher „Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland“ und „Massenarmut und Hungerkri-

30 Zwischen 1960 und 1975 nahm die Anzahl der Lehrstühle für Geschichte von 80 auf 210 zu. Vgl. Wehler, Historische Sozialwissenschaft (wie Anm. 20), S. 31. 31 Die Planung für „Geschichtliche Grundbegriffe“, so der Obertitel des Lexikons, hatte im „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ bereits Ende der 1950er Jahre begonnen. Der erste Band erschien 1972. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bände. Stuttgart 1972–1997. 32 Einen Überblick über den Stand der Forschung Ende der 1970er Jahre gibt Hans Pohl: Arbeiterfragen im Industrialisierungsprozess, in: Ders. (Hg.): Forschungen zur Lage der Arbeiter. Stuttgart 1978, S. 7–20; siehe auch Klaus Tenfelde/Gerhard A. Ritter (Hg.): Bibliographie zur Lage der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung 1863–1914. Berichtzeitraum 1945–1975. Mit einer forschungsgeschichtlichen Einleitung. Bonn 1981. 33 Kocka, Unternehmensverwaltung (wie Anm. 23); Günther Schulz: Die Arbeiter und Angestellten bei Felten & Guilleaume. Sozialgeschichtliche Untersuchung eines Kölner Industrieunternehmens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 13). Wiesbaden 1979; ders.: Die industriellen Angestellten. Zum Wandel einer sozialen Gruppe im Industrialisierungsprozess, in: Hans Pohl (Hg.): Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870–1914) (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte NF 1). Paderborn u. a. 1979, S. 217–266; Wilhelm Abel: Handwerksgeschichte in neuer Sicht. 2. Aufl., Göttingen 1978; Wolfram Fischer: Das deutsche Handwerk in der Frühphase der Industrialisierung, in: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972, S. 315–337. 34 Exemplarisch Hans Pohl: Die Portugiesen in Antwerpen (1567–1648). Zur Geschichte einer Minderheit (VSWG, Beiheft 63). Wiesbaden 1977; Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Industrielle Welt 21). Stuttgart 1976; ders.: Sozialgeschichte der Familie, in: VSWG 65 (1978), S. 357–369.

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sen im vorindustriellen Europa“.35 Ohne auf die Theoriedebatte näher einzugehen, beeinflusste Abel die Sozialgeschichte, indem er die vorindustrielle Armut in das Blickfeld rückte. Die Erforschung der sozialen Probleme der Industriearbeiterschaft hatte zuvor den Eindruck erweckt, Armut sei ein Phänomen der Industriellen Revolution, gleichsam die Kehrseite des Kapitalismus. Abel zeigte die Kontinuität von Armut, die durch die Industrialisierung erst nach und nach überwunden wurde. Er beeinflusste durch seine profunden Quellenstudien nicht nur die Pauperismusforschung, sondern auch die Handwerks- und die Industriegeschichte – Forschungsgebiete, um die sich auch Schüler Abels sehr verdient gemacht haben.36 Die Elitenforschung, in den 1960er und frühen 70er Jahren vielfach misstrauisch betrachtet, fand allmählich wieder mehr Interesse, das Spektrum der Sozialgeschichte weitete sich auf weitere Schichten und Bevölkerungsgruppen aus.37 Diese „Sozialgeschichte in der Erweiterung“38 geriet jedoch in Gefahr, an ihren Rändern zu verschwimmen. Der britische Historiker Eric J. Hobsbawm zählte bereits 1971 Bevölkerungswandel und Verwandtschaftsbeziehungen, Stadtgeschichte und Urbanisierung, Klassen und soziale Gruppen, die Geschichte der Mentalitäten, des Kollektivbewusstseins und der Kultur in anthropologischem Sinn, die Veränderung der Gesellschaft, z. B. Modernisierung und Industrialisierung, sowie soziale Bewegungen und soziale Proteste zu den Forschungsfeldern der Sozialgeschichte.39 Sozialgeschichte hatte sich immer durch Differenz zur Politik- und Staatsgeschichte definiert. In dem Maße, in dem zunehmend sozialhistorische Fragestellungen auch in der politischen Geschichte aufgegriffen wurden, fehlte der Sozialgeschichte der Antipode. Die „Historische Sozialwissenschaft“ geriet stärker in die Kritik. Historiker wie Thomas Nipperdey, die sich selbst für neue Wege in der Methodik eingesetzt hatten, befürchteten eine Einschränkung der Geschichtswissenschaft, wenn man den hermeneutischen Zugang und den narrativen Charakter vollständig zu Gunsten einer an sozialwissenschaftlichen Modellen ausgerichteten Geschichtswissenschaft aufgeben würde.40 Man kritisierte an der „Historischen Sozialwissenschaft“ begriffliche Unklarheit und fürchtete, die Sozialwissenschaften würden die Geschichte 35 Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland. Göttingen 1972; ders.: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Göttingen 1974. 36 Siehe den Beitrag von Karl Heinrich Kaufhold: Gewerbe – Bergbau – Industrie in der Neuzeit im vorliegenden Band. 37 Herbert Helbig (Hg.): Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350–1850 (Teil 1) (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 6). Limburg/Lahn 1973; ders. (Hg.): Führungskräfte der Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert 1790–1914 (Teil 2) (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 7). Limburg/Lahn 1977; Jürgen Kocka: Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1975. 38 Werner Conze: Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), S. 501–508. 39 Eric J. Hobsbawm: From Social History to the History of Society, in: Daedalus 100 (1971), S. 20–45, hier 33, (deutsch: Von der Sozialgeschichte zur Geschichte der Gesellschaft, in: HansUlrich Wehler (Hg.): Geschichte und Soziologie. Köln 1972, S. 330–353, hier 341). 40 Thomas Nipperdey: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976.

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dominieren. Auch wenn sich die Befürchtung, die Geschichte werde zur Hilfswissenschaft der Sozialwissenschaften, nicht bewahrheitete, fehlt bis heute eine klare inhaltliche Bestimmung der „Historischen Sozialwissenschaft“ und eine klare Abgrenzung von den Sozialwissenschaften.41 Kritik und Erwiderung der „Historischen Sozialwissenschaft“ ließen es auf beiden Seiten nicht an Schärfe fehlen. Den Vertretern der „liberal-sozialdemokratischen Strömung“ (Wehler) wurde vorgeworfen, aus der „Historischen Sozialwissenschaft“ eine „Überwissenschaft“ machen zu wollen und zudem zu einem großen Teil neomarxistisches Gedankengut zu verbreiten, wozu die politische Ausrichtung der „Historischen Sozialwissenschaft“ ihren Teil beitrug.42 Die Erweiterung der Themen und der Mangel an definitorischer Klarheit erschwerten es der Sozialgeschichte, als Wissenschaft mit spezifischem Objekt und spezifischer Methodik aufzutreten, so dass Hobsbawm, der zu Beginn der 1970er Jahre die Erweiterung der Sozialgeschichte noch begeistert begrüßt hatte, knapp zehn Jahre später in ihr nur noch ein formloses Behältnis für alles von der Geschichte der menschlichen Körperlichkeit bis zur Geschichte von Symbolen und Riten, für die Geschichte des Lebens aller Menschen, vom Bettler bis zum Kaiser, sah.43 Einzelne Felder wie die Historische Demographie, die Familiengeschichte und die Stadtgeschichte entwickelten sich in Zusammenarbeit mit den Nachbardisziplinen der Ökonomie, Psychologie und Geographie ohne viel Bezug zur Theoriedebatte.44 Auch die, aus der Verbindung zur Wirtschaftsgeschichte herrührenden, sozialökonomisch geprägten Kategorien der Sozialgeschichte gerieten in die Kritik. Vor allem von Seiten der Frauengeschichte wurde kritisiert, dass der Mensch zunächst nicht Arbeiter, Angestellter oder Unternehmer sei, sondern Mann oder Frau.45 Die ursprünglich recht klaren „Fronten“ zwischen dem Historismus auf der einen Seite und der Sozial- (und Wirtschafts)geschichte auf der anderen hatten sich am Ende der 1970er Jahre aufgelöst. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hatte sich etabliert, sozial- und wirtschaftspolitische Themen fanden in überaus zahlreichen Studien Berücksichtigung, ohne dass sich alle Verfasser der „Historischen Sozialwissenschaft“ angeschlossen hätten. 41 Reinhard Rürup: Zur Einführung, in: Ders. (Hg.): Historische Sozialwissenschaften. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis. Göttingen 1977, S. 5–16. 42 Zur Debatte über die „Historische Sozialwissenschaft“ siehe Winfried Baumgart: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus, 1890–1914. Berlin 1971, S. 12; Andreas Hillgruber: Deutsche Geschichte 1945–1972. Berlin 1974, S. 182 ff.; Walther Hubatsch: Kaiserliche Marine. München 1975, S. 76 ff.; Wehler, Historische Sozialwissenschaft (wie Anm. 20), S. 35–40. 43 Eric J. Hobsbawm: The Revival of Narrative: Some Comments, in: Past and Present 86 (1980), S. 3–8, hier 5. 44 Siehe z. B. Arthur E. Imhof: Historische Demographie, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland, Band II: Entwicklung und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Göttingen 1986, S. 32–64; Hans Jürgen Teuteberg: Historische Aspekte der Urbanisierung: Forschungsstand und Probleme, in: Ders. (Hg.): Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Köln/Wien 1982, S. 2–32. 45 Anette Kuhn/Gerhardt Schneider (Hg.): Frauen in der Geschichte. Düsseldorf 1979; Ute Daniel: Bibliographie zur Sozialgeschichte von Frauen 1800–1914, in: Eva Walther (Hg.): „Schrieb oft von Mägdearbeit müde“. Lebenszusammenhänge deutscher Schriftstellerinnen um 1800. Schritte zur bürgerlichen Weiblichkeit. Düsseldorf 1985, S. 247–278.

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Die Bestrebungen, stärker quantifizierende Methoden in die Geschichtswissenschaft einzubinden, wurden in den 1970er Jahren erfolgreich institutionalisiert. Mit wirtschaftshistorischem Schwerpunkt, doch mit Wirkung auch für die Sozialgeschichte, entstand 1975 die „Arbeitsgemeinschaft für Quantifizierung und Methoden in der historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung“ (QUANTUM). Sie arbeitet interdisziplinär und international und wird dabei von dem 1977 gegründeten Kölner „Zentrum für Historische Sozialforschung“ unterstützt. Mit Tagungen, EDVSchulungen, Einführungen in die Methodik der Historischen Sozialforschung, ferner mit Hilfe einer neuen wissenschaftlichen Zeitschrift („Historical Social Research – Historische Sozialforschung“) und einer eigenen „Schriftenreihe historischsozialwissenschaftliche Forschungen“ wurde die Arbeitsgemeinschaft ein wichtiger Vermittler zwischen der empirisch-systematischen Sozialforschung und der Sozialgeschichte. Zusammenfassend ist zu sagen, dass der weitere Ausbau der Hochschulen in den 1970er Jahren der Historiographie wie vielen anderen Wissenschaften die Möglichkeit gab, ihr Spektrum zu erweitern; damit hielt die positive Entwicklung der 1960er Jahre an. Neue Forschungsfelder kamen hinzu, auch wenn der Schwerpunkt der Untersuchungen weiterhin auf der Organisation und Lage der Arbeiter und auf der Epoche der Industrialisierung lag. Gleichzeitig nahm die Anzahl der Veröffentlichungen und der Zeitschriften zu und verbreiterte das Spektrum der wissenschaftlichen Diskussion weiter. Die Zuordnung zu einzelnen „Schulen“ wurde schwieriger. Die deutsche Historikerschaft wurde heterogener. Die Sozialhistorie erfreute sich in den 1970er Jahren großen Interesses. Vor allem in der Bundesrepublik, die sich auch über ihren wirtschaftlichen Erfolg definiert hatte, war das Interesse an historischen Erklärungen aus sozialer (und wirtschaftlicher) Perspektive groß. III. Die 1980er und 1990er Jahre. Neue Wege – Neue Diskussionen Die 1980er und 1990er Jahre waren von Diskussionen über neue Wege geprägt. Diese Debatten waren ebenso kontrovers wie in den 1970er Jahren der Streit über das Konzept der „Historischen Sozialwissenschaft“. Sie können hier nur knapp skizziert werden.46 a. Die Oral History Befragungen und Interviews von „Zeitzeugen“ hatte es in der Geschichte immer gegeben. Sie wurden nun im Rahmen der Oral History zu einem eigenständigen, breiteren Ansatz, unter zunehmender Professionalisierung.47 Die Oral History oder Erfahrungsgeschichte war lange die Domäne von Geschichtswerkstätten und Lai46 Einen Überblick über die Entwicklungen der 1980er und 1990er Jahre im internationalen Rahmen gibt die Encyclopedia of European Social History (wie Anm. 2), S. 16–24. 47 Der Begriff wurde von Lutz Niethammer in Deutschland eingeführt. Vgl. Lutz Niethammer: Oral History in den USA. Zur Entwicklung und Problematik diachroner Befragungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 18 (1978), S. 457–501.

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enhistorikern, was ihr den Zugang zu den Hochschulen nicht erleichterte und einen Hauch von Unwissenschaftlichkeit gab.48 Vor allem wurde und wird kritisiert, dass die Oral History nicht nur eine subjektive Sicht der Geschichte dokumentiere, sondern auch die subjektive Sicht ihrer Betreiber. So wurde die Erfahrungsgeschichte vor allem von der Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre kritisiert und als kurzlebige modische Strömung abgetan.49 In der jüngsten Zeit wurde die Diskussion über die Oral History schwächer, weil sich die Auseinandersetzungen auf andere Themenfelder verlagerten. Die anfängliche Scheu vor der „unwissenschaftlichen“ Subjektivität hat sich zum Teil gelegt. Das Herausarbeiten besonderer quellenkritischer Verfahren, beispielsweise der Einsatz spezieller Interviewtechniken, machte erfahrungsgeschichtliche Quellen auch für professionelle Historiker zunehmend akzeptabel. Viele Historiker nutzen die Erfahrung von Zeitzeugen heute als ergänzende Quelle, vor allem in der Frauenforschung, der Minderheitenforschung, der Lokal- und Regionalgeschichte und überall dort, wo es wenig schriftliche Quellen gibt. Die Begeisterung, mit der manche die Oral History Anfang der 1980er Jahre begrüßten, hat dabei freilich ebenso an Kraft verloren wie die Kritik. Die Oral History hat die Geschichtswissenschaft und insbesondere die Sozialgeschichte ergänzt, sie aber nicht nachhaltig verändert.50 b. Alltagsgeschichte Gleichsam Prinzip zur Methode der Oral History ist die Alltagsgeschichte. Während die Oral History hauptsächlich auf eine methodische Ergänzung hinauslief, reichte der Ansatz der Alltagsgeschichte weiter. Er forderte nichts weniger als die Reindividualisierung der Geschichte. Nicht die großen Prozesse und Strukturen, wie Revolutionen, Industrialisierung und Kapitalismus, sollten untersucht werden, sondern der Alltag des Einzelnen. Wo die „Historische Sozialwissenschaft“ in erster Linie die Wirkung der Struktur auf das Ereignis untersuchte, wollte die Alltagsgeschichte die Wirkung des Ereignisses auf die Strukturen erforschen. Aus einzelnen Biographien und Ereignissen sollte auf die dahinter liegenden Strukturen geschlossen werden. Ziel war es, das Gesamte im Spiegel des Einzelnen zu erkennen. Biographien und Ereignisse, die die Historiker bislang als nicht geschichtsmächtig ein48 Die Wurzeln der Oral History liegen in den Geschichtswerkstätten genannten Zusammenschlüssen zwischen Laien und professionellen Historikern, die in den 1980er Jahren gegründet wurden und vor allem regionalgeschichtlich arbeiteten. Auch die Gewerkschaften unterhielten unter der Überschrift „Geschichte von unten“ Arbeitskreise, die erfahrungsgeschichtliche Elemente einbezogen. Darüber hinaus gab es viele lokale Arbeitskreise, die sich mit der Geschichte der jüngeren Vergangenheit im regionalen Rahmen beschäftigten und auf persönliche Erinnerungen als Quelle zurückgriffen. 49 Vgl. den Bericht über die 34. Versammlung der Historiker Deutschlands, Berlin 1984. Stuttgart 1985, S. 249 f. 50 Zur Entwicklung der Oral History siehe Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der Oral History. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1985; Alexander von Plato: Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „Mündlichen Geschichte“ in Deutschland, in: Konrad H. Jarausch/Jörn Rüsen/Hans Schleier (Hg.): Geschichte vor 2000. Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag. Hagen 1991, S. 418–440.

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gestuft hatten, dienten den Alltagshistorikern dazu, soziale Strukturen zu erkennen, insbesondere nichtstaatliche Machtstrukturen.51 Die zum Teil wenig sachlich geführte Diskussion um die Alltagsgeschichte zu Beginn der 1980er Jahre ließ den Ansatz revolutionärer erscheinen als er war.52 Das Interesse an individuellen Arbeitern, Bauern, Priestern, Frauen und Männern unterschied die „Alltagshistoriker“ zwar von der auf Strukturen konzentrierten Forschung der „Historischen Sozialwissenschaft“, nicht aber prinzipiell von der Mehrheit der Sozialhistoriker. Die Sozialgeschichte zählte immer auch die Biographie und die Geschichte des Alltags der Menschen zu ihrem Gegenstand.53 Die „Alltagshistoriker“ verbanden die in erster Linie gegen die „Historische Sozialwissenschaft“ gerichtete Forderung nach Individualisierung der Geschichte mit Kritik an analytischen und quantifizierenden Methoden. Diese Kritik war in der deutschen Historikerschaft jedoch nicht neu. Innovativ an der Alltagsgeschichte war der Ansatz, Wahrnehmungen und Erfahrungen stärker als bislang in die historische Forschung einzubeziehen. Freilich war mit dem Begriff der Alltagsgeschichte auch der Versuch verbunden, Geschichte aus sich selbst heraus zu deuten, den Dualismus zwischen Forschungsgegenstand und Forscher aufzulösen und das untersuchte Phänomen mit Hilfe von Theorien zu erklären, die aus der Epoche selbst stammten.54 Die Alltagsgeschichte ist als Erweiterung historischen Forschens willkommen, doch sie stößt auf Ablehnung, wenn sie den Anspruch auf Absolutheit erhebt. Die Sozialgeschichte lässt sich nicht aus der Sicht der Alltagsgeschichte oder auch der Mikrogeschichte55 neu schreiben. Die Rekonstruktion von Lebenswelten reicht nicht aus, um Geschichte begreiflich zu machen, denn die Bedingungen dafür, dass Erfahrungen in der gegebenen Form gemacht wurden, waren in der Regel denen, die sie machten, nicht präsent. Die Alltagsgeschichte hat die Sozialgeschichte jedoch, als einer von vielen Ansätzen, befruchtet und bereichert. Sie bewirkte, dass das Individuelle in der Geschichte wieder stärker betont wurde und trug so dazu bei, die 51 Wolfgang Hardtwig: Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994, S. 19– 33. Beispiele für den Versuch der Darstellung des Ganzen im Kleinen sind Emmanuel Le Roy Ladurie: Die Bauern des Languedoc. Darmstadt 1985 (franz. Erstveröffentlichung 1969); Natalie Zemon Davis: Die wahrhaftige Geschichte der Wiederkehr des Martin Guerre. Frankfurt a. M. 1986 (franz. Erstveröffentlichung 1982); Jan Peters: Das laute Kirchenleben und die leisen Seelensorgen. Beobachtungen an zwei Dörfern und einer Stadt, in: Richard van Dülmen (Hg.): Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt a. M. 1990, S. 75–107. 52 Vor allem Hans-Ulrich Wehlers Kritik an der Alltagsgeschichte war nicht immer sachlich. Vgl. Bericht über die 34. Historikerversammlung (wie Anm. 49). 53 Wolfgang Zorn über die Alltagsgeschichte im vorliegenden Band. 54 So besonders Hans Medick: „Missionare im Ruderboot?“, in: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte: zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt a. M. 1989, S. 48– 84. 55 Die Mikrogeschichte wird von einigen ihrer Protagonisten so verstanden, dass sie ihre Methoden reflektiert und bewusst Kategorien der traditionellen Sozialgeschichte revidiert und so über die Alltagsgeschichte hinausgeht. Vgl. Hans Medick: Mikro-Historie, in: Schulze (Hg.), Sozialgeschichte (wie Anm. 51), S. 40–54.

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Strukturlastigkeit der Forschung der 1970er Jahre zu revidieren. Dem von einigen ihrer Vertreter erhobenen Anspruch, Geschichte von unten neu zu erfinden, konnte sie nicht gerecht werden. Gleichzeitig erwies sich, wie bei der Oral History, die Kritik, Alltagsgeschichte sei nur eine Modeerscheinung der wissenschaftskritischen 1980er und 1990er Jahre, als überzogen. Auch Vertreter der „Historischen Sozialwissenschaft“ nahmen Anregungen aus der Alltagsgeschichte auf. Jürgen Kocka, kein großer Freund der Alltagsgeschichte, stellte treffend fest: „Sozialgeschichte jedenfalls ist beides: Struktur- und Erfahrungsgeschichte zugleich. Erst in ihrer Verknüpfung lässt sie sich voll realisieren.“56 c. Kulturgeschichte Während der Begriff Alltagsgeschichte im Lauf der Zeit zunehmend in den Hintergrund der Auseinandersetzung gerückt ist, erweist sich der Aufstieg der Kulturgeschichte als fortdauernde Herausforderung für die Sozialgeschichte. Das Übergewicht von Modellen und Theorien in der Sozialgeschichte geriet bereits Anfang der 1980er Jahre in die Kritik. Im Zusammenhang mit der stärkeren Betonung des Individuellen (Alltagsgeschichte‚ Oral History etc.) wurde eine Hinwendung zu Erklärungsmustern gefordert, die kulturelle Aspekte in höherem Maße einbeziehen.57 Diese Strömung verband sich mit Anregungen aus der neueren Sprachphilosophie, die einen linguistic turn in der Geschichte forderten: die Bevorzugung sprachlicher Ereignisse und Symbolgebilde bei der Deutung historischer Ereignisse.58 Ergänzend dazu hatten Michel Focaults philosophische Überlegungen Einfluss. Freilich wurde die Berücksichtigung der focaultschen Discoursanalyse im Zusammenhang mit der Debatte um die Bedeutung der Kulturgeschichte heftig attackiert.59 Die Auseinandersetzung zwischen Sozialgeschichte und Kulturgeschichte wurde in den 1990er Jahren von beiden Seiten oft mit Verbissenheit geführt; dies ist bis heute für viele nur schwer nachvollziehbar. Es liegt unter anderem an der Vielfalt gängiger Kulturtheorien und der geringen Präzision des Begriffs Kulturgeschichte.60 Diese Debatten lassen den Unterschied zwischen Sozialgeschichte und Kultur56 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte zwischen Struktur und Erfahrung, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklung und Perspektiven in internationaler Zusammenarbeit, Band I. Göttingen 1986, S. 67–88, hier 82. 57 Richtungsweisend über die Auseinandersetzung zwischen Kulturgeschichte und Sozialgeschichte bereits Nipperdey, Kulturgeschichte (wie Anm. 19). 58 John E. Toews: Linguistic Turn and Discourse Analysis in History, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioural Sciences, Band 13. London 2001, S. 8916–8922. 59 Zum Einfluss Focaults auf die Geschichte siehe Suzanne Marchand: Focault, die moderne Individualität und die Geschichte der humanistischen Bildung, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München 1997, S. 323–351; zur Kritik an Focault vgl. Hans-Ulrich Wehler: Michel Focault. Die „Disziplinargesellschaft“ als Geschöpf der Diskurse, der Machttechnik und der „Bio-Politik“, in: Ders.: Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998, S. 45–96; dagegen Christine Tauber: In den Staub mit allen Feinden Bielefelds, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.5.1999). 60 Rund um den Begriffskomplex Kultur werden die Bezeichnungen Sozialanthropologie, Kultur-

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geschichte schärfer erscheinen als er eigentlich ist. Beide Wissenschaften haben einen Teil ihrer Wurzeln in der Volkskunde und der Anthropologie. Die Kultur und das soziale Umfeld der Menschen waren immer Gegenstand der Sozialgeschichte. Besonders die Eliten- und die biographische Forschung wussten sie zu berücksichtigen. Die Stärkung der kulturellen Aspekte in der Sozialgeschichte führten diese näher an die Anthropologie heran, ohne jedoch die alte Verbindung zwischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu zerreißen. Kulturgeschichte und Sozialgeschichte können neben- und miteinander bestehen.61 Noch unklar ist allerdings, wohin ein linguistic turn die Sozialgeschichte führen wird. Die Grundsatzdebatte, ob Geschichte jenseits der Texte existiert, wird sich wohl auch in Zukunft nicht nachhaltiger auf die praktische historiographische Arbeit auswirken als dies bisher der Fall war. Interessanter ist die durch den linguistic turn wieder häufiger diskutierte Frage, in wie weit historische Wirklichkeit immer auch Konstrukt ist. Der Umgang mit dem erzählenden Charakter der Sprache in der Geschichtswissenschaft dürfte auch in Zukunft ein wichtiges Thema bleiben.62 d. Gender factor Auch die Frauenforschung hat in der Sozialgeschichte lange Tradition. Allerdings blieb sie bis in die 1970er Jahre eng mit der politischen Emanzipationsbewegung verbunden, ihre Arbeiten fanden nur wenig allgemeine Aufmerksamkeit. Erst zu Beginn der 1980er Jahre wurde die Frauengeschichte neu interpretiert und von ihrer engen Verbindung mit der Emanzipationsbewegung gelöst. Nun wandelte sich die Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte. Ihr Ziel war nicht mehr die Ergänzung der männlichen Geschichte durch Arbeiten über Frauen, sondern die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit als bedeutsame Kategorie in der Geschichtswissenschaft.63 Dies führte zunächst zu einer umfassenden Diskussion über die Definition des Geschlechtsbegriffs, die schließlich in dem Konsens mündete, das menschliche Geschlecht sei nicht in erster Linie biologisches Merkmal (sex), sondern soziokulturelles Daseinskonstrukt (gender). Als solches wurde der gender factor neben andere wie Klasse, Ethnie, Konfession und Generation gestellt. Obwohl der Begriff gender beide Geschlechter einschließt, sind Arbeiten, die unter besonanthropologie und Ethnologie genannt, die in historischen Arbeiten meist gleichgesetzt werden. Hinzu kommt die unterschiedliche Bedeutung des deutschen Wortes Kultur und des englischen culture. Hierzu Carola Lipp: Kulturgeschichte und Gesellschaftsgeschichte – Missverhältnis oder glückliche Verbindung?, in: Paul Nolte u. a. (Hg. ): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000, S. 25–36, hier 25 f. 61 Thomas Mergel/Thomas Welskopp: Geschichtswissenschaft und Gesellschaftstheorie, in: Dies. (Hg.), Geschichte (wie Anm. 59), S. 9–39; Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland (wie Anm. 2), S. 23 ff. 62 Zur Bedeutung des linguistic turn siehe Miguel A. Cabera (translated by Marie McMahon): Linguistic Approach or Return to Subjectivism? In Search of an Alternative to Social History, in: Social History 24 (1999), S. 74–90. 63 Joan Scott: Gender: A Useful Categorie of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075.

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derer Berücksichtigung des gender factors entstanden, meist auf die Bedeutung des Frauseins in der Geschichte konzentriert. Die wichtige Ergänzung, welche die Sozialgeschichte dadurch erfahren hat und noch erfährt, hat einige Fragen offen gelassen. Quellen, die eine geschlechterspezifische Betrachtung erlauben, sind oft stark subjektiv (Briefe, Tagebücher, Oral History), so dass die Arbeit mit ihnen besonderer quellenkritischer Sorgfalt bedarf. Der Skepsis, die einige Historiker dem Umgang mit diesen Quellen entgegenbringen, müsste mit einer Erweiterung quellenkritischer Methoden, wie dies zum Teil bei der Oral History geschehen ist, begegnet werden. Auch die Beziehung zwischen Klassen, Ethnizität und Geschlecht zählt zu den noch zu erforschenden Themen der Sozialgeschichte.64 IV. Sozialgeschichte in der DDR Die Historiographie in der DDR unterschied sich grundlegend von derjenigen in der Bundesrepublik. Der Begriff Sozialgeschichte war in den Anfangsjahren tabuisiert, da nach dem Selbstverständnis der marxistischen Geschichtsschreibung jede Geschichte stets auch Sozialgeschichte ist. Sozialgeschichtliche Forschung konnte sich aus diesem Grund in der DDR nicht entwickeln und nicht institutionalisieren. Zudem war die historische Forschung der DDR dem marxistisch-leninistischen Klassenkampfgedanken verpflichtet. Ihre Ergebnisse blieben deswegen lange ohne direkten Einfluss auf die moderne deutsche Sozialgeschichte. Trotz vorhandener Mittel verhinderte der Einfluss der Partei auch auf Gebieten, die zu den zentralen Forschungsfeldern ostdeutscher Historiker gehörten, wissenschaftliche Fortschritte. So berief sich die 1968 erschienene achtbändige „Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung“ hauptsächlich auf die Werke von Marx und Engels sowie Beschlüsse der Partei und blieb damit hinter vergleichbaren Arbeiten westdeutscher Historiker zurück.65 Der sowohl personelle als auch organisatorische Einfluss der SED führte beispielsweise auf dem Gebiet der DDR-Unternehmensgeschichte dazu, dass die meisten der mehr als zweitausend unternehmenshistorischen Arbeiten, die zwischen 1949 und 1990 erschienen, Themen behandelten, die sich im Ost-West-Konflikt ideologisch nutzen ließen. Vor allem Arbeiten über die Zwangsarbeit in der NSZeit oder die Auseinandersetzung mit der I.G. Farbenindustrie wurden von der SED gefördert, dagegen waren kritische Themen, wie die Effizienzdefizite der ostdeut64 Zur Geschlechter- und Frauengeschichte in Deutschland siehe den Beitrag von Heide Wunder im vorliegenden Band sowie Ute Frevert: Frauengeschichte – Männergeschichte – Geschlechtergeschichte, in: Lynn Blattmann u. a. (Hg.): Feministische Perspektiven in der Wissenschaft. Zürich 1993, S. 23–40; dies.: Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechterdifferenzen in der Moderne. München 1995; Gunilla-Friederike Budde: Das Geschlecht der Geschichte, in: Mergel/Welskopp, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 59), S. 125–151; Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt a. M. 1992. 65 Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Autorenkollektiv Walther Ulbricht) (Hg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik. 8 Bände. Berlin 1968.

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schen Wirtschaft, die Reparationsleistungen an die UdSSR oder die hohe Umweltbelastung durch die Schwerindustrie, tabu.66 So wirkte die marxistische Geschichtsschreibung in den 1950er und 1960er Jahren auf die Entwicklung in der Bundesrepublik hauptsächlich indirekt, indem sie westdeutschen Historikern, zum Beispiel dem Heidelberger Arbeitskreis um Werner Conze, als Ansporn zum Widerspruch diente.67 Westdeutsche Quellenstudien griffen Themen auf, die von der DDR-Historiographie in einseitiger Weise behandelt worden waren.68 Der Begriff Sozialgeschichte fand unter Historikern in der DDR erst in den 1980er Jahren zunehmend Verwendung.69 In Folge der ideologischen Lockerungen fanden Teile der Historiographie der DDR Anschluss an die internationale Forschung, so dass beispielsweise die fünfbändige „Geschichte des Alltags des deutschen Volkes“ von Jürgen Kuczynski, Wolfgang Jacobeit und Gerhard Heitz aus den frühen 1980er Jahren auch die westdeutsche Alltagsgeschichte beeinflusste.70 Eine Untersuchung der DDR-Sozialhistoriographie, die auch entsprechende „Beziehungsgeschichte“ zwischen West und Ost thematisiert, steht noch aus – ein gründlicher Historiographievergleich der beiden deutschen Geschichtswissenschaften bleibt eine Aufgabe für künftige Forschungen.71 V. Schluss Die Entwicklung der Sozialgeschichte, vornehmlich seit dem Zweiten Weltkrieg, ist durch Pendelschläge gekennzeichnet. Dazu gehören inhaltlich der Wechsel zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte, zwischen Arbeiter- und Elitenforschung, zwischen Institutionen- und Bewegungsforschung; methodisch der Wechsel zwischen Makro- und Mikrohistorie, Quantifizierung und Oral History, Verbands- und Erfahrungsgeschichte, Kooperation mit den Sozialwissenschaften und mit der Anthropologie. Seit dem Lamprecht-Streit wurden zahlreiche heftige Kontroversen aus66 Arnd Kluge: Betriebsgeschichte in der DDR – ein Rückblick, in: ZUG 38 (1993), S. 49–62; Renate Schwärzl: Betriebsgeschichte – Unternehmensgeschichte: Bestandsaufnahmen und Perspektiven in den neuen Bundesländern. Workshop in Potsdam am 18. Juni 1993, in: Archiv und Wirtschaft 26 (1993), S. 123 ff. 67 Kocka, Sozialgeschichte in Deutschland (wie Anm. 2), S. 16. 68 Insbesondere sei das Werk von Kuczynski über die Lage der Arbeiter genannt, Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. 38 Bände. Berlin 1949– 1970. Dies war Anstoß für die innovative Reihe der Friedrich-Ebert-Stiftung: Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts. 69 Horst Handke: Sozialgeschichte – Stand und Entwicklung in der DDR, in: Kocka, Sozialgeschichte im internationalen Überblick (wie Anm. 2), S. 89–109, hier 89. 70 Die 1980 in Berlin aufgelegte Fassung erschien bereits ein Jahr später in einer Neuauflage in einem westdeutschen Verlag. Jürgen Kuczynski/Wolfgang Jacobeit/Gerhard Heitz (Hg.): Geschichte des Alltags des deutschen Volkes. 1600–1945. 5 Bände. Köln 1981–1982. 71 Matthias Middell: Schwierigkeiten des Historiographievergleichs – Bemerkungen anhand der deutsch-deutschen Nachkriegskonstellation, in: Christoph Conrad/Sebastian Conrad (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich. Göttingen 2002, S. 360–395.

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getragen. Im Ergebnis profitierte die Sozialgeschichte durch fortschreitende Erweiterung und Ausdifferenzierung ihres Gegenstandes, ihrer Fragestellung und Methoden. Die Allgemeine Geschichte öffnete sich auf vielen Feldern für sozialgeschichtliche Aspekte, die Sozialgeschichte bezog auch politische Fragestellungen ein. Jüngste Beispiele dafür, wo dies in monographischer Form geschieht, sind die großen Überblickswerke von Nipperdey und Wehler.72 Wie nachhaltig der Wandel ist, zeigt etwa der Vergleich der 9. Auflage des Gebhardt mit der gegenwärtig erscheinenden 10. Auflage.73 Angesichts der wechselseitigen Öffnung fällt es schwerer denn je, das proprium der Sozialgeschichte zu bestimmen. Freilich droht sie durch diese Erweiterungen im interdisziplinären Geflecht von politischer Geschichte und Sozialwissenschaften, Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte bzw. Ethnologie an Kontur zu verlieren. Die „klassische“ Verbindung der Sozial- mit der Wirtschaftsgeschichte im Verbund des universitären Fächerkanons schärft den Blick für die ökonomischen Bedingungen des Sozialen. Die damit einhergehende thematische Konzentration, ergänzt um methodische Kooperation, beispielsweise hinsichtlich quantifizierender wie systematisierender Verfahren, könnte das Profil der Sozialgeschichte wieder schärfen. Zu den Kernthemen der Sozialgeschichte gehört die soziale Sicherung. Themen wie die Soziale Frage und die Neue Soziale Frage, Pauperismus bzw. Neue Armut, Konzeption und Wirkungen der Systeme der sozialen Sicherung haben die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Anbeginn beschäftigt. Diese Themen finden in den heftiger gewordenen Verteilungskämpfen des 21. Jahrhunderts besonders großes Interesse. Die Sozialgeschichte reagiert darauf zum einen mit der umfangreichen Publikation von Quellen zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik seit der Bismarckzeit74 sowie zur Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg, als der Ausbau der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz des neuen Staates bei ihren Bürgern und zur Stabilität des politischen Systems leistete.75 Zum anderen erscheinen monographische Darstellungen zur Geschichte der sozialen Sicherung seit dem Mittelalter, insbesondere seit Bismarck.76 Die VSWG hat der Diskussion über die wohlfahrts- bzw. sozialstaatliche Sicherung in ihren Beiheften wie in den Aufsätzen stets große Aufmerksamkeit gewidmet.77 72 Siehe exemplarisch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, 1. Band: Arbeitswelt und Bürgergeist. 3. Aufl., München 1993; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4. Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten: 1914–1949. München 2003. 73 Beispielhaft vgl. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert: Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, 10. Aufl., Band 13). Stuttgart 2001. 74 Karl Erich Born/Hansjoachim Henning/Florian Tennstedt: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialgeschichte 1867–1914. Darmstadt, seit 1966 in vier Abteilungen. 75 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 1 ff. Baden-Baden 2001 ff. 76 Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge. 3 Bände. Stuttgart 1980– 1998. 77 Werner Abelshauser (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat: Zum Verhältnis von

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„Königsweg“ der Sozialforschung war stets die gesellschaftliche Schichtung. Die sozialhistorische Forschung hat diesen Königsweg nie verlassen – seit Lorenz von Stein, seit den Forschungen der jüngeren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie zur Lage der Arbeiter und seit empirischen Studien, die der Verein für Socialpolitik, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durchführen ließ, betreut von Max Weber.78 In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg standen vornehmlich die Arbeiter im Zentrum des Interesses, weitgehend im Rahmen der Organisationsgeschichte der Arbeiterbewegung. Seit den späteren 1960er Jahren trat die „Lagegeschichte“ hinzu, seit den 80ern die Untersuchung der kulturellen Dimension. Die Arbeiterforschung wurde durch die Unternehmenshistoriographie ergänzt. Seit den 1970er Jahren traten zunehmend auch andere gesellschaftliche Gruppen in den Fokus der Sozialgeschichte: die Angestellten, Unternehmer, Minderheiten und, in jüngster Zeit – ältere Ansätze wieder aufnehmend – der Adel.79 Die Bürgertumsforschung, erlebte in den 1980er Jahren einen Aufschwung.80 Die Erforschung sozialer Ungleichheit weist weiterhin große weiße Flecken auf, etwa bei der Genderforschung. Kollektivbiographische Ansätze dürften ebenso wie individualbiographische auch in Zukunft großes Interesse finden. Anstöße erhielt und erhält die Sozialgeschichte von den grundlegenden Veränderungen im Rahmen der europäischen Einigung. Sie gibt wichtige Impulse, die nationalen Perspektiven zu erweitern. Vergleichende Untersuchungen wurden bislang zum einen vornehmlich im Hinblick auf die westeuropäischen Gesellschaften vorgenommen; sie förderten ein erstaunlich großes Maß an konvergenten Entwicklungen zu Tage. Die Zahl solcher Untersuchungen ist noch gering,81 die Zahl der Forschungsdesiderate ist groß. Sie wird noch größer, fasst man – zum anderen – auch die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften ins Auge. Hier hat die Erfor-

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Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft (VSWG, Beiheft 81); Lil-Christine Schlegel-Voß/Gerd Hardach: Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im historischen Wandel, in: VSWG 90 (2003) S. 290–315. Siehe die Bände 132–135 der Schriften des Vereins für Socialpolitik; beispielhaft: Marie Bernays: Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie, dargestellt an den Verhältnissen der Gladbacher Spinnerei und Weberei AG (Schriften des Vereins für Socialpolitik 133). Leipzig 1910. Eckart Conze: Von deutschem Adel: die Grafen von Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert. Stuttgart 2000; Stephan Malinowski: Vom König zum Führer: sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat (Elitenwandel in der Moderne 4). Berlin 2003; Heinz Reif: Adel und Bürgertum in Deutschland I: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert (Tagungen zur Geschichte von Adel und Bürgertum in Deutschland, Bad Homburg). Berlin 2000. Siehe z.B. das Projekt von Lothar Gall zur Bürgertumsforschung; beispielhaft Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland. München 2000. Hartmut Kaelble: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz. Göttingen 1983; ders.: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980. München 1987.

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schung erst in jüngster Zeit begonnen.82 Bei den Arbeiten über die europäischen Gesellschaften verspricht der Vergleich der „Königsweg“ der Methode zu sein.83 Als letztes Feld neuerer sozialgeschichtlicher Forschungen sei die Zeitgeschichte genannt. Hier überkreuzen sich die Linien von Kulturgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, Modernisierung, Amerikanisierung, „Westernisierung“ und internen Wandlungsprozessen. Die Zahl der sozialhistorischen Untersuchungen der 1950er Jahre ist bedeutend, besonders große Aufmerksamkeit fanden die Themen soziale Sicherung und Integration, Konsum, Kommunikation und Medien.84 Hier sind Einflüsse der Kulturgeschichte, eines linguistic turns, besonders stark, sie haben Ansätze hervorgerufen, Orientierung und Selbstbeschreibung der Deutschen selbst zu thematisieren.85 Vielleicht muss Sozialgeschichte durch einen Prozess der Erweiterung gehen, damit das Profil der jeweiligen Epoche deutlich wird.

82 Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Frankfurt a. M. 2000. 83 Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1999. 84 Beispielhaft seien genannt Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 31). Hamburg 1995; ders./Arnold Sywottek (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn 1998. 85 Beispielhaft Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München 2000.

Heide Wunder FRAUEN- UND GESCHLECHTERGESCHICHTE1 Vorbemerkung Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts entstand in der „westlichen Welt“ die Frauen- und Geschlechtergeschichte im Kontext der Neuen Frauenbewegung. Vorreiterin war die Frauenbewegung in den USA. Bis heute sind die US-amerikanischen gender studies führend in den Theorieangeboten. Im Folgenden steht die deutschsprachige historische Frauen- und Geschlechterforschung in ihren internationalen Verflechtungen im Mittelpunkt.2 „Die ‚Frauenfrage‘ war schon immer eine ‚Männerfrage‘“, überschrieb Karin Hausen 1994 ihre „Überlegungen zum historischen Ort von Familie in der Moderne“.3 Diese provokante Feststellung bezeichnet nicht allein die Beziehungen von Individuen – Männern und Frauen – in der Familie, sondern rückt zugleich die Geschlechterhierarchie, die Asymmetrie der Verteilung von Macht und Lebenschancen an Männer und Frauen, in den Vordergrund. Dies ist keineswegs erst die Einsicht der Frauen- und Geschlechtergeschichte, vielmehr gehören das Verhältnis der Geschlechter und ihre Ordnung von Anfang an zu den wichtigsten Themen der Geschichtsschreibung. In allen Ursprungserzählungen, in den Mythologien ebenso wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte, wird die Machtfrage verhandelt, geht es um Argumente, mit denen die Überordnung des Mannes begründet, männliche Herrschaft legitimiert und weibliche Herrschaft delegitimiert wird. Dabei verquicken sich in der langen ideengeschichtlichen Tradition der westlichen Gesellschaften jüdische, griechisch-römische und christliche Diskurse, die jeweils spezifischen Argumentationsmustern folgen. Seit dem späten Mittelalter wurden diese Diskurse der „Querelle des Femmes“ nicht allein zwischen Theologen, Juristen und Medizinern geführt, sondern auch im Dialog mit gelehrten Frauen. Beginnend mit Christine de Pizan stritt man um Wesen und Natur von Mann und Frau, um ihre Gleichheit, Differenz oder Ungleichheit. Gemeint war die Gleichheit vor Gott, die Gleichheit der Verstandeskräfte, nicht jedoch soziale Gleichheit, die in einer ständischen

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In der Geschichtswissenschaft wird der Doppelbegriff „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ bevorzugt, da Geschlechtergeschichte die ältere Frauenforschung nicht abgelöst hat, während in den Kulturwissenschaften „Gender-Studien“/„Genderforschung“ dominiert. Vgl. z. B. Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2000; Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995. Vgl. Karen Offen/Ruth Roach Pierson/Jane Rendall (Hg.): Writing Women’s History. International Perspectives. Bloomington/Indianapolis 1991. Über den internationalen Forschungsstand informieren seit 1989 regelmäßig die Themenschwerpunkte und Rezensionen in der Zeitschrift „Gender & History“. Friedrich Ebert Stiftung. Reihe Gesprächskreis Geschichte, Heft 7. Bonn-Bad Godesberg 1994.

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Gesellschaft keinen zentralen Wert darstellte.4 Der Gleichheitsdiskurs fand in der Aufklärung einen ersten Höhepunkt und trug in den Anfangsjahren der Französischen Revolution zur Mobilisierung der Französinnen bei, nahm somit Einfluss auf die politische Praxis, allerdings ohne unmittelbaren Erfolg. Die Aufklärung brachte jedoch im Kontext der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der Erweiterung von Welt und der zunehmenden Beherrschbarkeit der Natur einen neuen Geschlechterdiskurs hervor, der die Gleichheit von Mann und Frau mit Berufung auf „Natur“ und auf die vergleichende Anthropologie ablehnte und stattdessen die „Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere‘“ – fußend auf der neuen „Wissenschaft vom Menschen“ und der „Sonderanthropologie des Weibes“ – entwarf.5 Sie verortete die Frau in die Privatheit und behielt dem Mann die Öffentlichkeit vor. Diese Dichotomisierung von öffentlich – privat in ihrer Verquickung mit Natur – Kultur hat sich als besonders effektive und bis in die Gegenwart wirkende Form der Geschlechterhierarchisierung erwiesen. Sie war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum einen die „Frauenfrage“ von der „Sozialen Frage“ separiert werden konnte und zum anderen die erste Frauenbewegung mit ihren sozialen und übergreifenden emanzipatorischen Zielen hervortrat. Hundert Jahre später, im Zeichen von Studentenbewegung und Neuer Frauenbewegung, wurde die „Frauenfrage“ neu gestellt, jedoch nicht länger als Sonderproblem von Frauen, vielmehr als radikale Forderung, das asymmetrische Machtverhältnis der Geschlechter nicht länger als ein naturgegebenes, sondern als ein gesellschaftlich hergestelltes und damit veränderbares zu begreifen.6 Mit spektakulären Aktionen klagten Frauen die Verwirklichung der im Grundgesetz festgelegten Gleichberechtigung von Mann und Frau ein,7 darüber hinaus die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, kurz die Emanzipation von männlicher Dominanz. Damit stand die Neuverhandlung der Machtfrage in Familie und Ehe, Arbeit und Beruf, Kultur und Politik an, deren Führung die sich Anfang der 1970er Jahre formierende Neue (autonome) Frauenbewegung übernahm. Diese unterschied sich von der

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Vgl. hierzu Elisabeth Gössmann (Hg.): Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung. Bände 1–7. München 1984–1998; Katharine Fietze: Spiegel der Vernunft. Theorien zum Menschsein der Frau in der Anthropologie des 15. Jahrhunderts. Paderborn u. a. 1991; Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1997, Band 2: Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1997. Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363–393; Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850. Frankfurt a. M. 1991. Vgl. Kristina Schulz: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und Frankreich 1968–1976. Frankfurt a. M./New York 2002; Michael Schmidtke: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA. Frankfurt a. M./New York 2003, S. 247–262. Theresia Degener: Der Streit um Gleichheit und Differenz in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 871–899; Dieter Schwab: Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: Ebd., S. 790–827.

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„Querelle des Femmes“ und der Ersten Frauenbewegung darin, dass sie sich in eine andere Beziehung zur Geschichte setzte. Der emphatische Ruf nach einer „Frauengeschichte“ („women’s history“) gehörte zu ihrer Identitätspolitik: „Kritisches Geschichtsbewusstsein“ wurde als „eine Dimension politischen Bewusstseins“ definiert.8 Angesichts der radikalen Forderungen nach Änderung der Geschlechterverhältnisse9 erscheint im Rückblick „Geschlechtergeschichte“ als die angemessene Form für eine Historisierung der Geschlechterverhältnisse. Doch bevor sich ein solches Konzept denken, entwickeln und durchsetzen ließ, galt es zunächst, die von der Fachhistorie seit dem beginnenden 19. Jahrhundert hergestellte Geschichtslosigkeit der Frauen zu überwinden, und zwar aus einer eigenen, feministischen Perspektive, die sich an den Interessen gegenwärtiger Frauen orientierte und die Ergebnisse ihrer Forschungen an die Neue Frauenbewegung rückband. „Frauengeschichte“ wurde als „Antithese patriarchalischer Geschichtsschreibung“ verstanden.10 Zum einen wurden Bereiche des gesellschaftlichen Lebens historisiert, die als „primäre“ Ordnungen wie „Natur“ konstant gehalten oder als „sittliche Zustände“ vor allem zu Gegenständen der Kultur- und Sittengeschichte trivialisiert worden waren. Dazu zählten insbesondere Ehe, Haushalt, Familie, also die sozialen und rechtlichen Ordnungen, in die das Leben von Frauen eingebunden wird. Zum anderen wurden Selbstverständlichkeiten der Geschichtswissenschaft, nämlich die „Allgemeine Geschichte“ und ihre Epochen, die, ohne die Erfahrung von Frauen zu berücksichtigen, entworfen worden waren, zur Disposition gestellt.11 Diese feministische „Frauengeschichte“ stand am Beginn der historischen Frauenforschung, es folgten Impulse aus der traditionellen Geschichtswissenschaft und der Neuen Sozialgeschichte, der cultural turn und schließlich die Herausforderungen des Poststrukturalismus. Diese komplexe Genealogie der historischen Frauenund Geschlechterforschung gibt Auskunft über ihre gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konstitutionsbedingungen, über die sich wandelnden Erkenntnisabsichten und Fragestellungen sowie über ihre Positionierung im Kontext der Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften. „Frauengeschichte“ zwischen Feminismus und Fachhistorie Das Schlagwort der Neuen Frauenbewegung „Das Private ist öffentlich“ erweist sich für ihr Geschichtskonzept von hohem Belang. Es forderte nichts weniger als die Aufhebung der Opposition von „öffentlich – privat“, nämlich die Emanzipation 8

Hannelore Schröder/Theresia Sauter: Zur politischen Theorie des Feminismus. Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/77, 3. Dezember 1977, S. 29–54, hier 29. 9 Vgl. Kathrin Braun: Frauenforschung, Geschlechterforschung und feministische Politik, in: Feministische Studien 13 (1995), S. 107–117, hier 108. 10 Schröder/Sauter, Zur politischen Theorie des Feminismus (wie Anm. 8). 11 Vgl. den klassischen Aufsatz von Joan Kelly-Gadol: Did Women Have a Renaissance?, in: Renate Bridenthal/Claudia Koonz (Hg.): Becoming Visible: Women in European History. Boston 1977, S. 137–164.

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der Frauen aus der Privatheit, der sie mit ihrer Zuständigkeit für Familie und Kinder zugeordnet waren. Diese fundamentale Infragestellung der ‚bürgerlichen‘ Geschlechterordnung skandalisierte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit, sie implizierte zugleich den Umbau der symbolischen Ordnungen mit ihren geschlechtlichen Codierungen (männlich – weiblich). Daher war es nur konsequent, dass Frauen, die als das personifizierte Private von der modernen Geschichtswissenschaft aus dem kollektiven öffentlichen Gedächtnis ausgeschlossen worden waren,12 ihren Platz in der Geschichte reklamierten. Allerdings ging es ihnen nicht allein darum, Frauen in der Geschichte sichtbar zu machen und der bisherigen Geschichte hinzuzufügen, sondern auch die Geschichte der Frau(en) als eine Geschichte der Unterdrückung durch das Patriarchat oder aber als Geschichte ihrer Emanzipation darzustellen. Ältere historische Forschungen schienen die eigenen Probleme zu spiegeln, z. B. wenn außerhäusliche Arbeit und Beruf in den spätmittelalterlichen Städten als selbstverständlich dargestellt wurden. Den darauf gestützten Mythos vom frauenfreundlichen „hellen Mittelalter“ festigten zudem die Hexenverfolgungen und die Verdrängung der Frauen aus dem Handwerk in der Frühen Neuzeit. Die ersten Publikationen über die Hexenprozesse beruhten nicht auf neuen historischen Forschungen, sondern waren eine feministische Rezeption älterer Forschungen.13 Ähnlich begünstigte die Patriarchatskritik die Rezeption älterer Matriarchatstheorien.14 Es macht die neue Qualität der „Frauengeschichte“ aus, dass sie sich nicht damit begnügte, vorhandenes Geschichtswissen zu rezipieren und in ihrem Sinne zu interpretieren, sondern sogleich begann, sich an der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu beteiligen. Dafür gab es zwei Voraussetzungen: die Akademisierung und wissenschaftliche Professionalisierung von Frauen (1) sowie die politischen und sozialen Bewegungen in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (2). (1) Wie der Vergleich mit der Ersten Frauenbewegung zeigt, die in ihrer langen Geschichte keine „Frauengeschichte“ entwickelte, reichten die Politisierung von Frauen und ihre Formierung als soziale Bewegung allein nicht aus, um diese Form historischer Identitätsstiftung hervorzubringen. Die großen Fortschritte in der Akademisierung von Frauen in der Weimarer Republik kamen insbesondere in sozialund volkswirtschaftlichen Studien zur aktuellen „Frauenfrage“ zum Ausdruck,15

12 Heide Wunder: Überlegungen zum „Modernisierungsschub des historischen Denkens im 18. Jahrhundert“ aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Band 2: Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt a. M. 1994, S. 320–332; dies.: ‚Gewirkte Geschichte‘: Gedenken und ‚Handarbeit‘. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: Joachim Heinzle (Hg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 324–354. 13 Z. B. Gabriele Becker u. a.: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt a. M. 1977. 14 Beate Wagner-Hasel (Hg.): Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft. Darmstadt 1992. 15 Vgl. Ute Frevert: Sozialwissenschaftliche Forschung über Frauen: historische Vorläufer, in: Deutsche Forschungsgemeinschaft: Sozialwissenschaftliche Frauenforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Bestandsaufnahme und forschungspolitische Konsequenzen. Hg. von der Senatskommission für Frauenforschung, Mitteilung 1. Berlin 1993, S. 5–11; Heide Wunder:

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während „das Frauenleben in der Geschichte“16 von engagierten Lehrerinnen in „Quellenheften“ für den Unterricht an höheren Schulen präsentiert wurde, da es keine Professorinnen in der universitären Geschichtswissenschaft gab. Frauen waren kein Thema für die Geschichtswissenschaft und für historisches Forschen, habilitierte Historikerinnen die Ausnahme.17 Diese Situation hat sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verändert. Dazu haben viele Vertreterinnen der Ersten Frauenbewegung beigetragen: als „Mütter des Grundgesetzes“, als Ministerinnen in Landes- und Bundeskabinetten oder in leitenden Positionen in Verbänden wie im Bildungswesen. Sie haben sich entscheidend für die Realisierung der im Grundgesetz 1949 festgelegten Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt und damit die Voraussetzung geschaffen, dass Mädchen stärker als bisher Bildung für die Gestaltung ihres Lebensweges nutzten und so schon vor den Auswirkungen der Bildungsexpansion seit Anfang der 1960er Jahre zunehmend Zugang zu höheren Schulen, zu den Universitäten und damit potentiell zu Wissenschaft und Forschung erlangten. Die Vertreterinnen der Neuen Frauenbewegung prangerten die Defizite der „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ an, doch handelt es sich bei allen Einschränkungen um bemerkenswerte Leistungen. (2) Das politische Engagement in den Gewerkschaften und im Sozialistischen Deutschen Studentenbund stellte eine wichtige Voraussetzung für die Konstituierung der Neuen Frauenbewegung dar. Zwar waren hier Denken in historischen Dimensionen (z. B. die Geschichte der Arbeiterbewegung) und die Auseinandersetzung mit Geschichtstheorie, nämlich dem Historischen Materialismus, selbstverständlich, aber damit war keine Sensibilität für die „Frauenfrage“ gegeben, vielmehr wurde sie – wie in der DDR – lediglich als „Nebenwiderspruch“, da „privat“, behandelt. Dies war erheblicher Sprengstoff, wie sich 1968 in den Diskussionen des SDS zeigte, die tatsächlich die Separierung der weiblichen SDS-Mitglieder provozierten.18 Die dargelegten Konstitutionsbedingungen der Neuen Frauenbewegung – Zugang zur Wissenschaft und Zugang zur Politik aus einer linken Position – prägten eine „Frauengeschichte“, die sich Geschichte in Analogie zur Geschichte der Ar-

Arbeiten, Wirtschaften, Haushalten: Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen im Wandel der Agrargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Reiner Prass/Jürgen Schlumbohm/Gérard Béaur/Christophe Duhamelle (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 187–204, hier 192 f. 16 Emmy Beckmann/Irma Stoß (Hg.): Quellenhefte zum Frauenleben in der Geschichte. Hefte 1– 20. Berlin 1927; vgl. Heide Wunder: Frauen in der Reformation: Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 303– 320. 17 Claudia Huerkamp: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 10). Göttingen 1996; Gunilla-Friederike Budde: Geglückte Eroberung? Frauen an Universitäten des 20. Jahrhunderts – Ein Forschungsüberblick, in: Feministische Studien 20 (2002), S. 98–112. 18 Gisela Notz: Die Auswirkungen der Studentenbewegung auf die Frauenbewegung. Mit der Rede Helke Sanders vom „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“ als Anhang, in: Metis 8 (1999), S. 105–130.

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beiterbewegung, aber auch Simone de Beauvoir folgend aus der Opferperspektive aneignete.19 Zunächst standen die Themen aus der Programmatik der Neuen Frauenbewegung zur Diskussion: Diskriminierung von Frauen in Bildung, Arbeit und Beruf, Hausarbeit, Gewaltverhältnisse und sexuelle Unterdrückung in Ehe und Familie, doch schnell wurde die jüngere und jüngste Vergangenheit – Frauen im Nationalsozialismus, in der Weimarer Republik und im Kaiserreich – in das Forschungsprogramm autonomer Frauenprojekte und Geschichtswerkstätten aufgenommen. Das Analyseinstrumentarium der verschiedenen Spielarten des Feminismus20 orientierte sich an der marxistisch-sozialistischen Kapitalismus- und Patriarchatskritik,21 erweitert um die Kategorie „weibliche Erfahrung“. Profil und Spektrum der „Frauengeschichte“ änderten sich – trotz aller feministischen Kritik an der Fachwissenschaft22 – mit ihrer verstärkten Präsenz an den Universitäten Mitte der 1970er Jahre. Damit tat sich eine Spannung „zwischen Disziplin und Bewegung“ auf, die sich bis heute zunehmend verstärkt hat.23 Die „Frauengeschichte“ profitierte sowohl von der „Sozialgeschichte in der Erweiterung“24 als auch von der Historischen Sozialwissenschaft mit neuen Teilwissenschaften wie der Historischen Demographie, Historischen Familienforschung und der Anthropologie, die viel gemeinsames Terrain mit der „Frauengeschichte“ besitzen.25 Ebenso 19 Schulz, Der lange Atem (wie Anm. 6), S. 52–54. 20 Die Schwierigkeiten, die mit diesem Begriff gegeben sind, erörtern Luise F. Pusch: Feminismus und Frauenbewegung – Versuch einer Begriffsklärung, in: Dies. (Hg.): Feminismus. Inspektion der Herrenkultur. Ein Handbuch. Frankfurt a. M. 1983, S. 9–17 und Karen Offen: Feminismus in den Vereinigten Staaten und in Europa. Ein historischer Vergleich [1988], in: Hanna Schissler (Hg.): Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel. Frankfurt a. M./New York 1993, S. 97–138. Zur Auseinandersetzung mit dem Feminismus vgl.: Jörn Rüsen: ‚Schöne‘ Parteilichkeit. Feminismus und Objektivität in der Geschichtswissenschaft, in: Ursula A. J. Becher/Jörn Rüsen (Hg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung. Frankfurt a. M. 1988, S. 517–542. 21 Günter Bartsch: Feminismus kontra Marxismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/77 3. Dezember 1977, S. 13–27; Michèle Barrett: Begriffsprobleme marxistisch-feministischer Analyse, in: Das Argument 24, Heft 132 (1982), S. 174–185. 22 Gisela Bock: Frauenbewegung und Frauenuniversität. Die politische Bedeutung der Sommeruniversität, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Juli 1976. Hg. von der Gruppe Berliner Dozentinnen. Berlin 1977, S. 15–22. 23 Ute Frevert: Bewegung und Disziplin in der Frauengeschichte. Ein Forschungsbericht, in: GG 14 (1988), S. 240–262; vgl. auch Annette Kuhn: Frauengeschichte zwischen Professionalisierung und Selbsterfahrung, in: Jutta Dahlhoff/Uschi Frey/Ingrid Schöll (Hg.): Frauenmacht in der Geschichte. Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung. Düsseldorf 1996, S. 11–14; Herta Nagl-Docekal: Feministische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in: L’Homme Z.F.G. 1 (1990), S. 7–18; Themenschwerpunkt „Wozu Feminismus?“ mit Beiträgen von Barbara Stiegler, Kornelia Hauser, Sabine Grosch und Dörthe Jung, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 43 (1996), S. 1002–1039; Judith Bennett: Feminism and History, in: Gender & History 1 (1989), S. 251–272. 24 Werner Conze: Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur 19 (1974), S. 501–508. 25 Reinhard Rürup (Hg.): Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis. Göttingen 1977.

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wie der Historischen Sozialwissenschaft ging es der historischen Frauenforschung um die Analyse „sozialer Ungleichheit“, allerdings zentriert auf die Asymmetrie der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen in Geschichte und Gesellschaft. Diese Asymmetrie trat – obwohl nicht explizit thematisiert – auch in vielen sozialgeschichtlichen Studien in Erscheinung.26 Nicht zuletzt die verstärkten Disziplinenkontakte („Interdisziplinarität“) und die Internationalisierung der Forschung, die historische Frauenforschung auszeichnen, gehörten zu den Anregungen der Historischen Sozialwissenschaft. Von besonderer Tragweite war die Rezeption ethnologischer Erkenntnisse, die vertraute Denkmuster von Geschlechterverhältnissen und Geschlechterideologie aufgebrochen und die „anthropologische Wende“ in der historischen Frauenforschung eingeleitet haben.27 Die Akademisierung der historischen Frauenforschung schuf darüber hinaus die Voraussetzung, dass sich ihr nicht feministisch motivierte Historikerinnen zuwandten. Das prominenteste Beispiel ist die Mediävistin Edith Ennen, die als Emerita mit ihrer Überblicksdarstellung „Frauen im Mittelalter“ (1984)28 in der Zunft wie in der Öffentlichkeit große Beachtung fand. Ihre Schülerin Margret Wensky, die von ihr bereits 1977/78 mit der wirtschaftsgeschichtlichen Studie „Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter“ promoviert worden war,29 führte die wirtschafts- und stadtgeschichtlichen Forschungstraditionen fort, die mit Karl Büchers „Die Frauenfrage im Mittelalter“ (1882)30 begonnen hatte und im Zeichen der neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte wichtige Einsichten in die soziale und wirtschaftliche Lage von Frauen gebracht hat.31 Hier lagen auch – neben der Geschichte der Arbeiterinnen im Kapitalismus – die Ansatzpunkte für Historikerinnen der DDR-Geschichtswissenschaft, sich mit der historischen Frauenfrage auseinander zu setzen.32 Den Stand der historischen Frauenforschung hat Karin Hausen 1983 einleitend zu ihrem Sammelband „Frauen suchen ihre Geschichte“ kritisch bilanziert und zur Revision der vorherrschenden Fragestellungen, Begriffe und Kategoriensysteme 26 Z. B. Josef Mooser: Ländliche Klassengesellschaft 1700–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64). Göttingen 1984; Ingrid Bátori/Erdmann Weyrauch: Die bürgerliche Elite der Stadt Kitzingen. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einer landesherrlichen Stadt im 16. Jahrhundert. Stuttgart 1982. 27 Rebekka Habermas: Geschlechtergeschichte und „anthropology of gender“. Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 485–509. 28 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter. München 1984. 29 Margret Wensky: Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, NF 26). Köln/Wien 1980. 30 Karl Bücher: Die Frauenfrage im Mittelalter. 2. Aufl., Tübingen 1910; vgl. dazu Wensky, Die Stellung der Frau (wie Anm. 29), S. 3 f. 31 Vgl. z. B. Alfred Haverkamp (Hg.): Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt. Köln/ Wien 1984; Gerd Wunder: Die Bürger von Hall. Sozialgeschichte einer Reichsstadt 1216–1802. Sigmaringen 1980. 32 Petra Rantzsch/Erika Uitz: Historical Research on Women in the German Democratic Republic, in: Offen/Roach Pierson/Rendall (Hg.), Writing Women’s History (wie Anm. 2), S. 333– 353.

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aufgefordert.33 Dort entwickelte auch Gisela Bock programmatisch „Fragestellungen und Perspektiven“ unter den beiden Hauptgesichtspunkten „Frauengeschichte und Männergeschichte“ sowie „Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte“.34 Ebenso wichtig für die Weiterentwicklung der historischen Frauenforschung war die Auseinandersetzung mit dem zentralen Begriff feministischer Geschichtsanalyse, dem „Patriarchat“, der sich als untauglich, da ahistorisch und essentialistisch, erwies.35 Die gleichen Einwände wurden gegen „weibliche Erfahrung“ und „Betroffenheit“ erhoben,36 während sich in der Diskussion um „Parteilichkeit“ versus „Objektivität“ zwei unterschiedliche theoretische Geschichts- und Wissenschaftsentwürfe, Historischer Materialismus und ‚moderne Geschichtswissenschaft‘,37 gegenüberstanden. Die „Frauengeschichte“ wurde von der traditionellen Geschichtswissenschaft ignoriert und von den Vertretern der neuen Sozialgeschichte, der Historischen Sozialwissenschaft, heftig attackiert. Jürgen Kocka beschwor 1982 in der Auseinandersetzung mit Annette Kuhn um die Zulassung von Männern zum Bielefelder Historikerinnentreffen 1981 das Problem einer „Frauengeschichte zwischen Wissenschaft und Ideologie“,38 und 1985 stellte der renommierte englische Sozialhistoriker Lawrence Stone ironisch „Zehn Gebote“ für die Frauenforschung auf.39 Hans-Ulrich Wehler berücksichtigt „von den drei anthropologischen Universalien der gesellschaftlichen Hierarchisierung, mithin Geschlecht, Alter und soziale Ungleichheit“ nur soziale Ungleichheit in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“.40 Die Heftigkeit der Widerstände und der Polemik lassen sich als Reaktion auf die feministische Wissenschaftskritik an der „männlichen Wissenschaft“ erklären, in der Frauen weder als historische Subjekte mit kategorialem Status noch als Forscherinnen, damit auch als potentielle Konkurrentinnen, vorgesehen waren.41 Die Identitätspolitik der feministischen Studentinnen und Forscherinnen verletzte die Identität der Historiker als Personen, als Wissenschaftler wie als ‚männerbündisch‘ organisierte Zunft. Sie verstieß gegen die herrschenden wissenschaftlichen Standards, deren

33 Karin Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte. München 1983. 34 Gisela Bock: Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Ebd., S. 22– 60. 35 Karin Hausen: Patriarchat. Vom Nutzen und Nachteil eines Konzepts für Frauengeschichte und Frauenpolitik, in: Journal für Geschichte 1986, Heft 5, S. 12–21, 58. 36 Uta Schmidt: Wohin mit „unserer gemeinsamen Betroffenheit“ im Blick auf die Geschichte? Eine kritische Auseinandersetzung mit methodischen Postulaten der feministischen Wissenschaftsperspektive, in: Becher/Rüsen (Hg.), Weiblichkeit (wie Anm. 20), S. 502–516. 37 Rüsen, ‚Schöne‘ Parteilichkeit (wie Anm. 20); vgl. Reinhard Koselleck/Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (Beiträge zur Historik 1). München 1977. 38 Jürgen Kocka: Frauengeschichte zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: Geschichtsdidaktik 7 (1982), S. 99–104. 39 Lawrence Stone: Only Women, in: The New York Review of Books, 11.4.1985, S. 21. 40 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1. München 1987, S. 10, 580, Anm. 1. 41 Karin Hausen/Helga Nowotny (Hg.): Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt a. M. 1986.

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Grundlage die Trennung von privat – öffentlich und subjektiv – objektiv bildete. Für die Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft, die sich mit ihrem neuen Paradigma gerade erst an den Universitäten etabliert hatte,42 war nicht einsehbar, dass sich die historische Frauenforschung nicht unter ihrem Dach mit einem Platz als Teildisziplin begnügte, sondern stattdessen sie – wie Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte – den hegemonialen Anspruch der Historischen Sozialwissenschaft auf moderne Wissenschaftlichkeit radikal kritisierte.43 Die akademische Frauengeschichte organisierte sich weitgehend selbständig, von nur wenigen Fachvertretern unterstützt. Auf die „Berliner Sommeruniversität für Frauen“ 1976 folgten von 1977 bis 1986 Historikerinnentage, und 1984 gab es die erste viel beachtete Sektion zur Frauengeschichte auf dem Deutschen Historikertag in Berlin.44 Damit wurde sie jedoch noch nicht Teil der männerbündischen Zunft, wie die abwartende Publikationspolitik der Fachzeitschriften belegt.45 Eine Ausnahme stellte die neu gegründete Zeitschrift „Geschichtsdidaktik“ dar. Während Jürgen Kocka die enge Verbindung von Frauenbewegung und historischer Identitätssuche kritisierte, machte gerade diese Verbindung Frauengeschichte so attraktiv für die Geschichtsdidaktik. Ihre Zeitschrift bot das Forum, auf dem die Kontroversen zwischen Jürgen Kocka, dem Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft, und Annette Kuhn als Sprecherin der „Frauengeschichte“46 ausgetragen, aber auch erste Ergebnisse der historischen Frauenforschung präsentiert wurden.47 Ende der 1980er Jahre hatte die historische Frauenforschung ihr Profil ausgebildet und sich gegen alle Widerstände mit ihren Erkenntniszielen und methodischtheoretischen Zugriffen als neue Forschungsrichtung etabliert; sie begann, sich ei-

42 Josef Mooser: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Richard van Dülmen (Hg.): Fischer Lexikon Geschichte. Frankfurt a. M. 1990, S. 86–101, hier 97; Paul Nolte: Historische Sozialwissenschaft, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002, S. 53–68, hier 56 f. 43 Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 557–578; Susanna Burghartz: Historische Anthropologie/Mikrogeschichte, in: Eibach/Lottes (Hg.), Kompass (wie Anm. 42), S. 209–218. 44 Publikation der Vorträge zuerst im „Journal für Geschichte“, zusammengefasst in: Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (Geschichte und Geschlechter 1). Frankfurt a. M./New York 1992. 45 „Geschichte und Gesellschaft“ publizierte 1981 ein erstes Heft zu „Frauen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“, hg. von Hans-Ulrich Wehler, während die VSWG zwar früh begann, Monographien zur Geschichte der Frauenbewegung zu rezensieren, aber erst seit 1990 Aufsätze veröffentlichte. 46 Vgl. Annette Kuhn: Das Geschlecht – eine historische Kategorie?, in: Ilse Brehmer/Juliane Jacobi-Dittrich/Elke Kleinau/Annette Kuhn (Hg.): Frauen in der Geschichte IV „Wissen heißt leben …“. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983, S. 29–50. 47 Bodo von Borries/Annette Kuhn/Jörn Rüsen (Hg.): Sammelband Geschichtsdidaktik: Frau in der Geschichte I/II/III. Düsseldorf 1984 mit Beiträgen aus den Jahren 1978–1983. Zur Buchreihe „Frauen in der Geschichte“ vgl. kritisch Frevert, Bewegung und Disziplin (wie Anm. 23), hier S. 240 f., Anm. 2.

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gene Publikationsorgane zu schaffen und fand mehr und mehr Beachtung in den Fachzeitschriften. Am weitesten fortgeschritten waren Forschungen zur Neueren und Neuesten Geschichte, für die Ute Frevert 1986 eine erste Überblicksdarstellung vorlegte,48 der 1992 Heide Wunders Entwurf für die Frühe Neuzeit49 folgte. Die Mittelalterforschung trat zuerst mit dem von Werner Affeldt initiierten Schwerpunkt im frühen Mittelalter hervor50 und hat die Ergebnisse der Frauengeschichte schnell in ihre Lehrbücher sowie in das „Lexikon des Mittelalters“ aufgenommen.51 Dagegen stand in der Alten Geschichte Beate Wagner-Hasel zunächst recht vereinzelt.52 In der fünfbändigen, zuerst 1990–1992 in Italien erschienenen „Geschichte der Frauen“, dem ersten internationalen Überblickswerk, sind für das 19. und 20. Jahrhundert deutschsprachige Forschungen vertreten, während die vorliegenden Forschungen zur Alten Geschichte und zur Frühen Neuzeit kaum berücksichtigt wurden.53 Dies gilt ebenso für die Handbücher dieser Jahre, selbst für die Wirtschaftsund Sozialgeschichte mit Ausnahme von Ernst Bruckmüllers „Sozialgeschichte Österreichs“ (1985)54; erst Werner Troßbach hat 1993 die Geschlechterperspektive in „Bauern 1648–1806“55 integriert. Für die politische Geschichte der Frühen Neuzeit registriert Heinz Duchhardt seit 1998 die Forschungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte.56

48 Ute Frevert: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt a. M. 1986. 49 Heide Wunder: „Er ist die Sonn, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992. 50 Werner Affeldt/Annette Kuhn (Hg.): Frauen in der Geschichte VII. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Frauen im Frühmittelalter. Methoden – Probleme – Ergebnisse. Düsseldorf 1986; Werner Affeldt (Hg.): Frauen in Spätantike und Frühmittelalter. Lebensbedingungen – Lebensnormen – Lebensformen. Sigmaringen 1990. Insgesamt zum Mittelalter siehe Hedwig Röckelein: Historische Frauenforschung. Ein Literaturbericht zur Geschichte des Mittelalter, in: HZ 255 (1992), S. 73–88; Hans-Werner Goetz: Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich. Weimar/Köln/Wien 1995. 51 Vgl. Johannes Fried: Die Formierung Europas 840–1046 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 6). München 1991; Artikel „Frau“, in: Lexikon des Mittelalters, Band 4. München 1988, Sp. 852–874. 52 Beate Wagner-Hasel: Zwischen Mythos und Realität. Die Frau in der frühgriechischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1982. Zum derzeitigen Forschungsstand vgl. Thomas Späth/Beate Wagner-Hasel (Hg.): Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis. Stuttgart/Weimar 2000; Beate Wagner-Hasel: Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und des Tauschens im archaischen Griechenland (Campus Historische Studien 28). Frankfurt a. M./New York 2000; Elke Hartmann: Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen (Campus Historische Studien 30). Frankfurt a. M./New York 2002. 53 George Duby/Michelle Perrot (Hg.): Geschichte der Frauen. 5 Bände. Frankfurt a. M./ New York/Paris 1993–1995. 54 Ernst Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs. Wien/München 1985. 55 Werner Troßbach: Bauern 1648–1806 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 19). München 1993. 56 Heinz Duchhardt: Das Zeitalter des Absolutismus (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 11). 3. Aufl., München 1998, S. 208–212.

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Geschlechtergeschichte „Geschlechtergeschichte“ ist sowohl Ergebnis der zunehmenden Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der historischen Frauenforschung in den 1980er Jahren als auch Ausdruck ihrer veränderten Theorieorientierung. Schon 1976 brachte die einflussreiche amerikanische Frühneuzeithistorikerin Natalie Zemon Davis die soziale Kategorie Geschlecht ins Gespräch.57 „Geschlecht“ bezieht sich explizit auf Männer und Frauen, Geschlechtergeschichte analysiert die Wechselbeziehungen zwischen den Geschlechtern wie innerhalb eines Geschlechts, insbesondere aber die Asymmetrien der Geschlechterordnung. Auch in der deutschsprachigen Forschung war der Begriff „Geschlecht“, beginnend mit Karin Hausens Aufsatz „Die Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere‘“ 1976, als relationale Beziehung gedacht, mit dem Instrumentarium der Ideologiekritik analysiert und 1983 von Gisela Bock konzeptualisiert worden.58 Entscheidend für die Weiterentwicklung zur „analytischen Kategorie Geschlecht“ wurde die bereits Anfang der 1970er Jahre aus der Endokrinologie und Psychoanalyse übernommene Unterscheidung von sex als biologischem Geschlecht und gender als sozialem Geschlecht.59 Gegenstand der Geschlechtergeschichte im engeren Sinne war gender, d. h. der Prozess der sozialen und kulturellen Konstruktion von Geschlecht, während sex als anthropologische Konstante vernachlässigt wurde. Im Unterschied zur essentialistisch determinierten binären Opposition Mann – Frau rückten die Prozesse der asymmetrischen Konstruktionen der Geschlechterverhältnisse in den Mittelpunkt. Mit Rückgriff auf poststrukturalistische Theorien entwarf Joan Scott die analytische Qualität der Kategorie Geschlecht60 und begründete damit deren Status – neben Klasse, Rasse, Ethnie und sexueller Orientierung – zur Analyse sozialer Ungleichheit.61 Die feministische Rezeption poststrukturalistischer Theorien ist kein Zufall, erlaubt sie doch, die bis dahin dominante materialistische Gesellschaftsanalyse mit neuen Instrumenten fortzuführen. Anders als die Geschichtswissenschaft insgesamt befürchtet die Geschlechtergeschichte nicht, dass ihr der Gegenstand abhanden kommt,62 denn post-

57 Natalie Zemon Davis: „Women’s History“ in Transition: the European Case, in: Feminist Studies 3 (1976), S. 83–103, hier 89–93. 58 Hausen, Polarisierung (wie Anm. 5); Bock, Historische Frauenforschung (wie Anm. 34). 59 Ann Oakley: Sex, Gender and Society. New York 1972; Gayle Rubin: The Traffic in Women: Notes on the ,Political Economy of Sex‘, in: Rayna Rapp (Hg.): Toward an Anthropology of Women. New York 1975, S. 157–210. – Die englische Unterscheidung von sex und gender lässt sich nicht ins Deutsche übersetzen, da nur das eine Wort „Geschlecht“ zur Verfügung steht, so dass vielfach gender in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wird. 60 Joan W. Scott: Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075, dt.: Gender: eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA. Leipzig 1994, S. 27–75; vgl. Donna Haraway: Geschlecht, Gender, Genre. Sexualpolitik eines Wortes, in: Kornelia Hauser (Hg.): Viele Orte. Überall? Feminismus in Bewegung. Festschrift für Frigga Haug. Berlin/Hamburg 1987, S. 22–41. 61 Merry E. Wiesner-Hanks: Gender in History. Malden, Mass./Oxford 2001. 62 Ernst Hanisch: Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Wolfgang

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strukturalistische Theorien eignen sich hervorragend, die Prozesse der Konstruktion von gender zu analysieren und auf diese Weise die historisch wechselnden kulturellen Selbstverständlichkeiten der Geschlechterordnung zu dekonstruieren. Sie gehen davon aus, dass Sprache nicht Erfahrung und Realität abbildet, sondern dass erst Sprache als Zeichensystem Erfahrung konstituiert: „Wirklichkeit ist also ein sprachliches Artefakt“.63 Die theoretische Neuorientierung (linguistic turn) hat allerdings ihren Preis. Die Beziehungen zwischen Geschichte und Literatur haben sich verkehrt: Während der 1970er Jahre dominierte das Konzept der „Sozialgeschichte der Literatur“,64 nunmehr haben literaturtheoretische Relevanzkriterien für die historische Textarbeit Gültigkeit erlangt. Sie stellen sprachliche Repräsentationen und symbolische Ordnungen von männlich/weiblich in den Vordergrund, um – Michel Foucault folgend – die in den diskursiven Konstruktionen der Geschlechterverhältnisse verborgene Macht offen zu legen,65 wohingegen das Interesse an ‚realen‘ Männern und Frauen und damit das Gewicht von „Frauengeschichte“ zurück tritt. Die Rezeption poststrukturalistischer Literaturtheorien wird daher von einem Teil der feministischen Forschung enthusiastisch begrüßt, von einem anderen Teil vehement zurückgewiesen.66 So wandte die englische Sozialhistorikerin Catherine Hall ein, dass vieles im neuen Gewand des Poststrukturalismus daher komme, was zum längst erprobten Instrumentarium einer kritischen Sozialgeschichte gehöre.67 Lynn Hunt will wenigstens die Erweiterung des Instrumentariums, die poststrukturalistische Methoden bieten, für die kritische historische Textanalyse gewahrt wissen.68 Einen weitergehenden Vorschlag hat jüngst Ulrike Strasser in ihrer Bilanzierung der Kontroversen um den linguistic turn in der US-amerikanischen Forschung unterbreitet: Sie fordert,

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Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte Heute (GG, Sonderheft 16). Göttingen 1996, S. 212–230; Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994; Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt a. M./ New York 2002, Kap. V: ‚Normiertes‘ und ‚gelebtes‘ Geschlecht. Frühneuzeitliche Frauenund Geschlechtergeschichte zwischen ‚Konstruktion‘ und ‚Existenzweise‘. So Lynn Hunt in ihrem instruktiven Artikel „Psychologie, Ethnologie und ‚lingustic turn‘ in der Geschichtswissenschaft“, in: Goertz (Hg.), Geschichte (wie Anm. 43), S. 671–693, hier 674. Vgl. das Themenheft der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft „Literatur und Sozialgeschichte“ 9 (1983), hg. von Wolfgang Schieder; Martin Huber/Gertrud Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000. Susanne Scholz: Literaturwissenschaft: Quellen als Texte gelesen, in: Anette Völker-Rasor (Hg.): Frühe Neuzeit. München 2000, S. 217–235. Vgl. Rebekka Habermas: Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Eibach/Lottes (Hg.), Kompass (wie Anm. 42), S. 231–245, hier 240–243. Catherine Hall: Politics, Post-structuralism and Feminist History, in: Gender & History 3 (1991), S. 204–210, hier 208; ähnlich Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001, S. 313–330: Frauen- und Geschlechtergeschichte, hier S. 323. Hunt, Psychologie (wie Anm. 63), S. 677.

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dass Historikerinnen aus ihrer marginalen Position im theoretischen Diskurs heraustreten und in der Verbindung von genuin historischen Arbeitsweisen mit dem analytischen Potential poststrukturalistischer Methoden das spezifische Erkenntnispotential der historischen Kontextualisierung in die feministische Theoriediskussion einbringen.69 Es liegt in der Natur poststrukturalistischen Denkens, dass sich Einspruch gegen die analytische Kategorie Geschlecht auch in diesem Lager selbst erhob. Die amerikanische Philosophin Judith Butler hat 1990 – ausgehend von der Kritik an der bis dahin nicht reflektierten dominanten Orientierung der Geschlechterforschung auf normative Heterosexualität – die Opposition sex – gender radikal in Frage gestellt und argumentiert, dass sex – wie gender – sozialen und kulturellen Konstruktionen unterliege, sex ein Effekt von gender sei.70 Unterschiede der Geschlechter werden inszeniert (doing gender).71 Butlers „Gender Troubles“ haben entschieden dazu beigetragen, die „Queer Theory“ als „politische und theoretisch-konzeptionelle Idee für eine kategoriale Rekonzeptualisierung von Geschlecht und Sexualität, mit der problematisch gewordene Identitätspolitiken überwunden werden sollen“, zu entwickeln.72 In der deutschsprachigen Forschung hat sich „Geschlechtergeschichte“/„historische Geschlechterforschung“ um 1990 durchgesetzt. Ein Blick auf die Forschungspraxis der Geschlechtergeschichte zeigt jedoch, dass der Paradigmenwechsel kein harter Schnitt im Sinne einer Ablösung von der historischen Frauenforschung ist.73 Joan Scotts analytische Kategorie Geschlecht wurde schnell rezipiert,74 allerdings mehr, um den Untersuchungsgegenstand zu legitimieren, denn als analytische Kategorie. Die konsequente Nutzung der „Kategorie Geschlecht“ mit ihren spezifischen methodischen Erkenntnisweisen der Dekonstruktion und Diskursanalyse stellt eher die Ausnahme dar;75 die Mehrzahl der Forscherinnen bekennt sich zur Kultur-

69 Ulrike Strasser: Intime Antagonisten. Postmoderne Theorie, feministische Wissenschaft und die Geschichte der Frauen, in: Traverse 7 (2000), S. 37–50. Als gelungenes Beispiel für ein solches Vorhaben verweist sie auf Kathleen Canning: Languages of Labor and Gender. Ithaca 1996. 70 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter [amerik. 1990]. Frankfurt a. M. 1991; dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [amerik. 1993]. Berlin 1995. Zur Auseinandersetzung mit Judith Butler siehe die Beiträge in: Feministische Studien 11/2 (1993) sowie Andrea Maihofer: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz. Frankfurt a. M. 1995, S. 40–53. 71 Die normative Zweigeschlechtlichkeit war in der deutschen sozialwissenschaftlichen Forschung von Carol Hagemann-White, Angelika Wetterer und Regine Gildemeister schon vor Butler in Frage gestellt worden; vgl. Braun, Frauenforschung (wie Anm. 9), S. 113. 72 Sabine Hark: Queer Interventionen, in: Feministische Studien 11/2 (1993), S. 103–109, hier 103. 73 Hausen/Wunder (Hg.), Frauengeschichte (wie Anm. 44), S. 11. 74 Claudia Opitz: Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hg.): Gender – die Tücken einer Kategorie. Joan Scott, Geschichte und Politik. Zürich 2001, S. 95–115. 75 Z. B. Ulrike Gleixner: „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Un-

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oder Sozialgeschichte mit mikrogeschichtlichen oder historisch-anthropologischen Ansätzen.76 Parallel zu den theoretisch-methodischen Innovationen entstanden in den 1990er Jahren mehr und mehr frauen- und geschlechtergeschichtliche Studien, die sich den klassischen historischen Forschungsfeldern der Politik-, Militär-, Rechts-, Kirchenund Ideengeschichte zuwandten, deren Horizonte veränderten und erweiterten. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. So geht es z. B. bei den Themen Arbeit und Beruf einerseits darum, die Bedeutung von Frauen in der Wirtschaft zu ermitteln,77 andererseits jedoch um deren soziale Lage und die Frage, welche Rolle dabei Politik spielt. Einen Forschungsschwerpunkt bildet die

zuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760) (Geschichte und Geschlechter 8). Frankfurt a. M./New York 1994; Andrea Griesebner: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert (Frühneuzeitstudien N.G. 3). Wien 2000; Monika Mommerz: „Ich, Lisa Thielen“. Text als Handlung und als sprachliche Struktur – ein methodischer Vorschlag, in: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 303–329; Maren Lorenz: Kriminelle Körper – gestörte Gemüter: Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburg 1999. 76 Z. B. Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750– 1850) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14). Göttingen 2000, S. 15 f.; Claudia Ulbrich: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Aschkenas, Beiheft 4). Wien 1999. 77 Beispielhaft nenne ich: Hans Pohl/Wilhelm Treue (Hg.): Die Frau in der deutschen Wirtschaft (ZUG, Beiheft 35). Wiesbaden 1985; Merry E. Wiesner: Working Women in Renaissance Germany. New Brunswig 1986; Dorothee Rippmann/Katharina Simon-Muscheid/Christian Simon: Arbeit – Liebe – Streit. Texte zur Geschichte der Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15. bis 18. Jahrhundert. Liestal 1996; Katharina Simon-Muscheid (Hg.): Was nützt die Schusterin dem Schmied? Frauen und Handwerk (14.–19. Jahrhundert). Wien 1996; Christine Werkstetter: Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert (Colloquia Augustana 14). Berlin 2001; Eva Labouvie: Beistand in Kindsnöten. Hebammen und weibliche Kultur auf dem Land (1550–1910) (Geschichte und Geschlechter 29). Frankfurt a. M./New York 1999; dies.: In weiblicher Hand. Frauen als Firmengründerinnen und Unternehmerinnen (1600–1870), in: Dies. (Hg.): Frauenleben – Frauen Leben. Zur Geschichte und Gegenwart weiblicher Lebenswelten im Saarraum (17.–20. Jahrhundert). St. Ingbert 1993, S. 88–131; Christina Vanja: Zwischen Verdrängung und Expansion, Kontrolle und Befreiung – Frauenarbeit im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, in: VSWG 79 (1992), S. 457–482; Günther Schulz (Hg.): Frauen auf dem Weg zur Elite (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte. Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 23). München 2000; Sabine Lorenz-Schmidt: Vom Wert und Wandel weiblicher Arbeit. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Landwirtschaft in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (VSWG, Beiheft 137). Stuttgart 1998; Barbara Krug-Richter: Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Werner Troßbach/Clemens Zimmermann (Hg.): Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 44). Stuttgart 1998, S. 33–55; Wunder, Arbeiten (wie Anm. 15). Für den Handel siehe z. B. die Beiträge von Sabine Kienitz, Gunda Barth-Scalmani, Eva Labouvie und Andrea Ellmeier im Themenheft „Handel“ von L’Homme 6 (1995) sowie Inge Kaltwasser: Handelsfrauen in Frankfurt – Rechtsfälle aus dem Reichskammergericht, in: Gisela Engel/Ursula Kern/Heide Wunder (Hg.): Frauen in der Stadt. Frankfurt im 18. Jahrhundert. Königstein/Taunus 2002, S. 103–116.

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Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat/Sozialstaat,78 z. B. die Frage, wie die Figur des nur männlich vorgestellten „Familienernährers“ im sozialpolitischen Diskurs konstruiert wurde.79 Da die Forschungsperspektive auf die historischen Subjekte in ihren gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnissen gerichtet ist, handelt es sich um eine „Sozialgeschichte der Arbeit“, die den Zusammenhang von „Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung“ analysiert, nicht nur um einen Aspekt des wirtschaftlichen Handelns.80 Die hier zugrunde liegende umfassende Vorstellung des Sozialen findet sich ebenso in der „Sozialgeschichte des Rechts“, wenn „Frauen in der Geschichte des Rechts“ erforscht werden.81 Die Studien der Frauen- und Geschlechtergeschichte haben nicht allein substantiell zu vielen Forschungsschwerpunkten und Debatten der letzten Jahrzehnte wie z. B. zur Reformation82 und zum „ganzen Haus“83 beigetragen, die Geschlechtergeschichte hat auch entscheidend daran mitgewirkt, die „menschliche Natur“, Körper84 und Sexualität sowie, damit verbunden, die als Konstante behandelte Ehe85 zu historisieren. Herausragendes Beispiel für das innovative Potential der Geschlechterperspektive sind die Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit, ein vermeintliches „Frauenthema“, deren Erforschung eine neue Innensicht auf die Frühe Neuzeit und die Transformationsprozesse dieses Zeitalters eröffnet haben.86

78 Gisela Bock: Weibliche Armut, Mutterschaft und Rechte von Müttern in der Entstehung des Wohlfahrtsstaats, 1890–1950, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.): Geschichte der Frauen, Band 5. Frankfurt a. M./New York/Paris 1995, S. 427–461. 79 Wiebke Kolbe: Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000 (Geschichte und Geschlechter 38). Frankfurt a. M./New York 2002. 80 Karin Hausen (Hg.): Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen. Göttingen 1993. 81 Vgl. die Beiträge von Historikern und Historikerinnen in: Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts (wie Anm. 7). Ähnliches gilt für die Historische Kriminalitätsforschung: Otto Ulbrich (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Köln 1995; Ulinka Rublack: Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten. Frankfurt a. M. 1998. 82 Vgl. Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002, S. 92–99. 83 Siehe die Diskussion in Ulbrich, Shulamit (wie Anm. 76), S. 15–23; Renate Dürr: Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter 13). Frankfurt a. M./New York 1995. 84 So die wegweisende Studie von Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987. 85 Vgl. Lyndal Roper: The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg. Oxford 1989. Exemplarisch für die gesellschaftliche Relevanz städtischer Ehepolitik im Wandel der Frühen Neuzeit: Susanna Burghartz: Zeiten der Reinheit. Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn u. a. 1999 sowie für süddeutsche Territorien Isabel V. Hull: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815. Ithaca/London 1995; für das Mittelalter: Beate Schuster: Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 12). Frankfurt a. M./New York 1995. 86 Vgl. das Kapitel „The Great Witch-Hunt“ von Brian Levack, in: Thomas A. Brady Jr./Heiko A. Oberman/James D. Tracy (Hg.): Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, Band 2. Leiden/New York/Köln 1995, S. 607–640.

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Verglichen mit der Frauen- und Geschlechtergeschichte macht die „Männergeschichte“, also die Geschichte der Männer als „Geschlecht“, in der deutschsprachigen Forschung langsamere Fortschritte. Am Anfang stand in den 1980er Jahren das Interesse von Historikerinnen wie Lyndal Roper und Ute Frevert an „Männlichkeit(en)“,87 während Historiker erst größeres Interesse an einer Männergeschichte gewannen, als sie als Teil der Identitätspolitik von Männern erkannt wurde, etwa in den amerikanischen Gay Studies oder im Interesse an „Männerbanden, Männerbünden“88. Zwar haben zahlreiche Sammelbände in den vergangenen Jahren ein breites Spektrum von Fragestellungen vorgelegt und den theoretischen Rahmen erörtert,89 gleichwohl macht sich die mangelnde Breite der monographischen Arbeiten für den Teil der Geschlechtergeschichte, die wechselnde Geschlechterbeziehungen erforscht, nachteilig bemerkbar.90 Frauen- und Geschlechtergeschichte – Allgemeine Geschichte Die Frauen- und Geschlechtergeschichte hat sich in den letzten dreißig Jahren in der deutschsprachigen wie in der internationalen Forschung fest etabliert. Sie verfügt nicht allein über eigene Zeitschriften,91 wissenschaftliche Reihen,92 Handbü-

87 Lyndal Roper: Männlichkeit und männliche Ehre, in: Hausen/Wunder (Hg.), Frauengeschichte (wie Anm. 44), S. 154–172; Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991. 88 Gisela Völger/Karin v. Welck (Hg.): Männerbande, Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich. 2 Bände. Köln 1990. 89 Thomas Späth: Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit (Geschichte und Geschlechter 9). Frankfurt a. M./New York 1994; Thomas Kühne (Hg.): Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt a. M./New York 1996; Christiane Eifert u. a. (Hg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt a. M. 1996; Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998; Wolfgang Schmale (Hg.): MannBilder. Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Männerforschung. Berlin 1998; Helmut Puff: Männergeschichten/Frauengeschichten. Über den Nutzen einer Geschichte der Homosexualitäten, in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 5). Göttingen 1998, S. 125–169; Thomas Kühne: Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik: Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Ebd., S. 171–231. 90 Sowohl Anne-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 123). Göttingen 1996, S. 13–15, als auch Habermas, Frauen und Männer (wie Anm. 76), S. 21 f. beklagen das Fehlen von Vorarbeiten in der Männergeschichte. 91 1982 Feministische Studien; 1990 L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft; 1992–2003 Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis. 92 Z. B. Geschichte und Geschlechter (seit 1992); L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft (seit 1990).

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cher93 und Portale zu Einzelthemen im Internet (z. B. zur Hexenforschung), sondern ebenso über die institutionelle Absicherungen mit Frauengeschichtsprofessuren, Graduiertenkollegs sowie einer Reihe von universitären Studienprogrammen und Forschungszentren. Seit 1979 ist sie in historischen Handbüchern und Einführungen vertreten.94 Die Frauen- und Geschlechterperspektive ist einschließlich der Männergeschichte inzwischen in viele große Forschungsvorhaben integriert und sogar selbstverständlicher Bestandteil jeder Ortsgeschichte. Sie gehört inzwischen zu den innovativsten historischen Forschungsgebieten, diffundiert in alle historischen Felder und verbindet das Erkenntnispotential verschiedener Disziplinen mit ihren Fragestellungen. Die Prognose, die Frauen- und Geschlechtergeschichte bleibe eine vorübergehende Modeerscheinung, hat sich nicht bewahrheitet, vielmehr überzeugt der Erkenntnisgewinn ihrer Forschungen inzwischen selbst Skeptiker.95 Dennoch ist der Status der Frauen- und Geschlechtergeschichte umstritten. Teils wird sie von der Sozialgeschichte vereinnahmt, teils der neuen Kulturgeschichte96 zugerechnet. Der Anspruch der Forscher und Forscherinnen geht aber darüber hinaus. Ausgehend von der Prämisse, dass Geschlechterordnungen einen wichtigen Indikator für die Verteilung gesellschaftlicher Macht darstellen, forderten sie, die bisher ausgeblendeten Geschlechterverhältnisse und die Konstruktion der Geschlechterdifferenz in den Kanon des historischen Wissens, die „Allgemeine Geschichte“, aufzunehmen. Ob und wie dies möglich ist, wird unterschiedlich beurteilt. Schon 1976, nachdem sich women’s history in den USA etabliert hatte, mahnte Natalie Zemon Davis die Frauengeschichte – die befestigte „cité des dames“ (Christine de Pizan) – zu verlassen und sich auf das Forum der fachwissenschaftlichen

93 Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. 2 Bände. Frankfurt a. M./New York 1996; Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts (wie Anm. 7). 94 Annette Kuhn: Frauengeschichte, in: Klaus Bergmann/Annette Kuhn/Jörn Rüsen/Gerhard Schneider (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 4. Aufl., Düsseldorf 1992, S. 175–177 (zuerst 1979); Ulrich Engelhardt: Frauen in der Sozialgeschichte: eine ungeschriebene Geschichte?, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Band 4: Soziale Gruppen in der Geschichte. Göttingen 1987, S. 156–178; Gert Dressel: Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien/Köln/Weimar 1996, S. 95–102; Bea Lundt: Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Goertz (Hg.), Geschichte (wie Anm. 43), S. 579–597; Dagmar Freist: Geschlechtergeschichte: Normen und soziale Praxis, in: Völker-Rasor (Hg.), Frühe Neuzeit (wie Anm. 65), S. 183–202; Martina Kessel/Gabriela Signori: Geschichtswissenschaft, in: von Braun/Stephan (Hg.), Gender-Studien (wie Anm. 1), S. 119–129; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (wie Anm. 67), S. 313–330: Frauen- und Geschlechtergeschichte; Rebekka Habermas: Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Eibach/Lottes (Hg.), Kompass (wie Anm. 42), S. 231–245. 95 Vgl. z. B. die Rezension des von Ute Planert herausgegebenen Aufsatzbands „Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne“ (Frankfurt a. M./ New York 2000) von Michael Salewski, in: Das Historisch-Politische Buch 48 (2000), S. 597. 96 Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (wie Anm. 67); Habermas, Frauen- und Geschlechtergeschichte (wie Anm. 94); Renate Hof: Kulturwissenschaften und Geschlechterforschung, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar 2003, S. 329–350.

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Debatten zu begeben,97 um – so die optimistische Erwartung – die Geschichtswissenschaft insgesamt zu einer „worthier craft“ zu transformieren. Vor einer Isolierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte warnte auch Pierre Bourdieu 1990,98 doch vertraute er nicht auf die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Diskurse: „Einzig eine kollektive Aktion zur Organisation eines symbolischen Kampfes, der imstande wäre, all die stillschweigenden Voraussetzungen der phallo-narzisstischen Weltsicht praktisch in Frage zu stellen, kann den Bruch der gleichsam unmittelbaren Übereinstimmung zwischen den inkorporierten und den objektivierten Strukturen herbeiführen.“ Auch Gianna Pomata blieb skeptisch, ob es gelingen könne, die Ergebnisse der Frauengeschichte ohne wesentliche Verluste in die derzeitige männlich konstruierte „Allgemeine Geschichte“ zu integrieren, und plädierte statt dessen dafür, bei der „Partikulargeschichte“ zu bleiben.99 Demgegenüber ist zu bedenken, dass der Verlust von Ergebnissen der Frauen- und Geschlechtergeschichte droht, wenn sie vom kanonischen Wissen ausgeschlossen bleiben. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, wie die Geschlechterperspektive in Handbüchern100 und Lexika101 sowie in Landesgeschichten102 einbezogen werden kann, wenngleich damit das gesteckte Ziel erst ansatzweise zu erreichen ist. Dem Problem des Partikularen und Allgemeinen in der Geschichte nähert sich Karin Hausen auf einem anderen Weg. Sie analysiert den Prozess, in dem im ausgehenden 18. Jahrhundert aus der Vielzahl von partikularen ‚Geschichten‘ die „Einheit der Geschichte“ mit dem männlich definierten Subjekt „Mensch“ – und somit unter Ausschluss der Frauen – hergestellt wurde. Aus dieser Dekonstruktion des herrschenden Geschichtsbegriffs, dessen Steigerung die „Allgemeine Geschichte“ ist, schließt Hausen auf die „Uneinheitlichkeit der Geschichte“ und postuliert konsequent die „Konstruktion mehrsinniger Relevanzen“, die auch in den Darstellungen zum Tragen kommen müssen.103 Wie dies realisiert werden könnte, erörtert Lynn Hunt bei ihrer kritischen Sicht auf poststrukturalistische Positionen. Sie for97 Davis, Transition (wie Anm. 57), S. 93. 98 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft [frz. 1990], in: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a. M. 1997, S. 153– 217, hier 214 f. 99 Gianna Pomata: Partikulargeschichte und Universalgeschichte – Bemerkungen zu einigen Handbüchern der Frauengeschichte, in: L’Homme Z.F.G. 2 (1991), S. 5–44. 100 Wolfram Siemann: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871 (Neue Deutsche Geschichte 7). München 1995; Thomas A. Brady Jr./Heiko A. Oberman/James D. Tracy (Hg.): Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation. 2 Bände. Leiden/New York/Köln 1994/95, S. 19. Die Autoren der bislang erschienenen Bände der 10. Auflage des „Gebhardt“ haben nur z. T. die Ergebnisse der historischen Frauen- und Geschlechterforschung rezipiert und in ihre Darstellung aufgenommen. 101 Hans J. Hillerbrand (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Reformation. 4 Bände. New York/ Oxford 1996. 102 Lieselott Enders: Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Potsdam 2000. 103 Karin Hausen: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Medick/Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte (wie Anm. 89), S. 15–55, hier 54.

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dert nicht allein „deconstruction“ der „metanarratives“, sondern ebenso „reconstruction of such narratives“, um Allgemeine Geschichte mit den Ergebnissen der Geschlechtergeschichte zu prägen.104 Ute Daniel konkretisiert diese Perspektive: „keine ,allgemeine‘ Geschichte mehr, die von der symbolischen und praktischen Bedeutung geschlechtsspezifischer Ordnungsmuster absieht und die die durchaus ‚besonderen‘ Folgen unerwähnt lässt, die von ,allgemeinen‘ Strukturen, Machtverhältnissen oder Institutionen auf Frauen bzw. auf Männer ausgehen.“105 Eine weitere große Herausforderung für die Weiterentwicklung der Frauenund Geschlechterforschung sieht Ute Daniel in der Gegenstandsbestimmung. Gerade die Erfolgsgeschichte der Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Veralltäglichung ihrer Perspektive im Forschungsbetrieb ebenso wie der Verlust der Selbstverständlichkeit der Kategorie „Frau“ wie der Kategorie „Gender“ verlangen neue Reflexionen über ihren Gegenstand.106 Dieses Problem hat mehrere Aspekte. In den letzten Jahren lässt sich eine innerwissenschaftliche Dynamik beobachten, die den „Gegenstand“ frauen- und geschlechtergeschichtlicher Forschungen neu definiert, in dem sie ihn zwischen wissenschaftlichen Disziplinen situiert und mit der Verflechtung verschiedener disziplinärer Kompetenzen bearbeitet.107 Es handelt sich um eine neue Form der Interdisziplinarität, deren Ertrag im Wesentlichen darin besteht, die Vergeschlechtlichung, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht, offen zu legen. Wie in der feministischen Theoriediskussion spielt hier der veränderte Ausgangspunkt jüngerer Historikerinnen eine wichtige Rolle.108 Gegenüber den Anfängen der Frauenforschung haben sich nicht nur die Geschlechterbeziehungen gewandelt, sondern ebenso die wissenschaftlichen Forschungsbedingungen (z. B. die Förderung in interdisziplinären Graduiertenkollegs). Es zeichnet sich jedoch ab, dass die geforderte Gegenstandskonstituierung nicht so sehr innerwissenschaftlich generiert wird als von den aktuellen gesellschafts- und geschlechterpolitischen Diskursen über Reproduktionsmedizin und der Resonanz, die neo-darwinistische Tendenzen in der Geschichtswissenschaft finden. So erörtert Joan Scott die Grenzen der Kategorie Gender in der Auseinandersetzung mit der aktuellen US-amerikanischen Diskussion um Biohistory, der die Geschlechtergeschichte nichts entgegen zu setzen habe, da sie sex und damit den Körper nicht historisiert habe.109 Aus der deutschsprachigen Geschlechterforschung, in der seit den Auseinandersetzungen mit Judith Butler die

104 Lynn Hunt: The Challenge of Gender. Deconstruction of Categories and Reconstruction of Narratives in Gender History, in: Medick/Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte (wie Anm. 89), S. 57–97, hier 96 f. 105 Daniel, Frauen- und Geschlechtergeschichte (wie Anm. 67), S. 325. 106 Ebd., S. 314. 107 Vgl. z. B. Karin Gottschalk: Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig (Geschichte und Geschlechter 41). Frankfurt a. M./New York 2003. 108 Hilge Landweer/Mechthild Rumpf: Einleitung, in: Feministische Studien 11/2 (1993), S. 3–9, hier 3 f. 109 Joan W. Scott: Millenial Fantasies. The Future of „Gender“ in the 21st Century, in: Honegger/ Arni (Hg.), Gender (wie Anm. 74), S. 19–37.

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„Kritik der Kategorie ‚Geschlecht‘“ angelegt ist,110 kommen bedenkenswerte Vorschläge, insbesondere Andrea Maihofers Konzept „Existenzweise Geschlecht“111 und Hilge Landweers Überlegungen zu Generativität112. Es bleibt zu wünschen, dass sich Historiker und Historikerinnen, wie dies Ulrike Strasser vorgeschlagen hat, in die Formierung dieses neuen Diskurses einschalten.

110 Wie Anm. 70. 111 Maihofer, Geschlecht als Existenzweise (wie Anm. 70). 112 Hilge Landweer: Kritik und Verteidigung der Kategorie Geschlecht. Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur sex/gender-Unterscheidung, in: Feministische Studien 11/2 (1993), S. 34–43.

Wolfgang Zorn ALLTAGSGESCHICHTE. KONJUNKTUREN UND BLEIBENDE AUFGABEN 1. Die Verbreitung des Begriffs In der vierteiligen Gedenkschrift für Werner Conze von 1987 hat Peter Borscheid einen Beitrag mit dem Titel „Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit?“ beigesteuert. Er gab darin als ein Hauptvertreter dieses Zweigs der Sozialgeschichte einen aktuellen Überblick über dessen Entstehung, Inhalte und Perspektiven. Zu den Inhalten schrieb er: „Wenn der Teil des Volkes, von dem kaum geschriebene und materielle Zeugnisse vorliegen, eine Geschichte hat, und wenn diese Geschichte der Zivilisation einen Sinn geben kann, dann findet man diese Geschichte in der Art der Kleidung, der Ernährung, des Wohnens, in der Organisation des Familien- und Arbeitslebens, im Glauben und in den Sitten, in der Regelung der Emotionen und dem Sinn der Rituale, die allesamt Zeugnis ablegen von dem jeweiligen Grad der Humanisierung des Menschen.“ Damit wurden „Alltagsund Volkskultur“ gleichgesetzt, das „Repetitive“, ja „Banale“ in den „Lebenswelten“ wurde als eigener Forschungsinhalt angesprochen.1 Neun Jahre später brachte für eine allgemeinere Leserschaft die 20. Auflage der großen Brockhaus-Enzyklopädie erstmals einen Artikel „Alltag“ mit einem zweiten Teil „Alltagsgeschichte“: „In der Erforschung des Alltags stellen sich u. a. die Fragen nach Essen und Schlafen, nach Hunger und Durst, nach Arbeit und Freizeit (z. B. Reisen), nach Volksfrömmigkeit und Brauchtum, d. h. nach den Grundkomponenten („Bausteinen“) des Lebensgefühls; Fragen also, die dicht an den einzelnen, oft anonymen Menschen und dessen unmittelbaren Lebensbereich heranzukommen suchen […]. Mit der Erforschung der Alltagsgeschichte zeigen sich auch in der Geschichtswissenschaft Bemühungen, die anthropologische Dimension der Geschichte, d. h. die auf den Menschen und sein erlebtes und erlittenes Schicksal bezogenen Ereignisse, also die spezifische Ausprägung der Lebensverhältnisse und des Lebensgefühls bzw. der Erfahrungsräume in vergangenen Epochen (u. a. Denk-, Empfindungs- und Verhaltensweisen) zur Richtschnur und zum Darstellungsrahmen der Forschung zu machen („Geschichte von unten“ als ein wesentlicher Teil der Alltagsgeschichte, historische Anthropologie).“ Wie schon bei Borscheid wird dann auf die französischen, britischen und italienischen Anstöße seit den 1920er Jahren verwiesen (bes. Bloch, Febvre, Braudel), teils mit Erforschung auch der 1

Peter Borscheid: Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit?, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Band III: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte. Göttingen 1987, S. 87–100; vgl. schon ders.: Geschichte des Alltags – Alltagsgeschichtliches Erkenntnisinteresse, Möglichkeiten und Grenzen eines „neuen“ Zugangs zur Geschichte, in: Neue Politische Literatur 3 (1986), S. 249–273.

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„Mentalitäten“ und „Lebenswelten“, People history: „Wesentliche Anstöße zur Erforschung der Alltagsgeschichte und der historischen Volkskultur („popular culture“, „subaltern studies“) der nicht herrschenden Schichten, v. a. der bäuerlichen und städtischen Unterschichten des 16.–19. Jh., kamen aus Italien (C. Ginzburg), Frankreich (E. Le Roy) und Großbritannien.“ Es folgt dann ein erstaunlich langer Schlussteil über die interdisziplinäre Vernetzung der Alltagsgeschichte: „In der Hinwendung zur Mikrohistorie ist die interdisziplinäre Forschung, bereichert durch Fragestellungen und Methoden der historischen Soziologie (insbes. der historischen Familienforschung), der Kultursoziologie und der Sozialanthropologie, des Interaktionismus u. a., bestrebt, das in hohem Maße veränderliche, stets vom Wandel der sozialen Verhältnisse und der allgemeinen geschichtlichen Rahmenbedingungen, aber auch von religiösen und kulturellen Traditionen sowie sozialen Gewohnheiten mitbeeinflußte, z. T. an bestimmte kalendarische Ordnungen (Brauchtum usw.) gebundene, jeweils schichten-, altersgruppen-, geschlechts- und regionalspezifische Alltagsleben der Vergangenheit mit allen seinen Einflüssen auf die Herrschafts- und Volkskultur in seiner Entwicklung und konkreten Ausformung zu rekonstruieren. Sie kann hierbei u. a. auch an ältere Forschungen der Volkskunde und Ergologie, der deutschsprachigen Universal- und Kulturgeschichtsschreibung des 19./20. Jh. sowie der Kunstgeschichte (A. Warburg) anknüpfen. Der allgemeine Gang der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung einer Region, eines Landes bzw. eines Kontinents wird kritisch gemessen in seinen Auswirkungen auf die Privatsphäre des Menschen (u. a. Arbeitsbedingungen, Familienleben, Gemeinschaftsleben, Festkultur und Geselligkeit, Traditionen in Sitten und Gebräuchen, soziale Protestformen usw.), wobei in hohem Maße Quellen herangezogen werden, die das Lebensgefühl der ,kleinen Leute‘, also der nicht privilegierten Gruppen und ihr privates Leben unmittelbar wiedergeben (u. a. alle privaten Aufzeichnungen bzw. Notizen wie Tagebücher, Haushaltsrechnungen, Hausbücher, aber auch Herrschaftsakten). Die Oral history erlebte eine neue Beachtung.“2 Zusätzlich verweist die Enzyklopädie-Neuauflage im Artikel „Geschichtswissenschaft“ im Band 8 auf die Alltagsgeschichte, schreibt aber auch im Artikel „Volkskultur“ in Band 24 mit Bezug auf sie: „So ergeben sich Überschneidungen zu Alltagskultur und populärer Kultur.“ Die Innovations-Konkurrenz blieb überhaupt ein Problem.3 Schon die Conze-Gedenkschrift hatte 1987 im gleichen dritten Teil einen Beitrag von Hermann Bausinger (Tübinger Professor für empirische Kulturwissenschaft und nach Franz Lipp in Wien Ersetzer der Fachbezeichnung „Volkskunde“ durch „Volkskultur“) mit dem Titel „Volkskultur und Sozialgeschichte“ enthalten.4 Im vierten Band über soziale Gruppen findet man Klaus Tenfeldes „Geschichte der 2 3 4

Die Brockhaus Enzyklopädie, Band 1. 20. Aufl., Wiesbaden 1996, S. 407 f. Ebd., Band 8, S. 435 und Band 24, S. 382; zuletzt Alf Lüdtke: Artikel „Alltagsgeschichte“, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2002, S. 21–24. Hermann Bausinger: Volkskultur und Sozialgeschichte, in: Schieder/Sellin (Hg.), Sozialgeschichte (wie Anm. 1), Band III, S. 32–49; vgl. auch ders.: Traditionale Welten. Kontinuität und Wandel in der Volkskultur, in: HZ 241 (1985), S. 265–286.

Alltagsgeschichte. Konjunkturen und bleibende Aufgaben

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Arbeiter zwischen Kulturgeschichte und Alltagsgeschichte“ in einer „Familie mit Spannungen“.5 Schon fünf Jahre später stand auf dem deutschen Historikertag in Hannover eine Podiumsdiskussion unter Leitung von Winfried Schulze „Was kommt nach der Alltagsgeschichte? Perspektiven der Sozial- und Alltagsgeschichte der 1990er Jahre“ auf dem Programm.6 Im Folgejahr 1993 veröffentlichte die Volkskundlerin und Spezialistin für „Alltagskulturforschung“ Carola Lipp in der Zeitschrift für Volkskunde den Aufsatz „Alltagsforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang [sic] eines interdisziplinären Forschungskonzepts“.7 Zunächst vollzog sich zwei Jahrzehnte lang eine Art von Siegeszug des Leitworts. Ohne deutliche Auswirkung war noch eine illustrierte Kulturgeschichte des (deutschen) Alltags des vielseitigen Wirtschafts-, Sozial- und Technikhistorikers Wilhelm Treue von 1952 geblieben, eine schon an sein älteres Buch von 1939 über Geschichte der „Lebenshaltung“ seit dem Altertum anknüpfende Darstellung mit einem kunsthistorischen Bildteil zu Wohnbau und Naturverhältnis.8 Erst seit Ende der 1970er Jahre stieg dann die Anzahl der „Alltag“-Titel in der deutschsprachigen historischen Literatur rasch an und erreichte Mitte der 1980er einen Höhepunkt. Als Registerstichwort der Ostberliner Jahresberichte für deutsche Geschichte erschien „Alltagsforschung“ zuerst für 1984.9 Die Münchner Historische Bibliographie, seit 1986, verzichtete auf ein Sachregister. Schon Titel aus dem Jahr 1978 zeigten bevorzugte Themenfelder der „neuen Geschichtsbewegung“: Sozialgeschichte des Arbeiteralltags in Fabrik, Familie und Feierabend, Konfliktgeschichte des Alltagslebens und Kriminalität im Industrialisierungsjahrhundert, Alltag im herrschenden Nationalsozialismus (als Übersetzung aus dem Amerikanischen!), voraus schon eine Spätmittelalterstudie über das vorhussitische Böhmen in einer landesgeschichtlichen Zeitschrift.10 Bereits 1979 veröffentlichte Pe5

Klaus Tenfelde: Geschichte der Arbeiter zwischen Strukturgeschichte und Alltagsgeschichte, in: Schieder/Sellin (Hg.), Sozialgeschichte (wie Anm. 1), Band IV, S. 81–107. 6 Bericht über die 39. Versammlung deutscher Historiker in Hannover 23.–26.9.1992. Hannover 1993. Vollständiger Abdruck: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Eine Diskussion. Göttingen 1994. Rezensiert in: VSWG 82 (1995), S. 79 f. 7 Carola Lipp: Alltagsforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts, in: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), S. 1–33. 8 Wilhelm Treue: Illustrierte Kulturgeschichte des Alltags. München 1952; ders.: Der Wandel der Lebenshaltung. Ein Spiegel der Zeiten und Völker. Berlin 1939. 9 Jahresberichte für deutsche Geschichte, Neue Folge 36 (1984). Berlin 1986, mit Rückgriff der zum Stichwort angeführten Titel bis 1980; vgl. auch Hans-Ulrich Wehler: Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte. 2. Aufl., München 1993. 10 Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hg.): Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Geschichte des Alltags im Industriezeitalter. Wuppertal 1978; Dirk Blasius: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert. Göttingen 1978 (Waldholzdiebstahl); George L. Mosse: Der nationalsozialistische Alltag. So lebte man unter Hitler (Übersetzung aus dem Englischen). Königstein/Ts. 1978; zuvor Ivan Hlávaãek: Beiträge zum Alltagsleben im vorhussitischen Böhmen 1379–1381, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34/35 (1975), S. 865–882.

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ter Steinbach eine erste kritische Bestandsaufnahme alltagshistorischer Untersuchungen zu Landesgeschichten im 19. und 20. Jahrhundert im Hessischen Jahrbuch für Landesgeschichte.11 Jedoch erschien auch weiterhin zahlreiche Literatur über zentrale Interessenfelder der als neu auftretenden Richtung, die in ihren Titeln das Wort „Alltag“ oft bewusst vermied. Formulierungen wie „privates Leben“ oder „Lebensformen“, „Lebensstil“ können hier nicht weiter verfolgt werden. Zu einer besonderen Zeitschrift für Alltagsgeschichte kam es nicht, jedoch wurde 1983 in Münster eine neue Buchreihe „Studien zur Geschichte des Alltags“ eröffnet, die später vom Steiner Verlag übernommen wurde. International war das die einzige Zeitschrift oder Buchreihe mit dem Begriff im Haupttitel voran. Ihre Herausgeber wurden Hans-Jürgen Teuteberg, Peter Borscheid und Clemens Wischermann, die sich damit auch als Hauptrepräsentanten der Alltagsgeschichte bekannten; die Letzteren gaben in der Reihe auch die Festschrift für Teuteberg „Bilderwelt des Alltags“ heraus.12 Lag der Ursprung der neuen Strömung regional im industriell geprägten Bundesland Nordrhein-Westfalen, so wurde sie doch mit ihrer ursprünglichen Konzentration auf die „Unterschicht“ schnell auch von der Geschichtspolitik der DDR aufgegriffen. Die Versuche, deutsche Alltagsgeschichte auch in zusammenschauenden mehrbändigen Werken darzustellen, kamen aus Ostberlin, vom Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski und den Volkskundlern Sigrid und Wolfgang Jacobeit. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung fanden sie mit ihrer Kapitalismuskritik in der westdeutschen Geschichtsforschung wenig Interesse.13 11 Peter Steinbach: Alltagsleben und Landesgeschichte. Zur Kritik an einem neuen Forschungsinteresse, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 29 (1979), S. 225–305. 12 Hans-Jürgen Teuteberg/Peter Borscheid/Clemens Wischermann (Hg.): Studien zur Geschichte des Alltags. (Münster, dann) Stuttgart 1983 ff. Die Einzelthemen waren 1) Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationenbeziehungen in der Neuzeit, hg. von Peter Borscheid u. a.; 2) Wohnen in Hamburg vor dem 1. Weltkrieg; 3) Wohnalltag in Deutschland 1850–1914; 4) Homo habitans. Zur Sozialgeschichte des ländlichen und städtischen Wohnens in der Neuzeit; 5) Popular Culture, Crime and Social Control in 18th Century Württemberg; 6) Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung (2. Aufl.); 7) Geschichte des Alters. 16.–18. Jahrhundert (2. Aufl.); 8) Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters; 9) Die Ärzte auf dem Weg zu Prestige und Wohlstand. Sozialgeschichte der württembergischen Ärzte im 19. Jahrhundert; 10) Hungerblockade und Heimatfront. Die kommunale Lebensmittelversorgung in Westfalen während des 1. Weltkrieges; 11) Zwischen Fasten und Festmahl. Hospitalverpflegung in Münster 1540–1650; 12) Auf dem Weg zur modernen Alkoholkultur. Alkoholproduktion, Trinkverhalten und Temperenzbewegung in Deutschland vom frühen 19. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg; 13) Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (Festschrift Teuteberg); 14) „Im Haus und am Herd“. Der Wandel des Hausfrauenbildes und der Hausarbeit 1880–1930; 15) Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, hg. von Clemens Wischermann; 16) Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890–1932; 17) Körper mit Geschichte. Der menschliche Körper als Ort der Selbst- und Weltdeutung, hg. von Clemens Wischermann/Stefan Haas; 18) Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung, hg. von Clemens Wischermann; 19) Geschichte im Zeichen der Erinnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung; 20) Bilanzieren und Sinn stiften. Erinnerungen von Unternehmern im 20. Jahrhundert. 13 Jürgen Kuczynski: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes 1600–1945. Studien, Band 1–

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2. Alltagsgeschichte in Rivalitäten A. Die westdeutsche Historiographie musste aber darauf reagieren, wenn ihr Alltagsgeschichte als neues Paradigma oder mindestens als bisher ungenügend beachtete Nische entgegen gehalten wurde. Von vornherein war klar, dass die neue Konzeption in Gegensatz zur einstigen reinen Politischen Geschichte als Ereignisgeschichte, als äußere Geschichte der Herrschenden, der Diplomatie und der Militärführung, als Machtgeschichte stand. Insofern war sie im Einklang mit ihrer Vorgänger„mode“, der Strukturgeschichte. Der Amerikaner Georg G. Iggers hielt in seinem kritischen Überblick über die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert zutreffend fest, die Alltagsgeschichte kritisiere die herkömmliche Sozialgeschichte („Von Strukturen zu Erfahrungen“), stehe aber gleichzeitig in ihrer wissenschaftlichen und politischen Tradition, sie gehe auch von einem Modernisierungskonzept aus.14 Die Strukturgeschichte bestimmte nach wie vor weitgehend das Bild moderner deutscher Historiographie mit Modernisierungstheorie, Offenheit für quantitative Analyse und „Kliometrie“ und historische Soziologie im Sinne Max Webers. Sie hatte Hochburgen in Conzes Heidelberger Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte mit ihrer Buchreihe „Industrielle Welt“ und im – diesen politisch „links überholenden“ – Centrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld mit der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ (seit 1975) und der Buchreihe „Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft“ (seit 1972). Das 1961 begründete, SPD-nahe „Archiv für Sozialgeschichte“ ging ursprünglich von der Arbeitergeschichte aus, sodass die neue Zeitschrift in theoretischer Grundlegung und thematischer Weite wirklich neu war. In Band I der Conze-Gedächtnisbände von 1986 stand denn auch ein Beitrag von Jürgen Kocka über das Verhältnis zur Alltagsgeschichte mit dem Titel „Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte“. Kocka schrieb dazu: „ Es ist einzuräumen, daß die Sozialgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte sich stark auf die Erfassung von Strukturen und Prozessen konzentriert hat, die Einstellungen und Erfahrungen, die Verarbeitung der Erfahrungen und die Handlungen der Zeitgenossen oft eher am Rande einbezog und die Verknüpfung von Strukturen und Erfahrungen, Prozessen und Handlungen nicht immer leistete. […] Von den Alltagshistorikern ist da wenig zu erwarten. Mit ihrer Neigung zum mikrohistorischen KleinKlein, in ihrem Mißtrauen gegenüber Strukturen und Prozessen und oft auch gegenüber der professionellen Geschichts- und Sozialwissenschaft, mit ihrer meist begriffsarmen Vorliebe für die sympathisierende Nachzeichnung von Erfahrungen, wenn möglich über mitgeteilte Erinnerungen, wird sie fortfahren, Nischen zu entdecken und auszuleuchten. Das ist zwar durchaus wichtig, oft aber auch irritierend, unpro-

5. Berlin 1980–1982, 2. Aufl. 1991–1996; ders.: Nachträgliche Gedanken. Berlin 1985; Sigrid Jacobeit/Wolfgang Jacobeit: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Band 1–2 (1550–1900). Berlin 1985, 1987; Band 3 (1900–1945) unter dem Titel: Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands. Münster 1995. 14 Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. Göttingen 1993, S. 55–77, 2. Aufl. 1996.

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duktiv und sperrig. Die Analyse des Zusammenhangs zwischen den Erfahrungen und den Strukturen wird sie deshalb vermutlich weiterhin anderen überlassen, oder sie wird diesen Zusammenhang weiterhin negativ plakatieren und damit verzeichnen: die Nischen als Heimat eigensinniger Subjektivität und sich zurückziehender Nichtangepaßtheit, in Absetzung und vielleicht in Widerständigkeit gegenüber den großen, als lebensfeindlich unterstellten Prozessen der Modernisierung. […] Sozialgeschichte jedenfalls ist beides: Struktur- und Erfahrungsgeschichte zugleich. Erst in deren Verknüpfung läßt sie sich voll realisieren.“15 Eine schärfere Klinge in dieser Auseinandersetzung schlug das Haupt der „Bielefelder“, Hans-Ulrich Wehler, der dafür die Wochenschrift „Die Zeit“ benutzte. Wehlers seit 1987 erscheinendes Hauptwerk „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ wurde das Flaggschiff von Geschichte als „historischer Sozialwissenschaft“. Es ist ab dem Jahr 1815 für alle Zeitabschnitte in fünf Kapitel gegliedert: Die Bevölkerungsentwicklung, Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Wirtschaft, Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse Sozialer Ungleichheit, Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse Politischer Herrschaft, Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Kultur. Das Stichwort Alltag fehlt auch im Kapitel über die „Klassen“ in der Untergliederung. Wie auch Kocka ging Wehler davon aus, dass die Potenz Politik – Machtausübung – einmaliges Ereignis niemals aus dem privaten Leben des einfachen Staatsbürgers ausgrenzbar war, wenngleich vor allem in einer demokratischen Verfassung Wechselwirkungen von „Umständen“ und Menschenhandeln stattfanden. Von der einseitigen Subjektorientierung der Alltagshistoriker wollte er überhaupt keinen Nutzen für echte Gesellschaftsgeschichte erkennen. Er würdigte deshalb auch im Meer seiner Beleganmerkungen keine so betitelte Arbeit einer Erwähnung und zitierte nur einmal im ersten Band, zur sozialen Ungleichheit,16 „zur allgemeinen Problematik des Interesses am sog. ,Alltag‘“ sich selbst: „Neoromantik und Pseudorealismus in der neuen Alltagsgeschichte“, die „vorläufig noch ein merkwürdiger Zwitter“, weder „Fisch noch Fleisch“ sei, und „Alltagsgeschichte, Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?“ (1980, dann 1985).17 In der „Zeit“ erschienen seine streitbaren Seiten, so „Barfußhistoriker – woher sie kommen und was sie wollen“ (1984), und „Geschichte von unten gesehen“ (1985). An dieser Stelle nannte er die Arbeiten der Alltagshistoriker etwa einen „biederen Hirsebrei“.18 Seine eigene Geschichtsdarstellung ging zwar von einem Primat der Innen- vor der Außenpolitik aus, beabsichtigte aber auch offen egalitär-demokratische Wirkungen auf die deutsche Gegenwartsgesellschaft. 15 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte, in: Schieder/Sellin (Hg.), Sozialgeschichte (wie Anm. 1), Band I. Göttingen 1986, S. 67–88. 16 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1. München 1987, S. 595, Anm. 67. 17 Ders.: Neoromantik und Pseudorealismus in der neuen Alltagsgeschichte. o. O. 1980; wieder wortgleich zuletzt in: Politik in der Geschichte 16 (1998), S. 188–194; ders.: Die neue deutsche Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: Franz Brüggemeier/Jürgen Kocka (Hg.): Geschichte von unten, Geschichte von innen. Hagen 1985, S. 17– 47; wieder in: Hans-Ulrich Wehler: Aus der Geschichte lernen. München 1988, S. 130–151. 18 Ders.: Barfußhistoriker – woher sie kommen und was sie wollen, in: Die Zeit, Nr. 45 (2.11.1984); ders.: Geschichte von unten gesehen, in: Die Zeit, Nr. 19 (3.5.1985), S. 64.

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Das Problem Alltag und Politik stellte sich beispielhaft in dem großen Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte in München und der bayerischen Archivverwaltung „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945“, veranlasst vor allem durch die Frage der Definition von „Widerstand“ nur passiv resistenter Einzelner. 1977 bis 1983 gaben der Direktor Martin Broszat, Elke Fröhlich und Falk Wiesemann u. a. sechs Aufsatzbände mit Anteil regionaler und örtlicher Fallund Feldforschungsbeispiele heraus: „Bayern in der NS-Zeit“.19 Der Blick sollte vor allem auf die Auswirkungen des Regimes im alltäglichen Leben, auf die „unten, in den gesellschaftlichen ,Primärsystemen‘“, Agierenden, gerichtet sein. In einem gedruckten Bericht über das Schlusskolloquium des Projekts wurde der von den Herausgebern im Verlauf eingebundene alltagsgeschichtliche Ansatz durch Zeithistoriker der Antibegrifflichkeit, antiquantifizierenden Tendenz, anti-struktur- und prozessgeschichtlichen Neigung, Neigung zur Hochstilisierung der Unterschichten, Aufgabe des Klassen- und Schichtenbegriffs bezichtigt. Befürwortern der didaktischen Vorzüge wurde entgegengehalten, das könne allzu leicht Hand in Hand gehen mit einem auf Apologie hinauslaufenden „Milieufatalismus“ (Heinrich August Winkler). Winkler zog dann das Fazit: Werde das Alltägliche in Bezug gesetzt zur Politik als dem Außeralltäglichen, nur dann bestehe nicht die Gefahr der Trivialisierung.20 Zieht man veröffentlichte Erinnerungen von Zeitzeugen als Quelle der Alltagsgeschichte heran (Oral history), so treten in der Tat doch immer wieder die ins private Leben, in die „Geschichte von innen“ einbrechenden politischen Ereignisse, Verfolgung, Krieg, Flucht, Vertreibung in den Vordergrund – „Alltag, der nicht alltäglich war“, also Elemente der nicht verdrängbaren alten „Geschichte von oben“ und außen. Wirft man solche Blicke auf nacheinander unternommene Versuche, Politik an den Rand der Geschichte zu verbannen, dann kann die Alltagsgeschichte sogar als jüngere, radikalere Schwester der Strukturgeschichte erscheinen. B. Wandten sich Alltagshistoriker zuweilen gegen Strukturhistoriker als Darsteller einer „Geschichte ohne Menschen“, so hätten sie an sich die Anthropologen als natürliche Verbündete empfinden müssen. Auch die biologische, philosophische, theologische und Kulturanthropologie haben historische Zweige entwickelt. Die neue Brockhaus Enzyklopädie definiert Kulturanthropologie kurz wie folgt: „Eine der Soziologie und Völkerkunde nahe stehende Spezialwissenschaft, die aus der vergleichenden Betrachtung der Gesamtheit der empirisch erfahrbaren Möglichkeiten der Kulturgestaltung durch den Menschen zu gültigen Aussagen über diesen als kulturfähiges Wesen zu gelangen sucht.“ Der Begriff geht auf B. Tylor 1871 zu-

19 Martin Broszat/Elke Fröhlich/Falk Wiesemann/Anton Grossmann (Hg.): Bayern in der NSZeit, Band 1–4. 1: Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte. München/Wien 1977; 2/3: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München/ Wien 1979/1981. 20 Martin Broszat (Hg.): Alltagsgeschichte in der NS-Zeit. Trivialisierung oder neue Perspektiven (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte). München 1984.

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rück, in Nordamerika wird er etwa gleichbedeutend mit Ethnologie verwendet. „Gegen Ende der 1920er-Jahre entstand im Rahmen der v. a. in Deutschland entwickelten philosophischen Anthropologie eine […] Kulturanthropologie, die Kultur als einen Lebensrahmen der Menschen betrachtet, mit dem sie die Mängel ihrer Naturausstattung […] auszugleichen vermögen. […] Heute umfasst die sozialwiss. Kulturanthropologie zum einen die Beschreibung und den Vergleich versch. Kulturen als Sinnsysteme und Rahmen menschl. Handelns, zum anderen verstärkt die Beschäftigung mit der Kulturleistung der Sprache.“21 Schon die vierte Auflage von Meyers Konversations-Lexikon hatte im ersten Band von 1890 einen ausführlichen Artikel „Anthropologie“, – „Naturgeschichte des Menschen“ – enthalten und ihn in somatische, psychische und auf anderthalb Seiten historische Anthropologie mit den Hilfswissenschaften Paläontologie und Archäologie gegliedert. Schon 1870 gab es eine Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, die sich vor allem auch mit den Anfängen der Kultur befasste.22 Auch deutsche Kulturanthropologie ist also ein alter eigener Wissenschaftszweig neben der damals ja noch wesentlich auf Schriftüberlieferung gestützten Geschichtsforschung, und ihr Arbeitsfeld waren von Beginn an Funde zum Alltagsleben. Im selben Zeitraum entwickelte sich der geschichtswissenschaftliche Zweig Kulturgeschichte. Seit 1993 erscheint im Verlag Böhlau eine eigene Zeitschrift „Historische Kulturanthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag“ auch mit typischen Themen der Alltagsgeschichte, wobei aber das Stichwort Alltag in den Beiträgen auffallend vermieden wird. Im Jahr 2000 kam das Thema Körpergeschichte hinzu.23 Das Verdienst, die Aufmerksamkeit der deutschen Historikerzunft auf die Anregungen der Anthropologie für die Neuzeitgeschichte gelenkt zu haben, kommt der Horizontweite von Thomas Nipperdey (seinerzeit Westberlin) zu, der übrigens auch aktives Mitglied von Conzes Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte war. Er hielt auf dem deutschen Historikertag von 1967 in Freiburg das Referat „Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Anthropologie“, dessen erweiterte Fassung wir sofort in der VSWG zum Abdruck brachten. Nipperdey analysierte, ohne das Wort „Alltag“ zu gebrauchen, ältere und jüngere deutsche und amerikanische Ansätze zu einer „anthropologischen Sozialgeschichte“ von Historie, Volkskunde und Soziologie her. Er beschloss seine „methodisch-programmatische Erörterung“ vor Historikern mit einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung: „Mir scheint, daß die Historie, insofern sie auch eine Sozialwissenschaft ist, eine Zwischenstellung in dem komplementären Gefüge der Wissenschaften einnimmt: Sie ist eine hermeneutische Wissenschaft, die Handlungen und Ausdrücke auf ihren Sinn hin versteht und aneignet, und sie ist eine analytische Wissenschaft, die menschliches Handeln 21 Die Brockhaus Enzyklopädie, Band 12. 20. Aufl. 1997, S. 615; vgl. auch Wolfgang Fikentscher (Hg.): Begegnung und Konflikt – eine kulturanthropologische Bestandsaufnahme. München 2001 (ohne Beitrag über den „modernen Ableger“ Alltagsanthropologie). 22 Meyers Konversations-Lexikon, Band 1. 4. Aufl., Leipzig/Wien 1890, S. 628–631. 23 Richard van Dülmen u.a. (Hg.): Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag. Köln/Weimar/Wien 1993 ff.

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nach Gesetzen kausal erklärt […]. Es gibt wichtige Grenzfälle der historischen Analyse, in denen der hermeneutisch zu erschließende Sinn hinter der kausalgesetzlichen Struktur von Handlungsabläufen zurücktritt. […] Dann gibt es gesetzmäßige Abläufe beobachtbaren menschlichen Verhaltens, wie sie die behavioristische […] Sozialpsychologie zu ermitteln sucht […]. Sozialgeschichte und paradoxerweise gerade eine kulturanthropologisch fundierte Sozialgeschichte, die darauf ausgeht, objektive Daten anthropologisch zu vermitteln, kann sich dem Bestehen solcher objektivierbarer Strukturen und den ihnen entsprechenden Verfahrensweisen nicht entziehen.“24 1983 erschien der erste Band von Nipperdeys Hauptwerk, der Deutschen Geschichte 1800–1918.25 Sein zweites Kapitel hieß „Leben, Arbeiten, Wirtschaften“, dessen dritter Abschnitt „Das tägliche Leben“, welcher die Themen Wohnen, Kleidung, Freizeit, Essen, Gesundheit behandelt. In den Literaturhinweisen führte er unter dem Sammeltitel „Alte und neue Gesellschaft“ nur zwei Titel zum Stichwort „Alltag“ an: die Alltagsgeschichte des deutschen Volkes von Kuczynski und die frühe Kulturgeschichte des Alltags von Treue. Der Band 1866–1918/I von 1990 enthielt dann die Kapitel II „Familie, Geschlechter, Generationen“ und III „Das tägliche Leben“, Letzteres über Essen und Trinken, Kleidung, Wohnen, Kranksein und Gesundsein, Freizeit, Sport, Reisen, Natur, Mentalität und Lebenshaushalt. In der eigenen erzählenden Darstellung wurden die Themen Kulturanthropologie und Alltagsgeschichte nicht einmal am Rande als solche angesprochen. Lothar Gall merkte in einer Besprechung des ersteren Bandes erstaunt an, Nipperdey, „sonst als ein ausgesprochen theoretischer, gern über Gegenstand und Methode reflektierender Kopf bekannt“, verliere darin über seinen Ansatz und seine Vorgehensweise kaum ein Wort. So blieb in der eigenen Darstellung eine Rückanknüpfung an das kulturanthropologische Postulat aus und die Klärung des Verhältnisses von Kulturanthropologie zu Alltagsgeschichte anderen überlassen. Die Conze-Gedächtnisschrift widmete auch der historischen Anthropologie keinen Beitrag als etwaigem Teil der Sozialgeschichte. Mehr und frühere Aufmerksamkeit fanden Kulturanthropologie und dann noch stärker Alltagsgeschichtsanspruch im Fach Volkskunde. Dort hatte Bausinger seit 1961 den neuen Fachnamen „Volkskultur“ vorangebracht und Ina Maria Greverus 1971 einen Aufsatz „Kulturanthropologie und Kulturethnologie: ,Wende zur Lebenswelt‘ und ,Wende zur Natur‘“ vorgelegt.26 1984 veröffentlichten der Sozialhistoriker Richard van Dülmen und der Volkskundler Norbert Schindler ein Buch „Volkskultur. Zur Wiederkehr des vergessenen Alltags (16. bis 20. Jahrhundert)“.27 Im selben Jahr brachte der Neuhistoriker Hans Süssmuth das Buch „His24 Thomas Nipperdey: Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Anthropologie, in: VSWG 55 (1968), S. 145–164. 25 Ders.: Deutsche Geschichte 1800–1866. München 1983; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918. München 1990/1991, S. 125–191 und weitere Auflagen. 26 Ina Maria Greverus: Kulturanthropologie und Kulturethnologie: „Wende zur Lebenswelt“ und „Wende zur Natur“, in: Zeitschrift für Volkskunde 67 (1971), S. 13–26; programmatisch auch Alf Lüdtke: Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 11. Frankfurt 1978, S. 311–350. 27 Richard van Dülmen/Norbert Schindler: Volkskultur. Zur Wiederkehr des vergessenen Alltags

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torische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte“ heraus, in dem Kocka Thesen zur Diskussion „Historisch-anthropologische Fragestellungen – Ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft?“ beisteuerte.28 In der Zeitschrift der „Bielefelder“ erschien in Heft 1984/3, herausgegeben von Kocka über Sozialgeschichte und Kulturanthropologie, ein Beitrag von Hans Medick „Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte“. Damit wurde einschlägige Forschung des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte vorgestellt.29 Der deutsche Historikertag 1994 in Leipzig bot in der Sektion Theoriefragen eine Podiumsdiskussion „Historische Anthropologie in der Diskussion“ unter Leitung von van Dülmen. Der Bericht darüber räumte ein: „Die Historische Anthropologie versteht sich zweifellos als eine neue Forschungsrichtung, die ihr klar umrissenes Forschungsfeld finden muß. Als eine eigene Disziplin wird sie sich jedoch wohl aufgrund ihrer inter-, ja transdisziplinären Orientierung kaum etablieren können. Sie verwischt die klaren Grenzen sowohl zur Politik- und Sozialgeschichte wie zu den Nachbarwissenschaften wie Volkskunde, Kultursoziologie und ,Ethnologie‘ “30 – die Alltagsgeschichte blieb unerwähnt. C. Setzten sich die Strukturhistoriker mehr oder weniger von der „Mode“ Alltagsgeschichte ab, so gingen die Volkskundler unter dem Leitwort „Volkskultur“ strategisch den umgekehrten Weg. Sie vereinnahmten die Themen der Alltagsgeschichte ins eigene Fach und erklärten diese schließlich als entbehrlich. In den Conze-Gedächtnisbänden von 1987 schrieb Peter Borscheid auch im Blick auf Bausingers „Volkskultur und Sozialgeschichte“. Er begann: „Nach langen Jahren der Geschichtsmüdigkeit sehen die einen in der Wendung zum Alltag die magische Zauberformel, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsbegeisterung neu zu wecken; die anderen belächeln sie als faulen Zaubertrick, um von Wichtigerem abzulenken und sich größere intellektuelle Anstrengungen zu ersparen.“ Nach einem EntwicklungsRückblick und einem Seitenblick auf die Parallel-Hinwendung zur engräumigen Lebenswelt, zu bisher als banal abgetanen Vorgängen und zum Individuum auch in der schöngeistigen Literatur hieß es dann selbstbewusst über Vorbehalte und „Fehlleistungen“: „Was vermag die Alltagsgeschichte zu leisten? […] Weshalb ist sie

(16.–20. Jahrhundert). Frankfurt 1984; dann Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Band 1–3. München 1990/1992/1994, Neuaufl. 1999 (3: Magie, Religion, Aufklärung im 16.–18. Jahrhundert). 28 Hans Süssmuth (Hg.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Göttingen 1984. 29 Hans Medick: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10 (1984), S. 295–319; ders.: Wer sind die „Missionare im Ruderboot“? Oder: Kulturanthropologie und Alltagsgeschichte, in: Ursula A. J. Becher (Hg.): Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben? Düsseldorf 1986, S. 63–68. 30 Ulrich von Hehl: Bericht über die 40. Versammlung deutscher Historiker in Leipzig 28.9.– 1.10.1994. Leipzig 1995, S. 257 f.; zur Begriffswahl vgl. auch Werner J. Patzelt: Ein alltagsanalytisches Paradigma? Bericht über das ethnomethodologische Schrifttum und den Forschungsstand, in: Neue Politische Literatur 29 (1984), S. 3–49, 187–204.

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nicht nur ein lästiger und überflüssiger Wurmfortsatz der Sozialgeschichte? […] Für die Geschichtswissenschaft wird in Zukunft eine der Hauptaufgaben darin liegen, über die Alltagsgeschichte zu einer Vermittlung der trägen, relativ unbeweglichen alltäglichen Lebenswelt und der sprunghaften, kurzatmigen Welt der einmaligen Ereignisse zu kommen. […] Die Arbeit der Modellschreiner und Programmierer ist inzwischen getan, nachdem der Alltag in unser Kulturverständnis zurückgekehrt ist. Die Zeit der Ingenieure ist gekommen.“31 Woher aber sollten dieselben kommen? Schon 1976 hatte Greverus in ihrem Buch „Kultur und Alltagswelt“ für die Volkskunde beansprucht, der Alltagsbegriff sei „zum vereinheitlichenden und identitätsstiftenden Dachbegriff des Faches geworden“.32 Wolfgang Jacobeit schrieb 1991 von Nutzen und Nachteil der Alltagsgeschichte.33 Nun fand sich im Tagungsprogramm der Arbeitsgruppe kulturhistorischer Museen in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde im Herbst 1992 das Thema „Alltagskultur passé?“. Gleich darauf folgte in der Zeitschrift für Volkskunde der eingangs zitierte Aufsatz von C. Lipp über Alltagsforschung zwischen Volkskunde, Soziologie und Geschichte mit dem befriedigten Untertitel „Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts“. Sie erinnerte an einen Satz ihres Fachkollegen Klaus Beitl von 1985, der Alltag sei ein Forschungsgebiet, auf dem sich die Disziplinen inzwischen „auf den Füßen herumtreten“, und fügte hinzu, nach systematischer historischer Hochkonjunktur in den 1980er Jahren sei mittlerweile der „Glanz des Alltags im Schwinden“, Alltagsforschung sei „kein Feld mehr, auf dem Innovation möglich scheint.“ Mit theoriegeschichtlicher Vertiefung behandelte sie Geschichte der Alltagsforschung, subjektzentrierte Fragestellungen und Methoden, Sachkulturforschung und das Problem der Subjektzentrierung, Alltagsgeschichte als besondere Form der Wissenschaftskultur, den Weg vom dichotomischen Kulturbegriff zum Mythos der Volkskultur, Alltagskulturforschung und das Problem des Kulturbegriffs, das Ende des Alltags in Museum und Wissenschaft. Am Beispiel der Museen demonstrierte sie die Krise, die sich aus der Übertragung von Alltagskultur als des Durchschnittlichen und Gewohnten ergebe. So sei „ohne Struktur und Sinn, ohne die symbolischen Dimensionen und auch Mystifikationen, die das wechselnde Gesicht des Alltäglichen und seine Komplexität bestimmen, Alltagsdarstellung im Museum öde“. Allgemein gelte, dass in Gesellschaft und auch Wissenschaft durch Alltagsgeschichte die Faszination des Alltäglichen als „Fokus kultureller Erfahrung verblasst“ und Ermüdung eintrete. Hingegen wachse in der „bürgerlichen Luxuskultur“ die „Aktualität des Ästhetischen und das Bedürfnis nach dem Erhabenen, nach einem sich von den Niederungen des Alltags absetzenden kulturellen Erlebnis“.34

31 Borscheid, Alltagsgeschichte (wie Anm. 1), S. 97 f. 32 Ina Maria Greverus: Kultur und Alltagswelt: Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. München 1978, Nachdruck 1987. 33 Wolfgang Jacobeit: Vom Nutzen und Nachteil alltagsgeschichtlichen Denkens für die Historie, in: Festschrift für Georg G. Iggers. Hagen 1991, S. 134–147. 34 Lipp, Alltagsforschung (wie Anm. 7).

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Im Deutschen Bücherverzeichnis 2002/03 sind unter dem Stichwort „Alltagsgeschichte“ nur fünf Titel aufgeführt, darunter nur eine aktuelle Neuauflage von Lüdtke, ein Quellenband für Deutschland 1871–1914 und der Historikertag-Vortrag Schulzes von 1992/94 (siehe Anm. 6.) sowie eine deutsche Monographie zu Russland. Dazu kommen viele Verweise und mit „Alltag“ zusammengesetzte Einzeltitel.35 D. Zur Diskussion des Historikertags 1992 über die Frage „Was kommt nach der Alltagsgeschichte?“ schrieb Teilnehmer Wischermann 1998 im kritischen Rückblick: „Das wußte natürlich so genau niemand, doch eine starke Strömung war sich bewußt, was sie nicht kommen sehen wollte: den ,luftigen Kulturalismus‘, wie Jürgen Kocka ihn wohl im Rückgriff auf Jürgen Habermas benannte. Mit diesem Gespenst war vermutlich die Gemengelage von Denkanstößen irgendwo zwischen Foucault, Postmoderne und vermeintlicher Beliebigkeit individueller Erfahrungswelten gemeint. Allein Wolfgang Hardtwig wagte auf dem Historikertag eine positive Formulierung anstehender Problemstellungen für die Geschichtswissenschaft: dies sei einmal die Frage nach dem Wandel der Wahrnehmung des Menschen von sich selbst und seiner Umwelt und zum anderen nach den Formen und Funktionen der Bewahrung von Vergangenem in Gedächtnis und Erinnerung.“36 Vier Jahre später, auf dem Münchener Historikertag 1996, hatte sich das „Kulturalismus“-Gespenst materialisiert, als der scheidende Verbandsvorsitzende Lothar Gall in seinem Schlussvortrag „Das Argument der Geschichte“ nicht nur die wieder zunehmende Resonanz auf die „sogenannte Ereignisgeschichte“ samt jener der diplomatischen Beziehungen ansprach, sondern vor allem eine „Zukunft einer fächer- und disziplinübergreifenden Kulturwissenschaft, die gerade in Ansätzen sichtbar wird“. Er ging noch weiter: „Was eine in diesem Sinne zur historischen Kulturwissenschaft geweitete [!] Geschichtswissenschaft zum Gegenstand hat, ist, ganz allgemein gesprochen, die Beschreibung und Analyse des […] Prozesses der Selbstdefinition und Selbstidentifizierung des Menschen auf außerbiologischem, außergewöhnlichem Wege.“ Darin waren natürlich auch alle Einzelthemen der nicht eigens erwähnten Alltagsgeschichte enthalten, die lediglich in einer Anmerkung genannt wurde.37

35 Vgl. Verzeichnis lieferbarer Bücher. Autoren – Titel – Stichworte, Band 1. Frankfurt 2002, S. 297–299; Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Göttingen 1989, 2. Aufl. 2002; noch ders.: Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit – Entpolitisierung der Sozialgeschichte?, in: Robert M. Berdahl u. a. (Hg.): Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung. Frankfurt 1982. 36 Clemens Wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Gegenstand und Methode (VSWG, Beiheft 145). Stuttgart 1998, S. 21. 37 Lothar Gall: Das Argument der Geschichte, in: Stefan Weinfurter/Frank Martin Siefarth (Hg.): Geschichte als Argument. 41. deutscher Historikertag in München 17.–20.9.1996. München 1997, S. 325–334, hier 332 f.; vollständiger Abdruck: Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Geschichtswissenschaft, in: HZ 264 (1997), S. 1–20.

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Gemeint war die sogenannte Neue Kulturgeschichte, die sich auch als partielle Erbin der Alltagsgeschichte gegen die Struktur-, besonders die Bielefelder Gesellschaftsgeschichte wandte. Deren Vertreter entschieden sich dafür, statt bloßen Gegenangriffs selbst eine Brücke zu bauen. Noch 1996 erschien ein Sonderheft ihrer Zeitschrift „Kulturgeschichte heute“, das mit einer Selbstkritik Wehlers begann: er habe bisher mit zu wenig Kulturbetonung nur den „halbierten Weber“ rezipiert. Es folgten Otto Gerhard Oexle, „Geschichte als historische Kulturwissenschaft“, wissenssoziologisch Thomas Mergel über Kulturgeschichte als die etwaige „neue große Erzählung“, August Nitschke über Naturwissenschaft und Kulturgeschichte und andere.38 Der Artikel „Kulturgeschichte“ in Band 12 der Brockhaus-Enzyklopädie (1997) wollte diese allgemein als „die Entwicklungen und Wandlungen im Bereich des geistigen kulturellen Lebens (als Ausschnitt geschichtlicher Prozesse) sowie deren Erforschung und Darstellung“ definieren, erwähnte neue Impulse durch Änderung des Kulturbegriffs, Verbindung mit dem Ertrag der Diskursanalyse und Linguistik, auch durch Zweifel am „Modernisierungsleitbild“. Der Beitrag fuhr dann für die hier „verspätete kulturhistorische Theoriedebatte“ fort: „Die anthropologische Kulturgeschichte („neue K.“ bzw. „K. im kleinen“) führte seit Mitte der 1970er Jahre zu einer Fülle von (auch mikrohistorisch „dichten“ (C. Geertz)) Untersuchungen, die von der Alltagsgeschichte und der historischen Darstellung des privaten Lebens (u. a. historische Anthropologie) über die Geschichte der Sinnlichkeit, der Aggression sowie einzelner kulturgeschichtlicher Bereiche und kultureller Güter (z. B. K. der Mode) bis zur Mentalitätsgeschichte […] und zur historiographischen Bearbeitung der K. selbst […] reichen.“39 So wurde Kultur auch als weites Synonym für Lebenswelt verstanden, ein auch in der Alltagsgeschichte beliebter Begriff. Der Historiker Stefan Haas machte 1994 in einem Buch über deutsche historische Kulturforschung vor 1933 in ihr Vorläuferelemente der Neuen Kulturgeschichte aus und fügte als Schlussteil eine Skizze einer Theorie der Kulturgeschichte mit eigenem Abschnitt über ihr Verhältnis zur Alltagsgeschichte an. Dazu schrieb er: „Beide in der Alltagsgeschichte thematisierten Aspekte, die alltägliche Verrichtung, jener unterbewußte Untergrund, vor dem Handeln stattfindet, als auch die symbolische Aneignung der Lebenswelt, standen in ähnlicher Form bereits im Themenkatalog des kulturhistorischen Diskurses. […] Hier bleibt besonders der Dialog aufzunehmen zwischen der Alltagsgeschichte und der Psychohistorie einerseits, der sich in jüngster Zeit neu formierenden Historischen Psychologie andererseits.“ Freilich zum Vorwurf bisheriger Theorieabstinenz: „Ähnlich verläuft es bei der Alltagsgeschichte, wo von einigen Ausprägungen ausgegangen, nicht das Denkmögliche, sondern die faktische Situation beschrieben wird. […] Wie sehr eine synthetische Geschichtsschreibung, wie es die Alltagsgeschichte, wo sie nicht bloße regionalisierte Detailarbeit ist, sein will, Theorieorientierung braucht, verdeutlicht auch das Bei38 Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute (GG, Sonderheft 16). Göttingen 1996. 39 Die Brockhaus Enzyklopädie, Band 12. 20. Aufl. 1997, S. 617; siehe jetzt auch Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte. Frankfurt a. M. 2001.

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spiel der Kulturgeschichte. Dabei geht es aber nicht primär, wie der Historischen Sozialwissenschaft, um Theorien, die einzelne Forschungen heuristisch zu leiten vermögen und von anderen Wissenschaften, meist der Soziologie, übertragen werden sollen.“40 Theorie erforderte allerdings begriffliche Präzision und Abgrenzungsdefinition, methodische Transparenz, auch praktische Umsetzbarkeit in große Darstellung – und von den beiden Wunschpartnerinnen tendierte die eine wesensmäßig nach wie vor zur Universalgeschichte, die andere zur Mikrohistorie. Wehler seinerseits setzte sich in einem Buch „Die Herausforderung der Kulturgeschichte“ von 1998 mit ausführlicher Selbstkritik der Historischen Sozialwissenschaft in dreißig Jahren erneut mit Webers Religionssoziologie, Bourdieu, Foucault, Freud und Erikson auseinander. Er wollte die Historische Sozialwissenschaft mit stärkerer Betonung des Individuums gegenüber den Strukturen „reformieren“, ihr aber in dieser erweiterten Gestalt doch die frühere Meinungsführerschaft erhalten.41 Anlässlich seines 65. Geburtstags gaben Bielefelder Mitarbeiter die 13 Referate eines Festkolloquiums als Buch „Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte“ und als zweite Bilanz nach 1986 heraus. Die Herausgeber sahen sich nun vier Wellen der Kritik gegenüber. Kocka, der noch in einem Aufsatz zur Wirtschaftsgeschichte von 1995 das Ende der „Welle der Kulturalisierung und Anthropologisierung“ erwartet hatte, nannte u. a. den Streit zwischen Struktur- und Alltagsgeschichte und die Debatte über Gesellschaft und Kultur. Lipp wiederholte zur Frage „Kulturgeschichte und Gesellschaftsgeschichte – Mißverhältnis oder glückliche Verbindung?“ ihren Eindruck, die Sozialgeschichte überhaupt habe sich festgefahren und werde sehr bald durch (Volks-)Kulturgeschichte abgelöst werden. Ute Frevert vermisste jedenfalls für die Zeit seit 1914 im eigenen Programm die Geschichte der „Gefühle“. Wehler seinerseits vermisste im Schlussbeitrag eine aktueller gewordene größere Anerkennung der „kontinuierlich wirkenden Alltagsmacht“ der Wirtschaft oberhalb der Verschiedenheit der Lebensstile.42 Den Versuch, Historische Anthropologie, Bielefelder Gesellschaftsgeschichte und Neue Kulturgeschichte durch ein „Lebensstilkonzept“ miteinander zu verknüpfen, unternahm 1997 Martin Dinges. Sein geschichtstheoretischer Ansatz grenzte ebenfalls wie die beiden ersteren Konzepte und die ältere Kulturgeschichte die politische und Ereignisgeschichte aus und vermied gewisse Prozesse der „industriellen Welt“. Dinges versteht unter „Alltagsgeschichte“ nicht „jene ältere Kulturgeschichte, die bei vielen Sozialhistorikern wegen der Beliebigkeit ihrer Gegenstände und deren anekdotenhafter Präsentation, die sich oft glänzend mit fragwürdigen, zumindest sozial konservativen Absichten vermengte, einen kalten Schauder auslöst“, auch nicht „jene geistesgeschichtliche Richtung, die mit den Namen Jakob Burckhardt

40 Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität (Münstersche Historische Forschungen 5). Köln/Weimar/Wien 1994: B. Theorie der Kulturgeschichte: 5. Kulturgeschichte als Diskurs: 5.3. Von der Alltagsgeschichte zu einer neuen Kulturgeschichte?, S. 448–453. 41 Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998. 42 Paul Nolte/Manfred Hettling/Frank-Michael Kuhlemann/Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für H. U. Wehler. Göttingen 1996. Vgl. Anm. 1.

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oder Ernst Cassirer zu verbinden wäre, oder die Kulturgeschichten à la Karl Lamprecht oder Georg Steinhausen, noch die frühere Volkskunde“. Der Entwurf eines „kulturgeschichtlichen Neubeginns“ zitierte zur Anthropologie den erwähnten VSWG-Aufsatz Nipperdeys von 1968, freilich ohne dessen Verzicht auf Anwendung in der eigenen großen Darstellung zu berühren. Das integrative Projekt unterschätzte die „Volkskultur“-Erweiterung der Volkskunde und die Verschiedenheit in der begrifflichen Definition seiner drei Grundströmungen. Dinges schrieb: „Alltagskulturgeschichte ist durch ihre doppelte Bezugnahme auf globale Strukturen und ,individuelle‘ Handlungsentwürfe weder ,strukturalistisch‘ noch ,symbolisch interaktionistisch‘. In das Konzept geht das Wissen um die Stärken und Schwächen beider Zugriffe ein. […] Es besteht kein Konsens, was unter ,Historischer Anthropologie‘ verstanden werden soll: eine Forschungsrichtung, eine Spezialdisziplin, eine Sehweise oder etwas anderes. Über einen bzw. den Gegenstandsbereich herrscht Unklarheit.“ Auf derselben Seite ist von „definitorischen Problemen des Alltagsbegriffs“ und von „dem bisweilen inflationären ,Alltagsgebrauch‘“ die Rede. Zur Definition der Neuen Kulturgeschichte wurde lediglich auf die Debatte seit dem Sonderheft von „Geschichte und Gesellschaft“ von 1966 und auf Oexles Schlagwort „Geschichte als Historische Kulturwissenschaft“ verwiesen, zum Lebensstilkonzept auf Bourdieu. Als Beispiel zum Verhaltensstil wird vor allem der Umgang mit Ehre im 18. Jahrhundert angeführt.43 Die große Resonanz auf den vorgeschlagenen „Umbau von Leitkonzepten“ lässt noch immer auf sich warten. Stattdessen wandte sich gerade auch die alte verbundene Forschung zu Sozialund Wirtschaftsgeschichte einer Sondererörterung der Beziehung von Neuer Kulturgeschichte und moderner Wirtschaftsgeschichte zu. Indem Wirtschaftsdenken und Wirtschaftshandeln grundsätzlich als Teil der Kultur begriffen wurden, wurde die Einheit beider Größen zu einem Thema, das auf der Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1997 der „Alltagshistoriker“ Wischermann in dem gehaltvollen Vortrag „Vom Gedächtnis und den Institutionen“ abhandelte. Er gelangte zu „Wirtschaftskultur“ als Synthese im Zeichen der „Marktrevolution“. Selbst bei ihm kam dort das Stichwort „Alltag“ nicht einmal mehr in den Anmerkungen vor.44 Der einstige Innovationsschub war offenbar wie die Gesellschaftsgeschichte „in die Jahre gekommen“ (Borscheid 2001), war er aber für sich allein zwischen stärker institutionalisierten älteren Hauptfächern doch auch zu schwach? 2. Alltagsgeschichte in der VSWG Die VSWG wurde in der Blütezeit der Alltagsgeschichte zunächst von Otto Brunner, Hermann Kellenbenz, Hans Pohl und (bald federführend) Wolfgang Zorn herausgegeben. Nach Brunners Rücktritt 1979 folgte ihm Werner Conze, längst bekannter Werber für französische und britische Strukturgeschichte und deutscher 43 Martin Dinges: „Historische Anthropologie“ und „Gesellschaftsgeschichte“. Mit dem Lebensstilkonzept zu einer „Alltagsgeschichte“ der frühen Neuzeit?, in: ZHF 24 (1997), S. 214. 44 Wischermann, Vom Gedächtnis (wie Anm. 36).

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Rezensionsreferent der englischen „Economic History Review“ und Verfasser des Beitrags „Social History“ im ersten Band der 1967 neu erschienenen historischen Zeitschrift „Journal of Social History“. Alle Herausgeber brachten Manuskripte bei, im Übrigen zeichnete Zorn für den Aufsatzteil der laufenden Hefte verantwortlich (von früh an Mitglied in Conzes Arbeitskreis und auf dem Historikertag 1962 bereits Koreferent in Conzes Vortrag „Nation und Gesellschaft“, mit Ralf Dahrendorf und Gerhard A. Ritter).45 In der Herausgeberschaft waren Kellenbenz für die Beihefte und Hans Pohl – seit 1987 mit Frauke Schönert-Röhlk – für die Rezensionen verantwortlich. Nach Kellenbenz’ Tod trat 1991 Karl Heinrich Kaufhold besonders für die Beihefte mit ein. Unter Federführung Pohls wurden 1995 Rainer Gömmel und Friedrich Wilhelm Henning Mitherausgeber, ab 1997 Günther Schulz, der 2002 die Federführung übernahm. Ferner traten 2002 Christoph Buchheim und Gerhard Fouquet in den Herausgeberkreis ein. Der Verbindung Zorns mit Conze entsprechend war die allgemeine Ausgangsgrundlage der Hefte eine gemäßigt-strukturgeschichtliche und spielte die Zeitschrift keine Pionierrolle für die Alltagsgeschichte; nur lokale Mikrohistorie schien allgemein im Aufsatzteil begrenzten Raum beanspruchen zu dürfen. Zwar erschien schon 1968 zur Kulturanthropologie der VSWG-Aufsatz Nipperdeys „Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Anthropologie“46, aber auch diese Theoriedebatte hatte ihren Ort nicht unmittelbar in der VSWG. Inhaltlich ist schon im Jahrgang 1969, von Brunner eingebracht, ein Aufsatz von Wolfgang Nahrstedt: „Freizeit und Aufklärung. Zum Funktionswandel der Feiertage in Hamburg seit dem 19. Jahrhundert“47 zu nennen, 1981 ganz theorielos, aber mit überraschend starken Auswirkungen schließlich in regionalen Gesamteditionen durch die bayerischen Regierungsbezirke, W. Zorn: „Medizinische Volkskunde als sozialgeschichtliche Quelle. Die bayerische Bezirksärzte-Landesbeschreibung von 1860/62“48; universalgeschichtlich war 1985 Eleazar Gutwirth: „The Family in Judeo–Spanish Genizah–Letters in Cairo (XVIth– XVIIIth C.)“49 u. a. Die theoriegeschichtlichen Aufsatzangebote zum Alltagsthema suchten und fanden andere Organe. Dann verlagerten sich überhaupt die Aufsatzthemen der VSWG mehr und mehr zur Wirtschaftsgeschichte hin. Ein Beiheft zur Alltagsgeschichte ergab sich nicht, doch erschien vor kurzem in Beiheft 146 der oben genannte wichtige Vortrag über die Nachfolgekonzeption Neue Kulturgeschichte und Wirtschaftsgeschichte.50 Ein Verdienst der Pohlschen Besprechungs-Betreuung waren mehrmals Sammelberichte. Darunter waren zwei von Conze: 1978 „Sozialgeschichte der Familie – Neue Literatur-Probleme der Forschung“ und 1983 „Neue Literatur zur Sozialge-

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HZ 198 (1963), S. 1–43 III. Nipperdey, Kulturgeschichte (wie Anm. 24). VSWG 60 (1973), S. 311–342. VSWG 69 (1982), S. 219–231; Wolfgang Zorn: Zur Forschungsgeschichte der Physikatsberichte, in: Peter Fassl/Rolf Kiessling (Hg): Volksleben im 19. Jahrhundert. Studien zu den bayerischen Physikatsberichten und verwandten Quellen. Augsburg 2003, S. 13–21. 49 VSWG 73 (1986), S. 210–215. 50 Hehl, Historikerversammlung (wie Anm. 30).

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schichte der Familie“51 und 1985 einer von Günther Schulz „Neue Literatur zur Geschichte des Wohnens und der Wohnungspolitik“.52 Conze hatte in der Buchreihe „Industrielle Welt“ 1976 den Band „Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas“ herausgegeben. In dem erstgenannten Sammelbericht schrieb er realistisch: „Die Tendenz ist unverkennbar, die Familiensozialgeschichte nicht einseitig zu einem Spezialgebiet werden zu lassen, sondern sie in die Sozialgeschichte sowohl der Institutionen wie des ,Alltags‘ einzufügen. Der Rezensent sieht sich dieser Idealforderung verpflichtet, sieht aber auch das drohende Mißverhältnis zwischen dem Entwerfen großer Programme und der Möglichkeit ihrer Verwirklichung voraus.“ Damit war der Finger auf eine langwierige Schwäche der Alltagsgeschichte gelegt. In den Einzelbesprechungen der VSWG vermisst man selten eine einschlägige Publikation aus sachkundiger Feder, wobei auch wichtige übersetzte und (noch) nicht übersetzte ausländische Bücher nicht fehlen.53 Die hundertjährige Zeitschrift des deutschen „Bindestrichfachs“ Sozial- und Wirtschaftsgeschichte übernahm zwar keine Vorreiterrolle für den Aufbruch unter der neuen Fahne „Alltagsgeschichte“, sie hat aber deren Themen unter verschiedenen Titeln mit Aufmerksamkeit durch eigene Aufsätze und loyale Besprechungen vermittelt und hat so an der Diskussion über die Inhalte der Bewegung teilnehmen lassen. Es war auch nicht der Stil der VSWG, die konzentrierte Alltagsgeschichte als „Modetorheit“ herabzusetzen und so den Lesern ein neuentdecktes „Tor zur Vergangenheit“ versperren zu wollen. 4. Deutschsprachige Alltagsgeschichte – Auswirkungen im Ausland Das Konzept für den konzentrierten Sozial- und Kulturgeschichtszweig Alltagshistorie hatte in einem Vierteljahrhundert zu zahlreichen Theorie-Veröffentlichungen geführt und viele inhaltlich einschlägige Einzelstudien angeregt und mit diesem Haupttitel versehen. Anders als bei der Gegenrichtung Strukturgeschichte/Historische Sozialwissenschaft kam es aber nur in der einstigen DDR zum Versuch der Umsetzung von Theorie in die Praxis großer Gesamtdarstellungen. Blickt man hinsichtlich der westdeutschen Entwicklung zunächst auf das Echo in der westeuropäischen und amerikanischen Sozialgeschichtsforschung, so liegt es nahe, wieder die aktuellen Auflagen der nationalen Enzyklopädien zuerst zu befragen. In den wichtigsten kommt Alltagsgeschichte (Everyday History, Histoire du quotidien) als Stichwort nicht vor. Die „New Encyclopaedia Britannica“ brachte zwar 2002 einen gro51 Werner Conze: Sozialgeschichte der Familie. Neue Literatur – Probleme der Forschung, in: VSWG 65 (1978), S. 357–369; ders.: Neue Literatur zur Sozialgeschichte der Familie, in: VSWG 71 (1984), S. 59–72; vgl. ders. (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas (Industrielle Welt 21). Stuttgart 1976. 52 Günther Schulz: Neuere Literatur zur Geschichte des Wohnens und der Wohnungspolitik, in: VSWG 73 (1986), S. 366–391. 53 Conze, Sozialgeschichte (wie Anm. 51), S. 367. Familiengeschichte war ein Schwerpunkt in Wien: Franz Xaver Eder/Peter Feldbauer/Erich Landsteiner (Red.): Wiener Wege der Sozialgeschichte (Kulturstudien, Sonderband). Wien 1997.

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ßen Artikel „History – The Study of History“, Abschnitte „History of Historiography“ bis ins 20. Jahrhundert und „Methodology of Historiography“, erwähnte aber Alltagsgeschichte nicht. „Grand Larousse Universel 8“ von 1994 nannte als „écoles historiques“ die positivistische, die „histoire totale“, Marxismus, Heidegger und Sartre, Foucault, und nahm deutsche Alltagsgeschichte nicht von fern zur Kenntnis.54 Was inhaltlich einschlägige Zeitschriften anlangt, behandelte die britische Zeitschrift „History Workshop“ (Oxford seit 1975) zwar viele Einzelthemen der Alltagsgeschichte, nannte sich aber im Untertitel „a Journal of Socialist History“; die ältere amerikanische „History and Theory. Studies in the Philosophy of History“ widmete ihr keine Aufmerksamkeit. Es war charakteristisch, dass der einzige spezielle Beitrag in K. D. Barkins amerikanischer Spezialzeitschrift für MitteleuropaGeschichte 1989 im Titel das nicht übersetzte deutsche Wort „Alltagsgeschichte“ benutzte.55 Umgekehrt erschien kein deutsches Buch über ausländische Alltagsgeschichte unter diesem Titel. Lediglich der Kölner Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas veranlasste eine Studie über Alltagsgeschichte der russischen Unterschichten 1861– 1914, doch war dies vorerst nur eine kommentierte Bibliographie ausgewählter zeitgenössischer Einzeltitel.56 Jedenfalls in der selbstgewählten Benennung blieb der neue Zweig der Sozialgeschichte mehr oder minder eine „germanistische“ Disziplin. 5. Bilanz und Aussicht Es liegt zu Tage, dass es weder im Inland noch gar im Ausland gelang, das wissenschaftliche „Markenzeichen Alltagsgeschichte“ als neuen interdisziplinären Dachbegriff und als selbständige sozialgeschichtliche Teildisziplin durchzusetzen. Trotzdem ist dieser Vorstoß zu neuen Wegen der Erkenntnis und Zusammenschau viel mehr als eine „Modetorheit“ geworden und hat der Geschichtswissenschaft nachhaltigen Nutzen gebracht, trotz ihrer offenbaren Schwächen. Liest man in damals aktuellen Veröffentlichungen zur deutschen Sozialgeschichte aus den 1970er Jahren, so erscheint einem vieles zu starr, zu pauschaliert, zu subjektfern. Spuren und Antworten von Alltagsgeschichte kann man heute wie einen Sauerteig in fast allen Arbeitsbereichen der Sozialgeschichte und auch schon der ganzen doppelfachlichen deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsliteratur finden, die ein Jahrhundert lang das wissenschaftliche Anliegen der VSWG war. Kocka hat in einem Jubiläumsvortrag für das Braunschweiger Institut für Sozialgeschichte kürzlich eine wohl abschließende deutsche Bilanz gezogen: „Mikrogeschichte statt Makrogeschichte,

54 Grand Larousse Universel, Tome 8. Paris 1994, S. 5287 f. 55 David F. Crew: Alltagsgeschichte: A New Social History „From Below“?, in: Central European History 22 (1989), S. 394–407; vgl. ders.: Rezension der Conze-Festschrift I–IV (wie Anm. 1), in: AfS 29 (1989), S. 385–392. 56 Angela Rustemeyer/Diana Siebert: Alltagsgeschichte der unteren Schichten im Russischen Reich (1861–1914). Stuttgart 1997. Rezensiert in VSWG 86 (1999), S. 66.

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Geschichte von innen und unten wurde gefordert. […] Es gab hitzige Debatten und großen Streit. Mittlerweile ist der Begriff ,Alltagsgeschichte‘ ganz aus der Mode gekommen. Aber die Sozialgeschichte hat sich nachhaltig verändert, denn die Geschichte der Wahrnehmungen, der Erfahrungen, der Verarbeitungsweisen der Alltagspraxis hat dort ihren Platz gefunden.“57 Das dürfte nun der dauernden Rolle des ganzen neuen Ansatzes gerecht werden.

57 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte in Deutschland seit 1945. Aufstieg – Krise – Perspektiven (Reihe Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung 47). Bonn 2002, S. 22.

Ute Daniel ALTE UND NEUE KULTURGESCHICHTE Unter den vielen Möglichkeiten, Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, gibt es eine besonders vielversprechende, die noch weitgehend ungenutzt ist: nämlich diejenige, die die Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen an Hand der Frage in den Blick nimmt, wie der jeweilige Gegenstand des wissenschaftlichen Tuns zugeschnitten wird, wie sich diese Perspektivierung des Gegenstands im Lauf der Zeit und über die Generationen hinweg wandelt und ob – und wenn ja, wie – sich die Vertreter und Vertreterinnen einer Disziplin über diesen Wandel streiten und verständigen. Solcherart angelegte Wissenschaftsgeschichten dürften, so ist zu vermuten, durchweg zu dem Ergebnis kommen, dass es für wissenschaftliche Gegenstände keine longue durée gibt, dass es also über längere Zeiträume hinweg betrachtet in jeder Disziplin zu erheblichen Neukonturierungen desjenigen kommt, was als Untersuchungsgegenstand gilt. Von besonderem Interesse wäre diese Herangehensweise meines Erachtens deswegen, weil sie weit mehr als nur Veränderungen auf der Ebene der Theorien und Methoden erfassen würde (die zwar häufig, aber keineswegs immer mit Veränderungen des Gegenstands einhergehen): Diese werden in der Regel explizit zum (Streit-)Thema gemacht und sind von daher leichter zu identifizieren und zu interpretieren. Doch pflegen Grundsatzdebatten auf dieser Ebene meist jenseits des normalwissenschaftlichen Alltags zu bleiben, der, von ihnen mehr oder weniger unberührt, seinen Gang geht. Ein besonders auffälliges Beispiel für die hier angesprochenen Wandlungsprozesse bietet die neuere Technikgeschichte: Sie untersucht, statt wie bisher die Geschichte technischer Innovationen und ihrer Implementierung, beispielsweise die zehn Jahre bestehende Baustelle des Suezkanals1 oder aber die Elektrifizierung als gesellschaftlichen Gestaltwandel.2 Solche und andere Themenstellungen sind weit mehr als eine Ergänzung: Sie perspektivieren Technik in gänzlich anderer Weise als bisher. Weisen alle Disziplinen solche Veränderungen der Gegenstandskonstitution in mehr oder minder starkem Maß auf, wenn man sie über längere Zeiträume hinweg betrachtet, so unterscheiden sie sich doch von Zeit zu Zeit in Hinsicht auf den Grad ihrer Gegenstandsgewissheit erheblich – also des unter den Vertretern und Vertreterinnen einer Disziplin vorhandenen Konsenses über den spezifischen Forschungsgegenstand. In besonders ausgeprägtem Maß besteht ein solcher Unterschied zwischen der Kulturgeschichte einerseits und der Wirtschaftsgeschichte andererseits. Seit von Kulturgeschichte gesprochen wird, also seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wird damit nicht nur im Verlauf der Jahrhunderte, sondern auch zur sel1 2

Nathalie Montel: Le chantier du canal de Suez (1859–1869). Une histoire des pratiques techniques. Paris 1998. David Gugerli: Redeströme. Zur Elektrifizierung der Schweiz 1880–1914. Zürich 1996; Beate Binder: Elektrifizierung als Vision. Zur Symbolgeschichte einer Technik im Alltag. Tübingen 1999.

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ben Zeit völlig Verschiedenes gemeint. Voltaires Vorstellung einer aufgeklärten Kulturgeschichtsschreibung, die den Menschen nützliche Kenntnisse über Handel und Bevölkerung, über Sitten und Gesetze vermitteln sollte,3 unterschied sich erheblich von Herders Kulturgeschichte der Völker, die „den Geist der Zeit zu entwickeln“ hatte.4 Jacob Burckhardts Kulturgeschichte zielte auf die Beschreibung anthropologischer Konstanten in der Menschheitsgeschichte ab,5 während zeitgleiche kulturgeschichtliche Arbeiten die zivilisatorischen Fortschritte der Menschheit nachzeichnen wollten.6 Karl Lamprecht postulierte eine Konzeption von Kulturgeschichte, die darunter eine Art Gesellschaftsgeschichte nach psychosozialen Entwicklungsstufen verstanden wissen wollte.7 Der niederländische Historiker Johan Huizinga wollte mit seinen kulturgeschichtlichen Studien synchrone Konstellationen in ihren wechselseitigen Bezügen nachzeichnen.8 Was für die alte Kulturgeschichte galt, gilt für die neue, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter verschiedenen Bezeichnungen betrieben und diskutiert wurde und sich erst seit den 1980/90er Jahren unter dem Fahnenwort „Kultur“ sammelte, nicht minder.9 Die jüngeren Vertreter und Vertreterinnen der sogenannten „Annales“Schule verschoben das bisherige Gegenstandsgebiet, das ihre Vorläufer auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Demographiegeschichte angesiedelt hatten, auf völlig andere Bereiche: Fernand Braudel schrieb die Geschichte des Mittelmeers als eine der – durch Geographie und Klima, durch Wirtschaftsbeziehungen und politische Zusammenhänge geprägte – langen Dauer (longue du3 4 5

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Voltaire: Neue Betrachtungen über die Geschichte [1756], in: Ders.: Kritische und satirische Schriften. München 1970, S. 557–561. Johann Gottfried Herder: Vorrede zu Fr. Majer: Zur Kulturgeschichte der Völker (1798), zit. nach: G.-M. Mojse: Artikel „Kulturgeschichte“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4. Darmstadt 1976, Sp. 1333–1338, hier 1334. Jacob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. von Peter Ganz. München 1982. Siehe zu Burckhardt auch Wolfgang Hardtwig: Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit. Göttingen 1974, und Thomas Noll: Vom Glück des Gelehrten. Versuch über Jacob Burckhardt. Göttingen 1997. Siehe u. a. Gustav Friedrich Klemm: Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit. 10 Bände. Leipzig 1843–1852; Georg Friedrich Kolb: Culturgeschichte der Menschheit mit besonderer Berücksichtigung von Regierungsform, Politik, Religion, Freiheits- und Wohlstandsentwicklung der Völker; eine allgemeine Weltgeschichte nach den Bedürfnissen der Jetztzeit. 2 Bände. Leipzig 1869/70. Die wichtigsten geschichtstheoretischen Schriften Lamprechts sind abgedruckt in Karl Schleier (Hg.): Karl Lamprecht. Alternative zu Ranke. Schriften zur Geschichtstheorie. Leipzig 1988. Siehe zu Lamprecht außerdem Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984, und Roger Chickering: Karl Lamprecht: A German Academic Life (1856–1915). Atlantic Highlands, NJ 1993. Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Stuttgart 1987 (Originalausgabe 1919). Vgl. zu Huizingas Version der Kulturgeschichte Christoph Strupp: Johan Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte. Göttingen 2000. Einen Überblick über die im Folgenden nur kursorisch charakterisierten kulturgeschichtlichen Ansätze bietet Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2002.

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rée).10 Derselbe Historiker stellte das Ancien Régime unter sozialgeschichtlichen Bezügen dar, die das Wirtschaftsleben ebenso umfassten wie die Alltagsgeschichte und die materielle Kultur.11 Emmanuel Le Roy Ladurie schilderte auf der Grundlage von Inquisitionsprotokollen die dörfliche Lebenswelt des Pyrenäenortes Montaillou zu Beginn des 14. Jahrhunderts in allen ihren Bezügen: Haus- und Feldwirtschaft, die Wanderschäferei, die spirituellen Vorstellungen, die Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen, politische und ökonomische Machtverhältnisse, den Umgang mit dem Tod und die Vorstellungen von Raum und Zeit.12 Für diese und weitere Arbeiten aus dem Umkreis der „Annales“ bürgerte sich zunehmend der Begriff der Mentalitätsgeschichte ein. In der Bundesrepublik war es in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Thomas Nipperdey, der – unter anderem mit einem wegweisenden Aufsatz in der VSWG – für eine neue Version der Kulturgeschichte eintrat, die er als historische Anthropologie konzipierte.13 In den folgenden Jahren wurden hier – in Einzelfällen auch in der DDR14 – ähnliche, aber keineswegs identische Ansätze unter den Bezeichnungen Alltags-, Mentalitäts- oder Kulturgeschichte vertreten.15 Es folgten, unter dem Einfluss u. a. des angloamerikanischen linguistic turn und der von Michel Foucault 10 Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bände. Frankfurt a. M. 1990 (Originalausgabe 1949). Der Begriff der „longue durée“ wird von Braudel in einem erstmals 1958 erschienenen Aufsatz begründet; siehe für die deutsche Übersetzung Fernand Braudel: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Marc Bloch u. a.: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von Claudia Honegger. Frankfurt a. M. 1977, S. 47–85. 11 Ders.: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. 3 Bände. München 1985 (Originalausgabe 1979). 12 Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324. Frankfurt a. M. u. a. 1980 (Originalausgabe 1975). 13 Thomas Nipperdey: Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, historische Anthropologie, in: VSWG 55 (1968), S. 145–164. Vgl. zu Nipperdeys damaligen Positionen außerdem die beiden folgenden Aufsätze: Thomas Nipperdey: Bemerkungen zum Problem einer historischen Anthropologie, in: Ernst Oldemeyer (Hg.): Die Philosophie und die Wissenschaften. Simon Moser zum 65. Geburtstag. Meisenheim a. Glan 1967, S. 350–370; ders.: Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: Gerhard Schulz (Hg.): Geschichte heute. Positionen, Tendenzen, Probleme. Göttingen 1973, S. 225–255. 14 Dietrich Mühlberg: Arbeiterleben um 1900. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Dietrich Mühlberg. Berlin 1983; ders.: Proletariat, Kultur und Lebensweise im 19. Jahrhundert. Wien u. a. 1986. 15 Vgl. u. a. Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hg.): Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter. Wuppertal 1978; Lutz Niethammer: Anmerkungen zur Alltagsgeschichte, in: Geschichtsdidaktik, Heft 3 (1980), S. 231–242; Hans Medick: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10 (1984), S. 295–319; Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt a. M./New York 1989; Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 3 Bände. München 1990–1994; Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1993; Norbert Schindler: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1992; Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Eine Diskussion. Göttingen 1994.

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inspirierten Diskursgeschichte, kulturgeschichtlich argumentierende Ansätze, die sich für die sprachliche Ebene vergangener Wirklichkeiten und die auf ihr aufruhenden gouvernementalen und alltäglichen Praktiken interessierten.16 Die sprachund begriffsgeschichtliche Perspektive wurde darüber hinaus von der Begriffsgeschichte bzw. Historischen Semantik stark gemacht, die den Wandel von zentralen Begriffen des politischen, sozialen und kulturellen Bereichs untersuchte.17 Und schließlich, um diese durchaus unvollständige Aufzählung abzuschließen, vollzog sich auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte eine kulturgeschichtliche Wende, die – etwas vergröbert zusammengefasst – das bisher vorwiegende Interesse an den Produkten und „Errungenschaften“ wissenschaftlicher Arbeit durch den Fokus auf die wissenschaftlichen Praktiken (im Labor, im Krankenhaus, bei der Schädlingsbekämpfung etc.) ersetzte.18 Wie diese keineswegs erschöpfende Auflistung von Gegenstandsbereichen verdeutlicht, ergibt deren Addition keinen Gesamtgegenstand „Kultur“ (was auch immer unter diesem Begriff verstanden werden mag). Es gibt also offensichtlich nichts, was nicht zum Gegenstand kulturhistorischer Betrachtung gemacht werden kann; und das heißt, dass Kulturgeschichte eine andere Art von „Bindestrich-Geschichte“ sein muss als etwa die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Denn für diese ergibt sich unter der Frage nach dem Verhältnis zu ihrem Gegenstand ein durchaus anderes Bild. Seit der Etablierung der Wirtschaftsgeschichte an den deutschen Universitäten um 1900 scheint es, soweit ich es überblicke, wenig Irritationen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands gegeben zu haben: Im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses standen (und stehen) „die Industrialisierungsgeschichte der westlichen Staatenwelt“19 sowie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gewerbe- und Handels16 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981 (Originalausgabe 1969); ders.: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 1998 (Originalausgabe 1972); Peter Schöttler: Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene“, in: Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte (wie Anm. 15), S. 85–136; Günther Lottes: „The State of the Art“. Stand und Perspektiven der „intellectual history“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag. Paderborn u. a. 1996, S. 27–45. 17 Daraus sind inzwischen zwei begriffsgeschichtliche Standardlexika hervorgegangen: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bände. Stuttgart 1972–1997; Rolf Reichardt/Eberhard Schmitt (Hg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680– 1820. Band 1/2 ff. München 1985 ff. (bislang erschienen bis Band 19/20. München 2000). Siehe zur Historischen Semantik außerdem Dietrich Busse u. a. (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen 1994. 18 Siehe hierzu u. a. Bruno Latour/Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton, NJ 1986 (Originalausgabe 1979); Simon Schaffer/Steven Shapin: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life. Princeton 1985; Margaret Jacobs: The Cultural Meaning of the Scientific Revolution. New York u. a. 1988; Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750–1900. Göttingen 1999; Volker Hess: Zwischen Historismus und Postmoderne – Wissenschaftsgeschichte in Deutschland, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXIX (2000), S. 207–228. 19 Toni Pierenkemper: Wirtschaftsgeschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 362–378, hier 372.

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geschichte. Primäre Untersuchungsgegenstände waren (und sind) demzufolge, wie sich auch in den Jahrgängen der VSWG widerspiegelt, die Geschichte der industriellen Produktion (vergleichsweise seltener die des Konsums und der agrarischen Produktion), der Unternehmerschaft (vergleichsweise seltener der Arbeiter- und Angestelltenschaft), der nationalen und internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, der Entwicklung der Infrastruktur und Kommunikation sowie der Finanz- und Geldwirtschaft. Der Fokus richtet sich somit auf die gemeinhin als „harte“ Fakten des wirtschaftlichen Lebens angesprochenen Bereiche; die sogenannten „weichen“ Faktoren – soziokulturelle Beziehungen, Alltag und Konsum, Deutungsmuster und Werthierarchien – stehen eher am Rand. Die Aussparung von Themen, die (sozial-)politisch oder wissenschaftspolitisch konfliktär waren, war für die Begründer der VSWG 1902/03 nachgerade programmatisch:20 Weder sollten die vielfältigen persönlichen und inhaltlichen Konfliktlinien zwischen dem VSWG-Herausgeber Georg von Below und Karl Lamprecht in die neue Zeitschrift hineingetragen werden (auf die weiter unten noch zurückzukommen sein wird) noch die Auseinandersetzungen der neuen Disziplin Wirtschaftsgeschichte mit der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie, insbesondere mit Gustav Schmoller. Möglicherweise, so die These, war es nicht zuletzt diese Tendenz, die in den ersten Anfängen ihrer universitären Etablierung steckende Wirtschaftsgeschichte von allem freizuhalten, was politisch kontrovers war – wie etwa der Schmollersche „Kathedersozialismus“ und die aktuelle Arbeiter- und Sozialpolitik –, die sich auf die Konturierung des Gegenstands der Wirtschaftsgeschichte auswirkte: Die wissenschaftliche „Objektivität“ – was auch immer man darunter verstand – der neuen Disziplin, die sich dem Studium des im Zentrum eines intensiven politischen, sozialen und wissenschaftlichen Meinungskampfes stehenden Wirtschaftslebens widmen wollte, schien nach Ansicht Belows und anderer offensichtlich die Vermeidung der „weichen“, also der für Deutungen und Politisierungen offenen Gegenstandsbereiche zu erfordern. Auch wenn es letztlich kaum möglich ist, die Nachhaltigkeit der Wirkungen zu bemessen, die von solchen Zusammenhängen ausgingen – fest steht, dass die Konturen des wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsgegenstands, wie sie sich in den folgenden 100 Jahren in der VSWG und ihrer Schriftenreihe niedergeschlagen haben, als bemerkenswert klar umrissen und konstant erscheinen. Was sie einschließen, ist, um es etwas salopp zusammenzufassen, das, was man sehen (bzw. lesen), anfassen oder messen kann: die Rechts- und Verfassungsgeschichte von Handel, Gewerbe und Industrie; fürstliche, städtische und staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik; Unternehmer- und Unternehmensgeschichte; steuerliche, sozial- und ordnungspolitische Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns; Fragen der Techniken und der Infrastruktur; Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsstatistik; Sozialgeschichte von Schichten und Gruppen. Nur an den äußersten Rändern des hier erkennbar werdenden wirtschaftshistorischen Gegenstands, meist jedoch jenseits von diesen, finden sich Gegenstände, die weniger gut sichtbar – bzw. den Rechts20 Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998, S. 225–230.

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quellen nicht entnehmbar – sind, die sich nicht materiell niederschlagen oder nur schwer quantifizierbar sind. Das heißt nicht, dass solche Themen gar nicht vorkommen; sie sind jedoch eher peripher, mehr Arabeske an sonst fest gefügten, „soliden“ Sachverhalten. Von daher fallen sie, wenn sie vorkommen, besonders auf: Etwa Ermentrude von Rankes Antrittsvorlesung in Kiel aus dem Jahr 1927 über den „Interessenkreis des deutschen Bürgers im 16. Jahrhundert“21, Peter Blickles „Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert“ von 198322 oder Manfred Wüstemeyers Charakterisierung der französischen „Annales“-Historiker aus dem Jahr 1967, die mit dem bemerkenswerten Satz schließt: „Die theoretisch-methodisch möglichst uneingeschränkte Frage nach dem Menschen in der Geschichte bleibt die Frage der Geschichte als Wissenschaft.“23 Seit etwa 1990 vollzieht sich allerdings eine spürbare Veränderung, und zwar sowohl in den Beiträgen der Zeitschrift als auch in der Schriftenreihe: Die Zahl der Beiträge zu den „weichen“ Faktoren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nimmt ein wenig zu, und mit ihr kommt das Wörtchen „Kultur“ häufiger vor, das in den Jahrzehnten zuvor durch Abwesenheit glänzte.24 Abgesehen vom Rezensionsteil, 21 Ermentrude von Ranke: Der Interessenkreis des deutschen Bürgers im 16. Jahrhundert (Auf Grund von Selbstbiographien und Briefen), in: VSWG 20 (1927/28), S. 474–490. 22 Peter Blickle: Untertanen in der Frühneuzeit. Zur Rekonstruktion der politischen Kultur und der sozialen Wirklichkeit Deutschlands im 17. Jahrhundert, in: VSWG 70 (1983), S. 483–522. 23 Manfred Wüstemeyer: Die „Annales“. Grundsätze und Methoden ihrer „neuen Geschichtswissenschaft“, in: VSWG 54 (1967), S. 1–45. 24 Siehe v. a. Hans-Werner Goetz: Zur Mentalität bäuerlicher Schichten im frühen Mittelalter, in: VSWG 80 (1993), S. 153–174; Margrit Schulte Beerbühl: Die Konsummöglichkeiten und Konsumbedürfnisse der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: VSWG 82 (1995), S. 1– 28; Ulf Christian Ewert/Jan Hirschbiegel: Gabe und Gegengabe. Das Erscheinungsbild einer Sonderform höfischer Repräsentation am Beispiel des französisch-burgundischen Gabentauschs zum neuen Jahr um 1400, in: VSWG 87 (2000), S. 5–37; Ulrich Pfister: Vom Kiepenkerl zu Karstadt. Einzelhandel und Warenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: ebd., S. 38–66; Bernhard Stier: Die neue Elektrizitätsgeschichte zwischen kulturhistorischer Erweiterung und kommunikationspolitischer Instrumentalisierung, in: ebd., S. 477–487; Karl Christian Führer: Das NS-Regime und die „Idealform des deutschen Wohnungsbaues“. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Gesellschaftspolitik, in: VSWG 89 (2002), S. 141–166. Gleich zwei neuere Beihefte beschäftigen sich mit der bislang selten bis gar nicht thematisierten Kommunikationsgeschichte: Hans Pohl (Hg.): Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft (VSWG, Beiheft 87). Stuttgart 1989; Hans Jürgen Teuteberg/Cornelius Neutsch (Hg.): Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Telekommunikation (VSWG, Beiheft 147). Ebenfalls zwei Beihefte sind dem Thema Akkulturation gewidmet: Reinhard R. Doerries: Iren und Deutsche in der Neuen Welt. Akkulturationsprozesse in der amerikanischen Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 76). Stuttgart 1986; Anne Aengenvoort: Migration – Siedlungspolitik – Akkulturation. Die Auswanderung Nordwestdeutscher nach Ohio, 1830–1914 (VSWG, Beiheft 150). Stuttgart 1999. Siehe außerdem Ian Blanchard (Hg.): Labour and Leisure in Historical Perspective, 13th to 20th Centuries (VSWG, Beiheft 116). Stuttgart 1994; Sabine Lorenz-Schmidt: Vom Wert und Wandel weiblicher Arbeit. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Landwirtschaft in Bildern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (VSWG, Beiheft 137). Stuttgart 1998; Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (VSWG, Beiheft 153). Stuttgart 1999;

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dem genannten Beitrag von Blickle25 und einem Rückblick Wolfgang Zorns auf die Vorläuferzeitschrift der VSWG „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“26 ist „Kultur“ in früheren Jahrzehnten in der Zeitschrift nur dort vorgekommen, wo es um kulturgeographische Sachverhalte oder Sprachgrenzen ging.27 Eine gewisse „kulturalistische“ Erweiterung des Themenspektrums ist also unverkennbar, ohne dass die bisherigen Schwerpunktsetzungen dadurch erschüttert oder relativiert worden wären. Spricht diese Kontinuität der Gegenstandsgewissheit nicht – um eine durchaus problematische Metapher zu verwenden – für einen „gesunden“ Zustand der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (immer: im Spiegel der VSWG)? Könnte dies nicht Ausdruck davon sein, dass es hier eben kein Grundsatzproblem gibt – im Gegensatz zur Kulturgeschichte, die seit dem 18. Jahrhundert die Geschichte eines Begriffs auf der Suche nach seinem Gegenstand zu sein scheint? In der Tat zeichnet sich die Geschichte der Kulturgeschichte eher durch Diskontinuitäten als durch Kontinuitäten, eher durch Diversität als durch Homogenität aus. Man könnte nachgerade in Frage stellen, ob es die Geschichte der Kulturgeschichte – mit dem dadurch implizierten Mindestmaß an Identifizierbarkeit eines fortbestehenden Phänomens über Zeiten und Wandlungen hinweg – überhaupt gibt. Auf der Ebene des Gegenstands dieser Version von Geschichtsschreibung war dies, wie oben ausgeführt wurde, zweifellos nicht der Fall. Und was die Sachlage noch verwirrender macht: Es ist nicht einmal garantiert, dass das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt Kulturgeschichte genannt wurde, zu einem späteren auch noch so heißt – bzw. umgekehrt, das, was unter anderen Bezeichnungen begonnen wurde, nicht irgendwann auch unter Kulturgeschichte subsumiert wird. Was im 19. Jahrhundert – überwiegend von nicht an Universitäten etablierten Gelehrten und Autodidakten – in Deutschland als Kulturgeschichte geschrieben wurde, tauchte um 1900 und später als Alltags- oder Sozialgeschichte wieder auf. Karl Lamprecht führte den Begriff Kulturgeschichte für seine Version der Geschichtsschreibung erst ein, nachdem der sogenannte Methodenstreit bereits voll entbrannt war. Gerhard Ritter bezeichnete um 1950 die von ihm wegen ihrer Staats- und Politikferne abgelehnte Geschichtsschreibung der französischen „Annales“-Historiker als Kulturgeschichte, obwohl diese selbst den Terminus damals noch kaum verwendeten.28 Flagrant

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Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft (VSWG, Beiheft 154). Stuttgart 2000. Der Vollständigkeit halber sollte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Studie Hans Cymoreks zur Geschichtswissenschaft um 1900 verwiesen werden (wie Anm. 20). Wie Anm. 22. Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ – zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900, in: VSWG 72 (1985), S. 457–475. Alfred Grund: Der Kulturzyklus an der deutsch-polnischen Kulturgrenze, in: VSWG 6 (1908), S. 538–546; Erwin Hanslik: Kulturgeographie der deutsch-slawischen Sprachgrenze, in: VSWG 8 (1910), S. 103–127, 445–475; Walther Tuckermann: Bedingt die deutsch-slawische Sprachgrenze eine kulturgeographische Scheidung?, in: VSWG 10 (1912), S. 70–95; Hans Mortensen: Die mittelalterliche deutsche Kulturlandschaft und ihr Verhältnis zur Gegenwart, in: VSWG 45 (1958), S. 17–36. Gerhard Ritter: Zum Begriff der Kulturgeschichte. Ein Diskussionsbeitrag, in: HZ 171 (1951), S. 293–302; ders.: Zur Problematik gegenwärtiger Geschichtsschreibung. 1. Vom Problem der

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wurde in ihren Kreisen die Bezeichnung als Kulturgeschichte erst sehr viel später, etwa in den 1970/80er Jahren, nachdem sie selbst ihre Ansätze längere Zeit eher unter Mentalitätengeschichte oder schlicht „neuer Geschichte“ rubriziert hatten. Und in Deutschland sammelten sich erst in den 1990er Jahren durchaus verschiedene Ansätze unter dem Dach des Kulturbegriffs, die vorher anders – als Alltagsgeschichte, historische Anthropologie, Diskursgeschichte etc. – firmiert hatten.29 Es gibt nun allerdings durchaus Möglichkeiten, in diesen Wirrwarr Ordnung zu bringen, auch wenn es sich dabei weder um einen geordneten kontinuierlichen Gegenstandsbezug noch um die Oktroyierung einer eindeutigen Definition für das handeln kann, was legitimerweise Gegenstand von Kulturgeschichte sein soll: Beides setzt nämlich voraus, den Begriff der Kultur mit einem eindeutigen Inhalt zu füllen, und an dieser Aufgabe haben sich ganze Generationen von Philosophen und Kulturwissenschaftlern vergeblich abgemüht.30 Der Begriff der Kultur ist nicht definierbar, weil er eine zu lange und heterogene Geschichte hat – „Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“, hat bereits Nietzsche festgestellt31 – und weil er mehr Appell- als Bezeichnungsfunktion hat. Es ist vermutlich dieser appellative, wertungsstarke Aspekt des Kulturbegriffs, der ihm seine unverwüstliche Attraktivität garantiert. Und es ist diese Signalfunktion auch des Begriffs der Kulturgeschichte, die einen roten Faden für die Geschichte dieser eigentümlichen historischen Eher-nicht-Disziplin abgibt. Denn was sich in verschiedenen Phasen der Debatten um Kulturgeschichte immer wieder bemerkbar macht, ist, dass der Terminus positiv dort Verwendung findet, wo gegen eine bestimmte dominante Ausrichtung der Geschichtsschreibung für eine andere Version der Geschichtsbetrachtung plädiert wird. „Kultur“ fungierte nicht durchweg, aber immer wieder als Fahnenwort, mit dem gleichermaßen eine Abgrenzungslinie gezogen und eine Zielvorgabe formuliert wurde. Voltaire und seine Nachfolger wandten sich gegen diejenige Geschichtsschreibung, die sich auf die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, der Höfe und Herrscher, ihrer Kriege und Territorien beschränkte. Jacob Burckhardt wollte der dominierenden Geschichtsschreibung der Universitätshistoriker seiner Zeit, die sich vorrangig für die Geschichte der Staaten, „Kulturgeschichte“, in: Ders.: Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbestimmung. München 1958, S. 255–271. 29 Vgl. u. a. Ute Daniel: „Kultur“ und „Gesellschaft“. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: GG 19 (1993), S. 69–99. 30 Joseph Niedermann: Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder. Florenz 1941; Alfred L. Kroeber/Clyde Kluckhohn: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York 1952; Raymond Williams: Keywords. A Vocabulary of Culture and Society. New York 1983; Jörg Fisch: Artikel „Zivilisation, Kultur“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner u. a., Band 7. Stuttgart 1992, S. 679–774; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M./Leipzig 1994; Hartmut Böhme: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs, in: Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 48–68. 31 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band 5. München 1980, S. 317.

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der Staatsmänner und der von ihnen herbeigeführten „Fortschritte“ interessierte, eine solche entgegensetzen, die weder auf Staat und Politik noch auf den historischen Wandel fixiert war: „Die Kulturgeschichte ist die Geschichte der Welt in ihren Zuständen, während man mit Geschichte im Allgemeinen den Verlauf der Ereignisse und ihren Zusammenhang bezeichnet.“32 Die Fixierung des Geschichtsinteresses an dem, was der rückwärts gerichtete historische Blick als Fortschritt – „Modernisierung“ würde dies später einmal heißen – identifiziert, fand in Burckhardt einen wortmächtigen Kritiker: „Unsere tiefe und höchst lächerliche Selbstsucht hält zunächst diejenigen Zeiten für glücklich, welche irgend eine Aehnlichkeit mit unserm Wesen haben; sie hält ferner diejenigen vergangenen Kräfte und Menschen für löblich und trefflich, auf deren Thun unser jetziges Dasein und relatives Wohlbefinden gegründet scheint. Ganz als wäre Welt und Weltgeschichte um unsertwillen vorhanden. Jeder hält nämlich seine Zeit für die Erfüllung der Zeiten, und nicht bloß für eine der vielen vorübereilenden Wellen.“33 In dem „Dickicht professoraler Bosheiten, sanft paranoider Briefwechsel und geschichtstheoretischer Streitschriften unterschiedlichsten Niveaus“,34 das als Methoden- oder Lamprechtstreit der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900 bekannt geworden ist, stellte Karl Lamprecht der akademischen deutschen Geschichtswissenschaft, deren Fokussierung auf Staats- und Politikgeschichte er kritisierte und deren Methoden er für wissenschaftlich ungenügend befand, eine an die Verfahrensweisen der Naturwissenschaften – wie er sie auffasste – angelehnte „evolutionistische Geschichtsforschung“ gegenüber, in welcher „die Tatsachen in der Form wissenschaftlich miteinander verbunden werden können, daß die Darstellung von den früheren zu den späteren in ausgedehnten, in sich von Glied zu Glied absolut notwendigen und abgeschlossenen Schlußketten fortschreitet.“35 Anderen damaligen Verfechtern einer die Engführungen der Politikgeschichte überwindenden Kulturgeschichte wie Kurt Breysig oder Eberhard Gothein ging es um die Etablierung einer Geschichtsschreibung jenseits des Nationalstaats – Universalgeschichte war der Ausdruck dafür – und unter Einschluss der Ebenen des Sozialen wie des Individuellen. Denn, so Kurt Breysig, das wichtigste Thema der Geschichtswissenschaft seien die Beziehungen, „die den Einzelnen, d.h. jeden Menschen […] mit festen und lockern Banden umspannen und an den Nächsten fesseln […]. Denn diese Beziehungen schließen uns entweder zu ungreifbaren geistigen, oder zu sehr realen politischen oder wirthschaftlichen, immer aber zu unsäglich mächtigen Einungen zusammen und sie beherrschen unser Leben von der Wiege bis zum Grabe in jedem Augenblick. Ich meine, Persönlichkeit und Gemeinschaft in ihrem Verhältnis zu-

32 Jacob Burckhardt: Vorlesungsskript „Culturgeschichte der letzten Jahrhunderte des Mittelalters“ (Sommersemester 1858), zit. nach: Ders., Über das Studium (wie Anm. 5), S. 28 (Einleitung). 33 Ders., Über das Studium (wie Anm. 32), S. 237. 34 Cymorek, Georg von Below (wie Anm. 20), S. 192. 35 Karl Lamprecht: Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft (1896), wieder abgedruckt in Schleier (Hg.), Karl Lamprecht (wie Anm. 7), S. 143–207, hier 152.

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einander zu erkennen, die stets fließende Geschichte dieses Verhältnisses aufzudecken, das ist unsere Aufgabe.“36 Die Abgrenzungsfolie für Johan Huizingas Konzept von Kulturgeschichte wiederum war sein Zeitgenosse Lamprecht mit seinen Vorstellungen von einem gesetzmäßig verlaufenden und kausal analysierbaren Geschichtsprozess. Huizinga wollte mit seiner Geschichtsdarstellung, statt historische Zusammenhänge auf einige wenige Faktoren zu reduzieren, Vergangenheit in all ihren Facetten veranschaulichen und es den Lesern durch die starke Bildhaftigkeit ermöglichen, ihr eigenes Verständnis von Geschichte (und von sich selbst als historischen Wesen) zu entwickeln. Sein „Herbst des Mittelalters“ von 1919, sicherlich eines der erfolgreichsten Geschichtsbücher der Weltgeschichte, war die Einlösung dieses Programms.37 Einige Jahrzehnte später appellierte der westdeutsche Historiker Thomas Nipperdey an die damalige Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte, ihre Reduktion der Geschichte auf objektivierbare Strukturen und ihre Bevorzugung von diesen entsprechenden Verfahrensweisen zu überdenken. Unter den Termini Kulturgeschichte oder Historische Anthropologie plädierte er für eine historische Forschung, die, ohne den Bereich des Objektivierbaren und Messbaren zu vernachlässigen, gleichermaßen um die Erschließung der sinnhaften Bezüge bemüht sein sollte, ohne die auch Strukturen und Prozesse nicht verstehbar und erklärbar seien. Eine in diesem Sinn nichtreduktionistische Sozialgeschichte, so Nipperdey, bleibe „unaufhebbar an das Verstehen von Sinn gebunden, denn sie gehört dem Traditionszusammenhang, den sie klären will, selber zu und kann davon nicht absehen, und sie kann das einzelne nur im Hinblick auf das Ganze eines Sinnzusammenhangs voll begreifen. Aber […] der zu verstehende Sinn geht nicht in dem von den Handelnden subjektiv vermeinten oder explizierten Sinn auf, sondern ist im Rücken der Subjekte als objektiver Sinn von Handlungszusammenhängen, als Sinn und Funktion des jeweils möglichen Handelns zu erschließen […]. Hierin könnte die eigentliche vermittelnde Funktion der Historie zwischen den Modellen des Individualisierens und des Generalisierens und zwischen den verstehenden und den erklärenden Wissenschaften vom Menschen liegen.“38 Diese von Nipperdey in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre formulierte kritische Stoßrichtung gegen eine prozess- und strukturorientierte Sozial- und Gesellschaftsgeschichte haben auch diejenigen Ansätze, die in der Bundesrepublik seit etwa 1990 zunehmend unter dem Dachbegriff der Kulturgeschichte subsumiert werden, in den beiden dazwischenliegenden Jahrzehnten ausgezeichnet – und diese sind umgekehrt von dieser Stoßrichtung geprägt worden. Von der Alltagsgeschichte bis zur Historischen Anthropologie, von der Frauen- und Geschlechtergeschichte bis zur Generationengeschichte – alle diese „Bindestrichgeschichten“ haben ihre genuinen Gegenstandsbereiche in den von einer objektivierenden Sozialgeschichte vernachlässigten symbolischen, hermeneutisch zu erschließenden Dimensionen der Vergangenheit gesehen: Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsweisen, Diskurse und 36 Kurt Breysig: Kulturgeschichte der Neuzeit, Band 1: Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung. Berlin 1900, S. VIII. 37 Wie Anm. 8. 38 Nipperdey, Kulturgeschichte (wie Anm. 13), S. 164.

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die radikalen Wandlungsprozesse, die so gegeben anmutende Dinge wie etwa der menschliche Körper39 und so geschichtslos wirkende Sachverhalte wie die Objektivität40 in der Deutung und den Praktiken vergangener Epochen durchlaufen können. Demgegenüber wurden nun umgekehrt Institutionen und soziale Strukturen ebenso wie Themen der klassischen Politik- und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an den Rand des Interesses gedrängt. Erst seit diese Frontstellung in der jüngsten Vergangenheit obsolet geworden ist, beginnt sich die Engführung unter umgekehrten Zeichen zu relativieren: Kulturgeschichtliche Ansätze verlieren mehr und mehr ihre Berührungsängste gegenüber dem, was ihren bevorzugten Gegenständen bislang als „harte“ Faktoren der Geschichte gegenübergestellt zu werden pflegte, und damit beginnt auch der scheinbare Gegensatz zwischen „Hartem“ und „Weichem“ zu verschwimmen. Interessanterweise zeigt sich dies in den letzten Jahren am prägnantesten an der kulturgeschichtlich inspirierten neueren Militär- und Kriegsgeschichte.41 Doch auch die Geschichte der Politik und des internationalen Systems,42 des Arbeitsrechts43 und der Unternehmen44 werden zunehmend durch kulturgeschichtlich argumentierende Studien mit anderen Perspektiven als bislang erschlossen. Ein „roter Faden“ also, der es erlaubt, in die heterogene Vielfalt der Kulturgeschichtsschreibung eine gewisse Ordnung zu bringen, ist die kritische Appellfunktion von mit „Kultur“ betitelten Ansätzen in Phasen geschichtswissenschaftlicher Grundsatzdebatten: In Abgrenzung von als verengt und einseitig empfundenen Ausrichtungen der Geschichtswissenschaft plädieren sie – mit durchaus verschiedenen Schlussfolgerungen – dafür, den historischen Gegenstandsbereich zu erweitern und anders zu gewichten. Es gibt jedoch noch einen weiteren „roten Faden“, der sich durch die Vielfalt kulturgeschichtlicher Positionsbestimmungen und Forschungs39 Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. München 1996 (Originalausgabe 1990); Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987. 40 Siehe hierzu Theodore M. Poster: Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life. Princeton, NJ 1995; Lorraine Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität? Göttingen 1998, S. 9–39; dies.: The Moralized Objectivity of Science, in: Wolfgang Carl/Lorraine Daston (Hg.): Wahrheit und Geschichte. Ein Kolloquium zu Ehren des 60. Geburtstags von Lorenz Krüger. Göttingen 1999, S. 78–100. 41 Siehe u. a. Regina Schulte: Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod. Frankfurt a. M./New York 1998; Wolfgang Schivelbusch: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Berlin 2001; Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn u. a. 2001; Jost Dülffer/Gerd Krumeich (Hg.): Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918. Essen 2002. 42 Siehe z. B. Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg. Paderborn u. a. 2000. 43 Siehe etwa Willibald Steinmetz: Begegnungen vor Gericht: Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925). München 2002. 44 Siehe u. a. Hartmut Berghoff: Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857–1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Paderborn u. a. 1997.

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ergebnisse ziehen lässt – einen Faden, an dem zwar keineswegs alles aufgereiht werden kann, was sich jemals Kulturgeschichte genannt hat oder unter diesen Begriff subsumiert werden kann, aber doch vieles und darunter diejenigen Positionen und Perspektiven, von welchen meines Erachtens die nachhaltigsten Anregungen ausgehen. Gemeint ist eine spezifische Suchanweisung, der von Burckhardt bis Breysig, von Huizinga bis Nipperdey, von Foucault bis Carlo Ginzburg45 viele theoretisch und empirisch arbeitende Kulturhistoriker und -historikerinnen gefolgt sind: die Suchanweisung nämlich, den Blick verstärkt auf Wechselwirkungen zwischen zeitgleichen historischen Phänomenen und zwischen diesen und den auf sie bezogenen Deutungsmustern, Praktiken etc. zu richten. Weder die Geschichte des Automobils noch die der Generalstäbe, weder die Geschichte der europäischen Expansion noch die des Gesundheitswesens lassen sich dieser heuristischen Vorgabe zufolge schreiben und erklären, ohne diese Dinge, Institutionen und Prozesse in ihre zeitgenössischen Bedeutungsgeflechte, institutionellen Bezüge oder sozialen Widersprüche zu integrieren und sie nicht nur, aber auch vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Wie alle Erkenntnisse von grundlegender Bedeutung ist auch diese im Grunde trivial. Ihre konsequente Umsetzung allerdings führt zu keineswegs trivialen Ergebnissen. Denn je stärker diese synchronen Wechselwirkungen in ihrer heterogenen Vielfalt und Widersprüchlichkeit gemacht werden, umso lehrreicher sind die Verstörungen, die von ihnen ausgehen und die dem professionellen Gestus der Historiker – der rückblickenden Betrachtung derjenigen also, denen es die Gnade der späte(re)n Geburt erlaubt, spezifische Entwicklungen und Strukturen zu sehen, wo die Zeitgenossen häufig ganz anderes oder Zustände erleben, die sich der Einordnung entziehen – heilsame Stolpersteine in den Weg legen. So unerlässlich es ist, historische Zusammenhänge nach den langen Linien zu befragen, auf welchen sie nur einen Punkt markieren, so unverständlich bleibt doch, wie der Punkt ins Bild kommt, wenn nicht gleichermaßen danach gefragt wird, wie die damaligen Menschen selbst dazu kamen, zu tun, was sie taten, oder nicht zu tun, was sie unterließen. Was bedeutet es, um nur ein Beispiel zu nennen, für die Geschichte des 18. Jahrhunderts, wenn eine der wichtigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten, der österreichische Erbfolgekrieg, für die englische Bevölkerung und Regierung 1739 mit dem englisch-spanischen Krieg begann und dessen Anlass das vom spanischen Gegner abgeschnittene Ohr eines englischen Kapitäns war, welcher die Rache für dieses Unbill in die Hände der englischen Nation legte (weswegen dieser Krieg, in dessen Verlauf die Ursymbole des englischen Nationalismus, der Union Jack und die Nationalhymne, entstanden, noch bis heute in der englischen Literatur als der Krieg um Kapitän Jenkins´ Ohr bezeichnet wird)? Es bedeutet keineswegs, dass die bekannten Hintergründe, die englischen Handelsinteressen in Lateinamerika etwa oder die europäische Großmachtkonkurrenz, keine Rolle spielten, es bedeutet jedoch, dass sie zur Erklärung nicht genügen. 45 Zu Ginzburgs Maßstäbe setzenden Studien gehören insbesondere Carlo Ginzburg: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1980 (Originalausgabe 1966), und ders.: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin 1990 (Originalausgabe 1976).

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Was hätte eine so umrissene Kulturgeschichte, also eine Disziplin ohne eigenen Gegenstandsbereich, aber mit einer spezifischen Heuristik, die die Analyse von Wechselwirkungen ins Zentrum rückt, und charakterisiert durch ihre polemische Stoßrichtung gegen reduktionistische oder sektoral verengte Zugänge zur Geschichte, zur Aufgabe dieses VSWG-Jubiläumsbandes beizutragen, Anstöße zu geben und neue Forschungsfelder zu benennen? Zuerst einmal müsste sie sich wohl an die eigene Nase fassen: Immer noch lässt das kulturgeschichtliche Interesse an wirtschaftshistorischen Fragestellungen sehr zu wünschen übrig. Anschließend könnte sie konstatieren, dass sich die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, wie sie in der VSWG und ihrer Schriftenreihe repräsentiert ist, im Lauf des letzten Jahrzehnts durchaus ein wenig selbst „kulturalisiert“ hat, indem häufiger als früher ihre Untersuchungsgegenstände so zugeschnitten sind, dass sie – beispielsweise im Fall der Beiträge zur Konsumgeschichte – handelnde und wertende Menschen und damit einen wesentlichen Teil des sozialen und mentalen Umfelds einschließen. Allerdings bleiben diese Themen doch eher randständig und das Schwergewicht weiterhin auf den klassischen Bereichen wie Lohn- und Marktgeschichte, Wirtschaftsund Sozialpolitik, Rechts- und Finanzfragen, Gewerbe- und Produktionsgeschichte. Das ist ja nun auch keineswegs verwerflich. Bemerkenswert erscheint mir nur, dass die Isolierung dieser Gegenstände für die Zwecke der Darstellung nach wie vor als wenig diskussionsbedürftig behandelt zu werden scheint, dass also „Dinge“ wie Adels- oder Gewerbestrukturen, Industriezweige oder Steuern allem Anschein nach bislang noch wenig dazu aufgefordert haben, sie in neue Zusammenhänge zu stellen, ihre Wechselwirkungen mit anderen zeitgleichen Faktoren stärker zu machen und die äußeren Umrisse, die ihnen gegeben worden sind, auf ihre analytische Fruchtbarkeit hin zu befragen.46 Hier könnte die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, also die Disziplin mit einem so selbstevident erscheinenden Gegenstand, dass ihn auf den Begriff zu bringen, sprich: zu reflektieren und seine Gestaltungsprinzipien explizit zu machen, als obsolet erscheint, durchaus von der Disziplin ohne Gegenstand namens Kulturgeschichte ein wenig Problembewusstsein übernehmen. Aber auch die genuinen Nachbardisziplinen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, nämlich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, praktizieren und reflektieren derlei Umgestaltung und Einbettung ihrer Gegenstände schon seit längerem – ich nenne hier nur die Neue Institutionenökonomik und die Netzwerkanalyse. Wer die „kulturalistischen“ Wechselwirkungen und Perspektivierungen als zu „weich“ befindet, könnte sich hier anregen lassen. Wie fruchtbar solche und ähnliche verflechtungsintensive Perspektiven auf die Wirtschaftsgeschichte sein können, zeigen, um nur zwei Beispiele für viele herauszugreifen, die Verbindung von Kreditgeschichte mit der

46 Es gibt allerdings durchaus vereinzelte Ausnahmen, so etwa der Sammelband: Ekkehard Westermann (Hg.): Bergbaureviere als Verbrauchszentren. Fallstudien zu Beschäftigung und Verbrauch von Lebensmitteln sowie Roh- und Hilfsstoffen in Montandistrikten des vorindustriellen Europa (13. bis 18. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 130). Stuttgart 1997.

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Struktur personaler Informationsnetze47 oder die ökologiegeschichtliche Deutung von Gemeinheitsteilungen.48 Aus kulturgeschichtlicher Perspektive wäre also der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu wünschen, dass ihre Gegenstände mehr und mehr „ausfransen“ und mehr Energie auf die Begründung ihrer (alten wie neuen) Konturen verwendet wird. Apropos Energie: Unter den in der VSWG behandelten Gegenständen gibt es eine ganze Reihe, die, wie die Energiewirtschaft, die Infrastruktur, der Verkehr, die Kommunikation oder der Markt, bereits in ihrer gewissermaßen „klassischen“ Behandlung netzwerkförmig sind und die sich insofern für den hier angesprochenen Perspektivenwechsel geradezu anbieten. Viel zu häufig jedoch werden meinem Eindruck nach die Wechselwirkungsverhältnisse, die diese Gegenstände nachgerade konstituieren, auf ihre materiellen, technischen oder politischen Aspekte reduziert. Das ist schade! Wo bleibt die Kulturgeschichte des Marktes im 19. Jahrhundert, aus der man etwas darüber lernen kann, was Marktbeziehungen für die Menschen bedeutet haben, wie sie in ihnen (oder gegen sie) agiert haben? Wo die Kulturgeschichte der Börse – ein Thema, das geradezu nach Verbindung von Wirtschaftsgeschichte einerseits und Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte andererseits verlangt? Und wo die Kulturgeschichte der Steuern, aus der man – neben der breit repräsentierten Geschichte des Finanzwesens und der Steuerpolitik – erfahren kann, was das Entrichten (oder Verweigern) von Steuern bzw. das Verfügen über (oder der Mangel an) Steueraufkommen für Steuerpflichtige einerseits und Herrscher, Stadtobrigkeiten und Staaten andererseits bedeutet hat? Das sind, zugegeben, sehr weit gespannte Themen, aber auch sie lassen sich operationalisieren. Und sie stünden einer in die reiferen Jahre gekommenen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die nicht mehr wie noch vor 100 Jahren ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen zu müssen glaubt, indem sie ihre Gegenstände um das potentiell Brisante bereinigt und sie nach allen Regeln der wissenschaftlichen Spezialisierung gewissermaßen „fusselfrei“ macht, sehr gut an.

47 Philip T. Hoffman u. a.: Information and Economic History: How the Credit Market in Old Regime Paris Forces Us to Rethink the Transition to Capitalism, in: American Historical Review 104 (1999), S. 69–94. 48 Georg Fertig: Gemeinheitsteilungen in Löhne: Eine Fallstudie zur Sozial- und Umweltgeschichte Westfalens im 19. Jahrhundert, in: Karl Ditt u. a. (Hg.): Landwirtschaft und Umwelt in Westfalen vom 18. bis 20. Jahrhundert. Paderborn 2001, S. 393–426.

Peter Borscheid HISTORISCHE ALTERSFORSCHUNG Als die Familie im Laufe der 1960er Jahre ins Kreuzfeuer der Kritik geriet und Wissenschaftler wie Laien sie als Produktionsstätte von Konformität, Unterdrükkung und Gewalt zu entlarven suchten, begannen bald darauf auch die Sozialhistoriker, sich dieses Themas anzunehmen. Seit Mitte der 70er Jahre entwickelte sich die historische Familienforschung im deutschsprachigen Raum im Bündnis mit der historischen Demographie rasch zu einem Forschungsschwerpunkt, der durch die Arbeiten von Peter Laslett, Richard Wall, Edward Shorter und Jean-Louis Flandrin und anderen ausländischen Historikern zusätzliche Energie erhielt.1 So ertragreich die Familienperspektive auch war, die konkreten Forschungen offenbarten recht bald, dass es die Familie selbst in relativ engen Untersuchungsräumen nicht gab, weder die traditionale vorindustrielle, noch die moderne Familie.2 Die jeweiligen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen haben ganz unterschiedliche Familientypen hervorgebracht. Kennzeichnend war und ist eine Pluralität der Familienformen. Hinzu kam die an sich triviale Erkenntnis, dass jede Familie im Zeitverlauf Aussehen und Gestalt verändert, dass eine Familie mit kleinen Kindern andere Interessen und Strategien verfolgt als eine Familie mit erwachsenen Kindern oder ein kinderloses Ehepaar, dass die Nacherwerbsphase in der Regel in einem anderen familialen Rahmen verläuft als das Erwerbsleben. Folglich wurde die Sicht der historischen Familienforschung differenzierter. Neben dem Geschlecht wurde der Lebenslauf mit seinen verschiedenen Lebensaltern und Statuspassagen zu einem äußerst fruchtbaren Forschungsansatz. Philippe Ariès hatte bereits 1960 mit seiner „Geschichte der Kindheit“ einen Weg gewiesen.3 Gleiches gilt für die „Geschichte der Jugend“ von John R. Gillis aus dem Jahre 1974,4 die durch die verschiedenen Subkulturen einer rebellischen Jugend – Hippies, Provos, Mods – einen entscheidenden Impuls erhielt. Damit verglichen ist die Geschichte des Alters jung. Die Beschäftigung mit ihm empfing erst in den 1980er Jahren vom Älterwerden der westlichen Industriegesellschaften einen starken Anstoß, als immer mehr Menschen ein hohes Lebens1

2 3 4

Peter Laslett/Richard Wall (Hg.): Household and Family in Past Time. London 1972; Edward Shorter: The Making of the Modern Family. New York 1975, dt.: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek bei Hamburg 1977; Jean-Louis Flandrin: Familles – parenté, maison, sexualité dans l’ancienne société. Paris 1976, dt.: Familien – Soziologie, Ökonomie, Sexualität. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978. Zusammenfassend: André Burguière/Christiane Klapisch-Zuber u. a. : Histoire de la famille. 4 Bände. Paris 1986, dt.: Geschichte der Familie. 4 Bände. Frankfurt a. M./New York/Paris 1996– 1998. Philippe Ariès: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Paris 1960, dt.: Geschichte der Kindheit. München/Wien 1975. John R. Gillis: Youth and History. Tradition and Change in European Age Relations 1770– Present. New York 1974, dt.: Geschichte der Jugend. Weinheim/Basel 1980.

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alter erreichten und der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung deutlich zunahm. Weitere Impulse gingen von den damit verbundenen Krisen der Alterssicherungssysteme, dem Pflegenotstand sowie der verstärkten Etablierung der Gerontologie an den Hochschulen aus. Als im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts das Alter zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem wurde, reagierten einzelne wissenschaftliche Disziplinen darauf, und die Wissenschaft vom Alter und Altern entwickelte sich zu einem interdisziplinären Großprojekt mit Psychologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Medizinern als den entscheidenden Dialogpartnern, und auch Theologen, Volkskundler und Sozialhistoriker kamen zu Wort. Die von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1987 aufgebaute Arbeitsgruppe „Altern und gesellschaftliche Entwicklung“ bündelte diese Aktivitäten. Auch die sozialhistorische Forschung floss hier mit ein.5 Ähnliches gilt für die beim Parteivorstand der SPD unter Leitung von Hans-Ulrich Klose 1991 eingerichtete Kommission „Demographischer Wandel/Seniorenpolitik“.6 Wenn auch das Thema „Alter“ in der Geschichtswissenschaft nicht völlig neu ist, so existierten über lange Zeit doch nur relativ schmale Zugänge: über die Demographie, über die Gerontologie sowie als Randthema über die historische Familienforschung. In demographischen Untersuchungen gehörte Alter schon immer zu den grundlegenden Kategorien: das Heirats- wie das Sterbealter. Seit den 1970er Jahren suchten zudem Gerontologen wie Leopold Rosenmayr durch Vergleich mit der Vergangenheit das Neue des heutigen Alterns und Alters prononcierter herauszuarbeiten.7 Im Unterschied zur historischen Familienforschung im deutschsprachigen Raum, die entscheidende Anstöße aus dem Ausland erhielt, blieben in der historischen Altersforschung – abgesehen vom Konzept des Lebenslaufs8 – derartige Impulse von außen weitgehend aus.9 Als die Historiker im deutschsprachigen Raum das Alter „entdeckten“, ordneten sich diese Forschungen sofort in die sozialgeschichtliche Umorientierung der Geschichtswissenschaft ein, die sich verstärkt der strukturgeschichtlichen Analyse des ökonomisch-sozial-politischen Zusammenhangs von Ressourcen und Interessen, Strukturen und Prozessen, Ungleichheiten und Konflikten widmete und dabei – wo immer möglich – quantifizierend vorging. In der Folge empfing sie bei ihren Fragestellungen und Methoden wichtige Impulse aus der Debatte um die Frauenbzw. Geschlechtergeschichte, die Alltagsgeschichte sowie die moderne Kulturge5 6 7 8 9

Paul B. Baltes/Jürgen Mittelstraß (Hg.): Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung. Berlin/New York 1992. Hans-Ulrich Klose (Hg.): forum demographie und politik. 8 Hefte. Bonn 1992–1995. Leopold Rosenmayr (Hg.): Die menschlichen Lebensalter. München 1978. Glen H. Elder: Children of the Great Depression. Chicago 1974. Die wenigen der frühen amerikanischen und französischen Studien wurden in Deutschland kaum rezipiert, so Keith Thomas: Age and Authority in Early Modern England. London 1976; Peter Laslett: The History of Aging and the Aged. Family Life and Illicit Love in Earlier Generations. Cambridge 1977; W. Andrew Achenbaum: Old age in the New Land. The American Experience since 1790. Baltimore 1978; David Hackett Fischer: Growing Old in America. Oxford 1978; Arthur E. Imhof u. a. (Hg.): Le vieillessement. Lyon 1982; C. Haber: Beyond Sixty-five. The Dilemma of Old Age in America’s Past. Cambridge 1983.

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schichte. Die historische Altersforschung verstand und versteht sich als Teil dieses Wandels. Die Anfänge einer breit gefächerten sozialhistorischen Alters- und Alternsforschung in Deutschland, Österreich und der Schweiz lassen sich recht genau datieren. Anfang Juli 1982 veranstaltete das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Berlin eine internationale Arbeitstagung zum Thema „Gerontologie und Sozialgeschichte“ mit dem Untertitel „Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters“.10 Hier kamen erstmals Vertreter verschiedener Fachrichtungen zusammen, deren Sichtweisen, Fragestellungen und Methoden die historische Altersforschung bis heute bestimmen: Sozial- und Wirtschaftshistoriker, Demographen, Soziologen, Volkskundler, Psychologen und Sozialökonomen. Nur wenige Monate später veröffentlichte der Wiener Soziologe Leopold Rosenmayr „Die späte Freiheit“, ein Buch, das auch in der sozialhistorischen Forschung nachhaltig Spuren hinterließ.11 Sicherlich hatten schon zuvor einige wenige die Altersproblematik aus historischer Sicht angeschnitten – Michael Mitterauer mit einem Aufsatz über Altersversorgung in der Familienwirtschaft ist hier zu nennen –, die eigentliche Forschung, zielgerichtet und interdisziplinär angelegt, begann im deutschen Sprachraum aber erst mit dieser Tagung.12 Sie griff schon bald konzeptionelle Angebote der jüngeren Soziologie auf, in erster Linie den bereits erwähnten Begriff des Lebenslaufs, der zuvor unter anderem von Glen Elder zum Verständnis des Zusammenhangs mikro- und makrosoziologischer Prozesse eingeführt worden war. Anknüpfend an amerikanische Vorbilder definierten die Historiker unter dem Einfluss der Demographie das Alter zunächst jedoch als Lebensalter sowie mit Blick auf die Familienbildung als Phase des „leeren Nestes“. Seit einigen Jahren rücken dagegen institutionenbezogene Konzeptualisierungen des Lebenslaufs in den Vordergrund, mit denen die modernen, stärker individualisierten und formbaren Lebensläufe besser zu erfassen sind. Dieses Konzept eröffnet auch für historische Analysen neue Einsichten. Vor allem der Berliner Soziologe Martin Kohli konnte sich erfolgreich als Wegweiser betätigen. Er zeigte, dass Lebensläufe und damit Altersphasen auf vielfache Art institutionell und sozioökonomisch strukturiert und miteinander verknüpft sind. Aufbauend auf ihrem bisherigen Lebenslauf agieren die Älteren demnach zwischen den Institutionen und den individuellen Möglichkeiten. Als zentrale soziale Institutionen sind an diesem Gestaltungsprozess Familie und Verwandtschaft, Bildung und Ausbildung, Beruflichkeit und Arbeitsplatz, Recht und Sozialstaat, Normen und Traditionen beteiligt. Auch das Geschlecht wirkt in hohem Maße gestaltend mit. Seit Mitte der 1980er Jahre bildeten sich in der deutschsprachigen historischen Altersforschung verschiedene Schwerpunkte heraus, die alle auf bereits bestehenden Forschungsaktivitäten in der historischen Demographie, der historischen Familienforschung und der Sozialpolitik aufbauten und sich in Teilbereichen überlappten. Untersucht werden zum Thema „Alter und Altern“: 10 Christoph Conrad/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hg.): Gerontologie und Sozialgeschichte. Wege zu einer historischen Betrachtung des Alters. Berlin 1983. 11 Leopold Rosenmayr: Die späte Freiheit. Berlin 1983. 12 In: Michael Mitterauer/Reinhard Sieder: Vom Patriarchat zur Partnerschaft. München 1977.

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1. Demographische Aspekte, d. h. Veränderungen der Altersstruktur und die dahinterstehenden demographischen Mechanismen, Wandlungen der Mortalität sowie deren Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft. 2. Biologische Aspekte, d. h. die Hintergründe eines langen Lebens sowie einer Verlängerung des Lebens über die Reproduktionsphase hinaus. Hierzu gehört auch die Rolle der Medizin. 3. Materielle Aspekte, d. h. Fragen zum Einkommen und Auskommen, Besitz und zur materiellen Sicherheit im Alter wie im Lebenslauf. Altersarmut und ihre Behandlung bilden ein Unterproblem. 4. Gesellschaftliche Aspekte, d. h. Organisationen zur sozialen Absicherung alter Menschen wie Familie, Altersheime, Kassen und Versicherungen. Damit verbunden sind die gesellschaftlichen Auswirkungen derartiger Organisationen auf den Lebenslauf, vor allem die Herausbildung des Ruhestands. 5. Generationsaspekte, d. h. das Verhältnis zwischen den Generationen in Familie und Arbeitsleben sowie im gesamtgesellschaftlichen Rahmen. 6. Kulturelle Aspekte, d. h. der wechselnde gesellschaftliche Status der alten Menschen und die unterschiedlichen Kulturen des Alterns. 7. Geschlechtsspezifische Aspekte, d. h. die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung und Möglichkeiten von Witwern und Witwen sowie die unterschiedlichen Strategien von Mann und Frau zur Absicherung im Alter. 8. Eher am Rande wurde das Alter aus rechtshistorischer Perspektive betrachtet. Demographische Aspekte Die ersten Impulse empfing die historische Altersforschung von der historischen Demographie. Darstellung und Analyse von Altersaufbau und Veränderungen der Lebenserwartung gehörten von Anfang an in die Untersuchungen über alte Menschen, alternde Gesellschaften und die Veränderungen im Zusammenleben der Generationen. Dabei beschränkten sich führende Demographen wie Arthur E. Imhof nicht nur auf die Bereitstellung harter Fakten zur Entwicklung der Lebenserwartung, sondern modellierten daraus Lebenskonzepte angesichts der historisch vollkommen neuen Realität in den hochentwickelten Ländern, wo heute nahezu alle Menschen sicher sein können, erst im Vierten Alter zu sterben.13 Wichtiger für die historische Altersforschung war, dass unter dem Einfluss der historischen Soziologie demographische Datenreihen genutzt wurden, um zu einem besseren Verständnis vergangener Gesellschaften zu kommen, wobei viele dieser Analysen mit Modellbildungen verknüpft wurden. Die Arbeiten von Peter Laslett stehen dabei im 13 Arthur E. Imhof: Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und von der Kunst des Lebens. München 1988; ders.: Die verlorenen Welten. München 1984; ders. (Hg.): Leben wir zu lange? Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren – und die Folgen. Köln/Weimar/Wien 1992; ders.: Die Zunahme unserer Lebensspanne seit 300 Jahren und ihre Folgen. Stuttgart/Berlin/ Köln 1996; ders.: Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Ein folgenschwerer Wandel im Verlaufe der Neuzeit, in: VSWG 71 (1984), S. 175 ff.

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Vordergrund.14 Die aus Kirchenbüchern und Haushaltslisten erhobenen und statistisch aufbereiteten Massendaten boten die Grundlage zur Erforschung der Haushalts- und Familienformen, zur Rolle der Verwandten und zum Einfluss externer Ereignisse: Kriege, Seuchen, wirtschaftliche Aufschwünge oder staatliche Eingriffe in die Sozial- oder Familiengesetze. Sie ermöglichten Berechnungen von Altenanteilen und „Belastungsquoten“. Sie bildeten in fast allen Untersuchungen der historischen Altersforschungen ein Teilelement, wenn nicht sogar die eigentliche Basis.15 Studien über das Fruchtbarkeitsverhalten junger Erwachsener zeigten in Verbindung mit Untersuchungen über Binnenwanderung und Urbanisierung, wie sich seit der Industrialisierung die Altersstruktur der Bevölkerung veränderte und mit ihr die relative demographische Position der Älteren. Es stellt sich die Frage, wann die demographischen Prozesse als treibende Kraft zur Herausbildung der Altersphase beitrugen und wann sie diesen Prozess lediglich begleiteten. Christoph Conrad hat nachgewiesen, wie bis ins 20. Jahrhundert hinein sich das Gewicht der Älteren ohne ihr Zutun veränderte, wie sie aufgrund des im 18. Jahrhundert einsetzenden Bevölkerungswachstums zunächst zu einer stetig schrumpfenden Minderheit wurden, im 20. Jahrhundert schließlich bei rückläufiger Natalität zu einer immer rascher wachsenden Gruppe.16 Das Alter besaß bis zum Ersten Weltkrieg „keine eigene demographische Geschichte“ (Christoph Conrad). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm es bei rückläufiger Alterssterblichkeit das demographische Geschehen in gewissem Sinne selbst in die Hand. Dieses Abdrängen des Todes in die allerhöchsten Altersgruppen brachte den Umschwung von einer „unsicheren“ zu einer „sicheren“ Lebenszeit und zur Planbarkeit des Lebens. In den demographischen Studien erscheinen die Älteren meist als eine relativ homogene Gruppe, auch wenn sich eine Unterscheidung nach Geschlecht seit langem durchgesetzt hat. In Zukunft wird es wichtig sein, die demographischen Unterschiede innerhalb der Altersbevölkerung detaillierter herauszuarbeiten, d. h. die geläufigen Unterscheidungsmerkmale nach Beruf und materiellen Verhältnissen zur Anwendung zu bringen, um die wichtigsten Einflüsse auf die Qualität des Alterns besser bestimmen zu können. Biologische Aspekte Eng mit der demographischen ist die biologische Betrachtungsweise verbunden. Erstere stellt Basisdaten bereit, die zur Erklärung sowie zur Kontrolle unterschiedlicher Theorien herangezogen werden können. Dies betrifft unter anderem die biologischen Fragen, die in erster Linie auf die physischen Abbauprozesse fixiert sind, also auf altersbezogene Veränderungen des Körpers, die mit einer Reduzierung der 14 Peter Laslett: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns. Weinheim/München 1995. 15 Peter Borscheid: Geschichte des Alters 16.–18. Jahrhundert. Münster 1987 (als TB München 1989), S. 20 ff., 130 ff.; Josef Ehmer: Sozialgeschichte des Alters. Frankfurt a. M. 1990, S. 196 ff. 16 Christoph Conrad: Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930. Göttingen 1994, S. 47 ff.

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biologischen Kapazität bzw. Funktionstüchtigkeit gleichzusetzen sind, woraus sich wiederum Auswirkungen auf die Sterbewahrscheinlichkeit ergeben. Diese Forschungsperspektive stellt die Untersuchung der Mortalität, der Langlebigkeit und des Überlebens in den Mittelpunkt, wobei für die betreffenden Forscher Altersphänomene fast immer Phänomene des Abbaus und Verlustes sind. Auch für die Historiker geht es darum, Abbau- und Verlustprozesse zu sehen und zwar in vergleichender Perspektive. Als Frage formuliert: Warum alterten und starben bestimmte Bevölkerungsgruppen früher als andere? Worauf ist in der Langzeitperspektive ein Hinausschieben dieser körperlichen Abbauprozesse zurückzuführen? Anders ausgedrückt: Warum stieg die durchschnittliche Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert an? Warum erhöht sich die weitere Lebenserwartung der 60-jährigen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Noch fallen die Antworten wenig eindeutig aus, wenngleich die wichtigsten Determinanten des säkularen Sterblichkeitsrückgangs offenkundig sind: 1. Verbesserung der Ernährung; 2. Fortschritte in der medizinischen Versorgung und Therapie; 3. Verringerung der Virulenz bestimmter Krankheitserreger; 4. Verbesserungen der öffentlichen und privaten Hygiene; 5. rückläufige Geburtenzahlen je Frau. Dabei kommt der verbesserten medizinischen Versorgung bzw. Therapie frühestens seit den späten 1930er Jahren ein statistisch ins Gewicht fallender Einfluss zu. Dagegen zeigt die Verbesserung der Ernährungslage bereits seit dem späten 18. Jahrhundert aufgrund gewachsener Agrarproduktivität und Leistungsfähigkeit Wirkung. Sie wurde im späten 19. Jahrhundert durch die Entwicklung der Lebensmittelhygiene weiter verstärkt.17 Im Gegensatz zu diesen Forschungen, die versuchen, das eng verschnürte Ursachenbündel zu entwirren, werden in der sozialhistorischen Forschung öfter solche Projekte in Angriff genommen, die Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und Senkung der Mortalität betreffen: Verbesserung der öffentlichen und privaten Hygiene, Investitionen in die medizinische Infrastruktur oder Schutz der Arbeiter am Arbeitsplatz.18 Zu diesem gesamten Themenkomplex gehört auch die Frage nach der Einstellung der Medizin zum Alter. Zahlreiche Mediziner haben dem alternden Körper mit seinen spezifischen Problemen schon seit der Antike ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet, lange bevor sich die Geriatrie als Spezialdisziplin etablierte. Die physischen Zerfallserscheinungen sind ebenso wie die Zunahme an sozialer Kompetenz und die Besonderheiten der Psyche oftmals beschrieben und unter dem Einfluss wechselnder medizinischer Theorien unterschiedlich gedeutet worden. Dabei 17 Reinhard Spree: Der Rückzug des Todes. Der epidemiologische Übergang in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts, in: HSR 23 (1998), S. 4–43; ders.: „Volksgesundheit“ und Lebensbedingungen in Deutschland während des frühen 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Institutes für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 7 (1988), S. 75–113; ders.: Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Göttingen 1981; Jörg Baten: Der Einfluss von regionalen Wirtschaftsstrukturen auf den biologischen Lebensstandard, in: VSWG 83 (1996), S. 180 ff.; Arthur E. Imhof: Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert. Weinheim 1990; Thomas Scharf: Ageing and Ageing Policy in Germany. Oxford/New York 1998, S. 114 ff. 18 Unter vielen: Bettina Wischhöfer: Krankheit, Gesundheit und Gesellschaft in der Aufklärung. Das Beispiel Lippe 1750–1830. Frankfurt a. M./New York 1991.

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wählten die Wissenschaftler bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zumeist eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die neben der Verlust- auch der Gewinnseite Beachtung schenkte, um seitdem im Zuge des medizinischen Fortschritts und des wachsenden Einflusses der naturwissenschaftlich orientierten Medizin Altern als eine Anhäufung von körperlichen Defekten und als Zunahme von Krankheiten zu interpretieren, die es nach ärztlichem Selbstverständnis zu heilen galt. Dieser Auftrag hat bis heute Gültigkeit; es gilt das Alter wie eine Krankheit zu beseitigen und das Leben fast endlos zu verlängern. Unter dieser Zielsetzung kam es zu einer Vielzahl zweifelhafter Entwicklungen, unter anderem zur Verjüngungsmedizin mit einigen sehr peinlichen Experimenten.19 Auch zur Eugenik bestehen zahlreiche Berührungspunkte. Erst in jüngster Zeit hat die Medizin unter dem Einfluss der Diskussion über die Sterbehilfe das Sterbenlassen wieder gelernt. Materielle Aspekte Mitte der 1970er Jahre hatte die deutschsprachige Sozial- und Wirtschaftsgeschichte die Erforschung der materiellen Lage der Arbeiter im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer ihrer Hauptaufgaben bestimmt. Im Mittelpunkt stand die Frage nach dem Einfluss der Industrialisierung auf die Lebensbedingungen der Arbeiter. Im Schulterschluss mit der historischen Familienforschung profitierte gut ein Jahrzehnt später auch die historische Altersforschung von dieser neuen Schwerpunktsetzung und den dabei entwickelten neuen Methoden, zumal viele dieser Untersuchungen die institutionelle Verfasstheit des modernen Lebenslaufs reflektierten. Sie wählten als Zugang die Teilhabe der Individuen an verschiedenen sozialen Institutionen, vor allem am Arbeitsmarkt und am Ausbildungswesen sowie an Familie und sozialen Organisationen, wobei als zentrale Kategorie immer wieder der Beruf gewählt wurde. Dieser dient der sozialen Identität und ist zugleich ein entscheidendes Kriterium der sozialen und materiellen Differenzierung. Er ist Gliederungsprinzip der Arbeitswelt und auch der Welt der Alten. Der Beruf spiegelt Chancen und Restriktionen sozialer Partizipation, Karrieremuster und sozialen Abstieg wider. Er strukturiert bis zum Ende des Lebens in hohem Grad die Lebensläufe. Ein gewichtiger Teil des Forschungsinteresses galt den Lebensbedingungen der Armen und der Außenseiter, wobei die Beschäftigung mit den Ursachen und den Rahmenbedingungen der Altersarmut ein zentrales Untersuchungsfeld abgab. Im Mittelpunkt standen die Insassen von Armenhäusern und die Empfänger von Armenhilfe. Ältere Menschen, vor allem ältere Frauen, waren unter diesen Gruppen stets überrepräsentiert.20 Es wäre jedoch falsch, Alter generell mit Armut gleichzu19 Stefan Schmorrte: Alter und Medizin. Die Anfänge der Geriatrie in Deutschland, in: AfS 30 (1990), S. 15–41. 20 Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. 3 Bände. Stuttgart/Berlin/Köln 1980–1992; Stephan Leibfried/Lutz Leisering u. a.: Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat. Frankfurt a. M. 1995; Peter Borscheid: Altenhilfe – Armenhilfe. Zur historischen Entwicklung der Altenhilfe und Altenhilfepolitik, in: Hans Peter Tews/Thomas Klie/Rudolf M. Schütz (Hg.): Altern und Politik. Melsungen 1996, S. 23–36.

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setzen, da in der Agrargesellschaft als Folge des mittel- und westeuropäischen Heiratsmodells die Älteren zumeist im Besitz der Erwerbsstellen waren bzw. die entscheidenden Verfügungsrechte in ihren Händen hielten: Bauern und Kaufleute vor allem, an erster Stelle aber der Hochadel. Als ertragreiche Quellenbasis zur Erforschung der materiellen Lage der „normalen“ Alten in der Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg gewannen in Westeuropa Besitzinventare in Form von Todesfallinventaren sowie Testamente an Bedeutung.21 Im Gegensatz zum Lohn reflektiert der Besitz das gesamte Familieneinkommen sowie die Familienausgaben, Erbschaften und Vermögensübertragungen an die Kinder. Einkommen und Vermögen im Alter sind das Ergebnis des vorangegangenen Handelns auf Arbeits- und Heiratsmärkten, sie werden gespeist von familialen Transfersystemen und wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsnetzen. Sie bestimmen ganz wesentlich die Lebenssituation älterer Menschen. Zwei Wege bieten sich zur Erforschung der materiellen Lage im Alter an: der Vergleich im Lebenslauf sowie der Vergleich unterschiedlicher Geburtskohorten. Die Auswertungen ließen erneut mit großer Deutlichkeit erkennen, dass die Rede von den Alten in die Irre führt. Die Unterschiede nach Beruf und Herkunft, Alter und Geschlecht, Zeit und Raum, Kinderzahl und Wiederverheiratung erwiesen sich als sehr erheblich, sie waren vielfach sogar deutlich größer als in anderen Altersgruppen.22 Wo die Haushaltsgründung unter schlechten materiellen Bedingungen erfolgte, war auch das Alter von materieller Not bedroht, wo selbst bei durchschnittlicher materieller Lage das Leben deutlich länger als erwartet währte, konnte der Betroffene dem materiellen Abstieg kaum entgehen. Ähnliches gilt, wo Kinder als „Sparkasse fürs Alter“ fehlten. In der Regel war ab dem 65. Lebensjahr das Alter mit Verarmung bzw. materiellen Verlusten verbunden: bei dem Großteil der Bevölkerung aufgrund rückläufiger Einnahmen in Folge nachlassender Leistungskraft, bei den relativ wenigen Reichen aufgrund von Vermögensübertragungen zu Lebzeiten auf die Kinder. Gerade für ältere Arbeiter war das Absinken in die Armut ab dem 65. Lebensjahr fast unvermeidlich. Erst seit Mitte der 1890er Jahre ließen sich auch in dieser Hinsicht Verbesserungen erkennen. So gering auch die Leistungen der Bismarckschen Rentenversicherung ausfielen, als zusätzliche Einkommen nahmen sie in Verbindung mit besseren Verdienstmöglichkeiten dem Alter seit Ende des 19. Jahrhunderts viel von seinem Schrecken.23 Neue Einsichten brachte die Analyse unterschiedlicher Geburtskohorten. Sie zeigen zusätzlich, dass die um 1830 geborenen Fabrikarbeiter im Alter von 60–65 Jahren deutlich höhere Vermögen besaßen als noch zu Beginn ihrer Ehe. Damit unterschieden sie sich grundsätzlich von den vorangegangenen Geburtskohorten. 21 Bernard Vogler (Hg.): Les actes notariés. Source de l’Histoire sociale XVIe–XIXe siècles. Strasbourg 1979; Ad van der Woude/Anton Schuurman (Hg.): Probate Inventories. A New Source for the Historical Study of Wealth, Material Culture and Agricultural Development. Wageningen 1980. 22 Conrad, Vom Greis (wie Anm. 16), S. 115 ff. 23 Peter Borscheid: Verdienst, Einkommen und Vermögen älterer städtischer Arbeiter während der Industrialisierung, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.): Stadtwachstum, Industrialisierung, Sozialer Wandel. Berlin 1986, S. 255–276, hier 270 ff.

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Aber auch sie mussten im höheren Alter deutliche Vermögenseinbußen hinnehmen. Ähnliches gilt für die selbständigen Handwerker, die mit 60–65 Jahren auf der Höhe ihrer finanziellen Möglichkeiten standen. Jedoch fielen ihre anschließenden Vermögensverluste deutlich geringer aus als die der Arbeiter, und sie bewegten sich weiterhin auf einem Niveau, das der durchschnittliche Arbeiter in seinem Leben niemals erreichte.24 Ein weiterer Zugang zur Bestimmung der finanziellen Lage alter Menschen erfolgte über Haushaltsrechnungen. Im Gegensatz zu Lohnkurven im Lebenszyklus, die bereits Alfred Weber 1911 zu der generellen Aussage veranlassten, ab 40 gehe es bergab,25 ermöglichen sie ein weitaus differenzierteres Bild. Auch sie belegen für Arbeiter ein Absinken des Lohnniveaus nach dem 40. Lebensjahr, geben aber zusätzlich Einblick in die oft sehr vielfältigen und oft nicht unbeträchtlichen weiteren Einnahmen: die Mitarbeit von Frau und Kindern, Vermietungen, Naturaleinkommen oder Nebenverdienste.26 Zwar bieten Berechnungen von Alters-Lohn-Profilen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts realitätsnähere Informationen über die materielle Lage der Älteren als die Lohnreihen aus dem 19. Jahrhundert, doch können auch hier die Abweichungen von den Familieneinkommen noch immer sehr erheblich sein.27 Im Mittelpunkt des Interesses stand in den letzten Jahren zudem das Schicksal der Kapitalrentner in der Zwischenkriegszeit, als die Inflation den gesellschaftlich geachteten Rentier zum Kleinrentner degradierte, als gleichzeitig die Familienökonomie als wichtigste Form der Alterssicherung immer weniger griff und die fortgesetzte Erwerbstätigkeit wiederum zur bedeutendsten Einnahmequelle der männlichen Rentner wurde. Parallel dazu kam es im Vergleich zum Kaiserreich zu Verschiebungen in der Lebensverdienstkurve. Die Zeitspanne der höheren Verdienste verlängerte sich in den Erwerbsbiographien der Arbeiter um etwa zehn Jahre, und der Höchstlohn fiel nicht mehr in das vierte, sondern in das fünfte Lebensjahrzehnt.28 Seitdem sich im letzten Jahrzehnt die Krise der Rentenversicherung verschärfte und der Generationenvertrag durch den demographischen Wandel und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bedroht ist, rückt auch die Untersuchung der wirtschaftlichen Lage der heute lebenden älteren Menschen vermehrt in den Vordergrund. Die einzelnen Studien konzentrieren sich auf Vergleiche der Einkommen verschiedener Altersgruppen, auf die Analyse der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen innerhalb der Gruppe der Älteren, der Zusammenhänge zwischen Erwerbsverlauf, Familienbiographie und materieller Lage im Alter sowie der Zusammensetzung der 24 Ebd., S. 273 ff. 25 Alfred Weber: Das Berufsschicksal der Industriearbeiter, in: ASS 34 (1911), S. 384. 26 Hermann Schäfer: Die Industriearbeiter. Lage und Lebenslauf im Bezugsfeld von Beruf und Betrieb, in: Hans Pohl (Hg.): Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870–1914). Paderborn u. a. 1979, S. 143–216, hier 184 ff.; Borscheid, Verdienst (wie Anm. 23), S. 265 ff. 27 Uwe Fachinger: Lohnentwicklung im Lebenslauf. Empirische Analysen für die Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M./New York 1994. 28 Annette Penkert: Arbeit oder Rente? Die alternde Bevölkerung als sozialpolitische Herausforderung für die Weimarer Republik. Göttingen 1998; Scharf, Ageing (wie Anm. 17), S. 51 ff.; Gerd Göckenjan (Hg.): Recht auf ein gesichertes Alter? Augsburg 1990.

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Einkommen und der Höhe der Vermögen.29 Mangel herrscht weiterhin an internationalen Vergleichen. Gesellschaftliche Aspekte Schon immer haben sich Historiker mit Vorliebe den sichtbaren Zeugnissen gesellschaftlicher und politischer Aktivität zugewandt: den in Stein gehauenen Einrichtungen und den zu Organisationen ausgeformten Programmen. Im Bereich der historischen Altersforschung sind dies vorrangig Altersheime und Rentenversicherungen als Ausdruck gesellschaftlicher Bemühungen, den speziellen Anforderungen älterer Menschen gerecht zu werden. Mit ihnen haben verschiedene Gesellschaften versucht, der älteren Generation unter die Arme zu greifen, wenn die Familie als erstrangige Helferin ausfiel. Die Geschichte einzelner Spitäler als Vorläufer der heutigen, auf die Unterbringung älterer Menschen spezialisierten Altersheime ist oft geschrieben worden, ebenso die Geschichte von Armenhäusern, in denen in der Mehrzahl ältere Witwen ein letztes, bescheidenes Zuhause fanden. Die Lebensbedingungen der darin versorgten alten Menschen interessierten ebenso wie die Finanzierung und Verwaltung dieser Häuser.30 Das relativ große Interesse, das dem Spital bzw. Altersheim als Forschungsobjekt entgegengebracht wird, sollte jedoch nicht vergessen machen, dass diese Form der Altersversorgung nicht nur in Deutschland nie eine größere Rolle gespielt hat und auch weiterhin nicht spielt. Wichtiger sind dagegen neuere Organisationsformen, die die Unterstützungskapazität der Familie durch gesellschaftliche Lösungen ergänzen, d. h. die nach dem Versicherungsprinzip die finanziellen Risiken auf eine Vielzahl von Köpfen verteilen. So unterschiedlich die dabei angewandten Techniken auch waren – es seien nur das Umlage- und das Kapitaldeckungsverfahren genannt –, alle zielen darauf ab, das finanzielle Risiko des Einzelnen zu atomisieren, wenn damit auch gesamtwirtschaftliche Risiken wie die Folgen einer Inflation oder Wirtschaftskrise nicht unterbunden werden können. Bei diesem Teil der historischen Altersforschung geht es konkret um die Entstehung und Entwicklung des Kassenwesens unter Einschluss der betrieblichen Sozialpolitik sowie der Kassen für einzelne Berufsgruppen, der Pensionssysteme für 29 Richard Hauser/Gert Wagner: Altern und soziale Sicherung, in: Baltes/Mittelstraß (Hg.), Zukunft des Alterns (wie Anm. 5), S. 581–613; Gert Wagner/Andreas Motel u. a.: Wirtschaftliche Lage und wirtschaftliches Handeln alter Menschen, in: Karl Ulrich Mayer/Paul B. Baltes (Hg.): Die Berliner Altersstudie. Berlin 1996, S. 277–299; Andreas Motel: Einkommen und Vermögen, in: Martin Kohli/Harald Künemund (Hg.): Die zweite Lebenshälfte – Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey. Opladen 2000, S. 41–101. 30 Zusammenfassend: Borscheid, Geschichte (wie Anm. 15), S. 81 ff., 251 ff.; ders.: Vom Spital zum Altersheim, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Die Stadt als Dienstleistungszentrum. St. Katharinen 1995, S. 259–280; Frank Zadach-Buchmeier: Anstalten, Heime und Asyle: Wohnen im institutionellen Kontext, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Geschichte des Wohnens, Band 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 637–743; Conrad, Vom Greis (wie Anm. 16), S. 150 ff; Kenan H. Irmak: Der Sieche. Alte Menschen und die stationäre Altenhilfe in Deutschland 1924–1961. Essen 2002.

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Beamte und Militärs,31 der privaten Renten- und Lebensversicherung32 sowie letztendlich der gesetzlichen Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte.33 Die zentralen Fragen zielen auf die jeweiligen Probleme der älteren Menschen ab, die zum Aufbau derartiger Organisationen führten, sowie letztendlich auf die Wirkungen der Kassen und Versicherungen. Die Geschichte zeigt, wie die Technik derartiger Organisationen kontinuierlich weiterentwickelt wurde, wie diese aufgrund der verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten immer größere Räume abdeckten, wie der Einzelne seine Altersversorgung in immer größeren Teilen auf diese Organisationen übertrug und damit die Familie entlastete. Diese auf die finanzielle Versorgung spezialisierten Organisationen wurden und werden ergänzt durch Hilfsorganisationen für die unterschiedlichsten Lebenslagen. Auch hier erfolgte eine zunehmende Spezialisierung. Religiöse, oft als Orden organisierte karitative Vereinigungen, die sich einer Vielzahl von Problemen der alten Menschen annahmen, sind bezahlten, professionellen und zum Teil hochspezialisierten Fachkräften gewichen, die sich unter anderem um die Ernährung – Essen auf Rädern – oder die Versorgung von Pflegebedürftigen kümmern. Der Prozess der Ausdifferenzierung dieser Form der Altershilfe, seine Spezialisierung und Verweltlichung ist erst in Umrissen bekannt, ebenso der Einfluss von Wissenschaft und Technik auf diesen Prozess.34 Pensionssysteme haben dem Alter aber nicht nur in finanzieller Hinsicht ihr heutiges Gepräge gegeben. Sie haben auch zur Konstituierung des Alters als einer einheitlichen und chronologisch abgrenzbaren Lebensphase beigetragen.35 Das menschliche Lebensalter ist sozial konstruiert, und die Pensionssysteme haben sich dabei als „Chefkonstrukteure“ betätigt. Die zur Regelung der Pensionsansprüche eingeführten Altersgrenzen wurden zu Orientierungspunkten für den Zeitpunkt der Pensionierung und zu Richtgrößen für den Beginn des Alters. Sie verdrängten die Orientierung am biologischen Alter und führten zur Dominanz des kalendarischen 31 Bernd Wunder: Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16.–19. Jahrhundert, in: ZHF 12 (1985), S. 429–498; Hans Pohl (Hg.): Betriebliche Sozialpolitik deutscher Unternehmer seit dem 19. Jahrhundert. Wiesbaden 1978; Martin Geyer: Die Reichsknappschaft. München 1987; Ehmer, Sozialgeschichte (wie Anm. 15), S. 40 ff. 32 Peter Borscheid: Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft. 2 Bände. Münster 1989/93. 33 Gerhard A. Ritter: Sozialversicherung in Deutschland und England. München 1983; Heinz Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik. 4. Aufl., Berlin/Heidelberg u. a. 1996, S. 17 ff.; Scharf, Ageing (wie Anm. 17); Günther Schulz: Armut und soziale Sicherung, in: Reinhard Spree (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 157–177; Volker Hentschel: Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880–1980). Frankfurt a. M. 1983; Ulrike Haerendel: Die Anfänge der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Speyer 2001; Florian Tennstedt/Heidi Winter (Bearb.): Gewerbliche Unterstützungskassen (Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914), 1. Abt., Band 5. Darmstadt 1999; Florian Tennstedt/Heidi Winter (Bearb.): Altersversorgungs- und Invalidenkassen, 1. Abt., Band 6. Darmstadt 2002; in Vorbereitung Ulrike Haerendel (Bearb.): Die gesetzliche Invaliditätsund Altersversicherung, 2. Abt., Band 6. Darmstadt 2002; Lil-Christine Schlegel/Gerd Hardach: Die dynamische Rente. Ein Modell der Alterssicherung im historischen Wandel, in: VSWG 90 (2003), S. 290–315; Sandra Hartig: Alterssicherung in der Industrialisierung. Marburg 2002. 34 Hans-Luidger Dienel/Cornelia Foerster u. a. (Hg.): Technik, Freundin des Alters. Stuttgart 1999. 35 Martin Kohli: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, in: KZSS 37 (1985), S. 1–29.

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Alters. Gerade hieran zeigt sich, wie sehr die Lebensläufe – und damit auch das Alter – institutionell geformt und mit Ressourcen ausgestattet sind, wie der Staat über die Rechtsstaatlichkeit hinaus als Sozialstaat die Altersphase in zunehmendem Maße durchdringt, normiert und dazu beiträgt, dass die Lebensläufe kalkulierbar werden. Sozialstaatliche Institutionen regulieren neben den großen Phasen des Lebenslaufs auch die damit verbundenen Statuspassagen, so den Übergang von der Berufstätigkeit zum Rentnerdasein und schließlich zur Pflegephase. Diese Übergänge sind in hohem Maße institutionell geformt, sie sind durch Normen geleitet und von Gesetzen begleitet bei individuellen Interventionsmöglichkeiten. Sie sind zugleich einem steten Wandel unterworfen. Dies war in der Vergangenheit so. In jüngster Zeit dagegen tragen die verstärkten staatlichen Angebote zur Bewältigung episodischer Risiken wie Krankheit und Arbeitslosigkeit sowie die verstärkte staatliche Konjunktursteuerung mit Hilfe dieser Instrumente aber auch zu einer vermehrten Entstandardisierung und Pluralisierung der Lebensstile im Alter bei. Das Alter wird mit zunehmender Tendenz vielgestaltiger. In der historischen Altersforschung wird in Zukunft viel mehr als bisher die institutionelle Sicht an Bedeutung gewinnen. Nicht mehr nur die sozialpolitische Entwicklung wird im Vordergrund stehen, sondern die Wirkung dieser sozialpolitischen Interventionen auf die Empfänger dieser Leistungen. Die Anfänge sind gemacht mit Untersuchungen über den parallel zum Ausbau von Pensionssystemen erfolgten Rückgang der Erwerbsbeteiligung älterer Männer.36 Generationsaspekte Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den einzelnen Lebensaltersstufen war ohne Zweifel ein geeigneter Weg, um die Forschung auf die besonderen Probleme und Lebenslagen der Kinder, der Jugendlichen und der Älteren zu lenken und das Spezifische der einzelnen Altersgruppen herauszuarbeiten. Eine derartige Fokussierung verdeckt jedoch das Neben- und Miteinander der Generationen, die Formen ihres Zusammenlebens, ihre Reibungspunkte sowie den Wandel ihrer Beziehungen, wie sie durch Wechsel der Rahmenbedingungen hervorgerufen wurden und weiterhin werden: durch Veränderungen der Wirtschaftsweise und Familienstruktur, vermehrte Mobilität, eine verlängerte Lebenserwartung, neue Formen der Alterssicherung oder eine Beschleunigung des sozialen und kulturellen Wandels. Angesichts der heutigen Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung hat der Soziologe Reimer Gronemeyer in reißerischen Worten einen drohenden „Krieg der Jungen gegen die Alten“ prognostiziert, andere sprechen im Gegenteil von einer neuen Solidarität zwischen den Generationen. Derartige Schlagworte zeigen: das Thema ist kontrovers. Dabei gilt es zwischen gesellschaftlichen und familialen Generationen zu unterscheiden. Erstere umfassen Personen, die in einem begrenzten Zeitraum geboren 36 Christoph Conrad: Die Entstehung des modernen Ruhestandes. Deutschland im internationalen Vergleich 1850–1960, in: GG 14 (1988), S. 417–447; Ehmer, Sozialgeschichte (wie Anm. 15), S. 78 ff.

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wurden und bestimmte Ereignisse in einem ähnlichen Alter erfahren haben. Die neuere Forschung trennt zusätzlich politische von kulturellen und ökonomischen Generationen. Familiale Generationen dagegen sind auf der Mikroebene angesiedelt: Enkel, Kinder, Eltern, Großeltern usw. Die entsprechenden Untersuchungen fragen nach der intergenerationalen Solidarität, die wiederum eine funktionale, affektive und assoziative Dimension besitzt und – anders ausgedrückt – sich in Unterstützungshandlungen, Gefühlshaltungen und gemeinsame Aktivitäten gliedert.37 Den Sozialhistoriker interessieren in erster Linie die familialen Generationsbeziehungen, die familiale Generationensolidarität, die Formen des Zusammenlebens sowie die Konfliktlinien. Die Forschung hat zwei Formen des Zusammenlebens als Kontrast gegenübergestellt: das enge und relativ konfliktträchtige hautnahe Nebeneinander von Jung und Alt innerhalb der bäuerlichen Familie, zu dem es wegen der Naturalversorgung der Älteren in der Vergangenheit kaum eine Alternative gab; demgegenüber das weitaus weniger konfliktträchtige nachbarschaftliche Nebeneinander von Eltern und Kindern in den städtischen Haushalten von Handwerkern bei selbständiger Haushaltsführung der älteren und verheirateten Kinder. Leopold Rosenmayr hat diese Rückzugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände bei räumlicher Nähe der anderen Generation zutreffend als „Intimität auf Abstand“ bezeichnet. Unter den deutschsprachigen Familienhistorikern hat besonders Michael Mitterauer in seinen Studien über die Entwicklung von Hausgemeinschaften dieses Thema aufgegriffen, ohne jedoch die konkreten affektiven Beziehungen zwischen den Generationen in den Blick zu nehmen.38 Die Forschung über die Qualität der Generationsbeziehungen stützt sich vorwiegend auf Übergabeverträge und Testamente. Auch wurden Bauformen und Kirchenkonventsprotokolle, Haushaltslisten und Gerichtsprotokolle herangezogen. Lange Zeit stand das bäuerliche Ausgedinge im Mittelpunkt des Interesses, obwohl es bis ins 19. Jahrhundert quantitativ nie eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Ein Ergebnis ist, dass Höfe und Betriebe nicht zwangsläufig an den nach dem Gesetz vorgesehenen Erbberechtigten weitergegeben wurden. Aus unterschiedlichen Gründen missachteten die Erblasser die Erbfolge und bedachten selbst Familienfremde, etwa bei Konflikten zwischen Eltern und Kindern. Die Quellen lassen dabei oft weit verzweigte Netzwerke erkennen, begründet auf affektiver Solidarität wie auch auf rein egoistische materielle Ziele der Kinder. Unbestreitbar haben in früheren Jahrhunderten dauerhafte und intensive Beziehungen zwischen den Generationen vorgeherrscht mit einer hohen Anzahl von Kontakten und Unterstützungsaktivitäten. Dies gilt auch für proletarische Milieus, wo es für die Kinder nichts zu erben gab, wo die Jüngeren aber dennoch Eltern zur Versorgung und Betreuung in ihren Haushalt aufnahmen.39 Dennoch dürfen diese Befunde nicht zu einer harmonisierenden Sicht37 Martin Kohli/Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen 2000. 38 Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Familie als landeskundlicher Forschungsgegenstand, in: Ders.: Historisch-anthropologische Familienforschung. Wien/Köln 1990, S. 191–231. 39 Josef Ehmer/Peter Gutschner (Hg.): Das Alter im Spiel der Generationen. Wien 2000; Jürgen Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuersleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650–1860. Göttingen 1994.

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weise verleiten. Insgesamt ergibt sich ein starkes Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz, von Harmonie und Konflikt, von Solidarität und Opposition, von Abhängigkeit und Eigenständigkeit der Generationen.40 Noch weitgehend offen ist, wie sich derartige Beziehungen im Zeitverlauf unter dem Einfluss neuer Normen und Werte, der Binnen- und Auswanderung, der Erhöhung des Lebensstandards und der Einführung der Sozialversicherung oder in der Folge neuer Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten verändert haben. Vieles spricht dafür, dass der öffentliche Generationenvertrag in Form der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Stärkung der Familiensolidarität beigetragen hat. Weitgehend unerforscht ist auch, wie unter anderem der sogenannte „Jugendwahn“ des 20. Jahrhunderts, der in Mode, Sport, Werbung und Schönheitsideal seinen Niederschlag gefunden hat, sich im gesellschaftlichen Verhältnis zwischen Jung und Alt auswirken konnte. Kulturelle Aspekte Der institutionelle Ansatz verweist ausdrücklich auf die Gestaltungskraft von Normen, Sitten und Gebräuchen. Diese wirken in der Gesellschaft als schützendes Element und spielen eine herausragende Rolle bei Interaktionen zwischen ungleichen Gruppen, von denen eine markante Schwächen aufweist. Aufgrund der physischen Defizite von Kindern und alten Menschen haben fast alle Kulturen daher entsprechende Schutzmaßnahmen entwickelt, die sich in ungeschriebenen Regeln, Ehrungen und Anstandsregeln niederschlagen mit dem Ziel, die Achtung des Alters zu fördern und die alten Menschen mit einem Schutzzaun zu umgeben. Die meisten Untersuchungen zu diesem Themenkomplex haben den Grad der Achtung, die eine Gesellschaft ihren alten Mitbürgern entgegenbrachte, in den Mittelpunkt gestellt. In Form einer Diskursanalyse wurde versucht, generelle Strömungen aus dem Strudel oft gegensätzlicher Aussagen herauszufiltern, wobei das Zeitalter der Aufklärung und der Industrialisierung als wichtigste Wendepunkte festgemacht wurden.41 So sehr Beschreibung und Analyse des Wechsels von Hochach40 Josef Ehmer: Ökonomische Transfers und emotionale Bindungen in den Generationenbeziehungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kohli/Szydlik (Hg.), Generationen (wie Anm. 37), S. 77–96; ders.: „The Life Stairs“: Aging, Generational Relations, and Small Commodity Production in Central Europe, in: Tamara K. Hareven (Hg.): Aging and Generational Relations over the Life Course. Berlin/New York 1996, S. 53–74; Borscheid, Geschichte (wie Anm. 15), S. 39 ff., 163 ff.; ders.: Alltagsgeschichte, in: Birgit Jansen/Fred Karl u. a. (Hg.): Soziale Gerontologie. Weinheim/Basel 1999, S. 126–141; Leopold Rosenmayr: Streit der Generationen? Wien 1993; Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Band 1: Das Haus und seine Menschen. 2. Aufl., München 1995, S. 200 ff.; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Zweiter Altenbericht: Wohnen im Alter. Bonn 1998. 41 Borscheid, Geschichte (wie Anm. 15), S. 11 ff., 107 ff.; Peter Borscheid/Hermann Bausinger u. a.: Die Gesellschaft braucht die Alten. Opladen 1998; Domenica Tölle: Altern in Deutschland 1815–1933. Eine Kulturgeschichte. Grafschaft 1996; Christoph Conrad/Hans-Joachim von Kondratowitz (Hg.): Zur Kulturgeschichte des Alterns. Berlin 1993; Hans Peter Tews: Altersbilder. Über Wandel und Beeinflussung von Vorstellungen vom und Einstellungen zum Alter.

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tung und Missachtung in der Öffentlichkeit auf ein relativ großes Interesse stoßen, so sollten doch die methodischen Probleme bei dieser Perspektive der Altersforschung nicht übersehen werden. Die Beschränkung auf Teildiskurse kann leicht zu konträren Ergebnissen führen, ebenso die Beschränkung auf Teilgruppen. Auch gilt es strikt zu unterscheiden zwischen Norm und Wirklichkeit. Die Analyse mancher Teildiskurse steht noch aus. So fehlt unter anderem eine profunde kunsthistorische Analyse der Veränderungen der Einstellungen zum Alter. Sie dürfte mit großer Sicherheit wertvolle Bausteine für eine Kulturgeschichte des Alters liefern.42 Bei allen weiterbestehenden Kontroversen in Einzelfragen steht jedoch bereits fest, dass unter dem Einfluss von sich wandelnden Normen bestehende, unverändert gültige Gesetze etwa über Vergehen gegenüber älteren Menschen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausgelegt und Vergehen unterschiedlich schwer bestraft worden sind. Dies ist ein Indiz für den permanenten Wandel in der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber den alten Mitmenschen. Dabei lässt sich diese Einstellung gegenüber den Älteren nicht losgelöst von der Einstellung der Gesellschaft zur Jugend untersuchen. Beide Altersgruppen sind in dieser Hinsicht wie kommunizierende Röhren miteinander verbunden.43 Fest steht auch, dass die Aufklärung in einer Art Zivilisierungsprozess die Achtung vor dem Alter als Thema auf die Bühne der Theater und in die öffentliche Diskussion einbrachte, in Zeitschriften thematisierte und in Anstandsbüchern festschrieb. In der Zeit des Biedermeier sahen sich die Älteren in eine Idylle gehoben und der Wirklichkeit enthoben. Sie wurden durch Normen und Regeln mit einem schützenden Kokon umgeben. Erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert zerbröckelte mit der Aufwertung der Jugend dieser Schutzwall, wogegen es heute mit der Pluralisierung der Lebensstile und der Zersplitterung der Gesellschaft in eigenständige Generationsgruppen zu einem relativ beziehungslosen Nebeneinander von Alt und Jung kommt. Die generationenübergreifende Gesellschaft der frühen Bundesrepublik hat sich bereits in eine Gesellschaft aus tendenziell isoliert voneinander agierenden Gruppen gewandelt, die voneinander kaum noch Notiz nehmen. Man mag darin eine Missachtung der Älteren durch die Jüngeren sehen, damit ist aber gleichzeitig auch die rigide Kontrolle der Älteren durch ihre Mitmenschen weggefallen, die in der Agrargesellschaft die ältere Generation in ein enges Korsett von Normen, Geboten und Verboten geschnürt hatte. Köln 1991; Simone de Beauvoir: Das Alter. Reinbek bei Hamburg 1972; Gerd Biegel (Hg.): Geschichte des Alters in ihren Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart. Braunschweig 1993; Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a. M. 2000; Dietrich von Engelhardt: Altern zwischen Natur und Kultur, in: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft. Stuttgart 1995, S. 13–23; Kap. Kulturhistorischer Hintergrund erfolgreichen Alterns, in: Margret M. Baltes/Martin Kohli/Karl Sames (Hg.): Erfolgreiches Altern. Bern/Stuttgart/Toronto 1989, S. 76–95. 42 Wertvolle Ansätze in: Ursel Berger/Jutta Desel (Bearb.): Bilder vom alten Menschen in der niederländischen und deutschen Kunst 1550–1750. Ausstellungskatalog des Herzog-AntonUlrich Museums Braunschweig 1993. 43 Peter Borscheid: Jugend und Alter. Zum Verhältnis der Generationen zwischen den Revolutionen 1789/1918, in: AfS 30 (1990), S. 1–14.

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Geschlechtsspezifische Aspekte In der historischen Altersforschung hat die Kategorie Geschlecht bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt, obwohl es keiner näheren Erläuterung bedarf, dass Lebensläufe und damit auch das Alter geschlechtsabhängig geformt sind. Auch auf diesem Forschungsfeld ist es an der Zeit, das weibliche Altern nicht nur als Abweichung vom männlichen Altern zu sehen, sondern beide als eigenständige Strukturmuster. Es sind neben den Zusammenhängen auch die Differenzierungen in den Blick zu nehmen. Aus der Perspektive der Institutionen wirken diese nicht nur auf die individuellen Lebensläufe ein, sondern sie wirken auch als Verbundsysteme zwischen den beiden Geschlechtern und verstärken in manchen Punkten die Unterschiede. Sie bündeln individuelle Altersphasen und verknüpfen die weiblichen mit den männlichen Lebensläufen, wobei Erstere oft nur „angelagert“ sind. Es bedarf kaum einer besonderen Erwähnung, dass die historische Demographie aufgrund der vorhandenen Daten eine geschlechtsspezifische Unterteilung in der Regel schon immer vorgenommen hat. Auch ist die Überrepräsentation von Frauen in Spitälern, Armenhäusern und Altersheimen immer wieder vermerkt worden. Das heißt, dass die bisherige historische Altersforschung bei der Gegenüberstellung von Genusgruppen vorrangig die besonderen Risikofaktoren, denen die Frauen im Alter ausgesetzt waren, thematisiert hat sowie die sich daraus ergebenden Arrangements, zum Beispiel die Gründung von Witwenkassen, die unterschiedliche Versorgung der Witwen in den einzelnen Gesellschaftsgruppen sowie ihre Stellung in der Gesellschaft ganz allgemein.44 Dies geschah zumeist auf der Grundlage von Forschungen über die materielle Lage, die die Witwen regelmäßig als besonders gefährdete Gruppe auswiesen. Der enge Bezug zur sozialen Ungleichheitsdebatte hat dabei richtungsweisend gewirkt. Es wäre zu wünschen, wenn in Zukunft mehr als bisher die Abhängigkeiten von den institutionellen Bedingungen thematisiert würden, etwa die gesellschaftlich-normative Ausformung von Geschlechterrollen im Alter. In der Einführung zu ihrem Essay „Das Alter“ konnte Simone de Beauvoir im Jahre 1970 noch schreiben: „Für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt.“ Unter dem Einfluss der Gerontologie und der vielfältigen Aktivitäten der interdisziplinär ausgerichteten Altersforschung hat dieser Satz heute seine Berechtigung verloren. Für das Leben unserer Vorfahren besitzt er jedoch immer noch Gültigkeit.

44 Borscheid, Geschichte (wie Anm. 15), S. 67 ff., 237 ff.; Heinz Reif: Zum Zusammenhang von Sozialstruktur, Familien- und Lebenszyklus im westfälischen Adel in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Michael Mitterauer/Reinhard Sieder: Historische Familienforschung. Frankfurt a.M. 1982, S. 123–155; Wunder, Pfarrwitwenkassen (wie Anm. 31); Kap. Die Geschlechtsvormundschaft, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, S. 390– 506; Gerd Göckenjan/Angela Taeger: Matrone, Alte Jungfer, Tante. Das Bild der alten Frau in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, in: AfS 30 (1990), S. 43–80; Göckenjan, Das Alter (wie Anm. 41), S. 179 ff.

Helmut Braun VON DER TECHNIK- ZUR UMWELTGESCHICHTE 1. Prolog: Die VSWG als Forum für Technik- und Umweltgeschichte? Als Zeitschrift, die Forschungsergebnisse aus der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte publiziert, ist die VSWG zumindest auf den ersten Blick nicht zwangsläufig ein Forum für Beiträge aus der Technikgeschichte oder einer später noch genauer vorzustellenden Umweltgeschichte.1 Doch auf den zweiten Blick kann diese Einschätzung dahin relativiert werden, dass es darauf ankommt, inwiefern in einem technikoder umwelthistorischen Aufsatz Berührungspunkte mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bestehen et vice versa. Entscheidend ist also, wie Technik- und Umweltgeschichte betrieben werden, beziehungsweise wie sie sich jeweils selbst als Teildisziplinen definieren, ihre Anknüpfungsmöglichkeiten zu anderen Teildisziplinen konstruktiv wahrnehmen und auch von dort wahrgenommen werden. Daher ist nun einerseits auszuloten, welche sozial- und wirtschaftshistorischen Verbindungen zu technik- und umwelthistorischen Fragestellungen bestehen oder ausgeweitet werden könnten, und andererseits, wie sich in der VSWG und ihren Beiheften derartige Verbindungen niederschlugen oder Impulse für die Technik- und Umweltgeschichte nachweisbar sind. Zuvor ist jedoch auch zu diskutieren, inwiefern speziell die Technikgeschichte zur Herausbildung der noch jungen Teildisziplin Umweltgeschichte beitrug. Denn vereinzelt findet sich die Meinung, dass die Technikgeschichte der „Bannerträger der Umweltgeschichte“2 sei, beziehungsweise die Umweltgeschichte zumindest in Deutschland als ein „Ableger der Technikgeschichte“3 anzusehen ist. Ebenfalls ist kursorisch anzusprechen, in welchen Bereichen weiterer, auch fachübergreifender Forschungsbedarf besteht. 2. Zur „Geschichte der Technikgeschichte“ und ihren wirtschafts- und sozialhistorischen Bezügen Als universitäre Disziplin ist die Technikgeschichte mit eigenen Lehrstühlen im Wesentlichen ein Kind der 1960er Jahre, sie ist also erheblich jünger als andere 1 2

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Jedoch stellte Aubin 1963 heraus, dass die VSWG bereits früh bereit war „Kenntnis auch von Randgebieten zu geben“. Hermann Aubin: Zum 50. Band der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 1–24, hier 22. Roman Sandgruber: Umweltgeschichte – eine neue Disziplin?, in: Historicum, Winter 1992/ 93, S. 14–17, hier 14. Da sich im deutschsprachigen Raum die Umweltgeschichte zu etablieren beginnt, wird im Weiteren diese neu entstehende Teildisziplin ausführlicher behandelt als die Technikgeschichte. Joachim Radkau: Technik- und Umweltgeschichte, Teil I, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 479–497, hier 479; Teil II, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 250–258.

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historische Teildisziplinen, zu denen auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gehört.4 Werden jedoch die technikhistorischen Aktivitäten in Deutschland außerhalb der Hochschulen betrachtet, dann hat die ingenieurmäßige Durchdringung und Darstellung von Technik aus dem industriellen Bereich, aber auch aus der Medizin einschließlich der naturwissenschaftlichen Fundamente, eine lange Tradition. Mit dem Verein deutscher Ingenieure (VdI) und ähnlichen, naturwissenschaftlich geprägten Vereinigungen besteht ein institutioneller Unterbau, welcher sich auch in der Existenz einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift manifestiert, der seit 1933 erscheinenden „Technikgeschichte“ und ihrer Vorläuferzeitschrift aus dem Jahr 1909.5 Kennzeichen der älteren, seit den 1890er Jahren betriebenen Technikgeschichtsschreibung war im Kern eine auf technische Artefakte (Maschinen, Geräte, Verfahren) sowie auf Ingenieure als deren Schöpfer zentrierte Darstellung. Präsentiert wurden hier die naturwissenschaftlichen Grundlagen und die Funktionsweise der Artefakte. Technikgeschichte sollte außerhalb der Profession der Ingenieure6 für gesteigerte kulturgeschichtliche Wertschätzung der Technik werben; die Gründung des Deutschen Museums (anfänglich „Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“) in München im Jahre 1903 war und ist ein Symbol für dieses Anliegen.7 Diese evolutionistische, naturwissenschaftlich darstellende Artefaktzentrierung provozierte bereits früh, aber anfänglich noch geringen Widerstand in der eigenen Zunft;8 heftiger dagegen war die Kritik aus anderen Disziplinen, insbesondere aus den Kulturwissenschaften, und dort wiederum aus der Soziologie und der historisch-gesellschaftswissenschaftlich orientierten Nationalökonomie.9 Dennoch wur4 5

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Wolfhart Weber/Lutz Engelskirchen: Streit um die Technikgeschichte in Deutschland 1945– 1975. Münster u. a. 2000, S. 1–21. Ein Kennzeichen einer nun eigenständigen wissenschaftlichen Teildisziplin ist beispielsweise das periodische Erscheinen eines spezifischen Organs, im Falle der „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ eben der VSWG bzw. ihrer Vorläuferin der ZSWG. Aubin, Zum 50. Band (wie Anm. 1), S. 1. Timm ist zudem der Meinung, dass es zur Etablierung einer Teildisziplin mindestens ein die methodologischen Grundlagen und die Nomenklatur vereinheitlichendes Einführungswerk, besser noch ein Lehr- oder sogar Handbuch geben müsse. Albrecht Timm: Einführung in die Technikgeschichte. Berlin/New York 1972, S. 7. Hilfreich für einen Zugang zum damaligen Selbstverständnis von Technikern und Ingenieuren wären Arbeiten über die Ziele und Umsetzung der technischen Bildung in Deutschland. Wichtige Aspekte dieser bisher eher vernachlässigten Bereiche der deutschen Bildungsgeschichte behandelt Friedhelm Schütte: Technisches Bildungswesen in Preußen-Deutschland. Aufstieg und Wandel der Technischen Fachschule 1890–1938. Köln/Weimar 2003. Die Herausgabe des ersten Bandes der VSWG ebenfalls im Jahr 1903 ist wohl als ein historischer Zufall zu bewerten. Über frühe, aber zaghafte Versuche, eine Annäherung von Technik und Geschichte bereits in der technischen Ausbildung zu etablieren, berichtet Reinhard Hildebrandt: Technik und Geschichte, in: Volker Schmidtchen/Eckhard Jäger (Hg.): Wirtschaft, Technik und Geschichte. Beiträge zur Erforschung der Kulturbeziehungen in Deutschland und Osteuropa. Festschrift für Albrecht Timm zum 65. Geburtstag. Berlin 1980, S. 359–364. So forderte bereits 1910 Sombart auf dem Soziologentag, dass die gesellschaftlichen Vorbedingungen und Folgen der Technik ebenso untersucht werden müssten wie die Interdependenzen zwischen Technik und Kultur. Werner Sombart: Technik und Kultur. Tübingen 1911, S. 63– 83. Zu nennen sind hier noch Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld: Wirtschaft und Technik, Grund-

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de die Technikgeschichte über Jahrzehnte hinweg naturwissenschaftlich und ingenieurmäßig orientiert in der Tradition von Johann Beckmann, dann von Ludwig und Theodor Beck, über Conrad Matschoss bis F. M. Feldhaus und Friedrich Klemm betrieben, wobei aber Klemm bereits die Beziehungen zwischen Technik und traditionellen Kulturbereichen wie Philosophie, Religion und Kunst betonte.10 Eine wichtige Vorreiterfunktion für eine Neuausrichtung der deutschen Technikgeschichte hin zu einer mehr geschichtlichen und sozioökonomischen Analyse fand im Jahr 1960 in den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Gründung eines Journals statt, das den programmatischen Titel „Technology and Culture“ erhielt. Doch die dort, wie auch in England und Frankreich, diskutierten Methoden, Fragen und theoretischen Konzepte wurden in Deutschland zunächst kaum rezipiert.11 In Deutschland kam es bereits während der 1950er Jahre zu einer stärkeren Verortung der Geschichte technischer Artefakte und ihrer Schöpfer im kultur- und wirtschaftshistorisch geprägten Kontext der nun intensivierten wissenschaftlichen Unternehmensgeschichte.12 Im Laufe der Jahre fand dann eine immer deutlichere Umorientierung der vorher auf Artefakte zentrierten Technikgeschichte hin zur mit wirtschafts- und sozialhistorischen Erkenntnissen verbundenen Technikgeschichte statt. Dies ermöglichte fruchtbare Erkenntnisse und läutete auch in Deutschland eine neue Phase der technikhistorischen Forschung ein,13 wenngleich natürlich auch die „Artefaktgeschichte“ mit ihrer Sichtung, Beschreibung und Durchleuchtung von konkreten Techniken und Technologien einschließlich der Erklärung ihrer Funktionsweisen weiter ihre Existenzberechtigung haben muss. König schließlich urteilte 1990, wenn auch in einem etwas speziellen Zusammenhang, dass das Allgemeine

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riß der Sozialökonomik, II. Abt. Tübingen 1914 und später Walter Georg Waffenschmidt: Technik und Wirtschaft. Jena 1928. Statt einer Nennung der wichtigsten Arbeiten dieser Vertreter der „älteren“ deutschen Technikgeschichtsschreibung sei auf die Ausführungen verwiesen in Ulrich Troitzsch/Gabriele Wohlauf (Hg.): Technikgeschichte. Historische Beiträge und neuere Ansätze. Frankfurt a. M. 1980, S. 45–101. Helmuth Schneider: Einführung in die antike Technikgeschichte. Darmstadt 1992, S. 1–2. Jedoch stellte sich dann 1964 in Deutschland Timm die originär geschichtswissenschaftliche Frage, „wie kam es dazu“, hier bezogen auf die Entwicklung von Technologie. Auch betonte Timm bereits damals ausdrücklich, dass neben der Entwicklung der Naturwissenschaften insbesondere die Geschichte der Wirtschaft, die Kulturgeschichte und die Politische Geschichte im Kontext der Erklärung der technologischen Entwicklung nicht vergessen werden dürfen. Albrecht Timm: Kleine Geschichte der Technologie. Stuttgart 1964, S. 6. Die Grundzüge seines Verständnisses von Technikgeschichtsschreibung präsentierte Timm bereits in einem 1959 in der VSWG erschienen Aufsatz: VSWG 46 (1959), S. 350–360. Weber/Engelskirchen, Streit (wie Anm. 4), S. 71. Aus der Fülle der Arbeiten mit dieser neuen Ausrichtung seien genannt: Die bezeichnenderweise der Kapitelüberschrift „Neuere Ansätze in der Technikgeschichtsschreibung“ folgenden Aufsätze im Sammelband von Troitzsch/Wohlauf (Hg.), Technikgeschichte (wie Anm. 10), S. 105– 447. Aus der Vielzahl der Monographien einer nun inhaltlich breiter angelegten Technikgeschichte sei beispielhaft genannt Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1989. Zur Entwicklung technikgeschichtlicher Forschung für die Zeit zwischen 1945 und 1975 informieren ausführlich: Weber/Engelskirchen, Streit (wie Anm. 4).

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in der Technikgeschichte „als wesentlicher Teil der Menschheitsgeschichte zu verdeutlichen“14 sei. Technikhistorische Themen wurden, selbst wenn sie Bezüge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aufwiesen, in der VSWG quantitativ nur sporadisch behandelt: In Band 14 wurde eine kurze „Geschichte der technischen Museen“15 vorgestellt; in Band 46 findet sich dann die bereits erwähnte Publikation der Antrittsvorlesung von Albrecht Timm vor der Philosophischen Fakultät der Universität Hamburg zum Thema „Technologie und Technik im Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit“16, in der Timm deutliche wirtschaftshistorische und geisteswissenschaftliche Bezüge herstellte. Erst wieder in Band 54 erschien unter dem Titel „Ingenieur und Erfinder. Zwei sozial- und technikgeschichtliche Probleme“17 ein bedeutender Aufsatz von Wilhelm Treue. In Band 60 ging es unter dem Titel „Die ‚Welt als Schaustellung‘. Zur Funktion und Bedeutung der internationalen Industrieausstellung im 19. und 20. Jahrhundert“18 auch um die Verquickung von Machtpolitik, Ansehen und Technik, beziehungsweise um die Demonstration nationaler technischer Kompetenz. Im selben Band diskutierte Schremmer unter der Überschrift „Wie groß war der ‚technische Fortschritt‘ während der Industriellen Revolution in Deutschland, 1850–1913“19 mehrere Aspekte des (technischen) Fortschrittsbegriffs. Über gesellschaftliche Folgen und Akzeptanzprobleme neuer Techniken berichtete in Band 68 die Studie „Rationalisierung und Arbeitslosigkeit in der Diskussion um die Einführung der Dreschmaschine um die Wende zum 19. Jahrhundert“20, und in Band 77 waren Aspekte der Verwissenschaftlichung der technischen Forschung, auch in der Form neuartiger Ausbildungsstätten, Gegenstand eines Beitrags über „Wirtschaft, Staat und Wissenschaft. Der Ausbau der privaten Hochschul- und Wissenschaftsförderung im Kaiserreich“21. Mit den gesellschaftlichen und machtpolitischen Kontexten technischer Normierungen beschäftigte sich in Band 80 der Beitrag „Der Wettlauf um die Verbreitung nationaler Normen im Ausland nach dem Ersten Weltkrieg und die Gründung der ISA aus der Sicht deutscher Quellen“22. Daneben fanden sich in einzelnen Beiträgen der VSWG sporadisch technikgeschichtlich relevante Aspekte.23 Damit zeigte sich die VSWG im Prinzip offen für technikhistorische Forschungsergebnisse, sofern diese einen deutlichen sozial- und wirtschaftshistorischen Bezug aufwiesen. Artikel mit einer Tendenz zur Artefaktgeschichte wurden aber 14 Wolfgang König: Das Problem der Periodisierung und die Technikgeschichte, in: Technikgeschichte 57 (1990), S. 285–298, hier 296. 15 Heinrich Pudor in: VSWG 14 (1918), S. 356–375. 16 Albrecht Timm in: VSWG 46 (1959), S. 350–360. 17 Wilhelm Treue in: VSWG 54 (1967), S. 456–476. 18 Utz Haltern in: VSWG 60 (1973), S. 1–40. 19 Eckart Schremmer in: VSWG 69 (1973), S. 433–458. 20 Otto Ulbricht in: VSWG 68 (1981), S. 153–190. 21 Dieter P. Herrmann in: VSWG 77 (1990), S. 351–368. 22 Thomas Wölker in: VSWG 80 (1993), S. 487–509. 23 Folgende Beispiele seien hier genannt, aber aus Platzgründen nur mit den Namen der Verfasser und Angabe des jeweiligen VSWG-Bandes: Geering in Band 1, Sprandel in Band 52, Neebe in Band 76, Merki in Band 85 und Stier in Band 87.

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vermutlich primär bei den diesen Schwerpunkt pflegenden Fachzeitschriften wie der „Technikgeschichte“ eingereicht. Dort wiederum kamen ab Mitte der 1960er Jahre auch angesehene Wirtschaftshistoriker zu Wort, um die Standorte der beiden Disziplinen zu klären.24 In seinem 1972 als Sammlung Göschen Band 5010 erschienenen Lehrbuch „Einführung in die Technikgeschichte“ stellte schließlich erneut Albrecht Timm25 die Interdependenzen zwischen Wirtschaft und Technik in historischer Perspektive heraus, und im Laufe der folgenden Jahre fand cum grano salis eine tiefergehende Annäherung zwischen Wirtschafts- und Sozialhistorikern mit meist jüngeren Technikhistorikern statt, die die Grenzen einer alleinigen Artefaktgeschichte nachhaltig überwinden wollten.26 Für die VSWG wäre es ein Gewinn, in Zukunft vermehrt Studien einer sozialwissenschaftlich geprägten Technikforschung zu publizieren. Neben Arbeiten zur historischen Technikfolgenabschätzung27 könnte es anregend sein, sich historischen Fallstudien aus der sozialwissenschaftlich-ökonomisch orientierten Erforschung von Prozessen der Technikgenese28 und Technikausbreitung zu öffnen; damit könnte eine sozialwissenschaftlich geprägte Inventions- und Innovationsgeschichte, eine Geschichte der „Technikgestaltung“29 vorangetrieben werden.30 Denn die wirt24 Beispielsweise die Artikel von Wilhelm Treue: Technikgeschichte und Technik in der Geschichte, in: Technikgeschichte 32 (1965), S. 3–18; Karl-Heinz Ludwig: Technikgeschichte als Beitrag zur Strukturgeschichte, in: Technikgeschichte 33 (1966), S. 105–120; Knut Borchardt: Technikgeschichte im Lichte der Wirtschaftsgeschichte, in: Technikgeschichte 34 (1967), S. 1– 13. 25 Timm, Einführung (wie Anm. 5), S. 63–74. 26 Wilhelm Treue (Hg.): Deutsche Technikgeschichte. Vorträge vom 31. Historikertag am 24. September 1976 in Mannheim. Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Band 9. Göttingen 1977. 27 Bereits an dieser Stelle sei festgestellt, dass damit ein wichtiger Anknüpfungspunkt zur später noch vorzustellenden Herausbildung einer Umweltgeschichte besteht. Eine hierfür einschlägige Arbeit stammt von Arne Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung am Beispiel des Metallhüttenwesens und der Chemieindustrie, 1850–1933. Wiesbaden/Stuttgart 1996; Jürgen Büschenfeld: Flüsse und Kloaken: Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870– 1918). Stuttgart 1997. Im Gefolge der Debatte über das Phänomen des „Waldsterbens“ während der 1980er Jahre kam es sogar zu einem Nachdruck einer alten, im heutigen Sinne „umwelthistorischen“ Arbeit von Carl Reuß/Julius von Schroeder: Die Beschädigungen der Vegetation durch Rauch und die Oberharzer Hüttenrauchschäden. Berlin 1883, Nachdruck Hildesheim u. a. 1986. 28 Ein wegen der theoretischen Vorgehensweise bemerkenswertes Frühwerk dazu stammt von Abbott Payson Usher: A History of Mechanical Inventions. New York 1929, Neuauflage 1966. 29 Diesen Begriff prägte Otto Ullrich: Technikfolgenabschätzung – ein Konzept zur politischen Gestaltung von Technik?, in: Raban Graf von Westphalen (Hg.): Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe. München/Wien 1988, S. 95. 30 Markante Arbeiten hierzu wurden vorgelegt von: Donald MacKenzie/Judy Wajcman (Hg.): The Social Shaping of Technology. A Reader. Milton Keynes 1985; Renate Mayntz/Thomas P. Hughes (Hg.): The Development of Large Technical Systems. Frankfurt a. M. 1988; Wiebe E. Bijker/Thomas P. Hughes/Trevor Pinch (Hg.): The Social Construction of Technological Systems. Cambridge 1989; Wiebe E. Bijker/John Law (Hg.): Shaping Technology – Building Society. Studies in Sociotechnical Change. Cambridge (Mass.)/London 1992. Auch der bereits 1960 den Einführungsaufsatz zum ersten Band des Journals „Technology and Culture“ verfassende Kranzberg darf hier nicht fehlen: Melvin Kranzberg (Hg.): Technological Education –

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schaftlichen und sozialen Gegebenheiten in einer Epoche, auch in Verbindung mit wagemutigen Unternehmenspersönlichkeiten, bestimmten mit, in welche Richtung und vor dem Hintergrund welcher Paradigmata nach technischen Lösungen geforscht wurde, welche Trajektlinien neuer technischer Problemlösungen nach welchen Kriterien von wem ausgewählt wurden,31 welche Artefakte daraufhin entstanden und wie sich diese verbreiteten.32 Eine einerseits auf historische Fallbeispiele aufbauende, andererseits aber abstrahierende Technikforschung, heute eher bei der Ökonomie und bei der Soziologie angesiedelt,33 könnte weitere Brücken zwischen den Disziplinen schlagen, mit einer deutlicheren Affinität zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, aber auch zur modernen Ökonomie.34 Denn die Art und Weise der menschlichen Schaffung von Technik unterliegt letztlich wirtschaftlichen Kalkülen, welche von gesellschaftlichen Institutionen und Rahmenbedingungen gesteuert werden. Daneben zeigt die unter diesen Bedingungen geschaffene Technik auch mannigfaltige Auswirkungen, die insbesondere gravierenden Einfluss auf die natürliche Umwelt haben.35 Jedoch werden selbst in neueren, umfangreichen deutsch-

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Technological Style. San Francisco 1986. Der sozialhistorische Bezug zur Technik wird evident bei David F. Noble: Maschinenstürmer oder Die komplizierten Beziehungen der Menschen zu ihren Maschinen. Berlin 1986. Die Diskussion derartiger Fragen der Technikgenese hat auch Relevanz für umwelthistorische Forschungen. Franz-Josef Brüggemeier: Umweltgeschichte – warum, wozu und wie? Überlegungen zum Stellenwert einer neuen Disziplin, in: Historische Umweltforschung. Wissenschaftliche Neuorientierung – Aktuelle Fragestellungen. Bensberger Protokolle 71, Schriftenreihe der Thomas-Morus-Akademie Bensberg. Bensberg 1992, S. 9–26, hier 22. Merrit Roe Smith/Leo Marx (Hg.): Does Technology Drive History. The Dilemma of Technological Determinism. Cambridge (Mass.)/London 1994. Aus der Fülle von derartig ausgerichteten Forschungsarbeiten seien hier genannt: Paul David: Clio and the Economics of QWERTY, in: American Economic Review, Papers and Proceedings 75 (1985) S. 332–337. Zum theoretischen Konzept Giovanni Dosi: Technological Paradigms and Technological Trajectories, in: Research Policy 11 (1982), S. 147–162; ders.: Technical Change and Industrial Transformation. The Theory and an Application to the Semiconductor Industry. Houndsmill/London u. a. 1984; ders.: Sources, Procedures, and Microeconomic Effects of Innovation, in: Journal of Economic Literature XXVI (1988), S. 1120–1171. Ebenfalls bemerkenswert ist der Aufsatz von Devendra Sahal: Technological Guidepost and Innovation Avenues, in: Research Policy 14 (1985), S. 61–82. Ältere historische Fallstudien dazu finden sich beispielsweise bei John Jewkes/David Sawers/Richard Stillerman: The Sources of Invention. 2. Aufl., London u. a. 1969; Edward W. Constant II: The Origins of the Turbojet Revolution. Baltimore/London 1980; Devendra Sahal: Patterns of Technological Innovation. Reading (Mass.) u. a. 1981. Ausführliche Überblicksdarstellungen gaben Karl-Heinz Ludwig: Entwicklung, Stand und Aufgaben der Technikgeschichte, in: AfS 18 (1978), S. 502–523 und Ulrich Troitzsch: Deutschsprachige Veröffentlichungen zur Geschichte der Technik 1978–1985. Ein Literaturbericht, in: AfS 27 (1987), S. 361–438. Als aus damals zeitgenössischer Warte sei beispielsweise verwiesen auf Andreas Troge: Technik und Umwelt. Köln 1985. Auf die Industrie als typischen Nutzer von Technik abgestellt und explizit historisch angelegt ist der Sammelband von Hans Pohl (Hg.): Industrie und Umwelt (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 69). Stuttgart 1993. Die Verkoppelung der Begriffe „Mensch, Natur, Technik“ war auch das Motto der EXPO 2000 in Hannover. In diesem Kontext erschien ein Sammelband mit umwelthistorischen Arbeiten: Carl-Hans Hauptmeyer (Hg.): Mensch – Natur – Technik. Aspekte der Umweltgeschichte in Niedersachsen und

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sprachigen36 technikhistorischen Sammelwerken umweltrelevante Aspekte eher stiefmütterlich behandelt: Im einbändigen, noch zu DDR-Zeiten begonnenen Werk „Geschichte der Technikwissenschaften“ findet sich das Wort „Umweltschäden“ lediglich einmal.37 Die fünfbändige, von Wolfgang König 1992 herausgegebene Propyläen Technikgeschichte hat sich zwar bereits wirtschafts- und sozialhistorischen Methoden und Erklärungsansätzen geöffnet, aber die Frage des Zusammenhangs zwischen Technik und Umwelt wird explizit nur auf sieben von insgesamt etwa 3.000 Seiten behandelt.38 Auch das im Auftrag der Georg-Agricola-Gesellschaft von Armin Hermann und Wilhelm Dettmering Anfang der 1990er Jahre herausgegebene zehnbändige Werk „Technik und Kultur“ weist mit den drei Bänden „Technik und Wirtschaft“, „Technik und Staat“ sowie „Technik und Gesellschaft“ zwar klare Bezüge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf, aber im Band „Technik und Natur“ geht nur etwa die Hälfte des Textes39 auf Probleme der Umweltschädigung durch Technik in historischer Perspektive ein – und wie diese Probleme eventuell durch den Einsatz von Technik lösbar wären.40

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angrenzenden Gebieten. Bielefeld 2000. Umweltgeschichte sollte aber auch dazu dienen, ideologisch motivierte Argumentationslinien in zeitgenössischen Diskussionen über Technikfolgen offen zu legen und durch umwelthistorische Erkenntnisse zur wissenschaftlichen Versachlichung beitragen. Beispiele hierfür sind die oft ideologisch geführten Debatten über das Phänomen des sogenannten Waldsterbens und über die Folgen der Reaktorschmelze in Tschernobyl. Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung. München 1998. Aber auch in den großen englischsprachigen Sammelwerken finden sich keine oder nur sporadische Hinweise auf die Beziehungen zwischen Technik und Umwelt. Als bedeutendste Werke seien hier genannt: Charles Singer/E. J. Holmyard/A. R. Hall/Trevor I. Williams (Hg.): A History of Technology. 7 Vols. Oxford 1954–1978; Ian McNeil (Hg.): An Encyclopaedia of the History of Technology. London/New York 1990. Gisela Buchheim/Rolf Sonnemann (Hg.): Geschichte der Technikwissenschaften. Basel/Boston/Berlin 1990, S. 237. Jedoch erwähnte der ostdeutsche Wirtschaftshistoriker Mottek bereits 1972 in einer Abhandlung umwelthistorische Aspekte der Produktionsbedingungen: Hans Mottek: Zu einigen Grundfragen der Mensch-Umwelt-Problematik, in: Wirtschaftswissenschaften 20 (1972), S. 36–43. Abhandlungen zum Anliegen der historischen Umweltforschung in der ehemaligen DDR und zu umwelthistorischen Forschungen bezüglich der neuen Bundesländer finden sich im Sammelband: Hermann Behrens/Horst Paucke (Hg.): Umweltgeschichte: Wissenschaft und Praxis. Umweltgeschichte und Umweltzukunft II. Marburg 1994. Wolfgang König (Hg.): Propyläen Technikgeschichte. 5 Bände. Berlin 1992. Die sieben Seiten zu „Technik und Umwelt“ finden sich innerhalb einer langen Abhandlung bei Hans-Joachim Braun: Konstruktion, Destruktion und der Ausbau technischer Systeme zwischen 1914 und 1945, in: Wolfgang König (Hg.): Propyläen Technikgeschichte, Band 5: Hans-Joachim Braun/ Walter Kaiser: Energiewirtschaft. Automatisierung. Information seit 1914. Berlin 1992, S. 214– 220. Werner Nachtigall/Charlotte Schönbeck (Hg.): Technik und Natur, Band 6 des zehnbändigen, um einen Registerband erweiterten Gesamtwerks Technik und Kultur. Düsseldorf 1994. Obgleich nicht auf Umweltprobleme bezogen, findet sich ein typischer Hinweis für die bei einigen Technikhistorikern noch fest verankerten Denkmodelle im erstmals 1961 erschienenen und seither mehrmals wieder aufgelegten Buch von Friedrich Klemm: Geschichte der Technik. 4. Aufl., Stuttgart/Leipzig 1999. Auf Seite 24 lautet eine Überschrift prägnant „Die Technik überlistet die Natur“. Ein weiterer Beleg für derartige Denkstrukturen ist der Gliederungspunkt „Technik als Umwelt des Menschen“ in Rainer Stahlschmidt: Quellen und Fragestellungen ei-

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Da die wirtschaftlichen, sozialen und technischen Entwicklungen in ihren historischen Interdependenzen vor dem jeweiligen zeitlichen Hintergrund und der damals vorhandenen verhaltenssteuernden Anreizstrukturen immer auch in die Umwelt eingriffen, könnte eine historische Betrachtung dieses komplexen Beziehungsgeflechts auch aus einer viel mehr wissenschaftliche Erklärungsansätze umfassenden Warte erfolgen. Könnte das eine Disziplin mit dem Namen „Umweltgeschichte“ erforderlich machen? Ersten vorsichtigen Annäherungen einzelner Technikhistoriker an die nicht einfach zu fassenden Phänomene „Natur“ oder „Umwelt“ in den 1970er Jahren41 folgte am 5. und 6. März 1981 eine signalgebende, vom Bereich Technikgeschichte beim Verein Deutscher Ingenieure ausgerichtete Tagung unter dem Rahmenthema „Technik und Umwelt in der Geschichte“.42 Wie sehr diese Thematik nun förmlich „in der Luft lag“, belegt die Tatsache, dass vom 30. März bis 1. April desselben Jahres, also annähernd gleichzeitig, die Tagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zum Rahmenthema „Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung“ stattfand.43 Es ist also festzustellen, dass sich im Laufe von Jahrzehnten die alte, artefaktorientierte Technikgeschichte in eine moderne, stärker kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtlich ausgerichtete Technikgeschichtsforschung weiterentwickelt hatte. Diese Neupositionierung war schließlich die Voraussetzung, dass aus der Riege der Technikhistoriker nun bedeutende Impulse zur Diskussion umweltgeschichtlicher Zusammenhänge kommen konnten.44 Diese Impulse wiederum verstärkten das Interesse der Sozial- und Wirtschaftshistoriker an umwelthistorischen Fragestellungen.

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ner deutschen Technikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts bis 1945 (Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im neunzehnten Jahrhundert 8). Göttingen 1977, S. 104. Hinweise darauf finden sich bei Ulrich Troitzsch: Umweltprobleme im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit aus technikgeschichtlicher Sicht, in: Bernd Herrmann (Hg.): Umwelt in der Geschichte. Göttingen 1989, S. 89–110, hier 89. Die auf der Tagung vorgestellten Themen wurden zum großen Teil abgedruckt in: Technikgeschichte 48 (1981), Heft 3. Programmatisch dazu Ulrich Troitzsch: Historische Umweltforschung: Einleitende Bemerkungen über Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Technikgeschichte 48 (1981), S. 177–190. Die Tagungsergebnisse wurden dokumentiert in Hermann Kellenbenz (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14.–20. Jahrhundert). Berichte der 9. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (30.3.–1.4.1981) (BSWG 20). Wiesbaden 1982. Ein typisches Beispiel für diese Verkoppelung ist der Aufsatz von Joachim Radkau: Umweltprobleme als Schlüssel zur Periodisierung der Technikgeschichte, in: Technikgeschichte 57 (1990), S. 345–361. Radkau fordert hier gleichsam eine Allianz zwischen Technik- und Umweltgeschichte.

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3. Die Herausbildung der Umweltgeschichte als neuer Teildisziplin 3.1. Wurzeln, Grundanliegen und Selbstverständnis der neuen Teildisziplin Immer sichtbarer und bedrohlicher werdende Umweltverschmutzungen, die daraus resultierenden Folgen für das Leben und Prognosen über eine baldige Bevölkerungsexplosion lösten spätestens zu Beginn der 1970er Jahre45 ein starkes politisches, aber auch publizistisches Interesse an der Zukunft der Erde aus.46 Daher verwundert es nicht, dass sich auch breite Bereiche der akademischen Forschung und Lehre, darunter die Geschichtswissenschaften, den neuen Zukunftsfragen stellten. Es war deshalb nur konsequent, dass der amerikanische Historiker Roderick Nash erstmals im Frühjahr 1970 an der University of California in Santa Barbara einen Kurs in „American Environmental History“ ankündigte.47 Seither beschäftigen sich amerikanische Historiker wie Donald Worster48, Joseph M. Petulla49 und Samuel P. Hays50, bald auch englische Historiker mit umweltgeschichtlichen Fragen. Anfänglich entbrannten in der angelsächsischen Literatur hitzige Debatten51 über den Forschungsgegenstand, die Methoden und die „Disziplinarität“52 der „environmental 45 Wie ein Paukenschlag wirkte in der breiten Öffentlichkeit die 1972 erstmals veröffentlichte Studie des Club of Rome: Dennis L. Meadows/Donella H. Meadows/Erich Zahn/Peter Milling: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Deutsche Ausgabe Reinbek 1973. 46 In den Vereinigten Staaten von Amerika wurden während der 1950er und 1960er Jahre erste Arbeiten zu im heutigen Sinne umwelthistorischen Problemkreisen vorgelegt. F.-J. Brüggemeier: Environmental History, in: Neil J. Smelser/Paul B. Baltes (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Vol. 7. Amsterdam u. a. 2001, S. 4621–4627, hier 4622. Im Jahr 1965 kam es nach über 100 Jahren sogar zu einer Neuauflage des Werkes von George P. Marsh: Man and Nature, or Physical Geography as Modified by Human Action. New York/London 1864. Noch vor dieser Neuauflage gewannen die umweltgeographischen und umwelthistorischen Ideen von Marsh Zulauf: W. L. Thomas (Hg.): Man’s Role in Changing the Face of the Earth. Chicago 1956. 47 Carolyn Merchant (Hg.): Major Problems in American Environmental History. Documents and Essays. Lexington (Mass.)/Toronto 1993, S. VII. Zu den amerikanischen Wurzeln und zu amerikanischen Aufsätzen zur Umweltgeschichte aufschlussreich ist der Sammelband von Rolf Peter Sieferle (Hg.): Fortschritte der Naturzerstörung. Frankfurt a. M. 1988. 48 Donald Worster: Nature’s Economy. The Roots of Ecology. San Francisco 1977; ders.: Nature’s Economy: A History of Ecological Ideas. Cambridge (Mass.) 1977. Worster, der der internationalen Ökologiebewegung nahe steht, betont insbesondere deren angloamerikanische Ursprünge. Dagegen steht die Meinung, die Ideenwelt des ganzheitlichen Naturdenkens stamme in großen Teilen aus dem deutschen Kulturbereich. Anna Bramwell: Ecology in the 20th Century. New Haven 1989, Chapter „Ecology: A German Disease?“. 49 Joseph M. Petulla: American Environmental History. 1. Aufl. 1977; 2. Aufl., Columbus (Ohio) 1987. 50 Samuel P. Hays: Explorations in Environmental History. Essays by Samuel P. Hays. Pittsburgh 1998. 51 Vergleiche dazu die Essays von Donald Worster, William Cronon, Alfred W. Crosby und Carolyn Merchant in Chapter 1: What is Environmental History?, in: Merchant (Hg.), Major Problems (wie Anm. 47), S. 1–22. 52 Zur Bandbreite der behandelten Sachthemen und Methoden seien neben den bereits zitierten Arbeiten aus den USA zusätzlich für die Behandlung der Umweltgeschichte in Großbritannien

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history“. Vor diesem Hintergrund ist nun die Herausbildung der Umweltgeschichtsforschung im deutschsprachigen Raum vorzustellen und synoptisch auf ihre Ziele, Methoden und Gegenstände sowie die darüber geführten Debatten einzugehen. Die Verfechter einer neu53 zu etablierenden Teildisziplin „Umweltgeschichte“ bemühten sich bereits frühzeitig, aktuelle Relevanz zu betonen und damit tagespolitische Aufmerksamkeit zu gewinnen. Anders als die etablierten historischen Teildisziplinen verfügte die sich erst langsam definierende Umweltgeschichte über keine gesellschaftlich mächtige, interessengeleitete pressure group im Hintergrund,54 insbesondere weil sich eine wissenschaftlich betriebene Umweltgeschichte gegen tagespolitische ideologische Instrumentalisierungen stemmen sollte. Dennoch darf das Ringen um Anerkennung in tagesaktuellen Diskussionen nicht allein in spezifischen Zirkularen der Profession geführt werden, sondern muss auch in Publikationen mit höherer öffentlicher Aufmerksamkeit und breiteren Leserschichten vorgetragen werden.55 exemplarisch genannt: Andrew Goudie: The Human Impact on the Natural Environment. Oxford 1981; G. Simmons: Changing the Face of the Earth. Culture, Environment, History. Oxford/New York 1989. In der Monographie von Simmons findet sich eine ausführliche kommentierte Bibliographie früher angelsächsischer Literatur. 53 Vereinzelte frühere deutschsprachige Arbeiten zu heute als „umweltgeschichtlich“ zu bezeichnenden Themen sind beispielsweise folgende Aufsätze: Der aus dem Amerikanischen nun in Deutschland präsentierte Artikel von Lynn White jr.: Die historischen Ursachen unserer ökologischen Krise, in: Michael Lohmann (Hg.): Gefährdete Zukunft. Prognosen amerikanischer Wissenschaftler. München 1970, S. 20–29, erstmals veröffentlicht unter dem Titel „The Historical Roots of our Ecologic Crisis“, in: Science 155 (1967), S. 1203–1207; Wolfgang Zorn: Ansätze und Erscheinungsformen des Umweltschutzes aus sozial- und wirtschaftshistorischer Sicht, in: Jürgen Schneider (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege IV, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Hermann Kellenbenz. Stuttgart 1978, S. 707–728. 54 Als Teildisziplin mit historisch bedingter hoher gesellschaftlicher Verankerung innerhalb der mächtigen pressure group der Gewerkschaftsbewegung kann die Arbeitergeschichte angeführt werden. Ein Beispiel für eine jüngere, aber von einer quantitativ und damit auch politisch einflussreichen Interessengruppe getragene historische Forschungsrichtung ist die gender history. Brüggemeier, Umweltgeschichte (wie Anm. 31), S. 12. 55 Ein Beispiel für ein eher professionsinternes Fachzirkular ist die Zeitschrift Environmental History Newsletter samt ihrer Sonderausgaben (Special Issues): Christian Simon (Hg.): Umweltgeschichte heute: Neue Themen und Ansätze der Geschichtswissenschaft – Beiträge für die Umwelt-Wissenschaft, in: Environmental History Newsletter, Special Issue No. 1, 1993. Einige der dort abgedruckten Aufsätze hatten stark programmatischen, für die Beachtung der neuen Teildisziplin werbenden Charakter, zum Beispiel: Christian Pfister: Ressourcen, Energiepreis und Umweltproblem. Was die Geschichtswissenschaft zur politischen Umweltdebatte beitragen könnte, in: Ebd., S. 13–28; Rolf Peter Sieferle: Aufgaben einer künftigen Umweltgeschichte, in: Ebd., S. 29–43; Arne Andersen: Über das Schreiben von Umweltgeschichte, in: Ebd., S. 44–57; Joachim Radkau: Was ist Umweltgeschichte?, in: Ebd., S. 86–107; Jan Hodel/Monica Kalt: Warum ist Umweltgeschichte langweilig?, in: Ebd., S. 108–127. Beispiele für eine Platzierung von Beiträgen über die neue Teildisziplin in Publikationen mit einem höheren Aufmerksamkeitspotential sind: Günter Bayerl: Materialien zur Geschichte der Umweltproblematik, in: Freimut Duve (Hg.): Technologie und Politik 16. Das Magazin zur Wachstumskrise, Juni 1980, S. 180–219; Joachim Radkau: Unausdiskutiertes in der Umweltgeschichte, in: Manfred Hettling/Claudia Huerkamp/Paul Nolte/Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag. München 1991, S. 44–57.

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Neben mannigfaltigen inhaltlichen Erkenntnisfortschritten und deren Publikation setzte während des status nascendi der Umweltgeschichte im deutschsprachigen Raum eine sich über Jahre hinziehende Debatte über die anzustrebende Breite in den Untersuchungsgegenständen und über die paradigmatische Ausrichtung der Forschung ein.56 Dabei schälten sich – wie es teilweise Jahre zuvor auch zwischen amerikanischen Umwelthistorikern der Fall gewesen war57 – die folgenden, zum Teil fundamental antagonistischen Positionen heraus: Ein grundsätzlicher Streitpunkt war, ob die „Umwelt“ oder die „Natur“ den paradigmatischen Kern der Betrachtung darstellen solle. Radkau spitzte diese Frage auf die Alternative eines „anthropozentrischen“ versus eines „nichtanthropozentrischen“ Ansatzes zu, also auf die auch in der aktuellen Umweltpolitik entbrannte Diskussion, ob Umweltschutz für den Menschen da sei oder die Natur ein Eigenrecht, einen Eigenwert habe.58 Beim auf dem Begriff der Umwelt beruhenden anthropozentrischen Ansatz wurde die Gefahr gesehen, dass die Umweltmedien Boden, Wasser und Luft sowie Fragen nach der Erschöpfung von Ressourcen einschließlich der Energie, der Bevölkerungsentwicklung oder damit verbundene Themen wie Gesundheit, Verkehr und die Herausbildung von Ballungsräumen im Mittelpunkt stehen würden.59 Gemäß diesem Ansatz hat die „Umwelt“ allein dem Menschen und seinem (auch materiellen) Wohlergehen zu dienen. Die „Natur“ wäre passiv, ein durch menschliches Handeln auf „Umwelt“ reduziertes kulturelles Konstrukt. Bei einem derartigen Standpunkt gewinnen Fragen nach einer Veränderung im menschlichen Naturverständnis beziehungsweise in kulturellen Unterschieden an Relevanz: Schufen beispielsweise unterschiedliche religiöse Orientierungen spe56 Ausgewogene Darstellungen über die Streitpunkte zwischen den Anhängern unterschiedlicher Standpunkte über die inhaltlichen Zugänge, die Art, die Ziele, die Methodik und damit letztlich über die Breite einer umwelthistorischen Forschungsausrichtung präsentierte mehrfach Reith: Reinhold Reith: Internalisierung der externen Effekte. Konzepte der Umweltgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte, in: Günter Bayerl/Wolfhard Weber (Hg.): Sozialgeschichte der Technik. Ulrich Troitzsch zum 60. Geburtstag (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 7). Münster u. a. 1998, S. 15–24; ders.: Umweltgeschichte aus der Sicht historischer Methodik, in: Günter Bayerl/Norman Fuchsloch/Torsten Meyer (Hg.): Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte 1994. Münster u. a. 1996, S. 13–20. 57 Auch die Anfänge der US-amerikanischen environmental history waren durchaus von einer Verbindung zur Technikgeschichte geprägt. Später bestimmten aber, im Gegensatz zu Europa, oft visionäre Vorstellungen einer in Europa seit Jahrhunderten unbekannten „wilderness“ USamerikanische Arbeiten. Radkau ist ferner der Ansicht, dass die deutsche Umweltgeschichte durchaus Impulse aus der typischen deutschen Umwelt- und Protestbewegung gegen komplexe Hochtechnologien wie der Kernkraft erhielt. Die US-amerikanische environmental history dagegen werde zum Teil vom Gedankengut radikaler Naturschützer, von den Idealen der Feministinnenbewegung und von den Lebensentwürfen der Anhänger eines multikulturellen Zusammenlebens inspiriert; Radkau, Technik- und Umweltgeschichte (wie Anm. 3), S. 479–480. 58 Joachim Radkau: Was ist Umweltgeschichte?, in: Werner Abelshauser (Hg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive. Acht Beiträge (GG, Sonderheft 15). Göttingen 1994, S. 11–28, hier 14. 59 Norman Fuchsloch: Einführung in „Methodenfragen der Umweltgeschichte“, in: Bayerl/Fuchsloch/Meyer (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 56), S. 1–12.

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zielle Umweltprobleme? Gingen ursprüngliche Kulturen auf anderen Kontinenten schonender mit der Umwelt um als europäische, insbesondere christlich fundierte Kulturen?60 Oder prägten andere Wahrnehmungen und Ideologien, etwa eine mechanistisch-naturwissenschaftlich-technische, manche sagen auch, eine „männliche“ Weltauffassung den Umgang mit Natur und Umwelt?61 Fand in den europäischen Kulturen eine Wende in der Mensch-Umwelt-Beziehung statt – und wann wäre diese Wende zeitlich zu verorten? Lag es insbesondere am Prozess der Industrialisierung beziehungsweise an der Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsformen62 – oder gab es bereits lange vorher umweltschädigende menschliche Verhaltensweisen? Umweltgeschichte hätte hier gleichsam den Charakter einer „Überlebenswissenschaft“63, die die von den Menschen ausgehenden Ursachen und historischen Anfänge der zunehmenden Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen aufzudecken und alternative Entwicklungspfade sowie die dazu notwendigen institutionellen Veränderungen aufzuzeigen hätte. Der Mensch und sein Handeln stehen damit einerseits im Mittelpunkt des historischen, also auch des umwelthistorischen Interesses; Umwelt und Natur wären damit ein kulturelles Konstrukt. Andererseits zeigten Umwelt und Natur im Laufe der Zeit immer auch eine eigene, aktive Dynamik: Gleich ob in Form von Naturkatastrophen oder durch natürliche Auslese, kommt es zu von Einwirkungen des Menschen unabhängigen Wandlungen im Klima, in Flora und Fauna. Eine Ausklammerung derartiger, von kulturellen Konstrukten unabhängiger „natürlicher“ Phänomene64 ist aber aus zwei Gründen problematisch: Derartige Phänomene gehören in jedem Fall in eine „Umweltgeschichtsschreibung“, wenn sie sich als umfassende „Naturgeschichte“ versteht. Sie gehören aber auch in eine sich auf den Menschen und sein Handeln zentrierende Umweltgeschichte, da einerseits Natur- und Klimakatastrophen Rückwirkungen auf menschliches Handeln erzeugen. Andererseits, und 60 Der amerikanische Mediävist Lynn White interpretierte Umweltprobleme als Folge christlichen Denkens. Lynn White jr., Historische Ursachen (wie Anm. 53). 61 Franz-Josef Brüggemeier/Thomas Rommelspacher: Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, Kurseinheit 1, Fachbereich Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften, FernUniversität-Gesamthochschule-Hagen, 1991, S. 19–20. 62 Diese Ansicht propagierten im deutschsprachigen Raum insbesondere die Forscher in der ehemaligen DDR. Hans Mottek: Wirtschaftsgeschichte und Umwelt, in: JbWG 1974/II, S. 77–82; G. Horsch/G. Speer: Staatsmonopolistischer Reproduktionsprozeß und Umwelt, in: Wirtschaftswissenschaften 22 (1974), S. 1553–1558. 63 Den Begriff prägte Bodo von Borries: Didaktische Möglichkeiten und Grenzen der Umweltgeschichte, in: Bayerl/Fuchsloch/Meyer (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 56), S. 309–324, hier 317. Hier besteht ein interessanter Bezug zur Teildisziplin der Wirtschaftsgeschichte: Wirtschaftsgeschichte wäre interpretierbar als die Geschichte menschlich-kultureller Anpassungsprozesse an sich in sehr langen Zeiträumen verändernde natürliche Umweltbedingungen. Patrick Karl O’Brien: Environmental Adaptation from the Neolithic to the Scientific and Industrial Revolutions, in: Rainer Gömmel/Markus A. Denzel (Hg.): Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung. Festschrift für Jürgen Schneider zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 159). Stuttgart 2002, S. 243–253. 64 Eine derartige Ausklammerung propagiert zum Beispiel Arne Andersen: Über das Schreiben von Umweltgeschichte, in: Simon (Hg.), Umweltgeschichte heute (wie Anm. 55), S. 44–57, hier 45.

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das erscheint wichtiger, kann erst durch eine Betrachtung der Wirkeffekte „natürlicher“ Aktivitäten der sozusagen kulturelle Wirkeffekt aus originär menschlichem Handeln ermessen und gegebenenfalls bewertet werden. Jedoch besteht hier ein Grunddilemma unserer modernen industriellen Welt: Kann überhaupt noch klar identifiziert werden, was denn eine natürliche Umwelt sei, wie eine von kulturellen Konstrukten verschonte, unbelebte und belebte Natur aussähe, beziehungsweise überhaupt vom Menschen noch wahrgenommen werden könnte?65 Die Diskussion darüber, ob nun die „Umwelt“ oder die „Natur“ im Mittelpunkt der neuen Teildisziplin zu stehen habe, hing, neben der kritischen Bemerkung, ob hier nicht ahistorische Vorstellungen ohne definierbaren Bezugspunkt vorlägen,66 natürlich mit der möglichen inhaltlichen Breite der Forschungen zusammen. Ein daraus abgeleiteter Streitpunkt bestand darin, ab welchem historischen Zeitraum es denn eigentlich erst Sinn mache, sich mit umwelthistorischen Fragen zu beschäftigen. Während beispielsweise ein von Brüggemeier und Rommelspacher 1987 herausgegebener Band das 19. und 20. Jahrhundert als prägend für die Geschichte der Umwelt betont,67 gehen Sieferle, Herrmann und Bayerl68 davon aus, dass umweltgeschichtliche Arbeiten bis in die Zeit des Mittelalters ausgreifen müssten. Ein weiterer strittiger Aspekt in Bezug auf die mögliche Breite der Umweltgeschichte bezog und bezieht sich auf das Selbstverständnis der Forschungsrichtung – oder, wie es überspitzt formuliert wurde, wem denn sozusagen aus fachpolitischen Interessen die Umweltgeschichte gehöre.69 Konsequenterweise besteht hier eine ausgeprägte Heterogenität an Interessen, die oft in der Diskussion um die Ziele, Methoden und Zugänge zu den relevanten Fragen und Quellen hervorschimmern. Vor diesem Hintergrund sind folgende Abgrenzungsebenen möglich: Umwelthistorische Fragestellungen sollten mehr innerhalb der Forschungen einzelner, bereits 65 Brüggemeier/Rommelspacher, Geschichte der Umwelt (wie Anm. 61), S. 15. 66 Reinhold Reith: Internalisierung der externen Effekte. Konzepte der Umweltgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte, in: Bayerl/Weber (Hg.), Sozialgeschichte der Technik (wie Anm. 56), S. 15–24, hier 17. 67 Franz-Josef Brüggemeier/Thomas Rommelspacher (Hg.): Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. München 1987. 68 Sieferle (Hg.), Fortschritte der Naturzerstörung (wie Anm. 47). Dieser Sammelband besteht neben einem abschließenden programmatischen Aufsatz von Sieferle aus Artikeln US-amerikanischer Umwelthistoriker; speziell der in diesem Sammelband enthaltene Aufsatz von Charles R. Bowlus: „Die Umweltkrise im Europa des 14. Jahrhunderts“ (S. 13–30) und der sich anschließende Aufsatz von William H. Te Brake: „Luftverschmutzung und Brennstoffkrisen in London (1250–1650)“ (S. 31–60) behandeln umwelthistorische Fragen vor der Ära der Industrialisierung. Bernd Herrmann (Hg.): Umwelt in der Geschichte. Göttingen 1989, betont als Anthropologe die Notwendigkeit der Bearbeitung von umwelthistorischen Fragen aus der Zeit vor der Industriellen Revolution. Bayerl sieht aus grundsätzlichen Überlegungen eine Notwendigkeit für die Betrachtung langer Zeiträume. Seine Argumentation begründet er zum Beispiel in: Günter Bayerl: Die langfristige Entwicklung als Thema der Umweltgeschichte, in: Werkstatt Geschichte, Heft 3 (1992), S. 10–15; ders.: Zur Erforschung der Luft- und Wasserverschmutzung in vorindustrieller Zeit, in: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 6 (1988), S. 199–203. 69 Bernd Herrmann: Umweltgeschichte als Integration von Natur- und Kulturwissenschaften, in: Bayerl/Fuchsloch/Meyer (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 56), S. 21–30, hier 22.

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bestehender (historischer) Teildisziplinen betrieben werden; damit wäre die Etablierung einer eigenen Teildisziplin, etwa neben der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte unnötig. Weiter geht der Ansatz, Umweltgeschichte müsse sich als eigene, aber historische Teildisziplin verstehen und gleichberechtigt, aber kooperativ gegenüber anderen historischen Teildisziplinen behaupten; dies würde ein eigenständiges und gesichertes theoretisches Forschungskonzept erfordern, welches aber noch nicht hinreichend elaboriert ist. Die dritte, von Historikern durchaus kritisch betrachtete Möglichkeit wäre die Emanzipation einer integrierten, multidisziplinären Umwelt- oder sogar Natur-Geschichte,70 sozusagen eine nun explizit humanökologisch ausgerichtete Weltgeschichte, letztlich also ein vollkommen neues historisches Paradigma. Für diese von vielen Historikern als utopisch anzusehende Erhebung der Umweltgeschichte zu einer umfassenden Spezialdisziplin wäre jedoch eine Vielzahl von Voraussetzungen zu erfüllen: Durch die Festlegung eines eigenen Bereichs an Stoffen und Gegenständen, der Ausarbeitung einer eigenen Methodik und eines ausformulierten erkenntnistheoretischen Überbaus müssten hier Historiker, Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Ökonomen, Juristen sowie je nach Forschungsgegenstand Spezialisten aus zahlreichen Bereichen gleichberechtigt kooperieren. Doch bereits die Diskussionen über den geeigneten methodischen Zugang zu den Gegenständen der Umweltgeschichte lassen die Schwierigkeiten eines derart ambitionierten, alles umfassenden Vorgehens sichtbar werden: Universalgeschichtliche Perspektiven betonende systemtheoretische Ansätze stehen hier neben evolutionären Ansätzen, raum- und zeitbezogene „umwelthygienische Ansätze“ stehen am anderen Ende des Spektrums.71 Trotz der eben grob skizzierten, in vielen Aspekten kontroversen Ansichten über das Betreiben umwelthistorischer Forschungen hat sich im Laufe der Diskussionen folgende Definition des Begriffs Umweltgeschichte herausgeschält: „Environmental History deals with the history of human impacts on nature and their interactions between humans and nature. It asks how nature influences humans, how humans intervene in nature and how nature and humans interact. To be able to understand these processes, it also investigates changes in nature not caused by human action. The terms nature and environment are largely seen as being synonymous.“72

Diese breite Definition von Umweltgeschichte erfordert letztlich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschern aus vielen Fachgebieten der Natur-, Sozialund Kulturwissenschaften, ohne jedoch einen Anspruch der Umweltgeschichte als humanökologisch ausgerichtete histoire totale zu erheben. 70 Als Beispiel für eine funktionierende interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften wird die Siedlungsforschung in Verbindung mit der Archäologie genannt. Auf diesem Gebiet der Erforschung der frühen Umwelt betreiben Geographen, Archäologen, Paläobotaniker, Klimatologen, Mediävisten, Zoologen, Bodenkundler, Geologen und Ökologen historische Umweltforschung über den Wandel von Regionen durch natürliche und menschliche Aktivitäten. Paul Leidinger: Von der historischen Umweltforschung zur Historischen Ökologie. Ein Literaturbericht (Teil I), in: Behrens/Paucke (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 37), S. 11–39, hier 21 mit weiteren Nachweisen. 71 Rolf Peter Sieferle: Aufgaben einer künftigen Umweltgeschichte, in: Simon (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 55), S. 29–43. 72 Brüggemeier, Environmental History (wie Anm. 46), S. 4621.

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3.2. Synoptischer Überblick über ausgewählte umwelthistorische Forschungsschwerpunkte und einschlägige Beiträge in der VSWG Wegen ihrer offenkundigen Folgen wurden die Industrialisierungs- und die damit verbundenen Urbanisierungsphänomene des 19. und 20. Jahrhunderts zu einem Schwerpunkt umwelthistorischer Forschung in Deutschland. Neben der bereits im 19. Jahrhundert wissenschaftlich untersuchten Hygieneproblematik73 für den Menschen in industriellen Ballungszentren gingen viele der neuen umweltgeschichtlichen Arbeiten verstärkt auf die Wirkungen von industriellen Verschmutzungen von Luft, Wasser und Boden ein.74 Diese Beeinträchtigungen der Umwelt wirken oft weniger direkt als mangelnde Hygiene auf die Menschen und sind oft schwerer messbar und daher auch schwerer kausal einzelnen Schadensquellen beziehungsweise Schädigern zuzuordnen. In diesem Kontext bestehen somit Verknüpfungen mit den Naturwissenschaften wie der Chemie und Biologie, aber auch der Medizinund hier besonders der Seuchengeschichte.75 Diese Interaktionen können aber auch im Rahmen einer umwelthistorisch ausgerichteten Stadtgeschichte behandelt werden.76 Zudem sollten konkrete historische Produktionstechnologien auf ihre damalige und eventuell heute noch wirkende Umweltrelevanz hin untersucht werden.77 Neben einer Umweltgeschichte der Verstädterung existieren Untersuchungsgegenstände bezüglich der ländlichen Entwicklung und der Landnutzung: In Verbindung mit den Agrarwissenschaften, der Agrargeschichte und der Geschichte der Chemie beziehungsweise chemischen Industrie sollten Phänomene wie die Überdüngung, die künstliche Schädlingsbekämpfung und die Problematik einer monostrukturierten sowie hochmechanisierten Land- und Viehwirtschaft umwelthisto73 Neuere Arbeiten zum Zusammenhang von Hygiene und „Stadthygiene“ stammen von: Michael Haverkamp: „… herrscht hier seit heute die Cholera.“ Lebensverhältnisse, Krankheit und Tod: Sozialhygienische Probleme der städtischen Daseinsvorsorge im 19. Jahrhundert am Beispiel der Stadt Osnabrück. Osnabrück 1996. Ein früher Beitrag, bemerkenswerterweise in einem Sammelband zur Technikgeschichte, stammt von Günther Bayerl: Historische Wasserversorgung. Bemerkungen zum Verhältnis von Mensch und Technik, in: Troitzsch/Wohlauf (Hg), Technikgeschichte (wie Anm. 10), S. 180–211. 74 Beispielhafte Arbeiten stammen von Franz-Josef Brüggemeier: Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert. Essen 1996; Andersen, Historische Technikfolgenabschätzung (wie Anm. 27); Büschenfeld, Flüsse und Kloaken (wie Anm. 27). 75 Karl-Heinz Leven: Mensch – Umwelt – Seuchen: Wechselwirkungen zwischen Krankheit und Lebensumwelt seit der Antike, in: Kurt W. Alt/Natascha Rauschenberger (Hg.): Ökohistorische Reflexionen. Mensch und Umwelt zwischen Steinzeit und Silicon Valley. Freiburg i. Br. 2001, S. 75–98. In diesem Sammelband finden sich weitere Aufsätze über interdisziplinäre Verbindungen zur Umweltmedizin, Pharmaziegeschichte und zu den Fortschritten in einigen Bereichen der Chemie sowie den daraus resultierenden Folgen. 76 Zu weiteren Aspekten einer Verknüpfung zwischen Umwelt- und Stadtgeschichte siehe Brüggemeier, Environmental History (wie Anm. 46), S. 4621–4622; Günter Bayerl: Materialien zur Geschichte der Umweltproblematik, in: Freimut Duve (Hg.): Technologie und Politik 16. Das Magazin zur Wachstumskrise. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 180–219. 77 In diese Richtung geht beispielsweise die Arbeit von Günter Bayerl: Die Papiermühle. Vorindustrielle Papiermacherei auf dem Gebiet des alten deutschen Reiches – Technologie, Arbeitsverhältnisse, Umwelt. 2 Teile. Frankfurt a. M. u. a. 1987.

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risch intensiver durchleuchtet werden.78 Derartige Forschungen sind ebenfalls eng mit der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte verbunden,79 ferner mit der Geographie, sofern diese als historische Raumwissenschaft die fortschreitenden Veränderungen einer Natur- in eine Kulturlandschaft erforscht.80 Weitere Forschungsschwerpunkte betreffen beispielsweise die umwelthistorische Relevanz von Ressourcen- und Energieerzeugung respektive -nutzung81, aber auch vermeintliche Randgebiete waren schon Gegenstand umwelthistorischer Arbeiten, etwa die Umweltbelastung durch Lärm.82 Ein im deutschsprachigen Raum noch wenig behandelter Bereich unter umwelthistorischen Gesichtspunkten ist die Entwicklung des Bevölkerungswachstums und von Bevölkerungsbewegungen: Jedoch standen Migrationsströme meist in Beziehung mit Landnahme, Urbarmachung von vorher freiem Land, Besiedelung und „Kultivierung“; damit erzeugten Migrationsbewegungen umwelthistorisch relevante Effekte.83 Ein noch unbearbeiteter umwelthistorischer Forschungsgegenstand ist, auch im Kontext von unerwartet heftigen Migrationsbewegungen, die ökologische Wirkung von zumindest anfänglich unkontrolliert ablaufenden „rush-Phänomenen“: Zum Beispiel fanden während diverser „Diamantenfieber“, im Gefolge vieler „goldrushs“ und „oil-rushs“ binnen weniger Jahre durch die ungeregelte Grabung von Tunneln und Kratern, durch die dichte Belagerung von Wasserläufen und durch die spontane Anlage von Fördertürmen massive Umgestaltungen einer vorher meist unberührten Natur statt. In Verbindung mit einer Ausplünderung der nächstgelegenen Wälder stampften Tausende von gierigen Diggern provisorische Städte ohne Infrastruktur aus dem Boden, um die plötzlich auf oft engstem Raum vorgefundenen Rohstoffvorkommen ausbeuten zu können.84 In der VSWG wurden umweltgeschichtliche Themen bisher eher selten behandelt, was auch durch die noch unklare Abgrenzung der Umweltgeschichte bedingt ist. Werden Aufsätze zur Agrargeschichte als relevant für die Umweltgeschichte erachtet, dann finden sich in der VSWG bereits früh derartige Aufsätze, die sich aber oft mit der Agrarverfassung oder anderen institutionellen und rechtlichen 78 Brüggemeier, Environmental History (wie Anm. 46), S. 4622–4623. 79 Nur schwache Ansätze dazu finden sich bei Günther Franz (Hg.): Die Geschichte der Landtechnik im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1969; Klaus Herrmann: Die Veränderung landwirtschaftlicher Arbeit durch Einführung neuer Technologien im 20. Jahrhundert, in: AfS 28 (1988), S. 203–237. 80 Klaus Fehn: Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung in Mitteleuropa aus historischgeographischer Sicht, in: Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 43), S. 277– 292, hier 277. 81 Christian Pfister: Ressourcen, Energiepreis und Umweltbelastung. Was die Geschichtswissenschaft zur umweltpolitischen Debatte beitragen könnte, in: Simon (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 55), S. 13–28. 82 Klaus Saul: „Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat so viel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht …“ – Lärmquellen, Lärmbekämpfung und Antilärmbewegung im Deutschen Kaiserreich, in: Bayerl/Fuchsloch/Meyer (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 56), S. 187–217. 83 Derartige Themen fanden in den USA wegen der dortigen Besiedlungsgeschichte natürlich breites Interesse: Merchant (Hg.), Major Problems (wie Anm. 47). 84 Themen aus diesem Bereich werden seit einiger Zeit am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Regensburg bearbeitet.

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Aspekten beschäftigten.85 Näher steht der Umweltgeschichte die Forstgeschichte,86 zu der die VSWG einzelne Beiträge abdruckte.87 Neben Aufsätzen mit umwelthistorischen Bezügen88 finden sich aber bereits früh und auch im spezifischen umwelthistorischen Schrifttum mehrfach zitierte einschlägige Aufsätze in der VSWG: Relativ früh, 1978, erschien der explizit umwelthistorische Beitrag „Die Flußverunreinigungsfrage im 19. Jahrhundert“,89 ein Jahr später wurden „Energieprobleme im Mittelalter: Zur Verknappung von Wasserkraft und Holz in Westeuropa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts“90 diskutiert. Im Jahr 1986 erschien ein später oft zitierter Beitrag zum Thema „Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: revisionistische Betrachtungen über die Holznot“91. Die nächste umweltgeschichtliche Abhandlung „Man and the Forest in Northern Europe from the Middle Ages to the 19th Century“92 erschien 1996, und im Jahr darauf folgte eine Miszelle mit dem Titel „Wird die Natur gewalttätiger? Die Bilanz der letzten 100 Jahre“93. Im Vergleich zur Berücksichtigung technikhistorischer Arbeiten zeigte die VSWG damit im Bereich der Umweltgeschichte bisher ein auch zeitlich dichteres Engagement. Da sich die Umweltgeschichte nun zu etablieren scheint und zudem 85 Aufschluss darüber gibt im vorliegenden Band der Aufsatz von Werner Rösener. 86 In der Agrar- und Forstgeschichte sieht Radkau eine bereits lange mit historischen Methoden untersuchte Mensch-Umwelt-Beziehung. Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 12. 87 Beispielsweise Glöckner: Bedeutung und Entstehung des Forstbegriffs, in: VSWG 17 (1924), S. 1–31; Arnold H. Price: The Germanic Forest Taboo and Economic Growth, in: VSWG 52 (1965), S. 368–378; Heinrich Rubner: Forstgeschichte 1973–1980, in: VSWG 68 (1980), S. 232–244; zuletzt ders.: Neue Literatur zur europäischen Forstgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Mitteleuropas (1990–2000), in: VSWG 89 (2002), S. 307–319. 88 Beispielsweise äußern sich zur Besiedelung der Alpentäler Hermann Wopfner: Beiträge zur Geschichte der alpinen Schwaighöfe, in: VSWG 24 (1931), S. 36–70 und O. Stolz: Beiträge zur Geschichte der alpinen Schwaighöfe, in: VSWG 25 (1932), S. 141–157; Brandrechte werden erwähnt bei Karl Haff: Zum älteren norwegischen und deutschen Alprechte, in: VSWG 26 (1933), S. 146–154; Waldausbeutung und Holzkohlemangel ist ein Aspekt bei Ferdinand Tremel: Ein steirischer Kupfer- und Edelmetallbergbau, in: VSWG 32 (1939), S. 228–244. Auf Landschaftsveränderungen geht ein Hans Mortensen: Die mittelalterliche deutsche Kulturlandschaft und ihr Verhältnis zur Gegenwart, in: VSWG 45 (1958), S. 17–36. Auf den Seiten 76–87 desselben Bandes wird in einem Sammelbericht Schrifttum zu Problemen der Wasserversorgung und der öffentlichen Gesundheit referiert von W. H. Chaloner: Writings on British Urban History 1934–1957. Landverödungen werden angesprochen bei Heinrich Rubner: Die Landwirtschaft der Münchner Ebene und ihre Notlage im 14. Jahrhundert, in: VSWG 51 (1964), S. 433–453. Von der Zusammensetzung der Energieerzeugung berichten Hugo Ott/Rudi Allgeier/Philipp Fehrenbach/Thomas Herzig: Historische Energiestatistik am Beispiel der öffentlichen Elektrizitätsversorgung Deutschlands. Eine Zwischenbilanz, in: VSWG 68 (1981), S. 325–348. In der Arbeit von Reif schließlich wird auch auf Probleme der Wasserversorgung und auf Bergschäden eingegangen, Heinz Reif: Städtebildung im Ruhrgebiet – Die Emscherstadt Oberhausen 1850–1914, in: VSWG 69 (1982), S. 457–487. 89 John von Simson in: VSWG 65 (1978), S. 370–390. 90 Dietrich Lohrmann in: VSWG 66 (1979), S. 297–316. 91 Joachim Radkau in: VSWG 73 (1986), S. 1–37. 92 Jorma Ahvenainen in: VSWG 83 (1996), S. 1–24. 93 Josef Nussbaumer/Helmut Winkler in: VSWG 84 (1997), S. 544–562.

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enge Anknüpfungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte94 bestehen, wäre ein noch stärkeres Engagement der VSWG hier künftig wünschenswert. Auch einzelne Beihefte zur VSWG widmeten sich Themen, die unter dem Ansatz einer Umweltgeschichte subsumiert werden können: Zu nennen sind die Arbeiten von Siegfried Epperlein und Elisabeth Weinberger95 sowie als VSWG-Beihefte erschienene Sammelbände96. Obgleich die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) bereits früh die historische Dimension des damals in politischen Diskussionen virulent gewordenen Zusammenhangs zwischen Wirtschaft und Umwelt erkannte und bei der bereits erwähnten 9. Arbeitstagung 1981 in Freiburg diese Thematik vertiefte, erschien der dann 1982 veröffentlichte Tagungsband aber nicht in der Reihe der VSWG-Beihefte.97 3.3. Zum Prozess der Institutionalisierung der Umweltgeschichte Neben dem professionsinternen Wissens- und Meinungsaustausch ist für die Außendarstellung einer Wissenschaft die Existenz von spezifischen Medien unabdingbar. Wie am Beispiel der Behandlung der neuen Technikgeschichte in der VSWG gezeigt wurde, fanden und finden in wohletablierten und renommierten Zeitschriften für ein bereits weitgehend fest definiertes Fachgebiet Artikel zu einer neuartigen, auf eine Emanzipation als eigene Teildisziplin strebenden Forschungsrichtung eher geringe Resonanz.98 Derartige Artikel werden zudem eher akzeptiert, wenn sie mit der fachlichen Ausrichtung der jeweiligen Zeitschrift noch weitgehend kompatibel sind. Daher verwundert es nicht, dass in der Phase der frühen Herausbildung der Umweltgeschichte insbesondere die Aufsätze zu den grundlegenden Forschungszielen und -methoden breit über viele Sammelbände und unterschiedliche Zeitschriften gestreut sind. Dies ist durchaus positiv zu bewerten, weil dadurch viele, hetero94 Zu den Verbindungen zwischen Sozial- und Umweltgeschichte siehe Engelbert Schramm: Historische Umweltforschung und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: AfS 37 (1987), S. 439–455. 95 Siegfried Epperlein: Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter. 2. Hälfte 11. Jahrhundert bis ausgehendes 14. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 109). Stuttgart 1993; Elisabeth Weinberger: Waldnutzung und Waldgewerbe in Altbayern im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 157). Stuttgart 2001. 96 Albrecht Jockenhövel (Hg.): Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt (VSWG, Beiheft 121). Stuttgart 1996; Dieter Schott (Hg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen ‚Holznot‘ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre (VSWG, Beiheft 135). Stuttgart 1997. 97 Die Publikation erfolgte in der Reihe BSWG. Kellenbenz (Hg.), Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 43). 98 Dies ist selbstverständlich nicht als Vorwurf an die VSWG zu verstehen, sondern liegt in der Natur der Wahrnehmung einer neuen Entwicklung in der Forschung. Auch andere einschlägige Fachzeitschriften wie beispielsweise das „Archiv für Sozialgeschichte“ oder die „Technikgeschichte“ können und sollen nicht gleichsam über Nacht ihre traditionellen Schwerpunkte ändern.

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gene Adressaten erreicht werden, auch um damit ein breites Forum aus möglichst vielen Disziplinen zu kritischen Diskussionsbeiträgen und zur Behandlung grundlegender Fragen der neuen Forschungsrichtung anzuregen. Ebenfalls große Außenwirkungen im Sinne von Werbung für eine sich herausbildende Teildisziplin erzeugen Fachtagungen „naher“ und etablierter Fachgebiete, die sich auf einem „ihrer“ Kongresse ganz oder ausschließlich mit der neuen Forschungsrichtung beschäftigen und dort deren Vertretern Raum zur Präsentation der neuen Ansätze geben. Für die Umweltgeschichte in Deutschland war dies, neben kleineren regionalen Tagungen mit mehr oder weniger umwelthistorischen Schwerpunkten, bekanntlich insbesondere im Jahr 1981 der Fall, als sich sowohl der Verein deutscher Ingenieure auf seiner technikhistorischen Jahrestagung mit „Technik und Umwelt in der Geschichte“ befasste als auch die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf ihrer Jahrestagung über Probleme der „Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14. bis 20. Jahrhundert)“ diskutierte.99 Dennoch ist es ab einem gewissen Stadium der Diskussion über grundsätzliche Fragen zu Zielen, Methoden und Ansatzpunkten notwendig, neben zunehmender Verankerung in der akademischen Lehre sich als neu herausbildendes Fachgebiet auch „eigene“ Medien zu schaffen. Die Initialzündung für die Institutionalisierung der Umweltgeschichte als neue Teildisziplin war die Gründung der „American Society for Environmental History“ (ASEH) im Jahr 1976. Die ASEH publizierte die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift „Environmental History Review“, die 1997 in „Environmental History“ umbenannt wurde. Sie publiziert vorzugsweise Artikel mit dem Fokus auf US-amerikanischen Themen.100 Dieser weltweit ersten Institutionalisierung der Umweltgeschichte folgte bald das englische Journal „Environment and History“; die Artikel in dieser Zeitschrift behandeln mehr globale Themen sowie solche, die auf die umwelthistorischen Entwicklungen außerhalb der westlichen Industriestaaten eingehen.101 Eine Institutionalisierung außerhalb des angelsächsischen Raums erfolgte jedoch erst 1986 im Rahmen einer Session zur „Ecological History“ beim „Nineth International Economic History Congress“ im schweizerischen Bern. Schnell folgten fachspezifische Symposien und international besetzte Workshops, an denen sich bereits früh sowohl Forscher aus West- als auch aus Osteuropa beteiligten. Im Zuge des ersten internationalen Workshops zur (kontinental orientierten) „European Environmental History“ zu Beginn des Jahres 1988 in Bad Homburg konstituierte sich unter der Bezeichnung „European Association for Environmental History“ eine quasi99 Über weitere Tagungen aus der Frühzeit der Formierung der Umweltgeschichte und deren publizistische Umsetzung informieren Günter Bayerl/Ulrich Troitzsch: Umweltgeschichte in Deutschland. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der Antike bis heute (Quellensammlung zur Kulturgeschichte 23). Göttingen/Zürich 1998, S. 12–21. 100 O. V.: USA. American Society for Environmental History, in: Environmental History Newsletter, No. 1 (1989), S. 26. Details zur frühen Entwicklungsgeschichte der Disziplin in den USA finden sich bei Richard White: American Environmental History: The Development of a New Historical Field, in: Pacific Historical Review, Vol. 54/3 (1985), S. 297–335. 101 Brüggemeier, Environmental History (wie Anm. 46), S. 4622.

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institutionelle Gruppierung um den Berner Agrar- und Klimahistoriker Christian Pfister.102 Als Sprachrohr dieser Assoziation von meist im deutschsprachigen Raum tätigen Umwelthistorikern diente der seit 1989 herausgegebene „Environmental History Newsletter“, dessen regelmäßige Publikation durch die Veröffentlichung von „Special Issue“-Bänden begleitet wurde. Jedoch zeigte sich nach dem anfänglichen Elan eine Stagnation bei der weiteren institutionellen Verankerung der Umweltgeschichte in Kontinentaleuropa. Ausdruck dafür war die Aussetzung der Publikation des „Newsletter“ 1993, also nach dem 5. Jahrgang seines Erscheinens.103 Trotz dieses Rückschlags fand zu Beginn der 1990er Jahre die Etablierung der Umweltgeschichte als neuer Teildisziplin auf dem Wege regionaler Aktivitäten in der Form akademischer Arbeitskreise statt. Derartige Arbeitskreise, die auch kleinere Spezialtagungen, summer schools und Projekte zur Umweltgeschichte veranstalteten, entstanden an den Universitäten von Hamburg, Berlin, Göttingen, Halle-Wittenberg und Cottbus. Die dort erarbeiteten Forschungsergebnisse erschienen oft in Sammelbänden, aber auch in sich an ein relativ enges Publikum wendende Fachzeitschriften, beispielsweise im Periodikum „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“, der Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands. Mit der Eröffnung der von Günter Bayerl herausgegebenen Buchreihe „Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt“ etablierte sich 1996 ein neues Publikationsforum. Vergleichbar mit der ASEH, aber deutlich später, gelang die Gründung einer „European Society for Environmental History“ (ESEH), nun auch mit Einbindung der bereits länger existierenden britischen Vereinigungen, erst im Jahr 1999, beziehungsweise im März 2000.104 Im September 2001 fand in St. Andrews in Schottland die erste große europäische Konferenz zur Umweltgeschichte statt; gelegentlich wird diese Konferenz als der eigentliche Gründungsakt der ESEH angesehen.105 Mittlerweile wurde die zweite internationale Konferenz der ESEH unter dem Generalthema „Dealing with Diversity“ ausgeschrieben. Diese Tagung fand vom 3. bis 7. September 2003 an der Karls-Universität Prag statt.106 Im Zuge der Ausbreitung des Internet kam es zwischenzeitlich auch zu einer weitgehenden Verlinkung weltweiter umwelthistorischer Informationen und Institutionen; dadurch können nun beispielsweise Ankündigungen von Kongressen und kleineren Tagungen auf nationaler Ebene ebenso ohne Probleme recherchiert werden wie umfangreiche Bibliogra102 Christian Pfister: Editor’s Introduction, in: Environmental History Newsletter, No. 1 (1989), S. 1–3. 103 Bayerl/Troitzsch, Umweltgeschichte (wie Anm. 99), S. 19. 104 Die Angaben über die Gründung der ESEH sind uneinheitlich, offenbar handelte es sich bei der Gründung um einen sich über viele Monate hinziehenden Prozess. European Society for Environmental History Home Page, http://www.eseh.org/home.html; andere Angaben bei: Regional and Environmental History, Bern University, Switzerland, http://www.cx.unibe.ch/hist/fru/fruind.htm, Abruf vom 24. Februar 2003. 105 Welcome address acting president: http://www.eseh.org/conference_2001/pfister.htm und Programme first ESEH Conference: http://www.eseh.org/conference_2001/programme.htm. 106 Second Conference ESEH - Prague 2003: http://www.eseh.org/prague_2003.html, Abruf vom 24. Februar 2003.

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phien über umwelthistorische Literatur einschließlich der der Umweltgeschichte nahestehenden Teildisziplinen wie der Forstgeschichte.107 3.4. Anregungen für weitere umweltgeschichtliche Forschungsfelder Umweltgeschichtliche Forschungsgegenstände sind innerhalb des jeweiligen historischen Kontextes von Gesellschaft und Kultur zu sehen. Einer dieser Kontexte ist natürlich auch der jeweils vorherrschende Wissensstand in der Volkswirtschaftslehre108 und die Frage, wie zur betrachteten Zeit dort Natur und Umwelt erfasst und bewertet wurden. Dabei unterlagen die wirtschaftlichen Lehrmeinungen bezüglich des Umgangs des Menschen mit der Natur im Laufe der Zeit markanten Veränderungen. Fast alle Merkantilisten sahen die Natur, wenn überhaupt, im Sinne von Boden allenfalls als billig auszuplünderndes Ressourcenlager an.109 Die Lehre der Physiokraten dagegen betonte, dass das Wirtschaften einer natürlichen Ordnung folgen müsse und der landwirtschaftlich genutzte Boden die einzige Quelle des Wohlstandes sei. Der Mensch dürfe sich zwar an der natürlichen Fruchtbarkeit der Natur im Sinne eines Geschenks bedienen, müsse aber die Erhaltung des Potentials der natürlichen Produktivkräfte, also eine physische Reproduktion der Natur, als Nebenbedingung des menschlichen Wirtschaftens hinnehmen. Die Physiokraten führten daneben auch das Denken in Kreisläufen und Gleichgewichten ein, allerdings begrenzt auf die ökonomische Sphäre.110 Mit dem Siegeszug der ökonomischen Klassik, insbesondere der neoklassischen Betrachtungsweise, verlor die Natur oder deren Erhaltung bei den Ökonomen vorerst jeglichen Eigenwert. Natur war im Sinne einer frei nutzbaren Umwelt nur mehr eine kostenlose Ressource, ein kostenlos nutzbarer Produktionsfaktor. Natur und Umwelt dienten als ein effizient einzusetzendes Mittel dem alleinigen Zweck der menschlichen Bedürfnisbefriedigung mit (materiellen) Gütern.111 Natur und Umwelt wurden nur dann als ökonomisch 107 Als Anlaufstationen für weitere Informationen seien, neben den bereits erwähnten Nachweisen und ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, folgende Internetseiten genannt: Environmental History on the Internet: http://www.erica.demon.co.uk/EH/EHsite.html; Environmental History Journals TOC: http://www2.h-net.msu.edu/~environ/EHTOC.html; ESEH bibliography: http://www.eseh.org/bibliography.html. 108 Auf die grundsätzliche Idee einer Anknüpfung der Umweltgeschichte auch an die Umweltökonomie weist Reith hin. Reinhold Reith: Internalisierung der externen Effekte. Konzepte der Umweltgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte, in: Bayerl/Weber (Hg.), Sozialgeschichte der Technik (wie Anm. 56), S. 15–24. 109 Rainer Gömmel/Rainer Klump: Merkantilisten und Physiokraten in Frankreich. Darmstadt 1994, S. 86. 110 Hans Immler: Natur in der ökonomischen Theorie, Teil 1: Vorklassik – Klassik – Marx und Teil 2: Physiokratie – Herrschaft der Natur. Opladen 1985. Das Denken in ökologischen Kreisläufen und Gleichgewichten erhielt insbesondere 1974 einen bedeutenden Schub durch die Arbeit von Dennis L. Meadows/Donella H. Meadows: Das globale Gleichgewicht. Modellstudien zur Wachstumskrise. Deutsche Ausgabe Reinbek 1976. 111 Ulrich Hampicke: Ökologische Ökonomie. Individuum und Natur in der Neoklassik. Natur in der ökonomischen Theorie: Teil 4. Opladen 1992, insbesondere S. 55–61. Mit der physiokratischen Wirtschaftslehre beschäftigten sich auch einzelne Aufsätze in der VSWG, so Ottomar

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relevant angesehen, wenn dadurch möglicherweise – und selbst durch naturwissenschaftlich-technische Fortschritte unabänderlich – eine weitere Expansion des homo oeconomicus hätte limitiert werden können.112 Bemerkenswert ist das Aufgreifen der Umwelt, hier verstanden als natürliche Ressourcen, aber durch führende Vertreter der Jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie wie Gustav Schmoller und Werner Sombart.113 Als sich aber die neoklassische Analyse als mainstream der Volkswirtschaftslehre durchgesetzt hatte, wurde die Betrachtung von Umwelt und Natur als „Eigenwert“ letztlich über Jahrzehnte ausgeblendet. Erst mit der Entdeckung der sogenannten externen Effekte – meist waren dies Umweltverschmutzungen – in Verbindung mit der Diagnose des Versagens von Marktmechanismen, geriet Umwelt als knapper werdendes Medium zur Aufnahme von Schadstoffen wieder in den Interessenkreis der theoretischen Ökonomie. Nun wurde nach institutionellen Arrangements und Anreizen gesucht, mit denen die Allokationsfunktion versagender Märkte wieder hergestellt werden kann. Umwelt wurde nun als knappes, aber ohne Marktpreis versehenes Gut wahrgenommen; die natürlichen Ressourcen erkannte man entweder als erschöpfbar oder als sich regenerativ erneuernd. Die meisten Ökonomen sahen ihre Aufgabe nun darin, Möglichkeiten zur Internalisierung externer Effekte in den Marktprozess und zum intergenerativ optimalen Abbau der Ressourcen im Zeitablauf zu erarbeiten. Trotz dieser Dominanz der Marktlogik sollte eine stärkere Verbindung der Umweltgeschichte mit der modernen Umwelt- und Ressourcenökonomik mit deren normativen Analysen menschlicher Entscheidungen bezüglich einer „effizienten“ Nutzung der Natur hergestellt werden.114 Doch selbst wenn Umwelt als knappe Ressource optimal alloziiert werden kann, gewann in den letzten Jahrzehnten unter vielen theoretisch interessierten Ökonomen und bei Wirtschaftshistorikern115 die Einsicht an Bedeutung, dass der über Jahrhunderte praktizierte freie Raubbau an Natur und Umwelt an seine Grenzen stößt. Weniger neoklassisch orientierte Ökonomen bemühen sich daher seit einiger Zeit um ein mehr

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Thiele in: VSWG 4 (1906), S. 515–562, 633–652 sowie in einzelnen Aspekten Hans-Eberhard Heyke in: VSWG 56 (1969), S. 145–161. Hier kann an die von Malthus prophezeite Ernährungsproblematik eines raschen Bevölkerungswachstums gedacht werden. Robert Th. Malthus: Essay on the Principle of Population, 1798. Zur Bedeutung der Ansichten des klassischen Ökonomen Malthus für die Umweltgeschichte Rolf Peter Sieferle: Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts. Frankfurt a. M. 1989, S. 35–41. Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1. Band. Leipzig 1900, S. 126–138; Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 2 Bände. Leipzig 1902. Eine frühe Einbindung von Ökonomen, neben Historikern, Biologen und Juristen, in die Interdisziplinarität von Natur und Geschichte erfolgte beispielsweise in Hubert Markl (Hg.): Natur und Geschichte. München/Wien 1983. In diesem Sammelband kam der Ökonom Holger Bonus mit einem umweltökonomischen Aufsatz zu Wort. Holger Bonus: Ökologische Marktwirtschaft, in: Ebd., S. 289–327. Als Beispiel wird verwiesen auf Hansjörg Siegenthaler (Hg.): Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsgeschichte (Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF 192). Berlin 1990.

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naturverträgliches Verständnis des Wirtschaftens.116 Trotz eines ökonomischen Denkstils stehen dort Begriffe wie „qualitatives Wachstum“ und „nachhaltige Entwicklung“117, zu verstehen als dauerhaft umweltgerechte Entwicklung („sustainable development“), im Mittelpunkt.118 Aufgrund des den genannten Begriffen innewohnenden Zeitbezugs sind einzelne empirische Studien dadurch im Kern letztlich immer umwelthistorisch angelegt, jedoch mit expliziter Verwendung ökonomischer Methoden, Theorien und Ziele.119 Umgekehrt stellen originär umweltgeschichtliche Erkenntnisse zentrale Inputfaktoren für wirtschaftswissenschaftliche Studien dar. Ein Beispiel hierfür ist die Konfrontation umwelthistorischer Erkenntnisse mit Hypothesen über die wirtschaftliche Entwicklung unter verschiedenen Wirtschaftsordnungsmodellen. Insbesondere eine historisch-quantitative Aufarbeitung der Umwelt- und Naturschädigungen in früher planwirtschaftlich ausgerichteten Staaten könnte aufschlussreiche Ergebnisse über die mangelhafte Effizienz zentraler Wirtschaftslenkung erzeugen. Einen gewissen Mangel weisen die meisten bisherigen umwelthistorischen Analysen dahingehend auf, dass sie explizit oder implizit auf die Produktion von Gütern und den damit verbundenen Umweltverbrauch eingehen. Letztlich steht hier 116 Holger Rogall: Neue Umweltökonomie – Ökologische Ökonomie. Ökonomische und ethische Grundlagen der Nachhaltigkeit. Instrumente zu ihrer Durchsetzung. Opladen 2002. 117 Der Begriff „nachhaltig“ im Sinne von „continuierliche Nutzung des Holtzes“ soll erstmals von Carlowitz im Jahr 1713 in einer forstwirtschaftlichen Abhandlung erwähnt worden sein. Uwe E. Schmidt: Der Wald im 18. und 19. Jahrhundert. Das Problem der Ressourcenknappheit dargestellt am Beispiel der Waldressourcenknappheit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert – eine historisch-politische Analyse. Saarbrücken 2002. Dieses Faktum zeigt die für die Umweltgeschichte bedeutende Verbindung zur Forstgeschichte ebenso wie die Brücke zu einer Ökonomie der Nachhaltigkeit. Dabei findet es Radkau merkwürdig, dass der Ansatz der Nachhaltigkeit vom amerikanischen Umwelthistoriker Donald Worster sehr skeptisch beurteilt wird. Joachim Radkau, Natur und Macht (wie Anm. 86), S. 341, Fußnote 4 und Donald Worster: Auf schwankendem Boden. Zum Begriffswirrwarr um „nachhaltige Entwicklung“, in: W. Sachs (Hg.): Der Planet als Patient. Über die Widersprüche globaler Umweltpolitik. Basel u. a. 1994, S. 93–112. Zur grundsätzlichen Bedeutung des Konzepts der „Nachhaltigkeit“ für umweltgeschichtliche Forschungen Franz-Josef Brüggemeier: Umweltgeschichte, in: Alt/Rauschenberger (Hg.), Ökohistorische Reflexionen (wie Anm. 75), S. 197–214. 118 Helge Majer (Hg.): Qualitatives Wachstum. Einführung in Konzeptionen der Lebensqualität. Frankfurt/New York 1984, Abschnitt D; Helge Majer: Nachhaltige Entwicklung. Vom globalen Konzept zur regionalen Werkstatt, in: WSI Mitteilungen Nr. 4/1995, S. 220–230. Zudem existiert über den Begriff der Nachhaltigkeit eine weitere Verbindung zur modernen Ausprägung der Technikgeschichte, wenn historische Technik oder Technologien auf die langfristige Verträglichkeit ihrer Folgen bezüglich einer nachhaltigen Entwicklung untersucht werden. Daraus wiederum können für die zukünftige Technikentwicklung Lehren gezogen werden. H.-P. Böhm/H. Gebauer/B. Irrgang (Hg.): Nachhaltigkeit als Leitbild für Technikgestaltung. Dettelbach 1996. 119 Beispielsweise der Tagungsband Entwicklung und Umwelt (Schriften des Vereins für Socialpolitik 215), hg. von Hermann Sautter. Berlin 1992. Neueste Beispiele dafür sind die Arbeiten von: Nico Heerink/Herman van Keulen/Marijke Kuiper (Hg.): Economic Policy and Sustainable Land Use. Recent Advances in Qualitative Analysis for Developing Countries. Heidelberg/ New York 2001; Frank Jöst: Bevölkerungswachstum und Umweltnutzung. Eine ökonomische Analyse. Heidelberg 2002.

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aber immer die Befriedigung von materiellen Bedürfnissen dahinter, also der Aspekt des (individuellen) Konsums. Konsum ist sowohl ein Gegenstand der Ökonomie als auch der Soziologie sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Damit könnte ein vielversprechender weiterer Zugang zur Umweltgeschichte geöffnet werden: War oder ist der Mensch als souverän-rationaler oder als „verführter“ Konsument anzusehen – und wer „verführt“ gegebenenfalls mit welchen Zielen und Mitteln? Wie wirkt der Mensch dabei als Konsument auf die Umwelt und Natur ein? Beeinflussten historische Veränderungen im Konsumverhalten und die daraus resultierenden Potentiale zur Einwirkung auf die Produktionssphäre und -techniken die Umwelt in eine bestimmte Richtung? Wiederum über den Kontext einer „nachhaltigen Entwicklung“ durch eine (Um-)Orientierung der Menschen weg von naturschädlichen Lebensweisen und am materiellen Konsum festgemachten Lebensführungen hin zu nachhaltigen Lebensstilen120 könnten so fruchtbare Erkenntnisse aus der Verbindung zwischen der Umweltgeschichte und der Konsumgeschichte abgeleitet werden.121 Wenn sich umwelthistorische Analysen mit Schäden verursachenden Entwicklungen beschäftigen, dann bestehen unmittelbare Berührungspunkte zur Rechtswissenschaft und -geschichte, speziell zum Eigentums-, Schadenverursachungs- und Schadenersatzrecht sowie zur historischen Entwicklung der allgemeinen Schutzrechte der Menschen.122 120 Dieter Rink (Hg.): Lebensstile und Nachhaltigkeit. Konzepte, Befunde und Potentiale. Opladen 2002. Die Idee der nachhaltigen Entwicklung wurde mittlerweile auch von unternehmerischer Seite und von der Betriebswirtschaftslehre rezipiert. Rolf Kramer: Das Unternehmen zwischen Globalisierung und Nachhaltigkeit. Sozialethische Überlegungen. Berlin 2002. Inwiefern bereits früher Unternehmen nachhaltig wirtschafteten, wäre von der modernen Unternehmensgeschichtsschreibung zu erörtern, womit auch von dieser Seite her Beziehungen zur Umweltgeschichte hergestellt werden könnten. 121 Bisher dazu Christian Pfister: Das 1950er-Syndrom. Die umweltgeschichtliche Epochenschwelle zwischen Industriegesellschaft und Konsumgesellschaft, in: Environmental History Newsletter, Special Issue 2 (1995), S. 28–71. Obgleich dort nur am Rande auf Umweltaspekte eingegangen wird, sei hier weiter verwiesen auf Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft (VSWG, Beiheft 154). Stuttgart 2000. Über die verschwenderischen Aspekte von Luxus und Konsum berichtet, auch mit Bezügen zu umwelthistorischen Fragestellungen, der Sammelband von Reinhold Reith/Torsten Meyer (Hg.): Luxus und Konsum – eine historische Annäherung (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 21). Münster u. a. 2003. Das Konzept des nachhaltigen Konsums kann hier als neues analytisches Bindeglied zwischen Natur, Kultur, Mensch, Technik und Wirtschaft interpretiert werden. Gerhard Scherhorn/Christoph Weber (Hg.): Nachhaltiger Konsum. Auf dem Weg zur gesellschaftlichen Verankerung. München 2002. 122 Michael Kloepfer (Hg.): Schübe des Umweltbewußtseins und der Umweltrechtsentwicklung. Bonn 1995; Franz-Josef Brüggemeier: Eine Kränkung des Rechtsgefühls? Soziale Frage, Umweltprobleme und Verursacherprinzip im 19. Jahrhundert, in: Abelshauser (Hg.), Umweltgeschichte (wie Anm. 58), S. 106–142. Eine ausführliche Fallstudie ist die Arbeit von Michael Stolberg: Ein Recht auf saubere Luft? Umweltkonflikte am Beginn des Industriezeitalters. Erlangen 1994. Eine frühe Abhandlung dazu verfasste Günter Heine: Umweltbezogenes Recht im Mittelalter, in: Herrmann (Hg.), Umwelt in der Geschichte (wie Anm. 41), S. 111–128. Die Ausgestaltung privater property rights und ihre Allokationswirkungen, speziell auch im Bereich der Umweltnutzung, sind Gegenstände der modernen Umweltökonomie. Somit besteht

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Zur Gewinnung öffentlicher Anerkennung, und damit auch von Finanzmitteln, sollte ein sich neu etablierendes Forschungsgebiet auch Aufgaben einer Art „Zulieferfunktion“ für unmittelbar praktisch relevante Disziplinen wahrnehmen. Aktuelle epidemiologische Forschungen über immer wieder auftretende Erkrankungen sowie Forschungen über den Verlauf von Umweltkatastrophen und die daraus resultierenden Schäden können von der Verwendung historischen Datenmaterials profitieren.123 Sollen die aktuellen Forschungen methodisch bedingt auf einer statistischen Analyse historisch langer Zeitreihen beruhen, dann müssen die umweltgeschichtlich gewonnenen Erkenntnisse jedoch in einer entsprechend verwertbaren Datenbasis vorliegen. Daher dürfen derartige umweltgeschichtliche Forschungen nicht über die Anforderungen der modernen statistischen Methoden hinweggehen, die an die Weiterverarbeitung der umwelthistorischen Ergebnisse in beispielsweise neuen epidemiologischen Untersuchungen gestellt werden. 4. Epilog: Vermehrte Differenzierung, interdisziplinäre Ausrichtungen oder fachgebietsübergreifende Forschung? Zwischen Teildisziplinen eines Fachgebietes besteht immer ein gewisses Spannungsverhältnis; zu unterschiedlich sind, neben den Methoden, oft die Erkenntnisziele insbesondere bezüglich der Breite der Kontexte, in welchen der einzelne „Spezialist“ seine Teildisziplin sehen will beziehungsweise ausbildungsbedingt auch sehen kann.124 Ein noch größeres Potential für Spannungsverhältnisse bis hin zum gegenseitigen Nicht-Verstehen, beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Terminologien oder Betrachtungs- und Relevanzebenen, ist zu befürchten, wenn zur Durchleuchtung eines historischen Prozesses neben den Teildisziplinen der Geschichtswissenschaften weitere Fachrichtungen herangezogen werden (müssen). Allzu leicht prallen dann die unterschiedlichen Denkarten und methodischen Paradigmen „des Historikers“, „des Ökonomen“, „des Biologen“, „des Geographen“, „des Ingenieurs“ oder „des Juristen“ usw. offen aufeinander. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Erkenntnisziele und Methoden der „exakten“ Naturwissen-

hier eine weitere, potentiell fruchtbare Verbindung zwischen der modernen Volkswirtschaftslehre und der Umweltgeschichte bezüglich der historischen Ausgestaltung von property rights und ihren umweltrelevanten Wirkungen. Dies klingt auch an bei Brüggemeier, Environmental History (wie Anm. 46), S. 4624–4625. 123 Ansätze und Hinweise dazu finden sich in den Aufsätzen von Herbert Aagard und Günter Bayerl, in: Duve (Hg.), Technologie und Politik 16 (wie Anm. 76). Medizinisch relevante Schlussfolgerungen aus umweltgeschichtlichen Ergebnissen zieht auch Michael Stolberg, Ein Recht auf saubere Luft? (wie Anm. 122). Zum Zusammenhang zwischen Umwelt- und Stadtgeschichte sowie Hygienegeschichte äußern sich auch Franz-Josef Brüggemeier/Michael Toyka-Seid (Hg.): Industrie-Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert. Frankfurt/New York 1995, Kap. 5. 124 Ein hier im Rahmen der Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft diskutiertes Beispiel waren lange Zeit die Technikgeschichte und deren Verhältnis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

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schaften auf ihre Gegenstücke in den „vagen“ Kultur- und Sozialwissenschaften treffen.125 Üblicherweise erarbeiten die „Spezialisten“ in einer Teildisziplin wertvolle Detailerkenntnisse, die dann lange vermisste Inputs für die Behandlung einer offenen Frage eines anderen Fachgebiets oder einer anderen Teildisziplin darstellen können. Hier ist eine gleichberechtigte interdisziplinäre Zusammenarbeit, im idealen Fall eine wechselseitig befruchtende Auseinandersetzung, eine Voraussetzung für Erkenntnisfortschritte. Dies gilt umso mehr, wenn sachlich komplexe Fragestellungen zu erforschen sind, die wegen ihrer Interdependenzen weit über die Erkenntnismöglichkeiten einer oder weniger Teildisziplinen beziehungsweise Fachgebiete hinausgreifen. Aber es ist unbestreitbar, dass die Welt und die zu erforschenden Fragen im Laufe der Zeit immer komplexer geworden sind. Viele Fragen wurden zudem erst im Laufe der Zeit in ihrer Komplexität und in vielen Interdependenzen wahrgenommen. Die vielfältigen und bereits vergangenen Interaktionen zwischen Menschen, ihren Zielen und Möglichkeiten, untersucht die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ferner eine sozialwissenschaftlich orientierte Technikgeschichte. Diese historischen Teildisziplinen stehen jedoch in logischer Verbindung mit dem jeweiligen aktuellen Wissensstand der theoretischen Disziplinen der Wirtschafts-, Sozial- und Technik- sowie Ingenieurswissenschaften. Die sich neu etablierende Umweltgeschichte erforscht zusätzlich Gegenstände mit potenzierter Komplexität: Nun sind auch die vergangenen, aber bis heute nachwirkenden Interaktionen der Menschen mit der „Natur“ beziehungsweise mit der „Umwelt“ zu erfassen und auszuwerten. Daher ist neben den historischen Wissenschaften sowie den Sozial- und Kulturwissenschaften das gesamte Spektrum der theoretischen (Natur-)Wissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Geologie, Meteorologie usw. involviert. In diesem Sinne können aktuelle Forschungen über die Interaktionen zwischen Menschen und Natur/Umwelt, und damit auch umwelthistorische Forschungen über vergangene Interaktionen und deren Folgen, nur interdisziplinär, vielleicht sogar nur disziplinübergreifend angegangen werden, trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Paradigmen der einzelnen Fachgebiete. Die Umweltgeschichte verfügt daher über eine Forschungsprogrammatik, die weit über andere historische Teildisziplinen hinausreicht und höchste Ansprüche an Interdisziplinarität stellt.126 Diese zur Beantwortung vieler wichtiger Fragen notwendige Breite birgt aber Gefahren: Einerseits besteht die Gefahr, dass sich die Umweltgeschichte faktisch anderen, insbesondere nicht-historischen Fachgebieten zu wenig 125 Radkau betont zwar, dass ein Brückenschlag zu den Naturwissenschaften entscheidend für das künftige Ansehen einer historischen Umweltforschung sein werde. Aber eben gerade hier bestehen starke methodische Unterschiede und Bewertungsschemata für die gefundenen Ergebnisse. Joachim Radkau: Unausdiskutiertes in der Umweltgeschichte, in: Hettling/Huerkamp/ Nolte/Schmuhl (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? (wie Anm. 55), S. 47. 126 Obgleich einige Artikel in ähnlicher Form bereits früher publiziert wurden, fixiert ein von Siemann herausgegebener, auf Vorträge einer Ringvorlesung am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München beruhender Sammelband den aktuellen Stand der umwelthistorischen Diskussion in Deutschland. Wolfram Siemann (Hg.): Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven. München 2003.

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öffnet und damit Chancen auf Erkenntnisgewinn sowie wissenschaftliche Reputation vertut; doch dies gilt auch für die anderen involvierten Fachgebiete.127 Andererseits besteht die Gefahr, dass die Umweltgeschichte kein eigenständiges (historisches) Profil sowie keine originären Erkenntnisse entwickeln kann und zwischen den Erkenntniszielen und Methoden vieler Teildisziplinen und Fachgebiete zerrieben wird. Bisher präsentierte sich die Umweltgeschichte im status nascendi mit ihren Erkenntnissen, aber auch mit der Diskussion um Methoden, Gegenstände und Erkenntnisziele in vielen Publikationen, darunter in etablierten Fachzeitschriften mit breitem Leserstamm aus verschiedenen Fachgebieten. Die VSWG und ihre Beihefte mit ihren weiten Spektren der sozial- und wirtschaftshistorischen Themen, aber auch die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, erkannten schnell die Erkenntnismöglichkeiten der Umweltgeschichte an und brachten, wie auch bei der Herausschälung der modernen Technikgeschichte, immer wieder bahnbrechende umwelthistorische Arbeiten zur Publikation. Bei der Fortentwicklung der Technikgeschichte – mehr noch bei der Herausbildung der Umweltgeschichte – standen und stehen einige Aufsätze in der VSWG an der vordersten Stelle der Forschung. Der Jubilarin ist zu wünschen, diesbezüglich auch in Zukunft eine glückliche Hand bei der Auswahl innovativer Artikel zu haben.

127 Als Beispiel für ein viel zu einseitiges Verharren innerhalb des paradigmatischen Denkens einer Fachrichtung, hier der Kulturgeographie, im Rahmen der Abfassung einer als umwelthistorisch bezeichneten Publikation gilt das Buch von Helmut Jäger: Einführung in die Umweltgeschichte. Darmstadt 1994. Dieses Buch wird wegen der einseitigen Betrachtungsweise als „ärgerlich“ beurteilt: Bayerl/Troitzsch, Umweltgeschichte (wie Anm. 99), S. 18. An gleicher Stelle qualifizieren Bayerl und Troitzsch das folgende, zweibändige Werk als zu einseitig und als zu „fachimperialistisch“: Peter Cornelius Mayer-Tasch (Hg.): Natur denken. Eine Genealogie der ökologischen Idee, Band 1: Von der Antike zur Renaissance, Band 2: Vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1991. Ebenfalls umstritten ist das Buch des Biologen Gottfried Zirnstein: Ökologie und Umwelt in der Geschichte. Marburg 1994.

Werner Plumpe PERSPEKTIVEN DER UNTERNEHMENSGESCHICHTE1 1. Vorbemerkung Die Unternehmensgeschichte ist jene Teildisziplin der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die in den letzten Jahren die größte Aufmerksamkeit gefunden hat, nicht nur in Deutschland, sondern wohl weltweit. Die gegenwärtige Aktualität des Gegenstandes „Unternehmen in der historischen Entwicklung“ speist sich aus zahlreichen Quellen. Sie sollen – zum besseren Verständnis der später folgenden Überlegungen – hier kurz angesprochen werden. Der stärkste Impuls entstammt den tiefgreifenden Veränderungen in den Unternehmensstrukturen, die mit dem Aufstieg der „Neuen Ökonomie“ unbestreitbar wurden. Über Jahrzehnte hinweg herrschte die feste Überzeugung, dass die bereits in den 1860er Jahren von Karl Marx behauptete Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals die Entwicklung von Unternehmen eindeutig beschreibe. Diese Urteilssicherheit ist seit den 1980er Jahren gebrochen. Das Ende der herkömmlichen Massenproduktion wurde erreicht; im Kontext von „Lean production/Lean organisation“ gab man die Überzeugung vom sinnvollen Größenwachstum und der damit verbundenen Diversifikation der Unternehmen ebenso auf, wie Großkonglomerate traditionellen Zuschnitts wegen niedriger Margen und geringer Flexibilität unter Konkurrenz- und Anpassungsdruck gerieten. In der „New economy“ brillieren nicht die traditionellen Großunternehmen, sondern die kleinen Neugründungen. Die gerade in Deutschland fast als naturgesetzlich unterstellte Dominanz der „Produktionsunternehmen“ wurde und wird weiterhin geringer, während „Dienstleister“ und neue Kombinationen von Produktion und Dienstleistung mit erheblichen Konsequenzen für die Unternehmensstrukturen an Bedeutung gewinnen. Mit diesen Veränderungen stellt sich die Frage nach dem Unternehmen neu: Der Blick wendet sich vom klassischen Industriekonzern mit zentralisierter Produktion ab und erfasst die ganze Fülle möglicher Unternehmensformen vom Verlag über die Fabrik bis hin zum dezentralen Netzwerk der Neuen Ökonomie. Parallel zur Änderung der Unternehmensstrukturen verblassten die dominierenden Erklärungsansätze, auf die die Unternehmensgeschichtsschreibung mit Vorliebe zurückgegriffen hatte: Es wurde zweifelhaft, ob Unternehmen in der Tat von ihrer Spitze her steuerbare bürokratische Komplexe seien. Vor der Folie des industriellen Großkonzerns mochte das noch plausibel scheinen; und in der Tat findet sich von Karl Marx über Max Weber bis hin zu Alfred D. Chandler diese Vorstellung sowohl im marxistischen als auch im liberalen Denken. Das Bild von der Handlungsfähigkeit der Unternehmensleitungen geriet angesichts der Krise der „alten Ökonomie“ und ihrer offensichtlichen Unfähigkeit, Unternehmensstrukturen rasch 1

Ich danke Dr. Jan-Otmar Hesse und Tim Schanetzky M.A. (beide Frankfurt a. M.) für zahlreiche Hinweise und kritische Diskussionen.

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und gezielt umzustellen, im Bereich der Theorie jedoch in die Diskussion, auch wenn es in der öffentlichen Debatte weiterhin gepflegt wird.2 Sowohl die neuere Organisationsforschung als auch die etwas älteren Konzepte der „Mikropolitik“ in der Organisationssoziologie betonten und betonen statt dessen den Aushandlungscharakter von Unternehmensentscheidungen, unterstützt von einer Entscheidungstheorie, die von der Vorstellung rationaler Entscheidung längst Abschied genommen hat.3 Zu den verstärkten Bemühungen im Bereich der historischen Unternehmensforschung trägt des weiteren ein damit zusammenhängendes Dilemma bei, das sich aus der sinkenden Prognosefähigkeit der Unternehmensforschung bei zugleich rasch steigendem Prognosebedarf ergibt. Die ältere Unternehmensentwicklung und die auf sie bezogene Theoriebildung zeichneten sich durch Stabilität und Prognosegewissheit aus. Dies hat sich grundlegend geändert. Konnte etwa die „Theorie“ des „Organisierten Kapitalismus“4 zu Beginn der 1970er Jahre noch beanspruchen, nicht nur als angemessener „Idealtyp“ zur Analyse der unternehmenshistorischen Entwicklung seit dem Kaiserreich zu gelten, sondern zugleich auch die zeitgenössische Entwicklung des Verhältnisses von Politik und Großunternehmen eindeutig zu beschreiben, so sind heute alle zukunftsorientierten Gewissheiten verloren gegangen. Was die zukünftige Entwicklung von Unternehmen, Unternehmensstrategien, -strukturen und -größen angeht, sind Prognosen allein aus der Kenntnis der – jedenfalls zur Zeit – verfügbaren Unternehmensgeschichten heraus nicht mehr möglich. Der Prognosebedarf ist allerdings nicht geringer geworden. Die Bedeutung wirtschaftlicher Organisationen (Unternehmen) nimmt sowohl rein faktisch5 als auch angesichts der im Rahmen der Globalisierung sinkenden Rolle der Nationalstaaten relativ weiter zu.6 Wirtschaftliche Organisationen gewinnen aber nicht nur an Gewicht, 2

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Dass Unternehmensspitzen sich selbst weiterhin als handlungsfähig darstellen, ja darstellen müssen, ändert hieran nichts. Vgl. jetzt Cornelia Hegele/Alfred Kieser: Control the Construction of Your Legend or Someone Else Will. An Analysis of Texts on Jack Welch, in: Journal of Management Inquiry 10 (2001), S. 298–309. Noch am deutlichsten zeigt sich die Umstellung vielleicht im Phänomen der Unternehmensberatung, und zwar sowohl semantisch als auch materiell. Dass in der Öffentlichkeit an dieser Vorstellung festgehalten wird und auch Unternehmensleitungen sie zur Selbstbeschreibung nutzen, ist dabei keineswegs willkürlich, sondern erklärbar: Die Fiktion der Handlungsfähigkeit dient zur Herstellung von Entscheidungssicherheit. Eine theoretisch inspirierte Unternehmensgeschichtsschreibung kann daher diese Fiktionen aufklären, ohne – kritisch oder zustimmend – ihr gutgläubiges Opfer zu werden. Dazu später mehr. Michel Crozier/Eberhard Friedberg: Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Königstein/Ts. 1979. Ferner Alfred Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2. Aufl., Stuttgart 1995; Willi Küpper/Günther Ortmann (Hg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. 2. Aufl., Opladen 1992. Zur Entscheidungstheorie: J. Richard Harrison/ James G. March: Decision Making and Postdecision Surprises, in: Administrative Science Quarterly 1984, S. 26–42. Heinrich August Winkler (Hg.): Organisierter Kapitalismus. Göttingen 1974. Dieser Gedanke verdiente eine ausführlichere Kommentierung, die hier aber nicht erfolgen kann. Nur so viel: Die Ausdehnung des Dienstleistungssektors führt dazu, dass immer mehr Bereiche der materiellen Reproduktion von und durch Organisationen vorgenommen werden: von der Kindererziehung über die Zubereitung der Mahlzeiten bis hin zur Pflege alter Menschen. Vgl. hierzu Helmut Willke: Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2001.

Perspektiven der Unternehmensgeschichte

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Reichweite und Bedeutung. Auch ist keineswegs sicher, dass Unternehmen in Zukunft noch auf eine Weise Güter und Dienstleistungen hervorbringen, wie wir es gewöhnlich in der auf sie bezogenen Theoriebildung und Geschichtsschreibung unterstellen. Zwar ist die „Wissensgesellschaft“ bislang mehr ein Schlagwort, das ein noch unbegriffenes Evolutionsphänomen thematisiert (und damit auch herbeiführt!), sicher aber ist, dass sich die stofflichen und ideellen Grundlagen und Bedingungen wirtschaftlicher Tätigkeit in Zukunft ändern werden.7 Die Aktualität der Unternehmensgeschichte speist sich in Deutschland zusätzlich aus der politischen, materiellen und moralischen Dimension der Beziehung von Staat und Unternehmen während des Nationalsozialismus.8 Diese politische und moralische Aktualität bedingte ein Aufblühen der Erforschung und Darstellung einschlägiger Unternehmensgeschichten, die zu bekannt sind, um hier im Einzelnen Erwähnung zu finden.9 Die Publikationswelle flaut langsam ab. Es ist schwer, ein Fazit zu ziehen. Zweifellos hat die Unternehmensgeschichtsschreibung hiervon institutionell und personell profitiert. Das wissenschaftliche Fazit fällt hingegen ambivalent aus. Zunächst dürfte das künstlich hochgetriebene Interesse an der Unternehmensgeschichte in ein ebenso deutlich ausgeprägtes Desinteresse münden, sobald die Brisanz des Themas vorüber ist. Das zeichnet sich nach der Regelung der Zwangsarbeitsfrage bereits ab. Vor allem: Der Ertrag der Studien ist unternehmenshistorisch begrenzt.10 Die Jahre zwischen 1933 und 1945 werden in der Forschung nicht als die Ausnahmejahre thematisiert, die sie de facto waren, sondern im Grunde gar nicht qualifiziert.11 Wie weit daher die Ergebnisse der einzelnen Studien über 7

Vgl. Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie. Frankfurt a. M. 2001. 8 Das Verhältnis von Unternehmen und Staat spielte auch in der älteren wirtschaftshistorischen Forschung eine große Rolle. Dabei stand freilich der Charakter des Wirtschaftssystems zur Debatte und nicht die Entwicklung einzelner Unternehmen. Hierfür typisch etwa die ältere DDRGeschichtsschreibung, vgl. Helga Nußbaum/Manfred Nußbaum/Lotte Zumpe: Wirtschaft und Staat in Deutschland. 3 Bände. Ostberlin 1978–1980. Indem im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Unternehmen im Dritten Reich das Problem des „individuellen Verhaltens“ einzelner Unternehmer und Unternehmen unter ethischen Gesichtspunkten in den Vordergrund trat, wurde die Geschichte des einzelnen Unternehmens aufgewertet und damit zwangsläufig auch die Unternehmensgeschichtsschreibung. Das unterscheidet auch die ältere PrimatDebatte von den jüngeren Beiträgen zur Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus. Zur Primat-Debatte vgl. Tim Mason: Der Primat der Politik – Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus, in: Das Argument 8 (1966) sowie Eberhard Czichon: Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht, in: Das Argument 10 (1968). 9 Siehe die Literaturzusammenstellung bei Paul Erker/Toni Pierenkemper (Hg.): Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten. München 1999. 10 Es spricht manches dafür, dass Peter Hayes Studie: Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi-Era. Cambridge 1989, zahlreiche wichtige Punkte bereits herausgearbeitet hat. Die weiteren Arbeiten sind zum Teil genauer, detaillierter oder behandeln andere Branchen; ihr Erkenntnisgewinn gegenüber Hayes ist allerdings nicht immer groß. 11 Trotz zahlreicher Beiträge gibt es bisher keine überzeugenden Arbeiten, die das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Nationalsozialismus theoretisch angemessen erfassen. Vgl. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik. Frankfurt a. M. 1988; Albrecht Ritschl: Die NS-Wirtschaftsideologie – Modernisierungsprogramm oder

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Unternehmensentwicklungen und unternehmerisches Verhalten in Diktatur und Krieg vergleichbar sind, mit der Vor- und Nachkriegszeit etwa oder auch und gerade im internationalen Vergleich der Funktionsweise von Rüstungs- und Kriegswirtschaften, wie weit in ihnen „Normalität“ oder „Ausnahme“ zum Ausdruck kommen, ist bis heute bestenfalls Gegenstand von Spekulation.12 Wie das Verhältnis von Politik/Staat und Wirtschaft/Unternehmen unter den Bedingungen einer steuerungswütigen Diktatur sich entwickelte und welche Rückschlüsse hieraus für das Funktionieren moderner Gesellschaften bzw. moderner wirtschaftlicher Organisationen insgesamt zu ziehen sind, hat die einschlägigen Arbeiten kaum interessiert. So bleiben die Ergebnisse begrenzt, zumal als sicher gelten kann, dass es ein Verhältnis von Politik/Staat und Wirtschaft/Unternehmen, wie es für die Jahre zwischen 1933 und 1945 in Deutschland vorherrschend war, in Zukunft nicht mehr geben wird.13 Die Unternehmensgeschichtsschreibung steht angesichts der beschriebenen Aktualität der Frage nach der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Bedeutung wirtschaftlicher Organisationen vor einer doppelten Herausforderung: Ihr Gegenstand wandelt sich und mit ihm verändern sich die bisher sicheren und vertrauten Wissensbestände um das Unternehmen, seine Entwicklung und seine Verflechtung mit anderen Teilen der Gesellschaft. Eingedenk der wachsenden Bedeutung wirtschaftlicher Organisationen im globalen Wandel ist die Unternehmensgeschichtsschreibung daher sowohl zu einer Revision ihres Gegenstandsbegriffes als auch zu einer Neufassung ihrer theoretischen und methodischen Annahmen gezwungen. Hiervon soll im Folgenden die Rede sein. 2. Einige Hinweise zum bisherigen Stand der Forschung Die Geschichte der Unternehmensgeschichtsschreibung ist in einem umfassenden Sinne noch nicht geschrieben. Es gibt aber zahlreiche Vorarbeiten und Versatzstücke.14 Damit kann die Lage der Unternehmensgeschichtsschreibung recht zutrefreaktionäre Utopie?, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. Darmstadt 1991, S. 48–70. 12 Typisch Simon Reich: The Fruits of Fascism. Postwar Prosperity in Historical Perspective. Ithaka 1990. 13 Damit ist nicht bestritten, dass diese Studien im Rahmen der zeitgeschichtlichen Erforschung der Nazi-Diktatur große Bedeutung haben; vgl. etwa Hans Mommsen/Wolfgang Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996; Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich. Berlin 1997. Für mittelständische Unternehmen siehe Astrid Gehrig: Nationalsozialistische Rüstungspolitik und unternehmerischer Entscheidungsspielraum. Vergleichende Fallstudien zur württembergischen Maschinenbauindustrie. München 1996. 14 Hans Jäger: Unternehmensgeschichte in Deutschland seit 1945. Schwerpunkte – Tendenzen – Ergebnisse, in: GG 18 (1992), S. 107–132; Hans Pohl: Betrachtungen zum wissenschaftlichen Standort von Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, in: VSWG 78 (1991), S. 326–343; Werner Plumpe: Unternehmen, in: Gerold Ambrosius/Dietmar Petzina/Werner Plumpe (Hg.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. München 1996, S. 47–68; Toni Pierenkemper: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und

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fend erfasst werden: Gegenwärtig gibt es offenbar eine Vermischung von älteren und jüngeren „Praktiken“, Unternehmensgeschichte zu betreiben. Gemeinsam bestimmen sie das „Feld“ Unternehmensgeschichtsschreibung, das insofern nicht durch einen einheitlichen Gegenstandsbegriff und eine einheitliche Methodologie gekennzeichnet ist. Versuche aus jüngerer Zeit, angesichts dieser manchem disparat erscheinenden Lage eine einheitliche, mikroökonomisch orientierte Sichtweise der Unternehmensgeschichte als Maßstab durchzusetzen, sind gescheitert. Wegen der unterschiedlichen Traditionen und der variierenden Vorlieben der beteiligten Forscher war allerdings nichts anderes zu erwarten.15 Worauf kann sich die gegenwärtige Unternehmensgeschichte beziehen? Da ist zunächst die ältere Tradition der Unternehmensgeschichtsschreibung, die abgesehen von ihrem Alter und ihrer Abneigung, sich theoretisch anleiten zu lassen, wenig Gemeinsamkeiten besitzt. Festschriften finden sich hier ebenso wie Arbeiten aus der Feder historisch interessierter Nationalökonomen. Diese zumeist nicht sonderlich komplex angelegten Arbeiten waren quellennah und faktenorientiert, so dass sie heute noch als Fundgruben angesehen werden können. Trotz wichtiger theoretischer Vorgaben durch Max Weber (Bürokratietheorie) und Joseph Alois Schumpeter (Konzept des Unternehmers)16 verharrte die deutsche Unternehmensgeschichtsschreibung in einem gleichsam protoprofessionellen Raum. Das änderte sich auch nach dem Krieg in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Über die Zeit des Wirtschaftswunders gibt es wenig Bemerkenswertes zu berichten, und dies, obwohl in den USA nicht zuletzt in Fortführung von auch deutschen Impulsen aus der Vorkriegszeit sowohl das theoretische Bild des Unternehmens neu gefasst wurde, als auch die Unternehmensgeschichtsschreibung selbst einen deutlichen Schritt in Richtung „Professionalisierung“ tat.17 In der alten Bundesrepublik konnte hiervon nicht die Rede sein. Ein vulgärer Antimarxismus – gepaart mit einem naiven, freilich politisch gewünschten und „propagandistisch“ gestärkten Glauben an die „Unternehmerpersönlichkeit“18 – bestimmte die vornehmlich als Unternehmensfestschriften verfassten Arbeiten namentlich des „Doyens“ der Unternehmensgeschichtsschreibung jener Jahre, Wilhelm Treue.19 Einen

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Ergebnisse. Stuttgart 2000, mit guten Hinweisen zur Unternehmensgeschichte vornehmlich des 19. Jahrhunderts; Harm G. Schröter: Die Institutionalisierung der Unternehmensgeschichte im deutschen Sprachraum, in: ZUG 45 (2000), S. 30–48. Siehe die sog. Pierenkemper/Pohl-Kontroverse in der ZUG: Toni Pierenkemper:Was kann eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden, in: ZUG 44 (1999), S. 15–31; Manfred Pohl: Zwischen Weihrauch und Wissenschaft? Zum Standort der modernen Unternehmensgeschichte, in: Ebd., S. 150–163. Zu den Theorietraditionen knapp Plumpe, Unternehmen (wie Anm. 14). Deutlichster Ausdruck sind die Arbeiten von Alfred D. Chandler: Strategy and Structure. Chapters in the History of Industrial Enterprise. 18. Aufl., Cambridge, Mass. 1993; ders.: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business. Cambridge, Mass. 1977; ders.: Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism. Cambridge, Mass. 1990, um nur die Wichtigsten zu nennen. Hierzu S. Jonathan Wiesen: West German Industry and the Challenge of the Nazi Past 1945– 1955. Chapel Hill/London 2001. Zu Wilhelm Treue vgl. Hans Pohl: Wilhelm Treue (1909–1992), in: ZUG 38 (1993), S. 1–3.

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Lichtblick bot allein Fritz Redlich20, der in die USA emigriert war und nun nach Deutschland zurückwirkte. Seine Unternehmergeschichtsschreibung verfolgte einen klaren, auf die Person des Unternehmers zentrierten Ansatz, auch wenn dieser de facto nicht ausgearbeitet war und daher keine wirklich wissenschaftlich reflektierte Unternehmensgeschichtsschreibung herausforderte. Dieser unreflektierten Praxis, im Unternehmer den „deus ex machina“ der Unternehmensgeschichte zu sehen, folgte, wenn auch unter anderem Vorzeichen, die marxistischleninistische Forschung21 in der DDR. Zwar waren in den Arbeiten etwa eines Kurt Gossweiler22 die Unternehmer böse, profitgierige Blutsauger, aber für das Unternehmen waren sie genauso wichtig wie in der westdeutschen Forschung, die im Unternehmer – von Ausnahmen abgesehen – den gemeinwohlorientierten und innovativen Menschenfreund sehen mochte. Beiden Ansätzen war ein naives Unternehmer- und Unternehmensbild gemeinsam; gemeinsam sind diese Weisen, Unternehmensgeschichte zu schreiben, denn auch in den 1970er bzw. 1980er Jahren zu Grabe getragen worden.23 Spätestens mit Jürgen Kockas Studie zur Entwicklung der Unternehmensverwaltung bei Siemens vor dem Ersten Weltkrieg24 wurde offensichtlich, dass die 20 Fritz Redlich: Der Unternehmer. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien. Mit einem Nachwort von Edgar Salin. Göttingen 1964. 21 Von der marxistisch-leninistischen Unternehmensgeschichtsschreibung durch Autoren aus der DDR ist die „Betriebsgeschichte“, die in der DDR betrieben wurde, zu trennen. Diese bezog zwar zum Teil auch die „kapitalistische Zeit“ ein, konzentrierte sich ansonsten aber auf die Darstellung der Errungenschaften der Arbeiterklasse der Ostzone unter Führung der SED im Betrieb; vgl. Arnd Kluge: Betriebsgeschichte in der DDR – Ein Rückblick, in: ZUG 38 (1993), S. 49–62. 22 Kurt Gossweiler: Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914–1932. Ostberlin 1971. Mit der größten Resonanz Eberhard Czichon: Der Bankier und die Macht. H. J. Abs im Dritten Reich. Köln 1970. 23 Wie alles hat freilich auch diese Strömung weitergewirkt, vor allem in den Beiträgen Köhlers etwa zu den IG Farben, die am Bild der mächtigen Verschwörer festhalten wollten und sich dabei – aus politischen Motiven – erstaunlich resistent gegenüber der historischen Forschung zeigten, die auch schon einmal im Interesse des eigenen Standpunkts zurecht gebogen wurde. Otto Köhler: … und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG-Farben und ihrer Väter. Hamburg 1986. Aber auch bei Karl Heinz Roth findet man die Geschichten von den mächtigen und listigen Unternehmern, denen das Brötchen immer auf die Butterseite fällt. Vgl. seine Beiträge in: Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen Reich“. Hg. von der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nördlingen 1987. Siehe auch die Kritik von Volker Hentschel: Daimler-Benz im Dritten Reich. Zu Inhalt und Methode zweier Bücher zum gleichen Thema, in: VSWG 75 (1988), S. 74–100. Derartige Arbeiten (und ihre zum Teil erstaunliche öffentliche Resonanz) gehören freilich nicht in den Bereich der wissenschaftlich begründeten Unternehmensgeschichte, sondern sind Teil der politischen Publizistik. Auf ihre Betrachtung wird daher im Folgenden verzichtet. – Auch die Treue-Tradition hat, wenngleich wissenschaftlich problematisch, noch fortgewirkt, vor allem im Rahmen der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, die recht lange Zeit benötigte, um ihre vorwissenschaftlichen Häute abzustreifen. Zur GUG vgl. Hans Pohl: Ein Jahrzehnt Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, in: ZUG 31 (1986), S. 5–30; ferner jüngst Sandra Hartig: Von der „Tradition“ zur Innovation. Die Gründung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, in: ZUG 46 (2000), S. 221–236. 24 Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–

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deutsche Unternehmensgeschichtsschreibung einen neuen Weg einschlagen musste (und konnte), wollte sie sich nicht auf Dauer von der Forschungsdiskussion, wie sie vor allem in den USA geführt wurde, abkoppeln. Dass es gleichwohl zunächst nicht zu einer Rezeption der einschlägigen mikroökonomischen Theorieangebote (und ihrer historiographischen Verarbeitung etwa bei Alfred D. Chandler jun.) und damit zu einer besseren theoretischen Fundierung der Unternehmensgeschichte kam, lag an der in den 1970er Jahren dominierenden, mit Versatzstücken von Karl Marx und Max Weber arbeitenden, sogenannten Strukturgeschichte der „Bielefelder Schule“, deren Forcierung des Konzeptes des „Organisierten Kapitalismus“ der unternehmenshistorischen Forschung in Deutschland einen mehr als zehnjährigen, im Ergebnis enttäuschenden Umweg bescherte.25 Denn anders als im angelsächsischen Sprachgebiet ging die deutsche Geschichtsschreibung der Unternehmung in den siebziger und noch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts davon aus, das Unternehmen als „politische Veranstaltung“ zu sehen, ja als einen prominenten Faktor des deutschen Sonderweges in die Moderne zu demaskieren. Man interessierte sich für Fragen der Unternehmensorganisation eher am Rande. Das Augenmerk war auf die Interessenpolitik und Lobbyarbeit vor allem von Landwirtschaft und Schwerindustrie gerichtet, die aber nicht auf ihre wirtschaftlichen Ursachen hin analysiert, sondern als voluntaristischer Ausfluss von Profitgier und Herrschaftsprätentionen reaktionärer Kreise gedeutet wurden. Gefechte des späten 19. Jahrhunderts um „Imperialismus“ und „Finanzkapital“ wurden unter dem Stichwort des „Organisierten Kapitalismus“ erneut ausgetragen, stets mit der Unterstellung, dass eine reaktionäre Unternehmerschaft Deutschland aus Profitgier in den Abgrund geführt oder dabei zumindest tatkräftig geholfen habe. Die rheinisch-westfälische Schwerindustrie wurde geradezu zum deutschen Verhängnis stilisiert.26 Diese Art der historischen Argumentation konzentrierte sich zunächst auf die Unternehmensgeschichte des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, während die DDR-Unternehmensgeschichte von Anfang an auch die Zeit des Nationalsozialismus thematisierte.27 Die westdeutsche Forschung war hier zunächst zurückhaltender.28 Als sie sich in den neunziger Jahren verstärkt dem Verhältnis von Unterneh-

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1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung. Stuttgart 1969. Winkler, Kapitalismus (wie Anm. 4). Das Konzept inspirierte über fast ein Jahrzehnt die unternehmenshistorische Praxis in fataler Weise, obwohl Hentschel bereits frühzeitig auf seine empirische Haltlosigkeit hingewiesen hatte; vgl. Volker Hentschel: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat? Stuttgart 1978. Bernd Weisbrod: Schwerindustrie in der Weimarer Republik. Interessenpolitik zwischen Stabilisierung und Krise. Wuppertal 1978. Die Literatur im Einzelnen aufzuführen oder gar zu werten, ginge zu weit. Es wäre freilich in Zukunft nicht ohne Interesse, einmal die westdeutsche Geschichtsschreibung der späten sechziger und der siebziger Jahre auf ihre impliziten grammatischen Strukturen hin zu untersuchen! Typisch Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik. Köln 1967. Es waren zunächst keine Historiker, sondern Sozialwissenschaftler und Politologen, die die Frage nach dem Verhältnis von Unternehmen und Nationalsozialismus aufwarfen; vgl. Eike

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men und Nationalsozialismus zuwandte, waren die Nachwehen des bundesrepublikanischen Universitätsmarxismus zu Ende; die Arbeiten zu diesem Thema standen unter einem anderen Paradigma. Die Folgenlosigkeit der unternehmenshistorischen Debatte29 im Geist des „Organisierten Kapitalismus“ ist verblüffend, gemessen zumindest an dem Verve der seinerzeit vorgetragenen Argumente. Dies hat nicht allein mit der heute grotesk wirkenden Vorstellung von Historie als voluntaristisch veränderbarem Prozess zu tun, so als könnten einige wenige Großkonzerne die Weltgeschichte bestimmen. Ausschlaggebend war vor allem der empirische Misserfolg dieser Art, Geschichte zu schreiben.30 Das spurlose Verschwinden der „Systemfrage“ verdankt sich überdies der Gewalt der sich seit Mitte der achtziger Jahre abzeichnenden Debatte um das Verhältnis von Unternehmen und Nationalsozialismus, die nicht an die Tradition des „Organisierten Kapitalismus“ anknüpfte. In der Debatte um das Verhältnis der Unternehmen zum Nationalsozialismus geht es ganz konventionell um Faktenaufklärung, dann insbesondere aber um deren Bewertung im Sinne individueller Moralität. Stand im „Organisierten Kapitalismus“ das System am Pranger, so in der NSDebatte der individuelle Manager oder das einzelne Unternehmen. Wie immer man das bewerten mag – diese Tendenz führte zu einer Sicht der Unternehmensgeschichte, in der die Unternehmen und ihre Leitungen eine ähnliche Rolle spielen wie politische Repräsentanten oder Institutionen. Dabei sind zahlreiche Fakten geklärt und manches bedenkenswerte Urteil gesprochen worden. Aber eine eigentliche Unternehmensgeschichte, in der der Charakter der Unternehmen als wirtschaftliche Organisation im Vordergrund steht, war und ist dies nicht.31 Die Geschichte des Unternehmens als die Geschichte wirtschaftlicher Organisation zu schreiben, hat in Amerika eine mit dem Namen Chandlers verbundene solide Tradition. Auch in Großbritannien dominiert diese Art der Geschichtsschreibung. Im deutschen Fall hat sie Vorläufer, ist aber eindeutig die jüngere „Praktik“. Es ist freilich zu berücksichtigen, dass die Neigung deutscher Historiker, Unternehmen politisch zu begreifen, auch etwas mit der eigentümlichen Geschichte des deutschen „Corporate capitalism“ zu tun hat, also nicht allein der Uneinsichtigkeit der Historiker oder ihrer Neigung zum moralischen Argument entspringt.32 Gleichwohl

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Hennig: Thesen zur deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1933 bis 1938. Frankfurt a. M. 1973. Siehe auch die Beiträge in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 6. Frankfurt a. M. 1976. Als eine der ersten historiographischen Arbeiten zum Thema ist zu nennen die freilich mit anderer Fragestellung ansetzende Studie von Dietmar Petzina: Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan. Stuttgart 1968. Auch hier war Amerika schneller; siehe Arthur Schweitzer: Big Business in the Third Reich. Bloomington/Ind. 1963. Vgl. Jäger, Unternehmensgeschichte (wie Anm. 14). Dazu haben nicht zuletzt die besseren Arbeiten gerade aus dieser Richtung beigetragen, etwa Volker Wellhöner, der das „Finanzkapital“ vor 1914 suchte – und nicht fand! Ders.: Großbanken und Großindustrie im Kaiserreich. Göttingen 1989. Eine Gesamtbeurteilung der Arbeiten zur Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus steht noch aus und dürfte wegen der Brisanz des Themas auch in Zukunft wenig wahrscheinlich sein. Zudem hat die einseitige Art, die Geschichte der Unternehmen nach 1933 zu erforschen, es auch sehr erschwert, hier zu einem theoriefähigen Gesamtresümee zu kommen. Siehe hierzu Paul Windolf/Jürgen Beyer: Co-operative capitalism: corporate networks in Germany, in: The British Journal of Sociology 47 (1996), S. 205–231.

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und trotz der frühen Klagen über ihre theoretische Anspruchslosigkeit33 ist der Beitrag einer mikroökonomisch orientierten Unternehmensgeschichtsschreibung in Deutschland gering geblieben.34 Zwar zeichnen sich seit Beginn der neunziger Jahre Änderungen ab, doch ist eine Verbreiterung der empirischen Basis der „neueren“ Unternehmensgeschichtsschreibung in mehr als einer Hinsicht wünschenswert. Denn die zur älteren Unternehmensgeschichtsschreibung seit Ende der achtziger Jahre aufkommende „kritische“ Alternative35 speiste sich zunächst weniger aus ökonomischen denn aus industrie- und betriebssoziologischen wie aus allgemein soziologischen Quellen. Das Konzept der „Mikropolitik“, mit dem Unternehmen nicht mehr als direkt gesteuerte Anstalten, sondern als Aushandlungsarenen unterschiedlicher Interessen konzipiert wurden, erwies sich dabei als außerordentlich fruchtbar.36 Gleichwohl blieb die mikroökonomische Perspektive hier, wenn auch durchaus anschlussfähig, vorab wenig beachtet. Einen gemeinsamen Schnittpunkt bildete das weiche Thema „Unternehmenskultur“; dieser Modebegriff indiziert jedoch eher ein Problem der Unternehmensgeschichtsschreibung denn einen analytischen Rahmen für sie. Mit dem Vordringen der konzeptionellen Überlegungen der Neuen Institutionenökonomik zeichnet sich gegenwärtig eine Verbindung mikroökonomischer und mikropolitischer Überlegungen ab.37 Die historiographische Praxis wird zeigen, inwieweit eine mikroökonomisch orientierte Geschichtsschreibung des Unternehmens tragfähig ist. Das „Feld“ Unternehmensgeschichte weist mithin – idealtypisch gesprochen – diese beiden „Praktiken“ einer vorwiegend politischen38 und einer vorwiegend mi33 Reinhard Hanf: Mangelnde methodische Konzepte im Bereich der Betriebs- und Firmengeschichte, in: ZUG 22 (1977), S. 145–160. 34 Ein früher (und sehr einsamer) Rufer in der Wüste war Dieter Lindenlaub, der bereits in den späten 1970er Jahren eine mikroökonomische Wende in der Unternehmensgeschichtsschreibung forderte und deren mögliche Konturen in noch heute fruchtbarer Weise skizzierte; ders.: Firmengeschichte, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Band 3. Stuttgart/New York 1980, S. 294–302. Ferner ders.: Unternehmensgeschichte, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 53 (1983), S. 91–123. 35 Vgl. Werner Plumpe/Christian Kleinschmidt (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmens- und Industriegeschichte im 20. Jahrhundert. Essen 1991. Dies ist die erste Veröffentlichung des kurz zuvor gegründeten Arbeitskreises für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte. 36 Karl Lauschke/Thomas Welskopp: Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts. Essen 1994. 37 Vgl. vor allem Werner Plumpe: Statt einer Einleitung: Stichworte zur Unternehmensgeschichtsschreibung, in: Plumpe/Kleinschmidt (Hg.), Unternehmen (wie Anm. 35); Paul Erker: Aufbruch zu neuen Paradigmen. Unternehmensgeschichte zwischen sozialgeschichtlicher und betriebswirtschaftlicher Erweiterung, in: AfS 37 (1997), S. 321–365; Anne Nieberding/Clemens Wischermann: Unternehmensgeschichte im institutionellen Paradigma, in: ZUG 43 (1998), S. 35–48. Des weiteren Clemens Wischermann/Karl-Peter Ellerbrock (Hg.): Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert. Neue Wege der Unternehmensgeschichte. Dortmund 2000. Schließlich jüngst Ulrich Pfister/Werner Plumpe: Plädoyer für eine theoriegestützte Geschichte von Unternehmen und Unternehmern, in: Westfälische Forschungen 50 (2000), S. 1–21. 38 Beispielhaft jüngst Lothar Gall: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums. Berlin 2000. Galls Buch zeigt die angesprochene Problematik nachgerade beispielhaft auf. Während seine

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kropolitischen/mikroökonomischen Historiographie des Unternehmens39 auf sowie in der alltäglichen Geschichtsschreibung zahlreiche Hybridformen beider „Praktiken“.40 Da ihre jeweiligen Schwerpunktsetzungen unterschiedlicher Art sind, handelt es sich nicht um ein Konkurrenz-, sondern um ein Ergänzungsverhältnis. Der politische Blick behandelt das Unternehmen als nicht zu hinterfragende Entität, das durch seinen Vorstand als Einheit agiert und insofern in der (wirtschafts-)politischen und wirtschaftlichen Interaktion mit anderen Akteuren eindeutig identifizierbar ist. Diese Perspektive behandelt daher eher externe Interaktionsbeziehungen, in denen Unternehmen als handlungsfähige Akteure vorausgesetzt werden. Die mikroökonomische Perspektive und ihre Erweiterungen begreifen hingegen das Unternehmen selbst als zu klärendes Problem, insbesondere seinen Zuschnitt, seine internen Strukturen und die sich aus ihrer Funktion ergebenden Entscheidungs- und Handlungsprobleme. Auch wenn im Folgenden stärker der mikroökonomischen Perspektive das Wort geredet wird, da hier die größeren theoretischen und methodischen Probleme zu lösen sind,41 so scheint mir doch die Zukunft der Unternehmensgeschichtsschreibung in einer Kombination der Perspektiven zu liegen, freilich auf geklärter mikroökonomischer Basis. Darum soll es nun gehen.

im Sinne der politischen Geschichte angelegte Analyse für die Phase der Unternehmensgeschichte, in der Alfred Krupp ein geradezu persönliches Regiment führen konnte, faszinierende Einsichten ermöglicht, verliert sie an Überzeugungskraft, sobald die komplexen Organisationsentwicklungen seit den 1860er Jahren auf diese Weise nicht mehr erfasst werden können. Das Buch wird hier zur bloßen Schilderung quantitativer Prozesse. 39 Beispielhaft hier Jan-Otmar Hesse: Im Netz der Kommunikation. Die Reichspost- und Telegraphenverwaltung 1867–1914. München 2002; Anne Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich: J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. München 2003; Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmen 1950–1985. Berlin 2002. Vgl. auch für die produktive Verwendung industrie- und organisationssoziologischer Konzepte Karl Lauschke: Die Hoesch-Arbeiter und ihr Werk. Sozialgeschichte der Dortmunder Westfalenhütte während der Jahre des Wiederaufbaus 1945–1966. Essen 2000; Thomas Welskopp: Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren. Bonn 1994. 40 Typisch etwa Alfred Reckendrees: Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigten Stahlwerke A.G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34. München 2000; Gottfried Plumpe: Die Geschichte der I.G. Farbenindustrie AG. Berlin 1990; Gustav Seebold: Ein Stahlkonzern im Dritten Reich. Der Bochumer Verein 1927–1945. Wuppertal 1981; Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. München 2000. 41 Ansätze, die Unternehmen vorrangig über ihre Außenbeziehungen begreifen wollen, wie jetzt Florian Triebel/Jürgen Seidl: Ein Analyserahmen für das Fach Unternehmensgeschichte, in: ZUG 46 (2001), S. 11–26, oder die in der Soziologie intensiv diskutierten Netzwerktheorien, die auch in der Unternehmensgeschichte aufgegriffen wurden, sind zwar theoretisch nicht ohne Interesse, bleiben ohne mikroökonomisch-organisationstheoretische Fundierung allerdings nur sehr begrenzt nützlich, da sie das Unternehmen selbst als „Black box“ behandeln.

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3. Das Forschungsproblem In der bisherigen historischen Literatur hat man sich kaum mit der Frage nach dem Unternehmen beschäftigt, sondern es zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt. Dieses vorwissenschaftliche Verständnis des Unternehmens speist sich aus einem Denken, das in der unternehmerisch organisierten Fabrik eine technische Zwangsläufigkeit der modernen Wirtschaft42 sieht. In den Wirtschaftswissenschaften war dies lange nicht anders; in der neoklassischen Mikroökonomik43 wird das Unternehmen als technisch bestimmte Produktionsfunktion begriffen. Die Aufgabe der Wirtschaftstheorie besteht hiernach darin, die jeweils günstigste Nutzung einer gegebenen Technik bzw. die günstigste Kombination von technischen Produktionsfaktoren bei gegebenen Preisen zu ermitteln. Ziel ist die Feststellung von Optimalkostenkonstellationen, was in der Theorie ohne weiteres möglich ist, in der Realität jedoch keine Entsprechung findet, da es hier die notwendige Automatik unternehmerischer Anpassungsleistungen an sich ändernde Preise nicht gibt. Auf diese starre Unternehmens- und Unternehmerkonzeption reagierte die mikroökonomische Theorie; bereits seit den dreißiger Jahren, mit Macht seit den fünfziger Jahren zeichnet sich ein Wandel ab, der in Gestalt der „Neuen Institutionenökonomik“44 seit den 1990er Jahren auch die Geschichtswissenschaften und hier insbesondere die Unternehmensgeschichtsschreibung erreicht hat.45 Das Unternehmenskonzept der Neuen Institutionenökonomik ist zunächst recht überzeugend. Es geht davon aus, dass es Unternehmen gibt, weil der Markt nicht 42 Dieses Unternehmensverständnis ist in hohem Maße von Marx beeinflusst worden, für den die Fabrik der Inbegriff des modernen Kapitalismus war, die sich motivfrei durchsetzte. Das Profitstreben war für Marx denn auch keine willkürliche Attitüde charakterschwacher Bourgeois, sondern durch das Kapitalverhältnis und das Wertgesetz objektiv gegeben. Es lohnt, gelegentlich einen Blick in das Kommunistische Manifest zu werfen, dessen Aktualität nicht zuletzt im Rahmen der gegenwärtigen Globalisierung zum Teil frappierend ist; Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Band 4, S. 459–493, insbes. 462–473. Im Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes des Kapitals schreibt Marx in aller Klarheit: „Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag“ (MEW 23, S. 16). Marx bleibt dann freilich die Antwort auf die Frage schuldig, welche Rolle Unternehmer spielen, wenn die „Naturgeschichte der Ökonomie“ auch ohne sie auskommt! 43 Jochen Schumann: Grundzüge der mikroökonomischen Theorie. 6. Aufl., Berlin u. a. 1992, insbes. S. 133 ff., 405 ff. 44 Rudolf Richter/Eirik Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung. Tübingen 1996; Mathias Erlei/Martin Leschke/Dirk Sauerland: Neue Institutionenökonomik. Stuttgart 1999. 45 Richard M. Cyert/James G. March: A Behavioral Theory of the Firm. New Jersey 1963, 2. Aufl., Oxford 1992; Oliver E. Williamson: Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperationen. Tübingen 1990; Malcolm Dunn: Das Unternehmen als soziales System. Ein Beitrag zur Neuen Mikroökonomik. Berlin 1998.

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kostenlos funktioniert – eine Unterstellung, die die Neoklassik aus modelltheoretischen Gründen machte. Wenn aber die Nutzung des Marktmechanismus Kosten (Such-, Verhandlungs- und Kontrollkosten) verursacht, kann es unter bestimmten Umständen ökonomisch sinnvoll sein, so Ronald H. Coase, Transaktionen hierarchisch zu koordinieren, und zwar wenn die Kosten der Koordination über Märkte höher sind als die Kosten hierarchischer Koordination.46 Unternehmen sind damit nicht generell sinnvoll, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen und unter historisch wechselnden Umständen. Oliver E. Williamson hat diese Voraussetzungen und Umstände diskutiert und überzeugend gezeigt, dass die Wahl der Form Unternehmung wahrscheinlich ist, wenn hochspezifische Investitionen abgesichert und häufig wiederkehrende Transaktionen unter den Bedingungen parametrischer Unsicherheit ausgeführt werden sollen.47 Einmal gegründet (in Williamsons Worten also nach der fundamentalen Transformation), besteht das Problem der Unternehmung darin, hierarchische Koordination von Transaktionen dauerhaft unter dem relativen Preis der marktlichen Koordination zu halten. Der Blick ist damit auf die Realität des Unternehmens gelenkt.48 Die Frage ist: Was unterscheidet hierarchische von marktlicher Koordination, und welche ökonomischen Konsequenzen hat dieser Unterschied? Die Neue Institutionenökonomik ist sich hier einig: Es ist ganz offensichtlich ein anderes Vertragsverhältnis, das Transaktionen in Unternehmen bestimmt. Im Gegensatz zum Markt handelt es sich bei Unternehmen um mittel- bis langfristige Vertragsbindungen verschiedener Parteien, wobei diese Verträge eine hierarchische Weisungsbefugnis zur Koordination von Transaktionen begründen. Nicht mehr relative Preise, sondern vertraglich definierte Weisungsbefugnisse stimmen die Transaktionen ab. Die Höhe der Transaktionskosten hängt nicht mehr von den jeweiligen Kosten der Suche, der Verhandlung und der Vertragskontrolle gegenüber anderen Marktteilnehmern ab, mit denen getauscht oder gehandelt werden soll, sondern von den Kosten, das Weisungsrecht durchzusetzen und seine Befolgung sicherzustellen. Folglich steht im Mittelpunkt der Unternehmung (und ihres wirtschaftlichen Erfolges) die Erfüllung des Vertragsverhältnisses zwischen den an einer Unternehmung Beteiligten. In der Diskussion spielen zu dessen Erfassung zwei Figuren eine wesentliche Rolle, und zwar (1) das sog. Prinzipal-Agent-Problem, also das Verhältnis zwischen Weisungsbefugtem und Weisungsgebundenem, sowie hiervon ausgehend (2) das Problem des unvollständigen Vertrages. Ein Unternehmen konstituiert mit sich selbst zugleich ein Prinzipal46 Ronald H. Coase: The Firm, the Market and the Law. Chicago 1988. 47 Hier könnte man generell einfügen, dass Unternehmen eine historisch sich herausbildende Form der Herstellung von Sicherheit, also der Risikostrukturierung sind. Je riskanter eine wirtschaftliche Handlung, um so größer muss deren Absicherung ausfallen: Das Unternehmen ist genau diese Absicherung, insofern es sicherstellen soll, dass alle Beteiligten – unabhängig von ihren je persönlichen Motiven – jene Funktionen erfüllen, von denen man im vorhinein annimmt, ihre Nichterfüllung würde den Erfolg des Projektes gefährden. Zu diesen hier nicht weiter zu verfolgenden Perspektiven vgl. Dirk Baecker: Die Form des Unternehmens. Frankfurt a. M. 1999. 48 Die Argumentation im Folgenden nach Williamson, Institutionen (wie Anm. 45). Zusammenfassend auch Dunn, Unternehmen (wie Anm. 45).

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Agent-Verhältnis, wobei sich in der Regel die Weisungskompetenz umgekehrt proportional zur Informiertheit über die parametrischen Bedingungen des Weisungsgegenstandes entwickelt: Der Prinzipal hat zwar das Recht, den Agenten anzuweisen, doch fehlen ihm im Vergleich zum Agenten häufig die notwendigen Informationen, um exakte Weisungen zu geben und diese entsprechend zu kontrollieren. Das Vertragsverhältnis zwischen Prinzipal und Agent ist damit durch die Möglichkeit einer opportunistischen Ausnutzung der Informationsasymmetrie durch den Agenten49 gefährdet. Das Problem der konkreten Vertragsschließung besteht entsprechend darin, dass zur Verhinderung von Opportunismus die Vertragsklauseln strikt, zur Ermöglichung von angemessenem Agentenverhalten bei zukünftiger parametrischer Unsicherheit die Vertragsklauseln hingegen weit gefasst sein müssen. Der Vertrag kann also nur unvollständig sein. Dieses Dilemma, das wegen der grundsätzlichen Unmöglichkeit, Informationsasymmetrien vertraglich auszuschließen, unaufhebbar ist, bildet den Kern jeder Unternehmensorganisation. Eine erfolgreiche Unternehmung, so die Annahme der Neuen Institutionenökonomik, wird ein Regelwerk formeller und informeller Normative zur Ergänzung der unvollständigen Verträge und damit eine „Governance-Struktur“ entwickeln, die Kooperationsrenten ermöglicht, mit denen die Transaktionskosten sowohl gegenüber dem Markt als auch gegenüber Mitbewerbern niedrig gehalten werden können. Diese hier nur schematisch rekonstruierte Argumentation der Neuen Institutionenökonomik ist erheblich avancierter als die reine Modelltheorie der Neoklassik, teilt mit deren Grundannahmen (gebundene Rationalität, Ertragsoptimierung, Opportunismus) aber auch deren Schwächen. Denn die bereits von Joseph Alois Schumpeter50 festgestellte Problematik, dass sich ceteris paribus die Optimalkostenkonstellation generell durchsetzt, schließlich alle Unternehmen zu Grenzkosten produzieren und ein gleichgewichtiger Stillstand eintritt, ist auch durch die Argumentation der Neuen Institutionenökonomik nicht ausgeräumt. Streng genommen müssten sich auch nach ihr jene Unternehmen durchsetzen und unter Konkurrenzbedingungen alle anderen verdrängen, deren „Governance-Struktur“ die niedrigsten Transaktionskosten hat und die höchsten Kooperationsrenten ausweist. Die Unternehmenstheorie der Neuen Institutionenökonomik ist insofern eine Erweiterung der neoklassischen Unternehmensauffassung, durch die zwar die Existenz von Unternehmen und ein Teil ihrer internen Problematik geklärt werden kann, mit der aber gerade auf die Frage nach der Entwicklung des Unternehmens in der Zeit keine Antwort gegeben wird. Ähnlich wie die Neoklassik ist auch die Neue Institutionenökonomik statisch angelegt. Zusätzlich zu den Kosten der Produktionsfaktoren nimmt sie zwar auch die Kosten der Unternehmensorganisation auf, ändert an der Grundstruktur der Argumentation freilich nichts.51 49 Opportunismus, d. h. einseitige Ausnutzung von im Grunde nicht bestrittenen Regeln, ist eines der Grundaxiome der Neuen Institutionenökonomik, vgl. Williamson, Institutionen (wie Anm. 45). 50 Joseph A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus. 7. Aufl., Berlin 1987. 51 Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend Richard R. Nelson/Sidney G. Winter: Firm and Industry Response to Changed Market Conditions: An Evolutionary Approach, in: Economic

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Das Unternehmen selbst gerät so nur unzureichend in den Blick. Es wird entweder als „black box“ behandelt, das sich entsprechend der technischen und marktlichen Bedingungen sowie der Preisanreize eindeutig verhält; für die neoinstitutionalistische Theorie kommt es folgerichtig vor allem darauf an, den Zusammenhang von Anreiz und Reaktion durchzudeklinieren, wobei nun neben den relativen Preisen der Produktion auch die relativen Organisationskosten eine Rolle spielen. Oder die Neue Institutionenökonomik modelliert das Unternehmen intern schematisch über das Prinzipal-Agent-Verhältnis und den unvollständigen Vertrag, deren Verdichtung zur „Governance-Struktur“ man dann in der Regel einer ominösen „Unternehmenskultur“ überlässt, die ein Forschungsproblem unsichtbar macht, das man mit den gewählten Instrumenten nicht lösen kann. Das Unternehmen bleibt, um einen Begriff von Heinz von Foerster zu verwenden, in der Neuen Institutionenökonomik in jedem Fall eine „triviale Maschine“, in der bestimmte Anreizkonstellationen bestimmte Reaktionen hervorrufen, sei es bezogen auf das Marktverhalten, sei es bezogen auf die distributiven Auseinandersetzungen von Prinzipal und Agent.52 Bei der Benennung des Forschungsproblems der Unternehmensgeschichtsschreibung (Warum und wann bilden sich Unternehmen? Wie schaffen sie es, auf unübersichtlichen Märkten zu überleben?) ist daher die Neue Institutionenökonomik durchaus hilfreich. Sie erklärt, warum sich Unternehmen gegen den Markt und gegen Konkurrenten ausdifferenzieren: Unternehmen sind danach wirtschaftliche Organisationen, deren Existenz von ihrer Zahlungsfähigkeit53 abhängt. Diese Zahlungsfähigkeit ergibt sich unter anderem54 durch die Ausnutzung von Preisdifferenzen zwischen marktlicher und hierarchischer Koordination von Transaktionen in Form vertraglich festgelegter Weisungsrechte. Unternehmen sind dauerhafte Konstellationen unvollständiger Verträge zur Substitution marktlicher TransaktionskoInquiry 17 (1980), S. 179–202. Die Kritik am „statischen“ Ansatz der Neuen Institutionenökonomik jüngst noch bei S. R. H. Jones: Transaction Costs and the Theory of the Firm: The Scope and Limitations of the New Institutional Approach, in: Business History 39 (1997), S. 9–25. 52 Zum Begriff der „trivialen Maschine“ vgl. Heinz von Foerster: Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: Ders.: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hg. von Siegfried F. Schmidt. Frankfurt a. M. 1993, S. 233–268. 53 Unternehmensziele wie Profitstreben etc. gibt es nicht. Bei derartigen Motivzuschreibungen handelt es sich um Konstruktionen von Beobachtern, die komplexe Organisationen auf die (wie überhaupt feststellbaren?) Verhaltensmotive weniger Akteure zurückführen. Diese Konstruktionen sind im Medium der Öffentlichkeit wirksam; wissenschaftlich aber sind sie nicht als Analyseinstrument zu übernehmen, sondern bestenfalls als Phänomen des Gegenstandes zu berücksichtigen. Vgl. als negativen Beleg die gequälte Argumentation, mit der Dunn meint, auf dem Profit als Unternehmensziel bestehen zu sollen; Dunn, Unternehmen (wie Anm. 45), S. 39– 66. 54 Bessere Produkte oder bessere Produktionsverfahren sind selbstverständlich für den Unternehmenserfolg wesentlich, nur wird in der Gedankenführung hier Wert auf die Frage der Organisation und der in ihr ablaufenden Entscheidungen gelegt. Dies heißt nicht, dass die Bedeutung von Produkten und Produktionsverfahren unterschätzt wird, wozu die Neue Institutionenökonomik in der Tat gelegentlich neigt; vgl. Alfred Kieser: Erklären die Theorie der Verfügungsrechte und der Transaktionskostenansatz historischen Wandel von Institutionen?, in: Dietrich Budäus/Elmar Gerum/Gebhard Zimmermann (Hg.): Betriebswirtschaftslehre und Theorie der Verfügungsrechte. Wiesbaden 1988, S. 299–323.

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ordination durch Weisungsbeziehungen, so dass Unternehmensbildungen immer dann wahrscheinlich sind, wenn an sich wünschenswerte Transaktionen bei marktlicher Koordination zu teuer oder – in Erweiterung der Neuen Institutionenökonomik gesagt – zu riskant sind, also, um noch einmal auf Williamson zurückzugehen, bei hoher Investitionsspezifität, bei großer Häufigkeit identischer Transaktionen und bei parametrischer Unsicherheit. Man kann damit zugespitzt und über den Rahmen der Neuen Institutionenökonomik hinausgehend formulieren: Unternehmen sind Organisationen zur Risikostrukturierung, die an sich unwahrscheinliche ökonomische Transaktionen erst ermöglichen.55 Die unternehmenshistorisch entscheidende Frage, auf die die Neue Institutionenökonomik keine Antwort gibt, ist freilich diejenige nach dem Wie der dauerhaften Etablierung von Unternehmen gegen den Markt und gegen die Konkurrenz. Wie schafft es eine Unternehmensorganisation, dauerhaft eine zumindest die Existenz nicht gefährdende „Governance-Struktur“ zu realisieren? Wie schaffen es Unternehmen, der Optimalkostengleichgewichtsfalle zu entgehen, in der alle zu Grenzkosten produzieren, Kosten und Erlöse gleich sind und Stillstand eintritt? 4. Die Unternehmung als organisierte Entscheidungssequenz Schumpeter hat dieses Problem bekanntermaßen durch die Einführung des Unternehmers in die ökonomische Theorie zu lösen versucht. Der Unternehmer zerstört nach Schumpeter bestehende Gleichgewichte und schafft entwicklungsdynamische neue Ungleichgewichte, indem er neue Faktorkombinationen in der Produktion und – so könnte man institutionenökonomisch ergänzen – auch in der Organisation durchsetzt. Da aber auch die Innovationen sich verbreiten und damit erneut gleichgewichtiger Stillstand droht, ist es notwendig, dass der Unternehmer periodisch auftritt: Ein dynamischer Prozess von Aufbau und Zerstörung setzt ein, der zwar zum Gleichgewicht tendiert, vom Unternehmer aber daran gehindert wird, diesen Punkt je zu erreichen. Der Schumpetersche Gedanke ist zweifellos zentral; jedoch wird er in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung nicht ausgearbeitet, sondern durch Postulate ersetzt. Die Figur des Unternehmers, so wie ihn Schumpeter einführt, wird einfach als gegeben angenommen. Dass er als Typus immer vorkomme, ist ein schwaches Argument, zumal die einschlägigen Beschreibungen dieses Typs bei Schumpeter dann doch recht willkürlich wirken. Auch setzt sich Schumpeters Unternehmer mit seinen ja radikalen Vorstellungen neuer Faktorkombinationen stets 55 Damit ist auch die problematische Beschränkung der Neuen Institutionenökonomik auf das Problem der Höhe der Transaktionskosten aufgehoben, wodurch zwar die Existenz von Unternehmen, nicht aber deren Gründung selbst erklärt werden kann. Denn die Höhe hierarchischer Transaktionskosten ist erst nach der Gründung eines Unternehmens feststellbar. Dass der Risikogesichtspunkt auch historisch vorrangig war, zeigen ältere Arbeiten zur Gründung von Unternehmen und Versicherungen; vgl. Max Weber: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1988, S. 312–443; Adolf Schaube: Der Versicherungsgedanke in den Verträgen des Seeverkehrs vor der Entstehung des Versicherungswesens, in: Zeitschrift für Sozial- und Wirthschaftsgeschichte 2 (1894), S. 149–223.

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durch, obwohl man weiß, dass Entscheidungen in Organisationen anders fallen. Diese Überschätzung des Unternehmers mag mit den Beispielen großer Unternehmer zu tun haben, die Schumpeter um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor Augen standen.56 Aber letztlich bleibt die kapitalistische Entwicklung dem zufälligen Auftreten durchsetzungsfähiger, innovativer Unternehmertypen57 überlassen: eine unbefriedigende Erklärung.58 Unternehmenshistorisch ist aber gerade die entscheidende Frage, wie angesichts der stets gegebenen Bedrohung der Zahlungsfähigkeit59 Entscheidungen fallen. Denn die Figur des dynamischen Unternehmers kann man allgemeiner und damit produktiver zunächst in die Richtung wenden: Wie kommen in wirtschaftlichen Organisationen Entscheidungen zustande? Eine Antwort kann lauten: durch Unternehmer, eine andere: aufgrund komplexer Aushandlungsprozesse. Das sind vornehmlich empirische Fragen. Theoretisch geht es vor allem um das Begreiflichmachen von Entscheidungsprozessen in Unternehmen. Dabei ist zunächst nicht jede Entscheidung gleich. Man kann zwischen pfadschöpfenden und pfadabhängigen Entscheidungen unterscheiden: Eine Entscheidung zur Unternehmensgründung ist eine andere als die, in einem gegebenen Unternehmen vor dem Hintergrund erwarteter Marktentwicklungen eine Investitionsentscheidung zu treffen. Grob klassifiziert, können im Unternehmenskontext folgende Entscheidungen unterschieden werden: nämlich zunächst Gründungs- oder Pfadschöpfungsentscheidungen, sodann Investitions- und Produktionsentscheidungen, vor diesem Hintergrund Organisationsentscheidungen und hierauf bezogen schließlich Personalentscheidungen. Im Gründungsakt kann man sich diese Entscheidungsstruktur als konsekutive Kaskade vorstellen, d. h. die Gründungsentscheidung zieht Investitions- und Produktionsentscheidungen nach sich, die wiederum Organisationsentscheidungen erzwingen und schließlich Personalentscheidungen ermöglichen.60 In 56 Und auf die, möchte man ergänzen, sich auch seine sozialen Beschreibungen des Unternehmers beziehen. 57 Mark Casson hat versucht, die Frage des Unternehmers auszuarbeiten und sich mit dessen Herkunft, Qualifikation, Beziehungen und – modern gesprochen – Netzwerken befasst. So verdienstvoll derartige Überlegungen sind, so wenig tragen sie zur Aufklärung von Unternehmensgeschichten bei. Zumindest bedürfte die Figur des Unternehmers einer anderen, organisationstheoretischen Einbettung, um überhaupt in seiner evt. Bedeutung abschätzbar zu werden. Vgl. aus der Fülle ähnlicher Publikationen jetzt auf deutsch Mark Casson: Der Unternehmer. Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: GG 27 (2001), S. 524–544. 58 Auch eine österreichisch inspirierte Theorie der unternehmergesteuerten Firma bietet hier keinen wirklichen Ausweg. Zwar ist Sautet bei der Kritik an Klassik und Neoklassik zu folgen, auch sucht er den Unternehmer als Ungleichgewichtsschöpfer evolutorisch genauer zu fassen, doch muss er im Grunde an dessen grundsätzlicher Fähigkeit, ein Unternehmen zu steuern, festhalten. So reagiert der Unternehmer bei Sautet auf Größenwachstum und Informationsprobleme mit klugen strategischen Entscheidungen, die sich dann evolutionär bewähren. Das ist empirisch möglich, aber theoretisch nicht überzeugend, denn Sautet überfordert damit seinen Unternehmer und unterschätzt die Entscheidungskomplexität des Unternehmens; vgl. Frédéric E. Sautet: An Entrepreneurial Theory of the Firm. London/New York 2000. 59 Hierzu ausführlich Werner Plumpe: Die Unwahrscheinlichkeit des Jubiläums – oder: warum Unternehmen nur historisch erklärt werden können, in: JbWG 2003, S. 143–156. 60 Dass Produktionsentscheidungen immer auch Organisationsentscheidungen sind (vice versa)

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einem bestehenden Unternehmen, also in einer bestehenden Organisation erfolgen alle Entscheidungen rekursiv, d. h. alle vorherigen Entscheidungen gehen wiederum als Entscheidungsprämissen in die neuen Entscheidungen ein. Insofern sich das Unternehmen an seine früheren Entscheidungen erinnern kann (muss) und auch de facto erinnert, erfolgt diese Rekursivität explizit, wobei es freilich der konkreten Entscheidungssemantik überlassen bleibt, wie selektiv sie jeweils mit der „Erinnerung“ verfährt. Angesichts dieser Komplexität von Entscheidungsprozessen ist die Schumpetersche Vorstellung vom zerstörenden Unternehmer naiv. Das Unternehmen, das bei seiner Gründung also zur Erreichung eines Produktionszieles eine Organisation ausbildet,61 in der wiederum alle zukünftigen Entscheidungen fallen, ist mithin eine organisierte Entscheidungssequenz und muss als solche behandelt werden. Wie sind jetzt diese rekursiven Entscheidungsprozesse zu fassen? Eine Beantwortung dieser Frage ist noch kaum möglich. In der soziologischen Literatur62 gibt es wichtige Hinweise, aber für die unternehmenshistorische Arbeit müssen vorläufig die folgenden Thesen genügen: 1. Die Möglichkeit jetziger und weiterer Entscheidungen ist existentiell an die Aufrechterhaltung von Preisdifferenzen gekoppelt. Dieses Wissen um die ständige Bedrohtheit der Unternehmung geht als selbstproduzierte Gewissheit in die Entscheidungen ein, ohne dass allerdings Sicherheit darüber besteht, welche Entscheidung angesichts einer unverfügbaren Zukunft jene ist, die auch zukünftig erfolgreiche Entscheidungen ermöglicht. Hieraus ergibt sich das erste große Problem: Das Unternehmen muss intern Entscheidungssicherheit erzeugen, um angesichts der unbekannten Zukunft überhaupt entscheiden zu können. 2. Die Erzeugung von Entscheidungssicherheit selbst ist kein theoretisches, sondern ein historisches Problem. Man kann allerdings für Organisationen Einschränkungen machen. Zunächst wird überhaupt nur dann die Entscheidungsform „Organisation“ gewählt, wenn man berechenbare Wiederholbarkeit sicherstellen will. Dies wurde oben bereits angedeutet, als darauf verwiesen wurde, dass weisungsgebundene Koordination bei hoher Transaktionsfrequenz wahrscheinlicher wird. Organisation bedeutet, dass die Verfolgung des Unternehmensziels durch Karrierestrukturierung von Handlungsprozessen erreicht werden soll, d. h. die Stellenstruktur und ihre Beschreibung sorgen für die erwünschte Handlungsredundanz. Damit scheiden individuelle Handlungsmotive nicht aus, aber die Organisation unterstellt für sich selbst deren Irrelevanz: Die Stelle entscheidet und nicht die Laune! Sollte es trotzdem dazu kommen, dass anstelle von erwartetem und erwünschtem unerwartetes Verhalten auftritt, kann dies als eine falsche Personalentscheidung behandelt werden. Denn im Anschluss an die Organisationsentscheidungen, mit denen strukturelle Entscheidungssicherheit erzeugt werden soll, fallen die Personalentscheidungen, betont nachdrücklich Randall Bausor: Entrepreneurial Imagination, Information and the Evolution of the Firm, in: Richard W. England (Hg.): Evolutionary Concepts in Contemporary Economics. Ann Arbor 1994, S. 179–189. 61 Ebd. 62 Zentral vor allem Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000. Ferner Dirk Baecker: Organisation als System. Frankfurt a. M. 1999. Zur mikroökonomischen Perspektive Cyert/March, Behavioral Theory (wie Anm. 45), S. 52–135.

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die prozessuale Entscheidungssicherheit herbeiführen sollen. Fehler, d. h. das Feststellen von Unterschieden zwischen der gegenwärtigen Zukunft und der künftigen Gegenwart, können dann wiederum als Entscheidungsprobleme von Organisation und Personal behandelt werden. Damit ist sichergestellt, dass es sowohl gegenwärtig eindeutige Entscheidungsgrundlagen gibt, als auch, dass zukünftige Entscheidungen, bezogen auf die Gegenwart, möglich werden: ebendies erzeugt Entscheidungssicherheit unabhängig von den Bedingungen der jeweiligen Entscheidungssituation. 3. Sind Organisation und Personal insofern die Voraussetzungen dafür, dass überhaupt entschieden werden kann, also Entscheidungsprämissen im Luhmannschen Sinne, während die zuvor getroffenen Investitions- und Produktionsentscheidungen und ihre Folgen gemeinsam mit der Organisationsstruktur und der realen Personalkonfiguration den historischen Zustand beschreiben, von dem jeder neue Entscheidungsprozess auszugehen hat,63 so ist hiermit freilich der Entscheidungsprozess selbst nicht hinreichend erfasst. In ihn gehen sehr viel mehr situative Gesichtspunkte ein. Diese Gesichtspunkte sind freilich keine feststehenden Informationen, sondern sie können nur in und durch die Organisation aktiviert werden. Dieser hier nachdrücklich hervorzuhebende Punkt mag auf Unverständnis stoßen, muss aber betont werden: Unternehmensorganisationen haben keinen direkten Zugang zu ihrer (Markt-)Umwelt, sondern können nur das als entscheidungsrelevante Information verwenden, was organisationsintern entsprechend aufbereitet wird.64 Neben den Entscheidungsprämissen „Organisation“ und „Personal“ spielen daher die semantischen Apparate des Unternehmens, in denen Informationen aufbereitet, verarbeitet und in Entscheidungsprozesse eingespeist werden, eine entscheidende Rolle. Die Struktur dieser semantischen Apparate ergibt sich zunächst aus der formalen Organisation (Volkswirtschaftliche Abteilung, Rechnungswesen etc.), sodann aus den semantischen Traditionen (Statistikprogrammen, Rechnungslegungsvorschriften, Organigrammen, um nur einige Beispiele zu nennen), mit denen diese Apparate arbeiten und die sie tradieren, sowie aus der hierdurch abgespeicherten „Erinnerung“ des Unternehmens.65 Die semantischen Apparate stellen also im Rahmen von „Organisation“ und „Personal“ die entscheidungsrelevanten Informationen zur Ver63 Genau das wird in der mikroökonomischen Literatur mit Pfadabhängigkeit bezeichnet. In der Literatur wird leider darauf verzichtet hervorzuheben, dass Pfadabhängigkeit nur begrenzt eine objektive Größe, sondern vor allem eine spezifische Erinnerungsleistung des Unternehmens ist, indem der gegebene historische Zustand in der Kommunikation als Folge der erinnerten Entscheidungen hingestellt wird. 64 Bausor, Imagination (wie Anm. 60), der ebenfalls betont, dass Unternehmen Informationsapparate sind. 65 Was nicht als erinnerungsfähiges Datum erhoben und archiviert wurde, kann nur über das Gedächtnis von Personen reaktiviert werden. Das ist nicht unproblematisch, verleiht aber manchen Personen mit gutem Gedächtnis eine höhere kommunikative Präsenz. Das „Gedächtnis“ des Unternehmens selbst ist aber vor allem papieren (und heute vielleicht schon elektronisch): Dort liegen nach (kontingenten) Regeln erstellte Daten, deren Wiedereinspeisung als Erinnerung in laufende Kommunikationen weiterer Schritte bedarf. Die Erinnerung ist mithin nichts gegeben Feststehendes, sondern ein Teil kommunikativen Entscheidens!

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fügung oder zumindest jene Informationen, auf die man sich beziehen muss, wenn Argumente im Rahmen der Entscheidungsprozesse Geltung beanspruchen wollen. 4. Vor dem Hintergrund von „Organisation“, „Personal“ und „semantischen Apparaten“ kommt es in Entscheidungsprozessen aber letztlich auf die situative Verdichtung der aktuell aufbereiteten Informationen mit den „erinnerten“ Entscheidungssequenzen an. Die Organisation entscheidet, auf welcher Ebene jeweils verbindlich entschieden wird, das Personal, wem entsprechend die Entscheidung zuzurechnen ist, die semantischen Apparate, welche Informationen wie in die Entscheidung einbezogen werden, und der konkrete Entscheidungsprozess schließlich über die Aktivierung semantischer Traditionen oder genauer: von Programmen, mit denen so aufbereitete Entscheidungssituationen dann gelöst werden können. 5. Das Unternehmen kann Entscheidungen nicht ausweichen; es besteht aus ihnen! Zwar sind nicht alle Entscheidungen gleich bedeutend; auch gibt es Routinen und Redundanzen, die nicht stets neu debattiert werden müssen. Aber wenn das Unternehmen nicht entscheidet, existiert es nicht. Daher müssen Unternehmen sich selbst stets zu Entscheidungen aufstacheln, indem sie intern die Zukunft als nur durch eigene Entscheidungen bewältigbar beschreiben. Dieser selbsterzeugte Problemdruck und seine Struktur sind das eigentliche Geheimnis von Unternehmensorganisationen. Hört ein Unternehmen auf, sich selbst unter Druck zu setzen, ist sein Überleben unwahrscheinlich, auf jeden Fall vom Zufall abhängig. Es sind also Organisationserhaltungszwänge, die die zerstörerische und zugleich schöpferische Kraft im Unternehmen darstellen und die sich materiell auf die genannten Entscheidungsebenen (Investition, Produktion, Organisation, Personal) beziehen müssen. Um dies zu begreifen, benötigt man mithin nicht irgendeine „Person“, der man den Problemdruck und die Problemlösung dann ursächlich zuschreibt, nämlich den Unternehmer, nur um danach vor dem neuen Problem zu stehen, den Unternehmer erklären zu müssen. 6. Zur Herstellung von Entscheidungssicherheit, dies wurde betont, benutzen Unternehmen neben Organisation und Personal auch semantische Traditionen. Zu den erfolgreichsten und folgenreichsten dieser Traditionen gehört die Fiktion der Steuerbarkeit von Unternehmen durch ihre organisatorische Spitze, auch wenn klar ist, dass die rekursiven Entscheidungsprozesse komplex sind und Ursächlichkeit nicht als reales Phänomen, sondern nur als Konstrukt eines Beobachters vorkommen kann.66 Die hier vorgelegte Argumentation ermöglicht nun, mit dieser Fiktion 66 Überhaupt sind unsere Vorstellungen des Unternehmens wesentlich durch eine semantische Tradition bestimmt, in der Unternehmensentwicklungen jeweils ursächlich einzelnen Personen zugerechnet wurden. Dies hat etwas mit unseren narrativen Regeln zu tun, nach denen wir verständig nur erzählen können, wenn wir personalisieren. Die Personalisierung kommt zudem unserer Neigung zur „Moralisierung“ von Entwicklungen entgegen, d. h. Geschichten müssen nicht nur von Personen handeln, sondern stets auch eine moralische Bilanz besitzen. Vgl. Karl Markus Michel: Unser Alltag: Nachruf zu Lebenszeiten, in: Kursbuch 41 (1975), S. 1–40. Eine Betrachtung der bisherigen Unternehmensgeschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt der darin verwendeten narrativen Regeln und der Plot-Strukturen (Hayden White): das wäre eine lohnenswerte Arbeit. Wie lohnenswert, zeigt der knappe Essay von Hegele und Kieser zu den Texten über Welch: Hegele/Kieser, Control (wie Anm. 2).

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produktiv umzugehen. Hatte die ältere Unternehmensgeschichtsschreibung diese Fiktion ernst genommen und zur Erklärung herangezogen, wenngleich auch jeweils unterschiedlich moralisch gewertet, so kann man in diesem Entwurf die Handlungsfiktion als notwendig und fiktiv zugleich behandeln: notwendig, da sie zur Schaffung von Entscheidungssicherheit wesentlich beiträgt; fiktiv, weil ihr keine reale Steuerungsleistung entspricht. Diese Fiktion verdeckt mithin das grundlegende Entscheidungsparadox in der Organisation.67 Unternehmensgeschichtsschreibung sollte um dieses Paradox wissen, es aber nicht duplizieren. Die bisherige Unternehmensgeschichtsschreibung hat dies leider viel zu oft getan, und zwar – dies sei erneut betont – in allen ihren Varianten. Hiervon ist Abschied zu nehmen, wenn wir ein differenzierteres Verständnis der wirtschaftlichen Organisation „Unternehmen“ gewinnen wollen. Wenn es darum geht, wirtschaftliche Organisation und ihre Entwicklung in der Zeit zu beschreiben, müssen wir uns von der Vorstellung, das Unternehmen sei eine „triviale Maschine“, in der profitorientierte Unternehmer externe Handlungsanreize in interne Entscheidungen transformieren, die es dann ermöglichen, zukünftig Gewinn zu erzielen, ebenso verabschieden wie von der populären Vorstellung, dass Unternehmer durch Druck auf die Politik erreichen könnten, was ihnen allein auf den Märkten nicht gelinge: nämlich höchstmöglichen Profit zu erzielen. Diese Perspektive hat das Unternehmen nicht wirklich ernst genommen, sondern Außenbeziehungen konstruiert, durch die dann auf interne Prozesse zurückgeschlossen wurde. Die Unternehmensgeschichtsschreibung aber sollte sich zumindest in ihrem konzeptionellen Kern zunächst auf die Binnenperspektive der Organisation konzentrieren, bevor sie deren „Außenbeziehungen“ bearbeitet. Im Foersterschen Sinne ist ein Unternehmen eine „nichttriviale Maschine“, d. h. die Anzahl innerer Verknüpfungsmöglichkeiten (Entscheidungsprozesse, Entscheidungen) übersteigt die maximal mögliche Menge wahrgenommener externer Reize um ein Vielfaches. Wie aus intern aufbereiteten Umweltreizen Entscheidungsprozesse und Entscheidungen werden, kann nur eine genaue Analyse der organisationsinternen Entscheidungsprozesse im obigen Sinne klären. Erst dann, dann aber mit besonders großem Ertrag, lohnt es sich, die Außenbeziehungen des Unternehmens in den Blick zu nehmen. Daraus folgt, dass es zwar keinen Königsweg für die Unternehmensgeschichte gibt, sondern jede Perspektive ihr eigenes Recht hat. Betrachtet man Unternehmen jedoch als komplexe wirtschaftliche Organisationen, wird man nicht umhin können, sie auch als solche ernst zu nehmen. 5. Perspektiven Unternehmen sind Organisationen, die ihre Zahlungsfähigkeit unter Unsicherheit durch rekursive Entscheidungen sichern müssen. Ihre Schwierigkeit ist, dass sie in der Gegenwart Entscheidungen treffen müssen, von denen ihre Zukunft beeinflusst wird, ohne dass sie diese Zukunft kennen können. Gegen dieses Risiko sichern sich 67 Ausführlich Luhmann, Organisation (wie Anm. 62), S. 123–151.

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Unternehmen, in dem sie Entscheidungsprozesse formal strukturieren, Informationsverarbeitungsregeln festlegen und Personen „verantwortlich“ machen. Ziel ist es, Entscheidungsredundanz unter Absehung von persönlichen Motiven zu ermöglichen. Aus den unternehmensintern organisierten Entscheidungen entstehen im Laufe der Zeit erinnerungsfähige Entscheidungssequenzen, die man als Pfadabhängigkeit unter gegenwärtigen Gesichtspunkten zum Thema machen kann, im Guten wie im Schlechten. Es gehört zu den zentralen Punkten der Ermöglichung interner Entscheidungsfähigkeit, die Pfadabhängigkeit in ihrer Kontingenz, also als Folge von Entscheidungen, die auch hätten anders fallen können, verfügbar zu halten. Indem auf diese Weise die Vergangenheit nicht als schlicht passiert wahrgenommen, sondern als durch kontingente Entscheidungen geprägt gesehen wird, eröffnet sich Entscheidungsraum (und Entscheidungszwang) für die Zukunft. Im Kern der Entscheidungsprozesse befinden sich mithin semantische Apparate der Bereitstellung von Informationen und Interpretationen sowie Entscheidungssemantiken, in die einerseits aktualisierte frühere Entscheidungen, gegenwärtige Informationen, Entscheidungsprämissen und Entscheidungsprogramme eingehen. Die Entscheidungen stehen andererseits stets unter dem Druck, zukünftige Entscheidungen ermöglichen zu müssen, ohne sie ermöglichen zu können: ein Paradox, das aber im Unternehmensalltag unsichtbar gemacht werden muss, da ansonsten Entscheidungsunfähigkeit droht. Die Funktion des Invisibilisierers übernimmt dabei die dominante Führungssemantik, die unterstellt, Führung sei sinnvoll, möglich und – recht genutzt – erfolgreich, womit zugleich auch das Problem versagender Führung als das Problem versagender Führer behandelt und die zugrundeliegende Entscheidungsparadoxie unsichtbar gehalten werden kann. Diese Entscheidungsparadoxie gilt für alle Organisationen, die keine trivialen Maschinen im Foersterschen Sinne sind; in Unternehmen gilt sie verschärft, da die zukünftige Entscheidungsfähigkeit nicht allein kommunikativ sichergestellt werden kann, sondern davon abhängt, dass das konkrete Unternehmen Zahlungszuflüsse sicherstellt, die zumindest seine Zahlungsabflüsse ausgleichen. Genau dies kann es intern nicht sicherstellen, aber diese Handlungsunsicherheit auch nicht durch externes Handeln kompensieren. Dass Unternehmen überleben, ist mithin in hohem Grade unwahrscheinlich. Dass es trotzdem dazu kommt: dieses Rätsel aufzuklären, ist Aufgabe der Unternehmensgeschichtsschreibung, und zwar in einem strikt empirischen Sinn, der sich freilich erst auf der Basis der theoretischen Perspektive eröffnet. Was bedeutet diese Überlegung praktisch? In einem ersten Schritt wäre es begrüßenswert, wenn die Unternehmensgeschichtsschreibung ihre Vorliebe für voreilige theoretische Figuren aufgäbe (Theorien mittlerer Reichweite wie „Organisierter Kapitalismus“, Rolle des schöpferischen Unternehmers, Größenwachstum, Bürokratie etc.), die im Kern zwischen Theorie und Empirie gar nicht mehr unterscheiden können. All die mit diesen Theorien bezeichneten Phänomene mögen in bestimmten historischen Kontexten von Bedeutung sein, sind jedoch empirischer und nicht theoretischer Natur. Die hier vorgestellte Unternehmenstheorie ist hingegen hochformal und hochabstrakt; sie strukturiert nicht die Empirie vor, wie es Theorien prätendieren, die der Wirklichkeit nahekommen sollen, sondern konstituiert eine Beobachtungsperspektive, die den empirischen Gegenstand auf spezifische

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Weise transparent machen kann. Diese Perspektive ist auch in keiner Weise einseitig etwa auf die vielbeachteten Großunternehmen ausgerichtet, sondern bewusst für alle Formen organisierten Wirtschaftens offen. Sie verlangt – für Historiker normalerweise eine katastrophale Forderung – nach entsprechenden Quellen, will aber vor allem eine neue Lesart der Quellen begründen, die nicht mehr vorrangig durch ein bestimmtes, theoretisch unterstelltes Kausalverhältnis (Ursache – Wirkung) beschränkt ist, sondern sich der Zirkularität von Entscheidungsprozessen und der gleichzeitigen, durch die historische Entscheidungssituation zwar eingeschränkten, aber grundsätzlich gegebenen Offenheit organisatorischer Entwicklung (Pfadabhängigkeit/Pfadschöpfung) stets bewusst bleibt.68 In den Vordergrund stellt sie die Entscheidungsprozesse und die sie ermöglichenden und erzwingenden Voraussetzungen (Organisation, Personal, Information, Unternehmensgedächtnis). Damit kann die Unternehmensgeschichtsschreibung auch die eigentlich unnütze Trennung von Struktur- und Kulturgeschichte überschreiten, indem sie Strukturen als historische Ausgangspunkte kontingenter Entscheidungsprozesse begreift und damit die scheinbar konkurrierenden Perspektiven vereinigt. Ein derartiger Perspektivenwechsel verlangt eine Neu- bzw. erstmalige Thematisierung der Innenwelt des Unternehmens in struktureller und semantischer Hinsicht. Trotz aller großen Verdienste der bisherigen Unternehmensgeschichtsschreibung wissen wir hierüber bei manchem Großunternehmen ein wenig, bei der Masse der mittleren und kleinen Unternehmen kaum etwas. Entwicklung und Wandel von Organisationsstrukturen (als Folge und Ergebnis von Entscheidungsprozessen) sind für das 20. Jahrhundert im deutschen Fall kaum erforscht; der Zusammenhang von Karriere, Stellenstruktur und Unternehmensfunktionen nicht einmal thematisiert. Im Personalbereich geht die „Elitenforschung“ derzeit eher vom Unternehmen weg und widmet sich ihrem ausgelaugten Lieblingsthema: der ungleichen sozialen Rekrutierung von Leitungspersonen, ohne auch nur zu fragen, nach welchen Kriterien in Unternehmen Stellenstrukturen sich entwickeln und Personalentscheidungen fallen.69 Schließlich sind die semantischen Apparate (Informationsaufbereitung und -weitergabe, Unternehmensgedächtnis), insbesondere der zentrale Informationsapparat des Rechnungswesens, nicht einmal ansatzweise erforscht. Welche Informationen ein Unternehmen also bei seinen Entscheidungen zur Verfügung hat, wie und in welcher Weise darauf zurückgegriffen werden kann, muss als völlig offen 68 Dies in Anlehnung an Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 1. Frankfurt a. M. 1997, S. 569–575. 69 Vor allem Michael Hartmann: Topmanager: die Rekrutierung einer Elite. Frankfurt a. M. 1996. Siehe auch, freilich viel differenzierter, Dieter Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer: die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Göttingen 2000. Einige vielversprechende Ansätze etwa zur Untersuchung interner Arbeitsmärkte gibt es; vgl. Howard Gospel: Markets, Firms and the Management of Labour in Modern Britain. Cambridge 1992. Aber über sich wandelnde Qualifikationsanforderungen des Managements im 20. Jahrhundert gibt es keine historischen Arbeiten, von den notorischen Behauptungen, angesichts ihres kulturellen Kapitals sei alles ohnehin nicht so wichtig, einmal abgesehen. Ein Ansatz jetzt bei Wilhelm Bartmann/ Werner Plumpe: Gebrochene Kontinuitäten? Anmerkungen zu den Vorständen der I.G.-Farben-Nachfolgegesellschaften 1952–1990, in: Dieter Ziegler/Stefan Unger (Hg.): Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Essen 2003, S. 153–186.

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gelten. Bestenfalls der gesunde Menschenverstand und einige informationstheoretische Überlegungen geben hier Hinweise, die aber eine historische Analyse nicht ersetzen können. Kurz: Das Unternehmen ist eigentlich immer noch die „black box“ der Geschichtsschreibung. Eine Änderung dieses unbefriedigenden Zustandes ist in hohem Maße erstrebenswert. Der entscheidende Fokus der Forschung sollte dabei auf der Untersuchung des kontingenten Zusammenhanges jener strukturellen Bedingungen und semantischen Variationen liegen, die gemeinsam die Entscheidungsprozesse des Unternehmens ermöglichen und damit seine Entwicklung antreiben. Dieser Aufgabe, das Unternehmen selbst als Forschungsgegenstand theoretisch aufzubereiten und empirisch in der Singularität seiner Entwicklung zu zeigen,70 hat sich die deutsche Unternehmensgeschichtsschreibung noch zu wenig gestellt; einen Versuch wäre es allemal wert.

70 Das Verhältnis von theoretischem Ansatz und empirischer Forschung wird hier nicht so verstanden, als schreibe die Theorie der Realität gleichsam ihre Regeln vor. Grundannahme ist vielmehr, dass die Theorie Beobachtungsperspektiven konstituiert, mit denen über eine unverfügbare und einmalige historische Entwicklung berichtet werden kann, die, da sie nicht selbstexplikativ ist, der strukturierten Erzählung bedarf. Siehe Hermann Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie. Stuttgart 1977.

II. Forschungskreise: Kooperationen und Einflüsse

Rolf Walter DIE METAPHYSIK DES „BINDESTRICHS“. WAS HÄLT DIE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE ZUSAMMEN? Vorbemerkung Im Folgenden soll es darum gehen, die innere Gemeinsamkeit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu beleuchten. Sie ist, wie Wolfgang Zorn betonte, „teils im Zusammenhang von Geist und Natur im Menschenleben begründet, teils in Gestaltwerdung in „Strukturen“ und langfristigen Wandlungsvorgängen eines sozialen Systems.“1 In diesem Spannungsfeld von historisch kurzzeitiger, individueller Ereignisgeschichte und langfristiger Strukturgeschichte bewegt sich die „Bindestrichdisziplin“. Wer jemals über Themen wie die Einkommensverteilung, die Geschichte der Unternehmer, der mittelalterlichen Stadt, der Entdeckungen, der Zünfte, der Inflation oder über andere amalgamierte Themen einen wissenschaftlichen Beitrag zu schreiben hatte, wird kaum an der Berechtigung des Bindestrichs zweifeln. Es gibt offensichtlich Themen, die ohne die Berücksichtigung sowohl der sozialhistorischen als auch der wirtschaftshistorischen Komponente gar nicht zu erfassen sind.2 So ist ein erstes Amalgam identifiziert: die zu untersuchende Thematik. Bestimmte Themen haben eine höhere Affinität zum „Bindestrich“ als andere. So hat z. B. die Handelsgeschichte aufgrund ihrer prinzipiellen Vielgestaltigkeit, Akteursbezogenheit und Kulturgebundenheit eine starke Bindung sowohl zur Wirtschafts- als auch zur Sozialgeschichte. Mag sein, dass Handelshistoriker von daher generell stärker geneigt sind, den Zusammenhalt der beiden in Frage stehenden Komponenten zu betonen. Sähe man die wirtschaftliche Entwicklung als solche des Verhältnisses von Rationalität und Irrationalität und ginge von einem Mehr an Rationalität aus, je mehr 1 2

Wolfgang Zorn: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Probleme und Methoden. 2. Aufl., München 1974, S. 9. Zur Sozialgeschichte und zur einschlägigen Spezialliteratur sei grundsätzlich verwiesen auf das Werk von Jürgen Kocka (Hg.): Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Darmstadt 1989, insbesondere Kockas Einleitung und Gerhard A. Ritters Ausführungen zur neueren Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland (S. 19 ff.); ferner auf Hermann Kellenbenz: Probleme einer deutschen Sozialgeschichte der neueren Zeit. Nürnberg 1960; für das 19. und 20. Jahrhundert: E. Gruner: Vom Standort und den Aufgaben der Sozialgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 145–163; zur Wirtschaftsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin immer noch anregend: Hermann Kellenbenz: Wirtschaftsgeschichte (1) Grundlegung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 12. Stuttgart/ Tübingen/Göttingen 1965, S. 124 ff., und Christoph Buchheim: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte. München 1997, S. 7 ff. Zusammenfassend: Günther Schulz: Die neuere deutsche Wirtschaftsgeschichte: Themen – Kontroversen – Erträge der Forschung, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, 1. Teilband: Wirtschaft. Stuttgart 1995, S. 400– 425.

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sich die Geschichte der Gegenwart nähert, so gälte umgekehrt: je weiter man zurückginge, desto größer wäre der Grad der Irrationalität und wäre mit Elementen außerökonomischer Art zu rechnen, mithin die Wirtschafts- von der Sozialgeschichte noch weniger zu trennen. Zu diesen Elementen gehören nach Max Weber „magische und religiöse Momente – das Streben nach Heilsgütern; politische – das Streben nach Macht; ständische Interessen – das Streben nach Ehre.“3 Gleichwohl ist die Korrelation der Sozialgeschichte mit dem mehr Irrationalen und die der Wirtschaftsgeschichte mit dem Rationalen ebenso fragwürdig wie die Annahme, der Grad an Rationalität habe im Verlauf der Geschichte zugenommen. Ein weiteres Bindungselement wird demjenigen unmittelbar augenfällig, der die Geschichte der Entstehung, Institutionalisierung, Organisation bzw. Etablierung der Disziplin in der deutschen Universitätslandschaft näher betrachtet.4 Wirtschaft und Gesellschaft zu erforschen, haben Historiker nicht immer als ihre Aufgabe angesehen. Die beiden in Frage stehenden Teildisziplinen haben sich in einer Zeit entwickelt und die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung nachgewiesen, „in der die Bedeutung der Wirtschaft für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft so hoch eingeschätzt wurde, daß man bis zur Diskussion um die Frage ,Primat der Wirtschaft oder Primat der Politik‘ gehen konnte. […] Aus der großen Staatengeschichte hervorgegangen, wuchsen die Wirtschafts- und die Sozialgeschichte um so schneller zur Eigenständigkeit heran, je mehr der Mensch […] den starken Einfluß der Wirtschaft auf seine Existenz und deren Gebundenheit in große soziale Kräfte und Bewegungen erkannte.“5 Viele der später eingerichteten Lehrstühle und Professuren umfassten das Fach in seiner „Bindestrichform“. Was erst einmal in Strukturplänen, Prüfungs- und Studienordnungen sowie in Studienablaufplänen verankert ist, besitzt – zumal in deutschen Wissenschaftsbürokratien – zähe Nachhaltigkeit. Insofern besteht ein zweites Amalgam in dieser historischen Bedingtheit, Etabliertheit oder „Pfadabhängigkeit“ des Faches in seiner „Bindestrichversion“, die es jeder anderen Form schwer macht, sie abzulösen. Ähnliches gilt für das Schrifttum. Mit der Öffnung der allgemeinen und politischen Geschichtswissenschaft um die vorletzte Jahrhundertwende und der breiten Diskussion über die Relevanz des Wirtschaftlichen und Sozialen im Gesellschaftsprozess kam es zur Gründung einer Reihe von Zeitschriften, die die aktuellen Themen aufnahmen. Zu ihnen gehört die VSWG, die sich durchsetzte und für das Fach 3 4

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Max Weber: Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschafts-Geschichte, aus den nachgelassenen Vorlesungen, hg. von S. Hellmann und M. Palyi. München/Leipzig 1923, S. 15 (Hervorhebung im Original hier nicht berücksichtigt). Hierzu existieren eine Reihe zusammenfassender und richtungsweisender Artikel, z. B.: Knut Borchardt: Wirtschaftsgeschichte: Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblümchen oder nichts von dem?, in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag (VSWG, Beiheft 84). Stuttgart 1987, S. 17–31, und Wolfgang Zorn: Das Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte im letzten halben Jahrhundert, in: Ingomar Bog (Hg.): Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saekularen Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel, Band 1. Hannover 1975, S. 11–22. Wilhelm Treue: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Im Zeitalter der Industriellen Revolution 1700 bis 1960. Stuttgart 1962, S. XII.

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zum „Markenzeichen“ wurde. Die Tatsache, dass der Bindestrich in dem erfolgreichen Markenzeichen festgeschrieben wurde, ist eines der vielen konservierenden Elemente, die wir bei der Betrachtung über die Beständigkeit des Amalgams zu berücksichtigen haben, auch wenn es nur die Feststellung eines Zustands und keine inhaltliche Begründung ist. Nicht wenige Wirtschafts- und Sozialhistoriker – und in jüngerer Zeit wurden es mehr – bestreiten zwar nicht den inhaltlichen Zusammenhang, plädieren gleichwohl aber für eine fachlich-institutionelle Trennung im Sinne einer Spezialisierung. Auch diese Auffassung ist nicht neu. Als einer von vielen brachte sie Clemens Bauer einmal auf folgenden Punkt: „Unbestreitbar besitzen Wirtschafts- und Sozialgeschichte einen hohen Grad von Komplementarität bzw. sind in wesentlichen Dingen aufeinander angewiesen, aber sie sind doch zwei selbständige Disziplinen des historischen Zweiges der Sozialwissenschaften.“6 Auf die oft gestellte Frage der Über- oder Unterordnungsverhältnisse lasse ich mich nicht ein, da sie vom Untersuchungsgegenstand abhängt. Sie ist also nicht objektivierbar und damit keiner Operationalisierung zugänglich. Vor Jahren schrieb Wolfram Fischer, der die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte der letzten Jahrzehnte wesentlich mitgeprägt hat, in einem programmatischen Aufsatz: „Man kann lange darüber philosophieren, ob Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ein oder zwei Disziplinen oder Subdisziplinen sind oder gar welche die fundamentalere oder übergeordnete sei. Alles dies führt zu nichts.“7 Dieser Auffassung kann man sich anschließen. Fischer empfahl, sich an den englischen Pragmatismus zu halten und nicht lange nach der Zulässigkeit oder Abgrenzung von Arbeitsfeldern zu fragen, sondern sich durch die Fragen, die man stelle, und die Antworten, die man suche, von anderen Historikern zu unterscheiden. Dies ist nicht die schlechteste Empfehlung, die man geben kann. Da das „Bindestrichfach“ nicht von heute auf morgen entstand, weniger etwas Revolutionäres als vielmehr organisch Gewachsenes darstellt, erscheint es interessant, die Vorgeschichte etwas auszuleuchten, dann einige Fragestellungen und Fragesteller unter die Lupe zu nehmen, um so schließlich zu aktuellen Forschungen zu kommen und einige abschließende Bemerkungen zu machen. Zum zeitgenössischen geistigen Kontext der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Die Entstehung der Doppeldisziplin ist ohne den zeitgenössischen dogmenhistorischen Kontext nicht zu denken. Im 19. Jahrhundert war es in der Nationalökonomie Usus, sich mit den Wurzeln (moral-)philosophischen Denkens, historischen Bedingungskonstellationen und der „Staatskunst“ intensiv auseinander zusetzen. Zu den 6 7

Clemens Bauer: Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Staatslexikon, Band 8. 6. Aufl., Freiburg 1963, Sp. 838–847. Wolfram Fischer: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Wirtschafts- und Sozialgeschichte?, in: Heinz Maier-Leibnitz (Hg.): Zeugen des Wissens. Mainz 1986, S. 633–668, hier 653.

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Vorläufern der „Historischen Schule der Nationalökonomie“ gehörten originelle Denker wie Adam Müller (1779–1829) und Friedrich List. Sein besonderes Augenmerk im Hauptwerk „Das nationale System der politischen Ökonomie“ (1841) galt den „produktiven Kräften“, die zum Reichtum führten und seiner Auffassung nach bedeutsamer waren als der Reichtum selbst. Bemerkenswert früh trat bei List ein Aspekt in Erscheinung, der gegenwärtig wieder stark diskutiert wird: das Humankapital.8 Außerdem betonte List neben der Bedeutung des Individuums, das ja durch die „Klassiker“ besondere Hervorhebung erfuhr, die Wichtigkeit gesellschaftlicher und sozialer Gruppen für das wirtschaftliche Ganze und zeigte somit einen Weg der Wirtschaftswissenschaft hin zur politischen und Sozialwissenschaft. Die sog. „Ältere Historische Schule der Nationalökonomie“, insbesondere einer ihrer Begründer Wilhelm Roscher (1817–1894), setzte sich mit der „Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Volkswirtschaft“ auseinander, betonte also mehr die strukturhistorische Komponente. In diesem Zusammenhang nahm er Lists Stufenlehre auf und untersuchte die Bedeutung der einzelnen Produktionsfaktoren („Natur“, Kapital, Arbeit) für die Genese der Volkswirtschaft.9 Der zweite bedeutende Vertreter der „Älteren Historischen Schule“, Bruno Hildebrand (1812–1886), orientierte sich nicht weiter an der klassischen Theorie mit ihrer vernunftbetonten Weltläufigkeit, sondern arbeitete stärker „realitätsbezogen“ und versuchte, damals brennende Gegenwartsfragen theoretisch zu durchleuchten und statistisch zu belegen bzw. zu widerlegen. Mit den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“ begründete er 1863 überdies ein publizistisches Forum, in das später immer wieder auch wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge Eingang fanden.10 Das Werk der „Jüngeren Historischen Schule“, zu der neben Gustav von Schmoller vor allem Karl Bücher, Lujo Brentano, Adolf Held, Georg Friedrich Knapp, Johannes Ernst Conrad und Heinrich Herkner zu zählen sind, fand Kontinuität in Schmollers Schülern, unter denen Werner Sombart wohl der bedeutendste war. Darauf wird zurückzukommen sein. Karl Knies (1821–1878) gelang der entscheidende Brückenschlag von der „Älteren“ zur „Jüngeren Historischen Schule“, indem er die „Entwicklungsgesetze“ als Analogien entlarvte und bemerkte, dass es eine völlige Gleichheit von Kausalitäten nicht gebe.11 Demzufolge kann auch keine „historische“ Gesetzmäßigkeit existieren. Vielmehr ging die „Jüngere Historische Schule“ davon aus, dass die Kenntnis der historischen Realität dem Begreifen wirtschaftlicher Zusammenhänge vorausgehen müsse. Man kann durchaus auch heute die Auffassung vertreten, die Rekonstruktion der historischen Realität sei eine eigene, dritte Methode neben der „reinen“ Theorie und der Ökonometrie. 8

Zur ökonomischen Bedeutung des „geistige(n) Capital(s) der lebenden Menschheit“: Friedrich List: Das nationale System der politischen Oekonomie, Erster Band: Der internationale Handel, die Handelspolitik und der deutsche Zollverein. 2. Aufl., Stuttgart/Tübingen 1842, S. 210. 9 Wilhelm Roscher: System der Volkswirtschaft. 5 Bände. Stuttgart 1854–1894. 10 Vgl. Friedrich Lütge: Zum 100. Geburtstag der „Jahrbücher“, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 175 (1963), S. 1 ff. 11 Karl Knies: Die politische Ökonomie vom geschichtlichen Standpuncte. 2. Aufl., Braunschweig 1883.

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Schmollers Bedeutung gründete sich nicht nur auf sein akribisches und umfassendes wissenschaftliches Werk zu Kameralismus, Gewerbewesen, Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Demographie und Statistik, sondern auch auf sein organisatorisches und politisches Wirken im Brennpunkt intellektueller Auseinandersetzungen des kaiserlichen Deutschland. Er war nicht nur Mitbegründer des bedeutenden „Vereins für Socialpolitik“ (1872), sondern auch Mitglied des preußischen Staatsrats. Schmoller hielt, wie kein Nationalökonom vor ihm, an der gründlichen historischen, enorm materialreichen Bestandsaufnahme und einer über diese gewonnenen Realitätsnähe fest, bevor daraus Verallgemeinerungen formuliert wurden. Er trat, wie es Joseph Alois Schumpeter einmal ausdrückte, mit einer „Minimalbelastung an Apriori“ an seinen Untersuchungsgegenstand heran, und dies unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aller relevanten Nachbar- oder Hilfswissenschaften, zu denen bei Schmoller besonders auch die Psychologie gehörte. Die wesensmäßige Auffassung von der Sozialwissenschaft wich dann zunehmend einer strukturalistischen. Strukturbegriffe wie Mechanismus (Analogie zur Physik), Organismus (Analogie zur Biologie), Ganzheit und Prozess prägten die sozialwissenschaftliche Diskussion, bevor man sich verstärkt methodischen Fragestellungen zuwandte, die im bekannten „Methodenstreit“ diskutiert wurden, wobei die in der Nationalökonomie anzuwendenden Methoden gemeint waren, die Sozialgeschichte jedoch zunehmend in die nationalökonomische „Umklammerung“ geriet. Dabei ging es nicht nur um die Vorteilhaftigkeit deduktiven (Menger) oder induktiven Vorgehens (Schmoller), sondern auch um die Frage, ob Methoden sich gegenseitig ausschließen können oder ob sie überhaupt anwendbar sind. Schmoller favorisierte die historische Methode, Carl Menger gab der rational-theoretischen Betrachtungsweise den Vorzug bei der Erklärung des Wirtschaftsgeschehens. Später fand eine Annäherung beider Positionen statt. Im Prinzip könnte dieser Streit ebenso mit Blick auf sozialhistorische Fragestellungen geführt werden, doch verbietet es sich eigentlich – gerade in Kenntnis der Ergebnisse des „Methodenstreits“ – den Primat der einen oder der anderen Methode behaupten zu wollen. Schließlich ist diese vom Untersuchungsgegenstand abhängig. Die Sozialgeschichte beinhaltet geschichtswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Elemente gleichermaßen, womit der Sozialhistoriker, will er sein Fach ausgeglichen wahrnehmen, hermeneutische und positivistische Verfahren beherrschen muss. Auslegung auf der einen und empirische Eindeutigkeit auf der anderen Seite charakterisieren sein wissenschaftliches Schaffen. Allgemein galt es in der Gründerzeit der VSWG, die neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte – häufig in Verkleidung der Kulturgeschichte – gegen den latenten Anspruch eines Leopold von Ranke12, Heinrich von Treitschke oder Dietrich Schäfer13 auf Vorrang der politischen Geschichte zu verteidigen, was überzeugend 12 Rankes Auffassung von Geschichtsschreibung als Versuch, Wirklichkeit zu konstruieren, muss im Sinne des hier zu behandelnden Themas heißen, das Soziale und das Wirtschaftliche im historischen Prozess gleichermaßen zu berücksichtigen. Eine wie auch immer geartete historische Realität, die nicht beide Teile beinhalten soll, ist praktisch ausgeschlossen. 13 Wirtschaft, Recht und Psychologie waren für Schäfer nachrangig im Sinne einer Hilfswissenschaft.

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gelang. Es waren bezeichnenderweise „gelernte“ Nationalökonomen wie Eberhard Gothein14, Georg Schanz15, Richard Ehrenberg16 und Wilhelm Stieda17, die dem jungen Fach durch geradezu avantgardistische, inhaltlich und methodisch exzellente Arbeiten zum Durchbruch verhalfen und sich intensiv in die damaligen wissenschaftspolitischen Debatten einschalteten.18 Gotheins Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes19 ist – auch wenn sie unvollendet blieb – ein Meisterwerk der Zusammenschau von Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Wenn gegenwärtig wieder Bestrebungen im Gange sind, etwa die Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte als Kulturgeschichte oder Gesellschaftsgeschichte zu konzipieren,20 so hat diese Richtung in Eberhard Gothein ihren hervorragenden Vordenker gehabt, ohne freilich die kulturhistorische Patenschaft Jacob Burckhardts zu vergessen.21 Im späten 19. Jahrhundert hatten die Vertreter der „Jüngeren Historischen Schule“ der Nationalökonomie in Deutschland, Gustav von Schmoller und Adolf Wagner, die „Soziale Frage“ stark thematisiert und die Sozialwissenschaft (die man nun zunehmend und allgemein so bezeichnete) als sozialpolitische Variante aufgefasst. Bezeichnend war, dass sie sich gleichzeitig systematisch wirtschaftshistorischen Fragen zuwandten sowie wirtschafts- und sozialhistorische Interessenfelder implizit verbanden. Dies galt für die Genannten ebenso wie für Karl Lamprecht oder Georg von Below.22 Im Grunde war es Max Weber, der dann durch die Herausarbeitung und Betonung der ökonomischen Struktur des Soziallebens der Sozi14 Zu Werdegang und Lebensleistung siehe Wolfgang Zorn: Eberhard Gothein, 1853–1923, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn: Geschichtswissenschaften (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, 1818–1968, Band 7). Bonn 1968, S. 260–271. 15 Georg Schanz: Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des Zeitalters der beiden ersten Tudors Heinrich VII. und Heinrich VIII. 2 Bände. Leipzig 1881. 16 Richard Ehrenberg: Hamburg und England im Zeitalter der Königin Elisabeth. Jena 1896; ders.: Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert. 2 Bände. 3. Aufl., Jena 1922 (1. Aufl. 1896); ders.: Grosse Vermögen. Ihre Entstehung und ihre Bedeutung, Band 1: Die Fugger – Rothschild – Krupp. Jena 1902; Band 2: Das Haus Parish. Jena 1905. 17 Z. B. Wilhelm Stieda: Hildebrand Veckinchusen. Briefwechsel eines deutschen Kaufmanns im 15. Jahrhundert. Leipzig 1921; ders. (Hg.): Hansisch-Venetianische Handelsbeziehungen im 15. Jahrhundert. Rostock 1894. Besonders interessant im vorliegenden Zusammenhang ist Stiedas Darstellung der Institutionalisierung der Nationalökonomie an den einzelnen Lehranstalten unter Einschluss der frühen Lehrstühle für Kameralwissenschaften 1727 in Halle und Frankfurt a. d. O.; Wilhelm Stieda: Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft. Leipzig 1906. 18 Vgl. Richard Ehrenberg: Gegen den Kathedersozialismus. Berlin 1909, und ders.: Zur gegenwärtigen Krise in der deutschen Wirtschafts-Wissenschaft, in: Archiv für exakte Wirtschaftsforschung 4 (1912), S. 4–27. 19 Eberhard Gothein: Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, Band 1: Städte- und Gewerbegeschichte. Straßburg 1892. 20 So etwa Hartmut Berghoff und andere. 21 Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Basel 1860. 22 Vgl. zum „Standort“ Lamprechts den Nachruf von Ludo M. Hartmann in der VSWG 13 (1916), S. 209–212. Ausführlich: Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856– 1915). New Jersey 1993.

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alwissenschaft als „Sozialökonomie“ Geltung verschaffte. Damit fand auch der innere Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaft einen begrifflichen Niederschlag.23 Max Weber und vor allem der ein Jahr ältere Werner Sombart, ein SchmollerSchüler, hatten ihre sozialpolitischen Ideen im wilhelminischen Kaiserreich, das sie mit Kritik und Reformvorschlägen begleiteten, zur Diskussion gestellt und versucht, die historische Forschung zu strukturieren und zu systematisieren. Sombart tat dies im Rahmen seiner Kapitalismus-Forschung, die bei genauer Hinsicht vieles enthält, was später im Rahmen der Institutionentheorie wiederkehrte, vor allem die Regeln, Vertragsgrundlagen und organisatorischen Entwicklungsvoraussetzungen der „kapitalistischen“ Entwicklung unter Einschluss der Agenten und der Motive handelnder Individuen. Sein Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ war nicht nur der Versuch, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus einer umfassenden Perspektive darzustellen, nämlich der Wirtschaftsweise nachzuspüren, die durch die spezifische Form der „kapitalistischen“ Unternehmung, des Erwerbsprinzips und des ökonomischen Rationalismus geprägt ist, sondern es stellt auch eine kommentierte Sammlung wertvollen Materials dar. In weiteren Werken, so 1913 in „Luxus und Kapitalismus“ und im „Bourgeois“ aus demselben Jahr, nahm er Teile seiner Kapitalismusforschung schwerpunktmäßig ins Visier. Seine Interpretation des Kapitalismus zwischen historischer Sozialtheorie und „konstruktiver Wirtschaftsgeschichte“ war interdisziplinär angelegt und schloss Biologie, Psychologie, Anthropologie, Philosophie, Ethik und Soziologie sowie die verstehende Nationalökonomie ein, auch wenn er gegen die „ethische“ Nationalökonomie Front machte, also wie Weber Werturteile ausschalten wollte. Die Befunde der Nachbardisziplinen sollten zwar einbezogen, nicht jedoch die Nationalökonomie mit den Methoden der Philosophie oder Ethik betrieben werden. Die Wahrnehmung der Ergebnisse des geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächerspektrums war wohl auch nötig, wenn man den „kapitalistischen Geist“ als europäisches Spezifikum identifizieren wollte. Aufgrund dieser sehr breiten wissenschaftlichen Basis konnten sich viele Wirtschafts- und Sozialhistoriker mit unterschiedlichen Themen bei Sombart wiederfinden, und so nehmen ihn – ähnlich Max Weber – gleich mehrere Disziplinen für sich in Anspruch. Jedenfalls kann er als einer der Wegbereiter der integrierten Geschichte im Sinne der damals modernen Einbeziehung ökonomischer und gesellschaftlicher Aspekte angesehen werden. Vor allem unterschied er sich von der historischen Schule und dem klassischen Historismus – mithin von seinem Lehrer Schmoller – „durch sein Bestreben, historisch-empirische und theoretisch-abstrakte Ansätze miteinander zu verbinden“24, auch wenn dies freilich an der Skepsis der Klassischen gegenüber der Historischen Schule nichts änderte. Für neue Begriffe (z. B. das „Wirtschaftssystem“) sorgte er allemal. An Impulsen und Leitideen zur „konstruktiven Wirtschaftsgeschichte“ ließ er es nicht missen. Dass er darüber hinaus zu den 23 Die Verbreitung der sozialen bzw. sozialistischen Anschauungen via Wirtschaftsgeschichte war eines der wesentlichen Motive zur Verwendung des „Bindestrichs“ bei der ZSWG ebenso wie wohl bei der VSWG. Vgl. hierzu: Hermann Aubin: Zum 50. Band der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 1–24, hier 10. 24 Friedrich Lenger: Werner Sombart. 1863–1941. Eine Biographie. München 1994, S. 123.

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prominenten Intellektuellen seiner Zeit gehörte, gewissermaßen ein vielgelesener „Star“ war25 – zumindest in Berlin –, war der Popularisierung der Disziplin eher zuträglich. Ein anderer prominenter Vertreter der Nationalökonomie, der die Wirtschaftsgeschichte sehr bereicherte, war Joseph Alois Schumpeter.26 Er setzte sich intensiv mit Max Weber auseinander27 und gehörte zu jenen, die dessen Konzeption von „Sozialökonomik“ sehr schätzten und ihn für den entscheidenden Schöpfer der Wirtschaftssoziologie hielten, gleichwohl Webers „fast völlige Unwissenheit“ in wirtschaftstheoretischen Fragen bemängelten.28 Obwohl sich Schumpeter selbst nicht als Wirtschaftshistoriker im engeren Sinne verstand (im Unterschied zu Weber), betrachtete er die Vertreter der Wirtschaftsgeschichte als Verbündete der ökonomischen Theorie und unterstützte sie nach Kräften.29 In seinem Aufsatz über Schmoller betonte er, dass sich aus dem intensiven Austausch von ökonomischer Theorie und Wirtschaftsgeschichte eine neue „konkretisierte“ Form der ökonomischen Theorie ergeben würde, und umgekehrt müssten Wirtschaftstheoretiker für die Wirtschaftshistoriker von besonderem Nutzen sein, da sie „geordnete Schemata der Möglichkeiten und Probleme“ aufzeigten.30 Er wollte dazu beitragen, aus der Zusammenführung von Wirtschaftstheorie und Geschichte eine Art „allgemeiner Wirtschaftsgeschichte“ zu entwickeln. Ohne Zweifel hat er auch die Sozialgeschichte wesentlich befruchtet, nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Aufsätzen zu Fragen der Einkommensverteilung, Soziologie (der Imperialismen), sozialen Klassen, zum Sozialismus (in England und in Deutschland) und zum Unternehmer.31 Man tut gut daran, sich diesen dogmenhistorischen Kontext vor Augen zu halten, wenn man Überlegungen zur Entstehung und Persistenz des „Bindestrichfachs“ anstellt. Alle Genannten haben auf ihre Weise die Interdependenz und das integrative Ganze, das der Bindestrich symbolisiert, betont bzw. begründet. Der Bindestrich war die logische Konsequenz ihres Denkens.

25 Ebd., S. 176 ff. 26 Zu Schumpeters Leben und Werk vorzüglich: Richard Swedberg: Joseph A. Schumpeter. Eine Biographie. Stuttgart 1994. 27 Joseph Alois Schumpeter: Max Webers Werk, in: Ders.: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze. Tübingen 1954, S. 109 f. 28 Ders.: History of Economic Analysis, hg. und eingeleitet von Elizabeth B. Schumpeter. London/New York 1954, S. 819. 29 Nicht zu vergessen sind Schumpeters Beiträge zur Dogmen- und Methodengeschichte (vgl. ders.: Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte. Tübingen 1914.), die ursprünglich im Band 1 des von Max Weber herausgegebenen „Grundriß der Sozialökonomik“ erschienen. Zur Bewertung des „Grundriß“ als neuem „Unternehmen“ siehe Georg von Belows ausführliche Besprechung in: VSWG (1916), S. 213–224. 30 Joseph Alois Schumpeter: Theoretical Problems of Economic Growth, in: JEH, Supplement 7 (1947), S. 1–9, wiederabgedruckt in: Ders.: Essays, hg. und eingeleitet von R. V. Clemence. Cambridge 1951, S. 235. 31 Vgl. die diesbezügliche Bibliographie der Schriften bei: Swedberg, Schumpeter (wie Anm. 26), passim.

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Der Weg in die Selbstständigkeit Es kam nicht von ungefähr, dass die im Laufe des ausgehenden Säkulums zunehmend von der politischen Geschichte emanzipierte und profilierte wirtschaftliche und soziale Dimension sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert anschickte, selbstständige institutionelle Pfade zu beschreiten. Ein Meilenstein auf diesem Weg war – was die Publikationsorgane anbelangt – die 1893 ins Leben gerufene „Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte“, die bis ins Jahr 1900 existierte.32 Das Interesse an der „Sozialen Frage“, der Sozialpolitik, der Sozialgesetzgebung und der Sozialökonomik am Ausgang des 19. Jahrhunderts war, wie bereits erwähnt, stark. Angesichts der sich soeben formierenden neuen Gesellschaftsschichten, der Ausdifferenzierung der Arbeiterschaft, des Entstehens der Gruppe der Angestellten bzw. der Manager richtete sich die wissenschaftliche Neugier geradezu selbstverständlich auf deren Genese. In dieses „Marktsegment“ stieß die „Zeitschrift“, indem sie in einer „streng historischen Tendenz“ ein Forum für die „wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung“ schaffen wollte.33 In ihr sollten die drängendsten Fragen der Zeit eine Antwort erhalten, insbesondere die Frage nach den „wirtschaftlichen Ursachen historischer Veränderungen“. Man mag es für typisch halten oder nicht, dass es sich bei den Herausgebern der in Freiburg und Leipzig erscheinenden „Zeitschrift“ um Nationalökonomen handelte, die dem Sozialismus zugetan waren.34 Der Begriff Sozialgeschichte wurde seinerzeit sehr eng gefasst, so auch bei Karl Grünberg, der 1911 das „Archiv für die Geschichte des Sozialismus“ begründete und auch 1924 in seinem „Institut für Sozialforschung“ in Frankfurt einen Schwerpunkt innerhalb der Sozialgeschichte recht einseitig betonte, der später, 1936, mit Hans Stein die Sozialgeschichte als die Geschichte von Gruppen erscheinen ließ, die in wirtschaftlicher Abhängigkeit und jenseits sozialer Sicherungssysteme lebten. Andererseits stand für die Gründer der „Zeitschrift“ – neben Grünberg Stephan Bauer, Ludo Moritz Hartmann und Emil Szanto – angesichts der spezifischen zeitgenössischen Betonung des Sozialen im historischen Prozess die Zusammenführung der beiden als besonders relevant erachteten Grundlinien in einem Doppelbegriff fest, der dann zehn Jahre später in die „VSWG“ einging. Ihre internationale Ausrichtung wurde von vornherein dadurch unterstrichen, dass eine Reihe ausländischer Wirtschafts- und Sozialhistoriker zu den ständig Mitwirkenden gehörte.35 32 Vgl. Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“: Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG 1863–1900, in: VSWG 72 (1985), S. 457–475. 33 Foren für die Wirtschaftswissenschaft gab es bereits seit 1844 mit der „Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften“ oder seit Bruno Hildebrand 1863 die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ ins Leben gerufen hatte und Gustav Schmoller 1881 das „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“ im deutschen Reich von Holzendorff und Brentano übernommen hatte. 34 Ludwig Beutin/Hermann Kellenbenz: Grundlagen des Studiums der Wirtschaftsgeschichte. Köln/Wien 1973, S. 179. 35 Dies waren Georges Espinas (Paris), Theodor Ludwig (Strassburg), Henri Pirenne (Gent), Giuseppe Salvioli (Palermo) und Paul Vinogradoff (London). In der VSWG erschienen vom

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Für die Internationalität spricht auch, dass französisch-, englisch- und italienischsprachige Beiträge unübersetzt übernommen wurden, wovon bereits der erste Band von 1903 Zeugnis ablegt, der Beiträge in diesen Sprachen enthielt, beginnend mit Henri Pirennes französischem Aufsatz zur Sozialstatistik des Spätmittelalters.36 Für Historiker wie Gustav Schmoller37, Karl Lamprecht, Gustav und Hermann Aubin, Fritz Rörig, Carl Brinkmann38 und andere war es selbstverständlich, den Blick gleichermaßen auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu richten und dies vor allem in einer viele Jahrhunderte umfassenden zeitlichen Breite zu tun.39 Neben der Internationalität und der alle Epochen umfassenden Perspektive war es die spezifische Verbindung von Geschichte und Sozialwissenschaft, in deren Kontext das Ökonomische behandelt werden sollte: „Die Vierteljahrschrift soll in ihrer streng historischen Tendenz einem gemeinsamen Bedürfnis der Geschichtsforschung und der Sozialwissenschaft Rechnung tragen, indem sie die wirtschaftlichen Erscheinungen in ihrer Entwicklung und ihren Ursachen verfolgt und dadurch einen Konzentrationspunkt für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung aller Länder bildet.“40 Sechs Jahre nach Gründung der VSWG kam es dann zur Einrichtung der ersten Dozentur für Wirtschaftsgeschichte in Deutschland, bekanntlich an der Kölner Handelshochschule durch Bruno Kuske. Zu dieser Zeit, 1909, hatte der Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Harvard Universität, den William J. Ashley innehatte, bereits 17 Jahre existiert und auch in anderen Ländern kam es zum „Aufbruch“ der Wirtschaftsgeschichte, die aber bei genauem Hinsehen auch die Sozialgeschichte beinhaltete. Bei Kuske war dies jedenfalls so,41 obwohl er vielen als „reiner“ Wirtschaftshistoriker mit besonderem Schwerpunkt auf der „Wirtschaftsraumlehre“ erschienen sein mag. Auch diejenigen Wirtschaftshistoriker, die sich vor allem dem

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ersten Band an regelmäßig Berichte bzw. Übersichten zur sozial- und wirtschaftshistorischen Forschung anderer Länder. Die Ausrichtung der VSWG war mithin anfänglich weit internationaler als sie es gegenwärtig ist. Henri Pirenne: Les dénombrements de la population d’Ypres au XVe siècle (1412–1506). Contribution à la statistique sociale du moyen âge, in: VSWG 1 (1903), S. 1–32. Vgl. aus der jüngeren Schmoller-Forschung v. a.: Pierangelo Schiera/Friedrich Tenbruck (Hg.): Gustav Schmoller in seiner Zeit: Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien. Berlin 1989; Jürgen G. Backhaus (Hg.): Gustav von Schmoller und die Probleme von heute. Berlin 1993; Winfried Kreis: Die wirtschaftsethischen Anschauungen in der deutschen Ökonomie des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Unternehmerbildes. Eine dogmenhistorische Untersuchung am Beispiel von Adam Müller und Gustav Schmoller (Volkswirtschaftliche Schriften 493). Berlin 1999. Carl Brinkmann: Nationalökonomie als Sozialwissenschaft (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 133). Tübingen 1948. Es handelt sich hier um Brinkmanns am 27. November 1947 gehaltene Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen. Sie beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Die Stellung der Nationalökonomie zum Ganzen der Wissenschaft und des Lebens ist heute unklarer und umstrittener als jemals in der nun etwa zweihundertjährigen Geschichte meines Faches“ (S. 3). Darin liegt das große Manko unseres Faches in der Gegenwart. Kaum einer der in jüngster Zeit Habilitierten weist ein zeitliches Forschungsspektrum auf, das über das 18. Jahrhundert zurückreicht. Cover-Innenseite bzw. Rückseite der VSWG 3, 2. und 3. Heft, Stuttgart 1905. Vgl. den Nachruf von Hermann Kellenbenz: Bruno Kuske. Das wirtschafts- und sozialgeschichtliche Werk Bruno Kuskes, in: VSWG 52 (1965), S. 125–144.

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Handel widmeten, erfassten weite Bereiche der Sozialgeschichte, wenn sie über Unternehmer, Kaufmannsfamilien, deren Genealogie, verwandtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtungen sowie über die Faktoren, Buchhalter und sonstigen Bediensteten der Unternehmen arbeiteten. Zu ihnen gehören etwa Aloys Schulte42, Henry Simonsfeld43, Ludwig Heyd44 und Konrad Häbler45. Auf ihren Arbeiten konnten die Wirtschafts- und Sozialhistoriker der Zwischenkriegszeit aufbauen. Dies war z. B. bei Jakob Strieder der Fall46, der sich nicht nur kritisch mit Sombart auseinander setzte, sondern auch und vor allem Schultes und Häblers Arbeiten zur oberdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte ergänzte. Frühere Anregungen aufgreifend wurde nun zunehmend der internationale bzw. weltwirtschaftliche Zusammenhang untersucht, ob es sich um die Frage der Internationalität der Augsburger und Nürnberger Großkaufleute handelte oder um die Untersuchung der hansischen Akteure im internationalen Handelsnetz. Für Historiker wie Walter Goetz, Fritz Rörig, Walther Vogel und Rudolf Häpke war die Zusammenschau von wirtschaftlichen und sozialen Elementen geradezu eine Selbstverständlichkeit. Wie sollte dies auch anders sein, wollte man das Wirken bedeutender Kaufleute, Finanziers und Unternehmer im weiten internationalen genossenschaftlichen Verband darstellen. Auf dieser Basis konnte später, in den 1930er Jahren, Ludwig Beutin aufbauen und sich vor allem der „nachhansischen“ Handelsgeschichte widmen. Jakob Strieders Werk zur süddeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte setzte Clemens Bauer fort.47 Obwohl – wie gezeigt – eine Vielzahl von Protagonisten der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit beachtlichen Werken aufwarteten, gab es dennoch vor dem Zweiten Weltkrieg keine Lehrstühle mit der Denominierung des „Bindestrichfachs“. Die weitere Entwicklung bis in die frühen 1980er Jahre wird von Knut Borchardt eindrücklich geschildert, worauf hier verwiesen sei.48 Die jüngere Differenzierung und Spezialisierung in den Wissenschaften allgemein und in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im Besonderen führte mehr 42 Aloys Schulte: Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft 1380–1530 (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit 1–3 ). 3 Bände. ND Wiesbaden 1964; ders.: Die Fugger in Rom, 1495–1523. 2 Bände. Leipzig 1904; ders.: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig. 3 Bände. Berlin 1900. 43 Henry Simonsfeld: Der Fondaco dei Tedeschi in Venedig und die deutsch-venetianischen Handelsbeziehungen. 2 Bände. Stuttgart 1887. 44 Ludwig Heyd: Geschichte des Levantehandels im Mittelalter. 2 Bände. Amsterdam 1879. 45 Konrad Häbler: Geschichte der Fuggerschen Handlung in Spanien. Weimar 1897; ders.: Die überseeischen Unternehmungen der Welser und ihrer Gesellschafter. Leipzig 1903. 46 Jacob Strieder: Zur Genesis des modernen Kapitalismus. Forschungen zur Entstehung der großen bürgerlichen Kapitalvermögen am Ausgange des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, zunächst in Augsburg. 2. Aufl., Leipzig 1925 (1. Aufl. 1904); ders.: Werden und Wachsen des europäischen Frühkapitalismus, in: Propyläen-Weltgeschichte, IV, S. 3–26; ders.: Das reiche Augsburg, ausgewählte Aufsätze von Jakob Strieder, hg. von Heinz Friedrich Deininger. München 1938. 47 Hermann Kellenbenz: Nachruf Clemens Bauer (1899–1984), in: VSWG 72 (1985), S. 298– 300. 48 Borchardt, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 4), S. 17 ff.

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und mehr zur Infragestellung des „Bindestrichs“. Die Neigung zur Trennung ist heute häufiger anzutreffen. Nicht nur wird die Sozial- von der Wirtschaftsgeschichte geschieden, sondern auch die Spezialisierung auf bestimmte Zeitabschnitte ist Gang und Gäbe, wobei das 20. Jahrhundert – und von diesem häufig nur die Weimarer Zeit, die Zeit des Nationalsozialismus usw. – Vorrang genießt.49 Eine weitere Reduzierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf eine Wirtschaftsgeschichte als Zeitgeschichte, als Nische der theoretischen Volkswirtschaftslehre oder als Spezialdisziplin der allgemeinen Statistik wäre umso mehr zu bedauern, als die Volkswirtschaftslehre ihrerseits gegenwärtig stark das „history friendly modelling“50 betont und sich so der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wieder mehr öffnet. Die betreffenden Autoren nehmen damit die von Volkswirten mit „historischem Horizont“ immer wieder geäußerte Chance wahr, die Nationalökonomie aus ihrem zum Teil recht einseitigen Theoriebezug zu lösen. Aber auch für den Fachhistoriker gilt es „immer wieder aus dem […] Korsett seiner Spezialisierung“ herauszutreten, um die großen Möglichkeiten der Synthese zu nutzen, wie Kellenbenz es einmal ausdrückte.51 Es dürfe nicht unterlassen werden, die Ergebnisse wertvoller Spezialstudien in den historischen Gesamtzusammenhang einzufügen. Eine solche sah er in Braudels „Civilisation materielle et capitalisme“. Die Wirtschaft müsse „letzten Endes in ihren vielfältigen Verflechtungen mit der Gesellschaft einer Epoche oder Periode, ihrer Politik, ihrer Religion, ihren geistigen Gestaltungen gezeigt werden, ohne dabei der Gefahr zu unterliegen, alles nur aus der wirtschaftlichen Struktur erklären zu wollen. – Damit fällt auch das Dilemma Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschafts- oder Sozialgeschichte weg.“52 Die Unterscheidung zwischen „ökonomischen“ und „soziologischen“ Variablen ist teilweise semantischer Natur und schwierig zu praktizieren. Viele Variablen, z. B. Hektarerträge oder sonstige Produktivitätskennziffern, sind korreliert mit Variablen wie Bildung, Lebensstandard oder sozioökonomischem Status. Diese organische Symbiose setzt den Wissenschaftler, der über die Operationalisierung seines Untersuchungsgegenstandes nachdenkt, beträchtlichen Isolierungsproblemen aus. 49 In den 1960er Jahren wurde das genaue Gegenteil beklagt, nämlich dass es an der Zeit sei, der „modernen Wirtschaftsgeschichte“, vor allem der des Industriezeitalters, gegenüber der früheren Forschung mit deutlichem Übergewicht des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Gewicht zu verschaffen; Karl Erich Born: Einführung des Herausgebers, in: Ders. (Hg.): Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Köln/Berlin 1966, S. 13. 50 Vgl. Kurt Dopfer: History Friendly Theories in Economics. Reconciling Universality and Context in Evolutionary Analysis. Ms. St. Gallen 1999; Ulrich Witt: Das neue Interesse der Ökonomik an der Geschichte. Discussion Paper Max-Planck-Institut zur Erforschung von Wirtschaftssystemen. Jena 1998; Günter Hesse: Geschichtswissenschaft und evolutorische Ökonomik: Einige Überlegungen zu ihrer Komplementarität, in: Olaf Mörke/Michael North (Hg.): Die Entstehung des modernen Europa 1600–1900 (Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien 7). Köln/ Weimar/Wien 1998, S. 93–120. 51 Hermann Kellenbenz: Die Methoden der Wirtschaftshistoriker (Kölner Vorträge zur Sozialund Wirtschaftsgeschichte 22). Köln 1972, S. 63. 52 Ebd., S. 64; Eine solche Sicht teilten wohl die Gründer der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; vgl. ders.: Zwanzig Jahre Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Ders. (Hg.): Wirtschaftsentwicklung und Umweltbeeinflussung (14.–20. Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 20). Wiesbaden 1982, S. 3–25, hier 14.

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Die Sozialgeschichte hat möglicherweise noch mehr als die Wirtschaftsgeschichte dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie aufgrund ihrer eher qualitativen Natur zahlenmäßig schwer fassbar ist, womit freilich nicht gesagt sein soll, Zahlen(reihen) seien für die Sozialgeschichte entbehrlich. Das Gegenteil ist der Fall. Doch sollte stets das Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass Zahlen Tatbestände zwar messen, aber nicht erklären können.53 Beschreibende Quellen sind ergänzend zu konsultieren. Die deutende Interpretation, das historische Verstehen, die Hermeneutik – sie bleiben für eine kritische Sozialgeschichte wesentliches Element. Das zwischenzeitliche Ausweichen auf die Strukturgeschichte und die Betonung des homo oeconomicus als einen von den „Institutionen“ Getriebenen verkennen das treibende Element des historischen Prozesses, den lernenden Menschen. Die Erklärungsmöglichkeit menschlicher Handlungen durch Strukturen ist in der Tat nicht überzubewerten.54 Vom Inhalt des „Bindestrichs“ – Einige Beispiele zu dessen partieller Unauflöslichkeit Es wird immer Forschungsfelder geben, die den „Bindestrich“ geradezu selbstverständlich inhaltlich füllen. Ein Paradigma, das wirtschafts- und sozialhistorische Elemente in geradezu selbstverständlicher Weise vereint, ist die Evolutorik, die epistemologisch oberhalb der Kategorien „wirtschaftlich“ oder „sozial“ angesiedelt ist. Sie versucht, ein zur Erfassung der ausgedehnten qualitativen Komplexität geeignetes und genügend differenziertes, wissenschaftliches Instrumentarium zu erarbeiten und vielfältig anzuwenden. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Forschungskonzept, das die historische Humankapital- und Kognitionsforschung ebenso einschließt, wie die unternehmenshistorische, institutionentheoretische und die historische Krisen-, Konjunktur- und Entwicklungsforschung. Ohne Zuhilfenahme wirtschafts- und gesellschafts- bzw. sozialhistorischer Forschungserträge wird man die evolutorische Ökonomik kaum betreiben können. Insbesondere wird sich die Geschichte des technischen Fortschritts und seiner gesellschaftlichen Implikationen nicht hinreichend erklären lassen, wenn es nicht gelingt, die Voraussetzung dafür, den Prozess der kognitiven Kreation, präziser zu fassen.55 Die Evolutorik versucht nicht nur, die individualistischen Grundlagen langer wirtschaftlicher bzw. historischer Prozesse zu ergründen, sondern auch und insbesondere endogenen Wandel zu erklären. Die Wirtschaftsgeschichte ist so reich an 53 Hansjoachim Henning: Sozialgeschichte, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Band 6. Stuttgart 1981, S. 669. 54 Vgl. Karl Erich Born: Der Strukturbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Herbert von Einem (Hg.): Der Strukturbegriff in den Geisteswissenschaften (Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur 2). Mainz 1973, S. 17–30. 55 Rolf Walter: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. 3. Aufl., Köln 2000, S. 4 f.; ders.: Zum Verhältnis von Wirtschaftsgeschichte und evolutorischer Ökonomik, in: Kurt Dopfer (Hg.): Studien zur Evolutorischen Ökonomik VII. Berlin 2003, S. 113–131.

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Erscheinungen von solch hoher qualitativer Komplexität, dass deren Erfassung die Grenzen des formal (also z. B. in Formeln oder Gleichungssystemen) Darstellbaren häufig zu überschreiten droht. Die Komplexität ergibt sich nicht zuletzt aus dem Anspruch, den denkenden Menschen, das lernende Individuum, in seinem jeweiligen gesellschaftlichen, räumlichen und zeitlichen Umfeld zu erfassen und zu begreifen. Der lernende Mensch steht im Mittelpunkt des verstandesgeleiteten (kognitiven) Prozesses der Neuerung und Erfindung (Invention) sowie der Schöpfung von neuen marktfähigen Gütern (Innovationen). Es ist deshalb nicht zu übersehen, ja geradezu von elementarer Wichtigkeit, das dynamische Individuum (z. B. den schöpferischen Unternehmer, wie er von Joseph Alois Schumpeter genannt wurde) in seiner Bedeutung für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung angemessen zu berücksichtigen, dabei jedoch der Gefahr ins Auge zu sehen, dass die Sicht damit allzu angebotsseitig werden kann.56 Im historischen Prozess der ständigen Variation und Selektion spielt der aufgrund bestimmter Motive, Traditionen, Weltanschauungen oder rationaler Erwägungen entscheidende Mensch, sei er Unternehmer, Politiker, Geistlicher oder Künstler, eine herausragende Rolle. Er handelt als homo oeconomicus und homo socialis in einem: Wie wollte man beides voneinander scheiden? Welchen Sinn sollte eine Trennung von Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei der Bearbeitung solcher Themen haben? Ein konkretes, sehr weites und bedeutendes, gemeinsames Forschungsfeld ist dabei der weiße Fleck vom Vorstadium der schöpferischen Idee bis hin zur Invention und dann zur Innovation. Die Aufklärung dieses weißen Flecks bedarf des interdisziplinären Zusammenwirkens von Ökonomen mit Neurologen, Biologen, Psychologen, Soziologen und Wirtschafts- und Sozialhistorikern. Schumpeter setzte bei seinem dynamischen Unternehmer kognitive Kreation voraus, sagte aber nicht, wie Neuheit entsteht, „wie und warum das neue Wissen generiert wird, wie die Beziehung zwischen Suche, Entdeckung, Experiment und Adoptionsentscheidung aussieht“57. Dies gilt es im Rahmen der Evolutorik aufzuklären. Dem Wirtschaftsund Sozialhistoriker kommt dabei die Aufgabe zu, etwa nach dem historischen Nährboden für geistige Neuheit, nach spezifischen Mentalitäten und „Gestimmtheiten“, verstärkenden externen Faktoren (wie Reformation, Paradigmenwechsel, Fundamental-Lernsituationen) und günstigen Förderbedingungen für die Humankapitalbildung zu forschen. Es geht dabei um innere, sich selbst tragende Entwicklungen, sozusagen um die Rahmenbedingungen für evolutorische Variations-/Selektionsprozesse im gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext. Es geht um die Erklärung wirtschaftlichen Wandels und die intelligente Anpassung an ihn.58 56 Ulrich Witt: Evolutorische Ökonomik – Umrisse eines neuen Forschungsprogramms, in: Eberhard K. Seifert/Birger P. Priddat (Hg.): Neuorientierungen in der ökonomischen Theorie. Zur moralischen, institutionellen und evolutorischen Dimension des Wirtschaftens. Marburg 1995, S. 153–179, hier 158. 57 Ebd. 58 Günter Hesse: Innovative Anpassung in sozio-ökonomischen Systemen – Ein Beispiel: Landnutzungssysteme und Handlungsrechte bezüglich Boden, in: Bernd Bievert/Martin Held (Hg.): Evolutorische Ökonomik. Neuerungen, Normen, Institutionen. Frankfurt/New York 1992, S. 110–142, hier 138.

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Ein weiteres Beispiel für die Unauflöslichkeit des „Bindestrichs“ ist die Konsumgeschichte und Konsumtheorie, zumal, wenn man sie aus evolutorischer Perspektive betrachtet. Die erwähnte Bauersche Komplementarität tritt häufig ins Bewusstsein, wenn man „modelliert“ bzw. Erklärungen für Entwicklungsprozesse sucht, z. B. im Bereich der Konsumtheorie bzw. der mikroökonomischen Theorie des Konsumentenverhaltens. Dabei kann man mit Carl Menger und anderen Vertretern des „Subjektivismus“ die Güter definieren. Im Grunde ist die Konsumtheorie, wenn man sie nicht rein funktional im Einkommens- und Preiszusammenhang ansieht und nicht nur als quantitative Analyse von diversen Elastizitäten (besonders Kreuzpreiselastizitäten zur Bestimmung des Charakters von Substitutions- oder Komplementärgütern) auffasst, in der Volkswirtschaftslehre als Neuland zu betrachten. Ein jüngerer Ansatz besteht darin, die Bedürfnisse und die individuellen Bedürfnisstrukturen bzw. -ebenen nicht nur als konstante Gegebenheiten (etwa in Form ihrer Hierarchisierung wie bei Maslow) zu betrachten, sondern auch als sich ständig wandelnde Phänomene, die Lernprozessen unterliegen. Kurzum: Es sind Variablen im historischen Prozess. Die Bedürfnisbefriedigung als Lerngegenstand zu erfassen, legt aber die Einbeziehung entsprechender kognitionswissenschaftlicher Ansätze nahe und erfordert eine interdisziplinäre Vorgehensweise. Dies heißt nichts anderes als die sozialwissenschaftlichen Befunde in die Wirtschaftstheorie einzubringen. Es geht dabei nicht „nur“ um die Formulierung einer dynamischen Konsumtheorie, sondern auch um die ganzheitliche Einbeziehung der kulturellen und Gesellschaftsebene in den Präferenz- und Selektionszusammenhang beim Konsum.59 Wenn es sich dabei um historische Studien handelt – etwa um die Untersuchung der Persistenz von Konsum-Mustern im 19. Jahrhundert –, würde eine strikte Trennung von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu einer unzulässigen Verkürzung der methodischen Reichweite führen. Nicht ohne Grund bedient sich etwa die moderne Marktforschung psychologischer und soziologischer Instrumentarien. Einen weiteren Beleg dafür, dass der „Bindestrich“ nicht zu tilgen ist, mag man in der Geschichte der Einkommen und Einkommensverteilung sehen. Bei der Untersuchung der historischen Entwicklung von Nominal- und Realeinkommen wird man schwerlich auseinanderhalten können, ob es sich dabei um einen eher sozialoder eher wirtschaftshistorischen Gegenstand handelt. Einkommen, zumal in der makroökonomischen Form des Volkseinkommens, ist einerseits ein wichtiger Maßstab zum Vergleich der gesamtwirtschaftlichen Leistung mehrerer Länder, andererseits ein wesentlicher Indikator für den Wohlstand eines Volkes. Beim Realeinkommen Einzelner könnte man ironisch anmerken, die Zuordnung zur Sozial- oder Wirtschaftsgeschichte hänge von dessen Höhe ab, wonach Realeinkommen unter dem Existenzminimum als typische Fälle der Sozialgeschichte zugeordnet würden. Da das Einkommen wesentlich als Kriterium zur Bestimmung des sozialen Status herangezogen wird, ist es als Forschungsgegenstand aus der Sozialgeschichte nicht wegzudenken. 59 Ulrich Witt: Learning to Consume – A Theory of Wants and the Growth of Demand, in: Journal of Evolutionary Economics 11 (2001), S. 23–36.

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Ökonomie kann einerseits Produktion von Reichtum bedeuten, andererseits aber auch Verwaltung von Knappheit. Letztere Interpretation scheint eine größere Affinität zur Sozialgeschichte zu haben als erstere. Wachstum und Wachstumspfad sind Wesensbegriffe der Ökonomie geworden. Die von Meadows und dem „Club of Rome“ beschriebenen Grenzen des Wachstums deuten dagegen an, dass das ökonomische Wachstum auch soziale und gesellschaftliche Einschränkungen kennt, die im Zusammenhang mit der Ökologie zunehmend in den Vordergrund treten. Keine realistische historische Rekonstruktion ohne den „Bindestrich“ – ein Plädoyer für die „dritte“ Methode Wie begegnet die Wirtschaftswissenschaft dem Erfordernis, der qualitativen Komplexität Rechnung zu tragen? In der Regel bemüht sie statistische Verfahren, Kennziffernsysteme und ökonometrische Modelle. Sie wendet Simulationsverfahren an, modelliert mit komplizierten Gleichungssystemen (Mastergleichungen) oder arbeitet mit Verfahren der Entscheidungs- und Spieltheorie. Dabei handelt es sich um systematisch vereinfachte Realitätsannahmen: Gefangenendilemma, chicken-game etc. Zuweilen wird die Chaostheorie zur Beschreibung der Realität oder zu erwartender Entscheidungen oder Handlungen angewendet. Die wohl bekannteste Prämisse ist die des stets rational handelnden Menschen, des sog. homo oeconomicus. Doch all diese Modelle haben einen Nachteil, eine wesentliche Einschränkung: sie sind nicht komplex, flexibel und kompatibel genug, um die Realität abzubilden. An ihrer Vervollkommnung wird zwar gearbeitet. Dennoch wird es immer Tatbestände geben, die jenseits der formalen Darstellbarkeit verharren, ähnlich der Wettervorhersage.60 Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das rein naturwissenschaftlich erklärt werden kann, so dass es der Annahme qualitativer Komplexität eines menschlichen Kognitionsapparates nicht bedarf. Dennoch gelingt es nicht, alle Variablen, die den meteorologischen Prozess bestimmen, in ihrer Ganzheit und spezifischen Dynamik bzw. Intensität mit hinreichender Sicherheit zu prognostizieren. Wie sollte dies also bei einer geisteswissenschaftlich determinierten Problemstellung möglich sein, die die prinzipielle Unberechenbarkeit des menschlichen Wesens zu berücksichtigen hat bzw. die schlichte, aber häufig übersehene Tatsache, dass historische Prozesse keinen Algorithmus haben?61 Man sieht: die heuristischen Restriktionen sind beträchtlich. Und hierbei den „Bindestrich“ ausschließen zu wol60 Dieses Beispiel hat Wolfgang Zorn gewählt, um die Ähnlichkeit von Forschungssystemen der Natur- und Geisteswissenschaften zu beschreiben. Ähnlich den in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geltenden Gesetzen zeichnet sich die Meteorologie durch partielle quantitative Unbestimmbarkeit bzw. „Offenheit“ aus, so dass unerwartete Veränderungen (Neuheit!) und falsche Voraussagen grundsätzlich in Kauf genommen werden müssen: Zorn, Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 1), S. 11. 61 Hesse, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 50), S. 93, wo der wichtige Begriff „irreversibel“ verwendet wird und S. 117, wo es heißt: „Erst mit dem Konzept der kumulativen Variation/ Selektion kann man die Entstehung von Inventionen und den Wandel der Handlungsgrundlagen in der historischen Zeit gedanklich erfassen“.

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len, hieße häufig, den Rahmen so zu verengen, dass das Bild nicht mehr hineinpasst. Doch gibt es auch in der Menschheitsgeschichte „Gesetzmäßigkeiten“, Traditionen im Denken und Handeln, kumuliertes Wissen und Erfahrungen, Institutionen und andere Strukturen und Grundelemente der Pfadabhängigkeit, die zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreffen. So gelangt man zu Plausibilitätsschlüssen und zu Vorstellungen darüber, welche Variablen man als fest oder veränderlich annehmen sollte. Es ist interessant festzustellen, dass Reinhard Selten und andere Wirtschafts- bzw. Entscheidungstheoretiker ihren Focus inzwischen auf nicht-rationale Phänomene richten, nicht zuletzt wohl deshalb, weil die Rationalitätsannahme sich als nicht weitgreifend genug, ja geradezu irrig herausgestellt hat. Es wäre Zeit, sich darauf zu besinnen, dass historisch „beschlagene“ Ökonomen wie Walter Eucken62 und Ernst Heuß63 schon immer kritisch auf diesen Mangel in der wirtschaftstheoretischen Heuristik hingewiesen haben. Das Nicht-rationale im Entscheidungen fällenden Wirtschaftssubjekt zu entdecken bzw. einer systematischen Untersuchung zuzuführen, heißt freilich, sich mit feinem Raster Fragen zuzuwenden, auf die die Verhaltens- und Kognitionswissenschaften als wesentliche Bereiche der Sozialwissenschaften schon längst Antworten gefunden haben. Motive, Sozialisationsprägungen, ethische und moralische Grundpositionen, Routinen, Gewohnheiten und gesellschaftliche Wissensniveaus: diese und viele andere qualitative Elemente prägen die vielfachen täglichen Entscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Einer der wenigen wirtschaftswissenschaftlichen Bereiche, der von den Befunden der Lernforschung bislang Gebrauch gemacht hat, ist – wie dargestellt – die evolutorische Ökonomik. Für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte gilt es, diesen neuen Weg, diese spezifische Verbindung von Sozial-, Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften mitzugehen und die eigenen Befunde der Evolutorik zur Verfügung zu stellen. Es deutet vieles darauf hin, dass dieser Weg der „Kontextualisierung der Ökonomie“64 einer der sehr wenigen ist, die die Wirtschaftsund Sozialgeschichte als organisierte Disziplin vor Stagnation oder Rückgang bewahren können. Wenn die Beobachtung richtig ist, dass die Wirtschaftswissenschaften aktuell zunehmend bestrebt sind, zu umfassenderen Konzepten des wirtschaftlichen Handelns zu gelangen und dabei neben der mentalen, institutionellen und rechtlichen auch die historische Dimension in die Theoriebildung einbeziehen, dann bedeutet dies eine Aufwertung, ja sogar Unverzichtbarkeit wirtschafts- und sozialhistorischer Forschungserträge. Auch in diesem Sinne sollte die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ihren häufig betont interdisziplinären Charakter nutzen und Dienstleistungen für verschiedene Studiengänge und Forschungsrichtungen anbieten. Das kann sie besser, wenn sie nicht getrennt wird.65 62 Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie. 9. Aufl., Berlin 1989 (1. Aufl. 1939), S. 10; ders.: Kapitaltheoretische Untersuchungen. 2. Aufl., Tübingen/Zürich 1954, S. 243. 63 Ernst Heuß: „Die Grundlagen der Nationalökonomie“ vor 50 Jahren und heute, in: ORDO 40 (1989), S. 21–30. 64 Jürgen Kocka: Bodenverluste und Chancen der Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 82 (1995), S. 501–504, hier 504. 65 In diesem Sinne siehe die Ausführungen zweier sehr erfahrener Kollegen, nämlich Lothar Baar/

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Schluss Wenn die neuerliche Beschäftigung mit Kontexten und Hintergründen, wie etwa Fragen der Vernunft und Bildung, heißen sollte, dass sich die einschlägige scientific community einmal mehr der Analyse von Kategorien des Humankapitals zuwendet, bedeutete dies, den Sozialwissenschaften wieder mehr Spielraum einzuräumen. Im Sinne eines Analogieschlusses und aufgrund des engen Zusammenwirkens der Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit den Wirtschaftswissenschaften würde dies die Stärkung der sozialhistorischen Komponente im –ohnehin nicht zu bestreitenden – unauflöslichen Beziehungsfeld dieser Disziplin bedeuten und also für die Beibehaltung des „Bindestrichs“ sprechen. Im Vergleich dazu ist die Frage der Hierarchisierung, die Frage also, ob nun die Wirtschaftswissenschaften eher Teil der Sozialwissenschaften oder die Sozialwissenschaften Teil der Wirtschaftswissenschaften sind, weit weniger von Belang. Analoges gilt für die Frage: Ist die Wirtschaftsgeschichte eher als Teil der Sozialgeschichte anzusehen oder umgekehrt? Die meisten Autoren verweisen hier vernünftigerweise auf das Wirtschaftliche und Soziale als Teil des gesellschaftlichen Ganzen und die Teildisziplinen Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte als Komponenten der Ganzheit mit spezifischer Fragestellung, Methodik, Heuristik und Institutionalisierung. Alles andere hängt von der genauen Fragestellung bzw. dem Erkenntnisinteresse ab, dem man folgt. Ist es eher der homo oeconomicus oder der homo socialis, dem man sich z. B. im Rahmen des methodologischen Individualismus forschend zuwendet? Ist es im Rahmen der Inventionsforschung der Sozialisationskontext des Erfinders oder eher dessen wirtschaftlicher Erfolg, der untersucht wird? Inwieweit ist die Kenntnis einer Sprache ein gesellschaftsintegrierendes Element oder inwieweit ist es ein wichtiges Medium zur Senkung der Transaktionskosten? Hinter all diesen Fragen versteckt sich das eingangs identifizierte Amalgam des „Bindestrichs“: die zu untersuchende Thematik. Sicher wird der Prozess der zunehmenden Differenzierung, Diversifizierung und vor allem Spezialisierung, der allgemein in der Wirtschaft und Gesellschaft beobachtbar ist, auch vor den wissenschaftlichen Fächern und Disziplinen nicht Halt machen, schließlich sind sie ein Abbild dieser Ganzheit. Die zunehmende Diversität wird wohl in der Gründung weiterer Gesellschaften, Zeitschriften und der Einrichtung spezieller Institute bzw. der Denominierung von Lehrstühlen oder Professuren ihren charakteristischen Ausdruck finden. Jedenfalls deutet der reiche Katalog von neuen Zeitschriften und Organisationen darauf hin. Kliometriker, Ökonometriker, Dogmenhistoriker, Evolutoriker, Demographen, Migrationshistoriker, Unternehmenshistoriker, Bankhistoriker und viele andere Spezialisten treffen sich in thematisch zunehmend exklusiveren Zirkeln, die dann relativ zügig international vernetzt werden. Es mag sein, dass die Sicht auf das, was die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zusammenhält, damit mehr und mehr verloren geht. Ganz zu trennen sind die beiden Disziplinen, wie dargelegt, jedoch nicht. Wolfram Fischer: „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ – Neue Wege. Zum wissenschaftlichen Standort des Faches, in: VSWG 82 (1995), S. 396–398, hier 398.

Volker R. Berghahn FOREIGN INFLUENCES ON GERMAN SOCIAL AND ECONOMIC HISTORY* 1. Introduction The special attraction of this article’s topic lies in the fact that it provides a pathway into a number of major questions concerning both the development of Germany’s society and economy and its treatment by historians since the founding of the Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) a century ago. Yet the title immediately also confronts us with definitional problems. What do we mean by “foreign influences” and how is “German social and economic history” to be understood? The difficulties of the question of influences became the subject of some debate at a conference, held at Berlin in November 1988, whose results were published four years later in an anthology edited by Hans Pohl.1 Taking the volume as a whole, it is noteworthy not only how closely economic history and business history continue to be intertwined in historical writing in the Federal Republic, but also how remote the contributors were from the ‘culturalist turn’ that will be discussed at the end of this article. Thus Gerhard Adelmann, in his introductory survey briefly mentions “the model effect upon German firms” of foreign enterprises, their management practices, factory organizations, and marketing, but then confines himself to participations and foreign direct investments (FDI), justifying this self-limitation with the need first to bring together widely scattered sources and with wishing to keep within the parameters set by the other conference presentations. In a later comment, Andreas Kunz professed to “being a great believer in statistics”. To be sure, there is Peter Hertner’s piece which focuses on “Italian Enterprises and Entrepreneurs in Germany and their Influences on the German Economy from the Early Modern Period to the Present”. Hertner argued that analyzing FDI did not merely imply studying the “flow of capital but also the flow of technology and of human capital in the shape of entrepreneurs and engineers across national borders.” He was seconded by Hans J. Teuteberg and Adelmann, but the latter then turned the questions of influences in a different direction. Referring to the way the British textile industry used its predominance against its foreign competitors, he remarked: “In extremis, it might even be said that influences by foreign entrepreneurs are in evidence, even if they did not invest a single penny in Germany.” * 1

I would like to thank Jürgen Kocka and Hanna Schissler for their critical comments on earlier drafts of this article. Hans Pohl (ed.): Der Einfluss ausländischer Unternehmen auf die deutsche Wirtschaft vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Referate und Diskussionsbeiträge des 12. Wissenschaftlichen Symposiums der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V. am 24./25. November 1988 in Berlin (ZUG, Beiheft 65). Stuttgart 1992, esp. pp. 17 ff. (Adelmann); 117 (Kunz quote); 40 (Hertner quote); 82 (Teuteberg); 83 (Adelmann quote); 93–116, esp. 111 (Jones quote).

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Dealing with “British Business in Germany since the Nineteenth Century”, Geoffrey Jones made a few most interesting forays into the field of culture, discussing at one point the “experiences of British business in Germany” and introducing not merely the politics of the Anglo-German relationship and British cultural disadvantages as outlined by Martin Wiener in his English Culture and the Decline of the Industrial Spirit, but also the question of the difficulties that British business had with the German language. However, in the end he finds “the problems of discussing, in a scientific fashion, the cultural characteristics of different countries […] [so] enormous, (and) not least because they change over time,” that he returns to the rather narrow theme of FDI, even to the exclusion of portfolio investments and foreign trade. And so it goes pretty much to the end of the volume. The following analysis sides with those contributors to the Pohl volume who pleaded for a broader approach to the field, even if they did not engage in a closer analysis of the cultural points they raised. I am interested not merely in influences on German social and economic history that are quantifiable, but also in those of a more intangible kind that impacted upon mentalities and practices, on traditions and attitudes. Furthermore, I conceive of “German social and economic history” in similarly broad terms. It is taken here in its ‘dual’ meaning as past events, structures and processes, on the one hand, and as the ‘scholarly discipline’ charged with the task of undertaking the analysis and reconstruction of that social and economic past, on the other. This broad approach explains why this contribution is divided into two distinctive parts. In the first two sections, I will try to size up foreign influences on German social and economic history as history in the former sense; the second part will discuss foreign influences upon German social and economic history as a discipline before finally turning to the problem of what insights may be gained from all this for future research. 2. Foreign Influences on German Economic History as History By virtue of their geographical situation, if for no other reason, the economies of Central Europe were exposed to foreign influences long before the modern period. However, we can speak of a “German economy” only from the 1860s onward and it was in 1871, with the founding of the German Empire, that it was cast into a firm legal-constitutional and political framework. The emergence of this Empire coincided with an era of great economic change, i.e., the transition from an economy based primarily on agriculture to one propelled by industry and commerce. It was also in the final decades that Germany became one of the leading trading countries, economically active, together with other sovereign nations, around the globe through colonial exploitation or bilateral exchange. Notwithstanding the significance of Germany’s trade with Asia, Latin America, and Africa, the biggest exchange of goods and services both in value and volume occurred with her European neighbors and increasingly also with the United States across the Atlantic. Before 1914 Britain and Germany were each other’s best cus-

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tomers, even as diplomatic tensions between the two countries increased. The Netherlands, Belgium and Switzerland also had considerable interests in the German economy.2 During the final years of the twentieth century, the argument could be heard quite frequently that it was only in the 1990s that the world economy achieved a degree of globalization and openness that was comparable to the years before 1914. There is much to be said for this argument, if we compare the beginning and the end of the last century with the decades of hypernationalism and protectionism after 1918 and the slow return to a multilateral world trading system after 1945.3 It is also worth bearing in mind when we come to consider the history of VSWG. However, beyond the statistics on trade and finance Germany’s involvement in the global economy and the concomitant growth of foreign influences on its own economy before 1914 is also reflected in the behavior its entrepreneurs and its enterprises. In this respect Britain as the economic hegemon of the nineteenth century left its deepest imprint on the practices and mentalities of German businessmen.4 During the years of the “First Industrial Revolution” British technologies had come into Central Europe. At that time it was also British engineers who put up and ran machines that had been imported from across the Channel. But, as Heinz Hartmann has argued, the export of technologies does not occur in a cultural vacuum. What is also exported are the patterns of work organization and the attitudes underlying modern industrial production, accounting, marketing and distribution.5 However, while the British presence in the German economy remained tangible both as a trading partner and as a model in the second half of the 19th century, a shift can be discerned after the turn of the century. From around 1900 the United States appeared more and more on the horizon of German business as a trading partner, competitor and economic model. German entrepreneurs became increasingly interested in American technologies and concepts of work organization, particularly in the ideas of Frederick Taylor, the Scientific Management movement and later those of Henry Ford. Soon German businessmen and engineers could be seen traveling across the Atlantic to study production facilities in Pennsylvania, Ohio or Michigan. They 2 3

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Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1849–1914, Vol. 2. München 1995, pp. 547 ff., for the nineteenth century; G. Adelmann (note 1 above) for the twentieth century. However, if FDI rather than just trade is taken into account the interpenetration was considerably greater in the 1990s than before 1914. But see also Susanne Wiborg: Kampf um den Atlantik. Wie der New Yorker Morgan-Trust nach Deutschlands großen Reedereien griff, in: Die Zeit, 24 January 2002, p. 88. See, e. g., David Landes: The Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present. Cambridge 1969; Josef Wilden: Gründer und Gestalter der Rhein-Ruhr-Industrie. Skizzen zur Geschichte des Unternehmertums. Düsseldorf 1951; Helmut Böhme: Frankfurt und Hamburg. Des Deutschen Reiches Silber- und Goldloch und die allerenglischste Stadt des Kontinents. Frankfurt a. M. 1968; Hartmut Berghoff/Dieter Ziegler (eds.): Pionier oder Nachzügler? Vergleichende Studien zur Geschichte Großbritanniens und Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung. Festschrift für Sidney Pollard zum 70. Geburtstag. Bochum 1995. Heinz Hartmann: Amerikanische Firmen in Deutschland. Beobachtungen über Kontakte und Kontraste zwischen Industriegesellschaften (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung 23). Köln 1963.

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did so with the question in mind of whether and how far American methods of production and management could be transferred to the German economy.6 World War I disrupted these foreign influences. Nor were the early postwar years a time to revive old business connections. The United States retreated into isolation and the growing crisis of the German economy, culminating in hyperinflation and collapse in 1923, deterred trade and foreign investments. This changed during the mid-1920s when the Americans, who had emerged from the world war as a major economic power, began to reappear in Weimar Germany. First, it was Wall Street bankers who, through the Dawes Plan, helped to solve the thorny reparations question that had poisoned international peace and cooperation in previous years.7 This settlement paved the way for a renewed commitment of American private business through loans and FDI. The Weimar economy became what Werner Link has termed an “economically founded ‘penetrated political system’”.8 Once again German businessmen and engineers, but this time also trade unionists traveled to the United States not only to attract investments and to make deals, but also to study American ways of running a modern industrial enterprise. Among them was Wichard von Moellendorff, sent by IG Farben’s Carl Bosch to “examine the transferability of experiences to Germany”.9 Other foreign influences should not be underestimated.10 In short, whoever studies this question is well advised to consult not merely the available trade statistics, but also to consider less visible exports in the shape of work and management practices, particularly from the United States. Although the Nazi movement was wedded to the dogma of economic self-sufficiency and to detaching itself from the international economy with the aim of conquering “living space” by force and crudely exploiting the countries earmarked for occupation, the pre-existing commercial links with the rest of the world were not immediately severed.11 Inevitably, the outbreak of World War II in 1939 brought 6

See, e. g., Anita Kugler: Von der Werkstatt zum Fliessband. Etappen der frühen Automobilproduktion in Deutschland, in: GG 13 (1987), pp. 304–339. See also Fritz Blaich: Amerikanische Firmen in Deutschland 1980–1918. US-Direktinvestitionen im deutschen Maschinenbau (ZUG, Beiheft 30). Wiesbaden 1984, still with a narrow focus on American FDI in German manufacturing engineering. 7 See, e. g., Frank Costigliola: Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural Relations with Europe, 1919–1933. Ithaca 1984; William C. McNeil: American Money and the Weimar Republic. Economics and Politics on the Eve of the Great Depression. New York 1986. 8 Werner Link: Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921–32. Düsseldorf 1970, p. 589. 9 Wichard von Moellendorff: Volkswirtschaftlicher Elementarvergleich zwischen Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Vol. 1. Berlin 1930, p. 4. 10 The connections between French and German heavy industry and the international cartel movement during the 1920s are particularly interesting here. See, e. g., Clemens A. Wurm: Internationale Kartelle und Außenpolitik. Beiträge zur Zwischenkriegszeit. Stuttgart 1989; Eberhard von Vietsch: Arnold Rechberg und das Problem der politischen Westorientierung nach dem 1. Weltkrieg. Koblenz 1958. 11 See, e. g., Peter Hayes: Industry and Ideology. IG Farben in the Nazi Era. Cambridge (Mass.) 1987; Reinhold Billstein et al. (eds.): Working for the Enemy. Ford, General Motors, and Forced Labor in Germany during the Second World War. New York 2000.

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further difficulties, but even after Hitler had declared war on the United States in December 1941, the American involvement in the German economy did not come to a complete standstill. Nevertheless, for the rest of the war years it is difficult to speak of foreign influences on the Nazi economy in the traditional sense. At most it was the Allied declarations drawn up in anticipation of victory and relating to the projected postwar organization of the world economy that caused some German businessmen to ask themselves about the role of German industry and finance in the New Economic Order.12 The defeat and unconditional surrender of the Third Reich in May 1945 changed this picture again. As occupying powers in a Germany that had lost its sovereignty the powers and possibilities of the Allies to influence the war-ravaged German economy were unprecedented. The influence of the Soviets in their zone of occupation was characterized by the fact that, after a relatively brief twilight period of hesitation and experimentation, they began to resort to a policy of expropriation and nationalization.13 In the Western zones of occupation, it was especially the British who also thought of socialization until the Americans put a determined stop to it. The basic structures of the economies of the Western zones remained capitalist and were soon included in the Marshall Plan aid to Western Europe through which the United States committed themselves to the economic reconstruction also of western Germany. It was also the time when the Americans began to recast the German industrial and financial system as a prerequisite to the reintegration of the three western zones into the multilateral liberal-capitalist world trading system that they were determined to build. The German cartel system was banned and some of the virtual monopolies, such as I.G. Farben, were deconcentrated. And with these efforts of the occupation authorities came private investors and entrepreneurs to engage in the rebuilding of West German industry through technology transfers and FDI.14 However, the West German economy experienced not only structural changes through Allied intervention. There was also a widespread belief in Washington and among the economic elites along the East Coast that the recasting of industrial structures could only succeed if the mentalities and practices of West Germany’s entrepreneurs were also transformed. The task was to convince them of the presumed advantages of the American way of running a modern corporation, and so Paul Hoffman, a former president of the Studebaker Corp. and now the Marshall Plan administrator in Europe, began to include West German businessmen and trade unionists in tours to study American industry. Those who were not selected to go, were given an opportunity of informing themselves through the Training Within Industry (TWI) program of lectures and seminars.15 12 See, e. g., Ludolf Herbst: Der totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945 (Studien zur Zeitgeschichte 21). Stuttgart 1982. 13 See, e. g., Norman Naimark: The Russians in Germany. A History of the Sovjet Zone of Occupation 1945–1949. Cambridge (Mass.) 1995. 14 See, e. g., Volker R. Berghahn/Paul J. Friedrich: Otto A. Friedrich. Ein politischer Unternehmer, sein Leben und seine Zeit, 1902–1975. Frankfurt a. M. 1993, esp. pp. 27 ff. 15 Volker R. Berghahn: The Americanisation of West German Industry 1945–1973. Leamington Spa 1986, pp. 248 ff.

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These programs led to “creolizations” and adaptations of German entrepreneurial traditions. There was no straight imitation and there was also rejection and resistance.16 The precise nature of this kind of penetration that is not quantifiable, has – as we shall see in a moment – preoccupied economic and business historians in recent years. Suffice it to conclude at this point that, while the East German economy continued on its path of Stalinization, the end of the occupation regime in the West also concluded the phase of very direct interventions into the structural organization of the economy of the Federal Republic. Once again the less tangible influences came to the fore and now impacted even more deeply than during the 1920s. It was this foreign engagement, particularly of the United States, that enabled West Germany to “return to the world market”.17 3. Foreign Influences on German Social History as History If foreign influences upon German economic history are relatively easy to discern, the question of foreign influences on the social history of Germany is more difficult to answer. Certainly at a time before 1914 and in the decades thereafter when Germans identified increasingly with their national socio-cultural traditions and practices, whatever foreign influences existed were bound to be weakened, all the more so since generational, regional and class-specific differences also have to be factored in. In the nineteenth century, Britain was the model not only in economic, but also in socio-cultural terms – most noticeably in the Hanseatic cities of Hamburg and Bremen, decreasingly so in the Rhineland and hardly at all in the uplands of Bavaria or Franconia.18 Even in North Germany, a shift can be detected in the years before 1914. The kaiser’s Weltpolitik, growing nationalism and Anglophobia among the middle classes produced a distancing from the British socio-cultural model. Only among the working class movement of Northwest Germany did Anglophilia remain relatively pronounced. Given that the level of Francophobia was high throughout the nineteenth century, Paris provided more of a negative foil in socio-cultural terms, while the impact of some 400.000 Poles from the East and their impact especially on the industrial communities of the Ruhr presents a special chapter that has been analyzed in a number of studies.19 As to the question of generational differences, our knowledge about the pre1914 period is still rudimentary but firmer conclusions may be drawn from the 1920s 16 See, e. g., Rob Kroes: If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall. Europeans and American Mass Culture. Urbana 1996, pp. 163 ff. 17 Ludwig Erhard: Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt. Düsseldorf 1953. 18 See, e. g., Andrew F. Bell: Anglophilia. The Hamburg Bourgeoisie and the Importation of English Middle Class Culture in the Wilhelmine Era (unpubl. PhD thesis, Brown University 2001); Ian Buruma: Anglomania. A European Love Affair. New York 1998. 19 Paul M. Kennedy: The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914. London 1980; Christoph Klessmann: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 30). Göttingen 1978.

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and even more so from the post-1945 period. Larger sections of the youth of the Weimar Republic certainly responded more positively to foreign socio-cultural influences than their parents and grand-parents, and just as in the economic field, these influences came increasingly from the United States. In the wake of the abovementioned reparations settlement and American investments in German industry came Hollywood films, jazz, the charleston, all of which captivated large numbers of young people during Weimar’s ‘golden years’. American popular culture also began to influence gender relations and attitudes toward consumption.20 But there was invariably also resistance to these imports from abroad, particularly among the older and more tradition-minded generation. If, as we clearly must, we include the Weimar welfare state as part of German social history, its roots and propellants will not be found among Germany’s neighbors or the United States. And more generally it must be concluded that the development of German society and culture continued to be more strongly imprinted by indigenous traditions and mentalities, regional as well as nationalist, than by economic behavior. These tendencies received a further boost after 1929 when the world economic crisis resulted in a steep rise of protectionism and nationalism throughout the world, leading in Germany to the fascist dictatorship of Hitler and his mass movement. The more the Nazi dictatorship consolidated itself, the more its supporters, driven by xenophobia and doctrines of racist purity, insisted on keeping “alien influences” out.21 Even if this was never achieved completely and American jazz, for example, remained popular, the 1930s and even more so World War II were a period when all too many Germans followed their ‘Führer’ on an ever more horrific path of social and cultural transformation and engineering in divergence from the value systems of the Western powers who were now their deadly enemies. When this path had finally reached a dead-end in 1945, the search for socio-cultural models to be used in the reconstruction of society resumed. Whereas Stalin, after a period of relative openness, imposed from 1946/47 onward his vision of a “socialist” society on its way to communism, the British, French and American offered their model of social organization in their respective zones of occupation. Given its economic leadership, it is not surprising that the United States should soon command of the greatest leverage and magnetic power, also with respect to social change. To be sure, as before, regional and class-specific factors continued to play an important role as they had in the 1920s when it came to the relative adoption or rejection of American socio-cultural and political-cultural models. Large sections of the young generation were prepared to accept American popular culture and to integrate it into indigenous traditions and practices. Their elders remained skeptical or were simply appalled by the importations of what was deemed to be a foreign Unkultur.22 20 Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany. New York 1994; Thomas Saunders: Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany. Berkeley 1994. 21 See, e. g., Detlev K. Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982. 22 See, e. g., Uta Poiger: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany. Berkeley 2000.

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All in all, there can thus be little doubt that foreign influences on German social and economic history were not a marginal phenomenon and deserve serious study. The question is, though, how durable the German economic and social traditions proved in the face of these foreign influences. Empirical social research has demonstrated that social structures and cultural behavior and norms proved much more resistant to change than economic ones. As Wolfgang Zapf and others have shown, elite circulation in Germany was much lower than had been assumed in the face of the upheavals that German society experienced in the first half of the 20th century.23 And yet social structures were not the same, if we compare the 1900s with, say, the 1970s. This is also true of mentalities and socio-cultural norms that underwent a marked change in this period. Yet, pinpointing the precise extent of social and economic change has proved difficult and to complicate things further, there have been considerable differences of opinion among historians about the role that foreign influences have played in this process, as the next section will illuminate. 4. Foreign Influences on German Social and Economic History as Historiography If at the start of our analysis we briefly mentioned the question of the internationalization of the German economy at the beginning and the end of the twentieth century, the development of ‘historical scholarship’ on the German economy and society mirrors the shifts from internationalism to nationalism and gradually back to internationalism after World War II to a surprising extent. At the time of its birth, social and economic history as a discipline and the early founding years of Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte both displayed a degree of internationality that, following Germany’s subsequent descent into nationalism and National Socialism, was achieved again only in the 1980s and 1990s. The origins of German social and economic history, its then leading position among contemporary European and American historiography, and the beginnings of VSWG have been recounted more than once and can also be found in this centennial volume. If we include in our analysis the themes that were covered during the first phase until 1914, the conscious transgression of existing canons of contemporary national-conservative historiography with its focus on political, diplomatic and ‘great-men’ history is particularly striking.24 Accordingly, the very first (1903) volume of VSWG starts with a social-statistical piece on the population of Ypern in the fifteenth century.25 There follow an article on the colonization of Sicily in the six23 Wolfgang Zapf: Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919–1961. München 1965; Hervé Joly: L’élite industrielle allemande. Métier, pouvoir et politiques 1933–1989. Paris 1993. 24 See, e. g., Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. München 1971, esp. pp. 120 ff. 25 Henri Pirenne: Les denomebrements de la population d’Ypres au XVe siècle (1412–1506). Contribution à la statistique sociale du moyen age, in: VSWG 1 (1903), pp. 1–32. It appears that this internationalism was due to the vision of one of the journal’s founding editors. See Günter Fellner: Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft.

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teenth and seventeenth centuries, the Compagnie Royale d’Afrique in the following century, and a study of Bernard de Mandeville and the origins of economic liberalism. Other contributions examine wage and price conditions, international labor protection and French finance during the French Revolution. Reviews and review articles relating to social and economic history from all over Europe conclude the first volume. Volume 2 (1904) contained an article about English monasteries and the wool trade in the thirteenth century and another one on the bourgeois and draper Jehan Boine Brooke. Volume 3 (1905) continued an evidently unorthodox editorial policy by publishing “Miss Lodge’s” research on serfdom the Pyrenees. Even more remarkable than the topics was that of the above-mentioned articles of the 1903 volume three were by French and Belgian historians and another one by an Italian all published in their native tongue. Indeed the very first piece was not in German but in French by a well-known Belgian scholar, Henri Pirenne. Similarly, among a total of six Miszellen in this volume no less than two were in French and a third one in Italian. The above-mentioned contribution on thirteenth-century English monasteries in Volume 2 was written by Robert Whitwell in the English language, followed by the contribution on Brooke in French. Of the nine Miszellen in this volume three were in French and one in Italian. Lodge’s piece on serfdom in Volume 3 was in English, followed by two articles in French and two foreign-language Miszellen.26 There is no space here to provide a detailed discussion of the contents of the subsequent volumes up to 1914. Suffice it to say that the internationality of the first volumes both in respect of the topics covered and the scholars whose articles were accepted was maintained. It was only in the last years before World War I that the VSWG experienced a narrowing of its circle of authors which was in part related to the ‘nationalization’ of the profession and the growing reluctance of foreign scholars, and francophone ones in particular, to appear in a German journal at a time of heightened political tensions and general patriotic fervor. World War I then turned out to be the major divide not only for the social and economic history of Europe, as we have seen above, but also for historical writing upon it. After many German historians, including Georg von Below, one of the VSWG editors, had professed during the war an extreme nationalism and annexationism, their once good relations with their colleagues in Western Europe and Grundzüge eines paradigmatischen Konfliktes (Veröffentlichungen des Ludwig-BoltzmannInstituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 15). Wien 1985. 26 Ibid. Pirenne was the author of the article on Ypern. P. Masson wrote on the Compagnie royale d’Afrique and Albert Schutz on Bernard de Mandeville. The Italian writing on the colonization of Sicily was G. Salvioli. The foreign Miszellen were by: Fabien Thibault, Alfonso Professione, and M. Marion. In Vol. 2, apart from the English-language contribution by Robert Whitwell on monasteries, the piece on Brooke was by G. Epinas, followed by Miszellen from the pen of Thibault, Pirenne, E. Allix and R. Génestal (all in French) and F. Braudileone (in Italian). The Francophone contributions in Vol. 3 were by Henri Froideaux (Versailles) and Ernest Mahain (Liège), the Miszellen by M. P. Murat (in French) and Salvioli (in Italian). The article by Lodge of Oxford is remarkable in that it was rare for a woman historian to be published. Tellingly, there is no first name. Evidently unmarried, she was probably on the faculty of one of the women’s colleges.

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North America after 1918 remained deeply disturbed.27 No less unsettling, throughout the Weimar years practically all major figures engaged in the debate on Germany’s “war guilt” and in their lectures and books railed at the Versailles Treaty and the peace settlement that had emerged from the Paris Conference in 1919. The international community of scholars that the journal had embodied in its early years just could not be resuscitated after the great blood-letting and orgy of nationalist agitation. To some extent this was due to the attitude of the French who did not want to share the same platform with their German colleagues at international congresses, even though the British and Americans increasingly advocated a return of their former enemies.28 Scholars like Hermann Oncken were invited to teach in the United States, and the big philanthropic organizations supported their visits. Meanwhile American historians like Sidney Fay and Elmer Barnes put forward their own revisionist interpretations of the origins of World War I that were less critical of the Germans. If the community of scholars nevertheless remained a chimera, it was also because the German historians were isolating themselves and persisted in a posture of defiant apologetics when it came to the question of responsibility for the outbreak of World War I.29 After 1933, the Hitler dictatorship then revealed the aggressive flip-side of the nationalist-conservative positions among historians, and these affinities certainly made it easier for many scholars, whatever their initial reservations about National Socialism, to conclude their peace with a regime that promised to uplift the country to new positions of grandeur. After Below’s death, Hermann Aubin had continued to co-edit VSWG together with St. Bauer (Basel) and K. Kaser (Graz) until 1933 when Aubin became the sole editor. Although he succeeded in avoiding the journal’s Gleichschaltung, overall German social and economic history came under the spell of Volksgeschichte with its focus on the pre-modern period and on agrarian history and demography which, in this age of ubiquitous organicist conceptions of 27 Iggers, Geschichtswissenschaft (as in note 24), pp. 295 ff. Wehler once called Below an “arch reactionary conservative” who did not learn anything after 1918. Hans-Ulrich Wehler: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. Göttingen 1970, pp. 294, 410. 28 See Karl-Dietrich Erdmann: Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité Internationale des Sciences Historiques (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen: Philosophisch-Historische Klasse, Folge 3, 158). Göttingen 1987. One of those who, despite their training in Germany and their cooperation with VSWG before 1914, found it impossible to forget the German invasion of his country was Pirenne. See the obituary by Franz Petri in: VSWG 28 (1935), pp. 408 ff., with the remark, telling for its time, that Pirenne never understood the Germans. In 1927, Georg Bodnitz complained in the Economic History Review that no more than a handfull of German economic history books had been produced during the previous three decades. 29 See, e. g., Wolfgang Jäger: Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914–1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 61). Göttingen 1984, pp. 44 ff. See also Heinrich Ritter von Srbik: Geist von Locarno und historische Kritik, in: VSWG 19 (1926), pp. 439–444, with his reply to Hedwig Hintze who had criticized him that his review of a book by the French historian A. Aulard had been poisonous to Franco-German relations.

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society, in its extremes degenerated into covert or even overt blood-and-soil propaganda. Its protagonists have come under close scrutiny by their “grandsons” and “granddaughters” in recent years, and we now have a much better knowledge of German historians under Nazism.30 In light of this evolution of German social and economic history during the interwar years, it is also not surprising that the appeals of the members of the French Annales School, whose journal of the same name, founded in 1929, had been inspired by the original mission of VSWG remained unanswered. Marc Bloch, one of the leading representatives of Annales, tried almost desperately to uphold a historical science that was wedded to the principles of rationality and humanity. But he was overwhelmed by an epoch in which irrationality and barbarism seemed to triumph and to which German social and economic historians contributed with their nationalist and biologistic notions of society. They had marched off in the opposite direction from ideas about historiography that Bloch stood for. In the end the author of The Historian’s Craft saw no alternative to joining the French resistance movement. Persecuted both on grounds of his Jewish background and the political and ethical values he tried to uphold, there was a certain tragic logic that this brilliant scholar should be murdered in occupied France by a German execution squad while his colleagues in Königsberg and elsewhere produced memoranda that recommended the “resettlement” of the Jewish populations in eastern Europe.31 When the Allies finally succeeded in destroying the Nazi regime, they debated for a short while whether the Germans, in the face of the massive crimes that had been committed in their name, should be excluded from the community of nations at least for a longer period. It was the start of the Cold War against the Soviet Bloc that changed the original time-frame and led to the speedy reintegration of the Western zones of occupation into the Western alliance. This shift also had major repercussions for the German university system and the historical profession within it. It enabled the traditional structures and administrative hierarchies to survive and many professors to negotiate the “collapse” of 1945 with remarkable ease.32 Unless they had associated themselves too closely with the Nazi regime, they were able to return to their teaching positions. Soon they published books and articles on the specialized and often arcane topics that they had pursued in previous years and offered their interpretations of the past to eager students many of whom had just returned 30 See, e. g., Winfried Schulze/Otto G. Oechsle (eds.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. 4. ed., Frankfurt a. M. 2000, with a number of relevant contributions. See also Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1928–1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101). Göttingen 1993; Götz Aly: Macht – Geist – Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens. Berlin 1997; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der “Volkstumskampf” im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143). Göttingen 2000; Axel Flügel: Ambivalenzen. Innovation. Anmerkungen zur Volksgeschichte, in: GG 26 (2000), pp. 653–671. 31 On the German side see ibid.; on Bloch, see his The Historian’s Craft. New York 1953; Carole Fink: Marc Bloch. A Life in History. New York 1989. 32 See, e. g., Ernst Schulin (ed.): Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1965 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 14). München 1989.

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from the war. Accordingly, teaching and research of social and economic history also got underway again, including the publication of VSWG which resumed in 1951, edited (as if to prove the point) by Hermann Aubin. These developments also provided West Germany’s historians with opportunities to come out of their interwar isolationism. As early as 1947/48 when foreign travel was still very difficult for the Germans, British and American scholars appeared in the universities under the auspices of the occupation authorities to make contact with their German colleagues. It was a difficult encounter. Inevitably the question stood between the two sides concerning the role of the historical profession in the Third Reich, even if it was never openly raised. There was skepticism when conservatives like Gerhard Ritter, after Friedrich Meinecke’s death the doyen of the profession, presented his colleagues as victims of a totalitarian dictatorship, while their British and American interlocutors were perfectly well informed about their less scholarly writings and statements from the early years of the Third Reich.33 Schieder or Conze who had been drawn into the regime more deeply than Ritter and whose Ostforschung memoranda did not become known until much later, refused to say a word about the past while devoting themselves to making a fresh start, also methodologically. While Ritter turned a deaf ear to the appeal of his French colleague Jacques Droz who urged the West Germans to leave the ghetto of nationalist apologetics and, at the same time, to open themselves up to the social sciences, men like Hermann Heimpel and Conze took the cue.34 Still, the question remains as to the direction that the opening toward foreign ideas and tools of analysis took and the role that VSWG played within this picture during the 1950s and 1960s. Although it is very difficult to develop a taxonomy into which dozens of scholars could be neatly fitted, it seems possible to identify two groups of historians, overlaps for some individuals always granted. The first group was more strongly influenced by Anglo-Saxon modernization theory, which its members had been introduced to during visits to the United States or by German refugees from Nazism who returned to the Federal Republic as guest professors. They were particularly interested in connecting economic history with politics and political culture, in the mediation of which Gerhard A. Ritter also played an important role on the German side. The other group took up ideas and concepts of French structuralism and of the Annales school in particular and hence looked rather more toward France for inspiration. Their primary focus was on social history. This focus was built on economic foundations, but then advanced into the socio-cultural arena. Although both groups united in their rejection of Marxism-Leninism as an approach to the study of historical problems, there were other differences between them. Thus, the first group was not only more at home with the English language 33 See Volker R. Berghahn: Deutschlandbilder 1945–1965. Angloamerikanische Historiker und moderne deutsche Geschichte, in: ibid., pp. 239–272. 34 See Gerhard A. Ritter: Die neuere Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jürgen Kocka (ed.): Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung. Darmstadt 1989, pp. 29 ff.

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but also embodied an Atlanticist conception of the West in which the United States occupied a hegemonic position, at least militarily, economically, technologically and politically, if not culturally. The other group was closer to the French language and adhered to a more abendländisch-European conception of the postwar order. This conception included the United States but saw Western Europe as the center of gravity in terms of intellectual and cultural leadership.35 Finally and with the benefit of hindsight, there is also much plausibility in the argument that the first group proved more open to conceptual experimentation and methodological innovation. Bielefeld became a major center of this group’s work, wedded to the idea of a historical social science that was guided by theory (theoriegeleitete Historische Sozialwissenschaft). This put the “Bielefelders” into a fruitful competitive relationship with the second group of structuralist social historians, among whom the circle around Conze at Heidelberg became the most visible through its projects and publications.36 Something else has become clearer only at the very end of the 20th century as the sometimes heated debates of the 1960s and 1970s began to subside: the competition between the two groups was never as fundamental as it appeared in their polemics. The main reason for this seems to lie in the fact that the “Bielefelders” did much to present new Anglo-Saxon approaches to social and economic history to their German colleagues. Yet they themselves no more than toyed with these approaches and certainly did not pursue them in any systematic and persistent way. For example, when the New Economic History made the headlines and gained many enthusiastic practitioners across the Atlantic, Hans-Ulrich Wehler introduced the work of Fogel, North et al. in considerable detail. But in the end he did not recommend that West German economic historians should join the bandwagon. Instead he leaned toward the approaches of Hans Rosenberg who, based at Berkeley but on frequent visits to West Germany, tried to connect the ups and downs in the European economy to political change. Since the New Economic History seemed methodologically and theoretically problematic also to such prominent economic historians in the Federal Republic as Richard Tilly or Wolfram Fischer, the genre never became as influential there as in the United States where it was eventually given the highest academic accolade of a Nobel Prize in Economics.37 35 Georg G. Iggers: Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich. München 1978, esp. pp. 55 ff., 97 ff. 36 See, e. g., Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. 3. ed., Frankfurt a. M. 1980. See also Wolfgang Zorn: Ein Halbjahrzehnt einer Zeitschrift für Moderne Sozialgeschichte, in: VSWG 66 (1979), pp. 362–369; Lutz Raphael: Anstelle eines ‘Editorials’. Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht: Die Zeitschrift “Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft” in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: GG 26 (2000), pp. 5–37. 37 Hans-Ulrich Wehler (ed.): Geschichte und Ökonomie. 2. ed., Königstein/Ts. 1985; Karl Erich Born (ed.): Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte. Köln 1966. It is not that West German economic historians, especially those trained by Richard Tilly and Knut Borchardt, were not familiar with the techniques of the New Economic History; they were just rather reluctant to use them. See also the telling subtitle in Konrad Jarausch (ed.): Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten. Düsseldorf 1976, listing problems before

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The presentation of psychological approaches by Wehler suffered a similar fate. Whereas ‘psychohistory’ produced several biographies in Britain and the United States that tried to apply its tools of analysis to a particular individual, the genre left no lasting traces in the West German historical profession.38 The same applies to the “linguistic turn” and postmodernism which never received the same attention as the connections between History and Economics or History and Sociology and the potential benefits of these links to West German social and economic history. Nevertheless, the question remains as to how far even these disciplines, and the New Economic History in particular, with their increasingly sophisticated mathematical model-building ever got beyond the presentational stage and thus was able to make a tangible impact on the West German profession. There is finally the intriguing case of the influence of Anglo-Saxon social history upon West German social historians. If the “Bielefelders” were initially very taken by the “social history of politics” that meshed well with their rediscovery of Marx and Weber, the “history from below” that was indebted to Edward Thompson and that British historians like Geoff Eley, Richard Evans, and David Blackbourn tried to introduce into the study of German history met with spontaneous disapproval. There was no special volume, edited by Wehler and examining it all for the benefit of German scholarship. Instead Eley and Blackbourn presented their ideas themselves by publishing, in German, their provocatively titled Mythen der deutschen Geschichtsschreibung.39 No less important, unlike the New Economic History, the Thompsonite perspectives did stimulate plenty of fresh research. The reason for the peculiar path of socio-cultural historiography in the Federal Republic may be found in the emergence of a number of centers which devoted themselves to it and were strong enough to sustain and even to expand it. Thus, in Essen the circle around Lutz Niethammer completed a number of studies that were originally influenced not only by British labor history more generally, but specifically also by the Oral History Project at the University of Essex.40 At the Institut für potentialities. However, it is often forgotten that the “cliometricians” also encountered fierce criticism in the United States, inter alia, from Fritz Redlich, even if he considered himself a marginal person in the American economic history establishment. See also Naomi Lamoreaux: Economic History and the Cliometric Revolution, in: Anthony Molho/Gordon Wood (eds.): Imagined Histories. Princeton 1998, pp. 59–84. 38 Hans-Ulrich Wehler (ed.): Soziologie und Psychoanalyse. Stuttgart 1972. See, e. g., the biographies of Hitler by Robert Waite, Rudolf Binion, and William Carr. Basically there has always been a much greater feeling of affinity with sociology and its fathers, particularly Max Weber and, for a while, also with Karl Marx. See also Hans-Ulrich Wehler (ed.): Geschichte und Soziologie. 2. ed., Königstein/Ts. 1984; idem (ed.): Moderne deutsche Sozialgeschichte. 2. ed., Köln 1968. 39 Geoff Eley/David Blackbourn: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Frankfurt a. M. 1980. Summaries of the debate in: James N. Retallack: Social History with a Vengenace?, in: German Studies Review 3 (October 1984), pp. 423–450; Roger Fletcher: Recent Developments in West German Historiography: The Bielefeld School and its Critics, in: ibid., pp. 250–280; Robert Moeller: The Kaiserreich Recast?, in: JSH 17 (Summer 1984), pp. 655–683. 40 See, e. g., Lutz Niethammer et al. (eds.): “Hinterher merkt man, dass es richtig war, dass es schief gegangen ist.” Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Berlin 1983.

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Zeitgeschichte in Munich, Martin Broszat, stimulated by visitors from Britain, began to develop an interest in the Thompson school and subsequently brought its perspectives to bear on his Bavaria Project.41 A third group emerged at the Max Planck Institute for History at Göttingen which successively refined the analytical tools and conceptual framework of what became known as Alltagsgeschichte.42 Here the contact with the American historian David Sabean probably proved the most important influence, but there was also the impact of Italian-style micro-history and of the Annales school that had meanwhile transformed Braudel’s sweeping structuralism into a much softer and narrowly focused socio-cultural history as applied, for example, by Alain Corbin. Wehler’s relentless criticism, particularly of the Göttingen group, merely created new solidarities.43 If we therefore contemplate the efforts of the “Bielefelders” for a renewal of German social and economic history by importing methodological and theoretical ideas primarily from the United States, the differences between them and the circle behind the approaches to be found in the VSWG appear much less glaring. This is certainly true for the period when Conze became a member of the editorial team in 1976, and we should not be made to waver in this verdict by the fact that Wehler’s Geschichte und Gesellschaft was originally designed as a counter to the more timehonored VSWG.44 To begin with the “Bielefelders” regularly participated in the discussions and workshops of the Arbeitskreis für Sozialgeschichte. No less significant was that Conze, originally more inspired by Braudelianism, underwent a metamorphosis similar to that of his colleagues in France. His Strukturgeschichte took up the “softer” approaches of the next generation of Annalistes, even if he never went as far as Corbin. Ultimately, the political remained intermeshed with the social. Conze, like the “Bielefelders” and many other West German social historians, Gerhard A. Ritter and Harmut Kaelble among them, never wrote a social history with the politics left out. However, these affinities which also found their way into the pages of VSWG in the 1970s and 1980s, must not be conflated with the journal’s earlier postwar outlook. In fact, it was to no small degree that earlier outlook, as perceived by Wehler and his colleagues, that provided the backdrop from which they, as representatives of a new generation, wanted to set themselves apart. If the first volumes edited by Hermann Aubin had tried to revive the traditions of the VSWG founding years, this meant that the focus was never exclusively on the modern period, but explicitly included the previous centuries and, indeed, millennium. The new editor also tried 41 Martin Broszat et al. (eds.): Bayern in der NS-Zeit. Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte. München 1977. 42 A good survey of the field is contained in Hans Süssmuth (ed.): Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Göttingen 1984. 43 On the evolution of the Annales School see Iggers, Neue Geschichtswissenschaft (as in note 35), pp. 78 ff.; Giuliana Gemelli: Fernand Braudel. Paris 1995. On the German debate see HansUlrich Wehler: Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: Franz Brüggemeier/Jürgen Kocka (eds.): “Geschichte von unten – Geschichte von innen.” Kontroversen um die Alltagsgeschichte. Hagen 1985. 44 See note 36 above.

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to overcome the isolation and self-isolation in which the West German historical profession continued to find itself, after the unhappy 1920s and 1930s, in the decade after 1945.45 This quest is reflected in the European themes that the journal pursued. But it proved difficult to attract foreign scholars as contributors, as had been so impressively the case before 1914. In Volume 41 (1951) we find an article in German by a Detroit historian on the dissolution of East Galician village communities. Volumes 43 and 44 contained an article each in the French language.46 In 1950, Fritz Redlich, a refugee from Nazism at Harvard University, offered a review of “American Business History”, written in German.47 In this piece he constructed a number of parallels that he saw between work produced in the United States and by a reemerging Firmengeschichte in the Federal Republic. He thought that the separation of business history from economic history that had occurred in America a “verhängnisvoller Schritt”. He also expressed the hope that the former would leave its present narrow confines, as the only difference between the two genres was, as he believed, the difference in vantage point: business history was looking at the national economy from the enterprise and entrepreneurial perspective, whereas economic history started from the opposite point of view. As if to link up with Redlich and his appeal for integration, Wilhelm Treue took the opportunity in the following volume to speak up in favor of Firmengeschichte. In his essay, he – the founding editor of the first German business history journal, tellingly titled Tradition – insisted that the genre was “best viewed as part of economic history”.48 At the same time he argued for examining the individual enterprise within the larger milieu in which it operated – no doubt a divergence from the American business school approach where case studies reigned supreme. And yet, Treue was also looking toward the United States where the genre was certainly much more fully developed than in West Germany and its industries that were just emerging from a devastating war which had destroyed many files and traditions. At American universities he noted, probably not without a dose of envy, entire departments were devoted to business history and business studies. It was a development which, he hoped, would soon also have a positive influence on Europe. Similarly, Wolfram Fischer’s very long piece in Volume 49 (1962) on “Neuere Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der U.S.A.” provided a wealth of information on research on the other side of the Atlantic.49 As far as economic history was 45 Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (HZ, Beiheft/NF 10). München 1989. 46 Roman Rosdolsky: Die Ostgalizische Dorfgemeinschaft und ihre Auflösung, in: VSWG 41 (1954), pp. 97–145; Pierre Jeannin: Les relations économiques des villes de la Baltique avec Anvers au XVIème siècle, in: VSWG 43 (1956), pp. 193–217, 323–355; L. Genicot: La ‘noblesse’ au XIe siècle dans la region de Gembloux, in: VSWG 44 (1957), pp. 97–104. 47 Fritz Redlich: American Business History, in: VSWG 38 (1949), pp. 247–259. 48 Wilhelm Treue: Die Bedeutung der Firmengeschichte für die Wirtschafts- und für die Allgemeine Geschichte, in: VSWG 41 (1954), pp. 42–65. 49 Wolfram Fischer: Neuere Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der USA, in: VSWG 49 (1962), pp. 459–538. Fritz Stern, Columbia University, remembered that his earliest

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concerned, important stimuli were being provided by the social sciences. Major foci, he continued, were research on economic growth and its dynamics as well as the history of the modern enterprise. Stressing the Eurocentrism of the German discipline, he pointed out that many American scholars were researching modern European economic history. He regretted that there was hardly any German interest in American economic history. Indeed, the first volumes of VSWG were marked not only by quite a few articles but also by reviews and review articles on European social and economic history written by West German historians. It was only in the last years before his retirement that Aubin succeeded in garnering more foreign contributions. Thus, Volume 52 (1965) featured Henri Dubled on Alsace (in French) and Helen Liebel on “Laissez faire vs. Mercantilism” (in English), with a Miszelle by Arnold H. Price on “The Germanic Forest Taboo and Economic Growth”. Volume 54 (1967) contained an article in the French language by W. Brulez (Gand) on Antwerp during the period 1585 to 1650. There was another piece, also in French, by the Parisian economic historian C. Fohlen concerned with quantitative approaches to the field. Finally Herman van der Wee (Louvain) offered an analysis in German on growth and stagnation in the economy of Antwerp and southern Holland in the 16th century.50 By the early 1970s, the re-internationalization of VSWG had been completed. Thus Volume 61 (1974) contained articles by the Israeli social historian Shula Volkov, by Rudolf Notel (Geneva/Oxford), and Richard Webster (Berkeley, Calf.), in addition to a Miszelle by the Moscow historian Boris M. Tupolev on Soviet historiography relating to German-Russian relations between 1871 and 1914. From 1975 onwards, the titles of articles are listed in the table of contents in English translation. This volume also contained contributions by French, Canadian, British, Belgian, and Argentinean scholars, together with a Miszelle by Redlich on “Autobiographies as Sources for Social History. A Research Program”.51

contact among the economic historians was with Wolfram Fischer. David Landes also had early connections which included Jürgen Kuczynski in East Germany. Conversation with Fritz Stern, 9 January 2002. 50 H. Dubled: VSWG 52 (1965), pp. 433–484; H. Liebel: ibid., pp. 207–238, A. Price: ibid., pp. 368–378. W. Brulez: VSWG 54 (1967), pp. 75–99; C. Fohlen: ibid., pp. 325–335; Herman van der Wee: ibid., pp. 203–249. 51 Shulamit (Angel-)Volkov: The “Decline of the German Handicrafts” – Another Reappraisal, in: VSWG 61 (1974), pp. 165–184; Rudolf Notel: International Capital Movements and Finance in Eastern Europe, 1919–1949, in: ibid., pp. 65–112; Richard Webster: The Political and Industrial Strategies of a Mixed Investment Bank: Italian Industrial Financing and the Banca Commerciale, 1894–1915, in: ibid., pp. 320–371. For Volume 62 (1975) the foreign contributors were: Etienne François (Nancy); Michael Kater (Toronto); Robert W. Lee (Liverpool); Zora and Frederic Pryor (Swarthmore College); Herman van der Wee (Louvain); Vincente Vazquez-Presedo (Buenos Aires). English now became increasingly the main foreign language.

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5. Social and Economic History in Germany: Some Considerations for the Future Looking at German social and economic history from the vantage point of the 100th anniversary of VSWG, the field has little reason to shy away from comparisons with high-quality research in other countries. It is remarkably international and pluralistic, if we take as our mirror not only the contents of the journal itself but also that of Geschichte und Gesellschaft. Nevertheless, it took an entire generation for the dead-end of the decades between 1914 and 1945 to be overcome. It was only with the return to a team of editors after the Aubin years that the journal was able to reach the levels of pluralism and internationalism that Geschichte und Gesellschaft had secured from the start, not least thanks to the advantage of its later birth. In this renaissance it proved to be fortuitous that German social and economic historians did not follow every methodological or theoretical turn of their Anglo-Saxon colleagues. However, we have now also reached the point at which, beyond respectful praise, a discussion may conveniently be started on the future direction of German social and economic historiography at a time of the increased internationalization of the discipline as a whole, promoted by Brussels and the big philanthropic foundations on both sides of the Atlantic. Of course, German social and economic history could advance in several directions. Still, it seems to me that the field could be enlivened particularly promisingly if it embraced developments that have taken place in business history in recent years. If Redlich’s view of 1954 continues to be correct that business history and economic history are complementarities, very encouraging impulses have come from the former. They have not only enriched German economic and social history individually, but are also likely to reinforce the links between them. It is probably fair to say that German business historians during the past 30 years or so worked in a predominantly structuralist and institutionalist mode. This is not to maintain that it was highly theorized from the start. On the contrary, its early incarnations were characterized by a strong empiricism. One examined the evolution of individual enterprises and business organizations, occasionally extolling the achievements of the innovator in Schumpeterian fashion. Treue with his Tradition which was originally subtitled “Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmer-Biographie”, was perhaps the best exemplar of this approach. If we look at the range of his prolific output, it almost seems as if business history for him was an arts subject, not a social science.52 In this respect he may be compared with Hermann Kellenbenz who, on the one hand, worked close to the sources, but who, on the other, wrote in a schöngeistige vein. He also took much pleasure in exhibiting the sketches that he, the indefatigable traveler, had drawn on his journeys overseas.53 Reconnecting German economic 52 See the obituary for Wilhelm Treue (1909–1992) in: ibid. 80 (1993), pp. 1–3. 53 See the obituary for Hermann Kellenbenz (1913–1990) in: ibid. 78 (1991), pp. 1–5. Writing in the Handwörterbuch der Sozialwissenschaften on the “foundations” of economic history, Kellen-

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and social history by mingling with colleagues around the world may have been his way of exposing it to foreign influences and perhaps also of showing that he and Germany from before 1945 (when he had submitted his Habilitation thesis on the economic and political significance of Sephardic Jews along the lower Elbe river) had changed. Clearly, the contrast between his or Treue’s kind of History and, for example, Jürgen Kocka’s theoriegeleitete structuralist institutionalism in his study of Siemens could not have been starker.54 It was therefore also Kocka’s business history rather than theirs that has built the bridge to the next generation when its own perspectives began to be shaped in the social and economic history milieu of Bochum and Frankfurt universities. The founding of the Arbeitskreis kritische Unternehmens- und Industriegeschichte, headquartered at Bochum, signaled the beginning of this further shift. 55 Just as Kocka had been aiming to replace the conservative empiricism of Treue or Kellenbenz, the members of the Working Circle wanted to move business history in a culturalist direction. It was a relatively slow movement, though, partly because it encountered, as the Alltagshistoriker at Göttingen had done, the skepticism of the “Bielefelders” or partially remained under their spell. Accordingly, sociological perspectives continued to overshadow the consideration of other questions that had first been raised by cultural historians to fields outside the realm of business. A leafing through the issues of Akkumulation, the newsletter of the Arbeitskreis, will reveal the gradualism of the transition from institutional and sociological perspectives toward a history of mentalities and culture until it became an explicit agenda by the late 1990s.56 Whatever the value of the culturalist perspective to business history may be, German economic history which, even if it never fully adopted the New Economic benz wrote that it must be the quest of the economic historian, “Wirtschaftsgeschichte als Geistesgeschichte zu betreiben”. Quoted in: Wehler, Krisenherde (as in note 27), p. 291. Not surprisingly, he and his generation were even less enthusiastic about the New Economic History of Fogel and Engerman than the next. According to Wehler (ibid., p. 295), Wilhelm Abel was the only German economic historian who tried to merge “theory and history”. 54 Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847– 1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung (Industrielle Welt 11). Göttingen 1969. 55 See the very cautiously formulated theme of the annual conference of the Working Circle on 9– 10 October 1997: “Eine kulturalistsche Wende in der Unternehmensgeschichtsschreibung – möglich, notwendig, sinnvoll?” The VSWG featured an interesting discussion forum on: Economic and Social History – New Paths?, in: VSWG 82 (1995), pp. 38–422, 496–510. See also Hans Pohl: Betrachtungen zum wissenschaftlichen Standort von Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, in: VSWG 78 (1991), pp. 326–343; Paul Erker: Aufbruch zu neuen Paradigmen in: AfS 37 (1997), pp. 321–365; Toni Pierenkemper: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 1). Frankfurt a. M. 2000; Christian Kleinschmidt: Der produktive Blick. Wahrnehmung amerikanischer und japanischer Management- und Produktionsmethoden durch deutsche Unternehmer 1950–1985. Berlin 2002, esp. pp. 11 ff. 56 Akkumulation. Informationen des Arbeitskreises für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte, No. 1 ff. (n.d.). The publication appears at irregular intervals, reaching 14 issues by 2000. See also the program of a symposium organized by the Working Circle and Gesellschaft für Unternehmensgeschichte at Bochum on 11–13 October 2001.

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History developed in America, nevertheless remained wedded to the use of statistical data, could also benefit from the ideas of the Arbeitskreis. To be sure, hard data will always form the foundation on which research on the qualitative aspects of economic life can build. At a time, when even Robert Fogel has dampened his earlier enthusiasm for the New Economic History and we have seen, most prominently in the United States, the rise of the New Institutional History, focusing on cultural aspects may lead to new insights.57 The ‘culturalist turn’ in business history appears to have yet another benefit in that it also promises to foster the connection with social history that VSWG has always sought to maintain. One of the most interesting directions which socio-cultural history has taken in recent years is the history of consumption.58 Some very innovative work has been done on the rise of mass consumer societies in Europe and North America. But regrettably this research has paid little attention so far to the producers and marketers of mass-produced goods. Business historians, on the other hand, rarely look beyond their productionist domain.59 There has been some meeting between the two groups “in the middle” in work on advertising and marketing as well as on the interaction between consumers and the “hidden persuaders”.60 Still, new insights may be gained by studying the connections between producers and consumers, between productionism and consumerism, in modern industrial societies, thereby enhancing our knowledge of both economic and social history. Such a research strategy would require a broader recognition, though, by both sides that Germany’s development in the twentieth century cannot be understood without giving due weight to a key foreign influence, i.e., that of the United States, and without arriving at a clearer understanding of what we mean by “Americaniza57 See, e. g., Robert W. Fogel/Geoffrey Elton: Which Road to the Past? Two Views of History. New Haven 1984, pp. 5–70. See also Robert W. Fogel: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. New York 1990; idem: Without Consent or Contract: The Rise and Fall of American Slavery. New York 1989. See also Rolf H. Dumke: Clio’s Climacteric?, in: VSWG 73 (1986), pp. 457–487. A plea for a rapprochement between History and Economics is to be found in Hansjörg Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: GG 25 (1999), pp. 276–301. See also Gerold Ambrosius et al. (eds.): Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen. München 1996. 58 See, e. g., Daniel Miller (ed.): Acknowledging Consumption. A Review of New Studies. London 1995; Susan Strasser et al. (eds.): Getting and Spending. Cambridge 1998; Wolfgang König: Geschichte der Konsumgesellschaft (VSWG, Beiheft 154). Stuttgart 2000; Lisa Tiersten: Marianne in the Market. Envisioning Consumer Society in fin-de-siècle France. Berkeley 2001; William Leach: Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture. New York 1993; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970. Frankfurt a. M. 1997; Hannes Siegrist et al. (eds.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert). Frankfurt a. M. 1997. 59 For a typical recent example see Jonathan Zeitlin/Gary Herrigel (eds.): Americanization and its Limits. Reworking US Technology and Management in Postwar Europe and Japan. Oxford 2000. 60 Vance Packard: The Hidden Persuaders. New York 1957; Ewen Stuart: Captains of Consciousness. New York 1976.

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tion”. Although – as we have seen in the first part of this essay – the influence of the United States on German social and economic history is incontrovertible, there has oddly been a good deal of resistance, especially among German economic historians, to the deployment of this concept.61 To be sure, “Americanization” as a process involves problems that cannot easily be teased out of trade statistics and growth figures. It leads us into a field of less tangible influences upon mental attitudes, traditions, and practices. A refusal to adopt this approach may explain why Werner Abelshauser, rigorous economic historian that he is, arrived at his controversial hypotheses concerning the negligible role of the United States in the German economic reconstruction process after World War II.62 In the meantime, the balance in the debate over “Americanization” has shifted, partly because it has become clear that it was never meant to imply a simple steamrollering of German culture by imports from across the Atlantic. It was always supposed to involve negotiation and renegotiation and hence also resistance, with some form of blending at the end.63 Still, skepticism seems to linger not only among eco61 Sharp opposition has come from Paul Erker. See Paul Erker/Toni Pierenkemper (eds.): Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 39). München 1999, in which he uses his Introduction to rebuke one of his contributors who had helped to conceive of the volume in the first place. Werner Bührer would only go as far as speaking of an “Amerikaorientierung”. See his “Auf eigenem Weg. Reaktionen deutscher Unternehmer auf den Amerikanisierungsdruck”, in: Heinz Bude/Bernd Greiner (eds.): Westbindungen. Hamburg 1999, pp. 181–201. Christoph Buchheim, originally not favorably disposed toward this interpretation, has mellowed in recent years. See his unpublished paper “Westdeutschland und die USA in der Weltwirtschaft, 1945 bis Ende der sechziger Jahre. Von Amerikas aufgeklärter Hegemonie zur Partnerschaft”, n.d. See also the skeptical contributions in Dieter Ziegler (ed.): Grossbürger und Unternehmer. Göttingen 2000. Among economic historians, only Harm G. Schröter began to promote the concept of “Americanization”, but it apparently took some time before he began to be listened to by his colleagues. See also S. Jonanthan Wiesen: West German Industry and the Challenge of the Nazi Past 1945–1955. Chapel Hill 2001. 62 Werner Abelshauser: Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone (Schriftenreihe der VfZG 30). Stuttgart 1975; idem: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. Frankfurt a. M. 1983. 63 The clarification was first helped by a group of Hamburg historians around Arnold Sywottek who approached the question through the concept of “modernization” which they saw as a process that all urban-industrial societies experience over the long term. See Axel Schildt/Arnold Sywottek (eds.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre (Politik- und Gesellschaftsgeschichte 33). Bonn 1993. Meanwhile a group assembled by Anselm Doering-Manteuffel at Tübingen University experimented with the notion of “Westernization”. See his “Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft”, in: AfS 35 (1995), pp. 1–33; idem: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. The problem here was that, while this may have been the West German experience after 1945, it was hardly applicable to other West European countries. And yet these countries were exposed no less than the Federal Republic to the hegemonic pressure of the United States to transform their economic structures and import American “mass culture”. This is why American scholars have continued to insist on the usefulness of the notion of “Americanization”, if only because it clearly identifies the source of the pressures that all of Western Europe responded to through negotiation, transformation, and of

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nomic historians in Germany but also among social historians. Some, it is true, have taken on board the work done by their American colleagues on the German-American encounter. Others continue their search, not, I hasten to add, for a German Sonderweg, as the generation of the 1930s did, but for a “path to a European society”.64 There are other indications that the profession has begun to move beyond the national boundaries that preoccupied it for so long. If modern German historians have finally arrived in Europe as their field of research, American historians have been transcending even this framework for some time. At least it was Caroline Bynum who in 1965, as president of the American Historical Association, raised the question of whether hers was “the last Eurocentric generation”.65 Indeed, taking Kaelble’s work as a case in point (and as the first sections of this essay have shown) it is really difficult to see how his approach can avoid incorporating, in whatever form and to whatever degree, the manifold influences on German social and economic history that the United States has exerted for over a century, not to mention the legacies of Europe’s colonial empires.66 To study these influences in the socio-cultural ways that have been indicated above is likely to open up new vistas for the links between German social and economic history as a discipline that VSWG has been trying to make throughout its existence.

course also resistance. For the best recent attempts to summarize and sythesize these debates see Philipp Gassert: Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung, in: AfS 39 (1999), pp. 531–561; Heide Fehrenbach/Uta Poiger (eds.): Transactions, Trangressions, Transformations. American Culture in Western Europe and Japan. New York 2000. For a comprehensive empirical treatment of the German-American encounter after 1945 see Detlev Junker (ed.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch. 2 vols. Stuttgart 2001. For a sophicated application in a monograph see Uta Poiger, Jazz (as in note 22). On the French side, Richard Kuisel has been a vociferous advocate of the “Americanization” concept. See Richard F. Kuisel: Seducing the French. The Dilemma of Americanization. Berkeley 1993. 64 Hartmut Kaelble: Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980. München 1987. See also idem: Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2001. 65 Caroline Bynum: The Last Eurocentric Generation, in: Perspectives (February 1996), pp. 3 f. 66 The problems that modern German historians of all stripes continue to have with their own internationalization were pinpointed by Michael Brenner in an article on the occasion of the Aachen Congress of German Historians. See his “Teilt die Fakultät anders ein!”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2 October 2000, with the criticism that the teaching and research of the leading historians at German universities was still marked by a Germanocentrism. For the difficulties of kicking this habit see Stefan Berger: The Search for Normalcy. National Identity and Historical Consciousness in Germany since 1800. Providence 1997. But there are also encouraging signs. Thus Jürgen Kocka has been trying to nudge Geschichte und Gesellschaft into new fields, in line with his postulate at the Aachen Congress that historiography must take up the challenges of a today’s radical internationalization and, one would have to add in 2003, the new and problematic role of the U.S. as the sole superpower in world politics and international law.

Eberhard Isenmann DIE BEDEUTUNG DER SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSGESCHICHTE FÜR DIE ALLGEMEINE GESCHICHTE DES MITTELALTERS In seinen 1868 konzeptionell entstandenen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ spricht Jacob Burckhardt von den drei großen Potenzen ‚Staat‘, ‚Religion‘ und ‚Kultur‘, von deren „Einwirkung aufeinander“, ihren wechselseitigen aktiven und passiven Bedingungen und „Bedingtheiten“; und er betont dabei zugleich, dass es sich um willkürliche Trennungen handele, indessen jede fachweise trennende Geschichtsbetrachtung ohnehin so verfahren müsse.1 Wenn wir statt dessen in etwas anderer Weise und unvollkommen mit ‚Wirtschaft‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Recht‘ und ‚Politik‘ die Lebensbereiche, existentiellen Prägungen und Handlungsfelder des burckhardtschen Zentrums, des „duldenden, strebenden und handelnden Menschen“, konstituieren und von den wissenschaftsgeschichtlich moderneren, sektoral operierenden Wissenschaftsdisziplinen ausgehen, so tritt uns als Resultat in partiellen Ansichten ein ‚homo oeconomicus‘, ein ‚homo sociologicus‘, eine ‚Rechtsperson‘ oder ein ‚homo politicus‘ vor Augen.2 Der Allgemeinen Geschichte obliegt die Aufgabe, mit Blick auf die Vergangenheit möglichst viele der durch wissenschaftlich-methodische Isolierung gewonnenen Teilansichten wieder zusammenzufügen, ohne freilich ein Totalbild entwerfen zu können. Das Bemühen um Reintegration des zuvor durch die Wissenschaft künstlich Getrennten verleiht der Allgemeinen Geschichte als Wissenschaft einen kaum völlig zu behebenden enzyklopädischen Grundzug, und der Historiker, der so viele Felder benachbarter Spezialdisziplinen zu betreten hat, bewegt sich dort, wenn er sich nicht nur auf die Rezeption des ihm Plausiblen beschränkt, forschend vielfach und unvermeidlich als Dilettant, wie dies wiederum Burckhardt herausgestellt hat. Dieser sowohl positive als auch defizitäre Dilettantismus wird nach seiner problematischen Seite relativiert, wenn der Historiker den mit Risiken behafteten Versuch unternimmt, auf einem oder mehreren Gebieten interdisziplinär zu arbeiten, d. h. nicht nur im Sinne einer Arbeitsteilung lediglich additiv Ergebnisse anderer Diszi1 2

Jakob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. von Rudolf Marx. Stuttgart 1963, S. 29 f. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann. 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 805 (Die Stadt); jetzt als historisch-kritische Ausgabe: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 5: Die Stadt, hg. von Wilfried Nippel (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1, Schriften und Reden 22). Tübingen 1999, S. 275. Im Hinblick auf das Vorwiegen charakteristischer Merkmale: Der Bürger der antiken Polis sei wesentlich ‚homo politicus‘, der mittelalterliche Stadtbürger hingegen ‚homo oeconomicus‘. Ralf Dahrendorf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (Studienbücher zur Sozialwissenschaft 20). 15. Aufl., Opladen 1977; Kurt W. Rothschild: The Reluctant Rebel or Glamour and Poverty of the Homo Oeconomicus, in: Kyklos 54 (2001), S. 445–452.

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plinen zu übernehmen, sondern zur Herausstellung der wechselseitigen Bedingtheiten und Interferenzen der Lebensbereiche die eigenen gegenständlichen und methodischen Grenzen zu überschreiten und auf konkrete Forschungsvorhaben und Erkenntnisziele ausgerichtet sich in einem gewissen, zweckmäßig beschränkten Umfang mit Methoden, Denkformen, theoretischen und dogmatischen Ansätzen der Nachbarwissenschaft auseinander zu setzen. Der verbleibende Mangel an theoretischer und dogmatischer Tiefenschärfe kann dadurch aufgewogen werden, dass durch eine großflächigere und intensivere unmittelbare Quellenarbeit klarer erkennbar wird, in welchem Umfang das Normative die tatsächlichen Verhältnisse auf abstrakter Ebene spiegelt. I. Im Folgenden3 soll es um den integrativen Wechselbezug und die Verflechtung von Allgemeiner Geschichte – d. h. speziell politisch-staatlicher Geschichte, Rechtsgeschichte sowie der Kirchen-, Theologie- und Philosophiegeschichte – und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehen.4 Evident ist die ökonomische Fundierung des menschlichen Lebens, auch des geistigen und religiösen Lebens der Individuen, Familien, Gruppen, sozialen und politischen Stände und politischen Verbände im Mittelalter durch Arbeitsertrag, Grundbesitz, Landleihe, Pfründeneinkommen, gewerbliche und kommerzielle Erwerbswirtschaft, Dienstleistungen, Kapitalverwertung sowie Nutzung von Ämtern, herrschaftliche Zwangsrechte, fiskalische Nutzungsrechte und hoheitliche Ansprüche. Insoweit gehört die Wirtschafts- und Sozialgeschichte natürlich zur Allgemeinen Geschichte, doch entstehen Differenzen in der Bewertung und Gewichtung von Faktoren durch die disziplinär organisierte Forschung. Wie die staatlich-politische Geschichte mit ihren ‚groß‘ genannten Herrschern, Staatsmännern und Militärs, so kennt auch die Wirtschaftsgeschichte Heroen, die zugleich neben dem Kapital ökonomische Triebkräfte und Faktoren darstellen in Gestalt des von Jean Baptiste Say, Léon Walras und vor allem Joseph Alois Schumpeter als revolutionärer Pionier charakterisierten Typus des ‚schöpferischen‘, dynamischen oder innovativen Unternehmers, der als Typus für das Mittelalter noch eingehender zu untersuchen ist, der vielleicht mit Jehan Boinebroke aus Douai an der 3

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Die Literaturangaben können angesichts der Breite des thematischen Spektrums nur beispielhaft einige wenige spezielle und perspektivische Hinweise geben und sollen nicht die Forschungslage repräsentieren; sie beziehen sich dem Anlass der Publikation entsprechend vor allem auch auf Beiträge und Monographien, die in der VSWG und ihren Beiheften erschienen sind. Clemens Bauer: Kirche, Staat und kapitalistischer Geist. Ein Versuch zur Theorie der Zusammenhänge, in: Archiv für Kulturgeschichte 21 (1931), S. 151–165. Zur modernen Theorie des Zusammenhangs zwischen den politischen und rechtlichen Institutionen einer Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf der Grundlage der Institutionen-Ökonomik siehe Douglass C. North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge u. a. 1990; dt.: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 76). Tübingen 1992.

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Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert auftaucht, am Ende des 14. Jahrhunderts in Nürnberg zu finden ist, jedenfalls seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert mit den Fuggern glanzvoll in Erscheinung tritt. Ansonsten hat das Mittelalter heroische oder eindrucksvolle Kaufleute und Kaufleute-Bankiers aufzuweisen, namentlich einen Jacques Coeur mit seinen Verbindungen zum französischen König, der unvergleichlichen Überlieferung wegen einen Francesco di Marco Datini und mit tragischen Zügen einen Hildebrand Veckinchusen. Wechselbezüge zwischen Lebenssachverhalten und Institutionen, deren Konstituierung und empirischer Nachweis zum Kern aller methodologischen Probleme und Kontroversen gehören, lassen sich in ihrer detaillierten Komplexität gut am Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Recht aufzeigen – ein Forschungsfeld, das sowohl hinsichtlich der alltäglichen Verkehrsbeziehungen als auch der Operationen des Großhandels neuer Impulse bedarf. Wirtschaftliche Bedürfnisse und Erfordernisse des städtischen Geschäftslebens formten, wie dies eindrucksvoll Wilhelm Ebel gezeigt hat,5 im Mittelalter abweichend von landrechtlichen Rechtstraditionen das Personenrecht mit Freiheit und Freizügigkeit und einer größeren Handlungs- und Haftungsfähigkeit der Frau als Kauffrau, das Sachenrecht und das Schuldrecht, individualisierten das Erbrecht im Interesse der Mobilisierung und Kommerzialisierung von Liegenschaften, führten zu einer Reduktion der Zahl der notwendigen Zeugen und der Formerfordernisse für den Geschäftsabschluss, schufen städtische Grundbücher, Schuldbücher und Handelsgerichte mit speziellem Verfahren und Beweisrecht auf den Messen für den älteren Typ der notariellen Schuldbriefe und der neuen, formloseren Wechselbriefe. Auf der anderen Seite wird die mittelalterliche Wirtschaft von Obrigkeiten und Kirche mit Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsvorstellungen und anderen normativen wirtschaftsethischen Vorgaben konfrontiert, die im Falle des kanonischen Zinsverbots auf bestimmten geldtheoretischen, theologischen und ethisch-moralischen Axiomen bestehen, Konsequenzen für die rechtliche und organisatorische Form der Gesellschaftsbildung haben und den Zufluss von Produktivkrediten für die Wirtschaft erschweren, kreditgeschichtlich sowohl dem etwas umständlichen Grundpfand und immobilienradizierten Rentenverkauf6 als auch dem Wechselbrief Vorschub leisten, insoweit die Geschäftskosten erhöhen, aber wie im kommunalen und privaten Rentengeschäft möglicherweise eben auch den verschleierten Zins auf ein zudem recht konstantes und kalkulierbares Maß drücken. Es zeigt sich aber auch, dass die Kirche der Gesellschaft wirtschaftsethische Maximen vorgab und dass hinsichtlich des Zusammenhangs von Religion und Wirtschaft das kirchliche Amt und selbst religiös-spirituelle Institute ökonomischen Zielsetzungen unterworfen wurden.7 5 6 7

Wilhelm Ebel: Über die rechtsschöpferische Leistung des mittelalterlichen deutschen Bürgertums, in: Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa (Vorträge und Forschungen 11). Konstanz/Stuttgart 1966, S. 241–258. Zum Umfang der Rentengeschäfte am Rentenmarkt als Indikator der Wirtschaftsentwicklung siehe Hans Peter Baum/Rolf Sprandel: Zur Wirtschaftsentwicklung im spätmittelalterlichen Hamburg, in: VSWG 59 (1972), S. 473–488. Arnold Esch: Simonie-Geschäft in Rom 1400: „Kein Papst wird das tun, was dieser tut“, in: VSWG 61 (1974), S. 433–457. Vgl. auch zur Umformung eines spirituellen Instituts zu einem

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Die Heraushebung ökonomischer und sozialer Strukturen und Entwicklungen hat gegenüber den politisch-staatlichen und kirchen-, theologie- und religionsgeschichtlichen Perspektiven zu neuen Epochisierungs- und Periodisierungsvorschlägen geführt, die das Mittelalter gegenüber konventionellen Epochengrenzen in seinen Grundstrukturen bis in das ausgehende 18. Jahrhundert andauern lassen und andererseits Binnenperiodisierungen erfordern. Derartige Periodisierungsversuche haben es mit unterschiedlichen Zeitstrukturen zu tun, mit weitgehend stationärem Wirtschaften unter konstanten Gesellschaftsverhältnissen in der frühmittelalterlichen Agrarwirtschaft, technischen Verbesserungen im Agrarbereich und Wandlungsprozessen in der Grundherrschaft, Bevölkerungswachstum, ferner mit sektoraler wirtschaftlicher Dynamik, gesellschaftlicher Mobilität8 und teilweise sehr weiträumiger arbeitsbedingter Migration9 sowie dem Hervortreten neuer Stände wie dem des regierungsfähigen Kaufmanns und nichtständischer Klassen, dem kollektiven Aufstieg der Ministerialen, mit sozialer Hierarchisierung im arbeitszerlegenden Produktionsprozess des Tuchgewerbes und im Bergbau durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit, neuen gesellschaftlichen Wertsetzungen, schließlich mit monetären Zyklen, konjunkturellen Erscheinungen wie der Agrardepression, Entwicklungs- und Anpassungskrisen und traditionalen Erntekrisen des ‚type ancien‘ (Ernest Labrousse). Daraus ergeben sich methodisch schwierige Fragen nach der Kausalität, der adäquaten Zurechenbarkeit oder der Wechselwirkung verschiedenartiger Erscheinungen, nach Qualität und empirisch ermittelbarer Quantität für die Bewertung von Wandlungsprozessen, Fragen nach der reflektierenden Wahrnehmung der Zeitgenossen von objektiven Sachverhalten und Vorgängen. II. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte erweist das Mittelalter ferner keineswegs als eine theorieferne Zeit eines rein empirischen Lebensvollzugs. Das Mittelalter hat antike Begriffe, Theorien und Theoreme, Modellvorstellungen und Normen rezipiert und adaptiert, so dass es vielfach nicht bei einer bloßen Deskription bleiben muss, sondern die Empirie bereits in einen zeitgenössischen begrifflichen und theoretischen Reflexionshorizont eingebunden werden kann. Die Leistungen des Mit-

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Rentengeschäft Ferdinand Elsener: Vom Seelgerät zum Geldgeschäft. Wandlungen einer religiösen Institution, in: Marcus Lutter/Helmut Kollhosser/Winfried Trusen (Hg.): Recht und Wirtschaft in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Johannes Bärmann zum 70. Geburtstag. München 1975, S. 85–97. Karl Bosl: Über soziale Mobilität in der mittelalterlichen „Gesellschaft“. Dienst, Freiheit, Freizügigkeit als Motive sozialen Aufstiegs, in: VSWG 67 (1980), S. 306–332; Friedrich Wilhelm Henning: Ländliche Sozialstruktur und soziale Mobilität im Mittelalter, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.): Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Band 1: Mittelalter und Frühe Neuzeit (VSWG, Beiheft 132). Stuttgart 1997, S. 195–222. Rudolf Sprandel: Die Ausbreitung des deutschen Handwerks im mittelalterlichen Frankreich, in: VSWG 51 (1964), S. 66–100; Wilfried Reininghaus: Die Migration der Handwerksgesellen in der Zeit der Entstehung ihrer Gilden (14./15. Jahrhundert), in: VSWG 68 (1981), S. 1–21.

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telalters sind aber für unsere Zeit nur richtig zu verstehen und zu würdigen, wenn die mittelalterlichen Erscheinungen, Fragestellungen und Problemlösungen auch in Konfrontation mit Hilfe geeigneter modernerer Begriffe10, wenn möglich auch Theorien, analysiert werden. Die geschichtswissenschaftliche Zunft besaß im 19. Jahrhundert nach der Tradition der höfischen Geschichtsschreibung als Panegyrik und Geschichte der Hauptund Staatsaktionen, sodann mit der Geschichtsschreibung Rankes und seiner Nachfolger sowie aus nationalpädagogischen, nationalpolitischen Zielsetzungen oder machtstaatlichen Projektionen heraus eine beherrschende Präferenz für die Politische Geschichte und die Geschichte der Staaten. Die Vernachlässigung der ökonomischen und sozialen Grundlagen und Kräfte gegenüber der staatlich-politischen Ordnung, der nicht zuletzt in der Auffassung des deutschen Idealismus für die menschliche Kultur überragende Bedeutung zugemessen wurde, ist unverkennbar, doch wurden die wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Bedingungen und Faktoren nicht prinzipiell geleugnet, wie etwa das Beispiel Treitschkes zeigt, der zum Zirkel um Gustav Schmoller gehörte, während andererseits der Rechts- und Wirtschaftshistoriker Georg von Below im Streit mit Karl Lamprecht gerade auch für die Wirtschaftsgeschichte den Primat der Politischen Geschichte betonte.11 Es gibt indessen keinen zwingenden Grund, das historisierende und für das historische Studium so überaus befähigte 19. Jahrhundert12 wissenschaftsgeschichtlich nur aus der Perspektive und Nabelschau der universitären Fachdisziplin Geschichte und ihrer methodologischen und weltanschaulichen Protagonisten und Herostraten zu betrachten, denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis nach der Jahrhundertwende haben die systematischen, gleichwohl auch historisch arbeitenden Disziplinen der Nationalökonomie und der Soziologie – in einer Art geschichtswissenschaftlicher Ar10 Der Begriff des Monopols ist sowohl ein Begriff des römischen Rechts und der mittelalterlichen, gebundenen, zünftischen Wirtschaft als auch der modernen liberalen Markt- und Konkurrenzwirtschaft und kann beispielhaft begriffliche Verschiedenheiten im Rahmen unterschiedlicher Wirtschaften belegen. Die Differenz zwischen dem Monopolbegriff traditionaler Wirtschaften und dem modernen beruht darin, dass der Monopolbegriff die freie Konkurrenzwirtschaft zur logischen Voraussetzung hat, so dass aus der Perspektive der korporativen und gebundenen Wirtschaft, der mittelalterlichen Zunftwirtschaft und städtischen Wirtschaftspolitik die Zunftmonopole keine eigentlichen Monopole sind. Bauer, Kirche, Staat und kapitalistischer Geist (wie Anm. 4), S. 158 mit Anm. 1. Auch die Intentionen der Monopole sind sehr verschieden. In der traditionalen Wirtschaft zielen etwa zünftische „Produktions- und Verkaufsmonopole für genau umschriebene Gebiete zur Sicherung des Nahrungsspielraumes“ auf Erlangung der ‚auskömmlichen Nahrung‘, so dass „durch die überwiegende genossenschaftliche Bindung […] der individuale Erwerbstrieb, der natürlich auch diesen Bildungen zugrunde liegt, sozusagen zwangsweise sozial ausgerichtet und damit temperiert“ ist. Das privatkapitalistische und individualistische Monopol des frühkapitalistischen Kaufmanns und Unternehmers gibt hingegen seinem Inhaber „eine Chance unbestrittenen Gewinnes innerhalb eines räumlich weit ausgedehnten Marktes, gibt ihm die Möglichkeit weiterer Expansion.“ Ebd., S. 158. 11 Rüdiger vom Bruch: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914). Husum 1980, S. 367 f.; Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (VSWG, Beiheft 142). Stuttgart 1998, S. 191–219. 12 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (wie Anm. 1), S. 14–26.

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beitsteilung mit spezifischen disziplinären und gegenwartsbezogenen Zielsetzungen – auf ihren Gebieten maßstabsetzende, bis heute bewunderungswürdige geschichtswissenschaftliche Pionierleistungen hervorgebracht und auch Fachhistoriker zu großen Werken inspiriert, so dass das Defizit vor allem die Integration und Gesamtkonzeption von Geschichte betrifft. Unter den Historikern gab es mit Eberhard Gothein, Kurt Breysig, Otto Hintze und Karl Lamprecht eine Reihe von Historikern, die von der historischen Schule der Nationalökonomie, namentlich von Gustav Schmoller, beeinflusst waren. Gustav Schmoller seinerseits hat im Übrigen im sogenannten Lamprecht-Streit vor einseitiger Betonung der ökonomischen Faktoren gewarnt.13 An wirtschaftsgeschichtlichen Pionierleistungen ist hinsichtlich der mittelalterlichen Geschichte etwa das Werk des Nationalökonomen und ‚Kathedersozialisten‘ Gustav Schmoller über die Straßburger Weber- und Tucherzunft von 1879 zu nennen,14 das zusammen mit anderen wirtschaftshistorischen Monographien die historische Dimension der Nationalökonomie fundieren sollte und am Einzelbeispiel mit Erkenntniswert für die Gegenwart mittelalterliche Stadtwirtschafts- und Gewerbepolitik darstellen sollte.15 Vor allem handelt es sich bei den älteren Pionierleistungen um Arbeiten zur Stadt- und zur Verkehrswirtschaft, die eine Verbindung zu modernen, an der Marktwirtschaft orientierten Wirtschaftsverhältnissen herstellen ließen.16 Hervorzuheben sind etwa die Arbeiten Gustav Schönbergs über die Fi13 Gerhard Oestreich: Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: HZ 208 (1969), S. 320–363, hier 355. 14 Gustav Schmoller: Die Straßburger Tucher- und Weberzunft. Straßburg 1879. 15 Harald Winkel: Gustav von Schmoller (1838–1917), in: Joachim Starbatty (Hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, 2. Band. München 1989, S. 97–118, hier 102. In der Vorrede hatte Schmoller geschrieben: „Ich hoffe mit diesem Beispiel zu zeigen, wie sozialpolitische Fortschritte im Interesse der mittleren und unteren Klassen […] möglich sind.“ Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, S. IX. Mit Bezug auf diese Stelle und Schmollers Darstellung der Handelspolitik Friedrichs des Großen wandte Heinrich Sieveking ein: „Wer sich in das Leben der Vergangenheit vertieft und zu seinem Verständnis durchringt, läuft Gefahr, von dem Verstehen jener Zeit zu ihrem Lobe überzugehen. Haben die Probleme seiner Zeit ihn veranlaßt, seine Aufmerksamkeit ähnlichen Kämpfen der Vergangenheit zuzuwenden, so wird er leicht dazu geführt, die Ähnlichkeit der Lage überschätzend, seiner Zeit die früher wirksamen Mittel zu empfehlen.“ Heinrich Sieveking: Die mittelalterliche Stadt. Ein Beitrag zur Theorie der Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 2 (1904), S. 177–218, hier 216. Zur historischen Methode und zu der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschung der deutschen Nationalökonomie siehe auch Joseph Alois Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. 2 Bände. Göttingen 1965, hier Band 2, S. 986–1000. 16 Siehe dazu und zu den methodologischen Problemen Otto Brunner: Zum Problem der Sozialund Wirtschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 7 (1936), S. 671–685; ders.: Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: Ders.: Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte. 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103–127, hier 121–126. Brunner ist der Auffassung, dass ‚Wirtschaftsgeschichte‘ „den modernen Begriff der Wirtschaft, die vom Staat losgelöste, ihm gegenübertretende Tauschgesellschaft und damit die Begriffe der modernen Wirtschaftswissenschaften“ voraussetze, sich „reine Wirtschaftsgeschichte nur von der modernen Wirtschaftsgesellschaft in der industriellen Welt“ schreiben lasse. Auch diese sei freilich ‚Sozial- und Wirtschaftsgeschichte‘ und bedürfe „der Darstellung der sozialen Gebilde, die wirtschaften“. Ebd., S. 121 f. Die von ihm auf der Grundlage des Axioms der in alle Lebensbe-

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nanzverhältnisse Basels17 und von Bernhard Harms über die dortige monetäre Entwicklung,18 Heinrich Sievekings über das Finanzwesen Genuas im Mittelalter,19 die Darstellung des Haushalts der Stadt Nürnberg im Spätmittelalter durch den Historiker Paul Sander,20 ferner Aloys Schulte mit seinen großen Arbeiten zum mittelalterlichen Italienhandel und zur Ravensburger Handelsgesellschaft,21 Wilhelm Heyds Darstellung zum Levantehandel22 und Bruno Kuske mit seinen Untersuchungen zum Kreditwesen23 sowie seiner umfangreichen Quellenpublikation zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs.24 Bedeutende sozialstatistische und sozialgeschichtliche Studien legte der Journalist und Nationalökonom Karl Bücher über die Bevölkerung der Stadt Frankfurt am Main im 14. und 15. Jahrhundert sowie zur Geschichte der Frau im Mittelalter25 vor. Auch das ältere monumentale Werk des germanistischen Rechtshistorikers Otto von Gierke über das deutsche Genossenschaftsrecht26 gehört durchaus in den Zusammenhang einer Sozialgeschichte. Werner Sombarts eigentümliche Konzeption der Bedarfsdeckungswirtschaft und seine Irrtümer über den mittelalterlichen Handel, die primäre Akkumulation von Handelskapital durch Grundrenten, den handwerklichen Zuschnitt des mittelalterlichen Handels, die Qualität der Buchführung oder die Abhängigkeit des Handels von einer Kreditgewährung gegenüber dem Kunden 27 waren, wie schon die Arbeiten seines Schülers Jakob

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reiche hineinwirkenden Trennung von Staat und Gesellschaft als Kennzeichen der Moderne angedeuteten methodologischen Probleme vermag Brunner freilich nicht zu lösen. Gustav Schönberg: Finanzverhältnisse der Stadt Basel im XIV. und XV. Jahrhundert. Tübingen 1879. Bernhard Harms: Die Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter. Tübingen 1907. Heinrich Sieveking: Genueser Finanzwesen mit besonderer Berücksichtigung der Casa Di S. Giorgio, I: Genueser Finanzwesen vom 12. bis 14. Jahrhundert (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, Band 1, 3. Heft). Freiburg i. B./Leipzig/Tübingen 1898. Paul Sander: Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs 1431–1440. 2 Bände. Leipzig 1902. Aloys Schulte: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig. 2 Bände. Leipzig 1900; ders.: Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft 1380–1530. 3 Bände. Stuttgart 1923, ND Wiesbaden 1967. Wilhelm Heyd: Geschichte des Levantehandels im Mittelalter. Stuttgart 1879, ND Hildesheim/ Zürich 1984. Bruno Kuske: Das Schuldenwesen der deutschen Städte im Mittelalter. Tübingen 1904; ders.: Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: Die Kreditwirtschaft. Erster Teil (Kölner Vorträge 1). Leipzig 1927, S. 1–79. Bruno Kuske: Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 33). 4 Bände. Bonn 1917–1934. Karl Bücher: Die Bevölkerung der Stadt Frankfurt am Main im XIV. und XV. Jahrhundert. Socialstatistische Studien, 1. Band. Tübingen 1886; ders.: Die Berufe der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter. Leipzig 1914; ders.: Die Frauenfrage im Mittelalter. 2. Aufl., Tübingen 1910. Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 3 Bände. Berlin 1868–1881. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 1. Band: Die vorkapitalistische Wirtschaft. Leipzig 1902, 2. Aufl., München/Leipzig 1916. Vgl. dazu den Rezensionsaufsatz von Georg von Below: Die Entstehung des modernen Kapitalismus, in: HZ 91 (1903),

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Strieder28 zeigen, überaus fruchtbar, indem sie Widerspruch herausforderten und die Forschung stimulierten. Hinzu kommen Diskussionen über das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte, wie sie etwa von Heinrich Sieveking in Auseinandersetzung mit Sombart und Karl Büchers wirtschaftsgenetischer Stufenlehre,29 in Georg von Belows, des Mitherausgebers der VSWG, herabsetzenden Attacken gegen Gustav Schmoller und die jüngere historische Schule der Nationalökonomie geführt wurden.30 Jüngst hat John Munro Ansätze der Schule der ‚New Institutional Economics‘ aufgenommen,31 die insoweit einen direkten Zusammenhang zwischen der Allgemeinen Geschichte und der Wirtschaftsgeschichte herstellt, als staatlich-politische Leistungen und rechtsgeschichtliche Institutionen im Hinblick auf betriebswirtschaftliche Kostenfragen des Handels (‚transaction costs‘) gewürdigt werden. Soziologische Theorien und Interpretamente wie Max Webers Rationalisierung, Bürokratisierung und Kapitalismus, die Unterscheidung von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ von Ferdinand Tönnies32 oder Henry Summer Maines entwicklungstheoretisches Theorem ‚from status to contract‘33, das in Max Webers Auffassung von der gesamthabituellen Prägung des Menschen durch die Eidesleistung im Unterschied zu der partiellen zweckrationalen Vergesellschaftung, der Unterscheidung von ‚Status-Kontrakten‘ und ‚Zweck-Kontrakten‘ eine Entsprechung hat,34 oder auch Max Webers prägnante Definitionen von ‚Ständen‘ und ‚Klassen‘35 regen die

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S. 432–485. Zur Kritik an Positionen Sombarts siehe auch Fritz Bastian: Das wahre Gesicht des „vorkapitalistischen“ Kaufmanns, in: VSWG 24 (1931), S. 1–35. Jakob Strieder: Das reiche Augsburg. Ausgewählte Aufsätze zur Augsburger und süddeutschen Wirtschaftsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Heinz Friedrich Deininger. München 1938. Vgl. auch Sieveking, Die mittelalterliche Stadt (wie Anm. 15); ders.: Die kapitalistische Entwicklung in den italienischen Städten des Mittelalters, in: VSWG 7 (1909), S. 64–93; Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Tübingen 1893. Vgl. auch den Rezensionsaufsatz von Georg von Below: Über Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung der Völker, mit besonderer Rücksicht auf die Stadtwirtschaft des deutschen Mittelalters, in: HZ 86 (1909), S. 1–77. Georg von Below: Wirtschaftsgeschichte innerhalb der Nationalökonomie, in: VSWG 5 (1907), S. 481–524 (Rezensionsaufsatz). Zuvor schon ders.: Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 7 (1904), S. 145–185, 221–237, 304–330, 367–391, 451–466, 654–659, 685 f., 710–716, 787–804. Vgl. dazu vom Bruch, Wissenschaft (wie Anm. 11), S. 121 f.; Cymorek, Georg von Below (wie Anm. 11), S. 158–168. John H. Munro: The ‚New Institutional Economics‘ and the Changing Fortunes of Fairs in Medieval and Early Modern Europe: the Textiles Trades, Warfare, and Transaction Costs, in: VSWG 88 (2001), S. 1–47. Siehe auch Felix Butschek: Wirtschaftsgeschichte und Neue Institutionsökonomie, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode (VSWG, Beiheft 145). Stuttgart 1998, S. 89–100; Oliver Volckart: Zur Transformation der mitteleuropäischen Wirtschaftsordnung, 1000–1800, in: VSWG 88 (2001), S. 281– 310; Florian Schui: Zur kritischen Analyse der neuen Institutionenökonomik: Douglass Norths Interpretation der frühmittelalterlichen Grundherrschaft, in: VSWG 90 (2003), S. 157-173. Vgl. oben Anm. 4. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft (1935). 8. Aufl., Darmstadt 1991. Henry Summer Maine: Ancient Law (1861). 10. Aufl., 1885. ND London 1954, S. 100. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 401. Ebd., S. 531–539.

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Mediävistik in ihren Fragestellungen bis heute an. Wer die Bände der ‚Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik‘, sodann der sofort mit ihrer Gründung international ausgerichteten und sich mit Theorien36 auseinandersetzenden ‚Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte‘ oder auch die ‚Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins‘ bis zur Jahrhundertwende durchmustert, stößt auf Fragestellungen und Untersuchungen, die wir heute noch als innovativ oder gar ingeniös bezeichnen würden und deren Kenntnis in Verbindung mit den genannten großen monographischen Pionierleistungen geeignet ist, gegenwärtige übertriebene Innovationsbehauptungen sehr zu relativieren. Schöne Forschungskontinuitäten mit einer Verbreiterung der empirischen Basis und Reichweite und einer inzwischen möglichen Verfeinerung und Ausweitung der Fragestellung werden etwa sichtbar an den Forschungen Furgers, von Stromers und Holbachs zum mittelalterlichen Verlag und Großgewerbe.37 Das universitäre Fach Geschichte im Sinne einer empirischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung barg indessen in seiner Geschichte vor Ranke und dem Historismus durch die Aufklärungshistorie, erkenntnistheoretisch fundiert durch die Lehre des Johann Martin Chladenius vom „Sehpunkt“ (1742), von der Perspektivität historischer Erkenntnis, und geschult durch die Methodologie und Quellenkritik des Skeptizismus,38 seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als an Reformuniversitäten eigene Lehrstühle eingerichtet wurden,39 auch eigene, mehr oder weniger programmatische Ansätze, innerhalb der historischen Enzyklopädie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, auch der Alltagsgeschichte, einen festen Platz zuzuweisen.40 Dies gilt für den Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer,41 der seit 1759 bestrebt war, dem Fach Geschichte, das als hilfswissenschaftliches Propädeutikum für Theologen, Juristen und Verwaltungswissenschaften fungierte, zu Eigenständigkeit zu verhelfen. Zum historischen „Zusammenhang“ gehörten Gatterer zufolge unbedingt auch Geographie und Klima, Handel und Landwirtschaft, Demographie, ferner Religion, Kunst, Wissenschaft und Kriegsgeschichte. Sein 36 Als frühes Beispiel siehe Sieveking, Die mittelalterliche Stadt (wie Anm. 15). 37 Fridolin Furger: Zum Verlagssystem als Organisationsform des Frühkapitalismus im Textilgewerbe (VSWG, Beiheft 11). Stuttgart 1927; Wolfgang von Stromer: Der Verlag als strategisches System einer an gutem Geld armen Wirtschaft, am Beispiel Oberdeutschlands in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: VSWG 78 (1991), S. 153–171; Rudolf Holbach: Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13.–16. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 110). Stuttgart 1994. 38 Markus Völkel: „Pyrrhonismus historicus“ und „fides historica“. Die Entwicklung der deutschen historischen Methodologie unter dem Gesichtspunkt der historischen Skepsis (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, 313). Frankfurt a. M./Bern/New York 1987. Zu Chladenius siehe S. 317–334. 39 Josef Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ 189 (1959), S. 223–378. 40 Zum Folgenden vgl. den neueren Überblick bei Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung. Stuttgart 1996, S. 89–97, 121–126, 216–232. Ferner besonders Oestreich, Die Fachhistorie (wie Anm. 13), S. 346–362. 41 Peter Hanns Reill: Johann Christoph Gatterer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Band VI. Göttingen 1980, S. 7–22.

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Kollege August Ludwig Schlözer,42 der seit 1769 in Göttingen lehrte und dessen Professur sowohl ‚Politik‘ als auch ‚Statistik‘, d. h. in Nachfolge der älteren Kameralistik die Wissenschaft vom Staat und seiner Verwaltung einschloss, fasste Geschichte als einen Teil der Wissenschaft vom Staate auf. ‚Statistik‘ bezeichnete er als „stillstehende Geschichte“ und Geschichte als „fortlaufende Statistik“. Geschichtskenntnisse hatten für Schlözer einen unmittelbar praktischen Zweck und Nutzen: Die Regierenden sollten im Hinblick auf eine emanzipatorisch begriffene Menschheitsgeschichte, die aus Unmündigkeit und Unfreiheit führe, die Verhältnisse, mit denen sie sich auseinanderzusetzen und in die sie mit Vernunft gesetzgeberisch einzugreifen hatten, auch historisch erkennen und damit besser verstehen. Zum Gegenstandsbereich von Geschichte gehörten daher nicht nur Kriege und Staatsaktionen, sondern auch Handel, Verkehr, Landwirtschaft und Handwerk. Während Rankes Präferenz für das Staatlich-Politische und seine entsprechenden Erkenntnisziele durch die Eigenart der von ihm vorzugsweise benutzten Quellen zumindest bekräftigt wurde, standen für die bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts florierende und seit dem letzten Drittel des Jahrhunderts zur Fachrichtung ausgebauten Beschäftigung mit der Stadt- und Landesgeschichte in den Archiven Quellen, teilweise serieller Art, bereit, die unmittelbar in wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge von Bevölkerung und sozialen Gruppen, Siedlungsund Wirtschaftsgeographie, Flurbewirtschaftung, Handelsrouten und Märkte, Besitzverhältnisse und Abgaben führten. Vor allem Mediävisten und Historiker der Frühen Neuzeit untersuchten mit neuen Methoden die Geschichte von ‚Landschaften‘ als von Bevölkerung, Kultur und Ökonomie geprägten Räumen. Meist waren es Archivare, später und in geringerem Umfang auch Universitätsprofessoren wie der von der rheinischen Landesgeschichte herkommende Karl Lamprecht, der in Marburg und Leipzig Lehrstühle innehatte, oder der als Nationalökonom an der Technischen Hochschule lehrende Historiker Eberhard Gothein, der 1892 eine auch konzeptionell eindrucksvolle Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes43 vorlegte und für eine umfassende, synthetisierende und die getrennten Resultate von Einzelwissenschaften wieder vereinigende Kulturgeschichte plädierte, innerhalb derer die Politische Geschichte des Staates lediglich einen untergeordneten Teil, ein „Kultursystem“ neben anderen darstellte.44 Hinzu kommen volkskundliche Forschungen und wichtige populäre kulturgeschichtliche Darstellungen mittelalterlicher Lebensverhältnisse von Gustav Freytag und Moritz Heyne. 42 Ursula A. J. Becher: August Ludwig v. Schlözer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Band VII. Göttingen 1980, S. 7–23. 43 Eberhard Gothein: Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, Band 1: Städte- und Gewerbegeschichte. Straßburg 1892. 44 Eberhard Gothein: Die Aufgaben der Kulturgeschichte. Leipzig 1889. Gothein wies der Kulturgeschichte als eigenständiger Disziplin die Aufgabe zu, dass sie im Unterschied zu der „an die Erzählung von Ereignissen“ gebundenen Politischen Geschichte „in erster Linie die wirkenden Kräfte in ihrer Wesenheit“ aufsuche; „sie wünscht dieselben in ihrer Tragweite zu erkennen; sie scheidet das Bleibende vom Veränderlichen“. Ebd., S. 11 f. Vgl. dazu und zur Kontroverse mit Dietrich Schäfer: Oestreich, Die Fachhistorie (wie Anm. 13), S. 326–332; Peter Alter: Eberhard Gothein, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Band VIII. Göttingen 1982, S. 40–55, hier besonders 46–49.

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Historiker, die in einem umfassenden Sinne kulturwissenschaftlich orientiert waren und die materiellen Grundlagen der Gesellschaft und Kultur betonten, die sich methodische Anregungen auch von nichtphilologischen, systematischen Nachbarwissenschaften wie der Nationalökonomie und Soziologie holten und wie Lamprecht sich auch der Kunstwissenschaft und Psychologie öffneten, die ferner nach dem Wiederkehrenden, Konstanten und Typischen, nach Gesetzmäßigkeiten und Strukturen suchten, dabei den systematischen Vergleich anstrebten und auch längere Zeiträume, die ‚longe durée‘, in den Blick nahmen – derartige Historiker wurden auch „Positivisten“ genannt, und zwar in polemischer Abhebung von der individualisierenden, einfühlsam verstehenden, mit philologischen Methoden arbeitenden, die Fachhistorie weitgehend beherrschenden Schule des Historismus. Die damaligen Auseinandersetzungen zwischen den Schulen und Richtungen sind bis heute fruchtbar, wenn sie Erkenntnistheorie und Methodenbewusstsein schärften, zur Reflexion über Ereignis, Typus und Struktur, Individuum und Gesellschaft, Natur und Kultur, über die Suche nach den Ursprüngen, über genetische Gesetzmäßigkeit, Kausalität, adäquate Zurechnung und Kontingenz, Geschichte und systematische Nachbarwissenschaften beitrugen und im Ergebnis die selbstverschuldete Verengung der Fachhistorie auf Staat und Politik aufbrachen. Dies waren die längerfristig positiven Resultate der Kontroverse zwischen Dietrich Schäfer und Eberhard Gothein um den Primat und die historische Einheitsstiftung der staatlichpolitischen Geschichte oder einer Kulturgeschichte sowie des nachfolgenden sogenannten Lamprecht-Streits oder auch Methodenstreits,45 der produktiv war, insoweit es um eine „allseitige, dem Ganzen des geschichtlichen Lebens gerecht werdende Geschichtsauffassung“46 ging. Dieser wies aber zugleich seine öden Seiten auf, wenn im Glaubenskampf um weltanschaulich-politische Richtungen und um die Herrschaft über das Fach auf beiden Seiten ein bornierter Streit um wissenschaftlichen Totalitätsanspruch, um Prioritäten und die Dignität von Untersuchungsgegenständen geführt wurde und – vor allem von Lamprecht – wenig fundierte, übereilte programmatische Postulate und Konstrukte vorgetragen wurden, während es jenseits der polemischen Übertreibungen und der vor allem von Seiten von Belows mit Vernichtungswillen geführten Attacken vielfach im Grunde lediglich um unterschiedliche Akzentuierungen und Ergänzungen oder um Einseitigkeiten und scheinbare Gegensätzlichkeiten,47 ein Mehr oder Weniger, freilich auch um weiterreichende Erklärungsansprüche ging. 45 Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. München 1971, S. 256–260; vom Bruch, Wissenschaft (wie Anm. 11), S. 367–369; Lutz Raphael: Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Bedeutungsmustern. Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive, in: HZ 251 (1990), S. 325–363. 46 Karl Lamprecht: Der Ausgang des geschichtswissenschaftlichen Kampfes, in: Die Zukunft 20 (1897), S. 195. Vgl. Hans-Josef Steinberg: Karl Lamprecht, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, Band I. Göttingen 1971, S. 58–68. 47 Otto Hintze: Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung (1897), in: Ders.: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. und eingeleitet von Gerhard Oestreich (Gesammelte Abhandlungen 2).

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Wegen des unverkennbar engen Zusammenhangs von mittelalterlicher Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte sowie der Eigenart der nichthistoriographischen mittelalterlichen Quellen, insbesondere zur Grundherrschaft und Stadt, hat es in der mediävistischen Universitätshistorie allerdings weit mehr als in der Neueren Geschichte wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschungen gegeben, konnte ein Alfons Dopsch mit seinen entsprechenden, vor allem dem Frühmittelalter gewidmeten Arbeiten, die er als Grundlage für die Politische Geschichte und in einem Zusammenhang mit einer umfassend konzipierten Kulturgeschichte sah, innerhalb der historischen Zunft zu hoher Reputation und einem großen Schülerkreis gelangen.48 An der Etablierung der Sozialgeschichte im Kanon der Geschichtswissenschaft in der Nachkriegszeit hatte die Mediävistik dann auch gewichtigen Anteil. Im Falle Otto Brunners, des späteren Mitherausgebers der VSWG, wurde die zuvor betriebene „Volksgeschichte“ unter Tilgung antiliberaler Wendungen recht unmittelbar in eine nunmehr moderne Sozialgeschichte als „Strukturgeschichte“ transferiert. Brunner hob für die historische Erkenntnis die zentrale Bedeutung der Quellensprache für eine adäquate wissenschaftliche Begriffsbildung gegenüber zeitbedingten disziplinären Kategorien und Begriffssystemen hervor, stellte aber die Notwendigkeit, auch moderne Ordnungsbegriffe mit ihrem theoretischen Erklärungsgehalt zu verwenden, keineswegs in Abrede, wie er die dem Historismus verpflichtete Begriffsgeschichte mit wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion und struktureller Sozialgeschichte verknüpfte, dabei für soziologische Begriffe und Theorien offen war und grundsätzlich eine engere Kooperation der Geschichtswissenschaft mit historischen und theoretischen Fachwissenschaften wie der Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte für unentbehrlich erachtete, da sie in ihren Sachgebieten eine Arbeit leisteten, die der Historiker höchstens in Teilgebieten selbst durchführen könne.49 Einige von Brunner im Hinblick auf 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 315–322, besonders 318 f. Hintze wurde allerdings 1906/07 anlässlich der von Dietrich Schäfer bekämpften Habilitation seines Schülers Paul Sander in eine kleine Neuauflage des Methodenstreits verwickelt. Sander hatte in seiner Habilitationsschrift „Feudalstaat und bürgerliche Verfassung“ gegenüber einer rein juristischen und institutionengeschichtlichen Erfassung von Staat und Verfassung deren ökonomisch-soziale Voraussetzungen und eine bereits an wichtige Definitionen Max Webers gemahnende soziologische Betrachtungsweise geltend gemacht und war auf die Ablehnung Dietrich Schäfers und Georg von Belows, aber auch danach des Rechtshistorikers Otto von Gierke gestoßen. Gerhard Oestreich: Otto Hintzes Stellung zur Politikwissenschaft und Soziologie, ebd., S. 7–67, hier 39–40; Cymorek, Georg von Below (wie Anm. 11), S. 120–122. Zu Sanders sozialem Verfassungsund Stadtbegriff siehe unten. 48 Hanna Vollrath: Alfons Dopsch, in: Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Band VII (wie Anm. 42), S. 39–54, besonders 39 f., 46 f., 51. 49 Otto Gerhard Oexle: Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71 (1984), S. 305–341; Robert Jütte: Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 13 (1984), S. 237–262; Reinhard Blänkner: Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Luise SchornSchütte (Hg.): Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert

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Mittelalter und Frühe Neuzeit formulierte Grundannahmen wie eine vorliberale ungeschiedene Gemengelage von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ – vorgefunden in der prägnanten Unterscheidung August Ludwig Schlözers in eine ältere ‚societas civilis cum imperio‘ und in eine jüngere ‚sine imperio‘ und in der Aufhebung der Trennung durch ‚Führer‘ und ‚Volksgemeinschaft‘50 – und die dem Mittelalter wegen des Fehlens des modernen Souveränitätsbegriffs mangelnde Unterscheidung von ‚öffentlichem‘ und ‚privatem Recht‘, die Brunner einer dogmatisch orientierten Rechtsgeschichte entgegenhielt, wurden nach 1945 in der historischen und vielfach auch in der rechtsgeschichtlichen Forschung als nicht mehr hinterfragtes Axiom mittelalterlicher Geschichte weitgehend akzeptiert. Dabei argumentierte Brunner in seinen methodologisch anregenden und bahnbrechenden Arbeiten auf einer spezifisch landesgeschichtlichen, aber begrenzten Quellengrundlage mehr begriffsgeschichtlich als institutionen- und sozialgeschichtlich, so dass seine grundlegenden und weitreichenden Annahmen nicht zureichend begründet sind und teilweise auf einer sehr eingeschränkten Fragestellung beruhen. Deutlich als traditionales, vor allem literaturgeschichtlich von der griechischen Antike über Leon Battista Alberti bis zur Hausväterliteratur und in seinen letzten Ausläufern durch Heinrich Wilhelm Riehl im 19. Jahrhundert vermitteltes wirtschaftlich-soziales, rechtliches sowie geistes- und mentalitätsgeschichtliches Grundmodell hingegen ist bei Brunner die Lehre vom herrschaftlich organisierten ‚Ganzen Haus‘ gekennzeichnet, so dass die neuere Welle von Kritik, die an dem knappen Aufsatz fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen (1958) geübt wird, nicht selten die Argumentationsebene verfehlt, weitläufig zutreffende Ausführungen Brunners referiert, die Biographie Brunners in diesem Falle ohne überzeugende Evidenz ausspielt und selber keine vergleichbare Grundkategorie anbieten kann, wie sie dann zugleich die von Brunner selbst angeführten verkehrswirtschaftlichen Elemente und seine vorsichtigen Einschränkungen ignoriert, die vielleicht in Hinblick auf Realität und zeitliche Veränderungen deutlicher hätten ausfallen können.51 Gleichfalls von der Volksgeschichte her kam Erich Maschke, der nach dem Krieg mit seinen Untersuchungen zu den städtischen Unter- und Mittelschichten im Mittelalter sowie in einer größeren Studie unter dem Titel „Verfassung und soziale aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft (ZHF, Beiheft 23). Berlin 1999, S. 45–54. 50 Otto Brunner: Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung XIV. Ergänzungsband 1939, S. 513–528, hier 517. 51 Brunner, Das „Ganze Haus“ (wie Anm. 16); Claudia Opitz: Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚ganzen Hauses‘, in: GG 20 (1994), S. 88– 98; Valentin Groebner: Außer Haus. Otto Brunner und die „alteuropäische Ökonomik“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 69–80. Ergiebiger: Werner Troßbach: Das „ganze Haus“ – Basiskategorie für das Verständnis ländlicher Gesellschaften in der frühen Neuzeit?, in: BDLG 129 (1993), S. 277–314; Stefan Weiß: Otto Brunner und das Ganze Haus oder Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 273 (2001), S. 335–369. Die politische Vergangenheit Brunners animiert Autoren zu aggressiver und denunziatorischer Kritik, die weit über die Person Brunners hinausgeht, ohne dass jedoch Wesentliches zur Sache beigetragen wird. Als Beispiel siehe Hans Derks: Über die Faszination des ‚Ganzen Hauses‘, in: GG 22 (1996), S. 221–242.

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Kräfte“52 grundlegende Arbeiten zur historischen Schichtungsforschung vorgelegt, aber auch auf Klassenantagonismen im mittelalterlichen Bergbau durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit hingewiesen hat.53 Dabei machte Maschke Anleihen bei Begriffsdefinitionen der zeitgenössischen Soziologie auf der Grundlage moderner pluralistischer und demokratischer Industriegesellschaften und rekurrierte zur Erläuterung der oligarchischen Strukturen mittelalterlicher Ratsherrschaft auf Max Weber und seinen Begriff der „Abkömmlichkeit“. Maschke konnte unschwer mit Ratslisten und sozialstatistischen Daten, die vornehmlich aus Steuerbüchern gewonnen waren, zeigen, dass in mittelalterlichen Städten die nach Unruhen und Verfassungskämpfen zunächst erzwungene breitere politische Partizipation durch Einbeziehung von jüngeren Kaufleutegruppen und Handwerkern durch die Oligarchisierung auch innerhalb der Gruppe der Handwerker wieder verengt wurde, dass ökonomische und soziale Tatbestände, ständische Prätention und plutokratisch bestimmte Auslese zünftisch-handwerklicher Ratsherren die verfassungsrechtliche Form überwucherten. Allerdings wird man bis heute kaum eine gewohnheitsrechtliche oder geschriebene Verfassung finden, die völlig frei von oligarchischen Tendenzen ist, und es ist die Frage, ob den mittelalterlichen Städten unter Verabsolutierung einer sozialgeschichtlichen Interpretation wichtige demokratische Züge abgesprochen werden dürfen. Mit seinem bemerkenswerten Aufsatz über das Berufsbewusstsein des mittelalterlichen Kaufmanns erweiterte Maschke die Sozialgeschichte durch explizit mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen.54 Marxismus und dialektischer Materialismus als weltanschauliche Grundpositionen führten in der Geschichtswissenschaft der ehemaligen DDR55 naturgemäß zu einer eingehenden Beschäftigung mit der mittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit teilweise beachtlichen Resultaten, so etwa hinsichtlich des mittelalterlichen Bergbaus, doch blockierte angesichts einer methodologischen Selbstisolation vielfach der obligatorische Rekurs auf die Werke Lenins und Stalins sowie die erkenntnistheoretisch und methodologisch mehr als bedenkliche Verifikation von vorgegebenen dogmatisierten Formationsepochen und Klassenkampfstrukturen die unbefangene Formulierung der Resultate empirischer Forschung, während die Auseinandersetzung mit westlichen Historikern um ‚Feudalismus‘ und ‚frühbürgerliche Revolution‘ insgesamt wenig ergiebig war. Marxistische Denkformen hingegen wie ‚außerökonomischer Zwang‘ und ‚Ware-Geld-Beziehung‘ im Hinblick auf Grundherrschaft und stadtbürgerlichen Frühkapitalismus besaßen auch für westliche Historiker einigen analytischen Erkenntniswert. 52 Erich Maschke: Verfassung und soziale Kräfte in der deutschen Stadt des späten Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland, in: VSWG 46 (1959), S. 289–349, 433–476. 53 Maschkes Aufsätze sind gesammelt in Erich Maschke: Städte und Menschen. Beiträge zur Geschichte der Stadt, der Wirtschaft und Gesellschaft 1959–1977 (VSWG, Beiheft 68). Wiesbaden 1980. 54 Erich Maschke: Das Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Fernkaufmanns, in: Paul Wilpert (Hg.): Beiträge zum Berufsbewußtsein des mittelalterlichen Menschen (Miscellanea Mediaevalia 3). Berlin 1964, S. 306–335. 55 Manfred Straube: Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Forschungen zum Mittelalter und der frühen Neuzeit an den Universitäten der DDR. Anspruch und Ergebnisse, in: Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 31), S. 57–71.

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Die endgültige Etablierung der Wirtschafts- und vor allem der Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft erfolgte seit den 1960er Jahren in Kontinuität der älteren landes- und stadtgeschichtlichen Forschung sowie hinsichtlich der Mediävistik in Anknüpfung an die von Joseph A. Schumpeter so genannte „jüngste“ historische Schule der Nationalökonomie mit Max Weber, Werner Sombart und anderen,56 ferner in Auseinandersetzung mit der französischen Annales-Schule, die in ihren Anfängen ihrerseits in einem kritisch-distanzierten Zusammenhang zu dem abstrakter geführten deutschen Methodenstreit stand,57 weniger mit der anglo-amerikanischen Forschung. Die Führungsrolle der zu einer Gesellschaftsgeschichte ausgebauten Sozialgeschichte, allerdings weitgehend ohne tiefgehende Kultur- und Religionsgeschichte und nicht im Rahmen einer umfassenden, verschiedene kulturelle Systeme vereinigenden Kulturgeschichte, beanspruchte dann eine jüngere Generation von Neuhistorikern.58 Die fortschreitende Enthistorisierung der systematischen Nachbarfächer Wirtschaftswissenschaften und Soziologie wird auf der anderen Seite für die Geschichtswissenschaft im Hinblick auf die Wechselbeziehung von historischer Empirie und moderner Theoriebildung möglicherweise ungünstige Folgen haben. Auf der anderen Seite versuchen moderne Handbuchdarstellungen zur Allgemeinen Geschichte, die Wirtschaftsgeschichte nicht mehr wie im alten Gebhardt-Grundmann in ein Sonderkapitel abzuschieben,59 sondern sehr viel enger mit anderen historischen Lebensbereichen und Entwicklungen zu verflechten. III. Mittelalterliche Menschen reflektieren ihre Lebensverhältnisse selbst60 und offerieren dem Historiker eigene soziale, ökonomische und politische Normen, Konventionen und Wertsetzungen für die individuelle Lebensführung innerhalb eines sozialen Rahmens sowie für die Kohärenz und Zweckbestimmung von Gruppen und Verbänden,61 ferner soziologische Begriffe, Theoreme und Modellvorstellungen verschiedener Art, die als solche der Welt von Adel und Grundherrschaft vormodern sind, die aber als Ergebnisse der Reflexion über städtische Verhältnisse zu 56 Schumpeter, Ökonomische Analyse (wie Anm. 15), Band 2, S. 996–1000; Raphael, Historikerkontroversen (wie Anm. 45), S. 358. 57 Ebd., S. 363. 58 Zum Konzept ‚Historische Kulturwissenschaft‘ siehe Otto Gerhard Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte heute (GG, Sonderheft 16). Göttingen 1996, S. 14–40. 59 Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., hg. von Herbert Grundmann, Band 1: Frühzeit und Mittelalter. Stuttgart 1970, Kap. VII: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter, von Karl Bosl. Von Wirtschaft ist darin zudem nur auf wenigen Seiten die Rede. 60 Hans-Werner Goetz: „Nobilis“. Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit, in: VSWG 70 (1983), S. 153–191. 61 Hugues Neveux/Eva Österberg: Norms and Values of the Peasantry in the Period of State Formation: A Comparative Interpretation, in: Peter Blickle (Hg.): Resistance, Representation and Community. Oxford 1997, S. 155–184; Eberhard Isenmann: Norms and Values in the European City, 1300–1800, in: Ebd, S. 185–215.

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modernen Erscheinungen des industriellen Zeitalters in Beziehung gesetzt werden können und deutliche Affinitäten aufweisen. Im herrenständisch-feudalen und agrarwirtschaftlichen Bereich herrscht seit dem frühen Mittelalter die soziale Dichotomie zwischen Reich und Arm, zwischen den herrschenden, schutzgewährenden, von der Grundrente lebenden ‚Reichen‘ und zugleich ‚Mächtigen‘ (‚divites/potentes‘) und den mit ihrer Hände Arbeit die Felder bestellenden ‚Armen‘ (‚pauperes‘), die nicht nur relativ arm, sondern auch schutzbedürftig sind, vielfach noch im hofrechtlichen und wirtschaftlichen Verband der ‚familia‘62 mit dem Mittelpunkt des Herrenhauses leben und der Grundherrschaft unterworfen sind.63 In der Stadt, in der zunächst auch Hörige das Bürgerrecht erwerben können, verschwindet die herrschaftsrechtliche Prägung der Gesellschaftsverhältnisse, sie wird auf politische Konstellationen reduziert. Dadurch werden in der Stadt, die Freizügigkeit und freie Verfügung über den Arbeitsertrag gewährt, im Zeichen von bürgerlicher Rechtsgleichheit ‚Reich‘ und ‚Arm‘ zu primär ökonomisch-sozialen Kategorien, mit der Maßgabe, dass – wie die Formel lautet – ‚Arm und Reich‘, d. h. alle ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede, bei der Rechtsdurchsetzung vor Gericht, aber auch politisch vom Stadtregiment gleich zu behandeln sind.64 Die wirtschaftlich Reichen sind freilich, auch unter dem Gesichtspunkt der ‚Abkömmlichkeit‘ für politische Tätigkeit, in der Verfassungs- und Sozialordnung häufig zugleich die politisch Mächtigen. Die Unruhen und Verfassungskämpfe in der Stadt werden von den spätmittelalterlichen Zeitgenossen verschiedentlich auf einen grundsätzlichen Antagonismus, nämlich den sozialen und in seiner Konsequenz politischen Gegensatz zwischen den wohlhabenden und politisch mächtigen, den Rat besetzenden ‚Reichen‘ und den der Ratsherrschaft unterworfenen ‚Armen‘ zurückgeführt. Ein konservativer Chronist wie der Fortsetzer der Magdeburger Schöffenchronik spricht von altem Hass zwischen den Reichen und den Armen; er unterstellt den Armen eine auf Sozialneid gegründete Feindschaft gegenüber allen Vermögenden und eine größere Bereitschaft, den Reichen zu schaden, als dies umgekehrt der Fall sei.65 Die rechtlich egalitäre stadtbürgerliche Gesellschaft des Mittelalters, in der wirtschaftlicher, vor allem nun auch erwerbswirtschaftlicher Reichtum ein überragen62 Alexander Bergengruen: Adel und Grundherrschaft im Merowingerreich. Siedlungs- und standesgeschichtliche Studie zu den Anfängen des fränkischen Adels in Nordfrankreich und Belgien (VSWG, Beiheft 41). Wiesbaden 1958; Ludolf Kuchenbuch: Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm (VSWG, Beiheft 66). Wiesbaden 1978. 63 Karl Bosl: Potens und Pauper. Studien zur gesellschaftlichen Differenzierung im frühen Mittelalter und zum „Pauperismus“ des Hochmittelalters (1963), in: Ders.: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. München/Wien 1964, S. 106–134; Franz Irsigler: Divites et pauperes in der Vita Meinwerci, in: VSWG 57 (1970), S. 449–499. 64 Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, S. 76 f., 245 f.; Barbara Frenz: Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts. Geistesgeschichte, Quellensprache, Gesellschaftsfunktion (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 52). Köln/Weimar/Wien 2000. 65 Die Chroniken der deutschen Städte. 7 Bände (Magdeburg, Band 1). Leipzig 1869, ND Göttingen 1962, S. 313.

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des Merkmal der Statusdefinition darstellt, erscheint als geschichtete Gesellschaft. Die Unterscheidung in die beiden Schichten ‚Reich‘ und ‚Arm‘ wird in der sozialen Sprache gelegentlich durch die Einführung der Kategorie der ‚Mittelbürger‘, in Italien der ‚mezzana gente‘, zu einem Dreischichtenmodell erweitert, während die Kleiderordnungen im Übergang zur Frühen Neuzeit eine Vielzahl differenzierter Stände im Sinne von sozialen Ständen konstituieren, die vorwiegend nach ökonomischen Kriterien abgegrenzt werden und deshalb analytisch auch als Schichten oder Klassen bezeichnet werden können. In der gelehrten Reflexion der Aristoteliker Thomas von Aquin (1225–1274) und Aegidius Romanus (gest. 1316) gibt es Ober-, Mittelund Unterschichten, und Aegidius Romanus entwickelt, gestützt auf die „Politik“ des Aristoteles, für das Mittelalter eine regelrechte Mittelstandstheorie, wonach ein möglichst breiter, durch mittleren Besitz definierter Mittelstand die Stabilität des Gemeinwesens am besten gewährleiste. Werde ein Volk aus vielen mittleren Personen gebildet, so komme es nicht zu Unrechtstaten der Überreichen und Übermächtigen, die sich nicht unterordnen können und herrschen und unterdrücken wollen, so herrsche nicht der Sozialneid der ganz Armen, die hinterhältig nach den Gütern der Reichen trachteten und, durch Widerstand zur Macht gelangt, nicht fähig seien, gerecht zu regieren – dann lebe man maßvoll und vernünftig, bestehe zwischen den Bürgern ein Band der Liebe, herrschten Gleichheit und Gerechtigkeit, fehlten als dissoziierende Elemente der Neid der Armen auf die Reichen und die Verachtung der Reichen für die Armen.66 Die soziologische, stratifikatorische Betrachtungsweise mittelalterlicher Autoren oder moderner Historiker findet jedoch ihre Grenzen in der politischen Prätention und in den Lebensformen der alten ‚Geschlechter‘, die in ihrer Mischung von adeligen und kaufmännischen Ehrbegriffen in der Stadtgesellschaft gegenüber dem handwerklichen Zunftbürgertum ein ausgesprochen ständisches Element darstellen, so dass es angesichts einer tiefgehenden Dissoziierung und Segmentierung der Stadtbevölkerung kaum möglich ist, über den Rechtsbegriff des Bürgers hinaus in sozialem Sinne von einem Stadtbürgertum zu sprechen. So erscheint es nach wie vor sinnvoll, zur Analyse von Stadtgesellschaften mit den Begriffen von ‚Schicht‘, ‚Klasse‘ und ‚Stand‘ zu operieren. Außerdem kommen die sozialen, rechtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Erscheinungen von Randgruppen und von sozialer, nicht moralischer, ‚Unehrlichkeit‘ hinzu, die im Einzelnen immer noch beträchtliche Definitions- und Erklärungsprobleme bieten. Wenn seit dem frühen Mittelalter, das noch keine formierten Stadtgemeinden kennt und ökonomisch an der Agrarwirtschaft orientiert ist, ein gesamtgesellschaftliches Modell entworfen wird, so ist es funktional konzipiert und teilt die Gesellschaft – mit modifizierten Ausläufern bis ins 20. Jahrhundert hinein – in ‚oratores‘ (Betende), ‚bellatores‘ (Krieger) und ‚laboratores‘ (Arbeiter) ein.67 Unter diese drei 66 Aegidius Romanus: De regimine principum libri III. Romae 1556, ND Frankfurt a. M. 1968, lib. III, pars II, cap. XXXIII, S. 322–323; Aristoteles: Politik, IV, 11. 67 Otto Gerhard Oexle: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Franti‰ek Graus (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Sigmaringen 1987, S. 65–176. Zu organologischen Vorstellungen siehe Tilman Struve: Pedes publicae. Die dienenden Stände im Verständnis des Mittelalters, in: HZ 236 (1983), S. 1–

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Kategorien können dann die Gruppen Klerus, Fürsten und Adel sowie die Bauern, denen explizit erst spät die städtischen Handwerker hinzugefügt werden, soziologisch subsumiert werden, während die Großkaufleute letztlich ohne genaue Zuordnung bleiben. Doch gerade der Kaufmann ist eine der umstrittensten Figuren, an der sich während des Mittelalters ein eklatanter Wandel in der sozialen Einschätzung unter verschiedenen Gesichtspunkten und teilweise kontradiktorischen Wertungen beobachten lässt.68 In der Antike und bei Aristoteles mit seiner künstlichen Erwerbsart der Chrematistik, der keine Grenzen kennenden Kunst des Gelderwerbs zugeordnet,69 kann der Kaufmann in der gleichfalls agrarwirtschaftlich geprägten Vorstellungsund Normenwelt des Frühmittelalters kaum oder sogar niemals Gott gefallen (Pseudo-Chrysostomus) und ist bei Albert von Metz der Meineidige, Ehebrecher und Trinker schlechthin.70 Doch wird der Kölner Kaufmann im „Guten Gerhard“ des Rudolf von Ems zu Beginn des 13. Jahrhunderts im Roman als „Prototyp eines klugen, rechtschaffenen Kaufmanns, der seine Gewinnchancen abwägt und seinen Vorteil zu wahren weiß“, zur vorbildlichen Exempelfigur in einem höfischen Szenarium.71 Bei den Scholastikern erhält er eine Aufwertung durch seine Dienste im Interesse des Gemeinwohls, bis – im Vorgriff auf Bernhard de Mandevilles Bienenfabel – der Humanist Antonio Loschi die ‚avaritia‘ als natürliche Anlage des Menschen rechtfertigt und auf ihre kulturellen Resultate verweist72 und Dr. Konrad Peutinger im Auftrag interessierter Kreise sogar aus dem ‚Eigennutz‘ des unter Mühen und Gefahren für Leib, Leben und Güter tätigen Kaufmanns durch genuin wirtschaftliche Mechanismen und Verflechtungen den dauerhaften Vorteil der Gesamtheit hervorgehen lässt,73 was nach traditionaler Teleologie unmöglich war. Weitere Divergenzen zwischen biblisch-kirchlichen und weltlichen Sozialvorstellungen werden erkennbar, wenn sich der Kaufmann von seiner Erwerbstätigkeit her von den Handarbeitern absetzt und grundsätzlich den von der Kirche perhorreszierten ‚Müßig-

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27; Luise Manz: Der Ordo-Gedanke. Ein Beitrag zur Frage des mittelalterlichen Ständegedankens (VSWG, Beiheft 33). Stuttgart 1937. Maschke, Berufsbewußtsein (wie Anm. 54); Franz Irsigler: Kaufmannsmentalität im Mittelalter, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.): Mentalität und Alltag im Spätmittelalter. Göttingen 1985, S. 53–75; Evamaria Engel: Zum Alltag des deutschen Kaufmanns im Spätmittelalter, in: Peter Dinzelbacher/Hans-Dieter Mück (Hg.): Volkskultur des europäischen Spätmittelalters. Stuttgart 1987, S. 89–108; Winfried Trusen: Handel und Reichtum: Humanistische Auffassungen auf dem Hintergrund vorangehender Lehren in Recht und Ethik, in: Heinrich Lutz (Hg.): Humanismus und Ökonomie (Mitteilung VIII der Kommission für Humanismusforschung). Weinheim 1983, S. 87–103. Aristoteles: Politik, I, 8–11. Über die Kaufleute von Tiel: Friedrich Keutgen (Hg.): Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte. Berlin 1901, ND Aalen 1965, Nr. 75, S. 44. Ursula Peters: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7). Tübingen 1983, S. 36–48, Zitat S. 45. Trusen, Handel und Reichtum (wie Anm. 68), S. 96 f. Clemens Bauer: Conrad Peutinger und der Durchbruch des neuen ökonomischen Denkens in der Wende zur Neuzeit, in: Augusta 955–1955. Forschungen und Studien zur Kultur und Wirtschaftsgeschichte Augsburgs. München 1955, S. 219–228.

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gängern‘ zugeschlagen wird. Dank dieser Eigenschaft wiederum hat der Kaufmann Zugang zur Welt des Adels und kann, gestützt auf Reichtum und alte Familie, innerhalb der Stadt – als Angehöriger des Patriziats oder einer Kaufleutearistokratie – seinen sozialen und politischen Vorrang und seine genuine Berufung zur Regierung wie selbstverständlich beanspruchen, muss dann aber in den Auseinandersetzungen mit den politischen Prätentionen des Zunftbürgertums seine Position ideologisch begründen. Gegenüber der gebundenen Stadtwirtschaft verficht er die Freiheit des Großhandels, verletzt aber nach zünftischer Auffassung durch wirtschaftliche Expansion, übermäßigen Einsatz von Kapital und Preisabsprachen das Nahrungsprinzip, dem auch er unterworfen sein sollte. Der Kaufmann ist Träger von Schriftlichkeit, spricht fremde Sprachen, fixiert Handelsbräuche seiner Zeit,74 entwickelt und rezipiert Handelstechniken komplizierter Art, übt sich in der Buchführung, die in entwickelten Formen bis hin zur doppelten Buchführung des Fra Luca Pacioli eine Gewinn- und Verlustrechnung ermöglicht,75 initiiert ein Schulwesen nach weltlichen praktischen Belangen und versucht an der wissenschaftlichen Entwicklung zu partizipieren.76 Aber man nimmt seinen in kurzer Zeit rapide anwachsenden Reichtum wahr, und populäre antikapitalistische Strömungen stellen ihn deshalb in Beziehung zu Wucher, Monopolbestrebungen und nacktem Betrug und wollen die Handelsgesellschaften zerschlagen wissen. Er falliert, versucht vor seinen Gläubigern zu fliehen, sitzt in der Fremde in Schuldhaft (Hildebrand Veckinchusen), sein Vermögen wird von seinem königlichen Gönner schließlich konfisziert (Jacques Coeur); er erwägt das Unrecht und die Sündhaftigkeit seines Tuns, restituiert verbotenen Gewinn, macht fromme Stiftungen, wird melancholisch (Datini) und zieht sich in nicht wenigen Fällen am Lebensabend in das Kloster zurück. Die überzeitliche und zugleich historisch konservierte anthropologische Lage des trotz aller gesellschaftlicher Reputation in ethischen Fragen seines Handelns tief verunsicherten Kaufmanns wird höchst eindrucksvoll noch in Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ im Anschluss an ein nach altem lübischem Recht und traditionaler Wirtschaftsethik verbotenes und folgerichtig von himmlischer Elementargewalt in Gestalt von Hagelschlag bestraftes sündhaftes Spekulationsgeschäft mit Getreide auf dem Halm reflektiert.77 Der universelle soziologische Zentralbegriff des vorrevolutionären Alteuropa ist derjenige des ‚Standes‘ (‚status‘). Häufig privilegial geordnete soziale und poli74 Theodor Gustav Werner: Repräsentanten der Augsburger Fugger und Nürnberger Imhoff als Urheber der wichtigsten Handschriften des Paumgartner-Archivs über Welthandelsbräuche im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, in: VSWG 52 (1965), S. 1–41. 75 Neuerdings und mit der älteren Literatur: Franz-Josef Arlinghaus: Zwischen Notiz und Bilanz. Zur Eigendynamik des Schriftgebrauchs in der kaufmännischen Buchführung am Beispiel der Datini/di Berto-Handelsgesellschaft in Avignon (1367–1373) (Gesellschaft, Kultur und Schrift. Mediävistische Beiträge 8). Frankfurt a. M. u. a. 2001. 76 Hanns-Peter Bruchhäuser: Kaufmannsbildung im Mittelalter. Determinanten des Curriculums deutscher Kaufleute im Spiegel der Formalisierung von Qualifikationsprozessen (Dissertationen zur Pädagogik 3). Köln/Wien 1989; Johannes Fried: Kunst und Kommerz. Über das Zusammenwirkung von Wissenschaft und Wirtschaft im Mittelalter vornehmlich am Beispiel der Kaufleute und Handelsmessen, in: HZ 255 (1992), S. 281–316. 77 Achter Teil, Kap. 2 und 4.

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tische Stände gibt es bis 1789 und noch später, doch diskutiert nach den älteren, in diese Richtung gehenden Analysen Alexis de Tocquevilles die moderne Sozialgeschichte die Frage, ob die politischen Stände in Frankreich seit dem 17. und vor allem 18. Jahrhundert angesichts ihrer Entpolitisierung durch die sich absolutistisch gebärdende Monarchie und des dadurch bedingten Hervortretens ökonomischer Merkmale nicht schon im Unterschied zu den mittelalterlichen politischen Ständen oder Herrschaftsständen den Charakter von ‚Klassen‘ annehmen. Die mittelalterlichen Quellen geben dem modernen Historiker ein begriffliches Instrumentarium zur Hand, um die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse und den Status des Einzelnen genauer zu analysieren und zu beurteilen, indem sie den Begriff des ‚status‘ (‚Stand‘) durch ein verschiedene Aspekte und Merkmale akzentuierendes, dadurch selbstexplikatives Wortfeld erläutern, und zwar mit den Ausdrücken ‚conditio‘ (‚Wesen‘, ‚Eigenschaft‘) – ‚honor‘ (‚Ehre‘) – ‚officium‘ (‚Amt‘) – ‚dignitas‘ (‚Würde‘).78 Der Ausdruck ‚conditio‘, ‚Wesen‘, bezeichnet dabei die den Menschen prägende ökonomisch fundierte materielle Lebensgrundlage, die Art des Subsistenzerwerbs und die daraus resultierende, nach außen durch bestimmte Merkmale in Verhalten und Konsum manifestierte Lebensführung.79 Den höchsten Prestigewert besaßen Grundherrschaft, Grundbesitz und arbeitsloser Grundrentenbezug, die am besten für Herrschaft und Politik qualifizierten, auch nach teilweiser Konversion von Geldvermögen in ertragsfähige Immobilien zum entscheidenden Ausgangspunkt für soziale Mobilität, d. h. den Aufstieg in den Adel wurden. Die Verbindung von ‚status‘ und ‚conditio‘ macht zunächst den sozialen Stand aus, der durch adelige und patrizische Geburt und qualifizierte Lebensführung mit Freiheit von tagfüllender Erwerbsarbeit, qualifizierter ‚Ehre‘ und ‚Muße‘ (‚otium‘) – in Übereinstimmung von geltenden Vorstellungen 78 Zum sozialen und politischen Standesbegriff im Spätmittelalter siehe Eberhard Isenmann: Kaiser, Reich und deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts, in: Joachim Ehlers (Hg.): Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter (Nationes 8). Sigmaringen 1989, S. 145–246, hier 187–192. 79 Neuere Untersuchungen zu den Lebensverhältnissen von Adel und Stadtbewohnern: Karl-Heinz Spieß: Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters 13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts (VSWG, Beiheft 111). Stuttgart 1993; Markus Bittmann: Kreditwirtschaft und Finanzierungsmethoden. Studien zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Adels im westlichen Bodenseeraum 1300–1500 (VSWG, Beiheft 99). Stuttgart 1991; Cord Ulrichs: Vom Lehnhof zur Reichsritterschaft. Strukturen des fränkischen Niederadels am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit (VSWG, Beiheft 134). Stuttgart 1997. Zum Adel und zu ständischen Übergangserscheinungen siehe Kurt Andermann/Peter Johanek: Zwischen NichtAdel und Adel (Vorträge und Forschungen 53). Stuttgart 2001; Ulf Dirlmeier: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14.–Anfang 16. Jh.) (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1978, 1). Heidelberg 1978; Valentin Groebner: Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 108). Göttingen 1993. Zur Möglichkeit, über die unterschiedliche Einschätzung des Schadenersatzwertes des getöteten Menschen in den ‚Wergeldern‘ des fränkischen Kompositionensystems sowohl zu ständegeschichtlichen als auch monetären Erkenntnissen zu gelangen, siehe den Aufsatz des Juristen Philipp Heck: Ständeproblem, Wergelder und Münzrechnung der Karolingerzeit, in: VSWG 2 (1904), S. 337–381, 511– 558.

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und einer tradierten antiken Auffassung – zum politischen Stand durch die Übernahme von Ämtern mit entsprechenden Dignitäten erweitert wird. Es ist daher aus der Sicht der adeligen Herrenstände und des städtischen Patriziats ein die alte Ordnung störender, revolutionärer und immer noch nicht von der ökonomischen und sozialen Seite her hinreichend erhellter Vorgang, wenn Handwerker auf Grund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und politischen Verbandsbildung durch die Zunft einen gleichfalls qualifizierten Ehrbegriff, der auf der Vorstellung von ‚Arbeitsehre‘ beruht, prätendieren und häufig gewaltsam eine Beteiligung am Stadtregiment und seinen Ämtern erstreiten. Otto von Gierke hat den mittelalterlichen Zünften das historische Verdienst zuerkannt, in einer feudalen Umwelt „zum ersten Mal das Recht und die Ehre der Arbeit“ durchgesetzt zu haben.80 Die mittelalterlichen Zunftkämpfe zeigen, dass auch in der Stadt, die in ihrer Verfassung, weniger in der politischen Realität, durchaus vom Reichtum als Voraussetzung absehen kann, politische Berechtigung und Regierungsfähigkeit nicht ohne ein spezifisch ständisch-soziales Element, nämlich das der ‚Ehre‘ im Sinne einer objektiven Standesehre und nicht der Moralität, denkbar sind. Man muss, um ein überspitztes Fazit zu ziehen, nicht Marxist sein, um zu sehen, dass nach mittelalterlichen Vorstellungen in der Sozialordnung mit dem Fortschreiten von der materiellen Lebensgrundlage zum Otium und einer höheren politischen Reflexionsstufe in einem bestimmten Sinne durchaus das Sein das Bewusstsein prägt, wie denn auch auf dem Felde der Ökonomie und Wirtschaftsethik der Arbeitswert für die mittelalterlichen Theoretiker neben dem gleichfalls herausgestellten Nutzen vielfach eine entscheidende Bedeutung für die Preisbildung zukommt. Überliefert das Mittelalter einen sehr präzisen, verschiedene Elemente bündelnden und aufeinander beziehenden Standesbegriff, so ist es im Hinblick darauf doch sehr schwierig zu ermitteln, wann sich Stände im Sinne von kohärenten und korporativ verfassten ständischen Gruppen wie Adel, Reichsfürstenstand, städtische Patriziate oder der soziale Stand der Bauern formiert haben. Für die Gruppen- und Gemeinschaftsbildung von Kaufleuten, Handwerkern und den zeitweise wandernden Handwerksgesellen81 sowie in reduzierter Form von religiösen Laienbruderschaften hält das Mittelalter ein häufig durch Eidesleistung begründetes genossenschaftliches, horizontal-paritätisches soziales Modell einer verwillkürten Solidargemeinschaft bereit, das in der Forschung anhand eines selektierten und zum wissenschaftlichen Ordnungsbegriff erhobenen Ausdrucks der Quellen auch als Gildetypus bezeichnet wird. Zu den konstitutiven Elementen dieses Modells, die bei den Verbandsbildungen nicht stets alle zusammenkommen, gehören gegenseitiger Schutz nach außen, Friede und Freundschaft im Innern, gewaltfreie Konfliktbereinigung durch verbandsinterne Instanzen der Streitentscheidung, die brüderliche Gesinnung (‚fraterna dilectio‘), soziale Hilfeleistung (‚caritas‘) auch gegen Verbandsfremde, ferner als Mittel der Vergemeinschaftung, der Erneuerung und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft das gemeinschaftliche Essen und Trin80 Otto von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1. Berlin 1868, ND Graz 1954, S. 358 f. 81 Wilfried Reininghaus: Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (VSWG, Beiheft 71). Wiesbaden 1981; ders., Die Migration (wie Anm. 9), S. 1–21.

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ken (‚convivium‘), gemeinschaftliche religiöse Kultausübung, Totenehrung und Totenmemoria.82 Wer sich mit der mittelalterlichen Stadtgesellschaft auseinandersetzt, findet eine nach Vermögen und sozialen Merkmalen geschichtete, vor allem in Hinblick auf die politische Berechtigung zugleich ständisch-exklusiv oder bei erweiterter politischer Partizipation vielfach plutokratisch ausgerichtete Gesellschaft vor, die ferner in Gemeinschaften und Korporationen verfasst ist und auf diesen aufbaut, dabei im Hinblick auf den Kreis der Bewohner mit Bürgerrecht und auf die Rechtsdurchsetzung vor Gericht rechtlich egalitär ist. Es ist daher zu ermitteln, in welchen Situationen welche ökonomischen und gesellschaftlichen Prägungen bestimmend sind; und es ist hinsichtlich der aus vielen Elementen zusammengesetzten Gesamtgesellschaft sowie speziell hinsichtlich der äußerst komplexen mittelalterlichen Zunft zu fragen, in welchem Umfang und aus welchen Motiven heraus diese mittelalterliche gesellschaftliche Komplexität obrigkeitlich-staatlich reduziert worden ist. Theoretische Aussagen des Mittelalters beschränken sich nicht nur auf soziale und politische Theorien, die vom Aristotelismus und Platonismus gespeist werden. Monetäre Theorien von Thomas von Aquin, Nicolaus von Oresme und Gabriel Biel bis zur spätscholastischen Schule von Salamanca, die bis in das 17. Jahrhundert hinein wirksam ist, prägen das reflektierte ökonomische Denken. Moraltheologen und in geringerem Umfang Juristen haben sich unter dem Postulat der Gerechtigkeit in den Verkehrsbeziehungen eingehend mit Kaufverträgen, dem freien Marktpreis, dem fluktuierenden Konkurrenzpreis und dem taxierten, meist den Arbeitsfaktor konstant haltenden Preis befasst und die preisbildenden Faktoren analysiert,83 während in städtischen wirtschaftspolizeilichen Verordnungen ein klares Verständnis vom funktionierenden Markt entgegentritt und obrigkeitliche Preistaxierungen unter experimenteller Bestimmung der Preisfaktoren und Fixierung des Arbeitsanteils vorgenommen wurden. Obwohl von der Kirche und von Gelehrten dogmatisch die Sterilität von Geld hochgehalten wurde, ist es dennoch auch in der Theorie, insbesondere bei dem Franziskaner Petrus de Olivi, dem hl. Antoninus von Florenz, dem Berater Cosimos de‘ Medici, und dem hl. Bernhardinus von Siena zur Erfassung des Kapitalbegriffs gekommen. Juristen und vor allem Moraltheologen haben sich bereits auf der Grundlage des antiken 82 Otto Gerhard Oexle: Die mittelalterlichen Gilden: Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Albert Zimmermann (Hg.): Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters (Miscellanea Mediaevalia 12,1). Berlin/New York 1979, S. 203–226; Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 64), S. 299–301 (mit weiterer Literatur). 83 Selma Hagenauer: Das „justum pretium“ bei Thomas von Aquino. Ein Beitrag zur Geschichte der objektiven Werttheorie (VSWG, Beiheft 26). Stuttgart 1931; Hugo Ott: Zur Wirtschaftsethik des Konrad Summenhard (*ca. 1455, †1502), in: VSWG 53 (1966), S. 1–27; Winfried Trusen: Äquivalenzprinzip und gerechter Preis im Spätmittelalter, in: Staat und Gesellschaft. Festschrift Gerhard Küchenhoff. Göttingen 1967, S. 247–263; Julius Kirshner (Hg.): Raymond de Roover, Business, Banking, and Economic Thought in Late Medieval and Early Modern Europe. Selected Studies of Raymond de Roover. Chicago/London 1974; Fabian Wittreck: Geld als Instrument der Gerechtigkeit. Die Geldrechtslehre des Hl. Thomas von Aquin in ihrem interkulturellen Kontext (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der GörresGesellschaft, N. F. 100). Paderborn u. a. 2002.

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Steuerstaates, d. h. den Aussagen der Kirchenväter und des römischen Rechts, in umfassender Weise mit der Rechtfertigung von Steuern, ihrem Wesen als Transfer von privatem Geldvermögen in öffentliches Vermögen – privatam pecuniam in publicam conferre (Francesco Patrizi, 1412–1494)84 – sowie als Äquivalent oder Opfer, ihrer Klassifizierung, ferner mit Steuerprinzipien und mit Fragen einer auch technisch nach der Steuerart wie nach dem Steuermaß gerechten Besteuerung befasst und dabei auch die soziale Problematik indirekter Steuern herausgestellt,85 so dass die Forschung noch deutlich machen muss, welche wirklich neuen Elemente einer Steuerlehre dem späteren Kameralismus zu verdanken wären. Einige derartiger Gesichtspunkte kehren in mittelalterlichen Steuerordnungen wieder. Steuergeschichtlich sind in der Forschung bisher kaum jene Elemente weltlicher Steuerordnungen herausgearbeitet worden, die den Weg zu einer Einkommensbesteuerung weisen. Ohnehin bestürzend modern erscheint die von Francesco Guicciardini dargestellte wirtschaftliche und sozialpolitische Diskussion um die Florentiner Progressivsteuer von 1495.86 Namentlich im Spätmittelalter und vor allem von reformerischen Autoren des 15. Jahrhunderts wurden wichtige Fragen der Finanzwirtschaft erörtert mit der begrifflichen Unterscheidung von ‚ordentlichen‘ und ‚außerordentlichen‘ Ausgaben und der Konstituierung eines Staatsschatzes und eines Schuldentilgungsfonds im Rahmen eines Gesamtbudgets sowie mit Vorschlägen für die Errichtung und den kontrollierten Vollzug eines kalkulierten Haushaltes.87 Die meisten dieser theoretischen Beiträge des Mittelalters besitzen nicht nur dogmengeschichtlichen Eigenwert, sondern korrespondieren mit Erscheinungen der Praxis, so dass hinsichtlich eines möglichen Wechselspiels von Theorie und Praxis nicht nur die zitierten literarischen, sondern auch die empirischen Grundlagen der Theorien zu untersuchen sind. Die Aufarbeitung mittelalterlicher Theorien hat zudem den Vorteil, dass sie bereits innerhalb mittelalterlicher Verhältnisse von einer bloßen Deskription wegführt. Einen wichtigen Beitrag zu den finanzwirtschaftlichen Lehren auch des Mittelalters, der keine adäquate quellengestützte Fortführung fand,88 hat mit regionaler Beschränkung bereits im Jahre 1881 Giuseppe Ricca-Salerno, der italienische Schüler Adolph Wagners, geleistet,89 doch war in jüngerer 84 Francesco Patrizi: De institutione reipublicae, Ausgabe 1584, fol. XLIII b. 85 Zu den mittelalterlichen Steuertheorien siehe zusammenfassend Eberhard Isenmann: Medieval and Renaissance Theories of State Finance, in: Richard Bonney (Hg.): Economic Systems and State Finance. Oxford 1995, S. 21–52. Vgl. auch Martin Körner: Steuern und Abgaben in Theorie und Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Eckart Schremmer (Hg.): Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG, Beiheft 114). Stuttgart 1994, S. 53–76. 86 Gustav Fremerey: Guicciardinis finanzpolitische Anschauungen (VSWG, Beiheft 26). Stuttgart 1931; Isenmann, Medieval and Renaissance Theories (wie Anm. 85), S. 50–52. Künftig dazu ausführlich Eberhard Isenmann: Finanz- und steuergeschichtliche Probleme des 15. Jahrhunderts und der Gemeine Pfennig des Wormser Reichstags von 1495, in: Michael Matheus (Hg.): Der Wormser Reichstag 1495 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte). Mainz. 87 Isenmann, Medieval and Renaissance Theories (wie Anm. 85), S. 37–44. 88 Eine Ausnahme bildet Paul Kehl: Die Steuer in der Lehre der Theologen des Mittelalters. Eine quellengeschichtliche Studie (Volkswirtschaftliche Studien 17). Berlin 1927. 89 Giuseppe Ricca-Salerno: Storia delle dottrine finanziarie in Italia. Palermo 1881.

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Zeit auch das Mittelalter Gegenstand vergleichender Beiträge zur europäischen Finanzgeschichte im Rahmen eines großangelegten Forschungsprojektes der European Science Foundation, das die Finanzgeschichte in einen konstitutiven Zusammenhang zur Staatsbildung und damit auch zur traditionellen Allgemeinen Geschichte stellte.90 In seiner monumentalen „Geschichte der ökonomischen Analyse“ hat Joseph A. Schumpeter Affinitäten der Wirtschaftsdoktrinen der Hoch- und vor allem der Spätscholastik des 15. bis 17. Jahrhunderts zu den Lehren Adam Smiths und John Stuart Mills herausgestellt, sogar Ursprünge der theoretischen Fundierung des Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts im Mittelalter erblickt und den Scholastikern das Verdienst zuerkannt, „mehr als jede andere Gruppe die ‚Begründer‘ der Wirtschaftswissenschaft“ geworden zu sein,91 während bereits Edgar Salin namentlich den hl. Bernhardinus von Siena als einen „der wenigen, wirklich großen Theoretiker aller Zeiten“ gewürdigt hatte.92 Etwa zur selben Zeit begann der belgisch-amerikanische Banken- und Wirtschaftshistoriker Raymond de Roover den Blick auf Kontinuitäten zwischen der scholastischen und neoklassischen Wirtschaftslehre zu lenken und hob – wie Schumpeter – die Entwicklung einer subjektiven Werttheorie als wohl bedeutendste Leistung der Scholastik hervor.93 Allerdings sind die Aussagen der Scholastiker insgesamt recht widersprüchlich, und ihre Beziehung zur modernen ökonomischen Lehre bedarf einer neuerlichen kontextuellen Überprüfung.94 Da die scholastischen Moraltheologen vornehmlich normativ und ethisch argumentierten, ist insbesondere – ähnliches gilt etwa auch für die frühmittelalterlichen Rechtsquellen, die wirtschaftspolizeilichen karolingischen Kapitularien95 und die Verordnungen der Städte – der empirische und wirtschaftsanalytische Gehalt noch deutlicher herauszuarbeiten als dies bei Schumpeter geschehen ist.96 Was den Spätscholastikern an theologischer und philosophischer Subtilität gegenüber den Hochscholastikern fehlen mag – für die Allgemeine Geschichte sind ihre wirtschaftlichen und sozialen Lehren umso wichtiger.

90 Integrativ nach Sachproblemen: Bonney (Hg.), Economic Systems (wie Anm. 85). Nach Nationen: Richard Bonney (Hg.): The Rise of the Fiscal State in Europe, c. 1200–1815. Oxford 1999. Ferner: Schremmer (Hg.), Steuern, Abgaben und Dienste (wie Anm. 85). 91 Schumpeter, Ökonomische Analyse (wie Anm. 15), Band 1, S. 116–165, Zitat S. 143. 92 Edgar Salin: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. 4. Aufl., Bern 1951, S. 45. 93 Vgl. zusammenfassend Julius Kirshner: Raymond de Roover on Scholastic Economic Thought, in: Kirshner (Hg.), Raymond de Roover (wie Anm. 83), S. 15–36. 94 Kritisch hierzu Wolfgang Zorn: Humanismus und Wirtschaftsleben nördlich der Alpen, in: Lutz (Hg.), Humanismus und Ökonomie (wie Anm. 68), S. 37 f. 95 Harald Siems: Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen (MGH, Schriften 35). Hannover 1992; Hans-Jürgen Schmitz: Faktoren der Preisbildung für Getreide und Wein in der Zeit von 800 bis 1350 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 20). Stuttgart 1968. 96 Schumpeter, Ökonomische Analyse (wie Anm. 15), Band 1, besonders S. 143, 149 f.

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IV. Die Perspektive der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ergibt spezifische Anhaltspunkte für die Periodisierung der diffusen Erscheinungen historischer Empirie. Die Allgemeine Geschichte lässt konventionell das Mittelalter um 1450, 1500 oder mit der Reformation zu Ende gehen. Historische Periodisierungen stellen vernünftige Zwischenbilanzen von Entwicklungen, Faktoren und Kräften dar, die nicht in eine jeweilige Gesamtbilanz mit einem Datum als Resultat münden können, sondern für einzelne Lebenssachverhalte oder deren Bündelung jeweils eigene Grenzziehungen erfordern. Die Perspektiven, die sich aus der Betrachtung der für die menschliche Existenz grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sachverhalte und ihrer vorherrschenden rechtlichen Ordnung durch Privilegienrecht ergeben, sprechen dafür, das Mittelalter mit der Französischen Revolution und entsprechenden reformerischen Erscheinungen außerhalb Frankreichs, Bauernbefreiung und Wirtschaftsliberalismus sowie mit der tiefgehenden Zäsur durch die ‚Industrielle Revolution‘ oder ‚Industrialisierung‘ enden zu lassen.97 Die Grundherrschaft und Gutsherrschaft sowie das einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft und freien Gewerbeentwicklung entgegenstehende, aber für die Mitglieder in der krisenhaften Entwicklung keinen zureichenden Schutz mehr gewährende Zunftwesen wurden beseitigt. Eine strukturgeschichtliche, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Betrachtung lässt an die Stelle des Mittelalters die Vorstellung eines Ancien Régime und die von Burckhardt ausgehende Konzeption ‚Alteuropa‘ treten, die nach einer Aufbruchsphase von etwa 1200 bis 1800 reicht und in der das Hoch- und Spätmittelalter aufgehoben sind. Abgesehen von dem verdichteten, über den Rhein-Maas-Raum und die Niederlande nach Italien sich erstreckenden europäischen Städtegürtel erwirtschaftet in diesem Zeitraum ganz überwiegend die Landwirtschaft das von Herrenständen, Klerus sowie Königtum und werdendem ‚Staat‘ mitverzehrte Sozialprodukt, auf dem Kontinent vornehmlich im Rahmen der Grund- und der Gutsherrschaft. Doch wird trotz der guten Gründe für die Bildung der Großepoche ‚Alteuropa‘ niemand behaupten, dass die mittelalterlichen Verhältnisse ungebrochen bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Bestand gehabt hätten. Der diese Epoche prägende Komplex des ‚Feudalismus‘ ist in seiner mittelalterlichen Ausformung insoweit eine Erscheinung der Allgemeinen Geschichte einschließlich der Kirchen97 Vgl. bereits Sieveking, Die mittelalterliche Stadt (wie Anm. 15), S. 214: „Wollen wir zwischen Mittelalter und Neuzeit nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheiden, so muß die Grenzlinie weit eher gegen Ausgang des 18. als des 15. Jahrhunderts gezogen werden. Die politischen Umwälzungen, welche mit der Befreiung der nordamerikanischen Kolonien einsetzten, sind mindestens ebenso große wie die das Zeitalter der Reformation erfüllenden, vor allem sind die wirtschaftlichen Veränderungen, welche durch die technischen Errungenschaften im Zeitalter von Dampf und Maschine hervorgerufen wurden, mit den durch die Erfindung von Buchdrukkerkunst und Schießpulver bewirkten nicht zu vergleichen.“ Späte Zäsuren ergeben sich etwa auch durch die demographische Entwicklung und dadurch, dass sich Vermögensziffern noch des 18. Jahrhunderts mehr den mittelalterlichen als den modernen nähern, der Gotthardverkehr vom Mittelalter bis zum Jahre 1840 um das sechsfache, von 1840 bis 1889 aber um das 36fache anstieg; Sieveking, Die kapitalistische Entwicklung (wie Anm. 29), S. 89; Schulte, Geschichte des Handels und Verkehrs I (wie Anm. 21), S. 724.

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geschichte, als er das vasallitische Lehnswesen und die Grundherrschaft zusammenfasst und insgesamt in seiner Eigenart wirtschaftliche, soziale, personenrechtliche, besitzrechtliche, militärische, ethische, politisch-herrschaftliche und bis hin zur personalen Konstitution von großen Reichen verbandsbildende Elemente in einem engen wechselseitigen Beziehungsverhältnis vereinigt oder eher nur als Parallelerscheinungen kennt und darüber hinaus die Technik einschließende kulturelle Züge trägt.98 Hinzu kommt in den Städten das Zunftwesen, das zusammen mit der vorherrschenden mittelalterlichen Rechtsform der Einzelverfügung durch Edikt und Privileg, die im Gegensatz zum Gesetz Sonderrechte schaffen, gleichfalls erst mit den Vorstellungen von einer rechtlich egalitären freien Markt- und Konkurrenzgesellschaft der Französischen Revolution und mit dem Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert ein Ende gefunden hat. Sowohl der mittelalterliche Feudalismus als auch das Zunftwesen sind Erscheinungen, die ökonomisch-soziale, politische und kulturelle Sachverhalte in sich vereinen und nicht lediglich partiellen Zwecken dienen, deshalb auch nicht Gegenstand nur einer Wissenschaftsdisziplin sein können. Schon wegen dieser Komplexität sind die mittelalterlichen Lebensverhältnisse gegenüber moderneren nicht als einfach zu charakterisieren. Ähnlich wie Alexis de Tocqueville und Karl Marx vor ihm hat der von der Soziologie und Max Weber beeinflusste Otto Hintze für den Feudalismus in vollem Sinne, d. h. im Sinne eines Verfassungssystems, drei Faktoren und Funktionen ermittelt, die – sich gegenseitig bedingend – zusammenwirken, nämlich die militärische, die ökonomisch-soziale im Hinblick auf die grundherrschaftlich-bäuerliche Wirtschaftsweise und eine herrschaftlich-politische. Aus diesen drei Faktoren und Funktionen gewinnt Hintze ein Entwicklungsmodell des aus Vasallität und Grundherrschaft – der Herrschaft über den Boden und die ihn bebauenden Menschen – bestehenden Feudalismus, das in seinen drei Hauptphasen durch das Vorwalten, Zurücktreten oder Verschwinden der militärischen und politischen Faktoren bei Konstanz des ökonomisch-sozialen Faktors charakterisiert ist. Dieses Entwicklungsmodell zu überprüfen oder genauer auszufüllen wäre auch für die Allgemeine Geschichte von größter Bedeutung, hatte doch Alexis de Tocqueville zur Erklärung der Revolution der Bauern für das Frankreich vor der Revolution eindringlich geltend gemacht, dass die durchgehend ökonomische, eigentlich nur noch pekuniäre Bedeutung der Grundherrschaft um so anstößiger erschien, als damit keine politischen und jurisdiktionellen Funktionen des vom absolutistischen Monarchen entmachteten Grundherrn mehr verbunden waren. Mit der Entflechtung von Wirtschaft, Besitzrecht, Personenrecht und herrschaftlich-politischen Rechten endete jedenfalls im agrarwirtschaftlichen Bereich das Mittelalter. Das vasallitische Lehnswesen stellt die politischen Faktoren wie die Bindung und Belohnung von Gefolgsleuten, die Verbandsbildung durch persönliche Loyalität über den ökonomischen Nutzen, der nach rationalem Kalkül darin bestanden hätte, die Lehenkomplexe selbst zu verwalten und nicht, wie man versuchsweise bilanzieren könnte, ungewisse und lediglich relativ selten anfallende persönliche Dienstleistungen wie Rat und militärische Hilfe einzuhandeln. Im Bereich der bäu98 Marc Bloch: La société féodale. Les classes et le gouvernement des hommes. 2 Bände. Paris 1939/40; dt.: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M. 1982.

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erlichen Leihe und der Grundherrschaft ist zu beobachten, wie Fragen der Flurbewirtschaftung, etwa die Zelgenwirtschaft, die bäuerliche Verbandsbildung in der Dorfgemeinde beförderten und dem herrschaftlichen Moment ein genossenschaftliches entgegensetzten. Freilich hat man die soziale und die politische Ungleichheit in der bäuerlichen Welt konstatiert und von ‚Dorfpatriziaten‘ gesprochen. Geben die Abzugsverbote und Lohntaxen in England und auf dem Kontinent nach der Großen Pest von 1348/50 einen Anhaltspunkt für größere Möglichkeiten von Bauern, ihre Lage zu verbessern, so ist – regionale Unterschiede ohnehin vorausgesetzt – auch im Hinblick auf die Klagen des späteren deutschen Bauernkrieges weitgehend unklar, wann und in welchem Umfang Abgaben der Bauern tatsächlich gesenkt oder erhöht wurden, wie die Abgabenquote insgesamt und die auf den Grundherrn, die Kirche und den Territorialherrn entfallenden Komponenten zu beziffern sind.99 Die Aufhebung der Grundherrschaft als eines zuletzt vorherrschend ökonomisch-sozialen Faktors mit restlichen Zwangsrechten wie den Bannrechten und die Abschaffung der – im Wesentlichen allerdings in der Frühen Neuzeit ausgebildeten – ostelbischen Gutsherrschaft mit Schollenpflichtigkeit, Gesindezwangsdiensten sowie gutsherrlicher Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeigewalt markieren auf dem Lande das definitive Ende des Mittelalters. In den Städten, die in ihrem Binnenbereich aus dem Feudalismus ausgegliedert waren, aber durch den Erwerb von Grundherrschaften in das agrarische Umland ausgriffen, setzten die Französische Revolution und der zum Durchbruch gelangte Wirtschaftsliberalismus mit ihrem Ideal der rechtlich egalitären, entprivilegierten und individualisierten freien Markt- und Konkurrenzgesellschaft dem Mittelalter durch die Aufhebung der Handwerkerzünfte im wichtigsten Teilbereich der städtischen Wirtschafts- und Sozialverhältnisse ein spätes Ende, nachdem zuvor die wirtschaftspolitischen, öffentlich-politischen und jurisdiktionellen Funktionen der Zünfte100 durch den Territorialstaat und die Rearistokratisierung einer Vielzahl südwestdeutscher Reichsstädte um die Mitte des 16. Jahrhunderts reduziert oder beseitigt worden waren. Zum Wandel der politisch-öffentlichen Konstellation traten schon im Spätmittelalter innerzünftige soziale und ökonomische Erscheinungen, die sich im 16. Jahrhundert verstärkt fortsetzten. Dazu gehören die soziale Verkrustung 99 Zur traditionellen rechtlichen Lehre: Karl Bosl: Schutz und Schirm, Rat und Hilfe als Voraussetzung von Steuer, Abgabe und Dienst im Mittelalter, in: Schremmer (Hg.), Steuern, Abgaben und Dienste (wie Anm. 85), S. 43–51; Peter Blickle: Arbeit als Politikum an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension (wie Anm. 8), S. 244–255; Volker Stamm: Probleme der Rationalität der Agrar- und Arbeitsverfassung im Übergang zum Hochmittelalter, in: VSWG 88 (2001), S. 421–436. 100 Hermann Heimpel: Das Gewerbe der Stadt Regensburg im Mittelalter (VSWG, Beiheft 9). Stuttgart 1926; Erich Wege: Die Zünfte als Träger wirtschaftlicher Kollektivmaßnahmen (VSWG, Beiheft 20). Stuttgart 1930; Erich Köhler: Einzelhandel im Mittelalter. Beiträge zur betriebsund sozialwirtschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Krämerei (VSWG, Beiheft 36). Wiesbaden 1938; Ernst Pitz: Gewerbeverbände und Zünfte in Mittel- und Westeuropa im 12. und 13. Jahrhundert, in: Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günther Schulz (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag (VSWG, Beiheft 120 b). Stuttgart 1995, S. 675–694. Zusammenfassend Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 64), S. 190–198, 301–318, 341–346.

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und Endogamie durch einen numerus clausus bei den Meisterstellen, der den Gesellen zum lebenslangen unselbständigen Arbeitnehmer machte,101 die im Einzelnen noch eher wenig konkret belegte und in ihren Wirkungen in einem innovativen Umfeld abgeschätzte Innovationsfeindlichkeit, die Erosion des selbständigen Meisterbetriebs in einzelnen Exportgewerben durch erfolgreiche Zunftgenossen oder Kaufleute in Verlegerposition, ferner die Konkurrenz von außen durch Landgewerbe und ländliche protoindustrielle Gewerbe sowie ein wirtschaftlicher Wettbewerb, der im Kampf um Absatzchancen auch unlauter mit der Nachahmung von fremden Gütezeichen geführt wurde.102 V. Ist also die mittelalterliche Zunft in ihrer potentiell voll entwickelten Form nur durch ihre komplexe Vielfalt mit sozialen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Elementen im Gesamtzusammenhang zu begreifen, so kann umgekehrt das wissenschaftliche Verfahren der Reduktion und isolierenden Heraushebung einzelner Elemente bestimmte Einsichten fördern, wie dies hinsichtlich des Stadtbegriffs geschehen ist. Versuchen Historiker vielfach durch phänomenologische Kriterienbündel Widersprüchlichkeiten eines vornehmlich mit Markt und Mauer operierenden Stadtbegriffs zu beheben, so lenkte die Konstituierung eines ökonomischen Stadtbegriffs als wissenschaftliches Erkenntnisinstrument den Blick auf den Sachverhalt, dass es im Mittelalter eine Vielzahl von Siedlungen gibt, die zwar verfassungsrechtlich durch stadtherrliches Privileg als Stadt im Rechtssinne firmieren, aber auf Grund ackerbürgerlichen Zuschnitts keine vom Dorf eindeutig unterscheidbare Stadt im wirtschaftlichen Sinne der Arbeitsteilung und des Austausches zwischen städtischem Gewerbe und Handel und ländlicher Urproduktion darstellen oder über keinen Markt verfügen. Der von soziologischen Fragestellungen inspirierte Paul Sander wiederum entwickelte im Unterschied zum Rechtsbegriff der Stadt einen gesellschaftlichen, wie er meint „allgemeinen“ Stadtbegriff, der die Stadt im Unterschied zum Dorf und zu Zentren wie den Fürstenhöfen und Klöstern als Ort großer sozialer Kreise, eines umfassenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verkehrs, einer hochgradigen Vergesellschaftung und eines ‚öffentlich‘ zu charakterisierenden Verbandssystems bestimmt und die mittelalterliche Stadt insoweit als Vorform des modernen öffentlichen Staates ausweist.103 Mit der Konstituierung ökonomischer und sozialer Stadtbegriffe ist es möglich, Wesenszüge des Städtischen stärker herauszuheben, während der erfolg101 Knut Schulz: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1985; Kurt Wesoly: Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert (Studien zur Frankfurter Geschichte 18). Frankfurt a. M. 1985. 102 Reinhold Kaiser: Imitationen von Beschau- und Warenzeichen im späten Mittelalter. Ein Mittel im Kampf um Absatz und Märkte, in: VSWG 74 (1987), S. 457–478. 103 Paul Sander: Geschichte des deutschen Städtewesens. Bonn/Leipzig 1922, S. 10–18; ders.: Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. Ein Versuch über ein Grundproblem der deutschen Verfassungsgeschichte. Berlin 1906, S. 53 ff., 129, 135, 169.

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reiche, wesentlich auf Georg von Below gestützte Stadtbegriff Max Webers darauf abzielt, mit Mauer, Markt und ‚Gemeinde‘ die rechtlichen, wirtschaftlichen und politisch-administrativen Aspekte der voll entwickelten okzidentalen Stadt zu vereinigen, ohne den Begriff phänomenologisch aufzulösen.104 Horst Jecht schließlich entwickelte im Anschluss an die Arbeiten Werner Sombarts und Max Webers auf der Grundlage der Steuervermögensverteilung für die mittelalterliche Stadt durch die Verbindung von dominanten Wirtschaftssektoren und sozialen Schichtungen wirtschaftlich-soziale Städtetypen wie die der reinen Ackerbürgerstadt, der sich selbst genügenden Gewerbe- und Handelsstadt mit überwiegend lokaler Absatzorientierung, der Exportgewerbe- und der reinen Handelsstadt.105 VI. Fehde und Kriegführung zumindest überwiegend mit Söldnern106 statt mit Lehnsaufgeboten mit ihren exorbitanten Kosten hatten im späteren Mittelalter Rückwirkungen auf die Steuerentwicklung und die damit zusammenhängende innere Verfassungsentwicklung mit ständischen Konsens- und Mitwirkungsrechten im englischen Parlament und den kontinentalen Ständeversammlungen, den französischen États generaux und Provinzialversammlungen, den Hof- und Reichstagen und Landständen. In England und Frankreich war vor allem der Hundertjährige Krieg dafür verantwortlich, und auf der Ebene von König und Reich und der Christenheit brachten im 15. Jahrhundert die Verteidigung gegen die ketzerischen Hussiten und die Türken als Glaubensfeinde sowie die Auseinandersetzungen mit konkurrierenden europäischen Mächten wie Ungarn und Frankreich einen entscheidenden Entwicklungsschub. Innerhalb des römisch-deutschen Reiches kam die aktive oder aggressive fürstliche Territorialpolitik zur Gebietsarrondierung und Expansion hinzu. Der Krieg als Mittel der Rechtsdurchsetzung und der Mächtepolitik wurde in Europa zum Motor der Steuerentwicklung mit frühen Tendenzen zum Steuerstaat und des mit Handelsprivilegien und mehr noch mit Montanunternehmungen verknüpften, fundierten öffentlichen Kredits, der in den Städten vor allem durch Rentenverkauf und Zwangsanleihen bewerkstelligt wurde. Dieser Zusammenhang zwischen Verfassung, Kriegsfinanzierung und Steuerentwicklung wurde bereits im 19. Jahrhundert von dem Historiker Ritter Heinrich von Lang herausgestellt, im 20. Jahrhundert von dem Finanzsoziologen Rudolf Goldscheid emphatisch pointiert107 und von dem Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter eingehender kon104 Weber, Die Stadt (wie Anm. 2), S. 84. Vgl. vor allem Georg von Below: Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde, in: VSWG 7 (1909), S. 411–445, hier 412. 105 Horst Jecht: Studien zur gesellschaftlichen Struktur mittelalterlicher Städte, in: VSWG 19 (1926), S. 48–85. 106 Zur herausragenden Lebenssituation eines berühmten adeligen Condottiere, eines frühen Kriegsunternehmers, seiner Vermögenslage und seinen Ausgaben für Bauten und Kunst siehe Bernd Roeck: Krieg, Geld und Kunst. Federico da Montefeltro als Auftraggeber, in: Feldenkirchen/ Schönert-Röhlk/Schulz (Hg.), Wirtschaft (wie Anm. 100), S. 695–711. 107 Karl Heinrich Lang: Historische Entwickelung der Teutschen Steuerverfassungen seit den Karolingern bis auf unsere Zeiten. Berlin/Stettin 1793, ND Aalen 1966, S. 4 f.; Rudolf Goldscheid:

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zeptualisiert.108 Goldscheids geistreiches Diktum, wonach das Budget das „aller verbrämenden Ideologie entkleidete Gerippe des Staates“ darstelle und die Finanzgeschichte deshalb ein wesentlicher Teil der Geschichte überhaupt sei109, wurde von Schumpeter zustimmend aufgegriffen.110 Die Finanzgeschichte, die für das spätmittelalterliche Reich die schwindenden domanialen Ressourcen des Königtums, die Verleihung, Verpfändung oder Entfremdung von Reichsgut und Regalien111 und die politisch mühseligen und im Ergebnis kärglichen Bemühungen um die Mobilisierung von Steuermitteln durch Matrikularumlagen, direkte Steuern und die notorische Sonderbesteuerung der Juden aufweist, kann jenseits des Machtstaatsgedankens des 19. Jahrhunderts der Allgemeinen, mit Politik und Staat befassten Geschichte einen realistischen Maßstab für die Beurteilung der Handlungsmöglichkeiten und Leistungen der zunehmend auf ihre eigenen Erblande verwiesenen und konzentrierten spätmittelalterlichen Könige bereitstellen.112 Spätmittelalterliche Autoren rufen die römische Sentenz vom Geld als dem ‚nervus rerum‘ angesichts einer chronischen, strukturellen Finanznot der Kirche und der Staaten in Erinnerung, und zwar in einer Epoche des privatwirtschaftlichen Frühkapitalismus, des entscheidenden Vorstoßens der neuen Wirtschaftskräfte mit einem neuen, den Erwerbstrieb entfesselnden und ältere Schranken abbauenden Wirtschaftsethos. Mit den Vertretern dieser neuen Wirtschaftskräfte gehen die Kirche und die Staaten mit ihren wachsenden, auch von spätmittelalterlichen Finanzreformern wie Sir John Fortescue grund-

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Staatssozialismus oder Staatskapitalismus. Wien/Leipzig 1917; ders.: Staat, öffentlicher Haushalt und Gesellschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Band 1. Tübingen 1926. Vgl. dazu Eberhard Isenmann: Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, in: ZHF 7 (1980), S. 1–76, 129–218, hier 1–9. Joseph Alois Schumpeter: Die Krise des Steuerstaates (1918), in: Ders.: Aufsätze zur Soziologie. Tübingen 1953, S. 1–71. Goldscheid, Staatssozialismus (wie Anm. 107), S. 3 ff.; ders., Staat (wie Anm. 107), S. 148. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates (wie Anm. 108), S. 4–6. „Vor allem ist die Finanzgeschichte jedes Volkes ein wesentlicher Teil seiner Geschichte überhaupt: Ein ungeheurer Einfluß auf das Völkerschicksal geht von dem wirtschaftlichen Aderlaß aus, den die Bedürfnisse des Staates erzwingen, und von der Art, wie das Ergebnis dieses Aderlasses verwendet wird. Der unmittelbar formende Einfluß der Finanzbedürfnisse und der Finanzpolitik der Staaten weiters auf die Entwicklung der Volkswirtschaft und damit auf alle Lebensformen und Kulturinhalte erklärt in manchen Geschichtsperioden so ziemlich alle großen Züge der Dinge und in den meisten sehr viel davon – nur in wenigen nichts.“ (S. 4) Unter anderem macht Schumpeter geltend, dass nur finanzielle Motive in England bis ins 16. Jahrhundert zur staatlich privilegierten Herrschaft fremder Kaufleute geführt hätten. Heinrich Troe: Münze, Zoll und Markt und ihre finanzielle Bedeutung für das Reich vom Ausgang der Staufer bis zum Regierungsantritt Karls IV. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsfinanzwesens in der Zeit von 1250 bis 1350 (VSWG, Beiheft 32). Stuttgart/Berlin 1937; Hildegard Adam: Das Zollwesen im fränkischen Reich und das spätkarolingische Wirtschaftsleben. Ein Überblick über Zoll, Handel und Verkehr im 9. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 126). Wiesbaden 1996; Stuart Jenks: Zollamt, Häfen und Außenhandel in England ca. 1377–1470, in: VSWG 75 (1988), S. 305–338. Isenmann, Reichsfinanzen (wie Anm. 107), S. 70–76 (Resümee); Bernd Ulrich Hucker: Die wirtschaftlichen Grundlagen der Kaiserpolitik im hohen Mittelalter. Quellenprobleme und Forschungsstand, in: Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 31), S. 35– 56.

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sätzlich für unabdingbar erachteten Repräsentationsbedürfnissen,113 ihren Machtund Verwaltungsapparaten sowie wegen der von den permanenten europäischen Machtkämpfen und durch die Türkenkriege verursachten exorbitanten Rüstungsund Kriegskosten seit dem ausgehenden Mittelalter ein enges Bündnis ein.114 Zeitgenossen wie der Engländer John Fortescue konstatieren darüber hinaus in Verknüpfung von aristotelischer Ethik und eigenen historischen Erfahrungen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der finanziellen Ausstattung des Herrschers und der Qualität seiner Regierung.115 Die mittelalterliche Finanzgeschichte zeigt zugleich die ordnungspolitische Seite der Steuer, den rechtlich eher prekären politisch-ständischen Widerstand von Parlamenten und Ständeversammlungen in Europa, auf Reichs- und Landtagen sowie den sozialen Steuerwiderstand, der in ländliche und städtische Steuerrevolten mündet. Eines ihrer großen Forschungsprobleme besteht in dem außerordentlich schwer zu ermittelnden Verhältnis zwischen der Steuerquote und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bestimmter steuerbarer Gruppen oder einer Gesamtwirtschaft.116 Für die Finanzen einiger weniger deutscher Territorialherrschaften ist die Struktur der Einnahmen nach domanialen und steuerlichen Einkünften untersucht und die weiterreichende Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ressourcen und reichspolitischer Bedeutung aufgeworfen worden, inwieweit etwa eine Verlagerung des reichspolitischen Gewichts von den relativ kleinen, vornehmlich geistlichen Territorien der alten Kultur- und Verkehrslandschaften des Rheins mit ihren vergleichsweise hohen Geldeinnahmen aus Regalitätsrechten und vornehmlich Zöllen hin zu den großen domanial fundierten nord- und südöstlichen Flächenstaaten mit einer größeren steuerbaren Bevölkerung stattgefunden hat.117 113 Sir John Fortescue: The Governance of England. Otherwise Called the Difference between an Absolute and a Limited Monarchy, hg. von Charles Plummer. Oxford 1885, chap. 7; Ulf Christian Ewert/Jan Hirschbiegel: Gabe und Gegengabe. Das Erscheinungsbild einer Sonderform höfischer Repräsentation am Beispiel des französisch/burgundischen Gabentausches zum neuen Jahr um 1400, in: VSWG 87 (2000), S. 5–37. 114 Bauer, Kirche, Staat und kapitalistischer Geist (wie Anm. 4), S. 152–154. 115 Isenmann, Medieval and Renaissance Theories (wie Anm. 85), S. 41. 116 Juan Gelabert: The Fiscal Burden, in: Bonney (Hg.), Economic Systems (wie Anm. 85), S. 539– 576; Stuart Jenks: The Lay Subsidies and the State of the English Economy (1275–1334), in: VSWG 85 (1998), S. 1–39. Zur steuerlichen Belastung der Juden siehe Eberhard Isenmann: Steuern und Abgaben, in: Arye Maimon u.a. (Hg.): Germania Judaica, Band III, 3 (1350–1519). Tübingen 2003, S. 2208–2281. 117 Georg Droege: Die finanziellen Grundlagen des Territorialstaates in West- und Ostdeutschland an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, in: VSWG 53 (1966), S. 145–161; Brigitte Streich: „Amechtmann unde Gewinner …“. Zur Funktion der bürgerlichen Geldwirtschaft in der spätmittelalterlichen Territorialverwaltung (mit besonderer Berücksichtigung der Wettinischen Lande), in: VSWG 78 (1991), S. 365–392. Eine Übersicht über die territorialen Finanzen und ihre Verwaltung findet sich bei Eberhard Isenmann: The Holy Roman Empire in the Middle Ages, in: Bonney (Hg.), The Rise of the Fiscal State (wie Anm. 90), S. 243–280, hier 244–251. Zur Sammlung europäischer fiskalischer Daten an der Universität Leicester siehe Richard Bonney: The European State Finance Database and the Graphical Presentation of Data, in: Ders. (Hg.), Economic Systems (wie Anm. 85), S. 577–579. Zu Rechnungswesen und Rechnungen siehe die umfassende Website von Otto Volk: http://online-media.uni-marburg.de/ ma_geschichte/computatio/.

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In Sammlungen städtischer Finanzbelege, Abrechnungen von Sonderkonten und nach Rubriken strukturiert in Rechnungsbüchern scheint nahezu die gesamte finanzwirksame Politik des städtischen Rates auf, von der alltäglichen Verwaltung und Repräsentation118, den kommunalen Baumaßnahmen119 bis zur äußeren Politik, die in Rüstungs- und Kriegskosten120, Refinanzierung des Kriegs durch Lösegelder, Botenlöhnen und Spesenabrechnungen der entsandten Ratsherren, Juristen und städtischen Diener dokumentiert ist, während das normverletzende Alltagsverhalten der Stadtbewohner auf der Einnahmenseite unter den Bußgeldern zum Vorschein kommt.121 Darüber hinaus sind mittelalterliche Steuerlisten die zentrale und nahezu einzige Quelle, soziologische Schichtmodelle für einzelne Stadtgesellschaften zu entwickeln. Dort, wo die Steuerordnung am elaboriertesten und auf Jahrhunderte hinaus am modernsten ist und umfangreiche Steuererklärungen hervorruft, in Florenz mit dem Catasto von 1427 und seinen modifizierenden Fortschreibungen auch mit progressiven Tarifen, fallen große Datenmengen an, die – mit Hilfe der EDV ausgewertet – bislang unüberbotene Einblicke in eine mittelalterliche Stadtgesellschaft bieten.122 Eine vorausgehende Pionierleistung auf diesem Feld hat indessen Karl Bücher für die mittelalterliche Bevölkerung der Stadt Frankfurt am Main erbracht.123

118 Bernhard Kirchgässner/Hans-Peter Becht (Hg.): Stadt und Repräsentation (Stadt in der Geschichte 21). Sigmaringen 1995. 119 Gerhard Fouquet: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters. Eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg (Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 48). Köln/Weimar/Wien 1999. 120 Josef Rosen: Kriegsausgaben im Spätmittelalter: Der militärische Aufwand in Basel 1360–1535, in: VSWG 71 (1984), S. 457–484; Gerhard Fouquet: Die Finanzierung von Krieg und Verteidigung in oberdeutschen Städten des späten Mittelalters, in: Bernhard Kirchgässner/Günter Scholz (Hg.): Stadt im Krieg (Stadt in der Geschichte 15). Sigmaringen 1989, S. 41–82; Brigitte Maria Wübbecke: Das Militärwesen der Stadt Köln im 15. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 91). Stuttgart 1991. 121 Grundlegend: Sander, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs (wie Anm. 20). Mit modernen Analysemodellen: Martin Körner: Luzerner Staatsfinanzen 1451–1798. Strukturen, Wachstum, Konjunkturen (Luzerner Historische Veröffentlichungen 13). Luzern/Stuttgart 1981. Neuerdings: Paul Thomes: Kommunale Wirtschaft und Verwaltung zwischen Mittelalter und Moderne. Bestandsaufnahme – Strukturen – Konjunkturen. Die Städte Saarbrücken und St. Johann im Rahmen der allgemeinen Entwicklung (1321–1768) (VSWG, Beiheft 118). Stuttgart 1995; Ilse Eberhardt: Van des stades wegene utgegeven unde betalt. Städtischer Alltag im Spiegel der Stadtrechnungen von Osnabrück (1459–1519) (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen 37). Osnabrück 1996; Gerhard Fouquet: Zahlen und Menschen. Der städtische Haushalt der Königs- und Reichsstadt Frankfurt während der Jahre 1428/29, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 66 (2000), S. 95–131. 122 David Herlighy/Christiane Klapisch-Zuber: Les Toscans et leurs familles. Une étude du catasto florentin de 1427. Paris 1978 (engl. 1985); Martin Kaufhold: Weibliche Hochzeitschancen und soziale Zwänge auf dem Florentiner Heiratsmarkt im Quattrocento am Beispiel von Caterina Tanagli und Filippo Strozzi, in: VSWG 87 (2000), S. 423–441. 123 Siehe oben, Anm. 25.

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VII. Lassen die ländlichen Wirtschafts- und Sozialverhältnisse im Hinblick auf die Grundherrschaft und den mit ihr verbundenen außerökonomischen, herrschaftsrechtlichen Zwang trotz aller Wandlungsprozesse gelegentlich auch zugunsten der bäuerlichen Situation im Großen und Ganzen von einem stationären, über das konventionelle Mittelalter hinausweisenden Bereich der langen Dauer sprechen, so werden für das Mittelalter gleichwohl drei wirtschaftliche „Revolutionen“ reklamiert, die in komplexe Zusammenhänge mit der Allgemeinen Geschichte führen und deshalb hier interessieren. Innerhalb der komplexen und heterogenen Großepoche des keineswegs nur feudalen, aus der germanischen Völkerwanderung hervorgegangenen europäischen ‚Feudalismus‘ wurde von Marc Bloch in dem engeren Zeitraum von 1050 bis 1230 eine grundlegende „wirtschaftliche Revolution der zweiten Phase der Feudalzeit“124 geltend gemacht mit Bevölkerungswachstum, Rodung und Landesausbau, Verbesserung der Agrartechnik und der Form der Bodenbewirtschaftung, Verdichtung im Zusammenleben der menschlichen Gruppen, Wiederbelebung des Städtewesens, Entstehen von Lohnarbeit, hochgradig arbeitsteiliger Tuchproduktion, Fernhandel in weiteste Räume, erhöhten Geldmengen und gesteigertem Geldumlauf125 sowie einer wahren Umkehr der gesellschaftlichen Werte durch die Wirtschaftsentwicklung. Eine gleichfalls auf einen agrarwirtschaftlichen Aufschwung gestützte speziellere „Kommerzielle Revolution“ im noch größeren Zeitraum von 950 bis 1350126 ermittelte Robert S. Lopez, während auf der Grundlage technischer Erfindungen eine „Industrielle Revolution des Mittelalters“ zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert stattgefunden habe127 oder zumindest eine „Industrielle Revolution des Spätmittelalters“ erwogen wird.128 War also das Mittelalter eine Epoche wirtschaftlicher und sozialer Revolutionen? Genauer besehen handelte es sich allerdings um uneigentliche Revolutionen im Sinne überaus langgestreckter Wandlungsprozesse mit der Modalität der Steigerung von Vorhandenem und einigen zäsurierenden technischen Innovationen, die allenfalls im europäischen Städtegürtel, insbesondere in Flandern mit seiner industriellen Tuchproduktion, die grundsätzliche agrarwirtschaftliche Fundierung der Gesamtgesellschaften der Territorien und Reiche einschränkten. 124 Bloch, Die Feudalgesellschaft (wie Anm. 98), S. 93–97 (révolution économique du seconde âge féodal). 125 Für die Frühzeit: Hans Geiss: Geld- und naturalwirtschaftliche Erscheinungsformen im staatlichen Aufbau Italiens während der Gotenzeit (VSWG, Beiheft 27). Stuttgart 1931. 126 Robert S. Lopez: The Commercial Revolution of the Middle Ages 950–1350. Englewood Cliffs 1971, Cambridge 1976. Die vorausgehende Epoche ist jetzt dargestellt bei Michael McCormick: Origins of the European Economy. Communications and Commerce AD 300–900. Cambridge 2001. 127 Jean Gimpel: Die industrielle Revolution des Mittelalters. Zürich/München 1980. 128 Wolfgang von Stromer: Eine Industrielle Revolution des Spätmittelalters?, in: Ulrich Troitzsch/ Gabriele Wohlauf (Hg.): Technikgeschichte. Historische Beiträge und neue Ansätze. Frankfurt a. M. 1980, S. 105–138.

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Hinsichtlich der Allgemeinen Geschichte sind in diesen Zeiträumen Erscheinungen hervorzuheben wie die Schaffung eines ritterlichen Standesethos, die Entstehung des sozialen Standes der nunmehr einem Herrn unterstellten, ehemals freien und waffenfähigen Bauern, die Formierung des rechtlich definierten Stadtbürgertums, das sich wirtschaftlich und sozial in Kaufleute und Handwerker gliedert, die Gründung von Domschulen, Studien und Universitäten, die theologisch-philosophische Richtung der Scholastik und die Rezeption der Schriften des Aristoteles, die legistische und kanonistische Rechtswissenschaft und die Entstehung des Juristenstandes als zukunftsweisende Funktionselite, die Ausbreitung der Schriftlichkeit, ferner die Kirchenreform und die Gründung der Bettelorden mit ihrer neuen Seelsorge, die Vermittlung der römischen, griechisch-byzantinischen, arabischen und jüdischen Kulturen im Mittelmeerraum, die Mobilität der Scholaren, Pilger und Kaufleute, die imperialen Italienzüge und die Kreuzzüge. In einer nur teilweise kausal aufeinander beziehbaren Bündelung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Wandlungsprozesse mit solchen der Politischen Geschichte, der Kirchengeschichte, der Kultur- und Geistesgeschichte im Sinne einer Allgemeinen Geschichte ergibt sich innerhalb des Zeitrahmens vom 10. bis zum späten 13. Jahrhundert eine europäische „Aufbruchsphase“, die auch in vitalistischer Metaphorik mehr oder weniger gelungen als „Geburt Europas“ im späten 10. und folgenden 11. Jahrhundert129 oder als „Erwachen Europas“ 130, das immerhin von 1000 bis 1250 dauerte, bezeichnet wird und als wichtigste „Umbruchsphase zwischen Antike und Neuzeit“ gilt.131 Viele der initiierten Veränderungen kamen jedoch erst im späteren Mittelalter in neuen Größenordnungen und in verstärkter Intensität voll zum Tragen. Die wirtschaftlichen und sozialen Evolutions- und Wandlungsprozesse mit ihren Chronologien und mehr oder weniger revolutionären Resultaten haben mit einem Bevölkerungswachstum und der Steigerung der agrarwirtschaftlichen Erträge und Überwindung der Subsistenzwirtschaft zugunsten der Marktorientierung von Grundherrschaften sowie vermehrten Ware-Geld-Beziehungen, sodann aber mit dem darauf gegründeten Wiedererstehen der verfallenen alten Städte, Städtegründungen und Städtewachstum durch Bevölkerungszustrom vom Lande, in politischer Hinsicht mit dem Aufstieg autonomer Städte und ihren besonderen Verfassungs-, Rechts- und Sozialverhältnissen zu tun. Die Stadtgemeinden errichten mit dem Konsulat und der Ratsverfassung eine den agrarisch-herrenständischen Verhältnissen fremde, zunächst als illegitim betrachtete kollektive Herrschaftsform; sie garantieren die Personenrechte der Freizügigkeit und Freiheit, die freie Verfügung über Arbeitsertrag, Handelsgewinn sowie Kapital- und Grundrenteneinkünfte und ermöglichen damit die Rückführung von den Konsum übersteigenden Mitteln als Erwerbsmitteln in die Wirtschaft, während die nicht dem Stadtherrn zufließenden Abgaben, die kommunalen Abgaben von Vermögen und Einkünften und die genuin städti129 Robert S. Lopez: The Birth of Europe. New York 1966. 130 Karl Bosl: Europa im Aufbruch. Herrschaft, Gesellschaft, Kultur vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. München 1980, passim. 131 Alfred Haverkamp: Aufbruch und Gestaltung. Deutschland 1056–1273 (Die neue deutsche Geschichte 2). München 1984, S. 12.

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schen indirekten Steuern und Verkehrsabgaben132 nur der Finanzierung von Zwecken der städtischen Solidargemeinschaft und von kommunalen Leistungen dienen. Hinzu kommt die Lockerung der Sippenbindungen zugunsten der ökonomischen Bedeutung des Individuums und der Kernfamilie, wodurch die erb- und sachenrechtliche Verfügung erleichtert, durch Mobilisierung des Immobilienbesitzes Kreditmöglichkeiten geschaffen und ökonomischer Wagemut und Energien freigesetzt werden. Risiko (‚risicum‘, ‚Angst‘, ‚Abenteuer‘) und Gewinnstreben, das im italienischen Humanismus des 15. Jahrhunderts begrifflich als ‚libido lucrandi‘ erscheint, prägen in natürlicher Wechselbeziehung die Wirtschaftsgesinnung der Kaufleute, die in der Privilegienbeschaffung zunehmend, wie im Falle Nürnbergs und Lübecks, durch die von Kaufleuten beherrschten Räte ihrer Herkunftsstädte, die zugleich die für die Kaufleute wichtigen und maßgeblich von ihnen beigebrachten politischen Informationen bündeln, unterstützt werden. Die nur locker organisierte Städtehanse wird gelegentlich zur politischen Macht und greift als ultima ratio zum Mittel des Krieges, um die Geltung von Handelsprivilegien ihrer Kaufleute durchzusetzen. Ohne die anfänglich teilweise nur widerstrebend konzedierte, im Falle der jüngeren Gründungsstädte bereitwillig erfolgte Förderung durch die Herren der Städte, den König und die geistlichen und weltlichen Fürsten, die den Kaufleuten Schutz und Geleit sowie den Bürgern Freiheitsrechte gewährten, den Kommunen rechtliche Privilegien erteilten und sie am Markt- und Münzregal sowie Vertreter des städtischen Handelskapitals unternehmerisch am Bergregal partizipieren ließen, wäre eine derartige Wirtschaftsentwicklung freilich vielerorts nördlich der Alpen nicht möglich gewesen. Die Stadtherren profitierten im Gegenzug von einer prosperierenden Entwicklung ihrer Städte, indem sie durch ihre finanziell nutzbaren Herrenrechte, Steuer- und Beihilfeforderungen und durch Kreditbeziehungen stärkeren Anschluss an die Geldwirtschaft gewannen, während sie durch Erwerb städtischer Wirtschaftsgüter die Konsummöglichkeiten ihrer Großhaushalte und durch ihre Nachfrage die städtischen Erwerbsmöglichkeiten erweiterten. Nach der Übersiedlung der päpstlichen Kurie von Rom nach Avignon im frühen 14. Jahrhundert stellt die Stadt Avignon mit der Implementierung des kurialen Großhaushaltes, dem gewaltigen Besucherzustrom aus der Christenheit infolge der zentralistischen päpstlichen Kirchenregierung, der Ansiedlung italienischer Handels- und Bankhäuser und dem Anschwellen der Geschäftstätigkeit, des Güterbedarfs und des Konsums einen Musterfall für konjunkturbedingte Stadterweiterung, wirtschaftliche Attraktion und Expansion und für den Idealtypus der ‚Konsumentenstadt‘ dar.133 Von einer „Kommerziellen Revolution“ ist in dem Sinne die Rede, dass der Handel zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert der am meisten dynamische Wirtschaftssektor ist und die ökonomische Führung an den Kaufmann fällt, der den 132 Josef Rosen: Verwaltung und Ungeld in Basel 1360–1535. Zwei Studien zu Stadtfinanzen im Mittelalter (VSWG, Beiheft 77). Wiesbaden 1986. 133 Vgl. Stefan Weiß: Die Versorgung des päpstlichen Hofes in Avignon mit Lebensmitteln (1316– 1378). Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eines mittelalterlichen Hofes. Berlin 2002 (mit weiterreichenden Literaturhinweisen). Zum Typus der ‚Konsumentenstadt‘ siehe Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 729.

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Wandel vorantreibt.134 Die Expansion des Handels ging von den Städten Norditaliens und des Mittelmeerraums aus und beruhte nicht nur auf demographisch-ökonomischen Grundfaktoren, sondern vielfach auch auf der politischen Herrschaft der Stadt über das Umland, der militärischen Durchsetzungsfähigkeit der Städte, neuen Handelstechniken und Unternehmensformen mit dem Resultat einer Erweiterung des Handelsvolumens und des Handelsradius. Der Fernhandel wurde getragen von jüdischen Kaufleuten und nachfolgend von den Italienern und zeitigte erste Erfolge durch den Handel mit Luxusgütern, die bei relativ geringen Umsätzen hohe Gewinne abwarfen. Die grundlegenden monetären und finanziellen Strukturen des mittelalterlichen Handelskapitalismus wurden etwa im Zeitraum von 1250 bis 1350 fest etabliert. Eine entscheidende Rolle für die Expansion des Handels kam auf fast allen sozialen Ebenen dem Kredit zu, der Warengeschäften zugrunde lag und als nahezu unumgänglicher Kundenkredit die Nachfrage stimulierte, wenn nicht gar vielfach erst ermöglichte, und im Falle des Verlags135 eine ökonomisch-soziale Macht und eine quasi-unternehmerische Leitungsfunktion bei dezentralen Manufakturen begründete. Angesichts eines chronischen Münzmetall- und Bargeldmangels136, der erst etwa seit 1460 durch den Aufschwung im sächsischen und süddeutschen Kupferund Silberbergbau gemildert wurde,137 konnte das Kredit- und damit das Handelsvolumen nur auf dem Wege langfristiger Stundungen und durch neue, vielfach auf den internationalen Messen erprobte Techniken im Zahlungsverkehr und die Schaffung von Giralgeld durch den Wechselbrief, die Kontokorrentverrechnung138 mit schließlicher Skontration als Clearing, den Überziehungskredit und das System der Teildeckung von Krediten erweitert werden.139 In der Stadt wur134 David Herlighy: The Economy of Traditional Europe, in: JEH 31 (1971), S. 153–164; Bosl, Europa im Aufbruch (wie Anm. 130). 135 Furger, Zum Verlagssystem (wie Anm. 37); von Stromer, Der Verlag (wie Anm. 37); Holbach, Verlag und Großbetrieb (wie Anm. 37). 136 Grundlegend Peter Spufford: Money and its Use in Medieval Europe. Cambridge 1988; John Day: The Medieval Market Economy. Oxford 1987. 137 Ekkehard Westermann: Silbererzeugung, Silberhandel und Wechselgeschäft im Thüringer Saigerhandel von 1460–1620, in: VSWG 70 (1983), S. 192–214. 138 Karl Otto Scherner: Wandlungen im Bild des Kontokorrents, in: Lutter/Kollhosser/Trusen (Hg.), Recht und Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 171–181. 139 Raymond de Roover: Money Banking and Credit in Medieval Bruges. Italian Merchant-Bankers, Lombards and Money-Changers. A Study in the Origins of Banking. Cambridge, Mass. 1948; Walter Hävernick: Der Kölner Pfennig im 12. und 13. Jahrhundert. Periode der territorialen Pfennigmünze (VSWG, Beiheft 18). Stuttgart 1930; Hansheiner Eichhorn: Der Strukturwandel im Geldumlauf Frankens zwischen 1437 und 1610. Ein Beitrag zur Methodologie der Geldgeschichte (VSWG, Beiheft 58). Wiesbaden 1973; neuerdings resümierend Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 1994; ders. (Hg.): Geldumlauf, Währungssysteme und Zahlungsverkehr in Nordwesteuropa 1300–1800. Köln 1989; ders. (Hg.): Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Köln 1991; Markus A. Denzel: „La Practica della Cambiatura“. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 58). Stuttgart 1994. Zur Frage der angeblichen Rückständigkeit der Hanse: Stuart Jenks: War die Hanse kreditfeindlich?, in: VSWG 69 (1982), S. 305–338. Grundsätzlich: Rainer Fremdling: Wirtschaftsgeschichte und das Paradigma der Rückständigkeit, in: Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozi-

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den Schuldscheine im 13. Jahrhundert sogar zum Zahlungsmittel,140 während die begebungsfähigen und Kurse ausbildenden Rentenbriefe etwa zur Entrichtung der Steuerschuld in Zahlung genommen wurden.141 Der mittelalterliche Kaufmann zeigt angstbesetztes Risikobewusstsein, äußert unstillbares Bedürfnis nach Informationen für seine rationale geschäftliche Kalkulation142 und versucht, den Wirtschaftsräumen und den dortigen Handelsgewohnheiten entsprechend, Risiko durch Risikosplitting im Wege der Partenreederei und der Auffächerung des Warensortiments, durch ein Versicherungswesen143 oder im Bereich der Gesellschaften durch die Bildung einer Art von Holding144 mit einer rechtlich selbständigen Stellung von Filialen zu mindern. Der Kredit war jedoch nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein eminent politischer Faktor, insbesondere für die Kriegführung hinsichtlich der im voraus zu entlohnenden Soldtruppen, aber auch herrschafts- und staatsbildend, wenn die ältere Verpfändung von Herrschaftsteilen durch Darlehen und durch eine neue Fundierung der Kredite durch Privilegienvergabe, Montanberechtigungen und Steuern umgangen werden konnte. Der Kredit diente auch Städten zur militärischen und politischen Selbstbehauptung und ermöglichte es, günstige Gelegenheiten zum Aufkauf von alten stadtherrlichen Ämtern zum Ausbau ihrer Autonomie und außerstädtischen Herrschaften zur Bildung eines Territorialkomplexes wahrzunehmen. Politische Fürstenkredite freilich, die verschiedentlich von den Geschäftsträgern in den Niederlassungen der großen Handels- und Bankgesellschaften trotz des Verbots durch die Zentrale gewährt wurden, verursachten nicht selten wegen der schlechten Zahlungsmoral der Herren den Ruin der Gläubiger. Kredit hatte aber auch der adelige Amtsinhaber seinem fürstlichen Dienstherrn zu gewähren, wie spätmittelalterliche Adelige keineswegs stets reine Grundrentenbezieher, sondern vielfach, wie

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algeschichte (wie Anm. 31), S. 101–115; Markus A. Denzel: Kleriker und Kaufleute. Polen und der Peterspfennig im kurialen Zahlungsverkehrssystem des 14. Jahrhunderts, in: VSWG 82 (1995), S. 305–331; Rudolf Hiestand: Bologna als Vermittlerin im kurialen Zahlungsverkehr zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Eine übersehene Rolle der frühen Universitäten?, in: Ebd., S. 332–349; Kurt Weissen: Die Bank von Cosimo und Lorenzo de‘Medici am Basler Konzil (1433–1444), in: Ebd., S. 350–386. Jacob Wackernagel: Städtische Schuldscheine als Zahlungsmittel im 13. Jahrhundert, in: Georg von Below (Hg.): Mittelalterliche Stadtrechtsfragen (VSWG, Beiheft 2). Stuttgart 1924, S. 3– 32. Bernhard Kirchgässner: Zur Geschichte und Bedeutung der Order-Klausel am südwestdeutschen Kapitalmarkt im 14. und 15. Jahrhundert, in: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Band 1. Stuttgart 1978, S. 373–386. Fried, Kunst und Kommerz (wie Anm. 76), S. 286 f.; Jürgen Schneider: Die Bedeutung von Kontoren, Faktoreien, Stützpunkten (von Kompagnien), Märkten, Messen und Börsen in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Hans Pohl (Hg.): Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft (VSWG, Beiheft 87). Stuttgart 1989, S. 37–63; Markus A. Denzel: „Wissensmanagement“ und „Wissensnetzwerke“ der Kaufleute: Aspekte kaufmännischer Kommunikation im späten Mittelalter, in: Das Mittelalter 6 (2001), S. 73–90. Karin Nehlsen-von Stryk: Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 64). Ebelsbach 1986. Raymond de Roover: The Rise and Decline of the Medici Bank 1397–1494. Cambridge, Mass. 1963, S. 77–95.

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die Forschung immer deutlicher herausstellt, in ihrer Wirtschaftsführung eng mit der Markt- und Geldwirtschaft verflochten waren und am Kapitalmarkt als Schuldner wie als Gläubiger in Erscheinung traten.145 Im späten 13. Jahrhundert sollen die Messen der Champagne, die sich zum größten Kapitalmarkt der Welt entwickelt hatten und auf denen italienische KaufleuteBankiers wie die Bonsignori, Riccardi, Frescobaldi, Bardi und Peruzzi tätig waren, in der Lage gewesen sein, ein riesiges Kreditvolumen in Höhe von 200.000 livres tournois oder 400.000 Goldflorenen bereitzustellen. Vielfach handelte es sich nicht um kommerzielle oder gewerbliche Produktivkredite, sondern um riesige Investitionen in die politisch-militärischen Abenteuer von Königen, Päpsten und Fürsten. Die Kapitalien wurden ersichtlich bei den Bankrotten der Bonsignori im Jahre 1298, der compagnia Bardi, die mehr als eine Million fl. Kredite an die Könige von England und Sizilien vergeben hatte, und der Peruzzi – beide im Jahre 1346. Der Florentiner Chronist Giovanni Villani schätzte, dass König Eduard III. von England mit 1,5 Millionen fl. bei den Bardi und Peruzzi verschuldet war.146 Ein gewaltiges Kreditbedürfnis hatten auch die Stadtrepubliken Florenz, Venedig und Genua, die ihre konsolidierte Schuld innerhalb zweier Generationen (ca. 1340–1380) von zusammen 2 auf 9,5 Millionen fl. nahezu verfünffachten. Ungeheure Summen kosteten Florenz und Venedig die Söldnerheere, die sie vor allem seit dem 14. Jahrhundert gegen Mailand aufstellten, oder Genua die Flotten, die es gegen Pisa und Venedig aussandte, so dass die Kriege, man denke auch später an König Maximilian I., mit einem Finanzbedarf, wie ihn nur der Kapitalismus bereitstellen konnte, wiederum die sich bildenden Kapitalien verschlangen.147 Mehr noch als in deutschen Städten hatten in italienischen Städten wie Venedig, Genua und Florenz die herrschenden und regierenden Schichten ein Interesse an der konsolidierten öffentlichen Schuld, am kommunalen Monte, bei dem sie nach selbstgesetzten Maßgaben ihre überschießenden Kapitalien verzinslich anlegen und einer direkten Besteuerung weitgehend ausweichen konnten. 145 Vgl. oben, Anm. 79. Harm von Seggern/Gerhard Fouquet (Hg.): Adel und Zahl. Studien zum adligen Rechnen und Haushalten in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Ubstadt-Weiher 2000. 146 Edwin S. Hunt: The Medieval Super-Companies. A Study of the Peruzzi Company of Florence. Cambridge 1994. 147 Die Genueser Staatsschuld betrug 1354 fast drei Millionen Lire, 1454 war sie auf fast acht Millionen gestiegen und erreichte 1597 43,77 Millionen Lire. Sieveking, Die kapitalistische Entwicklung (wie Anm. 29), S. 84, 88; John Day: Money and Finance in the Age of Merchant Capitalism. Oxford 1999, S. 23; Richard Ehrenberg: Das Zeitalter der Fugger. Geldkapital und Creditverkehr im 16. Jahrhundert. 2 Bände. Jena 1896. Aber auch eine bedeutende, aber selbst nach mittelalterlichen Maßstäben nicht sonderlich große Stadt wie Bern mit 4.500 bis höchstens 6.000 Einwohnern und 1.100 bis 1.800 Bürgern lässt durch Kauf von Ländereien, Herrschaftsrechten und kriegerischen Konflikten mit Nachbarn zum Ausbau ihres steuerbaren ländlichen Territoriums zwischen 1375 und 1384 ihre Schulden von 6.000 auf 60.000 Gulden ansteigen. Roland Gerber: Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 39). Weimar 2001, S. 241–244. Vgl. die strukturellen Darstellungen von Ausgaben (Martin Körner), Einkünften (Richard Bonney), öffentlichem Kredit (Martin Körner) und fiskalischer Belastung (Juan Gelabert), die eine Vielzahl europäischer Gemeinwesen und Staaten vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert berücksichtigen, in: Bonney (Hg.), Economic Systems (wie Anm. 85), S. 163–576.

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Die großen italienischen Gesellschaften der Bardi, Peruzzi und Acciaiuoli, die vor der Mitte des 14. Jahrhunderts bankrott gingen, machen deutlich, dass es in der Wirtschaftsgeschichte auch längerfristig keinen einfachen linearen Fortschritt vom Mittelalter zur Neuzeit gibt, denn sie wurden, was Größe und Geschäftsumfang anlangt, bis ins 16. Jahrhundert von keiner späteren Gesellschaft übertroffen, auch nicht von den Medici des 15. Jahrhunderts. Hingegen liegen die Probleme komplexer und groß dimensionierter Unternehmen bereits im Mittelalter in aller Klarheit offen, wie dies in singulärer Eindringlichkeit die Supplikation der in ruinöse Liquiditätsschwierigkeiten geratenen Gran Tavola der Bonsignori-Söhne mit ihren 24 Gesellschaftern an die Kommune von Siena vom 9. August 1298 zeigt.148 Die Compagnia bezeichnet sich zunächst als die ehrenwerteste, renommierteste und höchstes Vertrauen genießende Gesellschaft der Toskana, der Lombardei, ja der ganzen Welt und führt einen international weitgestreuten, alle Hierarchien und Schichten erfassenden geistlich-weltlichen Kundenkreis an mit Päpsten, Kardinälen, Patriarchen, Erzbischöfen, Bischöfen, Königen, Baronen, Grafen, Kaufleuten und Menschen jedweden Standes. Sodann werden zur Demonstration der Interessenverflechtung zwischen dem Unternehmen und dem Stadtstaat die Dienste aufgezählt, welche die Gesellschaft zur Ehre und zum Nutzen der Stadt, der Kommune, der Kaufleute und der Menschen Sienas mit kommunikativen Hilfen und auch selbstfinanzierten Gesandtschaften an die Kurie sowie diesseits und jenseits der Alpen, mit Geschenken, Darlehen und der Bereitstellung von Pferden geleistet habe. Der eingestandene schlechte wirtschaftliche Zustand geht nach Darstellung der supplizierenden Gesellschafter einmal auf interne Zwietracht, das derzeitig fehlende Einvernehmen innerhalb der Gesellschaft zurück und beruht zum anderen auf einer Liquiditätskrise, die von außen manipulativ gesteuert werde, indem Gegner der Gesellschaft Einleger zum gleichzeitigen Abzug von Depositen anstachelten. Es wird behauptet, dass die Gesellschaft im Grunde liquide sei, die künstlich verursachten kurzfristigen, zeitlich konzentrierten, in der Summe massiven Kündigungen von Depositen es jedoch, im Übrigen einer jeden Gesellschaft, unmöglich machten, rechtzeitig genügende Außenstände einzuziehen, d. h. die Fristenkongruenz, die heutige ‚Goldene Bankenregel‘, zu wahren. Der dritte Grund liege im geltenden Gesellschaftsrecht, in der üblichen unbegrenzten gesamtschuldnerischen Haftung, die bösartige ruinöse Zugriffe auf einzelne Gesellschafter erlaube. Die Kommune wird folgerichtig gebeten, eine beschränkte Haftung pro rata des eingelegten Gesellschaftskapitals einzuräumen, damit psychologisch der Anreiz genommen wird, zum Ruin einzelner Gesellschafter Forderungen zu präsentieren, und die Gläubiger veranlasst werden, ihre Forderungen vernünftig, ehrlich und ordentlich sowie zur richtigen Zeit (tempore congruenti) geltend zu machen. Ferner wird gebeten, ein von Gewohnheit und guten Handelsusancen konzediertes und von Kaisergesetzen appro148 Mario Chiaudano: I Rothschild del Duecento. La Gran Tavola di Orlando Bonsignori, in: Bulletiono Senese di Storia Patria 42 (1935), S. 103–142, hier Appendici, Nr. III, S. 135–142 (lateinisch); Robert S. Lopez/Irving Raymond (Hg.): Medieval Trade in the Mediterranean World. 2. Aufl., New York/London 1961, Nr. 154, S. 383–387 (englische Übersetzung). Zum weiteren Schicksal der Gesellschaft siehe Edward D. English: Enterprise and Liability in Sienese Banking, 1230–1350. Cambridge/Mass. 1988, S. 55–78.

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biertes Schuldenmoratorium zur Eintreibung ihrer Forderungen und Befriedigung der Gläubiger zu gewähren und dafür insbesondere bei der römischen Kurie zu werben, wobei angeboten wird, den Gläubigern zur Deckung ihrer Forderungen vertrauenswürdige Schuldner, d. h. noch zu realisierende äquivalente Forderungen der Gesellschaft zu benennen, wenn sie nur solange warteten, bis sich die Gesellschaft durch diese Außenstände refinanziert habe, um ihrerseits ihre Schuld zu begleichen. Die von der Bonsignori-Gesellschaft, die nach dilatorischem Verhalten der Kommune 1310 schließlich fallierte, sicherlich auch zur Beschönigung ihrer Verantwortung für den Geschäftsverlauf vorgenommene Analyse gibt der Erforschung von Gesellschaftshandel und Bankenwesen indessen wichtige Problemstellungen vor, welche das Verhältnis von Stadtregiment, Wirtschaftsrecht und Wirtschaftskräften, die tatsächliche Kohärenz von Familiengesellschaften oder voluntaren Gesellschaften, die Ursachen für Bankrotte, aber auch die vorhandenen Zwangsvollstreckungsund Konkursregelungen, schließlich auch Erscheinungen wie Rechnungsbetrug und Schuldnerflucht betreffen.149 Fast unüberschaubar ist die Forschungsliteratur zum kanonischen Zinsverbot mit europäischer Reichweite, von dem Privatpersonen, Gesellschaften, das Depositum bei der Gesellschaft oder Bank150 und auch die konsolidierte öffentliche Schuld hinsichtlich der verzinslichen freiwilligen Anleihen151 betroffen waren, dessen Missachtung nichts geringeres als das Seelenheil gefährdete und etwa Ratsherren für alle Zeit ratsunfähig machte; weniger genau untersucht sind die Verbote der Zinsnahme und die Diskriminierung von bestimmten Geschäftstypen durch weltliche Obrigkeiten.152 Bekannt sind die Rechtfertigung und kirchliche Approbation des immo149 Einige der Fragestellungen wurden in dem von der DFG geförderten Kölner Forschungsprojekt „Recht und Wirtschaft in Spätmittelalter und früher Neuzeit“ aufgegriffen. 150 Winfried Trusen: Die Anfänge öffentlicher Banken und das Zinsproblem. Kontroversen im Spätmittelalter, in: Lutter/Kollhosser/Trusen (Hg.), Recht und Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 113– 131; Hans-Peter Schwintowski: Legitimation und Überwindung des kanonischen Zinsverbots. Bankengeschichtliche Wirkungszusammenhänge, in: Norbert Brieskorn (Hg.): Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 72). Paderborn u. a. 1994, S. 261–270. 151 Odd Langholm: Economics in the Medieval Schools. Wealth, Exchange, Value, Money and Usury according to the Paris Theological Tradition 1200–1350 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 29). Leiden/New York/Köln 1992; Raymond de Roover: Il trattato di fra Santi Rucellai sul cambio, il monte comune e il monte delle doti, in: Archivo Storico Italiano 111 (1953), S. 3–41; Julius Kirshner: The Moral Theology of Public Finance: A Study and Edition of Nicholas de Anglia‘s Quaestio Disputata on the Public Debt of Venice, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 40 (1970), S. 47–72. Gutachten zu weiteren Rechtsgeschäften: Hermann Lange: Das kanonische Zinsverbot in den Consilien des Alexander Tartagnus, in: Lutter/Kollhosser/Trusen (Hg.), Recht und Wirtschaft (wie Anm. 7), S. 99–112; Julius Kirshner/Kimberley Lo Prete: Peter John Olivi‘s Treatises on Contracts of Sale, Usury and Restitution: Minorite Economics or Minor Work?, in: Quaderni per la storia del pensiero giuridico moderno 13 (1984), S. 233–286. 152 John Gilchrist: The Church and Economic Activity in the Middle Ages. London 1969. Mit der neueren internationalen Literatur: Hans-Jörg Gilomen: Wucher und Wirtschaft im Mittelalter, in: HZ 250 (1990), S. 265–301; Gerhard Rösch: Wucher in Deutschland. Überlegungen zur Normdidaxe und Normrezeption, in: HZ 259 (1994), S. 593–636.

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bilienradizierten Rentenkaufs153 als Anteil an der Fruchtziehung und als Kauf- und nicht Kreditgeschäft, ferner die Verschleierung der Zinsnahme im Wechselbrief, die Zinstitel des positiven Schadens (‚damnum emergens‘) und des entgangenen Gewinns (‚lucrum cessans‘) bei Schuldnerverzug sowie die Zulässigkeit freiwilliger spontan-affektiver Geschenke aus Dankbarkeit. Die Durchsetzung der Wucherverbote durch die geistlichen und weltlichen Gerichte ist noch nicht hinreichend untersucht worden, so dass ihre Wirksamkeit insoweit nicht eingeschätzt werden kann. Nicht schlüssig zu erklären ist der Umstand, dass die Kirche, die im Falle der römischen Kurie für die weltliche Wirtschaft riesige Kapitalien bereitstellte, an dem aus Zeiten vorwiegender Agrarwirtschaft stammenden Verbot der Zinsnahme und damit an einem geldtheoretischen Axiom und an einem biblischen Gebot der Nächstenliebe festhielt, dem Kapitalbegriff nicht Rechnung trug und die Unterscheidung von Konsumtivkrediten und Produktivkrediten nicht traf, statt dessen es aber zuließ, dass ein kasuistisches Gebäude für Ausnahmen errichtet wurde. Vor allem besteht noch keine über Plausibilitätsannahmen hinausgehende Klarheit über die ökonomischen Effekte des Zinsverbots. Abgesehen von der Auffassung, dass das Zinsverbot der geistlichen und weltlichen Obrigkeiten so gut wie keine Wirkung gehabt habe, wird zum einen angenommen, es habe unbeabsichtigt, aber erfolgreich verhindert, dass flüssiges Kapital in unproduktive Konsumtivkredite floss und zugunsten wirtschaftlichen Wachstums eine höhere Bereitschaft stimuliert, ertragsuchendes Kapital als Risikokapital in produktive Wirtschaftsunternehmungen zu investieren. Zum anderen wird jedoch im Hinblick auf die Geschäftstechniken und den Zahlungsverkehr geltend gemacht, dass das Wucherverbot, das den Darlehensschuldner schützen sollte, tatsächlich die Kredite verteuert und das Geschäftsrisiko erhöht habe, da die verschleierte Realisierung einer Kreditvergütung durch die Kursdifferenz zwischen der Darlehensvaluta in örtlicher Währung und der im Wechselbrief in fremder Währung valutierten Wechselsumme komplizierte kostenträchtige Transaktionen unter Einschaltung ausländischer Korrespondenten erforderlich machte und Wechselkursschwankungen häufig den Profit der auf Kreditbasis operierenden Kaufleute aufzehrten.154 Gerichtsverfahren, Restitutionsbemühungen und fromme Stiftungen belegen, dass die Wucherverbote keineswegs wirkungslos waren, doch scheint die Zinsnahme in der Praxis zeitlich, örtlich und regional unterschiedlich betrachtet worden zu sein bis hin zu der Vorstellung, dass trotz des unbestreitbaren grundsätzlichen Zinsverbots niedrige Zinssätze, wie sie auch das römische Recht erlaubte, toleriert werden könnten. Über Einzelbelege und noch isolierte regionale Einzelstudien wie etwa für England hinaus bedarf es auf diesem wichtigen, aber immer noch unübersichtlichen Feld von Theologie, Kirche, weltlicher Normsetzung auf der einen und kreditbedürftiger oder bereits kapitalistischer Wirtschaft auf der anderen Seite, von rechtlicher Strafsanktionierung und konventioneller sozialer Missbilligung, Ächtung oder Tolerierung sowie gerichtlicher Rechtsdurchsetzung und Strafverfolgung weiterer systematischer Untersuchungen. Für die Entwicklung des Kapitalismus im Mittelalter und für die katholische Welt mindes153 Winfried Trusen: Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik, dargestellt an Wiener Gutachten des 14. Jahrhunderts (VSWG, Beiheft 43). Wiesbaden 1961. 154 Vgl. den Überblick bei Kirshner, Raymond de Roover (wie Anm. 93), S. 17 f., 33.

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tens bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren diese Fragen höchst bedeutsam und dabei noch komplexer als Fragen der rationalen Lebensführung und Berufsaskese, die es auch schon im Spätmittelalter gab, für die Frühe Neuzeit. Im späteren Mittelalter trat neben den Juden und den Lombarden, Cahorsini und Astigiani, die das Privileg der Zinsleihe besaßen, trotz des Wucherverbots die Figur des christlichen Finanziers hervor. Auf Wolfgang von Stromer geht maßgeblich das zunächst nicht unumstrittene Konzept einer deutschen ‚mittelalterlichen Hochfinanz‘ zurück, das die besonderen Beziehungen zwischen städtischen Wirtschafts- und Finanzeliten zu Herrschafts- und Entscheidungsträgern in der Reichspolitik, zu geistlichen und weltlichen Fürsten und zum König, begrifflich fasst.155 Es handelt sich vornehmlich um Kreditbeziehungen, die von den großen Geldleuten nicht nur eingegangen werden, um ökonomische Gewinne zu erzielen, Machtpositionen zu befestigen und Vorteile im Kampf mit wirtschaftlichen Konkurrenten zu erringen. Die jüngere Forschung unter weiterer Beteiligung von Stromers hat das Konzept gestützt, räumlich über Oberdeutschland mit dem Mittelpunkt Nürnberg hinaus auf den Rhein-Maas Raum und den hansischen Norden erweitert, zeitlich noch vor das Spätmittelalter gezogen, sich auch auf die Ebene der Territorialherrschaft begeben und über das Stadtbürgertum hinaus den niederen Adel und alle Arten finanzkräftiger Gruppen wie etwa auch kreditierende Amtsträger in den Blick genommen.156 Von mittelalterlicher Hochfinanz kann von Stromer zufolge dann gesprochen werden, wenn Kaufleute und ihre Unternehmen „mit typischen Machtmitteln und Kampfmethoden der Wirtschaft versuchten, in die große Politik einzugreifen oder selbst Politik zu treiben“, dies zwar „meist in Verfolgung eigener Interessen, um Vorteile im wirtschaftlichen Wettbewerb zu erringen oder mehr Geltung und Achtung zu erlangen“, doch sollten diese Versuche oft genug „auch zur Lösung großer Aufgaben der Gemeinschaft dienen, denen die Akteure sich zugehö155 Wolfgang von Stromer: Oberdeutsche Hochfinanz 1350—1450 (VSWG, Beihefte 55–57). Wiesbaden 1970; ders.: Hochfinanz, Wirtschaft und Politik im Mittelalter, in: Friedhelm Burgard/Alfred Haverkamp/Franz Irsigler/Winfried Reichert (Hg.): Hochfinanz im Westen des Reiches 1150–1500 (Trierer Historische Forschungen 31). Trier 1996, S. 1–16. Vgl. auch Peter Moraw: Deutsches Königtum und bürgerliche Geldwirtschaft um 1400, in: VSWG 55 (1968), S. 289–328; ders.: Königtum und Hochfinanz in Deutschland 1350–1450, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 122 (1974), S. 23–34; Evamaria Engel: Finanzielle Beziehungen zwischen deutschen Königen und Stadtbürgern von 1250 bis 1314, in: JbWG IV (1975), S. 95– 113; Clemens Bauer: Mittelalterliche Staatsfinanz und internationale Hochfinanz, in: Historisches Jahrbuch 50 (1930), S. 19–46. Bauer definiert Hochfinanz vorrangig durch die Befriedigung des „Bedarfs großen Stiles“. Vgl. auch die weitgehende Feststellung bei Schumpeter, Ökonomische Analyse (wie Anm. 15), Band 1, S. 121: „Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war die Mehrzahl der Phänomene, die wir gewohnheitsmäßig mit dem unklaren Wort Kapitalismus verbinden, bereits vorhanden, wozu Großunternehmen, Börsen- und Warenspekulation sowie die ‚Hochfinanz‘ gehören, und die damaligen Menschen reagierten auf all dies fast genauso wie wir. Selbst damals waren nicht alle diese Erscheinungen neu. Wirklich beispiellos war lediglich ihre absolute und relative Bedeutung.“ 156 Siehe die Beiträge in dem Sammelband von Burgard/Haverkamp/Irsigler/Reichert (Hg.), Hochfinanz (wie Anm. 155). Siehe auch Uwe Bestmann/Franz Irsigler/Jürgen Schneider (Hg.): Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovation. Festschrift für Wolfgang von Stromer. 3 Bände. Trier 1987.

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rig fühlten: ihren Kommunen, deren Bünden, der Schicht der ‚ehrbaren Kaufleute‘ und dem Reich“.157 Dabei kam es auch zur Konsortienbildung, teilweise sogar internationalen Zuschnitts. Darlehen wurden unter bestimmten Umständen und Bedingungen gewährt oder vermittelt für Politik, Verwaltung, den Konsum des Hofes, Rüstung und Kriegführung. Geldleute, darunter auch ein Niederadeliger, finanzierten die Königswahlen Ottos IV. (Kölner Kaufleute)158, Karls IV. (Reinhard von Schönau)159 und Karls V. (Fugger), oberdeutsche Geldleute im Zusammenspiel mit den Medici und anderen Florentiner Finanzgrößen den Italienzug König Ruprechts von 1401 bis 1402. Durch Kredite, Pfandnahme, Pacht und Kauf erwarben die Geldgeber Zölle, Ämter wie die des Zollmeisters und Münzmeisters, Handelskonzessionen und -privilegien, Stadtprivilegien, Herrschaftsrechte wie das Schultheißenamt und Montanberechtigungen. Nicht nur die Vergabe von Krediten ließ Geld zum politischen Mittel werden, sondern auch deren Rückruf und Kreditsperren konnten zum politischen Mittel der Bürger und Städte gegen Fürsten und Herren werden. Die „Kommerzielle Revolution“ und das durch den Handel erwirtschaftete, durch Kaufleute-Bankiers, Handelsgesellschaften und Erwerber von Kuxen bereitgestellte Kapital ermöglichten ‚industrielle Revolutionen‘ des Mittelalters und Spätmittelalters, die auf technische Innovationen gegründet waren und ein mehr oder weniger dynamisches Wachstum in den gewerblichen Bereichen von Tuchproduktion, Metallgewerbe und Bergbau bedeuteten. Mit dem verstärkten Eindringen von Kapital, das im zünftigen Handwerk nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte, nun aber in diesen Gewerben neben dem traditionell überragenden Faktor Arbeit seine werbende Kraft entfaltet und Anteil am Gewinn bekommt, entsteht auf der Grundlage von Verlagsbeziehungen zu abhängigen Handwerkern, Kreditgeschäften mit Montanberechtigten und teuren betrieblichen Investitionen aus dem Kaufmann, dem Kaufmann-Bankier und dem vielleicht in einem zünftig geprägten politischen Regime verlegerisch tätigen, durch Handel oder Heirat zu größeren Kapitalien gelangten Handwerksmeister der frühe Typus eines Unternehmers.160 Der Unternehmer, um den modernen Idealtypus als analytisches Hilfsmittel zur Ermittlung und Präzisierung von Merkmalen aufzugreifen, koordiniert die arbeitsteilige Produktion, übernimmt die Produktionsleitung, wirkt auf die Gestaltung und standardisierte Qualität der Produkte ein und fördert die Kreation neuartiger Produkte und die Einführung neuer oder noch nicht bekannter Produktions- und Absatzmethoden, erschließt neue Märkte, sucht nach neuen Bezugsquellen von Rohstoffen und Halbfabrikaten und 157 Von Stromer, Oberdeutsche Hochfinanz (wie Anm. 155), S. 1. 158 Sonja Zöller: Gerhard Unmâze von Köln. Ein Finanzier der Reichspolitik im 12. Jahrhundert, in: Burgard/Haverkamp/Irsigler/Reichert (Hg.), Hochfinanz (wie Anm. 155), S. 101–119. 159 Franz Irsigler: Reinhard von Schönau – financier gentilhomme. Eine biographische Skizze, in: Ebd., S. 281–305. 160 Zur Forschungsdiskussion, ob das mittelalterliche Handelskapital, der Handel als beschränkter, aber hyperaktiver dynamischer Sektor, die gewerblich-industrielle Produktion wirklich durchdrungen oder – vor allem aus marxistischer Sicht – als kurzfristiger Kredit nur kurzfristige Profite abgeworfen habe und außerdem im Hinblick auf das ganz überwiegend im agrarischen Bereich erwirtschaftete Sozialprodukt für die Entwicklung des Kapitalismus nicht historisch signifikant gewesen sei, siehe Day, Money and Finance (wie Anm. 147), S. 129–134.

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strebt nach einer Monopolstellung.161 Sofern er sich nicht im Einzelfall bereits berufsasketisch ganz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit verschreibt, sitzt der mittelalterliche Unternehmer in Gericht und Rat und lenkt die städtische Wirtschaft und Politik. Die flandrische Städtelandschaft, die durch die industriell zu nennende Tuchproduktion fast monostrukturell geprägt ist, scheint bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert mit Jehan Boinebroke (gest. 1285/86) in Douai den Prototyp des kaufmännischen Verlegers und Unternehmers, des ‚marchand-drapier‘ mit harten kapitalistischen und ausbeuterischen Zügen hervorgebracht zu haben.162 Als einziger Lieferant der hochwertigen Wolle, permanenter Auftraggeber der Handwerker und Abnehmer von fertigen Tuchen koordiniert Boinebroke mit einem aus Faktoren und einem Schreiber gebildeten Stab von seinem Haus aus den hochkomplexen Produktionsprozess im eigenen Betrieb und in den von ihm beschäftigten, isoliert tätigen Handwerksstätten. Die Produktionsstätten bilden eine dezentrale Manufaktur, die sogar Tendenzen zu einer konzentrierten Manufaktur aufweist. Dieses imposante und geschlossene Bild des Unternehmers, das Espinas auf einer sehr schmalen Quellengrundlage und zu groß dimensionierten Vorstellungen der Produktionsstätten zeichnete, wurde angezweifelt und aufgelöst, doch lässt sich grundsätzlich die hochgradig in aufeinander bezogene Produktionsabschnitte zerlegte und kapitalbedürftige Tuchproduktion kaum ohne koordinierende Planung und Kontrolle denken.163 161 Zur Theorie des ‚schöpferischen‘ und ‚revolutionären‘ Unternehmers siehe vor allem Joseph A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus. München/Leipzig 1911, 2. Aufl., 1926, S. 110 f. Dazu: Eduard März: Joseph Alois Schumpeter (1883–1950), in: Starbatty (Hg.), Klassiker II (wie Anm. 15), S. 265 f., 268. 162 Georges Espinas: Jehan Boine Broke. Bourgeois et drapier Douaisien (?–1310 env.), in: VSWG 2 (1904), S. 34–121, 219–253, 382–412; ders.: Les origines du capitalisme 1. Sire Jehan Boinebroke, patricien et drapier Douaisien (?–1286 environ) (Bibliothèque de la Société d‘histoire du droit des pays Flamands, Picards et Wallons). Lille 1933. Vgl. auch das Bild des mittelalterlichen Kapitalisten bei Henri Pirenne: Les périodes de l‘histoire sociale du capitalisme, in: Ders.: Histoire économique de l‘Occident médiéval. Bruges 1951, S. 15–20. Ablehnend gegenüber den Vorstellungen von Espinas zur verlegerischen Funktion Boinebrokes und zur Entwicklung der Tuchindustrie, die in Wirklichkeit bis ins 14. Jahrhundert eine Trennung von ‚marchand‘ und ‚drapier‘ aufweise, Alain Derville: Les draperies flamandes et artésiennes vers 1250–1350. Quelques considerations critiques et problématiques, in: Revue du Nord 54 (1972), S. 353– 370. Neuerdings abgewogen zu dem von Espinas auf schmaler und prekärer Quellengrundlage entworfenen Unternehmermodell Boinebroke und den von der Forschung vorgebrachten Zweifeln an dessen produktionsleitender Funktion siehe Holbach, Verlag und Großbetrieb (wie Anm. 37), S. 52–58, 64, 149. Ein weiteres Beispiel für mittelalterliches Unternehmertum: Nathalie Fryde: Ein mittelalterlicher Großunternehmer. Terricus Teutonicus de Colonia in England, 1217–1247 (VSWG, Beiheft 125). Stuttgart 1997. Vgl. auch den Rezensionsaufsatz von Ernst Pitz: Kapitalausstattung und Unternehmensformen in Antwerpen 1488–1514, in: VSWG 53 (1966), S. 53–91. 163 Alfred Doren: Die Florentiner Wollentuchindustrie vom 14. bis 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Kapitalismus (Studien aus der florentinischen Wirtschaftsgeschichte 1). Stuttgart 1901, ND Aalen 1969. An der Herstellung von 222! Tuchen in drei Jahren bei Francesco di Marco Datini in Prato waren nicht weniger als 1.000 Personen beteiligt, die 6.088 Teiloperationen durchführten. Federigo Melis: Aspetti della vita economica medie-

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Größere Kapitalien als die flandrische und norditalienische Tuchindustrie oder die süddeutsche Barchentproduktion benötigten Bergbau, Hütten- und Hammerwesen und Metallgewerbe. Dieser bedeutendste Wachstumsbereich der Wirtschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit verlangte hohe Investitionen in vielfältige Mühlenwerke,164 Maschinen und sonstige Betriebsanlagen, daneben in Rohstoffe und Halbfabrikate. Der Montanbereich bedurfte der Verbindung zu den fürstlichen Regalherren und kannte sogar in der Frühen Neuzeit fürstliche Unternehmerfiguren.165 Hier zeichnet sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert die moderne Trias von Kapital, Arbeit und technischem Wissen (Seigerhüttenverfahren) ab, außerdem entstand ein Zulieferungs- und Versorgungsgewerbe.166 An der Pegnitz und ihren Seitenbächen und im Siegerland entstanden von der Stadt gelenkte Gewerbereviere der Metallverarbeitung,167 die entstehenden Energielücken führten zur Erfindung der Nadelwaldsaat zur raschen Aufforstung der abgeholzten Wälder und zum allmählich verstärkten Steinkohleabbau.168 Aus der Gefährdung natürlicher Ressourcen durch Bedarf an Holz für den Schiffsbau und Energie für den Montan- und Metallbereich sowie an Brennholz für große Bevölkerungen resultieren bereits im Mittelalter Umwelt- und Versorgungsprobleme,169 während im innerstädtischen Areal von Gewerben Lärm- und Geruchsemissionen, Feuergefahr und Wasserverunreinigung ausgehen, denen vor allem durch topographische Standortzuweisung begegnet werden sollte. So lässt sich auch für das Mittelalter sehr prägnant eine Geschichte der Umwelt- und Versorgungsprobleme schreiben, die wirtschaftliche Folgeerscheinungen und Versuche gesetzlicher und administrativer Problemlösungen durch Obrigkeiten zum Gegenstand hat, wobei auch in diesem Falle das Mittelalter sehr lange dauert. Durch unternehmerische Innovation und gewerbliche Expansion mit ihren Folgen entsteht im Spätmit-

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vale (Studi nell‘Archivio Datini di Prato). Siena 1962, S. 511. Zusammenfassend mit der neueren Literatur Holbach, Verlag und Großbetrieb (wie Anm. 37), S. 140–155. Vgl. etwa Ralf Kreiner: Städte und Mühlen im Rheinland. Das Erftgebiet zwischen Münstereifel und Neuss vom 9. bis ins 18. Jahrhundert (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte 5). Aachen 1996. Holbach, Verlag und Großbetrieb (wie Anm. 37), S. 242. Ekkehard Westermann (Hg.): Bergbaureviere als Verbrauchszentren im vorindustriellen Europa. Fallstudien zu Beschaffung und Verbrauch von Lebensmitteln sowie Roh- und Hilfsstoffen (13.–18. Jahrhundert) (VSWG, Beiheft 130). Stuttgart 1997. Wolfgang von Stromer: Gewerbereviere und Protoindustrien in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Hans Pohl (Hg.): Gewerbe und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 78). Stuttgart 1986, S. 39–111. Dietrich Lohrmann: Energieprobleme im Mittelalter: Zur Verknappung von Wasserkraft und Holz in Westeuropa bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: VSWG 66 (1979), S. 297–316; Albrecht Jockenhövel (Hg.): Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt (VSWG, Beiheft 121). Stuttgart 1996; Jörg Wiesemann: Steinkohlenbergbau in den Territorien um Aachen 1334–1794 (Aachener Studien zur älteren Energiegeschichte 3). Aachen 1995. Siegfried Epperlein: Waldnutzung, Waldstreitigkeiten und Waldschutz in Deutschland im hohen Mittelalter. 2. Hälfte 11. Jahrhundert bis ausgehendes 14. Jahrhundert (VSWG, Beiheft 109). Stuttgart 1993; Joachim Radkau: Das Rätsel der städtischen Brennholzversorgung im „hölzernen Zeitalter“, in: Dieter Schott (Hg.): Energie und Stadt in Europa. Von der vorindustriellen „Holznot“ bis zur Ölkrise der 1970er Jahre (VSWG, Beiheft 135). Stuttgart 1997, S. 43–75.

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telalter eine neue, bislang nur an Einzelbeispielen in seiner Modernität präzise greifbare Erscheinung des Wirtschafts- und Soziallebens, nämlich der regelrechte Umwelt- und Gewerberechtsprozess. So werden in Nürnberg im Jahre 1457 in einem Prozess von einem klagenden Nachbarschaftsverband gegen Betriebsänderungen und Erweiterungen der Anlage mit nunmehr zehn Stämpfen anstelle von einem Walkrad und zwei Lohrädern, die in einer über 50 Jahre alten Gerichtsurkunde zugelassen worden waren, schwerwiegende ruhestörende Lärmbelästigung bei Tag und Nacht, insbesondere für Kinder, Kranke und Wöchnerinnen, Erschütterungen in den Häusern und ein dadurch eingetretener Wertverlust bei Immobilien in Höhe der Hälfte des Verkehrswertes und einer bisherigen Gesamtsumme von 2.000 Gulden an Kapital geltend gemacht.170 Der Eindruck eines langandauernden, strukturell immobilen, stationären und statischen Mittelalters, den die agrarwirtschaftliche Prägung der Herrschaften und großen Reiche des kontinentalen Europa mit ihren herrschaftlich gebundenen Wirtschafts- und Sozialverhältnissen vermitteln, wird durch die wirtschaftsgeschichtlichen ‚Revolutionen‘ in Frage gestellt. Hinzu kommen als weitere Momente der Bewegung die Krisenerscheinungen, die zeitgenössischen Klagen über Misere und Niedergang, die es in allen Epochen gibt, und die wissenschaftliche Diskussion, die das Spätmittelalter mit dem 14. und 15. Jahrhundert als krisenhafte Binnenepoche kennzeichnet.171 Beherrschend ist bis heute die Diskussion um die spätmittelalterliche säkulare Agrardepression172 infolge des – als generelle Erscheinung fraglichen – Verfalls der Getreidepreise nach der demographischen Katastrophe der Großen Pest von 1348/50 und infolge der in Intervallen fortgesetzten Pestzüge, um die durch die terms of trade zwischen Land und Stadt bewirkte Preisschere von sinkenden Getreidepreisen und steigenden Preisen für handwerkliche Produkte und das angebliche ‚goldene Zeitalter des Handwerks‘ und der Lohnarbeiter.173 Historiker haben das Spätmittelalter vor allem der Zeit nach 1348/50 unter das Signum der Krisen und des Niedergangs gestellt und dabei den wirtschaftsgeschichtlichen Krisenbefund mit Stagnation und Schrumpfung durch Einbeziehung sozialer, religiöser und kunstgeschichtlicher Erscheinungen sowie der verfassungsgeschichtlichen, politischen und kirchengeschichtlichen Entwicklungen zum Bild einer umfassenden Krisensituation und einer säkularen Depression gestellt, dabei allerdings häufig mit einem überdehnten, vagen Krisenbegriff operiert, der nicht dem der Wirtschaftswissenschaft entspricht. Als Krisensymptome wurden langandau170 Wolfgang von Stromer: Die Nürnberger Handelsgesellschaft Gruber-Podmer-Stromer im 15. Jahrhundert (Nürnberger Forschungen 7). Nürnberg 1963, Quellenanhang, Nr. 82 b, S. 134. 171 Die ökonomischen und allgemeinen historischen Krisen sind hier nicht eingehender zu behandeln. Siehe Ernst Pitz: Die Wirtschaftskrise des Spätmittelalters, in: VSWG 52 (1965), S. 347– 357, und die kritischen Ausführungen bei Peter Schuster: Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: HZ 269 (1999), S. 19–55. 172 Zu Kritik an den Arbeiten Wilhelm Abels über die mittelalterliche Agrarkrise siehe zuletzt Walter Achilles: Grundsatzfragen zur Darstellung von Agrarkonjunkturen und -krisen nach der Methode Wilhelm Abels, in: VSWG 85 (1998), S. 307–351. 173 Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900 (VSWG, Beiheft 151). Stuttgart 1999.

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ernde Kriege wie der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, massive innere Friedensstörungen durch die als Mittel der Rechtsdurchsetzung depravierte und diskreditierte Fehde, wachsende Kriminalität, Herrscherabsetzungen und soziale Unruhen, das Große abendländische Schisma, das Auftreten der Flagellanten, die Judenpogrome, die ketzerischen Glaubensartikel und die offensiven militärischen Aktionen der Hussiten sowie das bedrohliche Vorrücken der Türken ermittelt. Positiver wurde hingegen von produktiven Anpassungskrisen in wirtschaftlichen und sozialen Teilbereichen gesprochen. „Das Mittelalter geht um 1350 zu Ende“, schrieb hingegen dezidiert der Wirtschaftshistoriker Friedrich Lütge in seinem 1950 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Das 14./15. Jahrhundert in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“.174 In der „apokalyptischen Katastrophe“, gemeint ist die Pest, werde eine geistige, soziale und wirtschaftliche Lebensform zerstört, die im Kern bis in die Karolingerzeit zurückgeht. Eine teils langsame, aber dann auch wieder fast stürmisch sich vollziehende Entwicklung, die im Grunde immer „gradlinig“ und „gesund“ blieb und deshalb keine krisenauslösende Disproportionalität zwischen den einzelnen Teilbereichen der Volkswirtschaft aufkommen ließ, nimmt jetzt ein Ende.175 Seitdem beginnt ein Auf und Ab der Entwicklung, das von einer Ungleichmäßigkeit der speziellen Situation in den einzelnen Wirtschaftsbereichen, namentlich also in Stadt und Land, teils ausgelöst ist, teils aber auch daraus folgt, und das nunmehr sechs Jahrhunderte der europäischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte charakterisiert. Stärker als je vorher werden damit die Auswirkungen wirtschaftlicher Umwälzungen auf die sozialen und politischen Bereiche des Lebens, wie auch umgekehrt. VIII. Wie die mittelalterliche Agrarwirtschaft grundsätzlich von den Jahreszeiten und vom Wetter abhängig und von Pestzügen, Fehden und Kriegen betroffen ist, so hängt der weiträumig operierende Handel gleichfalls von natürlichen Bedingungen ab, aber in weit höherem Maße von Friedenssicherung, internationaler Politik, Krieg und Staatsbildung. Auf der anderen Seite beruhte bereits der zentralörtliche Markthandel vielfach auf der zumindest ökonomischen Unterordnung des Umlandes, die zur Bildung eines städtischen Territoriums und eines zu Teilen eroberten, von der Stadt regierten und fiskalisch belasteten Contado samt Distretto einschließlich subordi174 Friedrich Lütge, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 162 (1950), S. 161–213. Vgl. auch Jan van Klaveren: Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Schwarzen Todes, in: VSWG 54 (1967), S. 187–202. 175 Zur inhärenten Instabilität der Wirtschaft durch den aufkommenden Frühkapitalismus siehe Bauer, Kirche, Staat und kapitalistischer Geist (wie Anm. 4), S. 158 f.: „Die Expansion des frühkapitalistischen Händlers und Unternehmers bringt in die noch traditionale, stark stabile Wirtschaft ein Moment der Bewegung und der Unsicherheit. Vorher sind außerökonomische Phänomene wie Seuchen, Mißwachs und Kriege die Ursache wirtschaftlicher Instabilität, wirtschaftlicher Schwankungen und Verschiebungen in Besitz und Arbeitsraum. Mit dem Anwachsen kapitalistischer Betriebe, denen die Expansion notwendig inhäriert, kommt die Bewegung und die Instabilität aus der Wirtschaft selbst.“

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nierter Satellitenstädten gesteigert werden konnte. Nicht erst der staatlich geförderte Handel des Merkantilismus war ein „commerce de force“ (Richelieu), denn in großem Stil wurde der mediterrane Seehandel von den rivalisierenden Hauptexponenten Genua und Venedig mit Diplomatie und Krieg zu Lande und zur See gegen muslimische und byzantinische Flotten, auch im Rahmen von Kreuzzügen vorangetrieben und durch Staatsgaleeren und Konvois gesichert.176 Etwas anderes meint die anregende These Lütges von der verstärkten Wechselbeziehung zwischen Wirtschaft, Sozialem und Politik seit 1350 im Zeichen einer nunmehr grundsätzlich und gesteigert krisenanfälligen Wirtschaft. Zwei zeitlich eng beieinanderliegende Ereignisse auf dem Lande und in der Stadt, der englische Bauernkrieg von 1381 und der Ciompi-Aufstand in Florenz 1384, scheinen die These zu belegen. Der englische Bauernkrieg, dem wie andernorts auf dem Kontinent Abzugsverbote und die Festlegung von Maximallöhnen nach der Großen Pest vorangingen und der von Kopfsteuern (poll-tax) und ihrer rigiden Einhebung ausgelöst wurde, zielte auf die Beseitigung des personenrechtlichen und sozialen Status der Hörigkeit, stellte darüber hinaus den Typus und die Berechtigung der grundherrschaftlichen Abgaben in Frage, griff auf städtische unselbständige handwerkliche Schichten über und tastete den Bereich der königliche Prärogative, das ‚government‘ an, indem die Entfernung von Ratgebern des Königs gefordert wurde. Gleichfalls sehr komplex war der Aufstand der außerzünftigen, proletaroiden Florentiner Wollarbeiter, der Ciompi, die sich 1378 in einer wirtschaftlichen Krise gegen wirtschaftliche Unterdrückung erhoben. Die flandrische Städtelandschaft weist einen außerordentlich vielgestaltigen und engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsmacht und politischer Selbständigkeit, zwischen Sozialstruktur, politischem Regime, Wirtschaftsbedürfnissen und innerer und äußerer Politik auf. Auf Grund ihrer wirtschaftlichen und daher auch militärischen Stärke erringen die großen flandrischen Städte gegenüber dem Adel auf dem Lande die politische Vorherrschaft, bilden die Stände (‚Leden‘) des Landes und treten selbstbewusst dem Landesherrn, dem Gra176 Adolf Schaube: Handelsgeschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebietes bis zum Ende der Kreuzzüge (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. III). München 1906, ND Osnabrück 1973; Heyd, Geschichte des Levantehandels (wie Anm. 22); Frederic Lane: Force and Enterprise in the Creation of Oceanic Commerce, in: JEH 10 (1950), S. 19–31; Subhi Y. Labib: Handelsgeschichte Ägyptens im Spätmittelalter (1171–1517) (VSWG, Beiheft 46). Wiesbaden 1965; Karl-Heinz Allmendinger: Die Beziehungen zwischen der Kommune Pisa und Ägypten im hohen Mittelalter. Eine rechts- und wirtschaftshistorische Untersuchung (VSWG, Beiheft 54). Wiesbaden 1967; Marie-Luise Favreau: Die italienische Levante-Piraterie und die Sicherheit der Seewege nach Syrien im 12. und 13. Jahrhundert, in: VSWG 65 (1978), S. 461–510; Fliyahu Ashtor: Levant Trade in the Middle Ages. Princeton 1983; David Abulafia: Commerce and Conquest in the Mediterranean, 1100–1500 (Variorum Collected Studies Series 410). Aldershot 1993. Dass der mittelalterliche Kapitalismus Italiens aus wirtschaftlichen Gründen allein nicht zu erklären sei, sondern durch Militärhilfen für Byzanz gegen die Normannen (Venedig 1082), die Kreuzzüge mit der Gründung von Handelsemporien in eroberten Städten durch Genuesen, Venezianer und Pisaner und die Eroberung Konstantinopels 1204 durch Venedig und den Einfluss der Genuesen mit der Wiederaufrichtung der griechischen Herrschaft 1261, hebt dezidiert Sieveking hervor; Sieveking, Die kapitalistische Entwicklung (wie Anm. 29) S. 80 f. Die politische Macht der expansiven italienischen Kommunen sei ein wichtiger Faktor der kapitalistischen Konzentration in ihnen gewesen. Ebd., S. 82 f.

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fen von Flandern, einem Vasallen des Königs von Frankreich, entgegen. Während des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich neigt sich der Landesherr wegen der Lehensbindung und Nachbarschaft seinem Souverän zu, dem französischen König, doch der König von England ist Herr über den Export der für die flandrische Tuchindustrie unentbehrlichen, qualitativ unvergleichlichen englischen Wolle. Die Frage der „außenpolitischen“ Option entzweite aber auch die patrizische, am Landesherrn orientierte Stadtregierung mit den produzierenden Zünften, so dass es zu Aufständen und Zunftregierungen kam. Eine gewisse Freiheit von den herrschenden politischen Determinanten konnte der gewerblich tätigen Gesellschaft letztlich nur eine ökonomische Option bieten, nämlich der Bezug der gleichfalls hochwertigen kastilischen Wolle anstelle der englischen. Kaufleute und Handel standen zudem in einem charakteristischen aktiven Zusammenhang zum politischen Frieden. Hatte Hugo von St. Viktor (gest. 1141) noch in der Zeit der Diskreditierung des Kaufmanns davon gesprochen, dass der freundschaftliche Handelsverkehr und der darauf verwandte Eifer des Kaufmanns die Völker einige, Kriege dämpfe und den Frieden festige,177 so wurde in direkter diplomatischer Tätigkeit für den Frieden der Kölner Kaufmann Johann van Wipperfürth, der die französische und englische Sprache beherrschte und den ganzen nordwesteuropäischen Raum von seinen Handelsreisen her kannte, während des Hundertjährigen Krieges von Herzog Philipp dem Guten von Burgund 1438 in seinem Konflikt mit dem englischen König mit einer Friedensvermittlung nach London betraut. Ein weiterer Kölner Kaufmann, Johann Rosenkrantz, hatte Anteil am Waffenstillstand von Grevelingen von 1439, reiste erneut 1444 und 1445 im burgundischen Auftrag zu Friedensverhandlungen nach London und war am Abschluss des englisch-burgundischen Handelsabkommens von 1445 beteiligt.178 Auch im Mittelalter war der freie und geschützte Handelsverkehr als konstituierendes Element eines Verkehrs zwischen den Völkern vielfach wesentlicher Bestandteil von Friedensverträgen. Auf der anderen Seite waren es nicht nur Verschiebungen in der Orientierung des Handels und der Naturvorgang der Versandung des Zwin, die den Niedergang des Weltmarktes Brügge, des ‚Stapels der Christenheit‘, verursachten, sondern auch die feindlichen Aktivitäten König Maximilians I. zur Schädigung des Handelsplatzes nach dem Aufstand der Bürgerschaft Brügges gegen ihn im Jahre 1488, wie der Erbin Brügges, der Stadt Antwerpen, die Sperrung der Schelde als Maßnahme der europäischen konfessionsgeleiteten Mächtepolitik der Frühen Neuzeit als internationales Handelszentrum weitgehend den Garaus machte. Noch etwas anderes als bloße aktuelle Politik kam hinzu. Im Zusammenhang mit ihrer nationalen Staatsbildung schlossen sich Königreiche und Territorien wie England, Frankreich und Burgund nach außen ab, revozierten die ihre hoheitliche Verfügungsgewalt einschränkenden Privilegien der fremden Kaufleute, setzten zugunsten ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit übergangsweise auf Konkurrenten der alten Partner und förderten 177 Hugo von St. Viktor: Eruditionis didascalicae II, 24, in: Jacques-Paul Migne: Patrologiae latinus cursus completus, Band 176. Paris 1854, Sp. 761. 178 Franz Irsigler: Kölner Kaufleute im 15. Jahrhundert. Die Akten des Prozesses Rosenkrantz/ Viehof als Quelle für die kölnische Handelsgeschichte, in: RhVjbll 36 (1972), S. 71–88, hier 81 f.

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nachhaltig den Ausbau des heimischen Handels auf dem langen Wege zu einer nationalen Ökonomie. Dies war ein Vorgang, der etwa maßgeblich zum Niedergang der Hanse beitrug. Mit der Frage nach der Bedeutung der Wirtschaftspolitik, speziell der Handelspolitik, für die Staatsbildung ist ein zentrales Feld interdisziplinärer historischer Forschung eröffnet.179 IX. Der unverkennbare vielgestaltige Zusammenhang von Wirtschaft, Politik und der Herausbildung nationaler Staaten legt die Frage nahe, ob es im Mittelalter auch eine von Königen, Fürsten und Städten konzeptionell und aktiv betriebene Wirtschaftspolitik gegeben habe.180 Im Unterschied zu den umfassenderen Gemeinwohlvorstellungen des fürstlichen Absolutismus und zu modernen Vorstellungen von einer ‚Wirtschaftspolitik‘181 erschöpfte sich der ‚Gemeine Nutzen‘(‚utilitas publica‘, ‚bonum commune‘) im mittelalterlichen sogenannten Rechtsbewahrungsstaat in erster Linie in der ungemein schwierigen Gewährleistung von ‚Frieden und Recht‘, d. h. in der Verwirklichung des Rechtsfriedens als eines Zustands ungestörten Rechts, sowie in der Herstellung von ‚Frieden und Ruhe‘ und ‚Sicherheit‘ vor rechtswidriger Gewalt, wobei für den Handelsverkehr namentlich der Geleitschutz182 als Regalitätsrecht eine spezielle herrschaftliche Leistung darstellt. Die Wahrung von ‚Frieden und Recht‘ waren die Voraussetzung für äußerlich ungestörte wirtschaftliche Wertschöpfung und ‚Reichtum‘. Eine florierende Wirtschaft, in den Quellen umschrieben mit den Ausdrücken ‚Wachstum‘, ‚Vermehrung‘, ‚Förderung‘ oder ‚besserer Nutzen‘,183 konnte insofern als Derivat von herrscherlicher Friedenswahrung und Rechtsschutz erscheinen.184 Ohnehin konnte zunächst 179 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 336–340. 180 Ulf Dirlmeier: Mittelalterliche Hoheitsträger im wirtschaftlichen Wettbewerb (VSWG, Beiheft 51). Wiesbaden 1966. 181 Unter moderner Wirtschaftspolitik können generell die „gestaltenden Maßnahmen“ verstanden werden, „die der Staat oder ihm abgeleitete oder faktisch zuständige Einrichtungen im Hinblick auf Wirtschaftsprozeß, Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsordnung treffen“. Karl Schiller: Art. ‚Wirtschaftspolitik‘, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 12. Göttingen 1965, S. 210. 182 Johannes Müller: Geleitwesen und Güterverkehr zwischen Nürnberg und Frankfurt a. M. im 15. Jahrhundert, in: VSWG 5 (1907), S. 173–196, 361–400; Ludolf Fiesel: Woher stammt das Zollgeleit, in: VSWG 19 (1926), S. 385–412; Michael Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter (Frankfurter historische Abhandlungen 40). Stuttgart 1998, S. 81–101 (mit weiterer Literatur). Zur Verletzung des Geleits im spektakulären Einzelfall durch den zuständigen Geleitsherrn selbst gegenüber 160 Kaufleuten aus 26 Städten auf dem Weg zur Frankfurter Messe siehe Michael Rothmann: Der Täter als Opfer. Konrad von Weinsbergs Sinsheimer Überfall im Kontext der Territorial- und Reichsgeschichte, in: Kurt Andermann (Hg.): ‚Raubritter‘ oder ‚Rechtschaffene vom Adel‘? Aspekte von Politik, Friede und Recht im späten Mittelalter (Oberrheinische Studien 14). Sigmaringen 1997, S. 31–63. 183 Dirlmeier, Mittelalterliche Hoheitsträger (wie Anm. 180), S. 217. 184 Selbst im römisch-deutschen Reich wird um die Mitte des 15. Jahrhunderts die auf die ‚deut-

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nur der eigene engere Domanialbereich des Herrschers zur direkten wirtschaftlichen Nutzung und Ertragssteigerung dienen, für weitere Bereiche konnten nur Rahmenordnungen geschaffen werden. Wie wichtig jedoch der Schutz von Frieden und Recht für die Wirtschaftsentwicklung war, zeigt der Sachverhalt, dass möglicherweise weniger ein autogener wirtschaftlicher Faktor wie die verkehrsgeographische Lage zum Erfolg der Champagner Messen führte, als vielmehr die politische Fähigkeit der Grafen der Champagne, allen Kaufleuten und ihren Organisationen gesichertes Geleit zu verschaffen, Sicherheit für Person, Eigentum und die Handelsverträge zu garantieren.185 Im Falle Brügges kommt zur handels- und verkehrsgeographischen Lage eine gezielte Förderung des Handels wie durch die großzügige handelsrechtliche, prozessuale und haftungsrechtliche Privilegierung der Hansekaufleute durch die Stadt hinzu. Das waren zunächst einzelne Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung. Von einer umfassenderen, auf ein geschlossen konzipiertes Großterritorium bezogenen ‚Wirtschaftspolitik‘ kann nach dem Urteil Erich Maschkes während der Herrschaft Friedrichs II. in Sizilien mit ihrem ‚frühabsolutistischen‘ Ausnahmecharakter gesprochen werden. In der europäischen Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters sei die Wirtschaftspolitik Friedrichs II. „der früheste Versuch“ gewesen, „die Wirtschaft eines Staatsgebietes in ihren Abläufen durch Lenkungsmaßnahmen zu beeinflussen“.186 Im Spätmittelalter baute der Deutsche Orden als Territorialherr um 1400 eine staatliche Handelsgesellschaft auf, die im Schiffbau tätig war und verschiedene Monopole besaß. In Frankreich betrieb König Ludwig XI. (1461–1483) in gesteigerter Fortsetzung von Praktiken seines Vaters Karls VII. und Jacques Coeurs, reglementierend und kontrollierend einen wirtschaftspolitischen Dirigismus und intervenierte in Handwerk, Handel, Messen und Märkte, Finanz- und Bankwesen sowie in den Bergbau, er vergab Monopole, Privilegien und Konzessionen für Schiffbau, Transport und Gewürzhandel, unter anderem an maritime königliche Handelsgesellschaften, projektierte eine königliche Staatsbank und implementierte die Seidenproduktion in Lyon, so dass moderne Historiker die königliche Wirtschaftspolitik, die freilich auch auf Widerstand stieß und schen Lande‘, die ‚deutsche Nation‘ bezogene ökonomische Vorstellung propagiert, dass wegen der nahezu ubiquitären Fehden und der daraus resultierenden Unsicherheit insbesondere der Verkehrswege die Wertschöpfung durch Handel und Gewerbe geschrumpft, dadurch das früher durch Kaufmannschaft und Gewerbe in die deutschen Lande gebrachte Vermögen (‚Gut‘) in andere Länder abgeflossen und die Stände im Reich verarmt seien, dass es nunmehr gelte, durch einen Frieden, der die innere Ordnung stabilisiere, der Wirtschaft wieder zu einem Aufschwung zu verhelfen und Vermögen zurückzuführen, so dass jeder Stand, Geistlichkeit, Bürger und Bauern, in seinem ‚redlichen Wesen‘ bleiben könne. Eberhard Isenmann: Integrationsund Konsolidierungsprobleme der Reichsordnung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Ferdinand Seibt/Winfried Eberhardt (Hg.): Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit. Stuttgart 1986, S. 130 f. 185 Robert-Henri Bautier: Les foires de Champagne: recherches sur une évolution historique, in: Recueils de la Société Jean Bodin pour l‘histoire comparative des institutions 5: La Foire. Bruxelles 1953, S. 97–145; Heinz Thomas: Beiträge zur Geschichte der Champagne-Messen im 14. Jahrhundert, in: VSWG 65 (1977), S. 433–467. 186 Erich Maschke: Die Wirtschaftspolitik Kaiser Friedrichs II. im Königreich Sizilien, in: VSWG 53 (1966), S. 289–328, hier 328.

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und vielfach scheiterte, mit den Begriffen ,Staatssozialismus‘ und ,Staatskapitalismus‘ zu kennzeichnen versuchten.187 In Auseinandersetzung mit Positionen und Theorien der ,New Institutional Economics‘ hat John H. Munro eindringlich und mit einigen wenigen globalen quantitativen Angaben herausgestellt, wie nachhaltig Frieden und Friedenssicherung, die Sicherheit der Verkehrswege und die Bereitstellung einer Handelsgerichtsbarkeit auf den internationalen Messen, die anstelle informeller eigener Informationsbemühungen auf institutionelle Weise für alle die kaufmännische Reputation im Handelsverkehr offenkundig machte, die ‚Transaktionskosten‘ des Handels senkten. Unter Transaktionskosten werden alle direkten und indirekten Kosten beim Transfer von Gütern vom Produzenten zum Konsumenten verstanden, namentlich „die Kosten der Messung der wertvollen Attribute der getauschten Gegenstände und die Kosten des Rechtsschutzes und der Überwachung und Durchsetzung von Vereinbarungen“.188 Insgesamt gesehen handelt es sich um eine anregende Theorie, die Wege für eine Integration der Wirtschaftsgeschichte in die Allgemeine Geschichte weist; und es müssten nun hinsichtlich der mit der Theorie verbundenen Kostenhypothese Versuche unternommen werden, mikroökonomisch wenigstens fragmentarisch die institutionellen Kosten zu berechnen, um sie den Kosten individueller Eigenbemühungen gegenüberzustellen. Auf der anderen Seite trieben herrschaftliche Fiskal-, Geld- und Handelspolitik sowie Krieg, Räuberei und Piraterie die Transport- und Transaktionskosten in die Höhe. Der Hundertjährige Krieg und vorausgehende Kriegsperioden trugen Munro zufolge etwa zum Niedergang der Messen der Champagne bei, während der Zustand relativen Friedens und relativer Sicherheit um die Mitte des 15. Jahrhunderts neue Landrouten mit sinkenden Transportkosten ermöglichte.189 Herrscherliche Wirtschaftspolitik ist ansonsten überwiegend Fiskalpolitik, die durch Nutzung der Regalien und Partizipation an den Erträgen vergebener Regalien sowie von Steuererhebungen ohne intendierte Redistributionseffekte zur Kriegführung und Schuldentilgung auf die Erzielung von Einnahmen ausgerichtet war. Da damit jedoch immer wieder auch eine Förderung wirtschaftlicher Entwicklung verbunden war, wurde vorgeschlagen, von einem ‚konstruktiven Fiskalismus‘ oder von einem ‚wirtschaftspolitischen Fiskalismus‘ zu sprechen.190 Derartige Begriffsbil187 Jacques Heers: Louis XI. Perrin 1999, S. 192–203. 188 Diese Messungs- und Erfüllungskosten seien der Grund für soziale, politische und ökonomische Institutionen. Aufwendungen für die Transaktion fallen an für Informationen, für Abgrenzung, Schutz und Durchsetzung der Eigentumsrechte an Gütern wie Benützungsrecht, Einkommensbezugsrecht, Ausschließungsrecht, Tauschrecht. North, Institutionen (wie Anm. 4), S. 32– 42, Zitat S. 32. Bereits früher: Douglass C. North/Robert Thomas: The Rise of the Western World: A New Economic History. Cambridge 1973, S. 71–96, 134–138. Vgl. dazu Munro, The ‚New Institutional Economics‘ (wie Anm. 31), S. 2. 189 Munro, The ‚New Institutional Economics‘ (wie Anm. 31), S. 1–47, besonders 14–16, 24–28. Vgl. früher Frederic Lane: The Economic Meaning of War and Protection, in: Journal of Social Philosophy and Jurisprudence 7 (1942), S. 254–270; Michael Postan: The Trade of Medieval Europe: The North, in: M. M. Postan/Edward Miller (Hg.): The Cambridge Economic History of Europe, Band 2. 2. Aufl., Cambridge 1987, S. 204. 190 Dirlmeier, Mittelalterliche Hoheitsträger (wie Anm. 180), S. 228. Unter Fiskalismus kann die

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dungen haben jedoch den Nachteil, dass mit dem Fiskalismus in der Regel weder als intentionalem Konzept noch als Faktum, auch nicht bei der redistributiven Verausgabung, konstruktive ökonomische Effekte verbunden waren und äquivalente Wirkungen an anderer Stelle innerhalb des Gesamtregimes – so etwa bei der Friedens- und Rechtswahrung, der Regalien- und Privilegienvergabe und später bei der Wirtschaftspolizei – gesucht werden müssen. Die Fiskalpolitik selbst stieß aber an eigene Grenzen, wenn der Herrscher neue Zölle einrichtete, die einen Verkehrsweg zusätzlich zu bestehenden Zöllen belastete, den Ertrag der bisherigen Zollberechtigten schmälerte und die Gefahr heraufbeschwor, dass die Kaufleute zur Umgehung der mit Zöllen „übersetzten“ Verkehrswege mit ihrer für unmäßig erachteten Abgabenbelastung auf andere auswichen, oder wenn Messen konzediert wurden, die bestehende schädigten. Dieser Sachverhalt kann von der modernen Forschung wirtschaftsgeschichtlich und wirtschaftsanalytisch erfasst werden,191 erscheint aber bereits als Erfahrungswissen und wirtschaftspolitische Behauptung in Klagen mittelalterlicher Zollberechtigter192 sowie in spätmittelalterlichen, nunmehr tatsächlich konstruktiven wirtschaftsanalytischen Theoremen und Empfehlungen. Albrecht von Eyb auf deutscher und Diomede Carafa auf italienischer Seite legten dem Herrscher im ausgehenden 15. Jahrhundert nahe, Zölle und andere Abgaben mäßig zu halten, dadurch das Handelsaufkommen zu steigern und prinzipiell auf vordergründigen, unmittelbaren Gewinn zugunsten größerer mittelfristiger Einnahmen zu verzichten. Im Übrigen gab es die dezidierte, wirtschaftlich ‚liberal‘ erscheinende Auffassung wiederum eines Diomede Carafa, dass sich der Herrscher wirtschaftlicher Unternehmungen enthalten und diese ganz den besser als die herrscherliche Umgebung geeigneten Privatpersonen überlassen solle,193 während in der Neuzeit kameralistische Autoren gerade die gegenteilige Position vertraten und unternehmerische Tätigkeit des Staates in wichtigen Wirtschaftsbereichen propagierten. In der Stadt194 kann man hingegen von einer weit über den Fiskalismus hinausgehenden „Stadtwirtschaftspolitik“195 des herrschenden Rates sprechen. Indem der städ-

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Maximierung von Staatseinnahmen „ohne Rücksicht auf wirtschafts- und sozialpolitische Zwecke“ verstanden werden. Jan van Klaveren: Fiskalismus – Merkantilismus – Korruption. Drei Aspekte der Finanz- und Wirtschaftspolitik während des Ancien Régime, in: VSWG 47 (1960), S. 333–353, hier 333, 335. Vgl. Ulf Dirlmeier: Mittelalterliche Zoll- und Stapelrechte als Handelshemmnisse, in: Hans Pohl (Hg.): Die Auswirkungen von Zöllen und anderen Handelshemmnissen auf Wirtschaft und Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG, Beiheft 80). Stuttgart 1987, S. 19– 41; Franz Irsigler: Zollpolitik ausgewählter Handelszentren im Mittelalter, in: Ebd., S. 40–58. Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation (wie Anm. 78), S. 180 f. Ders., Medieval and Renaissance Theories (wie Anm. 85), S. 44 f. Vgl. auch die Würdigung Carafas bei Schumpeter, Ökonomische Analyse (wie Anm. 15), Band 1, S. 219–221. Zur spätmittelalterlichen städtischen Wirtschaft in ihrem Zusammenhang siehe die vorbildliche Darstellung bei Franz Irsigler: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt (VSWG, Beiheft 65). Wiesbaden 1979. Gustav Schmoller: Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1. Teil. Leipzig 1900, S. 296; Weber, Die Stadt (wie Anm. 2), S. 70–72, 224, 241–244. Vgl. auch Ludwig Klaiber: Beiträge zur Wirtschaftspolitik oberschwäbischer Reichsstädte im ausgehenden Mittelalter (VSWG, Beiheft 10). Stuttgart 1927; Erich Maschke: Die Stellung der Reichsstadt Speyer in

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tische Rat196 versuchte, durch Preisregulierung, kommunale und verordnete individuelle Vorratshaltung, Lebensmittelbeschaffung von fremden Märkten197, Marktintervention und Kampf gegen Marktmanipulation durch Vortäuschung von reichem Angebot zur Abschreckung fremder Händler sowie gegen preistreibende künstliche Angebotsverknappungen der Bäcker für die Masse der Bevölkerung die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern zu erschwinglichen Preisen zu sichern, besaß seine Politik eine ethische, soziale und im Hinblick auf den städtischen Frieden ordnungspolitische Komponente.198 Durch Preis- und Lohntaxen sollte Verkehrsgerechtigkeit zum Schutz von Konsumenten und Produzenten hergestellt werden.199 Auf der mittelalterlichen ethisch orientierten Stadtwirtschaftspolitik, die im Reich etwa in der 1439 verfassten und erst in den 1520er Jahren voll zur Wirkung gelangten Reformatio Sigismundi ihren Ausdruck fand, fußt bis zur Französischen Revolution und zum modernen Wirtschaftsliberalismus eine antikapitalistische Wirtschaftsgesinnung breiter Bevölkerungskreise, die im angelsächsischen Bereich für die Frühe Neuzeit als ‚moral economy‘ bezeichnet wird. Die im Wege der Gesetzgebung200 mit Hilfe von Ratsämtern, städtischer Bediensteter, eines Offizialgewerbes und der Zünfte ausgeübte Wirtschaftspolizei, die bereits in den karolingischen Kapitularien erratische Anhaltspunkte hatte201 und die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in Polizeiordnungen auf Reich und Territorien ausgedehnt wurde, umfasste auch die Lebensmittelpolizei202, die Qualitätssicherung durch Warenschau und den ordnungsgemäßen, vielfach von Maklern bewerkstelligten Kauf und Verkauf zur Förderung und zum Schutz bürgerlicher Verkehrsinteressen vor allem auf den institutionalisierten Wochenmärkten.203 Der städtische Rat gelangte über ordnungs- und versorgungspolitische Zielsetzungen hinaus zu einer wirtschaftsfördernden und teilweise protektionistischen, quasi-merkantilistischen Wirtschaftspolitik, indem er durch Zollpolitik auf den

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der mittelalterlichen Wirtschaft Deutschlands, in: VSWG 54 (1967), S. 435–455; Isenmann, Die deutsche Stadt (wie Anm. 64), S. 387–400. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass frühe wirtschaftspolizeiliche Marktordnungen und einige Polizeiordnungen für subordinierte Territorialstädte formell von Territorialherren ausgingen, materiell wohl von den Bürgerschaften zumindest stark beeinflusst waren. Hans-Gerd von Rundstedt: Die Regelung des Getreidehandels in den Städten Süddeutschlands und der deutschen Schweiz im späteren Mittelalter und im Beginn der Neuzeit (VSWG, Beiheft 19). Stuttgart 1930. Rudolf Palme: Städtische Sozialpolitik bis zum 16. Jahrhundert, in: Hans Pohl (Hg.): Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG, Beiheft 95). Stuttgart 1991, S. 45–63. Zu den Lohntaxen in England siehe Richard Henry Tawney: The Assessment of Wages in England by the Justices of Peace, in: VSWG 11 (1913), S. 307–337, 533–564. Eberhard Isenmann: Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: ZHF 28 (2001), S. 1–94, 161–261. Siems, Handel und Wucher (wie Anm. 95), S. 431–499. Eberhard Schmauderer: Studien zur Geschichte der Lebensmittelwissenschaft, Teil I: Qualitätsbeurteilung und Versorgungsprobleme bis zur Renaissance, Teil II: Das Lebensmittelwesen im Spiegel der frühen deutschen Literatur (VSWG, Beiheft 62). Wiesbaden 1975. Erich von Lehe: Die Märkte Hamburgs von den Anfängen bis in die Neuzeit (VSWG, Beiheft 50). Wiesbaden 1966.

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Markt einwirkte, um Bevölkerungszuzug und insbesondere um Angehörige seltener und wichtiger Berufe warb, mit Steuervergünstigungen und Bereitstellung von Produktionsstätten arbeitsplatzschaffende und exportfähige Produktionszweige wie die Barchentherstellung anzusiedeln versuchte und zur Erhaltung von Arbeitsplätzen die Einführung arbeitssparender und nicht nur arbeitserleichternder Maschinen wie Seidenzwirnmühle (nach Luccheser Vorbild) abwehrte. Städtische Regiebetriebe ermöglichten im Winter durch Produktion auf Vorrat eine saisonale Beschäftigungspolitik. Während nicht nur eine zünftische Wirtschaftspolitik unter dem Vorzeichen des ‚Nahrungsprinzips‘ die Erwerbschancen unter die Meisterbetriebe durch Produktionsbegrenzungen möglichst gleichmäßig aufteilen wollte und Verlagsverbote die Selbständigkeit der Meister erhalten sollten, blockierten kaufmännische Ratsherren mit Exportinteressen im Textilbereich zünftische Produktionsbeschränkungen und Bestrebungen zur Ausschaltung der ländlichen Anbieter, weil sie auf große, für den Fernhandel geeignete Produktionsmengen in standardisierter Kaufmannsqualität abzielten. Es liegt nahe, den Merkantilismus, Colbertismus oder Kameralismus der Frühen Neuzeit auf einigen Gebieten als Extrapolation der mittelalterlichen gebundenen Stadtwirtschaft auf die territorial- und nationalstaatliche Ebene zu betrachten.204 X. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass die mittelalterliche Kultur in einem umfassenden Sinne auf schmalen und prekären materiellen Grundlagen beruhte. Der Blickwinkel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte führt jedoch auch zu der Erkenntnis, dass viele der im Mittelalter grundgelegten wirtschaftlichen Strukturen und sozialen Formationen mit bestimmten Veränderungen und vielfach in reduzierter Gestalt bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Bestand hatten. Die Grundherrschaft mit Herrschaftsrechten über Personen und außerökonomischem Zwang gehört eindeutig zur Vormoderne und ist mit dem Ancien Régime zugunsten einfacher Eigentumsverhältnisse des bürgerlichen Rechts untergegangen. Die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Perspektive taucht jedoch das Mittelalter im Bereich von Handel, Handelskapital, Bankwesen, Großgewerbe und Bergbau sektoral in ein helles Licht von Modernität,205 verkürzt die zeitliche Distanz zur jüngeren Geschichte und wirft das Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf, verlangt deshalb aber die genaue Fixierung von Differenzen und die Einbindung in weitere, weniger moderne Kontexte. Nur zusammen mit den zugleich vorgefundenen archaischen 204 Sieveking, Die mittelalterliche Stadt (wie Anm. 15), S. 212–214; Georg von Below: Der Untergang der mittelalterlichen Stadtwirtschaft (über den Begriff der Territorialwirtschaft), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 76 (1901), S. 449–471, 593–631, hier 471; Weber, Die Stadt (wie Anm. 2), S. 242, 256; Ernst Kelter: Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelung in der Zeit der mittelalterlichen Stadtwirtschaft (Bonner staatswissenschaftliche Untersuchungen 21), Band 1. Jena 1935. 205 Eberhard Isenmann: Die Modernität der mittelalterlichen Stadt, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 99 (2001), S. 63–82.

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Erscheinungen ergibt sich ein zutreffendes Bild mittelalterlicher Lebenswelt. Angesichts einer vielfach unzureichenden Quellenlage mag vielleicht manches zu phantasievoll, zu avanciert gesehen werden, andererseits müssen die mittelalterlichen Größenordnungen auch nach mittelalterlichen Maßstäben bewertet werden. Eine Vielzahl wirtschaftsgeschichtlicher Sammelbände in jüngerer Zeit, die ihr Thema vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert verfolgen, zeigt, dass trotz aller Modifikationen und Umbrüche die mittelalterliche Wirtschaftsgeschichte im Hinblick auf beträchtliche genetische Zusammenhänge auf manchen Sektoren keinesfalls einer scharf zäsurierten oder abgetrennten Vormoderne zugerechnet werden kann. Wie die Allgemeine, insbesondere Politische Geschichte, kennt die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einzelne Heroen, dramatische Begebenheiten, Krisenerscheinungen und soziale Erhebungen, sie lenkt aber vor allem den Blick auf den gleichförmigen Lebensvollzug und auf strukturelle Bedingungen, auf „das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches“.206

206 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (wie Anm. 1), S. 6.

Joachim Scholtyseck ALLGEMEINE GESCHICHTE DER NEUZEIT UND SOZIAL- UND WIRTSCHAFTSGESCHICHTE I. Die Frage, ob eher die Politik oder eher die Wirtschaft die Geschicke des Menschen bestimmt, wird von jeder Generation neu gestellt. Ähnlich wie Virginia Woolf festgestellt hat, dass es „some stories“ gebe, „which have to be retold by each generation“,1 wird auch die eingangs gestellte Frage immer wieder variiert werden. Hatte Napoleon recht, als er gegenüber Goethe feststellte: „Die Politik ist das Schicksal“,2 oder traf eher Walther Rathenau den Kern der Sache, als er auf einer Tagung des Reichsverbandes der deutschen Industrie im Jahr 1921 anführte: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“?3 In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die Ausführungen zum Nutzen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte für die Politische Geschichte. Die Geschichtswissenschaft war schon immer Moden unterworfen, die bisweilen erst durch geschichtliche Großereignisse und offensichtliche Zäsuren ein plötzliches Ende fanden. Zu einer der Moden, die bis vor kurzem noch en vogue waren, hat beispielsweise die Ansicht gehört, es sei in einem postmodernen Stadium der Weltgeschichte nicht mehr notwendig, in den Kategorien von Nationalstaaten zu denken. Zwölf Jahre nach dem Ende des sowjetischen Imperiums und nachdem das „Ende der Geschichte“4 nicht eingetreten ist, gibt es kaum noch einen Zweifel, dass die Geschichte auch heute noch im Wesentlichen eine Geschichte von Staaten und Nationen ist. Die Hoffnung, dass diejenigen ökonomischen Kräfte, die Nationen und Nationalismus erst hervorgebracht hätten, dazu geschaffen seien, „the breakdown of national barriers through the creation of a single, integrated market“ herbeizuführen,5 hat sich bislang nicht bewahrheitet, und es spricht wenig dafür, dass die damit verbundenen Erwartungen in absehbarer Zeit in Erfüllung gehen. So verlockend der Glaube an eine Weltregierung oder an einen ewigen Frieden auch sein mag, es lässt sich kaum darüber hinwegsehen, dass es auch in der heutigen Zeit im Wesentlichen die politischen Entwicklungen sind, die das Rad der Geschichte antreiben: Die Fragen nach Hegemonie und Gleichgewicht, nach Krieg und Frieden, nach Legitimität und Unrechtmäßigkeit, nach Macht und Ohnmacht6 sind die 1 2 3 4 5 6

Andrew McNeillie (Hg.): The Essays of Virginia Woolf, Volume IV: 1925–1928. London 1994, S. 465. R. Wild (Hg.): Johann Wolfgang von Goethe, Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre. München 1986, S. 579. Walther Rathenau: Gesammelte Reden. Berlin 1924, S. 264. Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man. New York u. a. 1992. Ebd., S. 275. Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003.

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zentralen Bezugspunkte des menschlichen Lebens am Beginn des 21. Jahrhunderts, mit denen sich die Geschichte beschäftigen muss. Das Zusammenleben nur als sozialgeschichtlich verstandene Kulturgeschichte oder als „Gesellschaftsgeschichte“ schreiben zu wollen, würde bedeuten, diese fundamentalen Grundtatsachen misszuverstehen. Mit diesem Plädoyer für die Relevanz der Politischen Geschichte ist jedoch keineswegs ein Ausschließlichkeitsanspruch verbunden. Es kann keinen Dissens darüber geben, dass partikulare bzw. auf Globalisierung drängende Wirtschaftsinteressen, der politische „Massenmarkt“, die öffentliche Meinung als „vierte Gewalt“, die technologische Beschleunigung, schließlich die sozialen und demographischen Veränderungen die politische Entwicklung beeinflussen. Der amerikanische Historiker Henry Adams hat daher zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass die „moderne Politik […] im Grunde kein Kampf zwischen Menschen, sondern zwischen Kräften“ sei.7 Die Politische Geschichte hat daher stets die Tendenzen und Anregungen aufgenommen, die beispielsweise von der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgegangen sind. So erklärt sich auch die unbestrittene „Brückenfunktion“, die mit ihr in Verbindung gebracht wird.8 Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist aufgrund ihrer engen Beziehungen zur Soziologie und zur Volks- und Betriebswirtschaft in der Lage, wesentliche Zusammenhänge und soziale Rahmenbedingungen zu erläutern und Grundlagen zu vermitteln, die für die Politische Geschichte unerlässlich sind. Diese wichtige Funktion korrespondiert zu einem beträchtlichen Teil mit der Tatsache, dass diese in der Zunft bereits seit langem eine etablierte Teildisziplin ist, deren Wurzeln in der seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etablierten Historischen Schule der Nationalökonomie liegen. Das hat von Beginn an die Frage nach Abgrenzung und Ergänzung zur Politischen Geschichte aufgeworfen: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat sich schon immer wesentlich dadurch definiert, wie sie sich zu den verschiedenen Nachbardisziplinen stellt. Simon van Brakel hat, lange nachdem der Lamprecht-Streit verklungen war, in der Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Volkswirtschaft in den Blick genommen und nüchtern geurteilt, für den „historisch interessierten Geist“ liege es nahe, die Ergebnisse der Volkswirtschaftslehre zu benutzen, „doch nur, um die Verhältnisse einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft“ zu verstehen, ohne dass es jedoch zu einer „Verschmelzung der im Wesen durchaus verschiedenen Wissenschaften“ führen könne. Sein Fazit lautete, dass dadurch beide Wissenschaften „Vorteil ziehen, aber daß es beide auf eigene Weise tun.“9 Theodor Mayer hat wenige Jahre später bemerkt, dass „selbst dort, wo die Wirtschaft scheinbar die Politik bestimmt, […] sie in Wirklichkeit doch das Werkzeug

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Henry Adams: Die Erziehung des Henry Adams. Von ihm selbst erzählt. Zürich 1953 [1907], S. 657. Ernst Opgenoorth/Günther Schulz: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte. 6. Aufl., Paderborn u. a. 2001, S. 216. Simon van Brakel: Ueber das Verhältnis von Geschichte und Volkswirtschaftslehre, in: VSWG 18 (1925), S. 387–394, hier 394.

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für den organisatorischen Willen und das Machtstreben einzelner Persönlichkeiten“ sei.10 Demgegenüber war selbst die französische Schule der Annales ein „Nachzügler“, der freilich mit dem Verweis auf langfristige soziale, wirtschaftliche und kulturelle Gesellschaftsstrukturen einen neuen Blick auf lange vernachlässigte Gebiete der Forschung ermöglicht hat. Allerdings war mit den französischen Anstößen zugleich ein neuer Anspruch verbunden, der sich in seinem Gehalt von den bisherigen Sichtweisen unterschied. Auffällig an diesem innovativen Ansatz war der bisweilen – nicht zuletzt von Fernand Braudel selbst mitgetragene – missionarische Zug dieser „Strukturgeschichte“, gleichsam den Vorrang innerhalb der Geschichtswissenschaften beanspruchen und eine „histoire totale“ schreiben zu können. Bisweilen konnte diese Sichtweise gar mit auftrumpfendem ideologischem Eifer hervortreten, der in der Rückschau auf das von ideologischen Katastrophen gezeichnete „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm) nur verwundern kann. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es angesichts der materiellen und geistigen Verwüstungen zunächst kaum einen Zweifel, dass es darum ging, die Ursachen dieses Krieges politisch zu erklären. Daher wurde – vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der ebenfalls wesentlich eine ideologisch-politische Auseinandersetzung war11 – zunächst das staatliche Handeln und das Versagen der Institutionen untersucht, in dem beinahe instinktiven Bewusstsein dessen, was heute weitgehend unbestritten ist, dass nämlich im „Dritten Reich“ ein „weitgehender Primat der Politik“ geherrscht hat und „die entscheidenden Impulse vom politischen Bereich, nicht von der Seite der Wirtschaft ausgingen.“12 Die Politische Geschichte – mit den Worten des Schweizer Historikers J. R. von Salis „das Rückgrat aller Geschichtsschreibung“13 – hat an dieser Sichtweise festgehalten, auch als in den sechziger Jahren zunehmend das Feld der gesellschaftlichen Ursachen für einen deutschen „Sonderweg“ im 19. und 20. Jahrhundert ins Blickfeld rückte. Damit trat ein Paradigmenwechsel – der oft missbrauchte Begriff scheint in diesem Fall durchaus gerechtfertigt – ein, der das Verhältnis zwischen Politischer Geschichte und Wirtschafts- und Sozialgeschichte fortan bestimmte. Bis dahin hatte es im Wesentlichen ein Mit- und Nebeneinander gegeben, zumal Sozialhistoriker wie Otto Brunner und Werner Conze die vor allem seit den fünfziger Jahren sich etablierende Wirtschafts- und Sozialgeschichte als interdisziplinäre Wissenschaft verstanden. Nun, durch das Auftreten einer selbstbewusst und forsch daher kommenden „Gesellschaftsgeschichte“ mutierte die Ehe zu einem komplexen und komplizierten Dreiecksverhältnis. Die sich neu definierende „Gesellschaftsgeschichte“ verstand sich nicht nur als Ergänzung der bestehenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sondern vertrat das ehrgeizige Ziel, die Geschichte vornehmlich als ein 10 Theodor Mayer: Haupttatsachen der wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung, in: VSWG 21 (1928), S. 359–385, hier 359. 11 John Lewis Gaddis: We Now Know. Rethinking Cold War History. Oxford/New York 1997. 12 Henry A. Turner: Unternehmen unter dem Hakenkreuz, in: Lothar Gall/Manfred Pohl (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus. München 1998, S. 15–23, hier 16. 13 J. R. von Salis: Weltgeschichte der neuesten Zeit, Band III: Von Versailles bis Hiroshima 1919– 1945. 2. Aufl., Zürich 1962, S. 1.

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Ergebnis sozialer Entwicklungen und Konflikte zu erklären. „Gesellschaftsgeschichte“ verstand sich dabei als Speerspitze zur Durchsetzung der eigenen Theorie und machte zugleich der traditionellen Wirtschafts- und Sozialgeschichte den Rang streitig. Dieser Vorgang war nicht auf die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft beschränkt, fiel aber hier nicht zuletzt aufgrund der besonderen historischen Voraussetzungen und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus besonders scharf aus. Die sich zum Grundsatzstreit entwickelnde Methodenauseinandersetzung erhielt einen institutionellen Charakter, als sich seit den sechziger Jahren eine neue Schule der „Geschichte als Historische Sozialwissenschaft“14 etablierte und mit der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ wirkungsmächtig wurde. Liest man die Debattenbeiträge mit dem Abstand von inzwischen mehr als einem Vierteljahrhundert heute nach, so tritt die Anspruchshaltung noch deutlicher hervor: Die Politische Geschichte sollte zu einer „Teildisziplin von Gesellschaftsgeschichte“ degradiert werden, weil eine „weitgespannte Gesellschaftsgeschichte“ in der Lage sei, „die restriktiven Bedingungen und Grenzen politischer Entscheidungen klar zu benennen und zu erklären.“15 Die selbstbewusst vorgetragene und mit einem unverkennbaren Dominanzanspruch verbundene Vision, mittels der Totaltheorie „Gesellschaftsgeschichte“ die Welt erklären zu wollen, erfuhr, wie kaum anders zu erwarten war, sogleich Widerspruch. Die Politische Geschichte, die sich in der Position einer „Königsdisziplin“ wähnte, sah sich einem frontalen Angriff ausgesetzt, wie dies seit dem Lamprecht-Streit nicht mehr der Fall gewesen war. Die nun eskalierende Debatte um den „Primat der Wirtschaft“ oder den „Primat der Politik“ war daher nicht zuletzt eine Auseinandersetzung um Deutungshoheit. Von den Gegnern der klassischen Politischen Geschichte wurde dabei übersehen, dass fortwährend und konsequent für eine Synthese beider Bereiche geworben und die Bedeutung struktureller Faktoren zur Erklärung geschichtlicher Vorgänge nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Es ging nicht um Ausschließlichkeit, sondern um die Verbindung beider Sphären, in der die Sozialgeschichte „für die Geschichtswissenschaft insgesamt“ als „unverzichtbar“ galt.16 Letztlich ging es darum, „Disziplinen der Historiographie nicht einer selbsternannten, wenngleich nur schemenhaft umrissenen Überwissenschaft zu unterwerfen, sondern mit ihren Problemen und Ansätzen neben- und miteinander existieren und kommunizieren zu lassen.“17 Insofern wurden sozial- und wirtschaftshistorische Studien als wichtige Ergänzungen für die Allgemeine Geschichte betrachtet und lediglich dem „Herrschaftsanspruch“ gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen widersprochen. Während die Verfechter der „Gesellschaftsgeschichte“ im Laufe der Zeit mit durchaus weitreichendem Erklärungsanspruch auftraten, blieb die traditionsreiche 14 Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1973; ders.: „Moderne Politikgeschichte“ oder „Große Politik der Kabinette“?, in: GG 1 (1975), S. 344– 369. 15 Wehler, „Moderne Politikgeschichte“ (wie Anm. 14), S. 369. 16 Klaus Hildebrand: Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte“? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: HZ 223 (1976), S. 328– 357, hier 332. 17 Ebd., S. 346 f.

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Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit ihrer „Vierteljahrschrift“ in geradezu vornehmer Zurückhaltung ihrem angestammten Betätigungsfeld verhaftet. Das hatte einen Vorteil und einen Nachteil: Einerseits ließ sie sich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht von ideologischen Visionen einer umfassenden Deutungshoheit berauschen und trat nicht mit einem ähnlichen Generalanspruch auf wie die „Gesellschaftsgeschichte“. Andererseits überließ sie jedoch einer streitbaren und aggressiver auftretenden benachbarten, aber auch mehr und mehr konkurrierend agierenden Disziplin beinahe kampflos das Feld. Die gewisse Ratlosigkeit, wie der „Gesellschaftsgeschichte“ zu begegnen sei, hatte viel damit zu tun, dass deren Grenzen zur etablierten Wirtschafts- und Sozialgeschichte fließend waren. Von Erich Gruner war 1963 die Sozialgeschichte als eine „Oppositionswissenschaft“ definiert worden, weil sie diejenigen Bereiche ergänze, die von der Politischen Geschichte nicht in den Blick genommen würden; allerdings hatte er dabei betont, es gehe lediglich um die Wiederherstellung des notwendigen Gleichgewichts.18 Durchaus selbstbewusst warb sodann Thomas Nipperdey wenig später für Sozialgeschichte als „Strukturgeschichte“.19 Vor allem die Annales-Schule und in ihrem Kielwasser die „Historische Sozialwissenschaft“ haben seit den sechziger Jahren mit theoriegeleiteten Modellen und mit statistischen Methoden einen neuen Zugang zum Verständnis der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unternommen. Die Politische Geschichte sah sich daher auch dem verstärkten Vorwurf ausgesetzt, „theoriefern“ zu argumentieren. Andreas Hillgruber hat als Vertreter der Politischen Geschichte freilich schon damals einen theoretischen Bezugsrahmen als unhistorisch und die Realität verzerrend abgelehnt und eine „Kooperation in klar abgegrenzten Projekten“ befürwortet.20 Zur selben Zeit wurde auch seitens der Wirtschaftsgeschichte auf die „Grenzen“ der sozialwissenschaftlichen Analysen zur Erklärung historischer Entwicklungen hingewiesen;21 auch die nicht eingelösten und auch gar nicht einlösbaren Forderungen wurden dabei, vornehmlich mit Blick auf die französische Strukturgeschichte, schon Anfang der siebziger Jahre erwähnt.22 Wenn aber das „Denken in Modellen“ dazu führt, dass erklärt wird, wie die Welt funktionieren sollte, nicht aber wie sie funktioniert, oder: zu wenig erklärt und mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden, ist es die Aufgabe der Herausfordernden, ein plausibles und überzeugendes Konzept vorzulegen. Das ist allerdings bis heute nicht geschehen. Nimmt man heute manche Studien der sechziger und siebziger Jahre zur Hand, dann fällt die frappierende Einseitigkeit dieser damals gleichsam an der Spitze des Fortschritts marschierenden Geschichtsschreibung auf: Statistiken und Zahlenkolonnen, eine geradezu blutleere 18 Erich Gruner: Vom Standort und den Aufgaben der Sozialgeschichte, in: VSWG 50 (1963), S. 145–163, hier 147. 19 Thomas Nipperdey: Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Anthropologie, in: VSWG 55 (1968), S. 145–164. 20 Andreas Hillgruber: Methodologie und Theorie der Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), S. 193–210. 21 Hermann van der Wee: Perspektiven und Grenzen wirtschaftshistorischer Betrachtungsweise – Methodologische Betrachtungen, in: VSWG 62 (1975), S. 1–18. 22 Dieter Groh: „Strukturgeschichte“ als „totale“ Geschichte, in: VSWG 58 (1971), S. 289–322.

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mathematische Analyse gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen. Kaum jemand nimmt diese Bleiwüsten heute noch mehr als pflichtschuldig in einer versteckten Anmerkung zur Kenntnis, weil ihr Erklärungswert für komplexe Vorgänge wie die Menschheitsentwicklung offensichtlich gering ist. Ob lediglich die „Polarisierung der Debatte“ dafür verantwortlich ist, dass die Versuche weitgehend gescheitert sind, geschichtliche Phänomene vorwiegend aus sozialen Konflikten heraus zu erklären, erscheint zweifelhaft: Ein angebliches „Denkverbot, das weder Verständigungen noch weiterführende Ergebnisse“ zugelassen habe,23 konnte sicherlich von niemandem ausgesprochen werden. Vielmehr hat die „Gesellschaftsgeschichte“ ihr Versprechen nicht einlösen können, ein umfassendes und heuristisch akzeptables Gesamtkonzept ihres Modells vorzulegen. Wenn jedoch immer wieder – und meist ohne wirkliche Konsequenzen – auf „mangelnde methodische Konzepte“ hingewiesen wird,24 stellt sich die Frage, ob es nicht besser ist, auf allzu starre Denkmodelle zu verzichten, die nicht in der Lage sind, die Vielfalt historischer Prozesse wirklichkeitsgetreu abzubilden und vielmehr die Widersprüche des menschlichen Lebens dadurch aufzulösen versuchen, dass sie in ein Prokrustesbett von Modellen gespannt werden. Oft wäre es besser, dem Hinweis von Otto Pflanze aus den frühen achtziger Jahren zu folgen, dass es sich keineswegs als notwendig erwiesen habe, „daß Historiker in Modellen denken müssen.“25 Insofern läuft der Vorwurf der Theorieferne ins Leere. Das Zuviel an Theorie hat kürzlich zu einem verständlich gequälten Debattenbeitrag geführt, ob denn „jede durchs global village getriebene kulturalistische Sau frenetisch beklatscht, jeder mikrohistorische Geßlerhut gegrüßt und jeder linguistic turn pflichtschuldigst mitvollzogen werden“ müsse.26 Das vielfältige menschliche Leben in die Gesetzmäßigkeiten von Rastern, Paradigmen, Mustern und Modellen zu pressen, führt nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen. So sinnvoll beispielsweise ein Zugriff auf gemeinsame Bildungsmuster, Karriereverläufe und Lebensformen, gemeinsame Generationserfahrungen und -prägungen, gemeinsame Werte und Einstellungen auch sein mag: Er allein kann nicht das individuelle Leben in seiner Komplexität und bisweilen in seiner Irrationalität oder Unerklärbarkeit entschlüsseln. Das Leben in seinen „Grundfarben“ ist immer noch, um das vielzitierte Diktum Thomas Nipperdeys zu bemühen, „nicht Schwarz und Weiß“, sondern „grau, in unendliche[n] Schattierungen.“27 23 So die Meinung von Wilfried Loth: Einleitung, in: Ders./Jürgen Osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten. München 2000, S. VII–XIV, hier IX. 24 Reinhard Hanf: Mangelnde methodische Konzepte im Bereich der Betriebs- und Firmengeschichte?, in: ZUG 22 (1977), S. 145–160; Hans Pohl: Die unternehmensgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945, in: Paul Klep/Eddy van Cauwenberghe (Hg.): Entrepreneurship and the Transformation of the Economy. Leuven 1994, S. 113–132, bes. 131 f. 25 Otto Pflanze: Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwärtigen Historiographie, in: HZ 234 (1982), S. 561–599, hier 594. 26 Zitiert bei Helmut Altrichter, in: HZ 274 (2002), S. 119. 27 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 905.

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Auch die „Gesellschaftsgeschichte“ hat daraus ihre Konsequenzen gezogen. Inzwischen ist eine neue Bescheidenheit zu beobachten, begründet durch Skepsis über die Reichweite der eigenen Erklärungsansätze. Seitens der Vertreter der „Gesellschaftsgeschichte“ ist offensichtlich der Versuch aufgegeben worden, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Hans-Ulrich Wehler hat an recht entlegener Stelle in seinem ersten Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ von den „methodischen Schwierigkeiten“ gesprochen, die damit einhergehen würden, wenn man sein Modell dadurch vervollständigt, „daß man die Außenbereiche einer Gesamtgesellschaft: Außenpolitik und Außenwirtschaft, ideelle, soziale und kulturelle Einflüsse gleichberechtigt einbezöge, so daß die Gesamtgesellschaft in ihren internationalen Kontext breit eingebettet würde.“ Seine eigene Schwerpunktbildung umschließe „bereits genug komplizierte Probleme, die nicht noch vermehrt werden sollen, zumal zahlreiche schwierige Fragen durch die Interferenz oder die relative Autonomie von Innen- und Außenbereichen aufgeworfen werden.“28 Gegenüber dem Anspruch einer gesellschaftswissenschaftlichen „histoire totale“ hat sich die traditionelle Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich eher als Integrationswissenschaft versteht, einer Marginalisierung und Mitte der neunziger Jahre sogar der „Gefährdung der Eigenständigkeit“ ausgesetzt gesehen.29 Die Mängel einer autistisch betriebenen „Gesellschaftsgeschichte“ haben jedoch sicherlich zu den oftmals beklagten „Bodenverlusten“30 beigetragen, die wirtschaftsgeschichtliche Themenfelder erlitten haben. Manche Existenzsorge – die Furcht, nur noch ein „Orchideenfach“31 zu sein – und der Eindruck, dass es zu einer „Ent-Ökonomisierung der Geschichte“32 gekommen sei, hat mit der Überbürdung zu tun, die sich die Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Sog der „Gesellschaftsgeschichte“ aufgelastet hat, zumal heute selbstkritisch die „seinerzeit hohe und bisweilen überzogene Erwartung an die Erklärungskraft des Ökonomischen“ konstatiert wird.33 Recht offen sind andere unterschwellige Gründe beispielsweise von Hubert Kiesewetter benannt worden, als er für eine Trennung der Wirtschafts- von der Sozialgeschichte plädierte und „mathematisierte […] Wirtschaftswissenschaften“ einforderte, „da wir ohnehin nicht Kocka, Ritter, Wehler & Co. Konkurrenz machen können.“34 Eine 28 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Erster Band. München 1987, S. 553 f., Anm. 5. 29 Wolfgang Köllmann: Anmerkung zur Lage des Fachs Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 82 (1995), S. 388 f., hier 388. 30 Jürgen Kocka: Bodenverluste und Chancen der Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 82 (1995), S. 502–504. 31 Knut Borchardt: Wirtschaftsgeschichte: Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblümchen oder nichts von dem?, in: Herman Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis et oeconomica – Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1987, S. 17–31. 32 Paul Erker: Aufbruch zu neuen Paradigmen. Unternehmensgeschichte zwischen sozialgeschichtlicher und betriebswirtschaftlicher Erweiterung, in: Archiv für Wirtschaftsgeschichte 37 (1997), S. 321–365, hier 321; Kocka, Bodenverluste (wie Anm. 30), S. 503. 33 Kocka, Bodenverluste (wie Anm. 30), S. 503. 34 Hubert Kiesewetter: Zukünftige Aufgaben der wirtschaftshistorischen Forschung in Deutschland, in: VSWG 82 (1995), S. 413–418, hier 414.

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solch pessimistische Sichtweise erscheint freilich unnötig. Eine ins Statistisch-Quantifizierende orientierte Richtung würde jedenfalls den Wünschen und Notwendigkeiten der Politischen Geschichte keinesfalls gerecht und würde die Wirtschaftsgeschichte noch eher in die historische Nische drängen – von Relevanz zweifellos für die Wirtschaftswissenschaften, aber ohne wirkliche Verbindung zur Politischen Geschichte. Ein Ausweichen in Bereiche ausschließlicher Theoriebildung und der Ökonometrie würde zudem der Maxime zuwiderlaufen, dass gerade die Wirtschaftsgeschichte bemüht sein muss, „das Gleichgewicht zwischen der Einmaligkeit jeden historischen Vorgangs und der notwendigen Zusammenfassung von Einzeldaten in Strukturanalysen zu wahren.“35 Zugleich erklärt sich der Boom der Kultur- und Mentalitätsgeschichte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass rein sozialgeschichtliche Studien offenbar ihren Anhängern selbst inzwischen als zu wenig aussagekräftig erscheinen. Die Verfechter der „Gesellschaftsgeschichte“ schlagen angesichts der Herausforderungen durch „potente Konkurrenten“36 inzwischen neue Wege ein und haben sich bemüht, aus der amerikanischen Geschichtstheorie stammende Ansätze wie den „New Historicism“ aufzunehmen. Freilich stehen wirklich überzeugende Studien für den Versuch, „Gesellschaftsgeschichte“ durch kulturgeschichtliche Transfusionen zu beleben, noch aus. Demgegenüber ist zu bemerken, dass die Politische Geschichte ihren festen Platz in der Forschung verteidigt hat und selbst der Diplomatiegeschichte, der vielfach Theorieabstinenz und Methodenarmut vorgeworfen worden war, ein „erfrischende[s] Selbstvertrauen“37 attestiert wird, was freilich auch wesentlich damit zu tun hat, dass sich die Diplomatiegeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg ohnehin niemals in der reinen Aktenexegese erschöpft hatte. Symptomatisch für den Rückbezug auf das Bewährte ist auch die Renaissance des biographischen Genres, das im Übrigen außerhalb der Bundesrepublik ohnehin niemals an Anziehungskraft verloren hatte. Auch sie hängt, wie Christoph Gradmann dargelegt hat, mit den Defiziten der rein sozial- und strukturgeschichtlichen Historiographie zusammen, die noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die deutsche Geschichtswissenschaft zu dominieren schien. Sozialgeschichte – einer Definition des englischen Historikers Trevelyan zufolge „the history of a people with the politics left out“38 – war häufig zu einer blutleeren und fast positivistischen Angelegenheit degeneriert, die bisweilen dazu führte, dass plötzlich der „Wilhelminismus ohne Wilhelm, das Kaiserreich ohne Kaiser“ erklärt worden war.39 35 Hans Pohl: Betrachtungen zum wissenschaftlichen Standort von Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, in: VSWG 78 (1991), S. 326–335, hier 329. 36 Kocka, Bodenverluste (wie Anm. 30), S. 503. 37 Michael H. Hunt: Die lange Krise der amerikanischen Diplomatiegeschichte und ihr Ende, in: Loth/Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 23), S. 61–90, hier 62. 38 George Macaulay Trevelyan: English Social History. A Survey of Six Centuries. London 1944, S. VII. Nach Trevelyan sollte es nicht zuletzt Aufgabe der Sozialgeschichte sein, „the required link between economic and political history“ herzustellen (ebd.). 39 Nikolaus Sombart: Der letzte Kaiser war so, wie die Deutschen waren. Wilhelm II. – Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung, in: FAZ vom 27. Januar 1978. Vgl. grundsätz-

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Heute wird kaum noch jemand ernsthaft der gar nicht einmal revolutionären Ansicht entgegentreten wollen, dass sich Politische Geschichte einerseits, Sozial-, Wirtschafts-, Struktur- und Alltagsgeschichte andererseits nicht widersprechen, sondern sich ergänzen. Im Übrigen gilt auch heute noch die Feststellung des Niederländers Jan Romein. Dieser sah kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Kunst des Biographen darin, „dass er das Allgemeine allgemein, das Individuelle individuell, das Körperliche körperlich, das Seelische seelisch, das Kleine klein und das Grosse gross zu sehen vermag, und also all diese Verhältnisse sauber abzuwägen und sauber zu beschreiben weiss; aber immer so, dass er im Allgemeinen zugleich das Individuelle, im Körperlichen das Seelische, im Kleinen das Grosse zu sehen vermag, und umgekehrt im Individuellen das Allgemeine, im Seelischen das Körperliche und im Grossen das Kleine sondert und darstellt.“40 Die Politische Geschichte hat sich im Wesentlichen diese Sichtweise zu eigen gemacht, beispielsweise in einer neueren Beschreibung der Industriedynastie Krupp, in deren Mittelpunkt noch nicht einmal die großen Persönlichkeiten des Unternehmens stehen, „sondern ein quasi autonomer Organismus […], der wie aus sich selbst heraus zu funktionieren scheint und dessen einziges Ziel und Lebensprinzip […] offenbar darin besteht, ein unaufhörliches Wachstum zu generieren.“41 II. Nachdem sich der Pulverdampf der Kämpfe der siebziger Jahre verzogen hat, sind die unterschiedlichen Standpunkte zu bekannt, um noch Unruhe auszulösen. Insofern ist an die Stelle des aggressiven Angriffs eine neue Sachlichkeit getreten. Ein historiographischer Pragmatismus, der sich seit einigen Jahren abzeichnet, hat zudem bewirkt, dass differierende Positionen durchaus in friedlicher Koexistenz nebeneinander bestehen können. Insofern wäre es verfehlt, im Wettstreit der wissenschaftlichen Diskussion Siege zu postulieren. Interessanter erscheint es vielmehr, in Zukunft die Reichweite beider Ansätze daran zu prüfen, welche Resonanz sie in der Forschung finden werden. Eine scholastisch anmutende Auseinandersetzung um eine Hierarchisierung der Quellen ist dabei unnötig. Statistiken, so ist jüngst bemerkt worden, sind keineswegs wichtiger als Behördenakten, während die philologisch-textkritische Quelleninterpretation „nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der historischen Methode“ ist.42 Der alte Konsens, dass alle benachbarten Teildisziplinen einander Hilfswissenschaften seien, die sich wechselseitig ihres methodischen „Werkzeugs“ (Ahasver von Brandt) bedienen, sobald sich die mit dem eigelich Christoph Gradmann: Geschichte, Fiktion und Erfahrung – kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 1–16 und die einschlägigen Hinweise bei Friedrich Lenger: Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie. München 1994, S. 13–16. 40 Jan Romein: Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. Bern 1948, S. 11 f. 41 Lothar Gall: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums. Berlin 2000, Klappentext. 42 Paul Erker: Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite, in: GG 19 (1993), S. 202–238, hier 211.

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nen Instrumentarium zu erarbeitenden Möglichkeiten erschöpfen, wurde damit rehabilitiert. Schon Mitte der achtziger Jahre konnte zudem mit einer gewissen Befriedigung von Seiten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte konstatiert werden, dass „Allgemeinhistoriker sich in zunehmendem Maße für Fragen von Wirtschaft und Gesellschaft interessieren, allerdings meist nur, um deren Einfluß bzw. die Rückwirkung auf das politische Geschehen zu betrachten.“43 Im Folgenden soll daher beispielhaft gezeigt werden, in welchen Bereichen es zu einer für die Zukunft vielversprechenden Zusammenarbeit bzw. Zuarbeit gekommen ist. Grundsätzlich bleibt dabei zu bedenken, dass Vollständigkeit weder beabsichtigt ist noch in einem kurzen Abriss erreicht werden kann. Allerdings soll es doch möglich sein, zumindest einen abgesicherten Eindruck von den Möglichkeiten und Grenzen zu erhalten, die die Wirtschafts- und Sozialgeschichte für die Politische Geschichte besitzt. Weil diese auf die Ergebnisse derjenigen bauen kann, die mit soziologischen, volks- und betriebswissenschaftlichen Fragestellungen befasst sind, ist es fast selbstverständlich, auf die brillanten kultur- und wirtschaftswissenschaftlichen Längsschnittuntersuchungen von David S. Landes44 oder auf Barry Eichengreens Studie über das internationale Finanzsystem der letzten eineinhalb Jahrhunderte zurückzugreifen,45 um den geeigneten sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund zu ergründen. Beispielsweise hat Paul Kennedy diese Interdependenzen beschrieben, als er den Aufstieg und den Fall großer Mächte in der Neuzeit analysierte: „The triumph of any one Great Power in this period, or the collapse of another, has usually been the consequence of lengthy fighting by its armed forces; but it has also been the consequence of the more or less efficient utilization of the state’s productive economic resources in wartime, and, further in the background, of the way in which the state’s economy had been rising or falling, relative to the other leading nations, in the decades preceding the actual conflict.“46 Freilich wird die Politische Geschichte, so wichtig und relevant die wirtschaftliche und soziale Verfasstheit eines Staatswesens auch ist, die davon unabhängigen Faktoren mit bedenken. Wirtschafts- und Sozialgeschichte kann beispielsweise nur ungenügend erklären, warum etwa die Sowjetunion im 20. Jahrhundert trotz eklatanter und unübersehbarer ökonomischer Schwäche zu einer unbestrittenen Großmacht werden konnte; ebenso wenig vermag sie plausibel zu erklären, warum die UdSSR schließlich zusammengebrochen ist. In der neueren Forschung wird der „Verlust des Willens“ zur imperialen Herrschaft als entscheidendes Kriterium für den Niedergang der Sowjetunion angesehen.47 Zugleich wird die moralische Kraft des Wes43 Hans Pohl: Ein Jahrzehnt Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, in: ZUG 31 (1986), S. 5– 30, hier 5. 44 David S. Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Berlin 1999; ders.: Der entfesselte Prometheus. Köln 1973. 45 Barry Eichengreen: Globalizing Capital: A History of the International Monetary System. Princeton 1998. 46 Paul Kennedy: The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. New York 1987, S. XV. 47 Hannes Adomeit: Imperial Overstretch: Germany in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev. Baden-Baden 1998, S. 273.

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tens betont, der das östliche Bündnis wenig entgegenzusetzen hatte.48 Man könnte weitere Beispiele anführen, warum die Politische Geschichte Faktoren nicht vernachlässigen möchte, die jenseits sozialer und ökonomischer Erklärungszusammenhänge zu suchen sind. Hatte nicht auch Churchill recht, als er – trotz aller wirtschaftlichen Krisen der Zwischenkriegszeit – in den dreißiger Jahren als Grund für den Niedergang des britischen Empire anführte: „It is not that our own strength is seriously impaired. We are suffering from a disease of the will“.49 Die neue Synthesebereitschaft zeigt sich bei einem Paradebeispiel der Politischen Geschichte: dem wegweisenden „Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen“, das den Zeitraum von 1450 bis 1990 behandelt. Hier findet sich ein ausgewogenes Verhältnis in der Berücksichtigung außenpolitischer Ereignisse und gesellschaftlicher „forces profondes“. Winfried Baumgart hat in seinem Beitrag, der die Geschichte des 19. Jahrhunderts behandelt, nüchtern festgestellt, dass die „Abwehrhaltung“ gegenüber dem „Dünkel der […] Strukturgeschichtsschreibung“ nicht mehr nötig sei. Auf den „Anspruch, daß die Geschichte der Neuzeit und besonders diejenige des 19. Jahrhunderts von wirtschaftlichen Kräften und Interessen determiniert sei“, wird offensichtlich nicht mehr gepocht: „Es gilt als selbstverständlich, daß Struktur- und Ereignisgeschichte in einem unauflöslichen Wechselverhältnis stehen, dass die Würde der einen Sichtweise die Berechtigung der anderen nicht ausschließt.“50 So verdichtet sich auch hier der Eindruck, dass die erregten Diskussionen über die Fragen nach dem Primat von Innen- und Außenpolitik inzwischen einer ruhigeren Betrachtungsweise Platz gemacht haben, ohne dass man von Beschaulichkeit sprechen mag. So unbestreitbar etwa die Zäsur des Jahres 1789 ist, beachtet auch die Politische Geschichte, dass die Französische Revolution für die ländliche Bevölkerung Mitteleuropas keineswegs eine so große Umwälzung bedeutet hat, wie lange Zeit angenommen worden ist.51 Ein Blick auf das Schrifttum zum 19. Jahrhundert erhärtet den Befund, dass vermehrt Anstrengungen unternommen werden, einst konträre Meinungen in einer historiographischen Synthese zusammenzubinden, wie die von Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler als Exponenten entgegengesetzter Positionen in ihren jeweiligen Werken angebotenen Deutungen zu illustrieren vermögen.52 Trotz des Plädoyers für eine analysierende politische Geschichtsschreibung vermittelt Nipperdeys opus magnum in manchen Passagen den 48 John Lewis Gaddis: On Moral Equivalency and Cold War History, in: Ethics & International Affairs 10 (1996), S. 131–148; ders.: We Now Know (wie Anm. 11), S. 286 f. 49 Zitiert nach Simon Schama: A History of Britain, Volume III: The Fate of Empire 1776–2000. London 2002, S. 488. 50 Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878. Paderborn u. a. 1999, S. XI f. 51 Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics, 1763–1848. New York 1996. 52 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1985; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992/93; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3: Von der „Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914. München 1995.

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Eindruck eines strukturgeschichtlichen Handbuchs. Wehlers der gesellschaftlichen Emanzipation und der sozialwissenschaftlichen Methode gleichermaßen verpflichtetes Werk bleibt zwar der Verteidigung des Ansatzes treu, ökonomische Strukturen und gesellschaftliche Kräfte seien das Movens der Geschichte, aber die aus den siebziger Jahren bekannte Argumentation wurde doch erheblich zurückgenommen, ohne freilich grundsätzlich revidiert zu werden. Auch die Bürgertumsforschung bietet Ansätze zur Zusammenarbeit, obwohl der Begriff des „Bürgertums“ weiterhin in schillernder Unbestimmtheit aufgehoben bleibt. Inzwischen werden die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen als Antrieb des politischen Liberalismus wieder stärker in Frage gestellt. So hat etwa Paul Nolte den Liberalismus als „traditionelle Bewegung“ gekennzeichnet und eine allzu starke sozialökonomische Betrachtungsweise des Bürgertums bemängelt.53 Demgegenüber hat freilich Lothar Gall den Einwand erhoben, eine solche Sichtweise falle „hinter eine Interpretation zurück, die den engen Bezug von politischem und wirtschaftlichem Wandel herauszuarbeiten versucht und es als eine zentrale Aufgabe der sozialgeschichtlichen Forschung ansieht, deutlich werden zu lassen, welche realhistorischen Konkretisierungen hinter der offenkundigen politischen und gesellschaftlichen Dynamisierung des Bürgerbegriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stehen.“54 Gerade die Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung und, noch grundsätzlicher, der Geschichte der Industriellen Revolution sowie der Entstehung der Sozialen Frage ist nur im interdisziplinären Zusammenarbeiten von Allgemeiner Geschichte sowie Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vorstellbar, wie nicht zuletzt die Arbeiten von Gerhard A. Ritter zeigen. Für die Politische Geschichte sind auch die Kontroversen um den industriellen „Take-off“ in Deutschland aufschlussreich, dessen Beginn inzwischen wohl mehrheitlich in der Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts angesetzt wird.55 Die Politische Geschichte profitiert bei der Analyse des Aufstiegs Deutschlands zur Industrienation von den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschungen zum Arbeitsmarkt, zum Einkommen und zur Stellung der gesellschaftlichen Schichten in ihren jeweiligen „Milieus“. Freilich zeigt sich, beispielsweise in dem wissenschaftlichen Streit um die Begrifflichkeit von „Industrieller Revolution“ und „Industrialisierung“,56 ein grundsätzliches Problem. Entsprechende Debatten mögen zwar notwendig sein, sie erschweren aber der Politischen Geschichte die Beantwortung der wichtigen Frage nach der Rolle des Staates in diesem Prozess. Vor allem neuere Forschungen über den Zollverein haben die Bedeutung des Zusammenhangs von ökonomischer und politischer Integration verdeutlicht. So war der Zollverein zwar keineswegs als primärer Faktor – oder gar als Wegbereiter – der machtstaatlichen Einigung Deutschlands unter preußischer Flag53 Paul Nolte: Bürgerideal, Gemeinde und Republik. „Klassischer Republikanismus“ im frühen deutschen Liberalismus, in: HZ 254 (1992), S. 609–656, hier 655. 54 Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993, S. 67. 55 Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert. München 1994, S. 58– 61. 56 Hierzu der Überblick bei Hans-Werner Hahn: Die Industrielle Revolution in Deutschland. München 1998, S. 51–59.

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ge wirksam, aber er hat durchaus den „Kompromiß zwischen preußischem Obrigkeitsstaat und weiten Teilen des deutschen Bürgertums“ gefördert.57 Die Dynamik des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmte auch die folgenden Jahrzehnte. Die von Wolfgang Zorn in den sechziger Jahren aufgeworfene Frage nach dem „wahre[n] Ort“ der Reichsgründung „in der langfristigen Geschichte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft“58 ist um so schwieriger zu beantworten, als der politische Aufstieg PreußenDeutschlands mit der Zeit der Hochindustrialisierung zusammenfiel und sich schon bald für die Arbeiter im Kaiserreich eine graduelle Verbesserung ihrer sozialen Lage abzeichnete und ihre gesellschaftliche Integration Fortschritte machte. Trotz des bei vielen von ihnen vorhandenen Wunsches nach bürgerlichen Existenzformen bot das Kaiserreich hierfür jedoch weder die notwendige politische Gleichstellung noch ausreichende materielle Voraussetzungen.59 Der Eigencharakter dieses modern-antimodernen Zwitterwesens „Kaiserreich“ erklärt sich aus dem Zusammenwirken der gesellschaftlichen und machtstaatlichen Faktoren, die ohne einen Blick auf die Wirtschaftsordnung, die Sozialstruktur und die Bevölkerungsentwicklung nicht hinreichend deutlich würden. Das hohe Maß an Unabhängigkeit der Außenpolitik gegenüber dem Ökonomischen im „Zeitalter der Nervosität“60 bleibt davon allerdings unberührt, was umso relevanter wird, je näher sich die Geschichtsschreibung der Zeit des Ersten Weltkrieges annähert. Von einem Determinismus, der die Außenpolitik des Reiches aufgrund wirtschaftlicher Interessen und innenpolitischer Notwendigkeiten einen Kriegskurs hätte steuern lassen, ist heute nur noch selten die Rede. Insgesamt überwiegen Interpretationen, die implizit Abstand davon nehmen, die Entwicklung des Kaiserreichs entlang ideologisch-ökonomischer Beweisführungen auszurichten. Die jüngste Forschung stellt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Beziehungsgeflecht zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Politischer Geschichte dar, ohne a priori zu postulieren, die innenpolitischen Verhältnisse hätten die Politik des Reiches wesentlich bestimmt. In einer Gesellschaft, die zwischen der Hektik des Alltags, kultureller Reizüberflutung und Konsumüberfluss einerseits und Residuen einer „feudalen“ Welt andererseits keinen Pol der Ruhe finden konnte, bietet der Blick auf die Kolonialgeschichte einen wichtigen Ansatzpunkt, für den die Wirtschafts- und Sozialgeschichte weitere Anregungen geben könnte. Vor allem das Oszillieren zwischen friedlicher Kulturar57 Ders.: Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein. Göttingen 1982, hier S. 313; ders.: Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984. 58 Wolfgang Zorn: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgründungszeit (1850–1879), in: Hartmut Böhme (Hg.): Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879. Köln/Berlin 1968, S. 296–316, hier 296 f. Zu dieser Debatte auch Lothar Gall: Staat und Wirtschaft in der Reichsgründungszeit, in: HZ 209 (1969), S. 616–630. 59 Vgl. hierzu das Standardwerk von Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Bonn 1992. 60 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München/Wien 1998. Zur Dominanz des Politischen: Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945. Stuttgart 1995.

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beit und imperialer, z. T. sozialdarwinistisch begründeter Aggression bietet viele Facetten. Die – meist liberalem Gedankengut verpflichteten – Gegner einer brachialen deutschen Weltpolitik wie Ernst Jäckh, Kurt Riezler oder Paul Rohrbach hielten es für vielversprechender, Deutschlands Weltstellung durch kulturelle und ökonomische Mittel zu befestigen und waren mit dieser Ansicht zeitweise recht erfolgreich. 61 Die Frage, warum diese Alternative zum aggressiven und letzten Endes kontraproduktiven Streben nach Kolonien und Absatzmärkten schließlich scheiterte, kann wohl nur durch eine Zusammenarbeit der Teildisziplinen befriedigend beantwortet werden. Ähnlich wichtig wären weitere Beiträge der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu den Ursachen und Folgen der wilhelminischen Flottenrüstung, die eine Verschärfung der außenpolitischen Lage mit sich brachte. Neuere Studien zu den von den Zeitgenossen kaum übersehenen Folgen der „Risikoflotte“ lassen erkennen, dass es in einer zunehmend differenzierten Industriegesellschaft selbst Befürwortern der Flottenrüstung wie Tirpitz schwerfiel, der Wirtschaft seine Wünsche zu oktroyieren. Politik und Wirtschaft arbeiteten keineswegs Hand in Hand und konsequent auf den Krieg hin: Stahl-, Werft- und Zulieferindustrie waren nicht selten eher die Getriebenen als die Antreiber des letztlich verhängnisvollen und die Kräfte überfordernden Produktions- und Rüstungswettlaufes.62 Beispielsweise ist der Zweibund als zentrales und dennoch bislang wenig erforschtes Gebiet des internationalen Systems mit Blick darauf untersucht worden, wie das Bündnis zwischen Berlin und Wien, das ursprünglich zum Abbau von Spannungen und zur Friedenssicherung geschlossen worden war, im Laufe der Zeit zu einer „aggressiven Allianz“ degenerieren konnte. Zu überprüfen wäre, ob und in welchem Maße gesellschaftliche Faktoren zur Forcierung des außenpolitischen Konfliktkurses beitrugen, etwa ob die Militärs, um ihre soziale Stellung und ihren politischen Einfluss fürchtend, darauf drängten.63 Als wenig hilfreich haben sich die Bemühungen erwiesen, ein Raster „typischer“ Unternehmerpersönlichkeiten der Hochindustrialisierung zu finden, weil dies zwangsläufig mit einer ganzen Reihe von Spekulationen verbunden ist. In dem gleichen Maß, wie die allzu mechanistischen Versuche, überhaupt verallgemeinernd von einem „organisierten Kapitalismus“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu sprechen, an Plausibilität verloren haben,64 ist gerade mit Blick auf die Unternehmerforschung die Tendenz zu beobachten, „weniger grundlegend neue Theorien zu entwickeln als vielmehr die vorliegenden durch den Blick auf Regionen […] zu überprüfen und zu präzisieren.“65 61 Jürgen Kloosterhuis: „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 1906–1918. Frankfurt a. M. 1994. 62 Michael Epkenhans: Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1918. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration. München 1991. 63 Vgl. die Thesen bei Jürgen Angelow: Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Köln/Weimar 2000. 64 Lothar Gall: Zu Ausbildung und Charakter des Interventionsstaates, in: HZ 227 (1978), S. 552– 570; Heinrich August Winkler: Organisierter Kapitalismus? Versuch eines Fazits, in: Ders.: Liberalismus und Antiliberalismus. Göttingen 1979, S. 264–271; Jürgen Kocka: Organisierter Kapitalismus im Kaiserreich, in: HZ 230 (1980), S. 613–631. 65 Lothar Gall: Europa auf dem Weg in die Moderne. 3. überarbeitete und erweiterte Aufl., München 1997, S. 117.

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Freilich zeigen sich auch die unbestreitbaren Defizite. Hierunter leiden notgedrungen die Arbeiten, die beispielsweise die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verständigungsbemühungen – und damit transnationalen Beziehungen – von Geschäftsleuten analysieren. Zu diesen Aspekten hat die strukturell argumentierende „Gesellschaftsgeschichte“ seit den sechziger Jahren so gut wie nichts beigetragen. Politische Geschichte hat hier traditionell ihre Stärke bei der Erforschung der Motivation der Akteure, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat ihre Stärke bei der Erforschung der Strukturen.66 Ein einheitliches Bild eines „Großunternehmertums“ im von rastloser Dynamik gekennzeichneten Wilhelminischen Kaiserreich wird sich daher nur schwer zeichnen lassen, weil hier wie in anderen Schichten Deutschlands zwar ein Übergang vom linken zum rechten Nationalismus zu beobachten war, sich aber trotzdem Elemente von Tradition und Moderne, Fortschrittsglauben und Kulturpessimismus oftmals kaum entwirrbar mischten: Auch für Unternehmer traf zu, dass die Berufung auf die Nation durch ein „spezifisches Gemisch von Partizipation und Aggression“ gekennzeichnet war.67 Die Politische Geschichte wartet auch noch auf Arbeiten, die sich intensiver mit dem Phänomen der sich immer stärker differenzierenden Gesellschaft auseinandersetzen. Die Mobilisierung partikularer Interessen, die etwa im „Centralverband Deutscher Industrieller“, „Bund der Landwirte“ oder „Alldeutschen Verband“ offensichtlich wurde, muss bedacht werden, wenn man die janusköpfige Modernität und Fragilität des Reiches analysiert. Aber die Entfaltung des Verbandswesens in Deutschland hat trotz seiner zweihundertjährigen Geschichte bis heute noch keine befriedigende Gesamtdarstellung gefunden.68 Die Interventionsbereitschaft, die auf den Umbruchcharakter der Zeit hinwies, wurde nicht nur bei den Verbänden erkennbar, sondern bezog sich auch auf die äußere Politik. Es wäre wichtig zu untersuchen, welche Rolle der Wirtschaft und der öffentlichen Meinung beim Scheitern des europäischen Friedens im Jahr 1914 zukam. Das seit den sechziger Jahren durch den Impuls der Fischer-Kontroverse immer wieder diskutierte „Bündnis der Eliten“ und eines wirtschaftlich begründeten „Griffs nach der Weltmacht“ wird in dieser Radikalität kaum noch vertreten. In diesem Zusammenhang sollte sich auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte an die Verifizierung oder Falsifizierung der These wagen, der Erste Weltkrieg sei das Resultat eines „machiavellistischen Kalküls einer kleinen, innerlich bereits über66 Vgl. etwa Guido Müller: Gesellschaftsgeschichte und Internationale Beziehungen: Die deutschfranzösische Verständigung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hg.): Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Schwabe. Stuttgart 1998, S. 49–64. 67 Dieter Langewiesche: Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: Zwischen Partizipation und Aggression. Bonn 1994. Zum Forschungsstand ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190– 236; Karl Heinrich Pohl: Liberalismus und Bürgertum 1880–1918, in: Lothar Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegungen in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert. München 1997, S. 231–291. 68 Ansätze bei Hans-Peter Ullmann: Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988.

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lebten Führungsschicht“ gewesen, die „in einer kritischen weltpolitischen Situation leichtfertig und mit zu hohem Einsatz gespielt hatte, weil sie hoffte, auf diese Weise ihre eigene geschwächte Machtstellung stabilisieren zu können.“69 Im selben Zusammenhang hat die Politische Geschichte, angestoßen von der angelsächsischen Forschung, die „Sonderwegsthese“ immer stärker in Frage gestellt. Hier könnte die Wirtschafts- und Sozialgeschichte helfen, die neuen Tendenzen – die Untersuchung der „Eigenwege“ der industriellen Gesellschaften – vergleichend nachzuzeichnen und nach den spezifisch modernen bzw. antimodernen Elementen dieses Transformationsprozesses zu fragen. Da auch die europäische Regionalismusforschung in letzter Zeit große Beachtung gefunden hat, das „Europa der Regionen“ dabei immer stärker ins Blickfeld rückt, eröffnen sich hier Chancen einer perspektivenreichen Zusammenarbeit. Die Entstehung der föderalen Strukturen im 19. und 20. Jahrhundert bieten damit eine notwendige Ergänzung zu den nationalen Bewegungen und Entwicklungen, selbst wenn darüber nicht vergessen werden darf, dass – wie Hermann Heimpel bemerkt hat – die Nationen „das Europäische an Europa“ sind.70 Dies ist auch angesichts der jüngst vermehrt angestellten Überlegungen zu bedenken, für den Bereich der Staaten und der Nationen anstelle von der Geschichte der internationalen Beziehungen von „zwischenstaatlichen Beziehungen“ oder von „transnationalen Beziehungen“ zu sprechen. Entsprechende Initiativen, die „Erweiterung und Verfeinerung des methodischen Instrumentariums des Gegenstandsbereichs“ der „Internationalen Geschichte“ voranzutreiben,71 sind zwar auf breite Resonanz gestoßen, aber wie ertragreich dieser Neuansatz ist, bleibt abzuwarten, zumal gerade für den wichtigen Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen bislang kaum überzeugende Beiträge aus historischer Perspektive vorliegen. Dennoch ist es sicherlich von Vorteil, dass von den Befürwortern einer solchen Erweiterung für einen „pragmatischen Umgang mit diesen Begriffen“ geworben wird, „deren Verwendung keinesfalls zur Prinzipienfrage erhoben werden sollte.“72 Ähnliche Tendenzen gelten auch für die Themenfelder, die von ihrer bisherigen Behandlung eher dem Bereich der Politischen Geschichte zugeordnet waren. Beispielsweise lässt sich für die Analyse des Ersten Weltkrieges feststellen, dass in zunehmendem Maß eine Perspektive „von unten“ gewählt wird. Kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte treten immer stärker an die Stelle sozialgeschichtlicher Fragestellungen, deren begrenzter Lichtkegel die Ambivalenzen des Kaiserreichs 69 Wolfgang J. Mommsen: Großmachtstellung und Weltpolitik. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches 1870–1914. Frankfurt a. M./Berlin, S. 321; Georges-Henri Soutou: L’or et le sang: les buts de guerre économiques de la Première Guerre mondiale. Paris 1989. 70 Hermann Heimpel: Entwurf einer Deutschen Geschichte. Rektoratsrede vom 9. Mai 1953, in: Ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essais. 2. Aufl., Göttingen 1957, S. 162–195, hier 173. 71 Wilfried Loth: Einleitung, in: Ders./Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 23), S. XIII. 72 Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Loth/Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte (wie Anm. 23), S. 117–140, hier 117, Anm. 2.

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nicht vollständig auszuleuchten vermochten. In den Vordergrund tritt der Versuch, die Kriegserfahrung und das „Fronterlebnis“, die Alltagswelt des Krieges im Schützengraben und an der „Heimatfront“ mentalitätsgeschichtlich zu fassen. Die „Totalisierung“ des Krieges, die Propaganda und die Degenerationserscheinungen – von der wachsenden Kriminalität, der zunehmenden Verwahrlosung, dem „Hungerwinter“ bis zu den „Hamsterfahrten“ – werden zunehmend in den Blick genommen. Allerdings ist eine empirisch überzeugende Definition dessen, was man unter „Mentalität“ verstehen soll, bislang nicht gelungen. Gerade in manchen Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg wird dieses Problem offenkundig. Man referiert in den Fußnoten pflichtschuldig die inzwischen breit vorhandene Literatur zu mentalitätsgeschichtlichen Theorien, die dann anschließend leider kaum in eine wirkliche Verbindung zu den Ereignissen gebracht werden. Ähnliches lässt sich auch für das wichtige Verhältnis von Wirtschaft und Militär sagen; dieses bedarf „noch vielfältiger Untersuchungen“, bevor etwa die Frage beantwortet werden kann, inwieweit die Rüstungsnotwendigkeiten zum technologischen Fortschritt beigetragen haben.73 Freilich gilt auch hier, dass sich die „Urkatastrophe“ (George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts nicht primär aus wirtschaftlichen oder sozialen, sondern aus politischen Gründen erklärt. Wirtschafts- und Sozialgeschichte ergänzt das Verständnis langfristiger Entwicklungen wie der Globalisierung mit ihren tiefgreifenden politischen Implikationen. Beispielsweise zeigt die Arbeit über das „Ende der Globalisierung“ von Harold James, wie sehr protektionistische Maßnahmen die weltweite Depression der Zwischenkriegszeit beeinflusst haben. Dies wiederum gibt Hinweise, auf welche Weise nationalistische Antworten auf ein weltumspannendes Problem eine Vorbedingung zum Entstehen von politischen Diktaturen werden konnten.74 Freilich dürfen auch hier die Vergleiche nicht zu sehr verallgemeinert werden. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Untergang der Weimarer Republik sind die Untersuchungen zu den Ursachen und Folgen der Inflation wegweisend. Hier kann die Politische Geschichte beispielsweise von den Ergebnissen profitieren, die das nationenübergreifende Projekt „Inflation und Wiederaufbau in Deutschland und Europa 1914–1924“ erbrachte, so dass diese Zusammenhänge einer auch generellen Strukturkrise heute sogar „zu den mittlerweile am besten erforschten Bereichen“ der Weimarer Jahre zählen können,75 nicht zuletzt dank der Untersuchungen von Gerald Feldman.76 In diesen Zusammenhang gehört ebenso die inzwischen schon geradezu „klassische“ Studie Knut Borchardts über „Zwangslagen und Handlungsspielräume“,77 auf die die politische Geschichtsschreibung zur Erklärung des Nie73 Opgenoorth/Schulz, Einführung (wie Anm. 8), S. 226. 74 Harold James: The End of Globalization: Lessons from the Great Depression. Cambridge, MA 2001. 75 Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft. München 2000, S. 70. 76 Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924. München 1998; ders.: The Great Disorder: Politics, Economics and Society in the German Inflation, 1914– 1924. Oxford 1993. 77 Knut Borchardt: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre, in: Ders.: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschafts-

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dergangs der Republik von Weimar nicht verzichten kann. Aber auch auf die Studien zur „Überforderung“ des Sozialstaats als wichtiges Erklärungsmuster für den Niedergang und die Delegitimierung von Weimar kann zurückgegriffen werden.78 Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929, in einem weiteren Rahmen die historische Konjunkturforschung überhaupt, wird freilich trotz der von der Krise ausgelösten globalen Schockwellen nur selten von der Politischen Geschichte zur Kenntnis genommen.79 Beispielsweise wird noch immer zu wenig beachtet, dass die deutsche Wirtschaft schon seit längerem durch die strukturellen Probleme in einer Weise geschwächt war, dass die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen seit Ende der zwanziger Jahre stark beschränkt waren. Auf der anderen Seite bleibt festzustellen, dass gerade im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wirtschafts- und sozialpolitische Elemente schon immer in politische Analysen eingeflossen sind – nicht zuletzt deshalb, weil sowohl die dogmatisch-marxistische als auch die neomarxistische Forschung mit ihren Thesen einer wesentlich „ökonomischen“ Begründung für den Erfolg Hitlers eine intensive und kritische Antwort erforderlich gemacht haben.80 Zugleich ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Versuche der Politik, den europäischen und überseeischen „Wirtschaftsfrieden“ zu erhalten, ein wichtiger Schritt auf dem Weg waren, zu einer internationalen Verständigung zu finden.81 Eine ungewöhnliche Annäherung zeigt sich allerdings in Bereichen, die an der Schnittstelle zwischen Wirtschaftsgeschichte und Politischer Geschichte liegen. Henry Turner hat in einer mikroökonomischen Pionierstudie eine Vielzahl der Legenden widerlegt, die allzu simplifizierend die deutsche Wirtschaft als entscheidende Antriebskraft der „Machtergreifung“ sahen.82 Die These der entscheidenden Rolle des „Finanzkapitals“ für den 30. Januar 1933 lässt sich wissenschaftlich nicht länger aufrecht erhalten;83 vielmehr waren es vermeidbare politische Fehler, die

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politik. Göttingen 1982, S. 165–182. Die um diese Problematik entbrannte sog. „BorchardtKontroverse“ kann an dieser Stelle nicht weitergeführt werden. Vgl. hierzu die Beiträge und Literaturhinweise in: Christoph Buchheim/Michael Hutter/Harold James (Hg.): Zerrissene Zwischenkriegszeit. Wirtschaftshistorische Beiträge. Knut Borchardt zum 65. Geburtstag. BadenBaden 1994 bzw. Carl-Ludwig Holtfrerich: Alternativen zu Brünings Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. Stuttgart 1982. Jürgen von Kruedener: Die Überforderung der Weimarer Republik als Sozialstaat, in: GG 11 (1985), S. 358–376. Vgl. Harold James: Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924–1936. Stuttgart 1988. Als frühes Beispiel für die Auseinandersetzung mit den marxistischen Thesen: Heinrich August Winkler: Die „neue Linke“ und der Faschismus: Zur Kritik neomarxistischer Theorien über den Nationalsozialismus, in: Ders.: Revolution, Staat, Faschismus. Göttingen 1978, S. 65– 117. Matthias Schulz: Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung 1925–1933. Hamburg 1997 und als frühe Studie Peter Krüger: Ansätze zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Helmut Berding (Hg.): Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1984, S. 149–168. Henry Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers. Berlin 1985. Die aktuelle Zusammenfassung der damit verbundenen Kontroversen findet sich bei Wilfried Feldenkirchen: Die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 1998, S. 93.

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dazu geführt haben, dass der Erfolg des demokratischen Experiments fahrlässig verspielt wurde.84 Gerade im Bereich der Geschichte des „Dritten Reiches“ kommt die Politische Geschichte ohne den Rückgriff auf die wirtschaftlich-sozialen Zusammenhänge nicht aus.85 Auf diesem Feld hatte die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Politischen Geschichte und den Verfechtern eines strukturgeschichtlichen Ansatzes „zeitweise den Charakter eines Glaubenskrieges“86 angenommen. Seitdem ideologische Differenzen weniger als zuvor den Gang der Forschung bestimmen, eröffnen sich neue Perspektiven für eine vorurteilslose Analyse der alltäglichen Erfahrungen nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik, um ohne apologetische Tendenzen die komplexen Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik im totalitären Deutschland zu untersuchen. Hier hat sich ein erstaunlich vielseitiges Bild gezeigt, das angesichts der Heterogenität der ökonomischen Verhältnisse zwischen 1933 und 1945 pauschale Urteile, wie sie im Zuge der neomarxistischen Renaissance zu hören gewesen waren, als unbegründet erscheinen lassen. Die ökonomisch argumentierenden marxistischen Faschismustheorien sind nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil sie nicht erklären konnten, warum gerade in den Industrieländern Großbritannien und USA die totalitären Herausforderungen gemeistert wurden.87 Gerade mit Blick auf das „Tausendjährige Reich“ konnten und können Wirtschafts- und Sozialhistoriker weiterführende Erkenntnisse für das Verständnis der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) beisteuern. Aber auch hier gilt die ernüchternde Erkenntnis, dass der Versuch, ein „Modell der Beziehungen“ zwischen Regime und Wirtschaft zu konstruieren, „an der Vielfalt individueller Erfahrungen und daran, daß viele Aspekte nicht ausreichend empirisch erforscht sind“, zum Scheitern verurteilt ist.88 Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch hier die Politik der bestimmende Faktor blieb: Geschäftsleute konnten noch so viel aus ökonomischen und kulturellen Gründen für den deutsch-französischen Ausgleich werben, es war letztlich die „Große Politik“ Hitlers, die solche Hoffnungen zunichte machte. Möglicherweise hat hier die Wirtschafts- und Sozialgeschichte noch zu wenig den Anschluss zur Politischen Geschichte gesucht: Wie wäre sonst der mitunter vernehmbare Vorwurf zu verstehen, „Allgemeinhistoriker“ tauchten „plötzlich als Wirtschaftshistoriker, Bankhistoriker, Unternehmenshistoriker auf wie Phönix aus der Asche, ohne jemals etwas von Produktions- oder Preisfunktion, Marktmechanismen oder Bilanzregeln gehört zu haben.“89 Allerdings ließe sich einer sol84 Zur Debatte zwischen „Optimisten“ und „Pessimisten“ vgl. die Beiträge in: Jürgen von Kruedener (Hg.): Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924–1933. New York/Oxford/München 1990 und Heinrich August Winkler (Hg.): Die deutsche Staatskrise 1930–1933: Handlungsspielräume und Alternativen. München 1992. 85 Frühe Hinweise bei Wilhelm Treue: Die Bedeutung der Firmengeschichte für die Wirtschaftsund für die Allgemeine Geschichte, in: VSWG 41 (1954), S. 42–65. Zur neueren Diskussion vgl. etwa Lothar Gall/Manfred Pohl (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1). München 1998. 86 Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft. München 1996, S. 57. 87 Vgl. hierzu Stanley Payne: A History of Fascism, 1914–1945. Madison 1995, S. 443–445; Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich. 6. neubearbeitete Aufl., München 2003, S. 171 f. 88 Neil Gregor: Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich. Berlin 1997, S. 23. 89 Rolf Walter: Inventur 1995, in: VSWG 82 (1995), S. 497–501, hier 500, Anm. 5.

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chen Kritik mit einer gewissen Polemik entgegenhalten, dass die Fähigkeit, Bilanzen lesen und abstrakte mathematische Modelle benutzen zu können, wenig dabei hilft, den Erfolg Hitlers und des Nationalsozialismus – nicht zuletzt auch im gesellschaftlichen und sozialen Bereich – zu erklären. Denn vor allem beim Versuch, das Phänomen Hitler zu erklären, haben sich für die strukturgeschichtlichen Ansätze unüberwindliche Hindernisse ergeben. Der Hitler-Biograph Ian Kershaw, der ursprünglich aus der Warte eines Sozialhistorikers die Geschichte des deutschen Diktators schreiben wollte, kam nicht umhin festzustellen, dass Hitler einer der Menschen gewesen ist „über die man mit absoluter Sicherheit sagen kann, dass die Geschichte ohne sie anders verlaufen wäre.“90 Wäre der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, wenn Hitler 1938 ermordet worden wäre? Die gerade im Bereich des Nationalsozialismus nahezu erschöpfende Methodendiskussion kann darauf letztlich keine befriedigende Antwort geben, wenn sie den Faktor des Persönlichen ignoriert. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass der biographische Zugriff sich themen- und methodenübergreifend auf alle Bereiche der neueren Geschichte erstreckt und selbst Forscher an einem biographischen Ansatz Gefallen finden lässt, die von ihren ideologischen Wurzeln her eher einem gesellschaftsgeschichtlichen Geschichtsbild verhaftet sein müssten.91 Dies zeigt einmal mehr, wie notwendig es ist, „die auffallende Polarisierung der Ansätze zu überwinden“92 – allerdings war das schon die Forderung, die von den Vertretern der Politischen Geschichte bereits in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen wurde, so möchte man hinzufügen –, gerade für die Zeit des Nationalsozialismus, weil die totalitäre „Weltanschauung“ ihre Anhänger wie ihre Gegner in einem zuvor nie gekannten Ausmaß zum individuellen Bekenntnis für oder gegen den „Führer“ Adolf Hitler zwang. Gerade für den besonders wichtigen Bereich der nationalsozialistischen Zeit wird die „These vom Primat der Wirtschaft […] heute kaum noch vertreten“.93 Die Dynamik des nationalsozialistischen Systems, das gleichermaßen durch „Verführung und Gewalt“ (Hans-Ulrich Thamer) wirksam war, erhellt sich erst durch den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Bereich des Sozialen wirkten die vielfältigen Zwangsorganisationen in der praktischen Arbeit ernüchternd, weil sich hinter den hohlen Phrasen einer „Volksgemeinschaft“ keine Substanz verbarg. Aber das schier unaufhaltsame Vordringen nationalsozialistischer Organisationen im Zeichen der reklamierten Totalisierung des Lebens zeigte unbestreitbare Wirkung. Die NS-Sozialpolitik94 mit ihrer spezifischen Verbindung von „Lockung und Zwang“ 90 Ian Kershaw: Hitler 1889–1936. Stuttgart 1998, S. 16. 91 Vgl. Ernst Engelberg/Hans Schleier: Zur Theorie und Geschichte der historischen Biographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 195–217, hier 208. 92 Kershaw, Hitler (wie Anm. 90), S. 10. 93 Mark Spoerer: Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941. Stuttgart 1996, S. 17. 94 Die Literatur zu diesem Bereich ist mittlerweile kaum noch zu überblicken. Zum Gesamtkomplex den Literaturüberblick bei Matthias Frese: Sozial- und Arbeitspolitik im „Dritten Reich“. Ein Literaturbericht, in: Neue Politische Literatur 38 (1993), S. 403–446, der Überblick bei Johannes Frerich/Martin Frey: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Band

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(Andreas Kranig) integrierte einen Großteil der deutschen Arbeiter in die vermeintliche „Volksgemeinschaft“. Die „Volkswohlfahrt“95 als sozialintegratives Instrument trat – vielfach erfolgreich – den nichtstaatlichen Institutionen konkurrierend gegenüber und versuchte, mit plebiszitär-ideologischen Parolen Einfluss zu gewinnen und proklamierte ihren Anspruch auf Mitsprache im sozialpolitischen Bereich. Hier wäre die Politische Geschichte an wirtschafts- und sozialpolitischen Untersuchungen interessiert, die das Zusammenwirken personeller und struktureller Kräfte erklären. Auch nationenübergreifend wäre es wichtig, die dynamisierenden Faktoren zu analysieren, die das von extremen Ideologien gekennzeichnete 20. Jahrhundert bestimmten. Hier stellen sich auch die Fragen individueller Verantwortung und überpersönlicher Zwänge, die beispielsweise beantwortet werden müssen, wenn es um die „Machtergreifung“ oder die in den letzten Jahren verstärkt erforschte Zwangsarbeit im „Dritten Reich“96 geht. Die Studien über Wirtschaftsunternehmen und wirtschaftlich relevante Reichsinstitutionen97 vereinen zumeist auf vorbildliche Weise wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Herangehensweisen mit der Politischen Geschichte, die ja erkenntnisgeleitete Schwerpunkte zumeist mit narrativen Elementen kombiniert. Möglicherweise ist daher auch die Ermahnung überflüssig, dass es wesentlich darauf ankomme, „daß Historiker der Wirtschaftsgeschichte als einem wichtigen Teilbereich der allgemeinen neueren Geschichte größere Beachtung schenken“.98 Aber auch Persönlichkeiten an der Schnittstelle von Wirtschaft und Politik wie Hermann Josef Abs oder Hjalmar Schacht haben das Interesse der Politischen Geschichte gefunden.99 Die Untersuchungen der Wirtschaft im „Dritten Reich“ haben in den letzten Jahren somit eine neue Dimension bekommen. Die Politische Geschichte benötigt von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte daher weniger das statistische Datenmaterial, auf das eher die Wirtschaftswissenschaften zurückgreifen dürften, als neue Forschungen zu den Wirtschaftskräften. Hier stellen sich Fragen zu den Zwängen und Ängsten in einer totalitären Diktatur, aber auch zu Kooperationsbereitschaft, Opportunismus

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1. München/Wien 1993, S. 249–329 und die Darstellung bei Marie-Luise Recker: Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg. München 1985, bes. S. 17–26. Eckhardt Hansen: Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches. Augsburg 1991; Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Stuttgart/Berlin/Köln 1992. Vgl. grundsätzlich Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin 1985 und die Beiträge in: Ders. (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945. Essen 1991 und immer noch Edward L. Homze: Foreign Labor in Nazi Germany. Princeton 1967. Als Literaturüberblick Frese, Sozial- und Arbeitspolitik (wie Anm. 94), bes. S. 432–436. Stellvertretend für eine Vielzahl sei genannt Lothar Gall u. a.: Die Deutsche Bank 1870–1995. München 1995. Gerald D. Feldman: Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft. München 2001, S. 9. Lothar Gall: A Man for all Seasons? Hermann Josef Abs im Dritten Reich, in: ZUG 43 (1998), S. 123–175; Joachim Scholtyseck: Hjalmar Schacht: Opportunistischer Weltgänger zwischen Nationalsozialismus und Widerstand, in: Bankhistorisches Archiv 33 (1999), S. 38–46.

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und bedenkenlosem Geschäftssinn. Viele Unternehmer und Industrielle verstrickten sich Zug um Zug im Räderwerk der nationalsozialistischen Gedankenführung. Kriegsrüstung und Zwangsarbeiterbeschäftigung wurden zum Teil hingenommen, zum Teil akzeptiert, zum Teil aber auch vorbehaltlos unterstützt.100 Hier würden gruppenbiographische Studien helfen, das Denken und Handeln von Unternehmerpersönlichkeiten jenseits eines wirtschaftlichen Rationalitätskalküls besser zu analysieren. Monokausale ökonomische Erklärungen werden der Wirklichkeit nicht gerecht: „Wie jeder Mensch hat auch ein Unternehmer außerökonomische Wertvorstellungen, die im Einzelfall mit dem Gewinnstreben konfligieren und denen er dennoch Priorität einräumt.“101 Auch für die Geschichte der Bundesrepublik können die Verbindungen zwischen Wirtschaftsgeschichte und Politischer Geschichte enger gezogen werden. In der Zeitgeschichtsforschung wird darauf verwiesen, wie wichtig ein disziplinenübergreifender Ansatz ist, wenn es etwa um die Erklärung von Wirtschaftswachstum, technischem Wandel und ökologischen Krisen geht. Kaum eine der großen Überblicksdarstellungen verzichtet daher auf den Synthesecharakter: Heinrich August Winklers Werk über Deutschlands „langen Weg nach Westen“ versteht sich zwar ausdrücklich als eine „politische Geschichte“, verweist aber im gleichen Atemzug darauf, dass es keine Darstellung der „herkömmlichen Art“ sei: „Ereignisse spielen eine große Rolle, aber nicht so sehr um ihrer selbst als um ihrer Bedeutung willen, die ihnen die Zeitgenossen und die Nachlebenden beimaßen.“102 Auch in den Überblicksdarstellungen zur Bundesrepublik von Manfred Görtemaker103 und Peter Graf Kielmansegg104 wird selbstverständlich auf wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte Bezug genommen. Ein solcher Ansatz gilt auch für viele Einzelstudien, etwa über die das Feld der Politik und Wirtschaft gleichermaßen berührende „Wiedergutmachung“105 oder die Proble100 Hans Pohl, Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (wie Anm. 43), passim; Hans Jaeger: Unternehmensgeschichte in Deutschland seit 1945, in: GG 18 (1992), S. 107–132; Alfred D. Chandler: Business History as Institutional History, in: George Rogers Taylor/Lucius F. Ellsworth (Hg.): Approaches to American Economic History. Charlottesville 1971, S. 17–24; Werner Plumpe: Stichworte zur Unternehmensgeschichtsschreibung, in: Ders./Christian Kleinschmidt (Hg.): Unternehmen zwischen Markt und Macht. Aspekte deutscher Unternehmensund Industriegeschichte im 20. Jahrhundert. Essen 1992, S. 9–13; Paul Erker: Aufbruch zu neuen Paradigmen. Unternehmensgeschichte zwischen sozialgeschichtlicher und betriebswirtschaftlicher Erweiterung, in: AfS 37 (1997), S. 321–365. Zur Kriegsrüstung Willi A. Boelcke: Die Kosten von Hitlers Krieg. Kriegsfinanzierung und finanzielles Kriegserbe in Deutschland 1933– 1948. Paderborn 1985; Alan S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939–1945. Stuttgart 1966; Richard J. Overy: War and Economy in the Third Reich. Oxford 1994; Fritz Blaich: Wirtschaft und Rüstung im „Dritten Reich“. Düsseldorf 1987. 101 Spoerer, Von Scheingewinnen (wie Anm. 93), S. 18. 102 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000, S. 1. 103 Manfred Görtemaker: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999, bes. das Kapitel „Wirtschaft und Gesellschaft“, S. 119–198. 104 Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin 2000. 105 Hans Günter Hockerts: Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945–2000, in: VfZG 49 (2001), S. 167–214.

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matik der sog. „Umgründung der Republik“, die schließlich einem gesellschaftlichen Prozess gleichkam, der allein mit der Politischen Geschichte nicht vollkommen erfasst werden kann.106 Wichtig sind natürlich auch die übergreifenden Strukturen und Entwicklungen, die der Politischen Geschichte neue Erkenntnisse ermöglichen können. Der „lange Weg nach Westen“107 ist ohne die generationsspezifischen Veränderungen kaum zu verstehen; auch die „Ankunft im Westen“108 nimmt die gesellschaftlichen Veränderungen und Verankerungen mit Hilfe der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in den Blick und betont das Prozesshafte, das von der Politischen Geschichte nicht immer genügend erfasst wird. Dabei muss man nicht so weit gehen wie Werner Abelshauser, dass „die Geschichte der Bundesrepublik […] vor allem ihre Wirtschaftsgeschichte“ sei,109 um die große Bedeutung ökonomischer und sozialer Prozesse für die gelungene Einbindung der Bundesrepublik in den Westen nachzuvollziehen. Dass die Geschichte Westdeutschlands eine „Erfolgsgeschichte“ geworden ist, beruht zweifellos auf der wirksamen und dynamisierenden Kombination von Westbindung und sozialer Marktwirtschaft. Letztlich trifft die Einschätzung von Peter Graf Kielmansegg zu, der für die Politische Geschichte der Bundesrepublik die Ansicht zurückgewiesen hat, die Bundesrepublik sei ein Gemeinwesen, das in erster Linie als „Volkswirtschaft“ zu verstehen sei: „Der frühe und ziemlich lang anhaltende wirtschaftliche Erfolg hat für das westliche Nachkriegsdeutschland eine überragende, eine prägende Wirkung gehabt; er hat der Bundesrepublik Gewicht als Staat unter Staaten gegeben; und er hat dem gesellschaftlichen Wandel die bestimmenden Impulse gegeben. Insofern ist es für die Bonner Republik in der Tat diskutabler als für andere, auf festerem Grund stehende Staaten, in ihrer Wirtschaftsgeschichte in gewissem Sinn den Hauptstrang ihrer Geschichte zu sehen.“110 Eine derart apodiktische Feststellung wirft aber zugleich neue Fragen auf. Eine wichtige Studie aus der Feder von Werner Link hat zwar auf den kaum zu vernachlässigenden Einfluss von Gewerkschaftsvertretern und Managern im deutsch-amerikanischen Dialog aufmerksam gemacht; nichtsdestoweniger lautete das Ergebnis, dass trotz allen Einflusses und aller Entscheidungsautonomie letztlich die Regierungsebene in Washington und Bonn das entscheidende Kriterium im bilateralen Verhältnis dargestellt hat.111 Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen bilden zwar den äußeren Rahmen, aber es sind in letzter Instanz die politischen Akteure, die ausschlaggebend für die politische Entwicklung sind. 106 Vgl. hierzu die entsprechenden Passagen bei Manfred Görtemaker, Geschichte (wie Anm. 103), bzw. die Hinweise bei Anselm Doering-Manteuffel: Deutsche Zeitgeschichte nach 1945, in: VfZG 41 (1993), S. 1–29. 107 Winkler, Der lange Weg nach Westen (wie Anm. 102); ders.: Der lange Weg nach Westen, Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000. 108 Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik. Frankfurt a. M. 1999. 109 Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945–1980). 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, S. 8. 110 Kielmansegg, Nach der Katastrophe (wie Anm. 104), S. 432. 111 Werner Link: Die Rolle der USA im westeuropäischen Integrationsprozeß. Düsseldorf 1972.

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Auch wenn in der Forschung zum Kalten Krieg die „revisionistische“ Schule, die – fußend auf der Argumentation von William Appleman Williams – die ökonomischen Gründe für Ausbruch und Verlauf der Ost-West-Auseinandersetzung als ausschlaggebend bewertet hat, einer „New Cold War History“ Platz gemacht und machtpolitische und ideologische Beweggründe für entscheidende Ursachen hält, helfen Studien, die wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte vereinen, die Phase des „Long Peace“ (John Lewis Gaddis) besser zu verstehen. So hat Hubert Zimmermann die Thematik des transatlantischen Sicherheitssystems und des monetären Systems verbunden, indem er die enormen Besatzungskosten der in Westdeutschland stationierten alliierten Truppen und die damit zusammenhängenden Fragen nach ihrer Finanzierung in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gestellt hat.112 Sicherheit und ihr Preis werden dadurch unter einem Aspekt betrachtet, der bisweilen bei der Beurteilung strategischer Entscheidungen durch die Geschichtsschreibung zu wenig Beachtung findet: In den einschlägigen Zeitschriften VSWG, JbWG, aber auch JEH oder in der JEEH finden sich entsprechend nur wenige Titel zu diesem Themenbereich. Die Betrachtung externer ökonomischer Bedingungen ist für die Politische Geschichte auch deshalb wichtig, weil in jüngster Zeit darauf aufmerksam gemacht wird, wie wichtig die wirtschaftlichen Motive auch für den politischen Zusammenschluss Europas waren113 bzw. wie wirkungsmächtig unterhalb des politisch-administrativen Sektors langfristige Entwicklungstendenzen sein konnten, die nur mittelbar mit den tagespolitischen Entscheidungen zu tun hatten.114 Zentrale Werke über die Ursprünge der Europäischen Union sind ohne wirtschaftliche und soziale Bezüge kaum noch vorstellbar,115 was zuweilen auf die nicht unumstrittene These, etwa bei Susan Strange, zulaufen kann, dass Staaten relativ an Macht verlieren.116 Erstaunlicherweise ist die Bereitschaft, die wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten zu untersuchen, in den Forschungen zur DDR recht weit vorangeschritten; wahrscheinlich weil eine empirische Grundlagenforschung erst seit 1990 möglich war, manche Empfindlichkeiten von Beginn an keine große Rolle spielten. Der Untergang der DDR war das Ergebnis einer politischen und einer ökonomischen Krise, so dass eine isolierte Betrachtung einzelner Sektoren dem Zusammenwirken dieser Faktoren nicht gerecht würde. Beispiele gelungener Synthesen sind die neueren Arbeiten von Jeffrey Kopstein, Oskar Schwarzer und André Steiner über die 112 Hubert Zimmermann: Money and Security: Troops, Monetary Policy, and West Germany’s Relations with the U.S. and Britain, 1950–1971. Cambridge 2002. 113 Andrew Moravcsik: The Choice for Europe: Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht. Ithaca 1998; Kathleen McNamara: The Currency of Ideas: Monetary Politics in the European Union. Ithaca 1999. 114 John Gilligham: Coal, Steel and the Rebirth of Europe, 1945–1955. New York 1991; ders.: Industry and Politics in the Third Reich: Ruhr Coal, Hitler, and Europe. New York 1985. 115 Alan Milward: The European Rescue of the Nation State. 2. Aufl., London 2000. 116 Susan Strange: The Retreat of the State: The Diffusion of Power in the World Economy (Cambridge Studies in International Relations). London 1996. Vgl. hierzu inzwischen auch Roger Tooze/Christopher May (Hg.): Authority and Markets: Susan Strange’s Writings on International Political Economy. London 2002.

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systembedingte Schwäche der DDR-Wirtschaft.117 Der „zweite deutsche Staat“ hatte seit den späten vierziger Jahren mit Enteignungen und zaghaften Reformen, die immer wieder scheiterten, die Wirtschaft der DDR schließlich so verkrustet, dass die wichtigsten Voraussetzungen für eine leistungsfähige Ökonomie fehlten. Die SED hatte zwar seit den siebziger Jahren alle grundlegenden Reformpläne aufgegeben und war daher schlecht auf die weltwirtschaftlichen Herausforderungen der achtziger Jahre vorbereitet. Allerdings wäre die DDR mit ökonomischer und politischer Hilfe von außen durchaus noch überlebensfähig gewesen.118 Die wirtschaftlichen Ursachen allein erklären also nicht den Niedergang der ostdeutschen Diktatur. Zwar hätte Unterstützung von außen nichts an der strukturellen Krise der DDR und an ihrer sich in den achtziger Jahren dramatisierenden ökonomischen Degeneration geändert, aber ein unmittelbarer Zusammenbruch des ostdeutschen Regimes hätte verhindert werden können. III. Was ist also, abschließend gefragt, aus heutiger Sicht der Nutzen der Wirtschaftsund Sozialgeschichte für die Politische Geschichte? Sicherlich sollte man die Erwartungen an „Synergieeffekte“ nicht zu hoch schrauben, zumal niemand genau weiß, was man sich darunter überhaupt vorzustellen hat. Die Lippenbekenntnisse einer Zusammenarbeit kommen, im harten Licht der Tatsachen betrachtet, meist nicht viel mehr als einer salvatorischen Klausel gleich, nach deren Erwähnung sich jede Teildisziplin wieder mit innerer Befriedigung dem widmet, wovon sie am meisten versteht. Die seit Jahrzehnten immer wieder eingeforderte engere Zusammenarbeit ist daher meist gescheitert, so dass zu Recht auf die „starke Spannung zwischen Wünschenswertem und Tatsächlichem“119 hingewiesen wird. So sehr man zu fragen geneigt ist, wie sich diese Defizite erklären, sollte man sich vielleicht doch besser an die ironische Empfehlung von Paul Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ halten, sich auf ein „vernünftiges, erreichbares Ziel“ zu beschränken, anstatt „das Ziel bewunderungswürdig hoch zu setzen“, weil dies nämlich der sicherste Weg zur Enttäuschung sei.120 Letztlich wird man der Bestandsaufnahme Andreas Hillgrubers folgen können, der schon Ende der sechziger Jahre den Ausgangspunkt der politischen Geschichtsschreibung und Forschung damit markiert hat, „auf Ergebnissen der strukturgeschichtlichen Forschung gleichsam ruhend, sich der sozialen Bedingungen der großen politischen Entscheidungen“ bewusst zu sein, aber zugleich den „Handlungs117 Jeffrey Kopstein: The Politics of Economic Decline in East Germany, 1945–1989. Chapel Hill/ London 1997; Oskar Schwarzer: Sozialistische Zentralplanwirtschaft in der SBZ/DDR. Ergebnisse eines ordnungspolitischen Experiments (1945–1989). Stuttgart 1999; André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999. 118 Kopstein, Politics (wie Anm. 117), S. 197. 119 Opgenoorth/Schulz, Einführung (wie Anm. 8), S. 197. 120 Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. 22. Aufl., München/Zürich 2001, S. 65.

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spielraum der Staatsführungen in der Außenpolitik und das Eigengewicht außenpolitischer Entscheidungen“ herauszuarbeiten.121 Mit einem solchen Verständnis vermeidet man zudem die kaum weiterführenden Fragen nach bestimmten „Vorrangansprüche[n]“,122 immer eingedenk jedoch der Grundtatsache, dass „wirtschaftliche Macht nicht unbedingt […] mit strategischer und geopolitischer Macht“ identisch ist.123 Und daher kann dem Appell uneingeschränkt Folge geleistet werden, der jüngst in einer zur Einführung in das Studium der Geschichte gedachten Darstellung vor einer „Tendenz zur Isolierung von Teilaspekten unseres Fachs“ gewarnt hat: „Der Wirtschafts-, Kirchen-, Militärhistoriker kann die Bedeutung seines Gebietes schließlich doch nur richtig sehen, wenn er die Beziehungen zur Allgemeinen Geschichte herstellen kann. Der politische Historiker ist andererseits auf Kenntnisse über die Geschichte aller Lebensgebiete angewiesen. […] Die Verpflichtung, uns nicht in Teilgebiete abzukapseln, besteht nicht nur vor unserem Fach, sondern vor der Wissenschaft überhaupt. Wenn Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinaus zustande kommen soll, dann hat das Fach Geschichte dabei eine wichtige Aufgabe: Brücken zu schlagen zwischen allen Disziplinen, deren Gegenstand einen geschichtlichen Aspekt hat.“124

121 Andreas Hillgruber: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Düsseldorf 1969, S. 5. 122 Opgenoorth/Schulz, Einführung (wie Anm. 8), S. 196. 123 Kagan, Macht (wie Anm. 6), S. 27. 124 Opgenoorth/Schulz, Einführung (wie Anm. 8), S. 198 f.

Florian Tennstedt SOZIALWISSENSCHAFT – SOZIALRECHT – SOZIALGESCHICHTE. KOOPERATION UND KONVERGENZ AM BEISPIEL DER SOZIALPOLITIK * 1. Die Gegenwart: Sozialpolitik in der Krise – sozialpolitische Forschung im Aufwind Die Sozialleistungsquote, die Auskunft über das volkswirtschaftliche Gewicht sozialer Leistungen gibt, betrug in der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahr (2002) 32 Prozent, in den neuen Bundesländern über 50 Prozent. Allein schon wegen dieser Höhe ist die Ausgestaltung der Sozialpolitik ein wesentlicher Teil des gegenwärtigen innenpolitischen Diskurses, und die Sozialpolitik kann sich wegen ihrer Bedeutung für die Sozialintegration gegen die Diskursmacht der Volkswirte durchsetzen. Allerdings wird Sozialpolitik nicht mehr – wie bis zur ersten Hälfte der siebziger Jahre – als adäquates Mittel zur Aussöhnung der Anforderungen des wirtschaftlichen Wachstums mit denen der sozialen Gerechtigkeit gesehen, sondern als Krisenfaktor, den es gelte, „in den Griff“ zu bekommen, zumindest so einzuhegen, dass er – vor allem auch zukünftig – tragbarer wird.1 Die Frage nach der „richtigen“ Sozialpolitik ist im Grunde recht alt, nur schien die Antwort früher leichter und von geringerer Relevanz für Gegenwart und Zukunft als heute. Die Krise ist meist interessanter als die stetige Entwicklung, und so hat wohl auch diese zu gestiegenem wissenschaftlichen Interesse an der Sozialpolitik beigetragen,2 zu einem vielfältigen Aufschwung der wissenschaftlichen Produktivität, gefördert von analytischen, kritischen, legitimatorischen oder wissenschaftsimmanenten Interessen. Dieser begann bei den traditionsreichen Kerndisziplinen Volkswirtschaft und Jurisprudenz3, ergriff dann Soziologie4 sowie Geschichtswissenschaft * 1

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Für Hinweise und Kritik danke ich Stephan Leibfried (Bremen), Lutz Leisering (Bielefeld) und Günther Schulz (Bonn). Maurizio Ferrera/Martin Rhodes (Hg.): Recasting European Welfare States. London 2000; Paul Pierson (Hg.): The New Politics of the Welfare State. Oxford/New York 2001; Stephan Leibfried/Uwe Wagschal (Hg.): Der deutsche Sozialstaat. Bilanzen – Reformen – Perspektiven. Frankfurt a. M. 2000; Thomas Olk/Adalbert Evers/Rolf G. Heinze (Hg.): Baustelle Sozialstaat. Umbauten und veränderte Grundrisse (Sozialpolitik in Europa 9). Wiesbaden 2001; Christian Toft (Hg.): Politische Ansätze und Trends der gegenwärtigen Reform des Wohlfahrtsstaates (Sozialpolitik in Europa 10). Wiesbaden 2003. Der Beginn der gegenwärtigen Krise wird meist auf die Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts datiert, hinsichtlich der Wissenschaftsentwicklung sind noch weitere Faktoren, wie etwa der Ausbau der Hochschulen, Forschungseinrichtungen u. a., zu beachten, sodann ein gewisser „cultural lag“ usw. Für die interdisziplinäre Offenheit der Rechtswissenschaft sei auf die Arbeiten des Verfassungsrechtlers Hans F. Zacher hingewiesen; siehe zu seinem Werk: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher. Heidelberg 1998 (mit Beiträgen der Historiker Hans-G. Hockerts und Gerhard A. Ritter, der Sozialwissenschaftler Franz X. Kaufmann und

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und zuletzt auch die Politologie5, die jüngste Disziplin. Die Disziplinen Soziologie, Politologie und – wie unscharf und strittig auch immer – „die“ Sozialpolitik6 subsumiere ich nachfolgend unter Sozialwissenschaften. Mit entsprechend disziplinärer Ausrichtung wurden nach und nach universitäre Lehrstühle für Sozialpolitik eingerichtet, erschienen Lehrbücher und Darstellungen; ihre Zahl ist allerdings nach wie vor eher bescheiden. Der Staat hat die wissenschaftliche Forschung über seine sozialpolitischen Aktivitäten wenig gefördert, auf dem von ihm weniger gestaltbaren Sektor der Wirtschaft forschen sechs entsprechende Institute. Kleine, sich eher historisch in der Defensive sehende Ressorts, wie die Landwirtschaftsministerien, tun erheblich mehr für „ihre“ universitäre Verankerung als Großressorts nach Art des (bis 2002) Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (und seinen Entsprechungen auf Landesebene), die sich in dieser Frage gar nicht erst engagiert haben. Im Ausland ist manches anders, was die Entwicklung der Disziplin (social policy, social administration) und historische Sozialpolitikstudien angeht.7 Die Sozialpolitikforschung an den Universitäten in Deutschland war sicher auch deshalb wenig entwickelt, weil die sozialpolitischen Institutionen bzw. die dort tätigen Amtsinhaber sich ihre exklusiven Sinnwelten mit eigenen Aufstiegsprozessen8, Ausbildungsstätten9 und Medien geschaffen hatten und meinten, die professionelle

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Dieter Schäfer!). Zachers begrifflich-typisierende Prägungen zur Orientierung im „Chaos“ der Sozialpolitik sind heute analytisches Gemeingut und haben frühere überholt, seitens der Soziologie wirkte Franz X. Kaufmann ähnlich innovativ. Als Schlüsselereignisse sind hier der 18. Deutsche Soziologentag in Bielefeld 1976 zu nennen; vgl. Christian von Ferber/Franz X. Kaufmann (Hg.): Soziologie und Sozialpolitik (KZSS, Sonderheft 19). Opladen 1977; ferner die Gründung der Sektion „Soziologie und Sozialpolitik“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie mit der Kooptation der Zeitschrift für Sozialreform als Sektionsorgan; vgl. dazu auch Franz X. Kaufmann: Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen. Opladen 2002, S. 13 ff. Die besonders einschlägigen Veröffentlichungen der Disziplinen Geschichtswissenschaft und Politologie werden nachfolgend genannt; insgesamt kann es aber nur eine Auswahl sein. Ein Schwerpunkt liegt bei kontinuierlich durchgeführter Forschung aus institutionellen Kontexten (Forschergruppen, MPI usw.). Eine Bibliographie der neueren Literatur zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland enthalten die Anmerkungen des Beitrags von Michael Stolleis: Historische Grundlagen. Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik. Baden-Baden 2001, S. 199–331. Franz X. Kaufmann kommt in seiner begriffsgeschichtlichen Studie zu dem Schluss, dass die „fortgesetzte Attraktivität des Begriffs und seine bleibende Unschärfe“ auf „das Interesse, daraus ein akademisches Fach zu machen“ zurückzuführen ist. (Der Begriff Sozialpolitik und seine wissenschaftliche Deutung, in: Bundesministerium u. a. (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 5), S. 7–101, hier 100). So ist die Oxforder Sozialpolitikexpertin Jane Lewis auch Historikerin, vgl. Jane Lewis: Das Vereinigte Königreich: Auf dem Weg zu einem neuen Wohlfahrtsmodell unter Tony Blair?, in: Zeitschrift für Sozialreform 47 (2001), S. 585 ff.; neben London sind York, Bath und Sussex als Forschungszentren mit interdisziplinärer Ausrichtung zu nennen. Der durch die Reichsversicherungsordnung geschaffene „DO [Dienstordnungs-]Angestellte“ bei den gesetzlichen Krankenkassen sei als persönlichkeitsprägender Typus genannt. Über die eigenen Aus- und Fortbildungsstätten der Sozialleistungsträger bis hin zu eigenen Fachhochschulen der Bundesanstalt für Arbeit (in Mannheim), der Bundesversicherungsanstalt

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Kompetenz und Unabhängigkeit einer universitären Wissenschaft nicht zu benötigen. Aufgrund dieser „Hausgut“-Strategie war und ist ein Gutteil der Forschung und Lehre zum Sozialstaat partikularisiert und „trägerintern“, nicht zuletzt auch legitimatorisch ausgerichtet. In diesem Sinn funktionierte vor allem auch eine eigene Verbandsgeschichtsschreibung. Grundlagenforschung schien nicht notwendig – letztlich gab es auch keine Not in diesem Sinne. Seit Jahrzehnten war es gängige Praxis, pensionierten Verbandsgeschäftsführern das Schreiben einer Geschichte ihrer Institution – z. B. zu Jubiläen – zu übertragen, wo erfahrungssatte Erinnerungen aufschlussreicher gewesen wären. Die Reihe solcher Hausgeschichtsschreibung beginnt bei Eugen Schirbel10, geht über Hans Töns (Krankenversicherung)11 und endet vorläufig bei Ernst Wickenhagen und Kurt Noell (Unfallversicherung)12, um nur einige zu nennen. Hier haben disziplinärer Aufschwung und institutionelle Öffnung der Sozialpolitik seit den siebziger Jahren eine gewisse Öffnung, allerdings keine Wende im Sinne eines Anschlusses an das allgemeine Hochschulsystem bewirkt.13 Auffallend ist, dass Juristen und Sozialwissenschaftler neben systematischstrukturellen auch historisch-genetische Fragestellungen auf dem Felde der Sozialpolitik verfolgt und – wie methodisch unvollkommen auch immer – bearbeitet haben. Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass sozialpolitikgeschichtliche Fragestellungen von Fachhistorikern wenig beachtet und bearbeitet worden waren. Der historisch ausgerichtete Aufbruch in Jurisprudenz14 und Sozialwissenschaften15 be-

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für Angestellte (in Berlin) und der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (in Kassel) gibt es keine Monographie. Eugen Schirbel: Geschichte der sozialen Krankenversorgung vom Altertum bis zur Gegenwart. 2 Bände. Berlin o. J. (1929/33); der Vertrieb des zweiten Bandes dürfte Anfang 1933 durch das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen den Hauptverband deutscher Krankenkassen verhindert worden sein; andererseits kritisierte der aus der RGO-KPD Tradition stammende Paul Peschke die Monographie als „Schirbellegende vom ‚sozialen Königtum‘ im Prachteinband“ (Geschichte der deutschen Sozialversicherung. Berlin 1962, S. 387). Hans Töns: Hundert Jahre gesetzliche Krankenversicherung im Blick der Ortskrankenkassen. Bonn 1983. Ernst Wickenhagen: Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung. 2 Bände. München/Wien 1980; die Spitzenverbände der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger haben eine Ausarbeitung ihres Gründers, des Hauptgeschäftsführers Kurt-Wilhelm Noell, publiziert: Kurt-Wilhelm Noell und seine Gedanken und Erinnerungen. Kassel 2002. Dabei dürfte auch der Generationenwechsel eine Rolle gespielt haben. Die Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesverband der Ortskrankenkassen haben inzwischen eigene professionell ausgestattete Forschungsinstitute, der Verband deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) hat kooperative Forschungsnetzwerke „Alterssicherung“ und „Rehabilitation“ geschaffen, Grundlagenforschung universitärer Institute gefördert und Handbücher nach den üblichen Standards mit auf den Weg gebracht, z. B.: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, hg. von Franz Ruland. Neuwied 1990 (mit historischen Beiträgen!). Dafür stehen die dreistufige Tagungsreihe der Arbeitsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft für internationales und vergleichendes Sozialrecht zwischen 1978 und 1981 (Peter A. Köhler/Hans F. Zacher (Hg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung. Berlin 1981), wie die zahlreichen einschlägigen Arbeiten des Rechtshistorikers und Öffentlichrechtlers Michael Stolleis (vgl. zuletzt: Anm. 5), Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a. M.

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gann in den siebziger Jahren zunächst fast ohne Historiker. Dabei war in diesen Disziplinen weitgehender Konsens, dass das jeweilige sozialpolitische Geschehen so beschaffen sei, dass es mangels einer spezifischen Idee und Rationalität des Sozialstaats vielfach nur historisch-institutionell hinreichend zu erklären sei, aktuelle Probleme durch die Geschichte zwar nicht beherrscht, aber nur mit ihrer Kenntnis vertieft verstanden werden können.16 Was konnte die Geschichtswissenschaft zu Antworten auf damals gestellte sozialwissenschaftliche Fragen zur Geschichte der Sozialpolitik Mitte der Siebziger beitragen?17 Wie entstand und erklärt sich z. B. die relativ intensive Durchnormierung des sozialpolitischen Feldes (Bürokratisierung und „Verrechtlichung“),18 wie die wesentliche Rolle der Verbände, die (neo-) korporativistische Politikgestaltung der Sozialpolitik?19 Die historische Perspektive greift zu kurz, wenn sie nur als „nacherzählte Ereignisabfolge oder als Identifikation statischer Folgewirkungen“ verstanden wird,20 aber selbst eine schlichte „nacherzählte Ereignisabfolge“ fehlte vielfach. Immerhin hat die Jubilarin VSWG bereits in den fünfziger und sechziger Jahren grundlegende Arbeiten zur Sozialpolitikgeschichte veröffentlicht.21 Der Sozialpolitikforschung zugute kam dann auch eine – zunächst nicht von ihr ausgehen15 Genannt seien hier nur die Studien aus dem Umfeld des MPI für Gesellschaftsforschung Köln, z. B. seines früheren Mitarbeiters Jens Alber: Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950–1983. Frankfurt a. M. 1989; ders.: Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M. 1992; neuerdings insbesondere von Philip Manow: Die Sozialversicherung in der DDR und der BRD 1945–1990. Über die Fortschrittlichkeit rückschrittlicher Institutionen, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 40–61; Philip Manow: Kapitaldeckung oder Umlage? Die Geschichte einer anhaltenden Debatte, in: Stefan Fisch/Ulrike Haerendel (Hg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland: Beiträge zur Entstehung, Entwicklung und vergleichenden Sozialordnung der Alterssicherung im Sozialstaat. Berlin 2000, S. 145–168. 16 Hans F. Zacher: Die Dilemmata des Wohlfahrtsstaates, in: Stimmen der Zeit 126 (2001), S. 363– 376 = Wirtschaft & Wissenschaft 9 (2001), S. 48–57. 17 Der amerikanische Historiker Peter Baldwin bemerkte noch 1990, die Historiker hätten das Studium des Wohlfahrtsstaates vernachlässigt und „nicht viel mehr als einige Biographien der wichtigsten Sozialreformer und verschiedene Länderstudien produziert“; ders.: Die sozialen Ursprünge des Wohlfahrtsstaates, in: Zeitschrift für Sozialreform 36 (1990), S. 677–693, hier 677. Hinzugefügt werden muss allerdings, dass diese Grundlagen typologischer Wohlfahrtsstaatsforschung sein können! 18 Stephan Leibfried: Stellenpolitik als Wissenschaftspolitik: „Sozialrecht“ oder was sonst?, in: Zeitschrift für Sozialreform 19 (1973), S. 692–715. 19 Philip Manow/Marian Döhler: Korporativierung als gesundheitspolitische Strategie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 3 (1992), S. 64–106. 20 Marian Döhler/Philip Manow: Strukturbildung von Politikfeldern. Das Beispiel bundesdeutscher Gesundheitspolitik seit den fünfziger Jahren. Opladen 1997, S. 10. 21 Genannt seien nur Karl Erich Born: Sozialpolitische Probleme und Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: VSWG 46 (1959), S. 29 ff.; Hansjoachim Henning: Preußische Sozialpolitik im Vormärz?, in: VSWG 52 (1965), S. 485 ff.; Wolfgang Köllmann: Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Preußen bis 1869, in: VSWG 53 (1966), S. 28 ff.; Dieter Lindenlaub: Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914) (VSWG, Beihefte 52 und 53). Wiesbaden 1967.

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de – institutionalistische Ausrichtung von nicht-mathematisierter Ökonomie und Politologie in der jüngsten Zeit, die an die Historische Schule der Nationalökonomie erinnert. Insgesamt haben in den letzten dreißig Jahren auf dem Gegenstandsfeld Sozialpolitik alle genannten Disziplinen voneinander gelernt, sodass „Sozialpolitik“, insbesondere die genetisch-historische Erforschung ihrer Institutionen, ein ausgezeichnetes Feld für die Kooperation geworden ist. Mitunter ist es heute nicht einfach, durch die bloße Textlektüre festzustellen, ob eine Abhandlung von einem gelernten Historiker stammt oder von einem Politologen,22 wenn man von der Begrifflichkeit und dem Versuch absieht, jeweils einen systematischen Ansatz mit theoretisch begründeter Fragestellung zur Binnenstrukturierung zu finden. Politologen und Zeithistoriker stehen im Hinblick auf die sozialpolitische Materie, die zeitliche Distanz zu ihr und ihr empirisches Vorgehen nahezu in Konkurrenz: Sie interviewen oder befragen im Prinzip dieselben Akteure und Zeitzeugen, analysieren dieselben Daten und Texte – an Differenz bleibt dann vielfach nur, ob mehr oder weniger immanente Problemvarianten der Einzelphänomene nachgezeichnet werden oder von „äußeren“ Fragestellungen, z. B. dem Föderalismusproblem, der Verbändedominanz oder den Vetopolitik-Strukturen ausgegangen wird.23 Inzwischen sind manche einst aktuell ausgerichtete Forschungen selbst schon wieder Geschichte, zumindest historische Quellen geworden. Größere Differenzen sind feststellbar, wenn man weiter in die Vergangenheit geht oder in die Zukunft blickt. Juristen sind weniger an der Entstehung einer Norm als an der Entwicklung von deren Geltung und Interpretation interessiert. Bei der Vergangenheitsforschung wird die Schwelle zur aufwendigen Quellenforschung von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern relativ selten überschritten. Als Beispiel dafür sei nur die neueste Debatte zu Institutionalismus und Pfadabhängigkeit in der Sozialpolitik genannt, die auf eine genetisch-historische Sicht abstellt, die notwendige Vergangenheitserforschung ist aber unter diesen Aspekten meist nicht geleistet – die schmackhaften Forschungsnüsse sind geliefert, nicht aber aufgeknackt, geschweige denn gegessen worden!24 Das konsequente Durchprüfen von ein oder zwei quantitativ ausgerichteten Fragen unter Anwendung quantitativ-statistischer Verfahren ist eher Sache von Ökonomen und Politologen als von Historikern. Sodann ist es wohl so, dass die Rechtsprechungsanalyse Sozialhistoriker selten anlockt, ist hier doch die interessante Faktizität nur mittelbar zu erschließen. Dabei 22 Vgl. z. B. Jens Alber, Gesundheitswesen (wie Anm. 15); hinsichtlich der DDR: Manfred G. Schmidt: Grundlagen der Sozialpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Bundesministerium u. a. (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 5), S. 685–797. 23 Ursula Münch: Sozialpolitik und Föderalismus. Zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat. Opladen 1997. Vgl. auch Herbert Obinger/Stephan Leibfried: Introduction: Federalism and Social Policy. Comparative Perspectives on the Old and the New Politics of the Welfare State, vervielfältigtes Manuskript, Bremen, Zentrum für Sozialpolitik 2002. 24 Vgl. dazu die methodologischen Aufsätze von Paul Pierson: The Path to European Integration: A Historical-Institutionalist Analysis, in: Wayne Sandholtz/Alec Stone Sweet (Hg.): European Integration and Supranational Governance. Oxford 1998, S. 27 ff.; ders.: Increasing Returns, Path dependence and the Study of Politics, in: American Political Science Review 94 (2000), S. 251–267; Gerhard Göhler (Hg.): Institutionenwandel (Leviathan, Sonderheft 16). Opladen 1996.

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kommt ihr gerade in Deutschland wegen der ausgeprägten Verrechtlichung von Sozialpolitik seit langem ein maßgeblicher Anteil an den sozialpolitischen Fortschritten wie an Verzögerungen zu – ihre Reichweite sollte nicht unterschätzt werden.25 An der besonderen Zukunftsdebatte wiederum beteiligen sich die Historiker bislang nicht, weil sie die Ansicht vertreten, dass hier ihr disziplinäres Reich aufhört. Die wenigen Ausnahmen hiervon sind nicht überzeugend ausgefallen.26 Die gemeinsam von Historikern und Sozialwissenschaftlern bearbeiteten Teilmengen auf dem Felde der Sozialpolitik sind also relativ groß, und es ist sinnvoll, eine vorläufige Gesamtbilanz für Deutschland zu ziehen. Dann mag auch in Zukunft weiterhin gemeinsam oder parallel geackert werden. Allerdings ist absehbar, dass die nationale Sicht allein nicht mehr die Zukunft der Sozialpolitik und ihrer Erforschung sein wird!27 2. Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik – Fortschritte und Defizite Im Anschluss an die 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die 1989 in Heidelberg stattfand, hat Hans Pohl in dem Beiheft 95 der VSWG, das diese dokumentiert, eine Kurzdarstellung wie Forschungsbilanz des Themas Sozialpolitik geschrieben, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reicht und neben der staatlichen und städtischen auch die betriebliche und kirchliche Politik einbezieht.28 Dieser weite Weg soll hier nicht erneut beschritten werden, im Folgenden geht es nur um die in der Zeit der Reichsgründung einsetzende staatliche Sozialpolitik mit ihrem Kernbereich Soziale Sicherung. Vor allem auf diesen bezieht sich auch die eingangs genannte Sozialleistungsquote. Mit ihr beginnt die öffentliche Organisierung der Verteilungssphäre einer Gesellschaft, mit ihr entsteht eine neue staatliche Kernfunktion, die heute als Sozialstaat oder Wohlfahrtsstaat (abgeleitet von „welfare state“) bezeichnet wird. Zu dem Sektor „Soziale Sicherung“ finden sich auch die meisten historischen Beiträge von Juristen und Sozialwissenschaftlern. Geht man erheblich weiter zurück, treten andere Wissenschaften an ihre Stelle – etwa Theologie, dabei ist das Gegenstandsfeld allerdings auf die Armenfürsorge 25 Grundlegend dazu und materialreich der vom Deutschen Sozialrechtsverband herausgegebene Sammelband: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgabe der Rechtsprechung. Köln 1984; eine Fortführung fehlt, als Einstieg in eine solche gut geeignet ist Franz Ruland/Bernd Baron von Maydell (Hg.): Sozialrechtshandbuch. 3. Aufl., Baden-Baden 2003. Eine umfangreiche Fallstudie ist die Habilitationsschrift von Heinz Barta: Kausalität im Sozialrecht. Entstehung und Funktion der sogenannten Theorie der wesentlichen Bedingung. Analyse der grundlegenden Judikatur des Reichsversicherungsamtes in Unfallversicherungssachen (1884–1914). 2 Bände. Berlin 1983. 26 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. München 1999, S. 517 ff. 27 In die nachfolgende Darstellung der Aspekte, Facetten, Strömungen gehen subjektive Eindrükke und Erfahrungen ein. Es wird nicht beansprucht, eine vollständige und „objektive“ Gesamtübersicht zu geben. Das gilt vor allem nicht bei den bibliographischen Angaben, die nur eine Auswahl geben können, vgl. ergänzend die Angaben der in Anm. 1 und 5 genannten Arbeiten. 28 Stuttgart 1991.

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beschränkt.29 Auch Kirchenhistoriker haben sich hier mit besonderem Erfolg betätigt, ihre Ergebnisse sind „anschlussfähig“ und interessant für weitere Disziplinen geworden.30 Die genuin historischen Forschungen zur Sozialpolitik überwiegen, wenn man über das 19. und 20. Jahrhundert zurückgeht, allein schon wegen der notwendigen Schriftkenntnisse beim Studium archivalischer Quellen. Diese Zeiten und nichtstaatlichen Wohlfahrtsbereiche erscheinen aber auch wegen der von der Gegenwart für verschieden erachteten „Strukturbedingungen“ für Nichthistoriker weniger interessant. Ausnahmen bestätigen die Regel, so hat etwa die Rolle des Christentums und einzelner Konfessionen bei der Entstehung sozialstaatlicher Strukturen sozialwissenschaftliche Analysen herausgefordert,31 wurde auch die Fürsorge des 18. Jahrhunderts von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern analysiert.32 Eigenständige Gesamtdarstellungen zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik sind von Autodidakten (so Friedrich Kleeis33), von Juristen (so Horst Peters34 und Michael Stolleis35), Historikern (Volker Hentschel36 und Gerhard A. Ritter37), 29 Das im Kontext konfessioneller Auseinandersetzungen entstandene Pionierwerk von Georg Ratzinger: Geschichte der kirchlichen Armenpflege. Freiburg 1868, hat unlängst einen Neudruck erlebt (Frankfurt a. M./Freiburg 2001, allerdings der 2. Aufl. von 1884). Der jüngste wissenschaftliche Durchbruch auf diesem Gebiet ging aber von historischen Dissertationen aus, so von Thomas Fischer: Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Göttingen 1979, und Robert Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der Frühen Neuzeit. Köln/Wien 1984. 30 Hinzuweisen ist hier z. B. auf Martin Gerhardt: Ein Jahrhundert Innere Mission. 2 Bände. Gütersloh 1948; Erwin Gatz: Kirche und Krankenpflege im 19. Jahrhundert. München u. a. 1971; sodann – als Beispiele für Grundlagenforschung – auf Erwin Iserlohs Studien und Editionen zu Wilhelm E. Ketteler (dazu: Klaus Ganzer: Bischof Emmanuel Freiherr von Ketteler. Zum Abschluß der Werk- und Briefedition. Stuttgart 2002); Peter Meinholds Studien und Editionen zu Johann H. Wichern. 31 Franz X. Kaufmann: Christentum und Wohlfahrtsstaat, in: Zeitschrift für Sozialreform 34 (1988), S. 65–89; Philip Manow: The Good, the Bad and the Ugly; Esping-Andersens Sozialstaats-Typologie und die konfessionellen Wurzeln des westlichen Wohlfahrtsstaates, KZSS 54 (2002), S. 203–225; (einleitend auch) Birgit Fix: Religion und Familienpolitik. Deutschland, Belgien, Österreich und die Niederlande im Vergleich. Wiesbaden 2001. 32 Z. B. Peter Albrecht: Armenfürsorge, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 2, hg. von Notker Hammerstein/Ulrich Herrmann, München (i.E.); ders.: Die Reform der Braunschweigischen Armenanstalt nach Hamburger Vorbild 1796–1805, in: Zwangsläufig oder abwendbar? 200 Jahre Hamburgische Allgemeine Armenanstalt. Hamburg 1990, S. 166–187; bis in das Altertum und Mittelalter zurück geht der Sozialökonom Frank Schulz-Nieswandt: Die Gabe – Der gemeinsame Ursprung der Gesellung, in: Zeitschrift für Sozialreform 47 (2001), S. 75–92; ders.: Gilden als „totales soziales Phänomen“ im europäischen Mittelalter. Weiden/ Regensburg 2000; ders.: Zur Genossenschaftsartigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Weiden/Regensburg 2002. 33 Friedrich Kleeis: Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland. Berlin 1928 (Reprint Bonn 1981). 34 Horst Peters: Die Geschichte der sozialen Versicherung. 3. Aufl., Bonn 1978. 35 Vgl. Anm. 5; eine erweiterte Buchausgabe ist: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland. Stuttgart 2003. 36 Volker Hentschel: Geschichte der deutschen Sozialpolitik (1880–1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht. Frankfurt a. M. 1983. 37 Gerhard A. Ritter: Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Opladen 1998.

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Ökonomen (so Johannes Frerich und Martin Frey38) und Politologen (so Manfred G. Schmidt39) vorgelegt worden. Eine historische Bilanz und Gesamtdarstellung ist auch das erwähnte, von Hans Pohl 1991 herausgegebene Beiheft 95 der VSWG. Hand- und Lehrbücher der Sozialpolitik wie des Sozialrechts enthalten fast alle mehr oder weniger umfangreiche historische Abrisse als Einführung.40 In der Regel sind diese aber sehr „national“ ausgerichtet, die vergleichenden Ausblicke sind nicht darauf gerichtet, die besondere Gestalt von Sozialstaat oder „welfare state“ herauszupräparieren. Anders als noch vor etwa 30 Jahren ist also an Darstellungen zur Geschichte der Sozialpolitik, insbesondere der Sozialversicherung, kein Mangel. Allerdings: Eine die maßgeblichen Forschungsergebnisse der jüngsten Zeit aufgreifende Gesamtdarstellung „aus einem Guss“, die vor allem auch Fragen nach den Wirkungen (incl. Belastungen!) aufgreift, gibt es für den hier interessierenden Zeitraum (noch) nicht, es fehlen trotz zahlreicher Fortschritte noch zahlreiche Spezialstudien, auf denen sie umfassend aufbauen könnte. Was spezifisch historische Forschung auszeichnet, ist der Gebrauch von (archivalischen) Quellen. Diese sind für die Anfänge des deutschen Weges zur Sozialpolitik relativ früh veröffentlicht worden, und zwar durch den bayerischen Finanzwissenschaftler und Bismarckverehrer Heinrich von Poschinger, der in seiner 1890 veröffentlichten Sammlung „Fürst Bismarck als Volkswirth“ und weiteren Veröffentlichungen zahlreiche ministerialinterne Schriftstücke publizierte.41 Diese sind bis in die jüngste Zeit hinein die entscheidende Quellenbasis für Darstellungen zur Sozialpolitik der Bismarckzeit geblieben, obwohl ihnen mannigfache Mängel anhaften.42 Auf von Poschinger griffen dann auch die Historiker Hans Rothfels und Werner Frauendienst zurück: Rothfels revidierte ihn marginal, Frauendienst verwies schlicht auf ihn, ergänzte ihn aber um einige wichtige Stücke.43 Dieser Praxis sind spätere Quellensammlungen zu Bismarck und der Bismarckzeit gefolgt. Rothfels hat dann aus dem für die Bismarcksche Sozialpolitik zentralen Nachlass Theodor Lohmanns weitere Stücke publiziert und zitiert, erst in jüngster Zeit sind durch die Bände der I. und II. Abteilung der von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur verantworteten „Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik“, die von einem interdisziplinären Team herausgegeben und bearbeitet wird, diese frühen Quellensammlungen überholt.44 Die Mainzer Quellensamm38 Johannes Frerich/Martin Frey: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. 3 Bände. 2. Aufl., München 1996. 39 Manfred G. Schmidt: Sozialpolitik. 2. Aufl., Opladen 1998. 40 Jörg Althammer/Heinz Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik. 6. Aufl., Berlin 2001; Bertram Schulin (Hg.): Handbuch des Sozialversicherungsrechts. 4 Bände. München 1994/99. 41 Heinrich von Poschinger: Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck. 2 Bände. Berlin 1890/91 (ND Frankfurt a. M. 1981). 42 Lothar Machtan: Von Kreissägen und anderen „Gefahren, die das menschliche Leben überall bedrohen“, in: Patient Geschichte. Für Karl Heinz Roth, Frankfurt a. M. 1993, S. 141–165. 43 Hans Rothfels (Hg.): Otto von Bismarck. Deutscher Staat. Ausgewählte Dokumente. München 1925; Bismarck: Gesammelte Werke („Friedrichsruher Ausgabe“), Band 6c (Politische Schriften 1871 bis 1890), hg. von Werner Frauendienst. Berlin 1935. 44 Vgl. zum laufenden Stand der Edition: www.uni-kassel.de/fb4/akademie.

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lung bietet durchweg verlässlichere und mehr vollständig edierte Stücke und Angaben zu deren Entstehung als ihre Vorgänger. Demgegenüber wird die Reihe quellenfundierter Darstellungen nahezu völlig von Fachhistorikern bestritten. An der Spitze steht Hans Rothfels mit seiner Monographie über „Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik“, gefolgt von Walter Vogel mit seiner Monographie über „Bismarcks Arbeiterversicherungspolitik“, die neben Akten vor allem auch Nachlässe heranzog.45 Der in diesen Arbeiten, die Nebenprodukte von geplanten, aber nicht vollendeten Quellensammlungen sind, noch vorherrschende politikgeschichtliche Fokus wurde dann durch den Aufschwung der sozialhistorischen Forschung in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ergänzt. Hier ist zunächst auf die Initiative der Mainzer Akademie unter Peter Rassow zu einem neuen Anlauf in Sachen Quellensammlung zu verweisen. In diesem Rahmen entstanden vor allem Studien von Karl Erich Born und Hansjoachim Henning.46 Als ein weiteres positives Schlüsselereignis ist das hundertjährige Jubiläum der Kaiserlichen Sozialbotschaft vom 17. November 1881 zu nennen, zu dem die von der Max-Planck-Gesellschaft geförderte Projektgruppe für internationales und vergleichendes Sozialrecht in München ein historisch ausgerichtetes wissenschaftliches Symposium mit beachtlichem Ertrag und Folgewirkungen veranstaltete.47 Ausgehend von seinem Beitrag für dieses Symposium hat sich dann vor allem der Historiker und Politologe Gerhard A. Ritter mit der Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats, auch unter vergleichender Perspektive, nachhaltig und erfolgreich beschäftigt.48 Der Münchner Tagung war 1978 eine wissenschaftliche Tagung vorangegangen, die das Deutsche Historische Institut London und das Wissenschaftszentrum in Berlin veranstalteten und die mit dem Thema „Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950“ den Vergleich recht früh betonte.49 Diesen hat von englischer Seite seitdem kontinuierlich Peter Hennock fortgeführt.50 45 Hans Rothfels: Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik (1871– 1905). Berlin 1927; Walter Vogel: Bismarcks Arbeiterversicherung, ihre Entstehung im Kräftespiel der Zeit. Braunschweig 1951. 46 Vgl. Hansjoachim Henning: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1995. München 1996, S. 22–27; ders.: Karl Erich Born (1922–2000), in: Zeitschrift für Sozialreform 46 (2000), S. 575–578. 47 Köhler/Zacher (Hg.), Ein Jahrhundert (wie Anm. 14). 48 Gerhard A. Ritter: Sozialversicherung in Deutschland und England, Entstehung und Grundzüge im Vergleich. München 1983 (auch engl. 1986); ders.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. 2. Aufl., München 1991; ders.: Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Opladen 1998; ders.: Bismarck und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung. Pforzheim 1998. 49 Wolfgang Mommsen (Hg.), Stuttgart 1982. 50 E. Peter Hennock: British Social Reform and German Precedents. The Case of Social Insurance 1880–1914. Oxford 1987; ders.: Arbeiterunfallentschädigung und Arbeiterunfallversicherung. Die britische Sozialreform und das Beispiel Bismarcks, in: GG 11 (1985), S. 19–36; ders.: German Models for British Social Reform. Compulsory Insurance and the Elberfeld System of Poor Relief, in: R. Muhs/J. Paulmann/W. Steinmetz (Hg.): Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert. Bodenheim 1998,

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Einen Ertrag hinsichtlich der Entstehung der Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich brachten dann auch die in den achtziger und neunziger Jahren veröffentlichten Bismarckbiographien und Geschichten des Deutschen Kaiserreichs, hier sind beispielsweise die Arbeiten von Otto Pflanze und Wolfgang Mommsen zu nennen.51 Pflanzes Darstellung, fast durchgängig auch auf eigenen Archivstudien beruhend, zeigt die Arbeiterversicherungspolitik u. a. im Kontext von Bismarcks allgemeiner Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber der Privatversicherung. Auf der von Hans Pohl organisierten Tagung hat Hansjoachim Henning dann auch deutlich darauf hingewiesen, dass „das Sozialversicherungssystem also weder als politisches Ersatzhandeln unter dem Druck einer sozialistischen Arbeiterbewegung noch als Zuckerbrot und Peitsche zu ihrer Bekämpfung“ entstanden ist und dabei die dahinterstehende Konzeption aus breiter Quellenkenntnis skizziert.52 Dieser Befund wurde durch nachfolgende weitere Quellenstudien bestätigt, die Arbeiterversicherung als gezielt ausgestalteter Faktor der inneren Marktbildung wie der Reichsgründung quellenmäßig belegt, gleichwohl ist die von Franz Mehring hinsichtlich Bismarcks Politik popularisierte Formel von „Zuckerbrot und Peitsche“53 so eingängig und wohl auch für sozialdemokratische Traditionspflege so dienlich, dass sie weiterhin fröhliche Urständ feiert.54 Überhaupt ist „Bismarck“ eine von der Sozialpolitikforschung schwerlich zu relativierende Größe, sein persönlicher Anteil und „Stellenwert“ sind allerdings schwerer zu bestimmen als es die Rede von „Bismarcks Arbeiterversicherung“ oder – neuerdings – „Bismarck-Staaten“ in der vergleichenden Sozialpolitikforschung vermuten lässt. In puncto Entwicklung der Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich griffen Sozialhistoriker in jüngster Zeit Themen auf und bearbeiteten sie, die faktisch einen größeren Stellenwert im Entwicklungsprozess hatten als aus den bisherigen Darstellungen zu schließen war – etwa zum Sektor Bergbau und zum politischen Liberalismus.55 Aber auch zu „altbekannten“ Themen wie Alter und Alterssicherung

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S. 127–142; ders.: Die Anfänge von staatlicher Alters- und Invaliditätsversicherung. Ein deutsch-englischer Vergleich, in: Stefan Fisch/Ulrike Haerendel (Hg.): Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland. Berlin 2000, S. 231–246.; ders.: Art. Welfare State, History of, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Vol. 24, Amsterdam/Oxford 2001, S. 16439–16445. Otto Pflanze: Bismarck, Band 2: Der Reichskanzler. München 1998; Wolfgang Mommsen: Das Ringen um den nationalen Staat. Berlin 1993. Hansjoachim Henning: Bismarcks Sozialpolitik im internationalen Vergleich, in: Pohl (Hg.), Sozialpolitik (wie Anm. 28), S. 195–223, hier 218. Vgl. zur Genese: Hans Matthöfer/Walter Mühlhausen/Florian Tennstedt: Bismarck und die soziale Frage im 19. Jahrhundert (Friedrichsruher Beiträge 16). Friedrichsruh 2001, S. 51 ff. Vgl. z. B. Klaus Tenfelde: Bismarck und die Sozialdemokratie, in: Lothar Gall (Hg.): Bismarck und die Parteien. Paderborn 2001, S. 111–135. Martin H. Geyer: Die Reichsknappschaft. Versicherungsformen und Sozialpolitik im Bergbau 1900–1945. München 1987; Josef Boyer: Unfallversicherung und Unternehmer im Bergbau. Die Knappschafts-Berufsgenossenschaft 1885–1945. München 1995; Wolther von Kieseritzky: Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893). Köln 2002; Holger J. Tober: Deutscher Liberalismus und Sozialpolitik in der Ära des Wilhelmismus. Husum 1999.

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wurden teils durch die Mikro-, teils durch die Makroperspektive wesentliche Fortschritte erzielt.56 Die Sozialpolitik der Weimarer Republik verdankt ihre erste und gründlichste Würdigung dem Ökonomen Ludwig Preller; diese ist allerdings auf die klassischen Materien Sozialversicherung und Arbeitsrecht beschränkt, ihr Material sind die zeitgenössische Publizistik und der persönliche Augenschein des Autors.57 Einen die zwischenzeitlich erzielten Forschungsergebnisse aufnehmenden Sammelband gab Werner Abelshauser 1987 als Beiheft der VSWG heraus, in dem Fragen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Weimarer Wohlfahrtsstaates aufgegriffen wurden.58 Eine erste integrierte Gesamtdarstellung, die Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtspflege zusammen sieht, haben dann – mit primär juristischer und sozialwissenschaftlicher Kompetenz – Christoph Sachße und Florian Tennstedt veröffentlicht.59 Diese thematisiert vor allem auch die Entwicklung der sozialen Dienste und die staatliche Förderung der freien Wohlfahrtspflege, es entstand auf diesem Sektor ein bis heute existierendes, in Westeuropa einmaliges „duales System“, das, wenn man so will, auch nur durch ein historisch einmaliges Bedingungsgefüge in der Weimarer Republik adäquat zu erklären ist, nun jedoch durch Milieuverlust, binnenmarktlichen Kostendruck mit entsprechenden Abänderungen im Jugendhilfe- und Sozialhilferecht, sodann über die praktische Umsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts und schließlich auch durch den WTO-Rahmenvertrag über den Handel mit Dienstleistungen im Rahmen des GATS gefährdet ist.60 Für die Analyse der entscheidenden Fragen zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit liegen ebenfalls ergänzende Studien in den Beiheften der VSWG vor: Anselm Faust hat die Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich dargestellt, eine Fülle von kommunalen Ansätzen, die im Kontext heutiger kommunaler Arbeitsförderung von besonderem Interesse sind, in der die Städte vergangene Fähigkeiten auf neuem Niveau reaktivieren. In dem Sammelband von Abelshauser hat Faust die Gesamtlinie bis zur Weimarer Republik durchgezogen.61 Die große Gesamtdarstellung zu

56 Christoph Conrad: Vom Greis zum Rentner. Göttingen 1994; Ulrike Haerendel: Die Anfänge der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland. Speyer 2001. 57 Ludwig Preller: Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Stuttgart 1949 (ND Düsseldorf 1978). 58 Werner Abelshauser (Hg.): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat (VSWG, Beiheft 81). Stuttgart 1987. 59 Christoph Sachße/Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929. Stuttgart 1988. 60 Allgemein zum Einfluss des Europarechts als „Wettbewerbs-Sozialrecht“ vgl. Görg Haverkate/ Stefan Huster: Europäisches Sozialrecht. Eine Einführung. Baden-Baden 1999, insbes. S. 285– 367; Thomas Fritz/Christoph Scherrer: GATS – Zu wessen Diensten? Hamburg 2002. – Speziell zur freien Wohlfahrtspflege vgl. Thomas Rauschenbach u. a. (Hg.): Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Frankfurt a. M. 1995; zur jüngsten Entwicklung (bis 1998): Chris Lange: Freie Wohlfahrtspflege und europäische Integration. Frankfurt a. M. 2001. 61 Anselm Faust: Arbeitsmarktpolitik im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1986; ders.: Von der Fürsorge zur Arbeitsmarktpolitik. Die Errichtung der Arbeitslosenversicherung, in: Werner Abelshauser (Hg.), Weimarer Republik (wie Anm. 58), S. 260–279.

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Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik von Peter Lewek ist ebenfalls als VSWG-Beiheft erschienen.62 Neben Arbeitslosigkeit war Wohnungsmangel ein gravierendes politisches Problem des Weimarer Wohlfahrtsstaates. Dieses hat Karl Christian Führer in seiner Monographie über „Mieter, Hausbesitzer, Staat und Wohnungsmarkt“, ebenfalls als Beiheft der VSWG erschienen, dargestellt.63 Die Begrenzung von Sozialpolitik auf die klassischen Materien ist im Hinblick auf das aktuelle Verständnis vom Wohlfahrtsstaat unzureichend, zumindest ist hier die Wohlfahrtspflege als wichtiger Finanzier, Organisator und Träger sozialer Dienste einzubeziehen. Hier haben – um nur einige zu nennen – die Historiker Detlev Peukert und Wilfried Rudloff sowie der Jurist Christoph Sachße einander ergänzende Fundamente gelegt.64 Außerdem gibt es zahlreiche Studien über einzelne Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege.65 Neben Staat und Stadt als Träger der Wohlfahrt haben – zumindest in Preußen – auch die Provinzen eine eigenständige Rolle gespielt, die gleichfalls mehrfach hervorgehoben wurde, etwa von dem Historiker Ewald Frie und dem Sozialpädagogen Peter Hammerschmidt.66 Die Sozialpolitik im Dritten Reich fand ihre erste zuverlässige Darstellung durch die sozialwissenschaftliche Dissertation von Wolfgang Scheur, entstanden im Rahmen eines Forschungsprojekts des Volkswirts Philipp Herder-Dorneich am Sozialpolitischen Seminar der Universität Köln, das der Geschichte der Sozialen Sicherung von der Antike bis zur Gegenwart galt.67 Die in der Arbeit von Scheur und einer weiteren Pionierarbeit von Karl Teppe noch etwas vernachlässigte Kriegszeit 62 Peter Lewek: Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik 1918– 1927 (VSWG, Beiheft 104). Stuttgart 1992. 63 Stuttgart 1995; außerdem: Günther Schulz (Hg.): Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und europäische Lösungen 1918–1960. Düsseldorf 1993. 64 Detlev Julio Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932. Köln 1986; ders.: Sozialpädagogik, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band V: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, hg. von Dieter Langewiesche/Hans-Elmar Tenorth. München 1989, S. 307–335; Wilfried Rudloff: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933. 2 Bände. Göttingen 1998; Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929. 3. Aufl., Weinheim/ Basel 2002; Wilfried Rudloff hat auch einen informativen Forschungsbericht zu diesem Themenbereich vorgelegt: Im Souterrain des Sozialstaates: Neuere Forschungen zur Geschichte von Fürsorge und Wohlfahrtspflege im 20. Jahrhundert, in: AfS 42 (2002), S. 474–520. 65 Hans-Josef Wollasch (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Deutschen Caritas in der Zeit der Weltkriege. Freiburg 1978; Jochen Christoph Kaiser: Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945. München 1989; Christiane Eifert: Frauenpolitik und Wohlfahrtspflege. Zur Geschichte der sozialdemokratischen „Arbeiterwohlfahrt“. Frankfurt a. M. 1993. 66 Ewald Frie: Wohlfahrtsstaat und Provinz. Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes Westfalen und des Landes Sachsen 1880–1930. Paderborn 1993; Peter Hammerschmidt: Pflegesatz und Selbstkosten. Zu Finanzierung und Management öffentlicher und freigemeinnütziger Wohlfahrtsanstalten 1920–1936. Stuttgart 2003. 67 Wolfgang Scheur: Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit in der Zeit des Nationalsozialismus. Diss. rer. pol., Köln 1967; Karl Teppe: Zur Sozialpolitik im Dritten Reich am Beispiel der Sozialversicherung, in: AfS 17 (1977), S. 195–250.

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behandelte Marie-Luise Recker in ihrer Habilitationsschrift. Auf der erwähnten, von Hans Pohl organisierten Tagung zog sie eine Forschungsbilanz.68 Als vorläufige Gesamtdarstellungen, die unterschiedliche Schwerpunkte haben, sind „Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus“ von Christoph Sachße und Florian Tennstedt69 sowie „Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939“ von Michael Schneider70 zu nennen. Hat in den Gesamtdarstellungen des Deutschen Kaiserreichs die Sozialpolitik ihren festen Platz und „Stellenwert“, so ist das bei der Sozialpolitik einschließlich der Wohlfahrtspflege in entsprechenden Darstellungen des Nationalsozialismus bisher kaum der Fall. Adäquat dargestellt werden bislang meist nur die NSV und die arbeitspolitische Komponente der Sozialpolitik. Interesse fand die Arbeits- und Sozialpolitik des Dritten Reiches als mögliches Belegbeispiel für die zuerst von dem Soziologen Ralf Dahrendorf aufgestellte Modernisierungsthese, vor allem die Pläne der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bzw. von deren Arbeitswissenschaftlichem Institut (AWI) – die Dahrendorf allerdings weniger im Blick hatte – schienen auch Modernes und Zukunftsweisendes („Grundsicherung“) zu enthalten.71 Bereits die historische Forschung von Marie-Luise Recker hat jedoch gezeigt, dass die rassistisch-selektive Ausgestaltung der NS-Sozialpolitik der Modernisierungsthese „diametral entgegen“ steht.72 Die grundsätzlich wohltätig ausgerichtete „gute“ Sozialpolitik, ihre Einrichtungen und ihr Personal schienen in die systematische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik, der ein wesentlicher Teil der Forschung zur NS-Zeit galt und gilt, nicht verwickelt. Doch inzwischen wurde nachgewiesen, dass das – in Grenzen – allenfalls für die klassische Sozialversicherung gilt, hier war die starke Verrechtlichung der Ansprüche ein gewisser Schutz. Aber auch hier muss auf die Berufsverbotspraxis, insbesondere auf den Ausschluss jüdischer Kassenärzte und Kassenzahnärzte einerseits, die Situation in den im 2. Weltkrieg annektierten Gebieten (insbesondere Polens) andererseits, hingewiesen werden. In jüngsten Forschungen, die nicht nur institutionelle Entwicklungen, sondern auch Wirkungen beschreiben, wurde gezeigt, dass bei der rassistisch-selektiven Ausgestaltung der NS-Sozialpolitik der Fürsorgesektor eine Pionierfunktion hatte. Vor allem kommunale Dienststellen wurden – auch ohne parteiliche oder staatliche Direktiven – engagiert tätig bei der Entrechtung jüdischer Wohlfahrtsempfänger und sog. Asozialer.73 Auch die Mechanismen 68 69 70 71

Marie-Luise Recker: Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg. München 1985. Stuttgart 1992. Bonn 1999. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1968; zur DAF bzw. deren Sozialwissenschaftlichem Institut: Karl Heinz Roth: Intelligenz und Sozialpolitik im „Dritten Reich“. München 1993; Roth hat auch die vom AWI der DAF massenhaft produzierte „graue Literatur“ mit Reformvorschlägen neu herausgegeben: Sozialstrategien der Deutschen Arbeitsfront. München 1987/92. 72 Recker, Sozialpolitik (wie Anm. 68). 73 Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942). München 2002; Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995; ders.: „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933–1945. Koblenz 1998.

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und Auswirkungen der NS-Gesundheitspolitik „vor Ort“ für den Alltag der Bevölkerung sind inzwischen minutiös rekonstruiert.74 An der Durchstaatlichung und Militarisierung des Arbeitsmarktes war die 1927 geschaffene zentrale Arbeitsverwaltung („Reichsanstalt“) maßgeblich beteiligt.75 Nach Kriegsbeginn verlor sie ihre Eigenständigkeit, wurde zunächst in das Reichsarbeitsministerium integriert und dann einem Reichskommissar, dem Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel, unterstellt. In diesem Rahmen wirkte sie maßgeblich bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte mit sowie beim massenhaften Einsatz von Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen.76 Diese Wirkungsforschungen wurden überwiegend von Historikern, teilweise auch von Sozialpädagogen, Ärzten und Verwaltungswissenschaftlern geleistet. Die zeitgeschichtliche Forschung zur Sozialpolitik in der Besatzungszeit, der Bundesrepublik und der DDR ist vor allem von Historikern, dann aber auch von Politologen vorangetrieben worden. Hier sind zu nennen die Habilitationsschriften von Hans-Günter Hockerts, Rainer Hudemann und Günther Schulz. Sie referierten über ihre Forschungen auch auf der erwähnten 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.77 Als ein neueres besonderes Großprojekt auf diesem Sektor ist die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl angeregte und vom seinerzeitigen Bundesarbeitsminister (1982–1998) Norbert Blüm vorangetriebene „Geschichte der deutschen Sozialpolitik seit 1945“ zu nennen. Diese wurde 1995 konzeptionell begonnen, inzwischen sind erste Bände dieses interdisziplinären Werks erschienen, geplant sind elf Bände. Im Beirat und als Verfasser sind Historiker, Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Juristen beteiligt. Das enzyklopädisch angelegte Werk vermittelt Sachinformationen zur Sozialpolitikgeschichte, dann aber auch, entsprechend seiner besonderen Anlage, einiges über die unterschiedliche Herangehensweise der beteiligten Disziplinen an die „Geschichte“. Bereits jetzt ist absehbar, dass es ein unentbehrliches Grundlagenwerk werden wird. Der zugrunde gelegte Sozialpolitikbegriff ist sehr weit gefasst, er ist weniger historisch entwickelt als der gegenwärtigen Wohlfahrtsstaatsforschung entlehnt, auch die internationale Entwicklung ist berücksichtigt.78 74 Johannes Vossen: Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900–1950. Essen 2001. 75 Arbeitsmarkt und Sondererlaß. Menschenverwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik 8). Berlin 1990. 76 Ulrich Herbert: Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ – ein Überblick, in: Klaus Barwig/Günter Saathoff/Nicole Weyde (Hg.): Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Baden-Baden 1998, S. 17– 32. 77 Hans-Günter Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957. Stuttgart 1980; Rainer Hudemann: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945–1953. Mainz 1988; Günther Schulz: Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik von 1945 bis 1957. Düsseldorf 1994. 78 Aufgrund der besonderen Dimension der vom NS-Regime verübten Verbrechen muss gefragt werden, ob neben der materiellen Gesetzgebung auch die nach außen wirkenden Abkommen Platz in einer Sozialpolitikgeschichte haben sollen. Vgl. Günter Könke: Wiedergutmachung und Modernisierung. Der Beitrag des Luxemburger Abkommens von 1952 zur wirtschaftlichen Entwicklung Israels, in: VSWG 75 (1988), S. 503–548.

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In den vorliegenden Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR spielt die Sozialpolitik nicht die Rolle, die ihr – gemessen an ihrer ökonomischen wie politischen Bedeutung und ihren Entwicklungsschüben – etwa in den Darstellungen zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs eingeräumt wird. Im Wesentlichen wird nur die Adenauersche Rentenreform adäquat behandelt, vor allem wird auch deren außenpolitische Bedeutung als ein strategischer Faktor in der Systemkonkurrenz „Kapitalismus – Sozialismus“ gesehen. 79 Resümieren kann man insgesamt: In den letzten 30 Jahren wurden erhebliche Fortschritte bei der Analyse des Gegenstandsbereichs „Sozialpolitik“ von Sozialhistorikern wie Sozialwissenschaftlern erzielt. Diese betreffen vor allem die Grundlagen der institutionellen Entwicklung. Trotzdem gibt es noch Defizite, insbesondere bei der Wirkungsforschung. Außerdem greift die Institutionengeschichte staatlicher Sozialpolitik angesichts der aktuellen politischen und wissenschaftlichen Debatten zu kurz: Alterssicherung und Generationengerechtigkeit werden aktuell nicht nur als Problem der gesetzlichen Rentenversicherung gesehen, sondern generell als „Regulierung des Alters“80, also als Problem aller Alterssicherungssysteme usw. – gesetzlich, betrieblich und privat-familiär. Damit hat sich auch der mögliche Gegenstandsbereich für eine Sozialgeschichte der Sozialpolitik erweitert. Spätestens seit der Rentenreform 2001 durch das erste Kabinett Schröder mit der sog. RiesterRente sind auch die Steuern und Subventionen wie das Mittel sozialer Regulierung ganz allgemein verstärkt in den Blick der sozialpolitischen Forschung geraten. Angesichts der jüngsten Probleme und Reformen sind nicht nur die üblichen horizontal vergleichenden Blicke in andere europäische Sicherungssysteme sinnvoll, sondern auch vertikale entlang der Zeitachse. Der gezielte problemorientierte „Griff in die Geschichte“ ist auch hier ebenso lehrreich wie sinnvoll. Die These, dass „es rentenrechtliche Probleme gibt, die ihre Aktualität in den zurückliegenden 100 Jahren nicht verloren haben“81, ist weiterhin richtig. Bei vielen Reformen auf sozialpolitischem Sektor ist man nicht immer wesentlich weiter gekommen als man vorher war, ungeplante, nicht vorhergesehene Effekte mit konterkarierender Wirkung traten auf. Sofern historisch gefundene Lösungen in Frage gestellt werden sollen, ist zu prüfen, ob man mit angeblich zukunftsweisenden Alternativen tatsächlich weiter vorankommt oder möglicherweise zurückgeht. Für diese Prüfung, dieses Probehandeln durch Denken, ist die Kenntnis der früheren Debatten meist aufschlussreich und erhellend, die aber weniger in Darstellungen als in Quellensammlungen zugänglich sind. Hinzu kommt dann noch mancher Erfahrungssatz, der historisch bestätigt wurde. Die Rationalität des Denkens und Handelns kann 79 Vgl. z. B. Rudolf Morsey: Die Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl., München 2000. 80 Lutz Leisering/Rainer Müller/Karl F. Schumann (Hg.): Institutionen und Lebensläufe im Wandel. Institutionelle Regulierungen von Lebensläufen. Weinheim 2001. Durch den Paradigmenwechsel der Rentenreform 2001 ist diese besondere Regulierung – eine Vorform der Regulierung von inzwischen voll privatisierten Sektoren wie etwa der Post mit Regulierungsbehörde! – ein politischer Topos geworden; vgl. Sylvia Dünn/Stephan Fasshauer: Die Rentenreform 2000/ 2001. Ein Rückblick, in: Deutsche Rentenversicherung 56 (2001), S. 266–275. 81 Franz Ruland: Aktuelle Probleme der Rentenversicherung im Wandel der letzten 100 Jahre, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 28 (1981), S. 391–403.

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durch „Lernen aus der Geschichte“ gesteigert werden.82 Die oft alten Argumente und Erfahrungen „gewinnen doch auf dem Hintergrund vergleichbarer Umstände eine gewisse Verlässlichkeit“83. Sie aufzubereiten, der Vergangenheit und dem Vergessen zu entreißen, ist Forschungsaufgabe. Wie modern klingt die Mahnung von Professor Dr. Viktor Böhmert, die er bereits 1875 – sicherheitshalber anonym! – zur Frage einer seiner Ansicht nach zu weitgehenden staatlichen Altersrentenversicherung veröffentlichte: „Der Staat wird zur Allerweltsvorsehung gemacht und verliert bei der Unmöglichkeit einer Lösung dieser Aufgabe an Ansehen, Respekt und Vertrauen auch in Betreff derjenigen öffentlichen Aufgaben, welche ihm kein Privatmann oder Verein abnehmen kann.“84 3. Sozialpolitik im europäischen Kontext – vergleichende Forschungen: historische Typisierungsversuche und aktuelle Transformationsprozesse a) Am Anfang stand der Vergleich Der deutsche Weg zum Sozialstaat war weniger autochthon als es rückblickend den Anschein hat. Das amtliche Schriftgut in Archiven aus der Entstehungsphase der Sozialpolitik ist reich an Beständen, die Blicke über den „nationalen Zaun“ vermitteln – neben der Gewerbegesetzgebung wurde auch die Arbeiterversicherung im Ausland genau beobachtet, leitende Beamte verfassten bzw. kompilierten entsprechende Monographien in Preußen und im Reich schon zu Kaisers Zeiten.85 In ähnlicher Weise engagierte sich die Historische Schule der Nationalökonomie im Umfeld des Vereins für Socialpolitik, nicht zuletzt das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ zeichnet sich durch eine Fülle von heute noch lesenswerten Artikeln aus. Ähnliches lässt sich für die Aktivitäten der Deutschen Vereine für öffentliche Gesundheitspflege, für Armenpflege und Wohltätigkeit usw. feststellen, die von der Situation im Ausland Anregungen beziehen wollten und bezogen.86 Die entspre82 Vgl. Hans Ulrich Wehler: Aus der Geschichte lernen? München 1988, S. 11 ff. 83 Michael Stolleis: Sozialpolitik in Deutschland. Thesen zur historischen Entwicklung, in: Sozialpolitik auf dem Prüfstand. Mainz 1998, S. 11. 84 Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. I. Abt., Band 5, S. 291. 85 Vgl. z. B. die von dem in der DDR „kaltgestellten“ Juristen Herbert Buck bearbeitete, vorzügliche Bestandsübersicht zur Überlieferung des preußischen Handelsministeriums: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in Preußen, Band 2. Berlin 1960, außerdem: Bundesarchiv Berlin, R 15.01 Nr. 100064–100083, 100822–100836 und 101032–101043; Tonio Bödiker: Die Arbeiterversicherung in den europäischen Staaten. Leipzig 1895; Georg Zacher: Die Arbeiterversicherung im Auslande. 5 Bände. Berlin 1898–1908. 86 Zum Verein für Socialpolitik hat Dieter Lindenlaub eine grundlegende Monographie publiziert, die 1967 als Beiheft zur VSWG erschienen ist (vgl. Anm. 21); Emil Münsterberg: Das ausländische Armenwesen (Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit 35 und 52). Leipzig 1898/1901; ders.: Das amerikanische Armenwesen (Schriften 77). Leipzig 1906; Julius Uffelmann: Darstellung des auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege in außerdeutschen Ländern bis jetzt Geleisteten. Berlin 1878.

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chenden Erhebungen, eine Fülle von zeitgenössischen Fachartikeln sowie amtlichen wie halbamtlichen Berichten, die als solche schon weitreichende Analysen ermöglichen, sind bislang ein nur teilweise gehobener Schatz. b) Die Supranationalisierung ist in Europa hinzugekommen Vergleichende Sozialpolitikforschung ist also nicht neu,87 ihre Geschichte hat aber neue Konturen bekommen. Sie hat Dimensionen von Grundlagenforschung angenommen. Angesichts der Verschlechterung der makroökonomischen Rahmenbedingungen und der tiefgreifenden strukturellen Veränderungen, Wandlungen von Industriebranchen zu Problembranchen, wird eine „Krise der Sozialpolitik“, ein „Veralten“ der national tradierten sozialen Sicherungssysteme festgestellt. Hinzu kommt, dass die fast ein Jahrhundert rein national, vom Territorialitätsprinzip begrenzte soziale Sicherung durch EuGH Rechtsprechung zur Freizügigkeit und zum freien Verkehr von Gütern wie Dienstleistungen zumindest im europäischen Rahmen seit 1998 grenzenlos geworden ist. Auch die Freizügigkeit des Kapitals hat vor allem seit 1994 ihre Auswirkungen auf die nationale Sozialpolitik, weil seitdem in der EU juristisch ein Gemeinsamer Privatversicherungsmarkt geschaffen wurde. Jeder Nationalstaat hat eine andere Tradition der Osmose von Privat- und Sozialversicherung. Ein gemeinsamer Privatversicherungsmarkt stellt à la longue das Gesamt dieser Einzelosmosen in Frage und positioniert einen einheitlichen europäischen Markt gegen dann balkanisierte und partikulare nationale Sozialversicherungs-Lösungen.88 Der Europäische Gerichtshof hat bereits ein Urteil gefällt (Urteil vom 3.10.2002, Rs. C-/36/00/, Fall Danner) nach dem feststeht, dass die freiwillige Versicherung in einem öffentlichen Sozialversicherungssystem eine „Dienstleistung“ im Sinne des EG-Vertrages darstellt, auf die prinzipiell die Regeln des Europäischen Binnenmarktes und Wettbewerbsrechts Anwendung finden. Nicht die soziale Gerechtigkeit war Motor der sozialen Gleichstellung der Arbeitnehmer in Art. 142 [ex 119] EG-Vertrag, sondern die Wettbewerbsgerechtigkeit. Dabei hat seit den achtziger Jahren die europäische Wettbewerbsordnung zunächst den „äußeren Verteidigungsring“ der sozialstaatlichen Grundordnung zersetzt, den „Staat der Daseinsvorsorge“.89 Mit

87 Allerdings ist historisch vergleichsambitionierte Sozialpolitikforschung selten, die zugleich die Internationalisierung dieser Politikdimension Ernst nimmt. Die besten Studien betreffen insoweit bislang andere Länder; vgl. etwa Madeleine Herren: Internationale Sozialpolitik vor dem ersten Weltkrieg: Die Anfänge europäischer Kooperation aus der Sicht Frankreichs. Berlin 1993; dies.: Hintertüren zur Macht. Internationalisierung und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914. München 2000. 88 Die Grundlinien sind am besten aufgezeigt bei Haverkate/Huster, Sozialrecht (wie Anm. 60); detailreich: Peter Hanau/Heinz-Dietrich Steinmeyer/Rolf Wank (Hg.): Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts. München 2002. 89 Vgl. zusammenfassend Stephan Leibfried: Über die Hinfälligkeit des Staates der Daseinsvorsorge. Thesen zur Zerstörung des äußeren Verteidigungsringes des Sozialstaats, in: SchaderStiftung (Hg.): Die Zukunft der Daseinsvorsorge. Öffentliche Unternehmen im Wettbewerb. Darmstadt 2001, S. 158–166.

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der anhaltenden Umgestaltung von Post (einschließlich Telefon), dann Bahn und Flugdiensten, dann Strom-, Wasser- und Gasversorgung, kommunalen Verkehrsbetrieben usw. wurden Gestaltungsprinzipien gegen Umverteilung an der Peripherie des Sozialstaats durchgesetzt, die inzwischen, insbesondere in der Gesundheitspolitik, auch den Kern des Sozialstaates erreicht haben. Die Leistungen der Daseinsvorsorge befinden sich in einem Schwebezustand zwischen einer gemeinwohlbedingten wirtschaftlichen Sonderrolle auf der einen und einer vollkommenen Marktöffnung auf der anderen Seite.90 Die nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa haben die Kontrolle über ihre Grenzen verloren, sie unterliegen zunehmend internationalen Einflüssen. Die noch bis Ende der achtziger Jahre vorherrschende Vorstellung, gegenüber der fortschreitenden Marktintegration könne es unberührte Reservate, Sozialräume für „souveräne“ nationale Sozialpolitiken geben, erwies sich als unhaltbar – in ähnlicher Weise wurden auch Staatsbürgerschaft, Steuersysteme, Polizeigewalt usw. berührt. Die Integrationsprozesse wurden infolge des Einheitlichen Binnenmarktes auch sozialpolitisch unentrinnbar, nicht zuletzt durch die Rechtsprechung. Die EU hat – nach dem Gründungskonflikt mit Frankreich um eine europäische Sozialpolitik in den fünfziger Jahren – die sozialen Rechte zunächst nur als flankierende Rechte der Marktfreiheit in den Blick genommen.91 Seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 bekennt die EU sich aber auch ausdrücklich zu sozialen Grundrechten.92 Man kann die These aufstellen, dass die Sozialpolitik den Märkten bzw. der Ausweitung von Märkten folgt – so folgten im 19. Jahrhundert der Expansion des Kapitalismus in Großbritannien die „revolution in government“ und der Reichseinigung in Deutschland mit vergrößertem Binnenmarkt, Freihandel und Gründerboom die nationale Sozialpolitik. Das könnte sich langfristig auch auf der europäischen Ebene wiederholen.93 Die Chancen einer globalen Sozialpolitik auf der WTO-Ebene sind demgegenüber erheblich schwächer und konfliktträchtiger, auch wenn eine gewisse Domestizierung der internationalen Politik festzustellen ist.94 Diese durch die „Krise der Sozialpolitik“ wie auch durch die europäische Integration ausgelösten Prozesse haben erneut zu einem Blick über den „nationalen Zaun“ geführt: Wie haben denn die jeweils anderen Nationalstaaten auf die Herausforderungen reagiert? Dieser Blick richtete sich auf relativ erfolgreiche Modelle – 90 Vgl. Grünbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse. Brüssel 2003. 91 Die breite historische Aufarbeitung dieser Sozialpolitikgeschichte steht noch aus. Ansätze finden sich etwa bei Federico Romero: Migration as an Issue in European Interdependence and Integration: The Case of Italy, in: Alan S. Milward/Frances M. B. Lynch/Federico Romero/ Vibeke Sørensen (Hg.): The Frontier of National Sovereignty; History and Theory, 1945–1992. London 1993, S. 33–58, 205–208. 92 Gute und interessante Einblicke in die Vielfalt dieser neuen Probleme vermittelt: Winfried Boecken/Franz Ruland (Hg.): Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa, Festschrift für Bernd Baron von Maydell. Neuwied 2002. 93 Diesen Hinweis verdanke ich Lutz Leisering, Bielefeld. 94 Vgl. Elmar Rieger/Stephan Leibfried: Grundlagen der Globalisierung. Perspektiven des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a. M. 2001. Zu einer umfassenderen Untersuchung dieser Entwicklung in der „postnationalen Konstellation“ vgl. die Projekte des Bremer Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ (www.sfb 597.uni-bremen.de).

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zunächst und mit Vorrang im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut und den jeweiligen „Stand der Technik“ bei der Bewältigung von Gesundheitssicherungs-, Alters- bzw. Rentenproblemen.95 Fixiert man den Blick nicht mehr auf gesetzlichstaatsorientierte Lösungen, z. B. durch die gesetzliche Rentenversicherung, sondern schaut umfassender auf die Regulierung des gesamten Sektors, so gilt die vergleichende Forschung vor allem den „Schnittstellen“, die in den aktuellen Reformprozessen neu definiert werden. Die Aufmerksamkeit gilt dann vor allem den sektoralen Schnittflächen zwischen „Staat“, „Markt“ und „Privat“ samt ihren intermediären Zwischenformen, die – in unterschiedlicher Weise – bei der Regulierung etwa von Gesundheit und Alter eine Rolle spielen.96 Ging es etwa Bismarck unter dem Motto „nur nicht privat“ um möglichst viel Gesetzgebung und die Produktion sozialer Sicherheit durch den Staat, so heißt es heute eher umgekehrt „möglichst privat“.97 Die Rolle der betrieblichen und privaten Sicherung wurde aber national und erst recht europäisch-vergleichend vernachlässigt, Detailstudien – nicht zuletzt zur Geschichte – fehlen.98 Häufig handelt es sich dabei nicht um deutlich abgegrenzte Regulierungs- und Sicherungsformen, sondern um verfilzte Schichten, die nicht zuletzt erst anhand von biographischer Forschung und des Studiums von Rentenwie Sozialhilfeakten, in individuellen Beispielen also zutage treten. Der in diesem Kontext „Umbau des Wohlfahrtsstaates“ ausgelöste Boom der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird bislang ausschließlich von Juristen und Sozialwissenschaftlern bestimmt, nicht von Historikern. Dieses Thema ist aber auch Historikern zugänglich, zumal einige Länder (wie die USA) schon früh im 20. Jahrhundert den Ansatz einer „social regulation“ verfolgten, also Leistungen verbindlich Dritten auferlegten.99 95 Zur Arbeitslosigkeit etwa: Jens Alber/Jürgen Kohl (Hg.): Arbeitsmarkt und Sozialstaat (Sozialpolitik in Europa 8). Wiesbaden 2001; zu nennen sind hier auch die Berichte des Berliner „Beschäftigungsobservatoriums“ des „Systems zur gegenseitigen Unterrichtung über beschäftigungspolitische Maßnahmen“ (MISEP) der Europäischen Kommission, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung usw.; zu den Rentenproblemen: Diether Döring: Die Zukunft der Alterssicherung. Frankfurt a. M. 2002; Karl Hinrichs: Rentenreformpolitiken in OECDLändern, in: Deutsche Rentenversicherung 55 (2000), S. 188–209; insgesamt der Überblick bei Josef Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. 2. Aufl., Opladen 2002. 96 Stephan Leibfried/Herbert Obinger: Zur Zukunftsfrage der Transformation des Sozialstaates: Ein Brückenprogramm zwischen Wissenschaft und Praxis, in: Zeitschrift für Sozialreform 48 (2002), S. 373–445. 97 Florian Tennstedt: „Nur nicht privat mit Dividende und Konkurs“. Der deutsche Weg zum Sozialstaat – auch eine Folge von Bismarcks Ansichten über private Unfallversicherungsgesellschaften, in: Festschrift für Wolfgang Gitter. Wiesbaden 1995, S. 993–1004. 98 Peter Koch: Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland. Karlsruhe 1998; Pionierarbeit hat vor allem Peter Borscheid geleistet, vgl. als Überblick ders.: Mit Sicherheit leben: die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft. 2 Bände. Greven 1989/93; außerdem ders.: Die Entstehung der deutschen Lebensversicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: VSWG 70 (1983), S. 305–330. 99 Vgl. zu einer US-Sozialpolitikgeschichte im Kontrast Gesundheit/Rente Jacob S. Hacker: The Divided American Welfare State: Public and Private Benefits. Cambridge 2002; außerdem Georg Schild: Zwischen Freiheit des Einzelnen und Wohlfahrtsstaat. Amerikanische Sozialpolitik im 20. Jahrhundert. Paderborn 2003. Zu den regulativen Umwegen einer Sozialpolitik als Verbraucherschutzpolitik in den USA vgl. Pietro S. Nivola: American Social Regulation Meets the

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Die Juristen haben die europäische Dimension der sozialpolitischen Veränderungen zuerst analysiert, da sie normativ ansetzte – als „integration through law“100 – und da sie von ihrer Qualifikation her entsprechende Startvorteile hatten, hinzu kam die rechtzeitige Gründung eines entsprechenden Max-Planck-Instituts.101 Ihnen folgten die Volkswirte mit vergleichend angelegten Projekten und Länderstudien102, und in jüngster Zeit interessieren sich zunehmend auch Sozialwissenschaftler (insbesondere Politologen) für das „Schicksal“ der europäischen Wohlfahrtsstaaten im Prozess der europäischen Integration103, vor allem für die indirekten Effekte und Potenziale, darunter insbesondere der Gleichberechtigungs- und Gleichstellungsfragen104 und für die „Offene Methode der Koordinierung“. c) Rückkehr des Vergleichs – die Pfade der Forschung Dieser neue Ansatz „europaintegrativer“ Sozialpolitikforschung hat einen vorangegangenen der vergleichenden Forschung teils abgelöst, teils überlagert und integriert, der – im Wesentlichen beginnend in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – die beeindruckende Ausdehnung des Sozialstaats in den westeuropäischen Ländern zum Thema hatte, und an dem auch Historiker beteiligt waren.105 Im Vordergrund des Interesses stand in einer ersten Generation vergleichender Studien die Frage nach den Ursachen der sozialpolitischen Expansion. Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat waren dabei (noch) eindeutig positiv akzentuiert. Die Forschungen galten den Institutionen der Sozialpolitik und waren notwendigerweise historisch ausgerichtet: Sofern die Autoren versuchten, ihre diversen Erklärungsmodelle empirisch zu fundieren, mussten sie auf historische Daten zurückgreifen. Dabei ließen sich am relativ einfachsten die Höhe der sozialen Ausgaben bzw. deren Entwicklung in Staaten, deren politische Struktur und wirtschaftliche Entwicklungsniveaus verschieden waren, vergleichen, korrelieren und nach Signifikanzen abprüfen. Sehr

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Global Economy, in: Ders. (Hg.): Comparative Disadvantages? – Social Regulations and the Global Economy. Washington, DC 1997, S. 16–97. Paul Craig/Gráinne De Búrca (Hg.): The Evolution of EU Law. Oxford 1999. Hier sind insbesondere auch Publikationen in speziellen Zeitschriften – z. B. Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht, Zeitschrift für europäisches Arbeitsund Sozialrecht – zu nennen. Als eine solche sei nur genannt: Richard Hauser/Helga Cremer-Schäfer/Udo Nouvertné: Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung in der Bundesrepublik Deutschland: Bestandsaufnahme und sozialpolitische Perspektiven. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986 (1. Aufl. 1981). Stephan Leibfried/Paul Pierson (Hg.): European Social Policy: Between Fragmentation and Integration. Washington, DC 1995; Fritz W. Scharpf: Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch. Frankfurt a. M. 1999. Gerda Falkner: Supranationalität trotz Einstimmigkeit. Entscheidungsmuster der EU am Beispiel Sozialpolitik. Bonn 1994; dies.: EU Social Policy in the 1990s. London 1998. Die besten Übersichten: Jens Alber: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt a. M. 1982; zur jüngsten Entwicklung: Peter Baldwin: Der europäische Wohlfahrtsstaat. Konstruktionsversuche in der zeitgenössischen Forschung, in: Zeitschrift für Sozialreform 49 (2003), S. 45.

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viel seltener wurden die Bedingungen der Entstehung von Sicherungssystemen vergleichend untersucht und am wenigsten die institutionellen Entwicklungen selber. Die überwiegend in den USA entstandenen Studien – teils quantifizierend, teils typologisierend durchgeführt – sind im Rahmen des von Peter Flora initiierten HIWED-Großprojektes (Historische Indikatoren der westeuropäischen Demokratien) mehr oder weniger aufgehoben bzw. vorläufig beendet worden.106 Hinzu kam, dass seit Mitte der siebziger Jahre – nach der Bewilligung dieses Großprojektes durch die Volkswagen-Stiftung – die Krise des Wohlfahrtsstaates aktuell mehr interessierte als dessen Expansion. Flora hat versucht, diese neue Konstellation mit aufzunehmen und zu integrieren – sie stand aber nicht im Vordergrund.107 Im HIWEDProjekt entstand vor allem die makrosoziologische Studie von Jens Alber, die die überwiegend in den Siebzigern entstandenen komparativen Studien der ersten Generation kritisch rezipiert und unter breiter Heranziehung statistischer Daten sowie Verfahren in gewisser Weise vollendet hat.108 Die Untersuchung von Jens Alber versuchte, für die westeuropäischen Länder die Reproduzierbarkeit der quantitativen Analysen mit dem Informationsreichtum der qualitativen historischen Studien zu verbinden. Im Ergebnis erwies sich dabei die Sozialversicherung als gemeinsames Strukturelement aller westeuropäischen Gesellschaften, ihre Entwicklung war stärker von den nationalen politischen Kräftekonstellationen („politics matters“) als von der Wirtschaftsentwicklung geprägt. Dieses Ergebnis wird – in anderer Form und von anderer Seite – heute wieder der herrschenden Aufregung über die sozialpolitischen Folgen der Globalisierung entgegengehalten.109 Alber prognostizierte im Übrigen, dass zukünftig manche offene Frage am ehesten „durch Paarvergleiche weitgehend ähnlicher Länder“ zu beantworten sei.110 Schon um die großen Probleme der Vergleichbarkeit und Zuverlässigkeit nationaler statistischer Daten – was rechnet zum Vermögen, was zu Einkommen, wie wirkt sich die Steuer aus? – auch nur annähernd in den Griff zu bekommen, wird sich jede gültige Überprüfung sozialwissenschaftlicher Hypothesen auf wenige Länder beschränken müssen. Umfassenderen komparativen Untersuchungen wird dagegen eher die Funktion zukommen, Hypothesen zu generieren und den Blick für die Variationsbreite sozialstaatlicher Entwicklungsmuster zu schärfen.111 Im Mittelpunkt einer zweiten Generation komparativer Wohlfahrtsstaatsstudien steht weniger die – wenn auch zeitlich verzögerte – Einheitlichkeit der sozialstaat106 Vgl. Peter Flora: Growth to Limits. The Western European Welfare States since World War II, Bände 1, 2 und 4. Berlin 1986/87. 107 Peter Flora: Krisenbewältigung oder Krisenerzeugung? Der Wohlfahrtsstaat in historischer Perspektive, in: Mommsen (Hg.), Entstehung (wie Anm. 49), S. 353–395. 108 Alber, Vom Armenhaus (wie Anm. 105), hier finden sich auch die bibliographischen Daten der vorangegangenen Studien. 109 Pierson (Hg.), The New Politics (wie Anm. 1). 110 Alber, Vom Armenhaus (wie Anm. 105), S. 207. 111 Vgl. Anm. 50 und 106, speziell zu Großbritannien – Schweden: Hugh Heclo: Modern Social Politics in Britain and Sweden. New Haven/London 1974; Douglas E. Ashford: The Emergence of Welfare States. Oxford 1986.

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lichen Expansion in Westeuropa als ihre Unterschiedlichkeit und Vielfalt. Ausgangsund Bezugspunkt sind dabei aber nicht die im späten 19. Jahrhundert mit dem Deutschen Reich als „Pionier“ entwickelten Ansätze zwangsweiser Sozialversicherung gegenüber den elementaren Risiken der Arbeiterexistenz, sondern die in den 1930erJahren und in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten Modelle von Wohlfahrtsstaatlichkeit, die vor allem in Schweden und Großbritannien entwickelt wurden.112 Diese waren, so eine Grundthese, darauf gerichtet, die Reichweite von Marktprinzipien zu beschränken, nicht hingegen darauf, Marktlogik und Marktprinzipien zu stabilisieren. Protagonist dieser neuen Generation, in der Vorarbeiten unter neuen Fragestellungen fortgeführt wurden, war der dänische Politologe Gøsta Esping-Andersen.113 Mit seiner 1985 erschienenen Studie „Politics Against Markets. The Social Democratic Road to Power“, die im Wesentlichen auf einer dualistischen Typologie beruhte, begann er das Thema aufzubauen. Den meisten Anklang fand seine trinitarische Typologie von 1990: Wohlfahrtsstaaten wurden jetzt in sozialdemokratische, liberale und konservative Typen unterschieden. Inzwischen hat er diese frühen Arbeiten überholt und ist bei 18 unterschiedlichen Welten des Wohlfahrtskapitalismus angelangt. Der Historiker Peter Baldwin spottet: „Ohne Zweifel ließen sich ebenso viele Kategorien von Wohlfahrtsstaaten ausmachen wie die Engländer Religionen haben oder die Franzosen Soßen […]. Spätestens, wenn die Zahl der Typen die Anzahl der Fälle erreicht, die sie angeblich klassifizieren, hat sich die Mühe um Typologisierung erledigt.“114 Die vorwissenschaftliche Motivation von Esping-Andersens Typologieversuchen hatte den Preis des Mangels an historischer Genauigkeit, die – nachträglich eingezogen – die Ideologieträchtigkeit des Ansatzes aufzeigte. Dieser Mangel hat aber seine Faszination kaum gemindert. Diese Faszination beruht nicht allein auf seinen Typologisierungsansätzen, sondern auch auf der mittels Vergleich gewonnenen Einsicht, dass der Wohlfahrtsstaat strukturelle Folgen für moderne Gesellschaften (bei Arbeitsmarkt und Ungleichheit) hat und dass institutionelle Unterschiede der Sozialpolitik – wie im Einzelnen auch immer glücklich oder unglücklich benannt und abgegrenzt – unterschiedliche Gesellschaftstypen erzeugen, also Marktgesellschaften nicht homomorph sind.115 Franz X. Kaufmann hat dem typologisierenden Ansatz sein – vermutlich weittragenderes – Konzept des „Eigensinns“ nationaler wohlfahrtsstaatlicher Strukturen entgegengesetzt.116 112 Günther Lottes (Hg.): Soziale Sicherheit in Europa. Renten- und Sozialversicherungssysteme im Vergleich. Heidelberg 1993; zu Schweden: Bernd Henningsen: Der Wohlfahrtsstaat Schweden. Baden-Baden 1986; zu Beveridge/England: John Hills (Hg.): Beveridge and Social Security: an International Retrospective. Oxford 1994. 113 Stephan Lessenich/Ilona Ostner: Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt a. M. 1998; Christian Toft: Jenseits der Dreiweltendiskussion, in: Zeitschrift für Sozialreform 46 (2000), S. 68–86. 114 Baldwin, Der europäische Wohlfahrtsstaat (wie Anm. 105). 115 Dieser Faden wird fortgesponnen in Peter Hall/David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford 2001. 116 Vgl. dazu: Franz X. Kaufmann: Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, in: Bundesministerium u. a. (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik (wie Anm. 5), S. 799–989, insbes. 988 ff.

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Die vergleichende Sozialstaatsforschung hat eine neue interessante Dimension durch die Transformationsforschung erhalten. Darunter wird einmal die Transformation von Rechtsordnungen im Rahmen des deutschen wie europäischen Einigungsprozesses (s. o.) verstanden, auch die zur sozialen Sicherung; in jüngster Zeit bezieht sich der Begriff normalerweise auf den Wandel in Osteuropa seit den 1990erJahren. In all diesen Dimensionen hat vor allem das Münchner MPI für ausländisches und internationales Sozialrecht unter Bernd Baron von Maydell wesentliche, interdisziplinär angelegte Pionierarbeit geleistet, die im Verlauf der EU-Osterweiterung noch bedeutsamer werden wird.117 Darüber hinaus wird unter Transformation oft auch der Wandel des Interventionsstaates selbst verstanden, ein Wandel, der weit über das uns bekannte, zunehmend häufigere Nachjustieren einzelner Regelungen hinausgeht. Ein anregendes Potenzial für Sozialgeschichtswissenschaft wie Sozialwissenschaft bietet das neue von der Volkswagen-Stiftung geförderte Projekt zur Transformation der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, angesichts der Verschlechterung der makroökonomischen Performanzprofile und tiefgreifender Strukturveränderungen, zunehmender Interdependenzen einzelner Politikfelder usw.118 4. Das historisch Gewordene und die Zukunft der Sozialpolitik: Grenzen oder neue Aufgaben für die Forschung? Der Gegenstandsbereich sozialpolitischer Forschung befindet sich aufgrund seiner inneren Dynamik in Fluss und verändert sich ständig. Historische Forschungsergebnisse auch als relevant für die Zukunft der Sozialpolitik heranzuziehen, ist für Sozialwissenschaftler eher selbstverständlich als für Historiker. Dahinter steht folgende Grundüberzeugung: Sozialpolitik beruht auf Annahmen über eine gesellschaftliche Normalität, deren Merkmale und Bedingungen einem beschleunigten Wandel unterliegen. Die jeweilige Analyse, wie Bestimmung von Normalität und situativer Rationalität, die Ausgangspunkt sozialpolitischer Regulierung wurden, kann grundsätzlich nur historisch erfolgen. Die „Geschäftsgrundlage“ ändert sich, aber die geschaffenen Institutionen bleiben weitgehend bestehen und sind nur historisch zu erklären. Von hier aus können auch Eigendynamik sowie Pfadabhängigkeit sozialstaatlicher Institutionen und Regularien einschließlich „richtiger“ oder „falscher“, adäquater oder inadäquater Traditionsbildungen analysiert und bewertet werden. Die historische Forschung dient dann weniger klassifikatorischen oder legitimatorischen Interessen – Stichwort „Bismarck“ –, sondern ideologiekritischer Selbstbesinnung, mit ihren Ergebnissen können Reformprozesse begleitet, vielleicht sogar ausgelöst werden. Allerdings: Aus der Geschichte allein lassen sich positive Optionen nicht ableiten, ihre Kenntnis zielt eher auf Offenheit gegenüber zukunftsweisenden Lösungen. Sinnvoll ist es, „frühere Entwicklungen mit aktuellen Problemlagen“ zu verbin117 Vgl. Bernd Baron von Maydell/A. Nußberger (Hg.): Transformation von Systemen sozialer Sicherheit in Mittel- und Osteuropa. Berlin 2000. 118 Leibfried/Obinger, Zur Zukunftsfrage (wie Anm. 96).

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den.119 Für den Sozial- und Verfassungsrechtler Hans F. Zacher ist es ein „historisches Gesetz“, dass „sich die Zukunft des Wohlfahrtsstaates aus seiner Vergangenheit entwickelt“. Es gehe darum, das „Zukunftsfähige und Zukunftsnotwendige des Wohlfahrtsstaates aus dem historisch gewordenen herauszufinden – das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden“120. Aber was ist wesentlich? Was sind Kerndomänen? Was sind politisch begehbare Reformpfade nach bisherigen Erfahrungen auch auf benachbarten Politikfeldern? Das ist trotz aller skizzierten Fortschritte fast ein neues interdisziplinäres Forschungsprogramm, das auf die Feststellung von Invarianzen der Probleme gerichtet ist und auf langfristige, historischempirisch feststellbare Wirkungen. Dabei geht es um den Wandel von Grundsatzfragen und Sinnstrukturen, etwa bei Subsidiarität121 und Solidarität mit Benachteiligten, Bindung der sozialen Sicherung an die Erwerbsarbeit122, Arbeitsteilung zwischen Sozialstaat und Steuerstaat, Verhältnis privater Reproduktion durch Arbeit, Familie und Eigentum und deren Förderung oder Gefährdung durch Sozialpolitik, Auflösung oder Verstärkung gesellschaftlicher Grenzlinien durch sozialstaatliche Leistungen – auch und gerade in einem europäischen Gesellschaftsmodell. Aktuell fast noch wichtiger und für historische Forschung ermutigend ist, dass die Schule der Comparative Political Economy, die inzwischen länderübergreifend von prägender Bedeutung für die ökonomischen Grundlagen der Sozialstaatstransformation ist, stark historisch ausgerichtet ist.123 Die Forschungen zur Zukunft des Sozialstaates zeigen sich als vergleichende Analyse wohlfahrtsstaatlicher Reformpolitik und Institutionen an den Schnittstellen zum nationalen System der politischen Ökonomie. Im OECD- wie im EU-Raum stehen unterschiedliche politischökonomische Regime miteinander im Wettbewerb, die auch, wie die EU selbst, die jeweilige Sozialpolitik prägen. Dabei gilt – implizit normativ! – die flexible Marktwirtschaft nach dem Muster der USA als zukunftsträchtige Zielgröße: Geringe Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Dominanz bedürftigkeitsgeprüfter bzw. einkommensabhängiger Leistungen im Arbeitsmarktbereich, schwacher Kündigungsschutz und Firmentarife bzw. individuell vereinbarte Löhne, hohe Lohndifferenzen, Deregulierung im klassischen Sinn. Diese Kennzeichen laden nicht nur zu einer wissenschaftlichen Exkursion in die USA ein, sondern auch zu einem Ausflug in die Geschichte des liberalen 19. Jahrhunderts in Europa. Die ökonomische und sozialwissenschaftliche Forschung zum Rückbau des Wohlfahrtsstaates könnte, wie angedeutet, durch Rückgriff in die Geschichte auch materiellen Gehalt, vielleicht auch kritische Potenz, 119 Zentrum für Sozialpolitik: Tätigkeitsbericht Oktober 1988 – März 1993. Bremen 1993, S. 39 ff. 120 Hans F. Zacher, Die Dilemmata (wie Anm. 16); ders.: Die Herausforderung des Sozialstaats und die Interpretation des sozialen Staatsziels, in: Boecken/Ruland (Hg.), Sozialrecht (wie Anm. 92), S. 827–846, insbes. 830 ff. 121 Christoph Sachße: Subsidiaritätsprinzip, in: Rupert Graf Strachwitz (Hg.): Dritter Sektor. Dritte Kraft. Düsseldorf 1998, S. 369–382. 122 Alber/Kohl (Hg.), Arbeitsmarkt (wie Anm. 95). 123 Herbert Kitschelt/Peter Lange u. a. (Hg.): Continuity and Change in Contemporary Capitalism. Cambridge 1999. Auch die Forschungen des MPI für Gesellschaftsforschung, Köln, sind dieser verpflichtet.

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bekommen. Man könnte so vermutlich nachweisen, dass die Sozialpolitik für den Markt nicht nur Probleme schuf, sondern auch löste, durch ihre universelle Gestaltung für Markt und Wandel Raum schaffte, protektionistische Absprachen zugunsten einzelner Branchen milderte oder verhinderte, mochten die Sozialkassen auch mit der Abfederung von Systemtransformationen wie bei der deutschen Einheit überfordert gewesen sein! Obwohl aktuelle Vorschläge meist nicht historisch begründet werden, ist man meist an die Volksweisheit erinnert: Alles schon einmal da gewesen! Immerhin sieht es so aus, als ob der Fundus sozialpolitischer Reforminstrumente grundsätzlich feststehe, nur sind die früheren Fälle von Anwendung wie Außerkraftsetzung vergessen. Die Möglichkeiten, darauf zurückzugreifen, haben sich gewandelt, verringert – nicht zuletzt im Zeichen korporativer Verfestigungen und eines sozialstaatlich abgefederten Wohlstands. Was gab es nicht schon alles allein im nationalen Rahmen: Auf Grundsicherungen oder Zuschüsse beschränkte Sozialleistungen des Staates, individuelle Verträge zwischen Ärzten und Krankenkassen, freie Kassenwahl und Eigeneinrichtungen von Krankenkassen. Angesichts neuer Diskussionen über Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und Gemeinschaftspraxen (Gesundheitszentren) wird man an die Ambulatorien der Weimarer Republik und die Polikliniken der DDR erinnert, an das Dispensairesystem bei chronischen Krankheiten usw. Die historische Sozialpolitikforschung hat eine Zukunft, sie kann wie andere sozialpolitische Disziplinen zur Konkretisierung des sozialen Staatsziels beitragen, wenn sie solide recherchierte, relevante Informationen zur Politik und Rechtsanwendung beisteuert und das auch in vergleichende und europäische Perspektiven einbettet. Sie hat eine Zukunft, wenn die Sozialpolitiker auch aus der Geschichte lernen wollen – aus den Wegen wie den Irrwegen. Dann gilt heute: Soviel Zukunft war nie.

Toni Pierenkemper WIRTSCHAFTSGESCHICHTE UND WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN. VOM NUTZEN IHRER WECHSELWIRKUNGEN Interdisziplinarität als Prinzip wissenschaftlichen Arbeitens ist von vielen Seiten häufig eingefordert worden. Für die Wirtschaftsgeschichte als „Fach zwischen den Fächern“1 ist eine „Brückenfunktion“ sogar gelegentlich in den Rang eines ihrer konstituierenden Prinzipien erhoben worden.2 Wenn dem so wäre, müssten die Wirtschaftswissenschaften einer der ersten Partner für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsgeschichte sein, und ein wissenschaftlicher Austausch zwischen beiden Fächern wäre die zwangsläufige Folge. Lässt sich aber eine derartige Wechselwirkung beobachten? Diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten, fällt schwer. Der mir von den Herausgebern des Jubiläumsbandes angetragene Problemkomplex, wie er im Titel dieses Beitrags angedeutet wird, steckt voller Tücken. Im Hinblick auf den unterstellten Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgeschichte und den Wirtschaftswissenschaften wäre nämlich zunächst einmal zu fragen, ob es die behauptete Wechselwirkung zwischen den beiden Disziplinen überhaupt gibt und worin sie möglicherweise besteht. Falls ja, so gilt es, den wie auch immer gearteten „Nutzen“ einer Kooperation für das eine oder andere der beteiligten Fächer abzuschätzen. Und schließlich handelt es sich bei beiden Fächern keineswegs um zwei im engeren Sinne wohldefinierte wissenschaftliche Disziplinen, sondern innerhalb derselben kämpfen widerstreitende wissenschaftliche Paradigmen um ihre Anerkennung; zudem sind hinsichtlich ihrer Relevanz Veränderungen, Entwicklungen, gar „Moden“ zu beobachten. Der Austausch zwischen Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeschichte muss also über eine schmale, möglicherweise wenig tragfähige, immer vom Einsturz bedrohte Brücke bewerkstelligt werden. Es wundert daher nicht, dass dieser Weg nur selten begangen wird. Den Nutzen dieses Brückenschlags abzuschätzen, erscheint daher als außerordentlich schwierig, und bei den folgenden Ausführungen kann es nicht um mehr gehen, als sich dem aufgezeigten vielfältigen, mehrdimensionalen Fragenkomplex anzunähern. Blickt man auf die akademische Institutionalisierung der beiden Disziplinen in Deutschland, so bleibt eine gewisse Distanz bis heute unübersehbar. Nur in wenigen Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gibt es noch Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte, einige ehemals existierende wurden in letzter Zeit gestrichen, weitere sind bedroht. Von den Blütenträumen der sechziger Jahre, als vom Wissen-

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Wolfgang Zorn: Arbeit im Fach zwischen den Fächern. Ein Menschenalter auf Lehrstühlen für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Ders.: Wirtschaftlich-soziale Bewegung und Verflechtung. Stuttgart 1992, S. IX–XXIII. Christoph Buchheim: Die Sicherung der Interdisziplinarität als Kernbestandteil des Faches Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: VSWG 82 (1995), S. 390–391.

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schaftsrat für jede Wirtschaftsfakultät ein Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte gefordert wurde,3 sind wir inzwischen weit entfernt. In den wenigen Fakultäten, in denen noch ein Wirtschaftshistoriker wirkt, führt das Fach als sogenanntes Wahlfach häufig ein Schattendasein. Es daraus durch den Nachweis der „Nützlichkeit“ für die Betriebswirtschaftslehre wie Volkswirtschaftslehre zu befreien, sollte dem jeweiligen Lehrstuhlinhaber ein allererstes Anliegen sein.4 Dabei stehen wir in einer Bringschuld gegenüber unseren wirtschaftswissenschaftlichen Kollegen, denn der Nutzen einer historischen Betrachtung für die Wirtschaftswissenschaften erscheint vielen keinesfalls evident. Auf der Ebene der wissenschaftlichen Vereinigungen im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften steht das Fach ebenfalls eher am Rande. Zwar gibt es seit einigen Jahrzehnten eigens einen Wirtschaftshistorischen Ausschuss im Verein für Socialpolitik – und dieser erfreut sich gegenwärtig eines bemerkenswerten Zulaufs, aber leider weniger von Ökonomen. Seine Wahrnehmung in den Wirtschaftswissenschaften bleibt eher gering – ganz zu schweigen von der von diesen eher als exotisch empfundenen Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.5 Im Dogmenhistorischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik findet sich kaum ein Wirtschaftshistoriker, und auch hier sind Vorbehalte der ideengeschichtlich orientierten Theoretiker gegenüber einer realhistorischen Perspektive, wie sie ein Wirtschaftshistoriker bevorzugt, gelegentlich unübersehbar. Was die deutsche Zeitschriftenlandschaft betrifft, so verfügt die Wirtschaftsgeschichte zwar über die mehr als ein Jahrhundert alte Jubilarin, deren Jubiläum wir dieses Jahr feiern,6 doch schon ihr Titel mit der Voranstellung der Sozialgeschichte ist Programm. Nicht Wirtschaftsgeschichte, wie sie von Ökonomen goutiert wird, bildet ihren Schwerpunkt, sondern das weite Feld der „Sozialgeschichte“ in ihren vielfältigen Varianten und Entwicklungen, die von der Struktur- zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte reichen. Darüber hinaus soll in dieser Zeitschrift auch die ältere Geschichte gebührende Berücksichtigung finden. Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, ursprünglich nach seiner Gründung in der DDR stramm marxistisch orientiert,7 versucht nun seit gut zehn Jahren der modernen Wirtschaftsgeschichts3

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Knut Borchardt: Wirtschaftsgeschichte: Wirtschaftswissenschaftliches Kernfach, Orchideenfach, Mauerblümchen oder nichts von dem?, in: Hermann Kellenbenz/Hans Pohl (Hg.): Historia socialis et economica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1987, S. 17–31, hier 19. In Köln z. B. wird ein Teil des Fachs mittlerweile auch im Rahmen der Volkswirtschaftslehre gelehrt und als „Spezielle Volkswirtschaftslehre“ im Diplomexamen geprüft. Dies trotz aller ehrenwerten Bemühungen seitens der Vereinigung. Vgl. dazu Jörg Rode: Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1961–1998). Stuttgart 1998. Hermann Aubin: Zum 50. Jahrgang der VSWG, in: VSWG 50 (1963), S. 1–24, sowie Wolfgang Zorn: „Volkswirtschaft und Kulturgeschichte“ und „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Zwei Zeitschriften in der Vorgeschichte der VSWG, in: VSWG 72 (1985), S. 457–475. Neuerdings Hans Pohl: Rückblick auf die Jahrgänge 1990 bis 2001 der Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 89 (2002), S. 449–453. Carl-Ludwig Holtfrerich: Zur Position und Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte in der DDR seit 1960. Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, in: GG 8 (1982), S. 145–153; Wilfried Feldenkirchen: Das Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 78 (1991), S. 532–548.

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schreibung ein angemessenes Forum zu bieten, mit beachtlichem Erfolg, wie ich meine. Eine Reihe weiterer Spezialzeitschriften der Unternehmens-, Technik-, Handels-, Agrar- und wie auch immer -geschichte bedient ein z. T. sehr spezifisches Publikum; sie bleiben in der Wirkung auf die Wirtschaftswissenschaften daher begrenzt. Dass ein Wirtschaftshistoriker in einer ökonomischen Fachzeitschrift vertreten ist, stellt bis heute eine seltene Ausnahme dar,8 und dass ein ausgewiesener Ökonom in einem wirtschaftshistorischen Journal, vielleicht sogar mit einem historischen Thema vertreten ist, ist ebenso selten.9 Alles in allem bleibt also festzuhalten, dass von einer Wechselwirkung zwischen der Wirtschaftsgeschichte und den Wirtschaftswissenschaften in Deutschland, zumindest auf der Ebene akademischer Institutionen – seien es die Wirtschaftsfakultäten der Universitäten, die wissenschaftlichen Vereinigungen oder die Zeitschriften – nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, gesprochen werden kann. Man ist also gehalten, wenn es im Weiteren darum gehen soll, den Nutzen einer Wechselwirkung zwischen beiden Disziplinen zu eruieren, eher im Konjunktiv als im Indikativ zu sprechen. II Das Bemühen um den wissenschaftlichen Austausch zwischen den beiden Disziplinen, die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaften, ist gewiss in beachtlichem Maße abhängig vom „Nutzen“, den die Partner von einer derartigen interdisziplinären Kooperation erhoffen. Damit kommt das zweite, eingangs erwähnte Problem ins Spiel: die Abschätzung und Bemessung des Nutzens wissenschaftlichen Arbeitens allgemein und im Besonderen der einer wissenschaftlichen Kooperation. Man kann es sich natürlich einfach machen und die schiere Existenz einer Wissenschaft mit einer entsprechenden wissenschaftlichen Produktion als Nachweis ihres Nutzens ansehen – sonst hätte sich ja niemand der Mühe der Produktion und der Last der Kosten unterzo-

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Dies gelingt nur wenigen Kollegen und auch nur dann, wenn sie eine dezidiert ökonomische Ausbildung und Orientierung aufweisen wie z. B. Knut Borchardt, Richard Tilly oder Jörg Siegenthaler. Für Historiker im engeren Sinne ist das nahezu ausgeschlossen. Vgl. unlängst Mark Spoerer: Moralische Geste oder Angst vor Boykott? Welche Großunternehmen beteiligen sich aus welchen Gründen an der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2002/1, S. 37–48. So z. B. Klaus F. Zimmermann, Direktor des DIW in Berlin, Christoph M. Schmidt als international anerkannter Ökonometriker und Bert Rürup, Mitglied des Sachverständigenrats, im JbWG 1996/2; in der gleichen Zeitschrift finden sich weitere Beiträge von Klaus F. Zimmermann: 2000/1, S. 225–237, ebenso von Hans-Jürgen Wagener: 1997/2, S. 179–191 und anderen. Insbesondere der Band 2002/1 über Wirtschaftspolitik nach dem Ende der Bretton Woods Ära vereinigt eine große Zahl z. T. international angesehener Ökonomen von Heiner Flassbeck bis Jürgen Kromphardt und von Randall S. Krozner bis Barry Eichengreen. Im Band 2003/2 (im Erscheinen) C. Christian von Weizsäcker: Zur Logik der Globalisierung und Jürgen B. Donges: Aktuelle Kontroversen in der Globalisierungsdebatte.

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gen.10 Doch diese Sicht greift zu kurz; zu auffällig ist die wissenschaftliche Nutzlosigkeit beispielsweise mancher Auftragsarbeiten, deren „Nutzen“ ja auch ganz woanders als im Erkenntnisgewinn vermutet werden kann, und gelegentlich kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass manche Arbeiten für das Fach sogar mit negativem Nutzen versehen und schädlich sein können. Ökonomen haben immer wieder die Frage zu beantworten versucht, welcher Nutzen von einer Beschäftigung mit der Wirtschaftsgeschichte für die Ökonomie erwartet werden kann, welche „Nachfrage“ nach Wirtschaftsgeschichte seitens der Wirtschaftswissenschaften zu vermuten ist. Als einer der Kronzeugen lässt sich Joseph A. Schumpeter zitieren, der der Wirtschaftsgeschichte für die ökonomische Theorienbildung insgesamt eine entscheidende Rolle beimisst: „Es steht meines Erachtens fest, dass die meisten grundlegenden Fehler, die immer wieder in der Wirtschaftsanalyse gemacht werden, häufiger auf einen Mangel an geschichtlicher Erfahrung zurückzuführen sind als auf andere Lücken im Rüstzeug des Wirtschaftswissenschaftlers.“11 Auch Kenneth Arrow sieht in der Wirtschaftsgeschichte ein wesentliches Element der ökonomischen Analyse, weil es ihm einerseits klar zu sein scheint, dass die ökonomischen Phänomene der Gegenwart nur in ihrer historischen Entwicklung und aufgrund von historischen Erfahrungen zu verstehen sind und andererseits so auch der Blick auf die institutionellen Rahmenbedingungen gelenkt werden kann, die nicht unmittelbar in den ökonomischen Analysezusammenhang eingehen.12 Im Hinblick auf die Analyse des Wirtschaftswachstums hat Walther G. Hoffmann den Zusammenhang zwischen Theorie und Geschichte spezifiziert.13 Er sieht in der wirtschaftshistorischen Forschung eine notwendige Voraussetzung für das wirtschaftstheoretische Arbeiten, weil dadurch die empirische Basis der Nationalökonomie entscheidend erweitert wird.14 Speziell für die Wachstumstheorie scheint ihm nur so eine „Erfahrungsbasis“ zu gewinnen zu sein, indem lange historische Reihen ökonomischer Größen konstruiert werden und zugleich deren Zuverlässigkeit in der Offenlegung der Annahmen der Schätzungen deutlich gemacht wird. Darüber hinaus lässt sich an diesen historischen Daten der Wahrheitsgehalt von Hypothesen überprüfen, ob sie sich bewähren und beibehalten werden können oder ob sie als

10 Dieser etwas merkwürdigen Argumentation folgt Wolfram Fischer: Vom Nutzen der Wirtschaftsgeschichte, in: Scripta Mercaturae 2001, S. 26–50, insbes. 28–30, wobei er den gesellschaftlichen „Nutzen“ vom wissenschaftlichen Nutzen zu scheiden weiß. 11 Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse. Göttingen 1965, S. 43. 12 Kenneth J. Arrow: Maine and Texas, in: American Economic Review 75 (1985/2), S. 320–323. 13 Walther G. Hoffmann: Wachstumstheorie und Wirtschaftsgeschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte und Ökonomie. Köln 1973, S. 94–103. 14 Und genau dies hat er durch seine eigenen umfangreichen historischen Forschungen geleistet. Seine Berechnungen zur britischen Industrieproduktion in Walther [G.] Hoffmann: Stadien und Typen der Industrialisierung. Jena 1931; ders.: British Industry 1700–1950. Oxford 1955, bilden bis heute die Basis für die Sozialproduktschätzung in Großbritannien für das 19. Jahrhundert. Sein großes Werk: Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1965, stellt trotz aller Schwächen bis heute das Standardwerk für alle quantitativ arbeitenden Wirtschaftshistoriker dar.

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unhaltbar verworfen werden müssen. Die Geschichte wird somit zur Richterin über ökonomische Theoreme. Aus dieser Perspektive könnte man die Wirtschaftsgeschichte „gewissermaßen als retrospektive empirische Wirtschaftsforschung bezeichnen“15 – soweit Hoffmann. Die Volkswirtschaftslehre ist und bleibt – trotz aller Formalisierung und Mathematisierung der modernen Theorie – eine Erfahrungswissenschaft. Im Zusammenhang der dafür erforderlichen Datenerfassung und Sicherung des empirischen Wissens vermag auch die Wirtschaftsgeschichte eine wichtige und zentrale Aufgabe wahrzunehmen, quasi als „empirische Nationalökonomie“, wie Helmstädter das beschreibt,16 oder als „retrospektive empirische Wirtschaftsforschung“ (Walther G. Hoffmann). Ob es sich dabei um ein „prä-theoretisches Informationswissen“ handelt, wie Helmstädter annimmt, ist indes zu hinterfragen, weil historisches Arbeiten niemals antiquarisch, gleichsam theorielos erfolgen kann und darf. Schon die Auswahl des Untersuchungsgegenstands, erst recht aber die Operationalisierung der Fragestellung und die Umsetzung in empirische Forschung (Begriffs- und Kategorienbildung, Bestimmung von Indikatoren, Auswahl und Bearbeitung der Quellen) verlangt ein beachtliches Maß theoretischer Reflexion.17 Auch umgekehrt lässt sich ein enger Zusammenhang herstellen, wenn die Geschichte zur Veranschaulichung ökonomischer Theoreme verwandt wird. Die Wirkungen der großen Pest von 1352 auf das Verhältnis zwischen Bevölkerung (Zahl der Arbeitskräfte) und der Bodenausstattung eignet sich z. B. vorzüglich zur Veranschaulichung der Grenzproduktivitätstheorie.18 Immer wieder haben auch Ökonomen den Versuch unternommen, über eine partielle Rezeption der Wirtschaftsgeschichte Zugang zu ihrem Gegenstand zu finden. Dabei ist auch von ihnen das Verhältnis zwischen ökonomischer Theorie und Wirtschaftsgeschichte aufgegriffen und in allgemeinerer Form dargelegt worden; immer zugleich mit dem Ziel verbunden, einen zusätzlichen Nutzen aus so verstandener Interdisziplinarität zu gewinnen.19 Diese Versuche knüpfen häufig an die Methodendiskussion innerhalb der Sozialwissenschaften an,20 zu denen ja trotz in15 Hoffmann, Wachstumstheorie (wie Anm. 13), S. 145. 16 Ernst Helmstädter: Die Geschichte der Nationalökonomie und die Geschichte ihres Fortschritts, in: Ottmar Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie. München 1994, S. 1–13, hier 6. 17 Vgl. dazu Richard H. Tilly: Wirtschaftsgeschichte und Ökonomie: zur Problematik ihrer Interdisziplinarität, in: Erik Boettcher u. a. (Hg.): Jahrbuch für Politische Ökonomie 7 (1988), S. 248– 265; Toni Pierenkemper: Gebunden an zwei Kulturen. Zum Standort der modernen Wirtschaftsgeschichte im Spektrum der Wissenschaften, in: JbWG 1995/2, S. 163–176; Richard H. Tilly: Einige Bemerkungen zur theoretischen Basis der modernen Wirtschaftsgeschichte, in: JbWG 1994/1, S. 131–149. 18 Axel Börsch-Supan/Reinhold Schnabel: Volkswirtschaft in fünfzehn Fällen. Studien in angewandter Mikro- und Makroökonomie. Wiesbaden 1998, S. 3–16. 19 So z. B. Hellmuth Stefan Seidenfus: Was erwartet die Nationalökonomie von einer regionalen Wirtschaftsgeschichte?, in: Fritz Blaich (Hg.): Entwicklungsprobleme einer Region: Das Rheinland und Westfalen im 19. Jahrhundert. Berlin 1981, S. 139–166. 20 Vgl. Hans Albert: Probleme der Theoriebildung. Entwicklung, Struktur und Anwendung sozialwissenschaftlicher Theorie, in: Ders. (Hg.): Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Tübingen 1964, S. 3–70.

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zwischen weitreichender Mathematisierung und Immunisierung gegenüber Empirie21 die Wirtschaftswissenschaften auch weiterhin zu zählen sein sollten. Insbesondere ausgehend von der Popperschen Variante des Kritischen Rationalismus22 wurde der von Eucken als großer methodischer Fortschritt angesehene sogenannte „Datenkranz“ der neoklassischen Ökonomie23 kritisch hinterfragt und problematisiert.24 Der Ableitungszusammenhang und die Formalisierbarkeit einer Theorie stehen in diesem Paradigma im Vordergrund, nicht ihr empirischer Informationsgehalt, ihre Erklärungskraft und ihr prognostischer Wert. Der neoklassische Denkstil droht demnach durch mangelnden Realitätsbezug und empirische Irrelevanz25 zu einer Sterilisierung der Wirtschaftstheorie gegenüber empirischen Fragestellungen zu führen. Dies macht ihn für die wirtschaftshistorische Forschung immer weniger brauchbar, wenn auch Weiterentwicklungen auf der Basis des neoklassischen Ansatzes, durchaus wiederum neuen Möglichkeiten für die empirische Forschung eröffnen.26 Für eine Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsgeschichte bleibt den Wirtschaftswissenschaften auf der Basis dieses Paradigmas nur wenig Raum. Die Beschränkung zulässiger Fragestellungen durch das neoklassische Paradigma,27 charakterisiert durch methodologischen Individualismus, Marginalanalyse und Gleichgewichtsdenken, beinhaltet die Gefahr einer Immunisierung der Theorie gegenüber der Realität, so die wissenschaftstheoretisch argumentierenden Kritiker dieses Denkstils und, was für unseren Zusammenhang noch wichtiger ist, fördert gewiss nicht

21 Als Beispiel dieser Wissenschaftsrichtung vgl. Hans-Peter Grüner: Wirtschaftspolitik. Allokationstheoretische Grundlagen und polit-ökonomische Analyse. Berlin 2001, und die Rezension von Werner Mussler: Ein Zweig der Mathematik. Ökonomie für Modelliebhaber ohne Interesse an der Wirklichkeit, in: FAZ vom 15.4.2002. 22 Begründet in Karl R. Popper: Logik der Forschung. Tübingen 1969 (1935) und vielfältig von ihm weiterentwickelt, z. B. in ders.: Conjectures and Reputations. The Growth of Scientific Knowledge. London 1969. 23 Walter Eucken: Grundlagen der Nationalökonomie. Berlin 1950 (ursprünglich 1939). 24 Dazu vor allem Hans Albert: Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung, in: Ernst Topitsch (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Königstein/Ts. 1980, S. 406–434. 25 Zur Kritik vgl. Helmut Arndt: Irrwege der politischen Ökonomie. München 1979, S. 62 ff. und Niklas Kaldor: Die Irrelevanz der Gleichgewichtsökonomie, in: Winfried Vogt (Hg.): Seminar: Politische Ökonomie. Zur Kritik der herrschenden Nationalökonomie. Frankfurt a. M. 1973, S. 80–102. Neuerdings gehen Ökonomen im Rahmen der experimentellen Ökonomie sogar dazu über, „empirische Relevanz“ für ihre Theorien selbst zu produzieren. 26 Darauf hat unlängst Mark Spoerer im Rahmen der Unternehmensgeschichtsschreibung hingewiesen: Mikroökonomie in der Unternehmensgeschichte? Eine Mikroökonomik der Unternehmensgeschichte, in: Jan-Otmar Hesse u. a. (Hg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorievielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte. Essen 2002, S. 175– 195. 27 Knut Borchardt: Anerkennung und Versagen. Ein Jahrhundert wechselnder Einschätzungen der Rolle und Leistungen der Volkswirtschaftslehre in Deutschland, in: Reinhard Spree (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 200–222, beklagt (S. 206), dass die Auslese von Fragen, mit denen sich Ökonomen vornehmlich beschäftigen, inzwischen nicht mehr durch die Dringlichkeit der Probleme bestimmt wird, sondern zunehmend dadurch, ob sie mit den formalen Modellen der neoklassischen Analyse bearbeitbar sind.

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die Zusammenarbeit mit der Wirtschaftsgeschichte. Gerade aber auch in dieser Auseinandersetzung wäre ein gewisser Nutzen der Wirtschaftsgeschichte für die Wirtschaftswissenschaften zu vermuten, quasi als ein Korrektiv im Rahmen der ökonomischen Theoriebildung, wenn diese denn tatsächlich, was ich bezweifle, die Gewinnung nomologischen Wissens über invariante Beziehungen28 zum Gegenstand haben kann. Sie kann durch die Herstellung eines historischen Zusammenhangs und die Aufdeckung externer Gegebenheiten zur Relativierung der als invariant angenommenen Beziehungen der ökonomischen Theorie beitragen und deren Charakter als Raum-Zeit gebundene „Quasi-Theorie“ veranschaulichen.29 Eine genaue Kennzeichnung der Anwendungsbedingungen ökonomischer Theorien führt häufig zu einer „strukturellen Relativierung“ (Hans Albert) ihres Gültigkeitsanspruchs, manchmal allerdings auch, nach sorgfältigem historischem Quellenstudium, zur Bestätigung und Ausweitung theoretischer Postulate.30 Glücklicherweise lassen sich die Wirtschaftswissenschaften in ihrer methodischen Vielfalt nicht auf das eng definierte neoklassische Paradigma reduzieren. Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften lassen sich zahlreiche Varianten und Entwicklungen in Denkstil und Methode auffinden. Gerade in jüngster Zeit hat die Neue Institutionenökonomik,31 verbunden mit einer gewissen Renaissance der deutschen Historischen Schule,32 erweiterte Möglichkeiten der Kooperation zwischen Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeschichte eröffnet, weil in diesem „neuen“ Paradigma den Rahmenbedingungen (markt-)wirtschaftlichen Handelns, eben dem Euckenschen „Datenkranz“, die gebührende Aufmerksamkeit zuerkannt wird.33 Das Verhältnis zwischen Theorie und Geschichte lässt sich gewiss auch anders als im neoklassischen Paradigma bestimmen. Dazu haben auf der anderen Seite auch

28 Seidenfus, Was erwartet die Nationalökonomie (wie Anm. 19), S. 141, in Anlehnung an Hans Karl Schneider: Methoden und Methodenfragen in der Volkswirtschaftstheorie, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, Band 1. 4. Aufl., Göttingen 1973, S. 1–15. 29 Jonathan R. T. Hughes: Tatsache und Theorie in der Wirtschaftsgeschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Geschichte und Ökonomie. Köln 1973, S. 203–226, hier 204. 30 Dies wurde z. B. bei Reinhold Reith: Lohn und Leistung. Lohnformen im Gewerbe 1450–1900. Stuttgart 1999, deutlich, der auch in der vormodernen Zeit ein weitaus höheres Maß ökonomischer Rationalität nachweisen konnte als es von Historikern und Nationalökonomen gemeinhin angenommen wurde. Möglicherweise gilt dies auch für die Anwendung des Rationalmodells zur Erklärung langfristigen institutionellen Wandels. Vgl. Oliver Volckart: Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen im vormodernen Deutschland. Tübingen 2002. 31 Douglass C. North: Theorie des institutionellen Wandels. Eine neue Sicht der Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1988 (engl. 1981). 32 Die ehemals als „Schmollers Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ herausgegebene Zeitschrift wurde 1972 in Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften umbenannt und als Verbandszeitschrift vom Verein für Socialpolitik herausgegeben. Nach der Neubegründung der zwei Verbandszeitschriften „German Economic Review“ und „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ wurde sie 2000 von neuen Herausgebern (Gert G. Wagner, Richard V. Burkhauser, Richard Hauser, Werner Jann, Dietmar Petzina, Barbara Riedmüller, Timothy M. Smeeding) wiederbegründet als „Schmollers Jahrbuch“. 33 Weitere Ansätze ließen sich z. B. im Rahmen der Industrieökonomik, der Evolutionären Ökonomik oder der Neuen Politischen Ökonomie nennen.

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Historiker beigetragen, die in den späten 60er Jahren auch in den Geschichtswissenschaften eine Theorie- und Methodendiskussion begonnen haben,34 die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Doch diese Diskussion hat langfristig eine Richtung genommen, von der die moderne Sozialgeschichte weitaus stärker profitiert hat als die Wirtschaftsgeschichte.35 Zur Behandlung „harter“ ökonomischer Sachverhalte sind Historiker nur selten vorgedrungen. Hierbei waren und sind Wirtschaftshistoriker auf Theorieangebote der Ökonomen angewiesen. Derartige Angebote sind häufig von einem grundlegenden Missverständnis geprägt, denn den Wirtschaftshistorikern wird zwar konzediert, den gleichen Gegenstandsbereich wie die Wirtschaftswissenschaften zu bearbeiten, nämlich die „historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit“, doch zugleich wird behauptet, sie bedienten sich dabei einer grundsätzlich anderen Methode.36 Doch es ist keineswegs so, dass die moderne Geschichtswissenschaft und – gewiss nicht die Wirtschaftsgeschichte – einem ideographisch-hermeneutischen Historismus huldigt, der das „Verstehen“ einmaliger Zusammenhänge zum Ziel hat.37 Auch sie orientiert sich an sozialwissenschaftlichen Theorien und benützt – soweit möglich – quantifizierende Verfahren bei der Rekonstruktion und Erklärung historischer Wirkungszusammenhänge. Wie sieht also das Angebot der Wirtschaftsgeschichte im Hinblick auf eine Kooperation mit den Wirtschaftswissenschaften aus, was kann sie ihnen bieten? Bislang offenbar wenig – aber sie wurde wohl auch nur selten gefragt! Und damit wären wir wieder beim erwähnten Konjunktiv, wenn nach den möglichen Wechselwirkungen der beiden Disziplinen gefragt wird. Hier, wie in zahlreichen anderen wissenschaftlichen Diskussionen, erweist sich die Kritik an den beobachtbaren Verhältnissen weitaus einfacher als der Nachweis positiver Verbesserungsmöglichkeiten. Wo könnte also der „Nutzen“ der Wirtschaftsgeschichte für einen Austausch mit den Wirtschaftswissenschaften vermutet werden? Insgesamt sollte sich bei der Generierung ökonomischen Wissens ein weites Feld für die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsgeschichte und den Wirtschaftswissenschaften ergeben, denn einerseits bietet, streng genommen, allein die Wirtschaftsgeschichte eine empirische Basis für realitätsbezogene Aussagen der Wirtschaftswissenschaften, andererseits bedarf sie zur Aneignung und Vergewisserung der ökonomischen Realität der Ori34 Nur als Ausgangspunkt einer bisweilen ausufernden Debatte Wehler (Hg.), Geschichte (wie Anm. 29); Jürgen Kocka: Gegenstandsbezogene Theorien in der Geschichtswissenschaft: Schwierigkeiten und Ergebnisse der Diskussion, in: GG (1977), Sonderheft 3: Theorien in der Praxis des Historikers, S. 178–188; Wolfgang J. Mommsen: Die Geschichtswissenschaft in der modernen Industriegesellschaft, in: Bernd Faulenbach (Hg.): Geschichtswissenschaften in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben. München 1974. 35 Bis hin zu den neueren Ansätzen der Kultur- und Mentalitätsgeschichte, z. B. Hans Medick: „Missionare im Ruderboot?“. Ethnologische Erkenntniswelten als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 48–84. 36 So Schneider, Methoden und Methodenfragen (wie Anm. 28); vgl. auch Victor Kraft: Geschichte als strenge Wissenschaft, in: Ernst Topitsch (Hg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln 1968, S. 72–82. 37 Ulrich Muhlack: Verstehen, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 99–131.

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entierung an Kategorien und Fragestellungen der modernen Theorien. Man kann also Kenneth Arrow durchaus folgen, wenn dieser festhält, dass die Wirtschaftsgeschichte der ökonomischen Theorie die empirische Basis bietet, anhand derer die Wirtschaftswissenschaften ihre Hypothesen überprüfen könnten.38 Dies erscheint mir als ein nicht zu gering zu schätzendes Angebot! Doch leider wird von diesem Angebot nur selten Gebrauch gemacht. Das mag auch daran liegen, dass manche Theoretiker neben ihrem Interesse an der Entwicklung formal eleganter Modelle nur wenig Interesse an der Überprüfung ihrer Hypothesen zeigen.39 Doch es wäre unzutreffend, die Arbeit der Wirtschaftshistoriker allein auf dieses Ziel auszurichten. Natürlich verfolgen sie auch eigenständige Fragestellungen und stellen ihre Expertise auch anderen Wissenschaften zur Verfügung. III Der augenfälligste „Nutzen“ einer Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftswissenschaften scheint mir bis heute am ehesten im Bereich der Geschichte der ökonomischen Theorien, der sogenannten Dogmengeschichte, zu finden zu sein – doch bleibt auch dieser Nutzen nicht unumstritten. Eine Reihe von Ökonomen vertritt nämlich die Ansicht, dass in den jeweils neuesten Theorien das Wissen und die Erfahrungen früherer Theoriebildung vollständig inkorporiert sei und daher eine Beschäftigung mit älteren Theorien, der Theoriegeschichte also, welche ironisch häufig als eine Sammlung falscher Gedanken toter Männer charakterisiert wird, überflüssig sei.40 Um wie viel nutzloser erscheint in dieser Sichtweise dann eine Beschäftigung mit vergangenen Wirklichkeiten, der Wirtschaftsgeschichte eben? Denn der Einfluss realer Probleme und Konstellationen auf die Entwicklung ökonomischer Theorien – falls überhaupt konzediert – ist außerordentlich schwierig nachzuzeichnen. Zunächst einmal wäre gegenüber der unterstellten Unabhängigkeit der Theoriebildung von historischer Realität einzuwenden, dass darin eine Vorstellung eingeht, die einen kumulativen Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften insgesamt wie

38 Arrow, Maine and Texas (wie Anm. 12), S. 320. 39 Manchmal verfolgen sie sogar eine gegenläufige Tendenz, wenn sie durch immer weitere zusätzliche Bedingungen ihre Modelle geradezu gegenüber einer empirischen Überprüfung resistent machen. Zu derartigen Immunisierungsstrategien vgl. Albert, Probleme der Theoriebildung (wie Anm. 20), S. 3–70. 40 Frank Hahn: Autobiographical Notes with Reflections, in: Michael Szensberg (Hg.): Eminent Economist. Their Life Philosophy. Cambridge 1992, S. 160–166, insbes. 165, behauptet z. B., dass alles, was die Toten gesagt haben, längst in den Bestand des heutigen Wissens integriert wurde, und wenn wir deren Gedanken heute reformulieren, nun dieses viel besser können als die früheren Autoren selbst. Ähnlich auch George Stigler: Does Economics Have a Useful Past?, in: History of Political Economy, Band 1. 2., 1969, S. 217–230; Mark Blaug: Systematische Theoriegeschichte der Ökonomie, Band 1. München 1971, S. 23, der wie zahlreiche andere Autoren die moderne Theorie zum Maßstab für die Beurteilung der Werke früherer Ökonomen macht.

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auch in der Ökonomie unterstellt. Gegen eine solche Auffassung hat bereits Ernst Helmstädter eindrucksvoll argumentiert, indem er in der Ökonomie neben dem kumulativen Wissensfortschritt Formen zirkulären und substitutiven Fortschritts nachweist.41 Alle drei Formen wissenschaftlichen Fortschritts zeigen sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen. Für die Nationalökonomie erscheinen ihm die empirischen Erfahrungen, das historische Wissen also, eher kumulativ als substitutiv angelegt. Die Sicherung der empirischen Kenntnisse, die Wirtschaftsgeschichte also, bietet jedoch allenfalls eine Basis, auf der eine ökonomische Problemanalyse vorgenommen werden kann. Hierbei gelangen unterschiedliche Theorieansätze oder „Methoden“ wie es bei Helmstädter heißt,42 zur Anwendung. Diese Methoden erweisen sich im Zeitverlauf als variabel. Häufig wurden alte durch neue ersetzt, also ein substitutiver Fortschritt erzielt, manchmal treten neue Methoden neben die etablierten, und man könnte von kumulativem Fortschritt sprechen. Gelegentlich werden alte Ansätze gänzlich verworfen und neue an ihre Stelle gesetzt, ein Paradigmenwechsel, gar eine „wissenschaftliche Revolution“43 zeichnet sich ab, wobei häufig eine spätere Rückbesinnung auf Vorangegangenes in einem solchen Fall den Eindruck eines zirkulären Fortschritts aufkommen lassen mag.44 Was also ist die „Methode“ der Wirtschaftswissenschaften? Darüber kann man viel erfahren, wenn man sich mit den vorausgegangenen Denkern dieser Disziplin beschäftigt, auf deren Schultern einem viel zitierten Bilde nach auch die gegenwärtige Wissenschaftsgeneration steht. Und über das Zustandekommen einer wissenschaftlichen Theorie, die ja viel mehr ist als die Formalisierung eines Zusammenhangs zwischen wohldefinierten Variablen und auch historisch geprägten „Denkstil“ repräsentiert, mag die Analyse der Zeitumstände, eben die Geschichte, und im Falle der ökonomischen Theorie gewiss die Wirtschaftsgeschichte, manches Bedenkenswerte beitragen. Schon Alfred Marshall, der Gründervater der neoklassischen Schule, hat auf den begrenzten Anspruch ökonomischer Theoriebildung hingewiesen, als er in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge (1885) erläuterte, dass

41 Ernst Helmstädter: Die Geschichte der Nationalökonomie und die Geschichte ihres Fortschritts, in: Ottmar Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie. München 1994, S. 1–13. 42 Vgl. Helmstädter, Die Geschichte (wie Anm. 41), S. 7. 43 Dazu ausführlich Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1967 (engl. 1962) und zu einem Gegenentwurf Imre Lakatos: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: Ders./Alan Musgrave (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974, S. 89–189. Als Beispiel aus der Nationalökonomie für diese Art des wissenschaftlichen Fortschritts ließe sich gewiss die sogen. „marginalistische Revolution“ anführen. Vgl. dazu Fritz Söllner: Die Geschichte des ökonomischen Denkens. Berlin 2001 und auch Mark Perlman/Charles R. McCann Jr.: The Pillars of Economic Understanding. Ideas and Traditions. Michigan 1998, S. 307–363. Oder auch die „Keynes’sche Revolution“, vgl. dazu Ulrich van Santum: Die unsichtbare Hand. Ökonomisches Denken gestern und heute. Berlin 1999, S. 100–104. 44 Helmstädter, Die Geschichte (wie Anm. 41), sieht vor allem bei den Methoden einen substitutiven Fortschritt, während er Zirkularität vor allem im Bereich der Wertungen ökonomischer Sachverhalte vermutet.

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die ökonomische Theorie keine universellen Wahrheiten formuliere, sondern lediglich einen „Apparat von universeller Verwendbarkeit zur Entdeckung einer bestimmten Art von Wahrheit“ biete.45 Auch Schumpeter wies immer wieder darauf hin, dass es einen auf ewig gesicherten Stand ökonomischen Wissens niemals gegeben habe und niemals geben könne, weil Theoriebildung ein ständiges Ringen um Wahrheit darstellt.46 In diesem Sinne ist die Vorstellung, dass im neuesten Stand der ökonomischen Theorie gewissermaßen alle Erkenntnisse früherer Zeiten inkorporiert wären, wissenschaftstheoretisch naiv. Gerade die Beschäftigung mit den Zeitumständen der Herausbildung von ökonomischen Denkfiguren eröffnet den Zugang zum Verständnis des Zeittypischen dieser „Denkstile“. Erst in jüngster Zeit haben Arbeiten aus dem Bereich der Theoriegeschichte die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes, der auch schon in den klassischen Arbeiten gelegentlich hervorgehoben wurde, wieder unter Beweis gestellt.47 Selbst darüber, was denn eigentlich der Gegenstand der Ökonomie ist, gab und gibt es bis heute keine Übereinstimmung. Für die klassischen Ökonomen war es nahezu selbstverständlich, dass zum Gegenstandsbereich der Ökonomie der ganze Mensch mit all seinen Eigenarten und die ganze Gesellschaft in ihrer ungeheuren Vielfalt gehörten. Deshalb war es nicht ungewöhnlich, wenn Adam Smith über „moral sentiments“ philosophierte oder Thomas Malthus „preventive checks“ zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums empfahl. Im Zuge wachsenden Wohlstands der Gesellschaft und bedingt auch durch methodische Innovationen bei der Analyse ökonomischer Sachverhalte, verengte sich die Diskussion im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts jedoch auf Verteilungsfragen, und die zuvor dominierenden Fragen nach den Entwicklungsbedingungen der entstehenden Industriegesellschaft gerieten ein wenig aus dem Blickfeld der „Politischen Ökonomie“, wie man den neuen Wissenschaftszweig im 19. Jahrhundert bald benannte. Die „marginalistische Revolution“ am Ende des 19. Jahrhunderts verschob den Focus der Wissenschaft dann grundlegend und rückte nunmehr das individuelle Wahlhandeln gegenüber den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungs- und Verteilungsfragen in das Zentrum der Betrachtung. Mit der Marginalanalyse stand ein formales Instrumentarium zur Verfügung, das dieser Forschungsrichtung zudem einen exakt-wissenschaftlichen Anstrich verlieh. Trotz konkurrierender Forschungsansätze, etwa im Bereich der deutschen Historischen Schule oder des amerikanischen Institutionalismus,48 konnte sich die Neoklassik als mikroökonomisch domi-

45 Alfred Marshall: The Present Position of Economics. Antrittsvorlesung Cambridge (1885), zitiert nach: Joseph A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, Band 2. Göttingen 1965, S. 1161. 46 Ebd. 47 Zu den neueren Arbeiten im Bereich der Theoriegeschichte vgl. Perlman/McCann Jr., The Pillars (wie Anm. 43); van Suntum, Die unsichtbare Hand (wie Anm. 43); eine ältere Arbeit: Dieter Karras: Nationalökonomie und Geschichte. Die Entfaltung von Theorie auf der Basis der Industrialisierung. München 1975. 48 Norbert Reuter: Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie. Marburg 1994.

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nierter „mainstream“ in den folgenden Jahrzehnten durchsetzen und bis heute behaupten, auch wenn zeitweise ein makroökonomisch orientierter Keynesianismus kurzfristig das Feld zu beherrschen schien. Im Extrem bestimmt heute weitestgehend diese Methode, was als ökonomische Fragestellung zugelassen wird und was nicht – eine merkwürdige Verkehrung der Zusammenhänge!49 Schon diese knappen Hinweise zeigen, dass weder der Gegenstandsbereich der Ökonomie als Wissenschaft noch ihre Methoden der Analyse unumstritten sind und waren. Selbst Alfred Marshall plädierte in seinen „Principles of Political Economy“ für eine breite Definition des Gegenstandsbereichs der Ökonomie. Diese solle sich der „study of mankind in the ordinary business of life“ 50 widmen und damit ein weites Feld menschlichen Handelns zum Gegenstand haben. Dies entspricht weitgehend der von den klassischen Autoren vertretenen Auffassung, dass sich die Ökonomie auch der Untersuchung sozialer Strukturen und Institutionen zu widmen habe, die die Produktion, Verteilung und den Austausch der notwendigen Voraussetzungen der menschlichen Existenz regeln. 51 Dieser Anspruch reicht weit über das hinaus, was dann im neoklassischen „mainstream“ den „economics“ zugewiesen wurde. Lionel Robbins wandte sich später vehement gegen ein solchermaßen ausgedehntes Verständnis des Gegenstandsbereichs der Ökonomie. Er sah die Ökonomie in ihrem Kern als eine durch Wahlhandlungen bestimmte Marktökonomie an. Ihr Gegenstand war dann durch nichts anderes als die Suche nach den „laws of choice“ definiert.52 Diese Sicht prägt die „mainstream economics“ bis heute. Drei Elemente zeichnen diesen neoklassischen Denkstil aus: erstens der methodologische Individualismus als Basis menschlichen Handelns, zweitens die Optimierung unter Nebenbedingungen als Verhaltensvorschrift und drittens ein allgemeines Marktgleichgewicht als Ergebnis dieses Verhaltens.53 Diesen unglücklichen Weg einer strikten methodischen Formalisierung und damit engen Begrenzung ihres Gegenstandsbereichs gingen in ähnlicher Weise wie die Wirtschaftswissenschaften zeitweilig auch andere Wissenschaften, z.B. die moderne Soziologie,54 und nah-

49 Darauf verweist z. B. Borchardt, Anerkennung und Versagen (wie Anm. 27), S. 200–222, hier 206. 50 Alfred Marshall: Principles of Political Economy. 2. Aufl., London 1891, S. 1, und er führt weiter aus, dass Political Economy bzw. Economics „examines that part of individual on social action which is most closely connected with the attainment and with the use of material requisits of wellbeing“; er vertritt also eine außerordentlich weite Definition des Gegenstandsbereichs der Ökonomie. 51 Vgl. dazu Geoffrey M. Hodgson: How Economics Forgot History. The Problem of Historical Specificity in Social Science. London 2001, S. 346. 52 Ebd., S. 347 mit Hinweis auf Lionel Robbins (1932). 53 Knapp dazu Söllner, Die Geschichte (wie Anm. 43), S. 52–54; mit etwas anderer Akzentsetzung auch Manfred Neumann: Neoklassik, in: Ottmar Issing (Hg.): Geschichte der Nationalökonomie. München 1994, S. 255–269 und Susanne Wied-Nebbeling: Macht der neoklassische Ansatz als Mainstream Economics noch Sinn, in: WISU 1/2002, S. 64–67. 54 Hodgson, How economics (wie Anm. 51), S. 348 mit Hinweisen insbesondere auch auf Talcot Parsons (1937).

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men dabei eine gravierende Einschränkung ihres Gegenstands in Kauf. Notwendig erscheint daher gegenwärtig ein komplexerer Ansatz, eine Re-Definition der Ökonomie als Sozialwissenschaft. Hierbei könnte die Wirtschaftsgeschichte gewiss gute Dienste leisten. Wenn im Jahre 2002 der Psychologe Daniel Kahnemann den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, weil er einen verhaltenswissenschaftlichen Ansatz zur Erklärung ökonomischen Handelns vorschlug, so weist dies gewiss auch in diese Richtung. Man kann das Plädoyer für eine sozialwissenschaftlich und damit historisch erweiterte Wirtschaftswissenschaft aber auch auf wissenschaftstheoretische Überlegungen stützen. Wenn es denn richtig ist, wie Alfred Marshall bereits in dem angeführten Zitat postulierte, dass Ökonomie als Wissenschaft wie jede andere Wissenschaft nichts anderes ist als eine spezifische Methode zur Gewinnung von Wissen über unsere Welt neben anderen, dann ist damit impliziert, dass es weitere Methoden zur Aneignung der Welt gibt. Wissenschaft, auch die Ökonomie, kann also keine umfassende Welterklärung liefern, sie bietet keine Garantie zur Gewinnung von Wahrheit, zu zahlreich waren auch ihre Irrtümer. Dies gilt gewiss auch für die Wirtschaftswissenschaften, die als nur eine und zudem problematische Methode neben anderen zur Gewinnung von Wissen über das dienen kann, was in unterschiedlichen historischen Umständen die Zeitgenossen jeweils dem Gegenstand ihrer Wissenschaft zurechnen. D. h. weder der Gegenstand der Wirtschaftswissenschaften ist eindeutig geklärt, noch erscheint ihre vorherrschende Methode als einzigartig zur Aneignung von Wissen über unsere Welt. Die Stichhaltigkeit der Erkenntnis wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitens ist daher in zweifacher Hinsicht zu hinterfragen. Zum einen, weil Erkenntnis und Wissen nicht unabhängig vom Betrachter selbst gewonnen werden können.55 Die Wirklichkeit wird auch in der Wissenschaft gesellschaftlich, d. h. unter Rückgriff auf die realen Bedingungen der menschlichen Existenz konstruiert, insbesondere auch im Hinblick auf spezifische historische Erfahrungen. Erneut lässt sich Schumpeter zitieren, der anmerkt: „Der Wirtschaftswissenschaftler [ist] selbst ein Produkt seiner eigenen Zeit und aller vorausgehenden Epochen […], so unterliegt auch die Wirtschaftsanalyse fraglos der historischen Relativität.“56 In diesem Sinne geht der moderne Konstruktivismus davon aus, dass die Wissenschaft mit einer doppelten Wirklichkeit konfrontiert ist. Es gibt eine quasi autonome „objektive“ Wirklichkeit außerhalb der vor allem in der Wissenssoziologie untersuchten intersubjektiven Prozesse, in denen die Menschen ihr Wissen um die Welt erwerben. Diese „objektive Faktizität“57 entspricht allerdings nicht dem „sub-

55 Diesem Problem widmet sich vor allem die Wissenssoziologie, die eine „systematische Beschreibung der intersubjektiven Prozesse, in denen Menschen ihr Wissen um die Welt erwerben“ unternimmt. Vgl. dazu Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 5. 56 Schumpeter, Geschichte (wie Anm. 45), S. 43. 57 Wie Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Neuwied 1965, S. 115, diese Wirklichkeit benennt.

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jektiv gemeinten Sinn“58 unserer Gewissheit über das, was Wissenschaftler zu ergründen vermögen, nämlich die Tatsache, dass spezifische Phänomene existieren und bestimmte Eigenschaften haben. Diese subjektive Gewissheit findet z. B. in wissenschaftlichen Theorien ihren Ausdruck. Wissenschaftliche Erkenntnisse repräsentieren also lediglich „subjektive“ Wirklichkeit und keinesfalls „objektive“ oder „ewige“ Wahrheiten. Dies gelegentlich ökonomischen Theoriebildnern ins Gedächtnis zu rufen, ist gewiss keine leichte, aber eine unverzichtbare Aufgabe. Dabei könnte ein Blick in die Theoriegeschichte und ihre Verknüpfung mit der realen Welt, insbesondere der Wirtschaftsgeschichte, äußerst hilfreich sein. Der zweite Gesichtspunkt, der im Hinblick auf eine allzu große Theoriegläubigkeit von Ökonomen relevant erscheint, ist der, dass die ökonomische Theorie als eine Wirklichkeitswissenschaft59 sich natürlich auch in der Praxis bewähren muss, d. h. die Theorien müssen operational formuliert sein und einer empirischen Prüfung unterworfen werden. Falls eine Theorie einen derartigen Praxistest erfolgreich überstanden hat, gilt sie nicht als „wahr“, sondern lediglich als „bewährt“, als vorläufig gesicherte Annahme – so erkenntnistheoretisch begründete Schlussfolgerungen des Kritischen Rationalismus.60 IV Wenn jedoch Schumpeter, Arrow und andere Wirtschaftswissenschaftler wiederholt auf den Nutzen der Wirtschaftsgeschichte verweisen und damit eine gewisse „Nachfrage“ seitens der Wirtschaftswissenschaften nach wirtschaftshistorischen Forschungen zum Ausdruck bringen und wenn zudem, wie wir glauben, die moderne Theoriegeschichte ohne Rückgriff auf Ergebnisse der Wirtschaftsgeschichte undenkbar erscheint, was können dann die Wirtschaftshistoriker dieser Nachfrage als Angebot entgegensetzen? Seit einer Generation beobachtet inzwischen Richard Tilly die Entwicklungen und den Fortschritt der Zunft im Hinblick auf die Inkorporation moderner wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen und Methoden in die Praxis der Wirtschaftshistoriker. In einem Überblick über den Stand der wirtschaftshistorischen Forschung in Deutschland in den 1960er Jahren überwog seinerzeit noch eine pessimistische Einschätzung. Die Situation erinnerte ihn damals an ein Theaterstück, in dem der Hauptdarsteller fehlte („Playing Hamlet without the Prince“), eben ohne die moderne ökonomische Theorie, weshalb er für eine grundlegende Erneuerung der Wirtschaftsgeschichtsschreibung in Deutschland plädierte.61 Zehn Jahre später

58 So Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Köln 1964, § 1,9, S. 10 über unser subjektives Wissen um die Welt. 59 Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Darmstadt 1964 (1930) zu diesem Terminus und Konzept. 60 Ausführlich dazu Popper, Logik der Forschung (wie Anm. 22). 61 Richard H. Tilly: Soll und Haben. Recent German Economic History and the Problem of Economic Development, in: JEH 29 (1969), S. 298–319, wieder abgedruckt in deutscher Überset-

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ließ sich bereits ein positiveres Bild der Entwicklung skizzieren,62 und mehrere andere Autoren weisen bis heute ebenfalls regelmäßig auf entsprechende Fortschritte hin.63 Hinsichtlich der Gegenstände und Methoden zeichnet sich die wirtschaftshistorische Forschung in Deutschland immer noch durch außerordentliche Vielfalt aus. Darauf hat Tilly in einem resümierenden Beitrag jüngst erneut hingewiesen.64 Es würde zu weit führen, die entsprechenden Beiträge der letzten vierzig Jahre an dieser Stelle würdigen zu wollen. Ein wesentlicher Gesichtspunkt, der auch Tilly von Anfang an besonders am Herzen lag, soll hier jedoch hervorgehoben werden, nämlich die Rezeption der „New Economic History“ in Deutschland. Denn einerseits ist dieser Zweig der Wirtschaftsgeschichtsschreibung durch die Verleihung des Nobelpreises 1993 an Robert W. Fogel und Douglas North65 besonders gewürdigt worden, und andererseits kann gerade die „New Economic History“ oder auch die „Cliometrie“ genannte Forschungsrichtung als ein herausragendes Beispiel für die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Kategorien und Theorieansätze im Bereich der Wirtschaftsgeschichte gelten – übrigens durchaus auch im neoklassischen Paradigma.66 Diese hat auch in Deutschland bereits in den siebziger Jahren zu einigen bemerkenswerten Studien geführt67 und beeinflusst auch gegenwärtig noch einen beachtlichen Teil der Wirtschaftsgeschichtsforschung. Innerhalb dieses Ansatzes geht es um mehr als lediglich eine Quantifizierung der zu untersuchenden Sachverhalte, wie das der Begriff „Kliometrie“ nahe legen würde. Es geht zugleich auch um eine Analyse des Erklärungszusammenhangs, um eine explizite Anwendung ökonomischer Theorien im Rahmen dieser „neuen“ Wirt-

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zung in: Ders.: Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1980, S. 210–227. Ders.: Soll und Haben II. Wiederbegegnung mit der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Ders.: Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1980, S. 228–251, und Claus-Dieter Krohn: Neuere Tendenzen der Wirtschaftsgeschichte, in: AfS 24 (1984), S. 589–592. Günther Schulz: Die neuere deutsche Wirtschaftsgeschichte: Themen – Kontroversen – Erträge der Forschung, in: Wilfried Feldenkirchen u. a. (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, Band 1: Wirtschaft. Stuttgart 1995, S. 400–425, und William Robert Lee: Economic Development and the State in Nineteenth-Century Germany, in: Economic History Review 41 (1988), S. 347–367. Richard H. Tilly: German Economic History and Cliometrics. A Selective Survey of Recent Tendencies, in: European Review of Economic History 5 (2001), S. 151–187. Hansjörg Siegenthaler: Neuer Blick in die Geschichte. Die innovativen Ansätze Robert W. Fogels und Douglass C. Norths, in: Neue Züricher Zeitung vom 16./17.10.1993. Zu den wichtigsten frühen amerikanischen Arbeiten vgl. Peter Temin (Hg.): New Economic History. Selected Readings. Harmondsworth 1973 und eine erste deutschsprachige Einführung bei Thilo Sarrazin: Ökonomie und Logik der historischen Erklärung. Zur Wissenschaftslogik der New Economic History. Bonn-Bad Godesberg 1974. Carl-Ludwig Holtfrerich: Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert. Eine Führungssektoranalyse. Dortmund 1973; Rainer Fremdling: Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840–1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur. Dortmund 1975.

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schaftsgeschichtsschreibung, die durchaus auch ohne unmittelbare quantitative Beweisführung betrieben werden kann. In diesem Sinne überschneidet sich die moderne Wirtschaftsgeschichte z. T. mit der empirischen Wirtschaftsforschung.68 Dieser Zweig der Wirtschaftsgeschichtsschreibung hat sich in Deutschland bislang nur mühsam Gehör verschafft und nicht umfassend durchsetzen können; er wird auch weiterhin durch alternative Entwürfe in Frage gestellt.69 Beginnend in den 1960er Jahren und bis in die Mitte der 1970er Jahre hinein musste sich die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland als eigenständige Disziplin, was sie bis dahin nicht war, etablieren. Dabei kamen ihr die Umstände der damals expansiv angelegten Hochschulpolitik zu Hilfe.70 Damals herrschte in Deutschland in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung ein eher historisch und nicht wirtschaftswissenschaftlich geprägtes Paradigma vor.71 Auf dieser Basis wurden rasch zahlreiche Neubesetzungen von Lehrstühlen vorgenommen, die, wie Knut Borchardt zu berichten weiß, die Kapazitäten der Zunft gelegentlich ein wenig überforderten, weil in einer entscheidenden Phase nicht genügend qualifizierter Nachwuchs zur Verfügung stand.72 Inhaltlich war in der neuen Disziplin ebenfalls Neuland zu erkunden. Man konnte sich an fortgeschritteneren Entwicklungen im Ausland orientieren, den „Annales“ in Frankreich,73 der modernen „social history“ in Großbritannien74 und der

68 Vgl. dazu auch Rolf Dumke: The Future of Cliometric History – a European View, in: Scandinavian Economic History Review 40 (1992), S. 25–46; ders.: Clio’s Climacteric: Betrachtungen über Stand und Entwicklungstendenzen der Cliometrischen Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 73 (1986), S. 457–487. 69 Auf der Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Jena 1997 sollten möglichst zahlreiche dieser Entwürfe vorgestellt und diskutiert werden. Das Ergebnis war eher enttäuschend. Nur Rolf Walter: Wirtschafts- und Sozialgeschichte in ganzheitlicher Sicht, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. Stuttgart 1998, S. 9–20, stellte einen evolutorischen Ansatz zur Diskussion, und Clemens Wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und Wirtschaft, in: Ebd., S. 21–33, entwarf Umrisse einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte als „historische Kulturwissenschaft“; beides Ansätze, die vom derzeitigen Kern der Wirtschaftswissenschaften weit entfernt liegen und daher für eine verstärkte Zusammenarbeit beider Disziplinen vorerst wenig geeignet erscheinen. 70 Siehe Anm. 3. 71 Tilly, Soll und Haben (wie Anm. 61), mit einer Einschätzung der damaligen Lehrbücher, Zeitschriften, Sammelbände und Einzelstudien. Zudem konstatiert er weiterhin einen beachtlichen Einfluss der Historischen Schule mit der deutlichen Tendenz der klassischen Analyse der Ökonomie, vgl. S. 211–214, 226 f. 72 Borchardt, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 3), S. 22. Darauf weisen auch die Dekanatsakten der Frankfurter Fakultät bei der Einrichtung eines Lehrstuhls für Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Jahre 1952 bzw. bei Wiederbesetzung 1960 hin. Vgl. dazu Toni Pierenkemper: Von der Historischen Schule zur Wirtschaftsgeschichte. Die Begründung einer Disziplin in Frankfurt am Main, in: Bertram Schefold (Hg.) (im Erscheinen, Münster, S. 15, 20). 73 Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der ,Annales‘. Berlin 1990. 74 Melvin Richter (Hg.): Essays in Theory and History: An Approach to the Social Sciences. Cambridge 1970; Larry J. Griffin/Marcel van der Linden (Hg.): New Methods for Social History (Sonderband 6 des International Review of Social History). Cambridge 1998.

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in den USA begründeten „New Economic History“.75 Eine engere Anlehnung an die Ökonomie wurde zwar häufig gefordert, jedoch selten eingelöst, ein eigenständiges Paradigma nicht entwickelt.76 Dies ist bis heute so geblieben. Der vorherrschende Eindruck bleibt der einer großen Heterogenität, mit stark variierenden Forschungsinteressen und dem Mangel an einem einheitlichen Paradigma.77 Das Angebot der Wirtschaftshistoriker an die Wirtschaftswissenschaften für eine produktive Zusammenarbeit zwischen beiden ist daher leider ziemlich begrenzt. Einige ältere und jüngere Arbeiten können zwar die Nützlichkeit einer derartigen Kooperation nachweisen, sie stellen aber eher die Ausnahme als die Regel dar. Zu denken ist etwa an Carl-Ludwig Holtfrerichs Arbeit über die Große Inflation,78 die zahlreichen Studien im Umfeld des Inflationsprojekts79 und die Forschungen über die Leistungsfähigkeit der Weimarer Wirtschaft im Zusammenhang mit der sogenannten „Borchardt-Kontroverse“.80 Gegenwärtig steht die Stichhaltigkeit des NS-

75 Sarrazin, Ökonomie und Logik (wie Anm. 66). 76 Vgl. Hermann van der Wee: Perspektiven und Grenzen wirtschaftshistorischer Betrachtungsweisen – Methodologische Betrachtungen, in: VSWG 62 (1975), S. 1–18 und Wolfram Fischer: Die Wirtschaftsgeschichte in den Vereinigten Staaten. Bemerkungen zu ihrem gegenwärtigen Stand und ihren Entwicklungstendenzen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 119 (1963), S. 377–404. 77 So Tilly, German Economic History (wie Anm. 64), S. 154, der die geringe Zahl universitärer Positionen für Wirtschaftshistoriker, die er auf 40 bis 50 schätzt, mit dafür verantwortlich macht. Insgesamt sieht er etwa 150 Personen an der wissenschaftlichen Diskussion beteiligt, eine zu geringe Zahl, um nach intensiver Diskussion zu einer Konsensbildung zu gelangen. Ebd., S. 152. 78 Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1919–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive. Berlin 1980. 79 Gerald D. Feldman u. a. (Hg.): Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1982; dies. (Hg.): Die Anpassung an die Inflation. Berlin 1986; dies. (Hg.): Konsequenzen der Inflation. Berlin 1989. 80 Beginnend mit Knut Borchardt: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision eines überlieferten Geschichtsbildes, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1979. München 1979, S. 87–132 und ders.: Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Erdmann/ Hagen Schulze (Hg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute. Düsseldorf 1980, S. 212–249, beide wiederabgedruckt in Knut Borchardt: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1982, S. 165–182, 183–205; Einwendungen von Carl-Ludwig Holtfrerich: Zu hohe Löhne in der Weimarer Republik?, in: GG 10 (1984), S. 122–141 und Claus Dieter Krohn: Ökonomische Zwangslagen und das Scheitern der Weimarer Republik. Zu Knut Borchardts Analyse der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren, in: GG 8 (1982), S. 415– 426. Dagegen Albrecht Ritschl: Zu hohe Löhne in der Weimarer Republik? Eine Auseinandersetzung mit Holtfrerichs Berechnungen zur Lohnposition der Arbeiterschaft 1925–1932, in: GG 16 (1990), S. 375–402 sowie Mark Spoerer: Weimar’s Investment and Growth Record in Intertemporal and International Perspective, in: European Review of Economic History 1 (1997), S. 271–297. Eine Zusammenfassung wichtiger Argumente bei Jürgen von Kruedener (Hg.): Economic Crisis and Political Collapse: The Weimar Republic 1924–1983. Oxford 1990 und neuerdings Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre. Berlin 2002.

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Aufschwungs nach der Machtergreifung 193381 auf dem Prüfstand, ferner sind zahlreiche Untersuchungen über den deutschen Wiederaufschwung nach 194582 von Interesse, besonders im Vergleich mit den ebenfalls zahlreichen Studien über die wirtschaftliche Entwicklung in der SBZ/DDR83. In allen Arbeiten werden explizit oder implizit Theoriefragmente der modernen Wirtschaftswissenschaften verwendet; sie sind daher dem erwähnten Bereich der empirisch-historischen Wirtschaftsforschung zuzurechnen.84

81 Werner Abelshauser: Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: VfZG 47 (1999), S. 503–538; dagegen Christoph Buchheim: Die Wirtschaftsentwicklung im Dritten Reich – mehr Desaster als Wunder. Eine Erwiderung auf Werner Abelshauser, in: VfZG 49 (2001), S. 653–664 sowie ders.: Zur Natur des Wirtschaftsaufschwungs in der NS-Zeit, in: Ders. u. a. (Hg.): Zerrissene Zwischenkriegszeit. Wirtschaftshistorische Beiträge. Knut Borchardt zum 65. Geburtstag. Baden-Baden 1994, S. 97–119. Vgl. auch die Beiträge im JbWG 2003/1. 82 Beginnend mit Werner Abelshauser: Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone. Stuttgart 1975; daran anknüpfend ders.: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980. Frankfurt a. M. 1983. Eine Kontroverse um die Bedeutung der amerikanischen Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau Westdeutschlands schloss sich daran an, vgl. Knut Borchardt: Die Bundesrepublik in den säkularen Trends der wirtschaftlichen Entwicklung, in: Ders., Wachstum, Krisen (wie Anm. 80), S. 125–150; Rainer Klump: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1985. Neuerdings umfassend Ludger Lindlar: Das missverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität. Tübingen 1997 mit ausführlichen Literaturverweisen. Zu einem wichtigen Aspekt der Entwicklung vgl. Christoph Buchheim: Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945–1958. München 1990 sowie Thomas Bittner: Das westeuropäische Wirtschaftswachstum nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der deutschen und französischen Exportentwicklung. Diss. Münster 2000. 83 Beginnend bereits vor der „Wende“ mit Wolfgang Zank: Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945–1949. Probleme des Wiederaufbaus in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. München 1987. Nach Wiederherstellung der deutschen Einheit und Öffnung der DDRArchive gab es zahlreiche Arbeiten, die die Wirtschaftsentwicklung der DDR in den vergangenen vierzig Jahren kritisch unter die Lupe nahmen. Vgl. dazu JbWG 1995/2: Quantitative Wirtschaftsgeschichte der DDR. Als Ergebnisse eines längeren Forschungsprojektes zur DDR-Wirtschaft vgl. Johannes Bähr/Dietmar Petzina (Hg.): Innovationsverhalten und Entscheidungsstrukturen. Studien zur wirtschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland 1945–1990. Berlin 1996; dies. (Hg.): Deutsche Wirtschaft 1945–1990. Strukturveränderungen, Innovationen und sozialer Wandel. St. Katharinen 1999. Wichtige Untersuchungen mit spezifischen Fragestellungen sind u. a. Rainer Karlsch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945–1953. Berlin 1993; André Steiner: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Marktkalkül. Berlin 1999; Holle Grünert: Beschäftigungssystem und Arbeitsmarkt der DDR. Opladen 1997; Raymond G. Stokes: Constructing Socialism. Technology and Change in East Germany, 1945–1990. Baltimore 2000. 84 Daher lassen sich in diesem Feld auch Arbeiten bedeutender Wirtschaftswissenschaftler zitieren, z. B. Herbert Giersch/Karl-Heinz Paqué/Holger Schmieding: The Fading Miracle: Four Decades of Market Economy in Germany. Cambridge 1992; Karl-Heinz Paqué: Structural Unemployment and Real Wage Rigidity in Germany. Tübingen 1999; ders.: Was ist am ostdeutschen Arbeitsmarkt anders? Vortrag bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik 2000 in Berlin. Magdeburg 2000 (Langfassung).

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Die erwähnten Forschungsbeiträge nehmen alle in unterschiedlichen Formen Bezug auf Kategorien und Konzepte der modernen Wirtschaftswissenschaften und vermögen auf diese Weise den Nutzen der Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen zu demonstrieren. Alle angeführten Beispiele beschäftigen sich mit dem 20. Jahrhundert, doch sie ließen sich mühelos für das 19. Jahrhundert oder frühere Zeiten ergänzen. Gerade bei der Untersuchung langfristiger Entwicklungen, wie des Wirtschaftswachstums und der Zyklizität der Wirtschaft, wäre ein weiter in die Geschichte zurückreichender Zugriff empfehlenswert. Hier kann sowohl die neoklassische als auch die sogenannte „neue“ Wachstumstheorie nützliche Orientierungen für das historische Forschen anbieten.85 Umgekehrt ist die empirische Wachstumsforschung auf die Rekonstruktion langfristiger historischer Reihen angewiesen, wie sie von Wirtschaftshistorikern für die Zeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angeboten werden86 und wie sie für die neuere Zeit auch von Ökonomen zusammengestellt werden.87 Dabei werden immer wieder Datenprobleme und Unzulänglichkeiten in den Schätzmethoden offenbar, die eine dauernde Revision und Verbesserung der vorliegenden Datenreihen notwendig erscheinen lassen.88 Erstaunlich ist, dass bis heute die Kliometrie im engeren Sinne in Deutschland nicht Fuß fassen konnte. Unter den deutschen Fachvertretern findet sich kaum jemand, der sich dieser Forschungsrichtung im Rahmen der „New Economic History“ zurechnen würde,89 obwohl gerade die Verleihung der Nobelpreise an Robert Fogel und Douglass North ausdrücklich mit ihren inzwischen immerhin mehr als dreißig Jahre alten Arbeiten in diesem Forschungsfeld90 begründet 85 Vgl. dazu Tilly, German Economic History (wie Anm. 64), S. 156. 86 Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft (wie Anm. 14); Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Berlin 1977. 87 Werner Glastetter u. a.: Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1980. Befunde, Aspekte, Hintergründe. Frankfurt a. M. 1983. 88 Rainer Fremdling: German National Accounts for the 19th Century, in: Scandinavian Economic History Review 43 (1995), S. 77–100; Albrecht Ritschl/Mark Spoerer: Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktstatistiken 1901–1995, in: JbWG 1997/2, S. 27–54; dieser Band insgesamt mit dem Untertitel „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen im internationalen Vergleich“ mit diversen Beiträgen zum Thema. Zur Problematik von Zeitreihen und deren Analyse vgl. insbesondere Rainer Metz: Trend, Zyklus und Zufall. Bestimmungsgründe und Verlaufsformen langfristiger Wachstumsschwankungen (VSWG, Beiheft 165). Stuttgart 2002 und Reinhard Spree: Lange Wellen wirtschaftlicher Entwicklung in der Neuzeit. Erklärungen und Untersuchungsmethoden. Köln 1991. 89 Erste Ansätze bei Ritschl, Deutschlands Krise (wie Anm. 80). Bezeichnenderweise lassen sich am ehesten Richard Tilly und von den jüngeren Lehrstuhlinhabern John Komlos dieser Forschungsrichtung zurechnen, beides amerikanische Importe auf deutschen Lehrstühlen. Neben Ritschl wären von den jüngeren Forschern zunächst noch Jörg Baten und Mark Spoerer zu nennen. Es scheint also so, dass mittlerweile auch hier die Frucht aufgeht. Siehe dazu den Beitrag von Jörg Baten im vorliegenden Band. 90 Robert W. Fogel: Railroads and American Economic Growth. Essays in Econometric History. Baltimore 1964; Douglass C. North: Economic Growth in the USA 1790–1860. New York 1961; ders./R. Thomas: The Rise of the Western World. Cambridge 1973; Robert W. Fogel/ Stanley L. Engermann: Time on the Cross: The Economics of American Negro Slavery. Boston 1974.

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wurde,91 es sich also um ein äußerst prestigereiches Unterfangen handeln würde. Dennoch sind eine Reihe wichtiger kliometrischer Arbeiten zur deutschen Wirtschaftsgeschichte vorgelegt worden, bezeichnenderweise aber überwiegend von angelsächsischen Autoren.92 Hier bliebe also noch ein Feld zu beackern, das seitens der Wirtschaftsgeschichte zu einer Ausweitung des „Angebots“ an die Wirtschaftswissenschaften und zur Kooperation mit ihnen genutzt werden könnte. Diese Hinweise auf ein mögliches „Angebot“ der Wirtschaftsgeschichte für die Zusammenarbeit sind in zweifacher Weise selektiv. Sie heben die Bedeutung theorieorientierten historischen Arbeitens besonders hervor und beschränken sich weitestgehend auf makroökonomische Zusammenhänge. Beide Begrenzungen sind höchst problematisch, denn es finden sich durchaus Auffassungen, dass der Historiker „nicht eigentlich durch theoretische Lehre, sondern nur durch praktische Übung“ gebildet werde.93 Wegen der Komplexität des Gegenstands müsse jede Theorie entweder trivial oder transzendental ausfallen, und deshalb müsse auf Theorie verzichtet werden. „Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten“. Wenn auch eine derartige Theorieskepsis unter den Historikern nicht mehr sehr verbreitet ist, bleibt doch der Bezug auf Theorien oder gar formalisierte Modelle, wie sie gelegentlich im Rahmen kliometrischer Ansätze verwandt werden, weiterhin äußerst umstritten. Ein weites Feld weniger „harter“ Theorieformulierungen bleibt jedoch zu betrachten,94 kann aber an dieser Stelle nicht weiter beackert werden. Dies gilt auch für die zweite genannte Begrenzung der Argumentation. Nicht nur gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge können nutzbringend historisch analysiert werden, sondern natürlich auch einzelwirtschaftliche. Gerade die moderne Unternehmensgeschichtsschreibung, wiederum wesentlich durch die angelsächsische Business History inspiriert, hat in den letzten Jahren auch in Deutschland ermutigende Fortschritte gemacht.95 Auch diese können hier nicht hinreichend ge91 The Sveriges Riksbank (Bank of Sweden): Prize in Economic Sciences in Memory of Alfred Nobel, Information, 12. Oktober 1993. 92 Vgl. John Komlos/Scott Eddie (Hg.): Selected Cliometric Studies on German Economic History. Stuttgart 1997, darin Richard H. Tilly: Cliometrics in Germany: An Introductory Essay, S. 17–33; ders., German Economic History (wie Anm. 64), S. 155. In dem von Komlos und Eddie besorgten Sammelband finden sich ältere Arbeiten u. a. von Steven B. Webb über Agrarprotektionismus und Kartellpolitik, von Lon Peters über Kartelle, Scott Eddie über Landverteilung und Robert A. Dickler über Landflucht, von Stephen Broadberry über die Lohnentwicklung, Rolf Dumke über das deutsche Wirtschaftswunder und schließlich von Peter Temin über den Korea Boom. Tilly, German Economic History (wie Anm. 64), würdigt weitere Arbeiten aus den Bereichen Wirtschaftswachstum, institutioneller Wandel, Geld- und Bankengeschichte sowie zur Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. 93 So Theodor Mommsen 1874 in seiner Berliner Rektoratsrede. Zitiert nach Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie. München 2002, S. 128. Weit weniger rigoros, aber ebenfalls mit deutlich stärkerer Gewichtung der Quellenarbeit als das bei zahlreichen Wirtschaftshistorikern der Fall ist. 94 Das gilt ja auch für die Wirtschaftswissenschaften, wenn Theoriebildung im Sinne der Formulierung von Forschungsprogrammen als nichtformale Theorie spezifiziert wird. Vgl. dazu Mathias Erlei u. a.: Neue Institutionen-Ökonomik. Stuttgart 1999, S. 21 f. 95 Vgl. im Überblick dazu Paul Erker: „A New Business History“?, in: AfS 42 (2002), S. 557–

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würdigt werden, doch zahlreiche Arbeiten zeichnen sich durch eine sorgfältige Methodenreflexion aus, die auch auf der mikrohistorischen Ebene die Nützlichkeit theoriebezogenen Forschens unterstreicht.96 Dies gilt auch für zahlreiche weitere historische Forschungsbereiche, z. B. die Regionalgeschichte und die Biographik, die hier noch nicht einmal Erwähnung finden können. Die Wirtschaftsgeschichte verfügt also über ein weitaus größeres Angebot als es in meiner knappen Darstellung deutlich wurde. Für eine Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften scheinen mir insgesamt jedoch die durch die New Economic History inspirierten kliometrischen Ansätze besonders geeignet.

604; ders.: Aufbruch zu neuen Paradigmen. Unternehmensgeschichte zwischen sozialgeschichtlicher und betriebswirtschaftlicher Erweiterung, in: AfS 37 (1997), S. 321–365. 96 Vgl. dazu Toni Pierenkemper: Was kann eine moderne Unternehmensgeschichte leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden, in: ZUG 44 (1999), S. 15–31; ders.: Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse. Stuttgart 2000.

Rolf Caesar mit Hans Pitlik und Jan Pieter Schulz FINANZWISSENSCHAFT: FRAGEN UND ANREGUNGEN I. Fragestellung Die Finanzwissenschaft als Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften wird meist als die Lehre von den Staatsfinanzen und ihren Wirkungen auf den privaten Sektor umschrieben. Wie in anderen Bereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat sich allerdings mit der Entwicklung des modernen Leistungs- und Steuerstaates nicht nur das Erfahrungsobjekt der Finanzwissenschaft im Zeitablauf erheblich verändert, sondern auch die darauf bezogene Wissenschaftsrichtung hinsichtlich Methoden und inhaltlichen Schwerpunkten. Hierbei bestehen in methodischer Hinsicht offenkundige Gemeinsamkeiten mit den anderen wirtschaftswissenschaftlichen Teilgebieten. Disziplinspezifisch sind hingegen zwangsläufig die Fragestellungen, denen sich die Finanzwissenschaft älterer und neuerer Provenienz jeweils zugewandt hat. In der folgenden Abhandlung wird versucht, einen gerafften Überblick über einige der zentralen Entwicklungslinien der finanzwissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts und den aktuellen Stand der einschlägigen Forschung zu geben und damit auch der Wirtschaftsgeschichte möglicherweise neue thematische wie methodische Anregungen zu vermitteln. Es versteht sich, dass dabei weder historische noch thematische Vollständigkeit angestrebt werden kann. Vielmehr werden drei ‚Kernfragen‘ herausgegriffen, mit denen sich die Finanzwissenschaft seit langem beschäftigt und bei denen – wie zu zeigen sein wird – einerseits schrittweise Fortentwicklungen, jedoch andererseits auch durchaus fundamentale Neuorientierungen zu beobachten sind. Diese drei Grundfragen betreffen Begründung und Umfang (bzw. Grenzen) der Staatstätigkeit (Abschnitt III), die Finanzierung der Staatstätigkeit (IV) und die Funktionsweise des Staates einschließlich daraus abzuleitender Konsequenzen für die normative Diskussion (V). Diesen Betrachtungen vorangestellt werden einige Überlegungen über die Veränderungen in der methodischen Herangehensweise der ‚älteren‘ und der ‚neueren‘ Finanzwissenschaft (II). Abschließend werden die wichtigsten Gedanken in knapper Form zusammengefasst (VI). II. Wandlungen in der Forschungsmethodik der Finanzwissenschaft 1. Entwicklungstendenzen Einen Hinweis auf zwei zentrale methodische Entwicklungen in der modernen Finanzwissenschaft liefert die spezifische doppelte Zielsetzung einer neueren angelsächsischen Fachzeitschrift, die im Jahr 1972 erstmals erschien und inzwischen zu

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den etablierten Publikationsorganen des Faches zählt. Dort heißt es: „The aim of the Journal of Public Economics is to encourage scientific contributions on the problems of public economics, with particular emphasis on the application of modern economic theory and methods of quantitative analysis“.1 In den letzten Jahrzehnten hat sich bei der Behandlung finanzwissenschaftlicher Fragen eine unübersehbare Akzentverschiebung einerseits in Richtung auf Anwendung der ‚modernen‘ (d. h. primär: der neoklassischen) Theorie, andererseits in Form mathematisch-formaler Analyse vollzogen. Diese beiden Entwicklungen haben die aktuelle Finanzwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend geprägt.2 Einhundert Jahre zuvor war dagegen im deutschen Sprachraum eine Herangehensweise vorherrschend, die als ein Denken in Systemen beschrieben werden kann. Hierfür steht der Anspruch vieler Autoren jener Zeit, alle Bestandteile der Finanzwissenschaft in gedanklich verbundener Form umfassend darzustellen. Besonders herausragend sind hierbei Namen wie August Schäffle, Lorenz von Stein und Adolph Wagner – Autoren, deren Werke die Finanzwissenschaft bis zum Ersten Weltkrieg bestimmten. In der Zeit danach wird von etlichen Autoren gerade dieses Bedürfnis nach umfassender Systematik als unzulänglich, heterogen verwirrend bezeichnet. Die Folgezeit wird als Übergangsperiode empfunden.3 Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass in den nachfolgenden Jahrzehnten bis zum Zweiten Weltkrieg in Deutschland eher eine Phase der methodischen (und auch inhaltlichen) Stagnation zu beobachten ist. Hingewiesen sei auf wissenschaftlich wenig bedeutsame, trokkene Lehrbücher, die etliche Male wieder aufgelegt wurden,4 die durch „Trivialitäten, übertriebene Systematisierungen und vorwissenschaftliche, an administrativinstitutionellen Fragen orientierte Deskription, die sich auf bestimmte staatswissenschaftliche Axiome stützte, viel Finanzkundliches“ charakterisiert waren.5 Parallel dazu konzentrierte sich die angelsächsische Finanzwissenschaft auf rein deduktive Abhandlungen, allerdings bereits mit zunehmendem Rückgriff auf die Mathematik zur unterstützenden Erläuterung.6 Die mathematisierende Herangehensweise setzte sich dann laut F. K. Mann7 im englisch-amerikanischen Raum ab den 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Anthony B. Atkinson: Editorial Policy, in: Journal of Public Economics 1 (1972), 2. Umschlagseite (kursive Hervorhebung durch die Verfasser). Siehe auch die Beiträge von Martin Feldstein, Jean-Jacques Laffont, Nicholas Stern und Joseph Stiglitz in der Jubiläumsausgabe des Journal of Public Economics 86 (2002). Christian Scheer: Die deutsche Finanzwissenschaft 1918–1933 – Ein Überblick, in: Heinz Rieter (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XIII, Deutsche Finanzwissenschaft zwischen 1918 und 1939. Berlin 1994, S. 11–141. So etwa Joseph Conrad: Finanzwissenschaft. Jena 1899; Karl T. von Eheberg: Grundriss der Finanzwissenschaft. Erlangen 1882. Horst C. Recktenwald: Finanzwissenschaft der Gegenwart, in: Horst C. Recktenwald (Hg.): Finanztheorie. Köln/Berlin 1969, S. 13–31, hier 15 mit Verweis auf Fritz Neumark: Wo steht die „Fiscal Policy“ heute?, in: Finanzarchiv N. F. 19 (1959), S. 46–71, hier 46. Zuerst insbesondere Francis Y. Edgeworth: The Pure Theory of Taxation, in: Economic Journal 7 (1897). Fritz K. Mann: Geschichte der angelsächsischen Finanzwissenschaft, in: Wilhelm Gerloff/Fritz Neumark (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Band I. 2. Aufl., Tübingen 1952, S. 469– 488, hier 478.

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vierziger Jahren sowie etwas später auch im deutschen Sprachraum allmählich durch. Diese Entwicklung zur theoretischen Formalisierung und Ökonomisierung war Ende der sechziger Jahre so weit vorangeschritten, dass seinerzeit sogar kritisch die Frage aufgeworfen wurde, was die Finanzwissenschaft methodisch eigentlich noch von der übrigen Ökonomie trenne.8 Auch inhaltlich vollzog sich seit dem Zweiten Weltkrieg – erneut primär im Gefolge der angelsächsischen Diskussion – eine wechselseitige Annäherung zwischen Finanzwissenschaft einerseits und allgemeiner Wirtschaftstheorie andererseits. So weitete die Finanzwissenschaft ihr Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt vom engeren Bereich der rein monetären (fiskalischen) Ströme im Grunde auf die gesamte Volkswirtschaft aus und problematisierte die ökonomischen Beziehungen zwischen öffentlichen und privaten Wirtschaftseinheiten; umgekehrt bezog die allgemeine Wirtschaftstheorie (insbes. die Mikroökonomie) wesentliche Teile der Finanzwissenschaft ein. Insofern erscheint die in Deutschland auch heute noch vielfach vorgenommene Dreiteilung der Volkswirtschaftslehre in Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft – etwa im Vergleich zu der im englischen Raum gängigen Einordnung der Public Economics als Bestandteil der „Applied Economics“ – eher historisch als inhaltlich begründet. Schließlich ging mit der Verlagerung der finanzwissenschaftlich-theoretischen Diskussion in den anglo-amerikanischen Raum seit 1950 eine entsprechende Veränderung der Fachsprache einher; auch die prominenten deutschen Fachzeitschriften ,Finanzarchiv‘ und die frühere ,Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft‘ (heute: ,Journal of Institutional and Theoretical Economics‘) publizieren nahezu ausschließlich in Englisch. Und in einem viel beachteten, breit angelegten Übersichtsartikel über „25 Jahre Neue Finanzwissenschaft“9 werden ebenfalls nahezu ausschließlich angelsächsische Quellen zitiert. 2. Zur heutigen Methodik Wie ein Blick in alle renommierten Zeitschriften der Disziplin zeigt, hat sich die mathematische Formalisierung finanzwissenschaftlicher Fragen allgemein durchgesetzt. Dabei sind vor allem drei Richtungen hervorzuheben. Dies ist zum einen die Methode der Optimierung unter Nebenbedingungen, die bereits aus älteren steuertheoretischen Ansätzen10 bekannt ist, jedoch im Zuge der neueren Beiträge zur Optimalsteuertheorie („Optimal Taxation“) weite Verbreitung gefunden hat.11 Daran anknüpfend hat sich die Methodik der dynamischen Optimierung in der Zeit 8 9

Recktenwald, Finanzwissenschaft der Gegenwart (wie Anm. 5), S. 16. Wolfram Richter/Wolfgang Wiegard: Zwanzig Jahre „Neue Finanzwissenschaft“, Teil I: Überblick und Theorie des Marktversagens, Teil II: Steuern und Staatsverschuldung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 113 (1993), S. 169–224, 337–400. 10 Frank Ramsey: A Contribution to the Theory of Taxation, in: Economic Journal 37 (1927), S. 47–61. 11 Gerold Krause-Junk/Johann H. von Oehsen: Besteuerung, optimale, in: Willi Albers u. a. (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Band 9. Stuttgart 1982, S. 707–723.

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durchgesetzt. Anwendungsbereiche sind etwa die jüngere Debatte um die Rechtfertigung öffentlicher Verschuldung („Tax Smoothing-Hypothese“).12 Besonderes Gewicht hat zweitens die Anwendung der Spieltheorie auf finanztheoretische und -politische Probleme gewonnen, so beispielsweise im Rahmen der Theorie der öffentlichen Güter13, bei Betrachtungen zum Fiskalwettbewerb14 und bei der Analyse von Glaubwürdigkeitsproblemen einer diskretionären Finanzpolitik.15 Die erwähnte allgemeine Mathematisierung der Wirtschaftstheorie seit den dreißiger und vierziger Jahren hat schließlich drittens auch in der empirisch orientierten Finanzwissenschaft zur flächendeckenden Verwendung quantitativer Methoden geführt. Dabei treten die – auch in älteren Arbeiten verwendeten – rein statistischdeskriptiven Methoden zunehmend gegenüber höher entwickelten ökonometrischen Untersuchungsmethoden zurück, die auch durch den Fortschritt im EDV-Bereich möglich geworden sind. Ökonometrische Schätzverfahren (wie etwa multiple Regressionsanalysen) dienen der empirischen Überprüfung theoretischer Hypothesen, so etwa im Rahmen der Public Choice-Theorie16 oder bei der Untersuchung der allokativen und distributiven Wirkungen eines Steuerwettbewerbs.17 II. Begründung und Umfang der Staatstätigkeit 1. Entwicklungstendenzen Die theoretische Auseinandersetzung um Begründung und Umfang staatlichen Handelns im 20. Jahrhundert ist entscheidend von dem dahinter stehenden Staatsbild beeinflusst. Das zeigt sich deutlich bei einem Blick auf die ältere Finanzwissenschaft deutscher und angelsächsischer Provenienz. So war der deutschsprachige Raum seit der reaktionären Gegenbewegung der Romantik im 19. Jahrhundert stark von einer ‚Verklärung‘ des Staates als einer Art von ‚höherem Wesen‘ gekennzeichnet, dessen Rechtfertigung im Kern nicht zu hinterfragen war oder aus einer ‚organischen‘ Perspektive erfolgte.18 Selbst in der zwischen 1952 und 1965 erschienenen 2. Auflage des Handbuchs der Finanzwissenschaft unterbleibt noch eine systematische Auseinandersetzung mit theoretischen Rechtfertigungsansätzen; erst in der folgenden 3. Auflage (publiziert zwischen 1977 und 1983) werden die Rechtfertigungstatbestände genauer gewürdigt, wobei auf das angelsächsische Gedankengut zurück12 Robert J. Barro: On the Determination of the Public Debt, in: Journal of Political Economy 87 (1979), S. 940–971. 13 Richard Cornes/Todd Sandler: The Theory of Externalities, Public Goods, and Club Goods. 2. Aufl., Cambridge u. a. 1994. 14 David E. Wildasin: Urban Public Finance. Chur u. a. 1986. 15 Stanley Fischer: Dynamic Inconsistency, Cooperation and the Benevolent Dissembling Government, in: Journal of Economic Dynamics and Control 2 (1980), S. 93–107. 16 Z. B. William M. Crain/Robert Tollison (Hg.): Predicting Politics. Ann Arbor 1990. 17 Lars P. Feld: Steuerwettbewerb und seine Auswirkungen auf Allokation und Distribution: ein Überblick und eine empirische Analyse für die Schweiz. Tübingen 2000. 18 Vgl. etwa von Eheberg, Grundriss (wie Anm. 4); Hans Ritschl: Theorie der Staatswirtschaft und Besteuerung. Bonn/Leipzig 1925.

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gegriffen wird. Maßgeblichen Einfluss hatte hier sicherlich die Verbreitung der 1959 veröffentlichten „Theory of Public Finance“ von Musgrave19, in der mit der Erfüllung einer Allokations-, einer Distributions- und einer Stabilisierungsfunktion die drei zentralen Aufgabengebiete der öffentlichen Finanzwirtschaft identifiziert werden. Im Gegensatz zum deutschen Sprachraum ist in der angelsächsischen Finanzwissenschaft des 20. Jahrhunderts – in einer im Grunde bis auf Adam Smith zurückgehenden Tradition – eine rationalistische Herangehensweise üblich, die das Verhältnis zwischen Bürger und Staat in Analogie zu marktwirtschaftlichen Tauschvorgängen zu begreifen versucht. Dies erfolgt bereits in frühen Beiträgen zur effizienten Preisgestaltung bei öffentlichen Gütern in Form von (später so genannten) ‚Lindahl-Preisen‘20 sowie zur Verbindung von Externalitäten und „sozialen“ Gütern21. Pareto-Effizienz wurde das maßgebende Kriterium für eine vorwiegend allokativ begründete Staatstätigkeit.22 Umverteilende Staatseingriffe werden dagegen weitgehend immer noch mit übergeordneten Gerechtigkeitskriterien begründet, die dem Gedankengut einer organischen Staatslehre entstammen. Die Verbreitung der keynesianischen Lehre begründet schließlich die Notwendigkeit stabilisierungspolitischer Aktivitäten. Erst in jüngerer Zeit werden sowohl distributive als auch stabilisierungspolitische Staatseingriffe unter Rückgriff auf eine effizienztheoretisch fundierte Theorie des Marktversagens gestützt. 2. Zur Begründung allokativer Staatstätigkeit Allokative Begründungsansätze staatlichen Handelns gehen heute davon aus, dass die Identifikation von Marktversagen eine notwendige – wenn auch keine hinreichende – Bedingung für Staatseingriffe darstellt. Im Mittelpunkt steht hierbei die Theorie der Kollektivgüter. Auf der Basis der bahnbrechenden Arbeiten von Samuelson (1954 und 1955) und Musgrave (1959) zur optimalen Bereitstellung und zum free-rider-Verhalten hat sich hierzu eine breitgefächerte Diskussion entwickelt, die sich auf zwei Aspekte konzentriert. Erstens wird nach Anreizmechanismen gesucht, die – etwa in Form des ,Clarke-Groves-Steuermechanismus‘23 – zur Überwindung des free-rider-Problems beitragen könnten. Zweitens widmet man sich ausführlich der Frage, unter welchen Bedingungen es ggfs. doch zur freiwilligen Bereitstellung kollektiver Güter kommen könnte. Hierbei finden sich neben allokationstheoretischen Untersuchungen aus den 1960er und frühen 1970er Jahren,24 etwa zur Relevanz der Gruppengröße für die Güterbereitstellung (Olson), zu den Effizienzbedin19 20 21 22

Richard A. Musgrave: The Theory of Public Finance. New York 1959. Erik Lindahl: Die Gerechtigkeit der Besteuerung. Lund 1918. Arthur C. Pigou: A Study in Public Finance. London 1928. Richard A. Musgrave: The Voluntary Exchange Theory of Public Economy, in: Quarterly Journal of Economics 53 (1939), S. 218–237. 23 T. N. Tideman/Gordon Tullock: A New and Superior Process for Making Social Choices, in: Journal of Political Economy 84 (1976), S. 1145–1159. 24 Überblick bei Richard A. Musgrave: A Brief History of Fiscal Doctrine, in: Alan J. Auerbach/

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gungen bei privaten Clubs (Buchanan) oder zur Theorie des Fiskalföderalismus (Oates), zunehmend auch spieltheoretische Ansätze einschließlich der experimentellen Befunde zum Freifahrerverhalten in wiederholten Spielen.25 Im Kern stellt die Kollektivgüterproblematik allerdings lediglich einen Spezialfall externer Effekte dar. Auf die wohlfahrtsökonomischen Grundlagen von Pigou26 zurückgehend, hat die Theorie der externen Effekte vor allem seit Coase27 eine transaktionskostentheoretische Fundierung erhalten. Diese schließt die Möglichkeit einer freiwilligen Internalisierung von Externalitäten im Wege von Verhandlungslösungen (bei genau definierten Verfügungsrechten) zumindest nicht aus. Vor allem im Kontext der Umweltpolitik entstand darüber hinaus eine detaillierte Instrumentendiskussion über die Vor- und Nachteile von fiskalischen (Steuern, Subventionen) versus nichtfiskalischen Internalisierungsmechanismen (Zertifikate, Auflagenlösungen).28 Ein weiteres zentrales Feld der aktuellen Debatte bilden Informationsprobleme. Die traditionelle Finanzwissenschaft klammerte derartige Probleme meist aus, da sie in der Regel von vollständiger Information ausging. Erste Ansätze unvollständiger Information (Risiko, Unsicherheit) fanden im Rahmen der Arrow-Debreu-Diskussion auch in der Finanzwissenschaft Berücksichtigung. Seit Pauly und Akerlof gelten jedoch die möglichen Folgen asymmetrisch verteilter Informationen (moral hazard, adverse selection) als ein wichtiger potentieller Rechtfertigungsgrund für staatliche Eingriffe in Form von Versicherungszwängen.29 Wie im Fall der externen Effekte ist das mögliche Versagen von Versicherungsmärkten allerdings kein zwingendes Argument für Staatshandeln, da privatwirtschaftliche Lösungsansätze („signaling“, „screening“) zumindest partiell denkbar sind. 3. Zur Begründung distributiver Staatstätigkeit Dass eine personale Umverteilungspolitik zu den Aufgaben des ‚modernen‘ Staates gehört, wird im deutschen Sprachraum spätestens seit den sog. Kathedersozialisten nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Durchaus strittig waren hingegen die jeweiligen Kriterien zur Konkretisierung von „Gerechtigkeit“, die zugleich Anhaltspunkte für den Umfang der Redistribution über das öffentliche Budget liefern sollten, so-

25 26 27 28 29

Martin Feldstein (Hg.): Handbook of Public Economics, Band I. New York/Oxford 1985, S. 1– 59. Vgl. z. B. Robert Axelrod: The Evolution of Cooperation. New York 1984; Gerald Marwell/ Ruth E. Ames: Economists Free Ride, does Anyone Else?, in: Journal of Public Economics 15 (1981), S. 295–310. Pigou, Study in Public Finance (wie Anm. 21). Ronald H. Coase: The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1–44. Überblick bei Joachim Weimann: Umweltökonomik. Eine theorieorientierte Einführung. 3. Aufl., Berlin u. a. 1995. Mark V. Pauly: The Economics of Moral Hazard: Comment, in: American Economic Review 58 (1968), S. 531–537; George A. Akerlof: The Market for ’Lemons‘: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84 (1970), S. 488–500.

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wie die Wahl der redistributionspolitischen Instrumente. Allen älteren Ansätzen – ob in Form von „Ausstattungskriterien“, „Utilitarismus-Kriterien“ oder (begrenzten) „Gleichheitskriterien“ präzisiert30 – war freilich gemeinsam, dass die Notwendigkeit staatlicher Distributionspolitik exogen begründet wurde, d. h. aus normativ vorgegebenen Werturteilen. Versuche, die ‚optimale‘ Umverteilung aus Sozialen Wohlfahrtsfunktionen31 abzuleiten, scheiterten letztlich an der Unmöglichkeit, die kollektive Präferenzordnung – d. h. die Soziale Wohlfahrtsfunktion – widerspruchsfrei aus individuellen Präferenzordnungen abzuleiten (Arrowsches „Unmöglichkeitstheorem“).32 Daneben betonte die ältere Finanzwissenschaft den (vermeintlich) immanenten Zielkonflikt zwischen dem Distributionsziel und dem Allokationsziel, der aus den negativen Anreizeffekten einer extensiven Umverteilung – und zwar sowohl bei den Transferempfängern als auch bei den Transfergebern bzw. Finanziers – resultieren könne. In der neueren Finanzwissenschaft hat sich das Spektrum möglicher Rechtfertigungsansätze finanzpolitischer Redistribution um sogenannte endogene Gerechtigkeitstheorien erweitert. „Gerechtigkeit“ wird hierbei nicht normativ als (jeweils postulierte) Ergebnisgerechtigkeit interpretiert, sondern als ‚Regelgerechtigkeit‘. Solchen Ansätzen, bei denen sich die Finanzwissenschaft letztlich auf das Feld der Sozialphilosophie begab, hat zunächst John Rawls’ „Theory of Justice“ (1971) den Weg bereitet, in der freilich noch exogene („Minimax-Kriterium“) und endogene („veil of ignorance“) Elemente miteinander verbunden sind. Für den radikalen Schritt zur endogenen Rechtfertigung steht dann zum einen die „Sozialkontrakttheorie“ von Buchanan.33 Zum anderen wird Umverteilungspolitik endogen als „Pareto-optimale Umverteilung“34 begründet, die Redistributionspolitik als Instrument zur gesamtgesellschaftlichen Effizienzsteigerung betrachtet; Umverteilung und ihre Begründung sind damit kein im engeren Sinne distributives Problem, sondern sind zum Allokationsproblem geworden. 4. Zur Begründung stabilisierungspolitischer Staatstätigkeit Eine wechselhafte Einschätzung hat die jüngste Aufgabe der Musgraveschen Triade, nämlich die Stabilisierungsfunktion des Budgets, im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahren. Der Gedanke, die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben in den Dienst makroökonomischer Stabilisierungspolitik zu stellen, findet sich zwar partiell bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – so etwa bei G. von Schanz und 30 Für einen Überblick vgl. Richard A. Musgrave/Peggy B. Musgrave/Lore Kullmer: Die öffentlichen Finanzen in Theorie und Praxis, Band 1. 6. Aufl., Tübingen 1994, S. 110 ff. 31 Abram Bergson: A Reformulation of Certain Aspects of Welfare Economics, in: Quarterly Journal of Economics 52 (1938), S. 314–344. 32 Kenneth Arrow: Social Choice and Individual Values. New York 1951. 33 James Buchanan/Gordon Tullock: The Calculus of Consent. Ann Arbor 1962; James Buchanan: The Limits of Liberty. Chicago 1975. 34 Harold M. Hochman/James D. Rodgers: Pareto Optimal Redistribution, in: American Economic Review 59 (1969), S. 542–557.

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A. Schäffle. Ab Mitte der zwanziger Jahre wird dann allerdings die bewusste Hinnahme von Haushaltsdefiziten zum Zwecke der Konjunktursteuerung zum expliziten Thema, und zwar sowohl im deutschen Sprachraum35 als auch – unter Anknüpfung an Pigous Untersuchungen zur Wirkung der öffentlichen Ausgaben (Pigou, 1928) – vor allem im angelsächsischen Raum im Anschluss an J. M. Keynes’ „General Theory“ (1936). Die radikale Position der „Functional Finance“, wonach alle finanzpolitischen Maßnahmen dem Ziel der Vollbeschäftigung unterzuordnen seien und die vor allem mit dem Namen A. P. Lerner verbunden ist, hat zwar in der Folgezeit weniger Resonanz gefunden. Aber in seinen ‚gemäßigten‘ Varianten – sei es als Lehre vom „zyklischen Budgetausgleich“, sei es als „Stabilisierende Budgetpolitik“36 – hat die keynesianische Botschaft von der Steuerbarkeit der Konjunktur sowie ab den fünfziger Jahren auch von der ‚Machbarkeit‘ eines stetigen Wirtschaftswachstums die anglo-amerikanische Finanzwissenschaft über Jahrzehnte geprägt (vgl. dazu den vielzitierten Ausspruch „We are all Keynesians now“37). Die offenkundigen theoretischen Defizite des ‚naiven‘ Keynesianismus, insbesondere aber die Umsetzungsprobleme der Fiscal Policy im politischen Raum, haben allerdings im Zuge der „monetaristischen Konterrevolution“ seit den sechziger Jahren zu einer weitgehenden Distanzierung von der Idee geführt, die Finanzpolitik als regelmäßiges Instrument zur makroökonomischen Stabilisierung einzusetzen. Wenngleich das bewusst als Kontrapunkt gedachte Zitat von Franco Modigliani „We are all Monetarists now“38 in seiner Pauschalisierung den Wandel der Auffassungen leicht überzeichnet, gilt doch das öffentliche Budget heute nicht mehr als ein primäres Mittel zur Beeinflussung der Konjunktur. Allerdings ist die aktuelle wissenschaftliche Diskussion auch hier durch divergierende Auffassungen gekennzeichnet. So bemüht sich die Neue Keynesianische Makroökonomik, weiterhin eine zumindest potentielle Rolle für die fiskalische Stabilisierungspolitik zu rechtfertigen, indem sie die (mögliche) Instabilität des marktwirtschaftlichen Systems mikroökonomisch, d. h. entscheidungstheoretisch (makroökonomische Instabilität als „stabilisatorisches Marktversagen“), zu begründen versucht.39 35 Für einen Überblick vgl. Andreas Korsch: Der Stand der beschäftigungspolitischen Diskussion zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, in: Gottfried Bombach u. a. (Hg.): Der Keynesianismus I: Theorie und Praxis keynesianischer Wirtschaftspolitik. Berlin u. a. 1976, S. 9– 132. 36 Vgl. Fritz Neumark: Theorie und Praxis der Budgetgestaltung, in: Gerloff/Neumark (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft (wie Anm. 7), S. 554–605. 37 Alvin H. Hansen: Keynes after Thirty Years (with special Reference to the United States), in: Weltwirtschaftliches Archiv 97 (1966), S. 213–231, hier 216. Neben Alvin Hansen wird das Zitat im Schrifttum insbesondere Richard Nixon und Milton Friedman (der sich dabei allerdings zum Teil missverstanden fühlte) zugeschrieben. Die wohl früheste einschlägige Formulierung dürfte bereits aus dem Jahre 1946 stammen: „We are all Keynesians now, all postBeveridge“; Herbert Heaton: Other Wests Than Ours, in: JEH 6, supplement (1946), S. 50–62, hier 60. 38 Franco Modigliani: The Monetarist Controversy or, Should We Forsake Stabilization Policies? in: American Economic Review 67 (1977), S. 1–19, hier 1. 39 Oliver Hart: A Model of Imperfect Competition With Keynesian Features, in: Quarterly Journal of Economics 97 (1982), S. 109–138.

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Demgegenüber betrachtet die Neue Klassische Makroökonomik eine gesamtwirtschaftliche fiskalische Stabilisierungspolitik als überflüssig oder im Extremfall sogar als wirkungslos („Politikineffektivitätsthese“) und befürwortet deshalb den nahezu gänzlichen Verzicht auf entsprechende fiskalische Eingriffe.40 Eine vermittelnde Position plädiert im Sinne einer neutralen Finanzpolitik dafür, einerseits auf ein makroökonomisches ‚fine-tuning‘ zu verzichten, jedoch andererseits prozyklische Effekte zu vermeiden und dabei auch auf die Wirksamkeit ‚eingebauter Stabilisatoren‘ zu setzen. Im Übrigen ist bei einem Vergleich der angelsächsischen und der deutschsprachigen Literatur durchaus bemerkenswert, dass die deutsche Finanzwissenschaft bis heute eine weniger radikale Position eingenommen hat und dabei trotz einer starken Betonung der Angebotsseite („Angebotspolitik“) keineswegs die Nachfrageeffekte völlig ausklammert; hingewiesen sei beispielhaft auf die seit mehr als zwei Jahrzehnten wenig veränderte Argumentation des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. III. Zur Finanzierung der Staatstätigkeit 1. Entwicklungslinien Die Frage nach der ‚besten‘ Art der Staatsfinanzierung bildet traditionell den Schwerpunkt finanzwissenschaftlicher Betrachtungen. Noch Wagner widmete sich in seiner „Finanzwissenschaft“ ausschließlich der Einnahmenseite.41 Die erst allmähliche Ausweitung der wissenschaftlichen Diskussion auf die Ausgabenseite spiegelt nicht zuletzt die stufenweise Ausdehnung der parlamentarischen Hoheitsrechte im Budgetprozess wider. Zudem besaß die finanzwissenschaftliche Einnahmenlehre im Rahmen der Volkswirtschaftslehre lange Zeit eine weitgehende Monopolstellung. Insofern verwundert es nicht, dass neben den Problemen der öffentlichen Haushaltstechnik vor allem die staatliche Einnahmenbeschaffung – einerseits über Steuern, andererseits auf dem Wege der Verschuldung – bis in das 20. Jahrhundert hinein die finanztheoretische Diskussion dominierte. Im Grunde gilt diese Feststellung sogar bis heute, obwohl inzwischen zahlreiche neue finanzwissenschaftliche Fragen hinzugetreten sind. Nach wie vor bilden die Suche nach dem ‚richtigen‘ Steuersystem und die Betrachtung der Steuerwirkungen zweifellos ebenso einen Kernbereich der aktuellen wie der künftigen Finanzwissenschaft wie die Auseinandersetzung um die Rechtfertigungsmöglichkeiten und Gefahren der Staatsverschuldung. In beiden Bereichen zeichnen sich allerdings vor allem zwei Entwicklungslinien deutlich ab. Erstens sind neben die – traditionell im Vordergrund stehenden – Verteilungswirkungen der Besteuerung und der Staatsverschuldung zunehmend Allokationsaspekte getreten. Zweitens hat sich die früher fast ausnahmslos wohlfahrtstheoretisch und zudem stark normativ ge40 Robert E. Lucas/Thomas J. Sargent: After Keynesian Macroeconomics, in: Preston J. Miller (Hg.): The Rational Expectations Revolution. Cambridge 1994, S. 5–30. 41 Adolph Wagner: Finanzwissenschaft. 4 Bände. Leipzig/Heidelberg 1871–1872.

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prägte Debatte – sowohl im Bereich der Besteuerung als auch im Bereich der öffentlichen Verschuldung – um empirisch-positive Betrachtungen politökonomischer Art erweitert. 2. Zur Finanzierung der Staatsausgaben durch Steuern Finanztheorie als Steuertheorie hat sich seit ihren Anfängen vor allem auf zwei Fragen konzentriert, die die finanzwissenschaftliche Diskussion bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben, allerdings in der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur nur am Rande aufgegriffen worden sind. Dies ist zum einen die normative Debatte um Kriterien für eine „gerechte“ Verteilung der Steuerlast, zum Zweiten die positive Lehre von den Steuerwirkungen. (1) Die Diskussion um die „Grundprinzipien“ der öffentlichen Einnahmenerzielung ist geprägt von der Alternative „Äquivalenzprinzip“ versus „Leistungsfähigkeitsprinzip“. Das Äquivalenzprinzip als das ältere Prinzip versucht, eine Verbindung zwischen Steuerbelastung und dem aus Staatsleistungen resultierenden Nutzen herzustellen und dabei drei Fragen gleichzeitig zu beantworten: Wann ist Besteuerung überhaupt gerechtfertigt? In welcher Höhe ist Besteuerung gerechtfertigt? Wie ist die Steuerlast auf die Steuerpflichtigen zu verteilen? Im Gegensatz hierzu klammert das Leistungsfähigkeitsprinzip als das jüngere Prinzip die beiden ersten Aspekte aus und beschränkt sich auf die dritte Frage. Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass eine äquivalente Besteuerung nicht nur in ihrer nutzenmäßigen Interpretation, sondern auch in der kostenorientierten Fassung für den überwiegenden Teil der Staatsleistungen überhaupt nicht (Umverteilungsausgaben) oder nur mit großen Schwierigkeiten (Zurechnungsprobleme bei öffentlichen Gütern) anwendbar ist, hat sich die Finanzwissenschaft des (19. und) 20. Jahrhunderts schwergewichtig mit der Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips beschäftigt. Die Ergebnisse sind freilich so wenig befriedigend, dass bereits in den sechziger Jahren ein „Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip“ konstatiert wurde.42 Vorangegangen war diesem Fazit eine intensive Auseinandersetzung einerseits mit der Frage, welches Kriterium als Indikator der Leistungsfähigkeit heranzuziehen sei (Problem der „horizontalen Gleichbehandlung“). Neben dem theoretisch nächstliegenden, praktisch allerdings nicht umsetzbaren ‚Nutzenkonzept‘ ist es vor allem die Auseinandersetzung zwischen Vertretern des ‚Einkommenskonzepts‘ wie Haig, Simons, Hicks, Pechman und Musgrave, deren Beiträge in den 1920er bis 1960er Jahren erschienen, und Vertretern des ‚Konsumkonzepts‘, das vor allem von Marshall, Pigou, Fisher und Kaldor zwischen den 1920er und 1950er Jahren vertreten wurde; bis heute hält diese Debatte an. Andererseits ging (und geht) es um das Problem der „vertikalen Gleichbehandlung“, d. h. um den Vergleich der „Opferfähigkeit“ von Individuen in unterschiedlichen Positionen anhand der „Opferprinzipien“.43 42 Konrad Littmann: Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip, in: Heinz Haller u. a. (Hg.): Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus. Tübingen 1970, S. 113–134. 43 Vgl. Musgrave, Brief History (wie Anm. 24), S. 22 f. Zur Geschichte der Opfertheorien vgl. Fritz Neumark: Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik. Tübingen 1970.

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(2) Auch die Steuerwirkungslehre als zweites hauptsächliches Gebiet der traditionellen Steuertheorie erweiterte ihr Untersuchungsfeld im vergangenen Jahrhundert rasch, vor allem beeinflusst von der Entwicklung der allgemeinen Wirtschaftstheorie. So traten neben die ursprünglich vorherrschende mikroökonomisch-partialanalytische Steuerüberwälzungstheorie Ansätze, die das Problem der Steuerinzidenz über makroökonomische Modelle,44 mikroökonomische Totalmodelle45 und (neoklassische) Wachstumsmodelle46 in einem erweiterten Rahmen zu erfassen versuchen. In der Theorie der Steuerhinterziehung wurden die von der Kölner Schule der Finanzwissenschaft entwickelten finanzpsychologischen Erklärungsansätze47 durch neoklassische Modelle48 ergänzt. Alle diese Entwicklungen sind keineswegs abgeschlossen und finden in zahlreichen Verästelungen der aktuellen Diskussion ihren Niederschlag. Genannt seien insbesondere drei Schwerpunkte. Erstens ist in der normativen Theorie neben die Steuergerechtigkeit das Kriterium der effizienten Besteuerung getreten. Dieses fand seine Ausprägungen vor allem in der auf Second Best-Ideen basierenden Theorie der Optimalbesteuerung,49 die sich zunächst als „Optimale Verbrauchsbesteuerung“ allein am Effizienzkriterium (in Form der Minimierung der ‚Zusatzlast‘) orientierte, dann aber darüber hinaus versuchte, eine Verbindung der beiden Kriterien Effizienz und Gerechtigkeit in Form einer „Optimalen Einkommensbesteuerung“50 zu entwickeln, in der Methoden und Erkenntnisse der Optimalsteuer-Theorie mit opfertheoretischen Überlegungen des Leistungsfähigkeitsprinzips verknüpft werden. Eine wichtige Rolle spielen Effizienzaspekte daneben in der Diskussion um die Anreizwirkungen der Besteuerung auf Investitions- und Sparentscheidungen51 und auf das Arbeitsangebot52 sowie in der Debatte um Zeitkonsistenzprobleme der (Kapital-)Besteuerung.53 Dabei bleibt die staatliche Ausgabenseite durchweg ausgeklammert. Verstärkt widmet sich die Steuertheorie zweitens den Aspekten internationaler Besteuerung. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage, ob ein grenzüberschrei44 Carl Föhl: Das Steuerparadoxon, in: Finanzarchiv N. F. 17 (1956/57), S. 1–37. 45 Arnold C. Harberger: The Incidence of the Corporation on Income Tax, in: Journal of Political Economy 70 (1962), S. 215–240; John B. Shoven/John Whalley: A General Equilibrium Calculation of the Effects of Differential Taxation of Income from Capital, in the U.S., in: Journal of Public Economics 1 (1972), S. 281–321. 46 Kazuo Sato: Taxation and Neo-Classical Growth, in: Public Finance 22 (1967), S. 346–369. 47 Günter Schmölders: Finanzpsychologie, in: Finanzarchiv N. F. 13 (1967), S. 1–36. 48 Michael Allingham/Agnar Sandmo: Income Tax Evasion: A Theoretical Analysis, in: Journal of Public Economics 1 (1972), S. 323–338. 49 Agnar Sandmo: Optimal Taxation: An Introduction to the Literature, in: Journal of Public Economics 6 (1976), S. 37–54; Paul A. Samuelson: Theory of Optimal Taxation, in: Journal of Public Economics 30 (1986), S. 137–143. 50 James A. Mirrlees: An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation, in: Review of Economic Studies 38 (1971), S. 175–208. 51 Robert Hall/Dale Jorgenson: Tax Policy and Investment Behavior, in: American Economic Review 57 (1967), S. 391–414; Martin Feldstein: Social Security and Saving: The Extended Life Cycle Theory, in: American Economic Review 66 (1976), S. 77–86. 52 Harvey S. Rosen: Taxes in a Labor Supply Model with Joint Wage-Hours Determination, in: Econometrica 44 (1976), S. 485–507. 53 Fischer, Dynamic Inconsistency (wie Anm. 15).

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tender Steuerwettbewerb – bzw. ein auch die Ausgabenseite des Budgets einbeziehender genereller Fiskalwettbewerb – effizienzsteigernd oder aber effizienzmindernd im Sinne eines ruinösen Steuerwettbewerbs („race to the bottom“) wirke.54 Schließlich wird im Rahmen der „Konstitutionellen Steuertheorie“ der Effizienzbegriff nicht ergebnisorientiert, sondern im Sinne effizienter Regeln interpretiert. Steuerpolitik wird damit primär zur Suche nach effizienten Institutionen, die einen gesamtgesellschaftlichen Konsens auf der ‚Regelebene‘ widerspiegeln sollen. Damit geht eine Wiederentdeckung des Äquivalenzprinzips einher – freilich nicht als Gerechtigkeitsmaßstab, sondern als Ansatz zur Begrenzung des Leviathanstaates.55 3. Zur Finanzierung der Staatsausgaben durch öffentliche Verschuldung Mit der Rechtfertigung öffentlicher Einnahmebeschaffung auf dem Kreditwege hat sich die Finanzwissenschaft seit jeher besonders schwer getan, da hier ein offenkundiges Dilemma besteht. Einerseits war und ist die Staatsverschuldung in Theorie und Politik heftig umstritten, andererseits wurde in der finanzpolitischen Praxis auf die Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte fast immer zurückgegriffen. Insofern kam möglichen normativen Rechtfertigungsansätzen zwangsläufig ein zentraler Stellenwert zu. Daneben hat sich die positive Theorie der Staatsverschuldung im 20. Jahrhundert detailliert mit den Verteilungswirkungen befasst, und zwar in zeitlicher (Lastverschiebungsdebatte) wie in personaler (‚interpersonale‘ Verteilungseffekte) Hinsicht. Der traditionelle allokative Rechtfertigungsansatz, dass eine Finanzierung ‚außerordentlicher‘ und ‚produktiver‘ Staatsausgaben durch Kredit wenig strittig sei („Objektbezogene“ Verschuldungslehre nach W. Albers56), hatte seinen Niederschlag nicht nur im theoretischen Schrifttum, sondern auch in der bis 1969 geltenden alten Fassung des Art. 115 GG gefunden. In der normativen Interpretation des „Pay-as-you-use-Prinzips“57 wird die Schuldaufnahme gar zum finanzpolitischen Instrument, das gleichermaßen der Verwirklichung von intergenerativer Gerechtigkeit und Effizienz dienen soll. Allerdings hat nicht zuletzt die deutsche Finanzwissenschaft herausgearbeitet, dass der Kreis der so begründbaren Staatsausgaben theoretisch nicht präzise abzugrenzen war, die objektbezogene Verschuldung somit einer befriedigenden Fundierung entbehrt.58 Die Änderung des Art. 115 GG im Jahr 1969 war nicht zuletzt Spiegel dieser Erkenntnis. 54 Hans W. Sinn: Das Selektionsprinzip und der Systemwettbewerb, in: Alois Oberhauser (Hg.): Fiskalföderalismus in Europa. Berlin 1997, S. 11–53; Andreas Haufler: Taxation in a Global Economy. Cambridge 2001. 55 Geoffrey Brennan/James Buchanan: The Power to Tax. Analytical Foundations of a Fiscal Constitution. Cambridge u. a. 1980. 56 Willi Albers: Staatsverschuldung und Geld- und Kreditpolitik, in: Finanzarchiv N. F. 21 (1961), S. 25–46, hier 27. 57 Musgrave, Theory of Public Finance (wie Anm. 19). 58 Horst Zimmermann: Der letzte „klassische“ Deckungsgrundsatz, in: Finanzarchiv N. F. 24 (1965), S. 70–89.

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Neben den allokativen Begründungsversuch trat mit dem Ausbau der (post-)keynesianischen Theorie die Rechtfertigung der Staatsverschuldung als Bestandteil konjunktureller Stabilisierungspolitik (Albers: „Konjunkturbezogene“59 bzw. situationsorientierte Verschuldungslehre). Anfangs analysiert im Rahmen der Multiplikatoranalyse, in der Folgezeit aufbereitet in Form des IS-LM-Systems60 und dann in vielerlei Richtung weiterentwickelt, trat die keynesianische Botschaft von der Unbedenklichkeit (oder sogar Unverzichtbarkeit) des Staatskredits im Dienste der Makropolitik ihren Siegeszug zunächst im anglo-amerikanischen, dann auch im deutschsprachigen Raum61 an, bis sie schließlich durch die monetaristisch-neoklassische Kritik entzaubert wurde. Die (positive) Lehre von den Wirkungen der öffentlichen Verschuldung war – abgesehen von den soeben erwähnten stabilisierungstheoretischen Aspekten – vor allem auf Verteilungsprobleme gerichtet. Streng genommen, betrifft der Kern der Lastverschiebungsdebatte als der ersten hier zu nennenden Thematik weniger distributive Effekte i. e. S. (d. h. solche der personalen Einkommensverteilung) als vielmehr das allokative Problem der intergenerativen Ressourcenaufteilung. In dieser Interpretation als (zeitliches) Allokationsproblem verstanden, hat die Frage, ob eine Lastverschiebung durch öffentliche Verschuldung überhaupt möglich sei, ganze Generationen von Finanzwissenschaftlern beschäftigt. Ausgehend von der These der „Neuen Orthodoxie“, dass eine Lastverschiebung realwirtschaftlich niemals möglich sei,62 hat sich die Schuldentheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts in vielfältigen Varianten bemüht, die Möglichkeit einer (zumindest teilweisen) realen Lastverschiebung zu entwickeln – so als „Wachstumsansatz“, als „Weiterwälzungsansatz“ oder als „Nutzenansatz“.63 Das zweite primäre Feld der theoretischen Wirkungsanalyse bilden die personalen Verteilungswirkungen, bei denen – unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Autoren64 – die zuvor kaum bestrittene These von den angeblich ‚unsozialen‘ Verteilungseffekten („Transferansatz“) durch Hinterfragung der unterstellten Kausalität sowie eine differenziertere Betrachtung der Kapitalmarktwirkungen der Staatsverschuldung relativiert wurde. Aus dem Kreis neuerer Untersuchungen zur Staatsverschuldung sei vor allem auf drei Fragestellungen hingewiesen. Erstens wurde – in Weiterführung der erwähnten Theorie der Optimalbesteuerung – auch die Rechtfertigungsdebatte zur öffentlichen Verschuldung mit der Betonung möglicher Verzerrungseffekte auf eine 59 Albers, Staatsverschuldung (wie Anm. 56), S. 35. 60 Im Anschluss an John R. Hicks: Mr. Keynes and the Classics: A Suggested Interpretation, in: Econometrica 5 (1937), S. 147–159. 61 U. a. Rolf Caesar: Öffentliche Verschuldung in Deutschland seit der Weltwirtschaftskrise: Wandlungen in Theorie und Politik, in: Dietmar Petzina (Hg.): Probleme der Finanzgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin 1989, S. 9–55. 62 Abba P. Lerner: The Burden of the National Debt, in: Income, Employment, and Public Policy: Essays in Honour of Alvin Hansen. New York 1948, S. 255–275. 63 Überblick bei Otto Gandenberger: Theorie der öffentlichen Verschuldung, in: Fritz Neumark (Hg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Band III. 3. Aufl., Tübingen 1981, S. 3–49. 64 Norbert Andel: Zur These von den unsozialen Verteilungswirkungen öffentlicher Schulden, in: Public Finance 24 (1969), S. 69–77; Otto Gandenberger: Öffentlicher Kredit und Einkommensverteilung, in: Finanzarchiv N. F. 29 (1970), S. 1–16.

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neue (allokative) Grundlage gestellt. Der „tax smoothing“-Hypothese zufolge trägt eine Kreditaufnahme der öffentlichen Hand dazu bei, permanente Schwankungen der Steuersätze zu vermeiden und dadurch die Zusatzlast der Besteuerung, d. h. die Wohlfahrtsverluste der Steuerpolitik, zu minimieren.65 Zweitens haben – in Weiterführung der Lastverschiebungs-Kontroverse – Barro66 und andere Autoren die Möglichkeiten und Voraussetzungen einer Äquivalenz von Schulden- und Steuerfinanzierung (ursprünglich als „Ricardianisches Äquivalenztheorem“ bezeichnet) näher untersucht. Bei (uneingeschränkter) Gültigkeit dieses Theorems wäre nicht nur eine Lastverschiebung ausgeschlossen, sondern es würde auch die Möglichkeit eines stabilisierungspolitischen Einsatzes der Staatsverschuldung entfallen. Das Barro-Ricardo-Äquivalenztheorem ist freilich an recht anspruchsvolle Voraussetzungen geknüpft, so dass die Gültigkeit bereits aus theoretischer Perspektive umstritten ist. Empirische Untersuchungen kommen ebenfalls zu keinen eindeutigen Resultaten.67 Zum Dritten wurde die Betrachtung der intergenerativen Verteilungswirkungen durch Einbeziehung verschiedener Formen einer impliziten Staatsverschuldung ausgedehnt. Im Rahmen von Modellen mit ‚überlappenden‘ Generationen („Overlapping Generations“/OLG-Modelle) können die Salden der Nutzen und Belastungen mehrerer Generationen, die durch Maßnahmen der Steuer- und Transferpolitik bewirkt werden, theoretisch und empirisch erfasst werden.68 Im Mittelpunkt derartiger Analysen stehen die Wirkungen der (gesetzlichen) Sozialversicherungen, insbesondere der Rentenversicherung. Auf diese Weise soll erreicht werden, die tatsächlichen „fiskalischen Restwerte“ generationenspezifisch zuzurechnen und damit ein zutreffenderes Bild einer (möglichen) Last- bzw. Nutzenverschiebung in die Zukunft zu zeichnen. Die OLG-Forschung steckt allerdings bisher noch eher in den Kinderschuhen. IV. Zur Funktionsweise der Staatstätigkeit 1. Allgemeiner Überblick Vielleicht den stärksten Wandlungen in der Finanzwissenschaft des letzten Jahrhunderts war das vorherrschende Staatsbild unterworfen. Das traditionelle Staatsbild der Finanzwissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass politische Entscheidungsträger als ‚Wohlwollende Diktatoren‘ betrachtet werden, die bemüht sind, die Wohlfahrt der Gesellschaft – in Übereinstimmung mit den Präferenzen der Individuen – zu maximieren. In einer solchen Perspektive gibt es keine prinzipiellen Argumente, den Handlungsspielraum der politischen Akteure zu beschränken, son65 Barro, Determination (wie Anm. 12), S. 940–971. 66 Ebd. 67 Übersicht bei James J. Seater: Ricardian Equivalence, in: Journal of Economic Literature 31 (1993), S. 142–190. 68 Peter Diamond: National Debt in a Neoclassical Growth Model, in: American Economic Review 55 (1965), S. 1126–1150.

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dern allenfalls dafür, die finanzpolitischen Entscheidungen möglichst effizient zu gestalten. Das bedeutet zum einen, dass die Aufgabenverteilung zwischen den Staatsebenen in vertikaler Hinsicht nach Kriterien allokativer Effizienz vorzunehmen ist („Theorie des Fiskalföderalismus“). Zum anderen werden auch die Regelungen zur horizontalen Gewaltenteilung, d. h. die Beziehungen zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, als Frage einer möglichst zweckmäßigen Arbeitsteilung interpretiert. In diesem Sinne versucht die bereits in den finanzwissenschaftlichen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts breiten Raum einnehmende, in bewusster Wechselwirkung mit der Haushaltspraxis entwickelte Lehre vom öffentlichen Haushalt durchweg, normative Vorschriften für die Haushaltspraxis (Haushaltsgliederung, Haushaltsgrundsätze) zu formulieren, die eine möglichst reibungslose Erfüllung der Budgetfunktionen sicherstellen bzw. Abweichungen davon weitestgehend vermeiden sollen. Ineffizienzen in der Finanzpolitik – operationalisiert mit Hilfe der „Pareto-Effizienz“ – resultieren dann primär aus unvollständiger Kenntnis und Umsetzung von Ziel-Mittel-Beziehungen. Auch die vorgelagerte Grundsatzfrage, wann staatliche Eingriffe in einer marktwirtschaftlichen Ordnung überhaupt gerechtfertigt sind, wird in der traditionellen Finanzwissenschaft, aufbauend auf grundlegenden Arbeiten von Pigou und Viner, bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein auf der wohlfahrtsökonomischen Basis der Marktversagenstheorie beantwortet. Breiten Raum nimmt hierbei – neben der Diskussion sinnvoller Abgrenzungskriterien zwischen privaten und „öffentlichen“ Gütern (insbes. des Ausschlussprinzips und der Rivalität im Konsum) – vor allem die Identifizierung einzelner Tatbestände ein, die Marktversagen begründen können, so vor allem externe Effekte, natürliche Monopole und Informationsasymmetrien. Während es hierbei im Kern allerdings nur um die Konkretisierung der Bedingungen für Marktversagen geht, stößt der weitergehende Versuch, weitere Staatsaktivitäten mit dem Argument der „(de-)meritorischen Güter“69 zu rechtfertigen, bereits auf wesentlich stärkere Kritik und führt letztlich zur Ablehnung dieses Ansatzes als Eingriff in die Konsumentenpräferenzen.70 Gleichwohl werden die wohlfahrtstheoretisch-normative Perspektive und das Kriterium der Pareto-Effizienz als Maßstab auch bei diesem Ansatz beibehalten. Eine radikal andere Sichtweise des politischen Prozesses liegt der Ökonomischen Theorie der Politik zugrunde, deren Ideen in der jüngeren Finanzwissenschaft auch im Zusammenhang mit den Begriffen „Public Choice“ bzw. „Neue Politische Ökonomie“ (NPÖ) diskutiert werden. In ihren Grundgedanken bereits auf Wicksell und Schumpeter zurückgehend,71 stellt sie die Funktionsweise und die Wirkungen politischer Institutionen in den Mittelpunkt (‚institutions matter‘) und ist daher dem breiten Spektrum der ,Neuen Institutionenökonomik‘ zuzurechnen. Mit der Verga69 Musgrave, Theory of Public Finance (wie Anm. 19). 70 Norbert Andel: Zum Konzept der meritorischen Güter, in: Finanzarchiv N. F. 42 (1984), S. 630– 648; Manfred Tietzel/Christian Müller: Noch mehr zur Meritorik, in: Zeitschrift für Wirtschaftsund Sozialwissenschaft 118 (1998), S. 87–127. 71 Knut Wicksell: Finanztheoretische Untersuchungen. Nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens. Jena 1896; Joseph A. Schumpeter: Capitalism, Socialism and Democracy. New York 1942.

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be des Wirtschaftsnobelpreises an North 1993 für seine Arbeiten zur Bedeutung politischer und ökonomischer Institutionen für die wirtschaftliche Entwicklung72 wurde inzwischen auch der zunehmenden Rolle dieses Gebiets für die Wirtschaftsgeschichte Rechnung getragen. Dabei wird versucht, die Defekte politischer Entscheidungsprozesse unter Einsatz des Instrumentariums der neoklassischen Ökonomik positiv-empirisch zu erklären; normative Schlussfolgerungen interessieren erst an zweiter Stelle. Auf der Grundlage des methodologischen Individualismus und des Eigennutzaxioms werden politische Entscheidungsprozesse als mehrstöckiges ‚Prinzipal-Agent-Problem‘ interpretiert, dessen unzureichende Lösung zu systemimmanenten Ineffizienzen („Staatsversagen“) führt. So handeln in der „Ökonomischen Theorie der Demokratie“ die Politiker (als Agenten) nicht wohlfahrtsmaximierend im Sinne der Bürger (als den Prinzipalen), sondern eigennützig als Stimmenmaximierer.73 Im Ergebnis führt der Parteienwettbewerb aber nicht zu einer Realisierung ökonomisch effizienter Politik, sondern aufgrund einer ‚rationalen Ignoranz‘74 der Wähler zur systematischen Vernachlässigung von Allgemeininteressen und zur Begünstigung organisierter Minderheitsinteressen. In extremer Sicht erscheint die öffentliche Hand als ein durch demokratische Mechanismen kaum zu kontrollierender „Leviathanstaat“75 dem (zumindest als ‚worst case‘) eine Neigung zur Ausbeutung der Steuerzahler unterstellt wird. Ebenso schlägt sich das Verhältnis zwischen Bürokratie (als Agent) und Politiker (als Prinzipal) in der „Ökonomischen Theorie der Bürokratie“ – infolge eines Strebens der Bürokraten nach Budgetmaximierung und/oder nach einem ‚diskretionären Budget‘ – sowohl in allokativer als (u. U.) auch in technischer Ineffizienz („X-Ineffizienz“) nieder.76 Die „Ökonomische Theorie der Interessengruppen“ als dritter großer Bereich der NPÖ widmet sich vorwiegend den Bedingungen für eine (freiwillige) Organisation von Interessengruppen sowie den Wohlfahrtsverlusten, die aus dem Streben organisierter Interessengruppen nach Umverteilungsvorteilen über den Budgetprozess („Rent Seeking“) resultieren.77 Die zentrale These, dass ein Marktversagen lediglich eine hinreichende, jedoch keine notwendige Bedingung für staatliches Handeln darstelle, da den potentiellen Wohlfahrtsverlusten aus Marktversagen die möglichen Wohlfahrtseinbußen aus Staatsversagen gegenüberzustellen seien, führt schließlich in der normativen Perspektive der (bereits erwähnten) Konstitutionenökonomik zu Emp72 Vgl. Douglass C. North: Structure and Change in Economic History. New York 1981; ferner ders.: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge 1990. 73 Grundlegend Anthony Downs: An Economic Theory of Democracy. New York 1957; für einen Überblick über die weitere Diskussion vgl. Dennis C. Mueller: Public Choice II. Cambridge 1989 oder Torsten Persson/Guido Tabellini: Political Economics: Explaining Economic Policy. Cambridge 2000. 74 Vgl. dazu Downs, Economic Theory (wie Anm. 73), S. 227 f. 75 Buchanan, Limits of Liberty (wie Anm. 33). 76 William A. Niskanen: Bureaucracy and Representative Government. Chicago/New York 1971; Jean L. Migué/Gerard Bélanger: Toward a General Theory of Managerial Discretion, in: Public Choice 17 (1974), S. 27–43. 77 Mancur Olson: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Harvard 1965; Gordon Tullock: The Welfare Costs of Tariffs, Monopolies, and Theft, in: Western Economic Journal 5 (1980), S. 224–232.

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fehlungen für mannigfache Restriktionen, die den Handlungsspielraum der politischen und bürokratischen Akteure einschränken sollen.78 „Effizienz“ bedeutet nicht mehr eine Verwirklichung pareto-optimaler Ergebnisse der Tagespolitik, sondern – nun im Sinne von „konstitutioneller Effizienz“ bzw. „Regeleffizienz“ – einen möglichst weitgehenden Konsens der Bürger über die allgemeinen politischen Spielregeln des staatlichen (und marktlichen) Handelns. 2. Aktuelle Diskussionsfelder Die seit Anfang der siebziger Jahre zunehmend populären Überlegungen der NPÖ werden heute im Grunde auf alle in den vorangehenden Abschnitten angesprochenen Fragen angewendet, wobei durchaus auch wirtschaftsgeschichtliche Fragen angesprochen sind. NPÖ-Aspekte werden damit im Hinblick auf Umfang und Struktur der Staatstätigkeit (Politische Ökonomie der öffentlichen Ausgaben) ebenso wie bei der Analyse staatlicher Distributionsaktivitäten (Politische Ökonomie der Umverteilungspolitik) und der makroökonomischen Stabilisierungsproblematik herausgearbeitet. Darüber hinaus hat die NPÖ auch im Bereich der Finanzierung der Staatstätigkeit wichtige neue Fragen aufgegriffen (Politische Ökonomie der Besteuerung sowie der öffentlichen Verschuldung). Zunächst hat die vielzitierte Frage, ob die Entwicklung der öffentlichen Ausgaben bzw. der Staatsquote einer längerfristig gültigen Gesetzmäßigkeit („Wagnersches Gesetz“) folgt, im Lichte der NPÖ einen neuen Akzent erhalten. Aus NPÖSicht wirken sich das wiederwahlorientierte Streben der Politiker nach Stimmenmaximierung und das auf Budgetausweitung gerichtete Handeln der Bürokratie in der gleichen Richtung aus, nämlich in tendenziellem Wachstum der Staatstätigkeit. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die der Bürokratie regelmäßig unterstellte Neigung zu ‚technischer‘ Ineffizienz. Hinzu tritt eine Tendenz zur Ausweitung kollektiver Aktivitäten infolge von Stimmentauschlösungen.79 All diese Faktoren begünstigen die Zunahme staatlicher Eingriffe bzw. stehen dem – auch von Politikern verbal gern befürworteten – Ziel, die Staatsquote zu verringern, in der politischen Realität entgegen. Darüber hinaus wird in NPÖ-Modellen die Bedeutung herausgearbeitet, die der jeweiligen Organisation legislativer Prozesse für das Ergebnis kollektiver Entscheidungen zukommt.80 Auch die vielfach beklagte, jedoch zugleich als kaum vermeidbar eingestufte Ausweitung der Umverteilungsaktivitäten in modernen Staaten erscheint aus NPÖSicht in einer neuen Perspektive. Wachsende Umverteilungsausgaben lassen sich danach positiv-empirisch sowohl aus der Orientierung der Politiker am Median78 Brennan/Buchanan, Power to Tax (wie Anm. 55); Geoffrey Brennan/James Buchanan: The Reason of Rules. Constitutional Political Economy. Cambridge 1985. 79 Gordon Tullock: Some Problems of Majority Voting, in: Journal of Political Economy 67 (1959), S. 571–579. 80 Überblick bei Peter Moser: The Political Economy of Democratic Institutions. Cheltenham/ Northampton 2000.

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wähler81 als auch aus gleichgerichteten Interessen von gut organisierten Gruppen und politischen Akteuren – nämlich dem Interesse an einer ‚Zementierung‘ gruppenspezifischer Begünstigungen im Budget82 – ableiten. In der Theorie des „Interessengruppenstaates“ wird das öffentliche Budget damit allein zum Instrument der ‚Bedienung‘ organisierter Interessen zu Lasten der Steuerzahler.83 Neuere Studien zur Politischen Ökonomie der Besteuerung widmen sich der Besteuerung als Instrument der Umverteilung in Medianwählermodellen. Auch lassen sich die Steuerstrukturen in repräsentativen Demokratien mit NPÖ-Argumenten durchaus überzeugend erklären.84 Breiten Raum nimmt schließlich in der neueren NPÖ-Literatur die Debatte um Steuerwettbewerb versus Steuervereinheitlichung in föderativen Systemen – sowohl national als auch im internationalen Rahmen – ein. Ein Wettbewerb der Steuerpolitiken und eine Dezentralisierung steuerpolitischer Kompetenzen werden in dieser Sicht zum Mittel einer Begrenzung des Leviathanstaates.85 Schließlich hat die Politische Ökonomie der Staatsverschuldung deutlich gemacht, dass die traditionelle Konzentration der Finanzwissenschaft auf die Frage einer ökonomischen Rechtfertigung des öffentlichen Kredits die finanzpolitische Realität kaum überzeugend zu erklären vermag. Dagegen wird die Neigung der Politiker zur Bevorzugung der Kreditfinanzierung gegenüber der Steuerfinanzierung verständlich, wenn sie von der NPÖ als demokratieimmanentes Ergebnis eines „deficit bias“86 interpretiert wird, bei dem eine hohe Zeitpräferenzrate der Politiker mit Fiskalillusion der Bürger und keynesianischem Gedankengut zusammenwirken. Staatsverschuldung wird darüber hinaus attraktiv als strategisches Mittel zur Erzeugung von ,politischen Konjunkturzyklen‘ oder zur politischen Bindung künftiger Regierungen.87 Auch die (durchaus schon von der traditionellen Finanzwissenschaft registrierten) Schwierigkeiten einer Konsolidierung der öffentlichen Budgets über Ausgabenkürzungen erhalten eine neue Qualität, wenn Haushaltskonsolidierung aus NPÖ-Sicht als Allmende-Gut interpretiert wird.88 Die übermäßige Nutzung eines 81 Alan Meltzer/Scott Richard: A Rational Theory of the Size of Government, in: Journal of Political Economy 89 (1981), S. 914–927. 82 Kay-Uwe May: Ausgabeseitige Haushaltskonsolidierung: Restriktionen und Strategien. Frankfurt a. M. u. a. 2002. 83 Robert E. McCormick/Robert D. Tollison: Politicians, Legislation, and the Economy. An Inquiry to the Interest Group Theory of Government. Boston 1981. 84 William Hettich/Stanley Winer: Democratic Choice and Taxation: A Theoretical and Empirical Analysis. Cambridge 1999. 85 Brennan/Buchanan, Power to Tax (wie Anm. 55). 86 James Buchanan/Richard Wagner: Democracy in Deficit. New York u. a 1977. 87 William D. Nordhaus: The Political Business Cycle, in: Review of Economic Studies 42 (1975), S. 1969–1990; Alberto Alesina: Macroeconomic Policy in a Two-Party System as a Repeated Game, in: Quarterly Journal of Economics 102 (1987), S. 651–678; Torsten Persson/Lars Svensson: Why a Stubborn Conservative Would Run a Deficit: Policy Wirth Time-Inconsistent Preferences, in: Quarterly Journal of Economics 104 (1989), S. 325–345; Alberto Alesina/Guido Tabellini: A Positive Theory of Fiscal Deficits and Government Debt, in: Review of Economic Studies 57 (1990), S. 403–414. 88 Andres Velasco: Debts and Deficits under Fragmented Fiscal Policymaking, in: Journal of Public Economics 76 (2000), S. 105–125.

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solchen Guts ist zwar kollektiv irrational, jedoch – als Resultat der Eigeninteressen der einzelnen am Budgetprozess beteiligten politischen Akteure – individuell rational. Folgt man einer solchen Betrachtungsweise, kann es nicht mehr genügen, Appelle an bessere ‚Einsicht‘ der Politiker zu formulieren. Vielmehr gerät dann die von der konstitutionellen Ökonomik propagierte Reform der politischen Entscheidungsprozesse selbst auf die Tagesordnung von Finanzwissenschaft und (Finanz-) Politik. V. Ausblick Der kursorische Rückblick zeigt, dass die Finanzwissenschaft des 20. Jahrhunderts durch eine Mischung von Kontinuität und Wandel geprägt ist, die im Grundsatz für die gesamte Volkswirtschaftslehre kennzeichnend ist. So bleiben die das Erkenntnisobjekt der Finanzwissenschaft traditionell charakterisierenden Kernfragen weitgehend dieselben. Die Probleme einer Rechtfertigung staatlichen Handelns, Fragen nach der ,richtigen‘ Art der Staatsfinanzierung und die Entwicklung von Maßstäben für ein zweckmäßiges Handeln in der finanzpolitischen Praxis stehen immer noch im Zentrum der finanzwissenschaftlichen Forschung. Die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende entscheidungstheoretische Fundierung der Ökonomie im Allgemeinen und der Finanzwissenschaft im Besonderen ermöglicht dabei allerdings einen veränderten Blick auf alte Fragestellungen – auch wenn die Ergebnisse nicht immer sonderlich überraschend erscheinen mögen. Im Zuge der stärker modelltheoretischen und formalisierten Vorgehensweise entstand eine ausdifferenzierte Theorie des Marktversagens, die als Ansatz zur Rechtfertigung von staatlichen Aktivitäten primär auf die Verwirklichung allokativer Effizienz fokussiert. Darüber hinaus wurden durch die mathematisierte Analysemethode beträchtliche Erkenntnisfortschritte im Bereich der Steuerwirkungs-, der Steuerverteilungs- und der Verschuldungstheorie erreicht. Freilich sind es unter diesem Blickwinkel primär ,methodische‘ Aspekte, welche die heutige von der älteren Finanzwissenschaft unterscheiden. Ein Wandel, der auf lange Sicht wahrscheinlich viel weiter gehende Auswirkungen auf die Disziplin hat, zeigt sich in einem Teil der finanzwissenschaftlichen Literatur im geänderten Staatsbild, das den jeweiligen Analysen zugrunde liegt. Die bewusste Abkehr von einer Modellierung finanzpolitischer Handlungsträger, die ihre Entscheidungen an einer sozialen Wohlfahrtsfunktion ausrichten, und die Endogenisierung der finanzpolitischen Entscheidungen durch eine explizit ökonomische Analyse des institutionellen Rahmens, in dem politische Willensbildungsprozesse ablaufen, geschieht einmal aus Gründen der methodologischen Konsistenz. So werden in der traditionellen Finanzwissenschaft ebenso wie in der heute dominierenden neoklassischen Ökonomik die privaten Akteure am Markt als egoistische Nutzenmaximierer modelliert, die staatlichen Entscheidungsträger dagegen als altruistische Maximierer einer sozialen Wohlfahrtsfunktion. Bei dieser – oft nicht explizit formulierten – Annahme eines ‚gespaltenen Menschenbildes‘ handelt es sich keineswegs um eine vernachlässigenswerte Marginalie. Wenn Brennan und Bucha-

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Rolf Caesar / Hans Pitlik / Jan Pieter Schulz

nan89 die in der neoklassisch geprägten Optimalsteuertheorie abgeleiteten Besteuerungsregeln als Handlungsanweisungen an den staatlichen Leviathan für eine perfekte Ausbeutung der Steuerzahler identifizieren und deshalb zu völlig konträren normativen Schlussfolgerungen gelangen, verdeutlicht dies die tatsächliche Bedeutung der Annahmen über die politischen Entscheidungsträger. Zum Zweiten eröffnen sich, wenn man die Übertragung der Grundannahmen über das Verhalten der Menschen im marktlichen Bereich auch auf ihr Handeln im politischen Bereich akzeptiert, aber auch vollkommen neue und potentiell fruchtbare Forschungsrichtungen, die die Finanzwissenschaft in Zukunft vermutlich erheblich beeinflussen werden. Beispielhaft genannt seien die empirische Analyse der Bedeutung unterschiedlicher politischer Institutionen für die Finanzpolitik oder erste Ansätze zur politökonomischen Erklärung von finanzpolitischen Reformen.90 Damit tritt zwar die historische Sonderstellung der Finanzwissenschaft zugunsten einer verstärkten Integration in die allgemeine Wirtschaftswissenschaft zurück. Zugleich aber steigt durch die Rückbesinnung der normativen Finanzwissenschaft auf staatsphilosophische Grundfragen und durch die Verknüpfung der positiven Finanztheorie mit politikwissenschaftlichen Ansätzen nicht nur der Erklärungsanspruch der Finanzwissenschaft, sondern es ergeben sich darüber hinaus auch neue Querverbindungen zur wirtschaftshistorischen Diskussion. Insofern könnten sich Finanzwissenschaft, Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte möglicherweise stärker wechselseitig befruchten, als es bislang der Fall war.

89 Brennan/Buchanan, Power to Tax (wie Anm. 55). 90 Nouriel Roubini/Jeffrey Sachs: Political and Economic Determinants of Budget Deficits in Industrial Democracies, in: European Economic Review 33 (1989), S. 903–938; Torsten Persson/ Guido Tabellini: Political Institutions and Policy Outcomes: What are the Stylized Facts? CESifo Working Paper 459. München 2001; May, Ausgabeseitige Haushaltskonsolidierung (wie Anm. 82).

Oliver Volckart INSTITUTIONENÖKONOMISCHE ERKLÄRUNGEN UND WIRTSCHAFTSHISTORISCHE MODELLE* I. Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) hat sich als eigenständiges Forschungsgebiet zwar erst vor zwei oder drei Jahrzehnten etabliert, doch hat sie die Eigenheiten junger, im Aufbau befindlicher Forschungsprogramme mittlerweile weitgehend abgelegt.1 Kennzeichnend für das gewisse Reifestadium, das sie erreicht hat, sind ihre zunehmende Formalisierung, die die überwiegend verbal formulierten Thesen der Anfangsjahre abzulösen beginnt, und der Umstand, dass inzwischen eine Reihe institutionenökonomischer Lehrbücher erschienen ist.2 Kennzeichnend für die jüngere Entwicklung der NIÖ ist auch das wachsende Interesse, auf das sie in den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen stößt.3 * 1

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Für Kritik und zahlreiche konstruktive Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Aufsatzes bedanke ich mich bei Gerold Ambrosius, Karl Heinrich Kaufhold, Günther Schulz und Rolf Walter sowie bei Andrea Eisenberg und Nikolaus Wolf. Die NIÖ untersucht einerseits, welche Bedeutung Institutionen (im Sinne sanktionsbewehrter Verhaltensbeschränkungen: Verfassungen, Gesetze, Sitten, Bräuche, Regeln der Ethik und Moral, Konventionen usw.) für Marktprozesse und deren Ergebnisse haben, andererseits, wie Institutionen entstehen und sich verändern. Auf die Bedürfnisse von Wirtschaftshistorikern zugeschnittene Einführungen in die NIÖ stammen von Felix Butschek: Wirtschaftsgeschichte und Neue Institutionenökonomie, in: Eckart Schremmer (Hg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. Stuttgart 1998, S. 89–100; Oliver Volckart: Moderne Institutionenökonomik und wirtschaftshistorische Analyse, in: Jürgen Nautz/Emil Brix (Hg.): Zwischen Wettbewerb und Protektion. Zur Rolle staatlicher Macht und wettbewerblicher Freiheit in Österreich im 20. Jahrhundert. Wien 1998, S. 65–87; Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte. Stuttgart 2001, S. 41 ff. Wer sich näher über die NIÖ informieren möchte, sei auf die in Anm. 2 genannten Lehrbücher verwiesen, die weiterführende Literatur nennen. Thráinn Eggertsson: Economic Behavior and Institutions. Cambridge 1990; Rudolf Richter/ Eirik Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung. Tübingen 1996; Mathias Erlei/Martin Leschke/Dirk Sauerland: Neue Institutionenökonomik. Stuttgart 1999; Wolfgang Kasper/Manfred E. Streit: Institutional Economics. Social Order and Public Policy. Cheltenham/Northampton, MA 1999. In der Entwicklung der NIÖ spielten wirtschaftsgeschichtliche Probleme und die Auseinandersetzung mit wirtschaftshistorischen Thesen zwar frühzeitig eine wichtige Rolle, doch ist die breite Rezeption ihrer Aussagen durch die wirtschaftshistorische Forschung ein Phänomen der letzten zehn bis fünfzehn Jahre. Für den Einfluss der Wirtschaftsgeschichte auf die Entwicklung der NIÖ stehen v. a. Arbeiten von Douglass C. North: Structure and Change in Economic History. New York/London 1981; ders.: Institutions, Institutional Change, and Economic Performance. Cambridge 1990. Zu den Wirtschaftshistorikern, die sich nicht nur um eine Anwendung, sondern auch um eine Weiterentwicklung der NIÖ (vor allem durch Aufnahme spieltheoretischer Elemente) bemühen, gehört Avner Greif: Reputation and Coalition in Medieval Trade. Evidence on the Maghribi Traders, in: JEH 49 (1989), S. 857–882; ders.: Economic History

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Gerade in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde die NIÖ in den vergangenen Jahren Grundlage einer Vielzahl anregender Untersuchungen. Tatsächlich war es mit ihrer Hilfe möglich, die seit dem Untergang der Deutschen Historischen Schule der Nationalökonomie bestehende Trennung von Wirtschaftsgeschichte und -wissenschaft zu überwinden. Erstmals seit dem Sieg der Neoklassik hielt die Ökonomik ein Theorieangebot bereit, das auch für nicht-kliometrisch arbeitende Wirtschafts- und Sozialhistoriker attraktiv war.4 Allerdings wird diese eben erst geschlagene interdisziplinäre Brücke schon jetzt brüchig. Besonders die zunehmende Formalisierung der NIÖ droht, den Abstand zwischen ihr und der Wirtschaftsgeschichtsschreibung wieder zu vergrößern. Da die Reaktion auf diese Entwicklung nicht darin bestehen kann, die Institutionenökonomen zur Abkehr von ihren immer formaleren Analysen aufzufordern, bleibt nur ein Ausweg: Will die Wirtschaftsgeschichte nicht den Anschluss an die Entwicklung der Theorie verlieren, so muss sie selbst einen höheren Formalisierungsgrad erlangen. Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist eine Methode, mit der sich dieses Ziel erreichen lässt: die Konstruktion wirtschaftshistorischer Modelle.5 Dabei geht es nicht um mathematische, sondern um verbale Modelle, die sich mithin auf einer mittleren Ebene der Formalisierung befinden. Es wird gezeigt, wie Modelle bei der Erklärung wirtschaftsgeschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen helfen, wie institutionenökonomische Theorieelemente sich in diesem Zusammenhang nutzen lassen, und welche Probleme die Modellmethode aufwirft. Bevor im Einzelnen auf diese Fragen eingegangen wird, ist es angebracht, kurz zu klären, was man unter einem wissenschaftlichen Modell versteht. Der Begriff wird oft unscharf verwendet; vielfach scheint sogar Unklarheit darüber zu bestehen, ob und wann man es überhaupt mit Modellen zu tun hat, so dass gelegentlich vage von „modellhaften“ Analysen oder Darstellungen die Rede ist. Will man feststellen, was ein wissenschaftliches Modell ist, so ist es hilfreich, zunächst ein nicht-wissenschaftliches zu betrachten, beispielsweise das eines Schiffs.

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and Game Theory, erscheint in: Robert J. Aumann/Sergiu Hart (Hg.): Handbook of Game Theory, Band 3. Amsterdam 2002. Der Hoffnung, dass dies möglich sei, gab Borchardt bereits in den siebziger Jahren Ausdruck: Knut Borchardt: Der Property Rights-Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte – Zeichen für eine systematische Neuorientierung des Faches?, in: Jürgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion. Göttingen 1977, S. 140–160, hier 156. Grundlegend zu sozialwissenschaftlichen Modellen: May Brodbeck: Models, Meaning, and Theories, in: Llewellyn Gross (Hg.): Symposium on Sociological Theory. Evanston, IL/White Plains, New York 1959, S. 373–403; Allan Gibbard: Economic Models, in: Journal of Philosophy 75 (1978), S. 664–677; Hans Albert: Gesetze, Modelle und institutionelle Alternativen. Zu Willi Meyers Charakterisierung des ökonomischen Denkens, in: Erich Streißler/Christian Watrin (Hg.): Zur Theorie marktwirtschaftlicher Ordnungen. Tübingen 1980, S. 112–120; ders.: Modell-Denken und historische Wirklichkeit. Zur Frage des logischen Charakters der theoretischen Ökonomie, in: Ders. (Hg.): Ökonomisches Denken und soziale Ordnung. Festschrift für Erik Boettcher. Tübingen 1984, S. 39–61; Dietrich Zschocke: Modellbildung in der Ökonomie. Modell – Information – Sprache. München 1995; Mary S. Morgan: Models, in: John B. Davis/ D. Wade Hands/Uskali Mäki (Hg.): The Handbook of Economic Methodology. Cheltenham/ Northampton, MA 1998, S. 316–321; Mary Hesse: Models and Analogies, in: William H. Newton-Smith (Hg.): A Companion to the Philosophy of Science. Oxford 2000, S. 299–307.

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Ein Schiffsmodell ist kein Modell, weil es klein ist, sondern weil es ein tatsächliches Schiff Mast für Mast und Luke für Luke nach Einzelheiten und Proportionen abbildet. Diese Ähnlichkeit zwischen ihm und einem Original ist allen – auch wissenschaftlichen – Modellen gemeinsam.6 Allerdings gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Liebhaber- und wissenschaftlichen Modellen. Von Ersteren wird normalerweise erwartet, dass sie die Komplexität des Originals so vollständig wie möglich abbilden. Wissenschaftliche Modelle sollen das nicht. Ihr Zweck ist schließlich nicht, das Auge zu erfreuen, sondern zur Lösung bestimmter Probleme oder zur Beantwortung präzise formulierter Fragen beizutragen. Ein zu wissenschaftlichen Zwecken verwendetes Schiffsmodell könnte also z. B. zur Untersuchung der Strömungsverhältnisse am Schiffsrumpf dienen. Die dabei zu klärende Frage könnte lauten: Wie muss der Schiffsrumpf gestaltet sein, damit er möglichst strömungsgünstig ist? Das Modell erlaubt Schlüsse auf Kausalbeziehungen zwischen der Form des Rumpfs und dem Strömungswiderstand, die nicht nur für es selbst, sondern auch für das Original gelten. Es hilft mithin, Kausalerklärungen zu finden. Dafür genügt es aber, wenn der Rumpf des Modells seiner Form nach demjenigen eines wirklichen Schiffs entspricht. Alle übrigen Einzelheiten des Originals sind im Zusammenhang mit dem Problem, dem man nachgeht, ohne Belang, und können fortgelassen werden. Sie tragen nichts zur Beantwortung der Frage bei, die man klären möchte, und verstellen möglicherweise sogar den Blick auf die tatsächlich relevanten Zusammenhänge. Bei der Konstruktion wissenschaftlicher Modelle ist Sparsamkeit – Parsimonie – daher oberstes Gebot. Materiale Modelle wie das eben besprochene werden in den Ingenieurwissenschaften häufig benutzt, wenn eine Untersuchung am Original, d. h. ein Experiment oder ein Test, zu aufwendig oder aus anderen Gründen nicht praktikabel ist. In den Sozialwissenschaften treten oft ähnliche Schwierigkeiten auf. Experimente sind meist höchst aufwendig, Untersuchungen am Original gerade dann, wenn es um die Vergangenheit geht, unmöglich. Um diese Probleme zu lösen, können Sozialwissenschaftler zwar nicht auf materiale Modelle zurückgreifen, doch haben sie die Möglichkeit, mit sprachlich-semantischen Modellen zu arbeiten.7 Gleichgültig ob sie diese verbal oder in mathematischer Form niederlegen, stets handelt es sich bei ihnen um Gedankenexperimente, die – ähnlich wie materiale Modelle – aufgrund ihrer im Vergleich zum Original einfachen Struktur sonst nicht erkennbare Kausalzusammenhänge verdeutlichen und es so erleichtern, Erklärungen zu formulieren. Sozialwissenschaftler, die mit Modellen arbeiten, gehen also davon aus, dass natur- und gesellschaftswissenschaftliche Erklärungen strukturell identisch sind; sie vertreten damit eine dem methodologischen Naturalismus zuzuordnende Position.8 Das gilt für Wirtschaftswissenschaftler im Allgemeinen ebenso wie für Institutionenökonomen im Besonderen. Historiker allerdings stellt diese Auffassung vor ein Problem. Auf der Basis des methodologischen Naturalismus erzielte Erklärungen 6 7 8

Brodbeck, Models (wie Anm. 5), S. 374. Herbert Stachowiak: Modell, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hg): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. München 1992, S. 219–222. Karl Acham: Philosophie der Sozialwissenschaften. Freiburg/München 1983, S. 36.

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enthalten nämlich Bestandteile, deren Anwendbarkeit im historischen Zusammenhang – um das Mindeste zu sagen – umstritten ist. Um welche Bestandteile es sich dabei handelt und weshalb die Arbeit mit Modellen für Historiker dennoch möglich ist, wird im folgenden Abschnitt untersucht. II. Wie die Mikroökonomik überhaupt, so erklärt auch die NIÖ Kausalzusammenhänge auf nomologisch-deduktive Weise.9 Damit nutzt sie ein Erklärungskonzept, dessen Struktur u. a. von Karl R. Popper analysiert wurde. Popper zufolge heißt einen Vorgang kausal erklären, „einen Satz, der ihn beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen deduktiv ableiten“.10 Beispielsweise hat man den Einsturz einer Brükke erklärt, wenn man feststellt, dass ihre Höchstbelastbarkeit 2 t betrug, dass aber ein 7 t schwerer Lastwagen sie zu überqueren versuchte.11 Diese Erklärung enthält mehrere Bestandteile: zunächst eine Aussage, die beschreibt, was erklärt werden soll, sodann zwei besondere oder singuläre Sätze, die besagen, dass die Belastbarkeit der Brücke 2 t betrug und der Lastwagen 7 t wog, und schließlich die unausgesprochene Hypothese, dass alle Brücken einstürzen, wenn sie wesentlich über ihre Höchstgrenze hinaus belastet werden. Man kann die Erklärung also auch so aufschreiben: 1. der besondere Satz 2. der besondere Satz 3. die allgemeine Hypothese 4. die Folgerung

Die Belastbarkeit der Brücke betrug 2 t. Der LKW wog 7 t. Alle Brücken stürzen ein, wenn sie über ihre Höchstgrenze hinaus belastet werden. Daher stürzte die Brücke ein.12

9 Zum Konzept nomologisch-deduktiver Erklärungen siehe Karl-Dieter Opp: Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theorienbildung. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 29 ff.; Hans Albert: Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: René König (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung. Stuttgart 1973, S. 57–102, hier 74 f.; Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Band 1: Sprachanalyse – Deduktion – Induktion in Natur- und Sozialwissenschaften. 11. Aufl., München 1991, S. 127 ff. 10 Karl R. Popper: Logik der Forschung. 10. Aufl., Tübingen 1994 (zuerst 1935), S. 31. Vgl. zum Folgenden auch Alfred W. Coats: Explanations in History and Economics, in: Social Research 56 (1989), S. 331–360, hier 334 ff. 11 Aufgrund der oben erwähnten Tatsache, dass die Anwendbarkeit nomologisch-deduktiver Erklärungen im historischen Zusammenhang umstritten ist, kann hier kein Beispiel aus dem Bereich der Geschichte gewählt werden. 12 Nomologisch-deduktive Erklärungen haben also die Struktur eines Syllogismus: S1, S2, …, Sk G1, G2, …, Gr

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E Wobei „S“ die besonderen Sätze, „G“ die allgemeinen Sätze (es können mehrere in einer Erklärung enthalten sein) und „E“ das zu erklärende Ereignis bezeichnet. Nach William H. NewtonSmith: Explanation, in: Ders. (Hg.): A Companion to the Philosophy of Science. Oxford 2000, S. 127–133, hier 127.

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Bei den besonderen Sätzen handelt es sich um Aussagen, die sich nur auf bestimmte, endliche Raum-Zeitpunkte beziehen, während von der allgemeinen Hypothese angenommen wird, dass sie orts- und zeitunabhängig gültig ist.13 Solche Hypothesen besagen, dass jedesmal, wenn an einem bestimmten Ort und Zeitpunkt ein spezifiziertes Ereignis eintritt, ein ebenfalls spezifiziertes anderes Ereignis eintritt, das in einer spezifizierten Weise mit dem Zeitpunkt und Ort des Eintretens des ersten Ereignisses verbunden ist.14 Derartige allgemeine Hypothesen haben also nomologischen Charakter; sie beschreiben Gesetze. Ihre Verwendung ist für die Formulierung von Erklärungen vom nomologisch-deduktiven Typ unabdingbar. Es ist nämlich unmöglich, aus einer Menge von Aussagen, die lediglich singuläre Ereignisse oder Bedingungen beschreiben, weitere Aussagen mit einem zusätzlichen Informationsgehalt (darunter auch Erklärungen) abzuleiten. Eine solche Ableitung würde einen gehaltserweiternden Schluss erfordern, doch dies lässt die formale Logik nicht zu.15 Um die Deduktion vornehmen zu können, ist daher mindestens ein Gesetz erforderlich, das die besonderen Sätze, die die Randbedingungen beschreiben, ergänzt. Ist es möglich, wirtschaftsgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen nomologisch-deduktiv zu erklären? Das würde voraussetzen, dass in der Geschichte Gesetze wirksam wären – eine Hypothese, die auf verstehend-hermeneutischer Grundlage arbeitende Historiker rundheraus verwerfen.16 In diesem Zusammenhang ist es jedoch nützlich, mehrere Geschehensebenen zu unterscheiden. Während auf der Makroebene aggregierte Phänomene wie z. B. Änderungen des Preisniveaus, der Machtbalance zwischen Staaten usw. angesiedelt sind, spielen sich auf der darunter liegenden Mikroebene diejenigen Aktivitäten ab, die die Entwicklungen auf der höheren Ebene auslösen.17 Versuche, nomologische Hypothesen zur Erklärung wirtschaftsgeschichtlicher Makroentwicklungen zu formulieren, haben tatsächlich nicht sehr weit geführt und können als gescheitert gelten.18 In Bezug auf Mikrophänome13 Hans Albert: Der Gesetzesbegriff im ökonomischen Denken, in: Hans K. Schneider/Christian Watrin (Hg.): Macht und ökonomisches Gesetz. Verhandlungen auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik – Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bonn 1972, 1. Halbband. Berlin 1973, S. 129–162, hier 144. 14 Ebd., S. 136, 144. 15 Vgl. Hans Albert: Kritischer Rationalismus. Vier Kapitel zur Kritik illusionären Denkens. Tübingen 2000, S. 98. 16 Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Band 2: Geisteswissenschaftliche Methoden. Phänomenologie – Hermeneutik und historische Methode – Dialektik. 9. Aufl., München 1991, S. 176; vgl. z. B. Michael Oakeshott: On History and Other Essays. Oxford 1983, S. 72 ff.; Rolf Walter: Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Paderborn u. a. 1994, S. 16. 17 Hans Albert: Methodologischer Individualismus und historische Analyse, in: Karl Acham/Winfried Schulze (Hg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften. München 1990, S. 219–239, hier 225 ff.; James S. Coleman: Foundations of Social Theory. Cambridge, MA/London 1990, S. 1–23. 18 Das gilt z. B. für Braudels Konzept der „Weltwirtschaft“, eines Makrophänomens, dessen Entwicklung ihm zufolge von einer Reihe „tendenzieller Regeln“ bestimmt wird. Braudels Wortwahl deutet zwar darauf hin, dass er seinen „Regeln“ nicht die Qualität von Gesetzen zuschrieb, doch klingen Feststellungen wie die, dass „eine Weltwirtschaft […] jeweils nur einen Pol“ zu-

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ne lässt sich diese Feststellung jedoch nicht so einfach treffen. Zwar variiert das Verhalten von Akteuren auf der Mikroebene unendlich, aber es gibt dennoch auffällige Regelmäßigkeiten. So dürfte z. B. jeder mit dem Phänomen vertraut sein, dass Händler auf einem Wochenmarkt einige Zeit, bevor sie ihre Stände abzubauen beginnen, die Preise herabsetzen. Das tun sie, weil sie ihrerseits eine Verhaltensregelmäßigkeit beobachtet haben: Ihre Kunden fragen größere Mengen der angebotenen Güter nach, wenn deren Preis sinkt – ein Verhalten, das der ökonomischen Annahme rationaler Nutzenmaximierung entspricht. Carl G. Hempel, der sich darum bemühte, das Konzept der nomologisch-deduktiven Erklärung für die Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen, vertrat die Ansicht, dass man diese Verhaltensannahme auch im Rahmen historischer Kausalerklärungen als nomologische Hypothese verwenden könne.19 Wie eine nähere Untersuchung zeigt, ist Hempels Vorschlag allerdings nicht unproblematisch. Erstens ist nämlich keineswegs eindeutig bestimmbar, was rationales Verhalten ist. Der in den meisten Zweigen der Wirtschaftswissenschaft verwendete Rationalitätsbegriff geht auf David Hume zurück, der davon ausging, dass die Vernunft Sklave der Leidenschaften sei.20 So farbig drücken sich moderne Wirtschaftswissenschaftler im Allgemeinen zwar nicht aus, aber wenn sie die Leidenschaften durch Präferenzen ersetzen und davon sprechen, dass Rationalität dazu diene, die geeignetsten Mittel zu deren Befriedigung zu wählen, meinen sie im Grunde dasselbe wie Hume.21 Die Präferenzen selbst haben dieser Auffassung zufolge mit Rationalität nichts zu tun, solange das Individuum nur fähig ist, sie in eine transitive Ordnung zu bringen: Wenn es das Gut A dem Gut B und das Gut B dem Gut C vorzieht, darf es C nicht höher bewerten als A. Obwohl alles dies zunächst recht einfach klingt, treten mehrere Probleme auf. Einerseits lassen spieltheoretische Untersuchungen erkennen, dass rationale Erwägungen unter identischen Randbedingungen verschiedene Verhaltensweisen hervorbringen können.22 Andererseits operieren Sozialwissenschaftler durchaus auch mit Rationalitätskonzepten, die dem der

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lasse und „der Aufstieg einer Stadt […] notwendig der Niedergang der anderen“ sei, irritierenderweise nach nomologischen Hypothesen. Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Band 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft. München 1986, S. 18 ff., 30. Da nomologischdeduktive Erklärungen ihrer Struktur nach Prognosen entsprechen (siehe weiter unten), müsste es mit Hilfe von Braudels „Regeln“ z. B. möglich sein vorherzusagen, wohin sich der „Pol“ (d. h. die Zentralstadt) der gegenwärtigen Weltwirtschaft in Zukunft verlagern wird. Das ist offensichtlich nicht möglich. Carl G. Hempel: Gründe und übergeordnete Gesetze in der historischen Erklärung, in: Karl Acham (Hg.): Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften. Darmstadt 1978 (zuerst 1963), S. 128–150, hier 142; vgl. Albert, Der Gesetzesbegriff (wie Anm. 13), S. 149; schon Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., Tübingen 1980 (zuerst 1922), S. 9. David Hume: A Treatise of Human Nature. Oxford 2000 (zuerst 1740), Kap. 2.3.3, S. 266. Robert Sugden: Rational Choice. A Survey of Contributions from Economics and Philosophy, in: The Economic Journal 101 (1991), S. 751–785, hier 753. Shaun P. Hargreaves Heap/Yanis Varoufakis: Game Theory. A Critical Introduction. London 1995, S. 33; Jon Elster: Wesen und Reichweite rationaler Handlungserklärung, in: Stefan Gosepath (Hg.): Motive, Gründe, Zwecke: Theorien praktischer Rationalität. Frankfurt a. M. 1999, S. 57–75, hier 65 f.

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Wirtschaftswissenschaften nicht entsprechen,23 so etwa Weber mit dem Konzept der Wertrationalität, demzufolge neben Kosten-Nutzen-Überlegungen auch der Glaube an den Eigenwert bestimmter Verhaltensweisen individuelles Handeln bestimmt.24 Zweitens gibt es empirische Einwände gegen die Annahme, dass Menschen sich stets rational verhalten. So konnte beispielsweise schon früh nachgewiesen werden, dass die meisten Individuen nicht nur ihre Chancen im Lotto systematisch überschätzen, sondern dass ihnen bei der Wahl zwischen verschiedenen Risiko- und Gewinnchancen-Klassen auch ihre transitive Präferenzordnung durcheinander gerät.25 Von Menschen getroffene Entscheidungen scheinen darüber hinaus selbst dann durch den Ereignisrahmen, der zur Zeit der Wahl einer bestimmten Handlungsweise besteht, beeinflusst zu werden, wenn dieser Rahmen für das Handlungsergebnis irrelevant ist.26 Wirtschaftswissenschaftler haben verschiedene Ansätze entwickelt, um derartige Phänomene theoretisch zu erfassen. Besondere Bedeutung hat im vorliegenden Zusammenhang das auf Herbert A. Simon zurückgehende Konzept der begrenzten Rationalität, das – ähnlich wie ältere Ansätze aus der Österreichischen Schule der Ökonomik – die beschränkte menschliche Fähigkeit zum Speichern und Verarbeiten von Informationen berücksichtigt. Das Konzept geht davon aus, dass Individuen unter diesen Restriktionen in rationaler Weise versuchen, befriedigende Handlungsergebnisse zu erzielen.27 Die NIÖ hat diese Verhaltensannahme aufgegriffen und verwendet sie als Gesetzesaussage, um auf ihrer Grundlage nomologisch-deduktive Erklärungen zu formulieren. Alle Einwände gegen den Versuch, dem Handeln von Menschen Gesetzlichkeiten zu unterlegen, werden durch die Nutzung von Simons Konzept der begrenzt23 Einen Überblick über die verschiedenen Rationalitätskonzepte bietet Stefan Gosepath: Praktische Rationalität. Eine Problemübersicht, in: Ders. (Hg.), Motive, Gründe, Zwecke (wie Anm. 22), S. 7–53. 24 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 19), S. 12. Solches Verhalten lässt sich mit Hilfe von Norths Ideologiebegriff möglicherweise noch mit dem üblichen wirtschaftswissenschaftlichen Rationalitätskonzept erfassen. Laut North sind Ideologien subjektive Anschauungen, die Individuen aufgrund der Unsicherheit über das Verhalten anderer und der Komplexität der Umwelt entwickeln. Ideologien helfen, diese komplexe Umwelt zu erklären, und erleichtern es, Entscheidungen zu treffen. Sie führen North zufolge dazu, dass Individuen bestimmten Verhaltensweisen einen Eigenwert zuschreiben und bereit sind, höhere Kosten aufzuwenden, um diese Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten. North, Institutions, Institutional Change, and Economic Performance (wie Anm. 3), S. 23; ders.: Institutions, Ideology, and Economic Performance, in: Cato Journal 11 (1992), S. 477–496. 25 M. Allains: Le comportement de l’homme rationnel devant le risque. Critique des postulats et axiomes de l’ecole americaine, in: Econometrica 21 (1953), S. 503–546. Zum Folgenden vgl. die umfassende Erörterung von Felix Butschek: Die verhaltenstheoretischen Grundlagen der Nationalökonomie und ihre Bedeutung für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung, in: VSWG 87 (2000), S. 322–335. 26 Daniel Kahnemann/Amos Tversky: Prospect Theory. An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica 47 (1979), S. 263–291. 27 Herbert A. Simon: Rationality as a Process and as a Product of Thought, in: American Economic Review 68 (1978), S. 1–16, hier 6; vgl. Ronald A. Heiner: The Origins of Predictable Behavior, in: American Economic Review 73 (1983), S. 560–595, hier 568 f.; Butschek, Die verhaltenstheoretischen Grundlagen (wie Anm. 25), S. 324 ff.

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rationalen Bedürfnisbefriedigung jedoch nicht ausgeräumt. Im Nachhinein kann man schließlich so gut wie jede Verhaltensweise als begrenzt-rational deuten, indem man dem untersuchten Individuum passende kognitive Beschränkungen – die man ja gerade im Falle historischer Akteure nicht direkt beobachten kann – unterstellt. Unter Nutzung dieses Konzepts formulierte historische Thesen können daher praktisch nicht widerlegt werden, was letztlich zu völliger Beliebigkeit führt. Auch auf der Mikroebene scheint es demnach keine brauchbaren nomolgischen Hypothesen zu geben. Muss die Frage, ob historische Ereignisse und Entwicklungen nomologischdeduktiv erklärt werden können, also mit nein beantwortet werden? Donagan ist dieser Ansicht.28 Es gibt jedoch trotz aller Probleme einen Ausweg: die Konstruktion von Modellen. Sozialwissenschaftliche Modelle sind, wie oben ausgeführt, Gedankenexperimente, die von der Realität streng zu unterscheiden sind. In solchen Experimenten kann man zunächst vollkommen beliebige Annahmen treffen – u. a. auch die, dass die Akteure im Modell sich als begrenzt-rationale Bedürfnisbefriediger im institutionenökonomischen Sinne verhalten. Anders gewendet: wenn man verdeutlicht, worin die Beschränkung der Rationalität besteht und dass sie für alle Modellakteure gleichermaßen gilt, kann man so tun als ob es in der Geschichte ein Gesetz von quasi naturwissenschaftlicher Qualität gebe und so auf der Basis des methodologischen Naturalismus historische Erklärungen formulieren. Problematisch ist dabei allerdings, dass die Ergebnisse, die mit Hilfe derartiger Gedankenexperimente erzielt werden, nicht ohne weiteres Aussagen über tatsächliche historische Verhältnisse erlauben: Modell und Wirklichkeit sind zweierlei. Damit das Modell Schlüsse auf die Ursachen realer wirtschaftsgeschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen erlaubt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein und Vorgehensweisen beachtet werden. Welche das sind, wird im Folgenden erläutert. Dabei wird in Abschnitt III. zunächst im Einzelnen diskutiert, wie man auf institutionenökonomischer Grundlage wirtschaftshistorische Modelle konstruieren kann. III. Institutionenökonomische Modelle dienen zur Formulierung nomologisch-deduktiver Kausalerklärungen und sind in derselben Weise wie diese aufgebaut.29 Auch sie bestehen aus besonderen und allgemeinen Sätzen, d. h. aus Aussagen über singuläre historische Ereignisse oder Bedingungen sowie aus nomologischen Hypothesen. Diese Sätze bilden die Prämissen. Darüber hinaus enthalten die Modelle Aussagen darüber, was mit ihrer Hilfe erklärt wird; diese werden aus den Prämissen deduziert. Die Konstruktion von Modellen erfolgt dementsprechend in zwei Schritten, die methodologisch streng voneinander zu unterscheiden sind. Im ersten Schritt 28 Alan Donagan: Neue Überlegungen zur Popper-Hempel-Theorie, in: Hans Michael Baumgartner/Jörn Rüsen (Hg.): Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik. Frankfurt a. M. 1982, S. 173–208, hier 189 ff. 29 Vgl. Albert, Probleme (wie Anm. 9), S. 84 f.

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werden die Prämissen spezifiziert, im zweiten die Folgerungen abgeleitet, die sich aus diesen ergeben. Im Weiteren werden diese beiden Schritte erörtert, wobei es als erstes um die Spezifizierung der Prämissen geht. Da die Probleme, die bei der Formulierung und Verwendung allgemeiner Sätze entstehen können, oben bereits diskutiert wurden, stehen hier die besonderen Sätze im Mittelpunkt. Woher soll man als Historiker wissen, ob man aus der unendlich großen Menge an Aussagen über historische Ereignisse und Bedingungen, die in den Quellen enthalten sind, gerade die relevanten Aussagen ausgewählt hat? Mit anderen Worten: wie ist zu gewährleisten, dass man Modellprämissen formuliert, die die komplexe Wirklichkeit so vereinfachen, dass man auf ihrer Grundlage zu brauchbaren Erklärungen gelangt? Dieses Thema gehört zu den aus wissenschaftstheoretischer Perspektive am wenigsten untersuchten Bereichen der Modellkonstruktion. Dafür ist vermutlich der Umstand verantwortlich, dass sich aus den Prämissen gegenwartsbezogener Modelle auch Prognosen zukünftiger Entwicklungen deduzieren lassen, und dass dieser Zweck der Modellbildung im Mittelpunkt des Interesses der meisten Wirtschaftswissenschaftler steht. In einem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1953 vertrat Milton Friedman die Ansicht, dass Modellprämissen nebensächlich seien, solange sie nur die Ableitung zutreffender Vorhersagen erlaubten30 – was impliziert, dass man die Art und Weise, wie diese Prämissen formuliert werden, vernachlässigen kann. Als Historiker wird man sich mit dieser Auffassung nicht zufrieden geben. Die Menge der Prämissen, aus denen die zu erklärenden wirtschaftsgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen deduziert werden können, ist im Prinzip unendlich groß.31 Um überhaupt einen Ansatzpunkt zur Formulierung von Erklärungen zu finden, braucht man daher irgend ein beschränkendes Kriterium. Die Kompatibilität der besonderen Sätze des Modells mit dem, was in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft als gesichertes Faktenwissen gilt, bietet sich in diesem Zusammenhang an.32 Wie kann man erreichen, dass die ins Modell aufgenommenen singulären Sätze dieses Kriterium erfüllen? Wichtig ist hier der Hinweis, dass sie keine konkreten Bedingungen oder Personen, sondern Idealtypen beschreiben.33 Idealtypen werden konstruiert, indem man von bestimmten bekannten Eigenschaften realer Verhältnisse oder Objekte abstrahiert. Das Verfahren geht auf Max Weber zurück, dem zufolge sie durch „einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stel30 Milton Friedman: The Methodology of Positive Economics, in: Ders.: Essays in Positive Economics. Chicago 1953, S. 3–43, hier 14 f. 31 So kann man z. B. den Bau der ägyptischen Pyramiden unter der Prämisse des Eingreifens Außerirdischer logisch einwandfrei erklären. Ernst nehmen wird man eine solche Erklärung freilich nur dann, wenn man Friedmans These, die Prämissen von Erklärungen seien nebensächlich, auf die Geschichtswissenschaft überträgt und dabei vernachlässigt, dass es hier nicht um Prognosen geht. 32 Darauf, dass dieses Faktenwissen in einer Art und Weise zustande kommt, die derjenigen der Modellbildung ähnelt, wird im folgenden Abschnitt eingegangen. 33 Albert, Der Gesetzesbegriff (wie Anm. 13), S. 155 f.; Jerzy Topolski: The Model Method in Economic History, in: JEEH 1 (1972), S. 713–726, hier 715.

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lenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen“ gewonnen würden. Diese Gesichtspunkte und Einzelerscheinungen ergäben dann ein einheitliches „Gedankenbild“, das, wie Weber betont, „[i]n seiner begrifflichen Reinheit“ nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar sei.34 Einen Idealtyp zu konstruieren setzt voraus, dass man die Eigenschaften des ihm zugrunde liegenden Objekts bereits kennt; schließlich werden einige dieser Eigenschaften ausgeklammert, so dass nur die als wesentlich erachteten erhalten bleiben und das „Gedankenbild“ ergeben. Auf diese Weise könnte man z. B. an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten existierende Akteure, die Dienstleistungen landwirtschaftlicher Produzenten erhalten und im Austausch dafür deren Schutz übernehmen, als idealtypische Grundherren bezeichnen. Das Verfahren läuft darauf hinaus, dass man einen Begriff – hier „Grundherr“ – mit einer Kombination von mindestens zwei bereits bekannten Begriffen – „Empfänger landwirtschaftlicher Dienstleistungen“, „Anbieter von Schutz“ – gleichsetzt. Man sieht: ein Idealtyp dieser Art ist nichts anderes als eine Definition.35 Hier treffen sich die Vorstellungen Webers mit der neueren wirtschaftswissenschaftlichen Methodologie. Dietrich Zschocke zufolge sind die in Modellen enthaltenen singulären Aussagen durch die Erstellung von Definitionen zu gewinnen, mit deren Hilfe real vorhandene Objekte, Vorgänge oder Sozialerscheinungen klassifiziert werden.36 Das Problem dabei ist, dass verschiedene Wissenschaftler dieselben Gegenstände je nach Erkenntnisinteresse oder persönlicher Neigung unterschiedlich definieren und klassifizieren können, wobei die intersubjektive Nachprüfbarkeit ihrer Forschungsergebnisse – zentrales Methodenkriterium jeder Wissenschaft37 – verloren geht. Für eine umfassende Diskussion der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten ist hier nicht der geeignete Ort. Das Problem der fehlenden intersubjektiven Nachprüfbarkeit dürfte, da es weder eine geschlossene Definitionstheorie noch notwendige oder hinreichende Bedingungen für die „Korrektheit“ einer Definition gibt,38 ohnehin unlösbar sein. Dennoch ist es möglich, methodologische Empfehlungen zu geben, mit deren Hilfe die Art und Weise, in der man zu Definitionen gelangt, zumindest etwas durchschaubarer wird. Hilfreich ist hier vor allem das in der qualitativen Sozialforschung verwendete Prinzip der maximalen und minimalen Kontrastierung, nach dem Einzelfallrekonstruktionen miteinander verglichen werden.39 Ein solcher Vergleich ergibt ein Bild der relativen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten des Fallmaterials insgesamt, das 34 Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 6. Aufl., Tübingen 1985 (zuerst 1904), S. 146–214, hier 191 (Hervorhebungen von Weber). 35 J. W. N. Watkins: Ideal Types and Historical Explanation, in: Herbert Feigl/May Brodbeck (Hg.): Readings in the Philosophy of Science. New York 1953, S. 723–743, hier 726; vgl. Seiffert, Wissenschaftstheorie, Band 1 (wie Anm. 9), S. 36. 36 Dietrich Zschocke: Modellbildung in der Ökonomie. Modell – Information – Sprache. München 1995, S. 117 ff. 37 Seiffert, Wissenschaftstheorie, Band 1 (wie Anm. 9), S. 203 f. 38 Zschocke, Modellbildung (wie Anm. 36), S. 143. 39 Zur typenbildenden Methode vgl. Udo Kelle/Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. Opladen 1999, S. 75 ff.

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entsprechend kategorisiert und in Gruppen von Idealtypen geordnet werden kann.40 Dabei fließen zwar sowohl das Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers als auch die im Hintergrund seiner Arbeit stehenden theoretischen Vorüberlegungen unvermeidlich in das Ergebnis der Fallkontrastierung ein, doch braucht dies kein Nachteil zu sein. „Das zunächst frei per Fallverstehen zu einem Aufriß des Fallgeschehens aufbereitete Material, das einer kontrastierenden Betrachtung unterworfen worden ist, um seine Besonderheiten erkennbar herauszustellen, wird […] durch Bewußtmachung des Erkenntnisinteresses zu heuristischen Konstrukten verdichtet“, heißt es dazu bei Uta Gerhardt.41 Völlige intersubjektive Nachprüfbarkeit ist auf diesem Wege zwar auch nicht erreichbar, doch erfolgt die Idealtypenbildung so zumindest in besser nachvollziehbarer Weise als durch bloßes unreflektiertes Definieren.42 Was beschreiben die auf diese Weise gewonnenen singulären Sätze des Modells? Diese Frage lässt sich mit Hilfe der NIÖ beantworten, die als Theoriegebäude ein Definitions- und Klassifikationsschema für Phänomene bietet, auf deren Grundlage die Modellprämissen zu formulieren sind.43 Die NIÖ untersucht, wie Akteure auf der Mikroebene handeln und welche Folgen ihre Entscheidungen haben. Daher muss als Erstes spezifiziert werden, um welche Akteure – Individuen oder Organisationen – es sich im fraglichen Modell handelt. Ihre relevanten Merkmale können unter Rückgriff auf die Property-Rights- oder Verfügungsrechts-Theorie beschrieben werden, die zentraler Bestandteil der NIÖ ist.44 Property Rights grenzen Bereiche ausschließlicher individueller Verfügungsgewalt an Ressourcen ab; daher auch der terminologische Vorschlag, sie als Handlungsrechte zu bezeichnen. Bedenkt man, dass dazu z. B. auch Rechte gehören, die die Bildung und Verwertung von Humankapital reglementieren,45 so wird deutlich, dass die Ausstattung 40 Uta Gerhardt: Verstehende Strukturanalyse. Die Konstruktion von Idealtypen als Analyseschritt bei der Auswertung qualitativer Forschungsmaterialien, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Sozialstruktur und soziale Typik. Frankfurt a. M. 1986, S. 31–83, hier 69; vgl. Barney G. Glaser: The Constant Comparative Method of Qualitative Analysis, in: Social Problems 12 (1965), S. 436–445, hier 439 f.; Uwe Flick: Qualitative Forschung: Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 255 f. 41 Gerhardt, Strukturanalyse (wie Anm. 40), S. 71. 42 Vgl. Glaser, The Constant Comparative Method (wie Anm. 40), S. 438. 43 „Typologien dienen“, wie Büschges feststellt, „der systematischen Ordnung von Objekten (Personen, Organismen, Sachen, Symbolen, Relationen usw.) anhand ihrer Merkmale durch Zusammenfassung jener Objekte zu Typen, die einander hinsichtlich bestimmter Merkmale ähnlicher sind als andere […]. Welche Merkmale in Frage kommen […], hängt in erster Linie von der grundlegenden theoretischen Orientierung ab“ (die im vorliegenden Fall von der NIÖ geboten wird). Günter Büschges: Gesellschaft, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hg.): Wörterbuch der Soziologie, Band 1: Abhängigkeit – Hypothese. Stuttgart 1989, S. 245–252, hier 249. 44 Harold Demsetz: The Exchange and Enforcement of Property Rights, in: Journal of Law and Economics 7 (1964), S. 11–26; ders.: Toward a Theory of Property Rights, in: American Economic Review, Papers and Proceedings 57 (1967), S. 347–359. 45 Gérard Gäfgen: Entwicklung und Stand der Theorie der Property Rights. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Manfred Neumann (Hg.): Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte. Berlin 1984, S. 43–62, hier 48 f.

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eines Individuums mit Verfügungsrechten seine Persönlichkeit wesentlich mit konstituiert und dass ihre Spezifizierung bei der Konstruktion eines Modellakteurs unerlässlich ist. Praktisch könnte das beispielsweise heißen, dass man verschiedene reale, im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa lebende Individuen miteinander vergleicht und dabei feststellt, dass einige im Besitz gleicher Verfügungsbzw. Handlungsrechte waren, so etwa derjenigen, landwirtschaftliche Dienstleistungen zu beanspruchen und den Personen, die diese Leistungen erbrachten, Schutz zu bieten. Unter Hervorhebung der genannten Handlungsrechte könnte man die betreffenden Individuen dann als idealtypische Grundherren klassifizieren und diese als Akteure in ein wirtschaftshistorisches Modell einfügen. In entsprechender Weise könnte man Idealtypen von Bauern, Handwerkern, Kaufleuten usw. konstruieren. Während Property Rights bestimmten Individuen das Recht zur Nutzung bestimmter Ressourcen zuschreiben und alle anderen Individuen davon ausschließen, ist der Institutionenbegriff sehr viel breiter. Unter Institutionen versteht die NIÖ alle von Menschen geschaffenen Beschränkungen menschlichen Handelns, die mittels eines Sanktionsmechanismus durchgesetzt werden.46 Da Institutionen bestimmte Handlungsweisen mit zusätzlichen Kosten belegen, verringern sie die Wahrscheinlichkeit, dass diese gewählt werden. Sie sind damit von erheblicher Bedeutung für das Handeln realer Akteure, so dass es nahe liegt, sie unter die Prämissen auf institutionenökonomischer Grundlage konstruierter wirtschaftshistorischer Modelle aufzunehmen. Aus der Spezifikation der Property Rights, die die Modellakteure besitzen, und der Institutionen, die ihr Handeln beschränken, ergibt sich auch, welche Beziehungen zwischen ihnen bestehen. North und Thomas beispielsweise haben schon zu Beginn der siebziger Jahre ein institutionenökonomisches Modell des grundherrschaftlichen Systems entwickelt, in dem Akteure beider Typen – Bauern und Grundherren – das Recht haben, Verträge zu schließen, und Verträge regeln denn auch die Beziehungen zwischen ihnen.47 Abhängig davon, welche Fragen mit Hilfe des Modells beantwortet werden sollen, kann es erforderlich sein, weitere Bestandteile zu spezifizieren: die relativen Faktorpreise,48 die Produktionsfunktionen der Akteure,49 das Niveau der Transaktionskosten50 usw. usf. Im Prinzip sind der Kreativität des Modellkonstrukteurs keine Grenzen gesetzt. Er kann alle Bedingungen, die idealtypisch beschreibbar sind 46 North, Institutions, Institutional Change, and Economic Performance (wie Anm. 3), S. 3; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 2), S. 7; Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik (wie Anm. 2), S. 23; Kasper/Streit, Institutional Economics (wie Anm. 2), S. 28. 47 Douglass C. North/Robert P. Thomas: The Rise and Fall of the Manorial System. A Theoretical Model, in: JEH 31 (1971), S. 777–803, hier 783. 48 Vgl. ebd., S. 782. 49 Vgl. John Komlos/Marc Artzrouni: Ein Simulationsmodell der Industriellen Revolution, in: VSWG 81 (1994), S. 324–338. Komlos’ und Artzrounis Modell ist nicht explizit institutionenökonomisch. 50 Vgl. Oliver Volckart: Zur Transformation der mitteleuropäischen Wirtschaftsordnung, 1000– 1800, in: VSWG 88 (2001), S. 281–310. Zum Konzept der Transaktionskosten siehe Ronald H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405; ders.: The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics 3 (1960), S. 1–44.

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und das Handeln der Akteure in irgendeiner Weise beeinflussen, in sein Modell aufnehmen. Zu bedenken ist allerdings, dass Modelle die Suche nach Kausalerklärungen desto weniger erleichtern, je weiter sich ihre Komplexität derjenigen der Wirklichkeit annähert. Will man sich nicht aller Vorteile begeben, die ihre Verwendung bietet, so ist bei der Formulierung der Prämissen Zurückhaltung geboten. Hier gilt daher der eingangs erwähnte Parsimoniegrundsatz: So einfach wie möglich, so komplex wie nötig sollte ein Modell zweckmäßigerweise sein. Im zweiten Schritt der Modellkonstruktion werden aus den Prämissen die Folgerungen deduziert. Dabei kann man die Vielzahl institutionenökonomischer Theorieelemente als hilfreiche Werkzeuge heranziehen. Die NIÖ erlaubt es schließlich nicht nur, soziale Phänomene zu definieren und zu klassifizieren, sondern macht auch Aussagen über das unter verschiedenen Bedingungen zu erwartende individuelle Verhalten. So stellt beispielsweise Karl Homann fest, dass die auf Individuen wirkenden Leistungsanreize von der Verteilung der Property Rights abhingen: Exklusive Rechte, Ressourcen zu nutzen, sich ihre Erträge anzueignen und sie zu verändern oder zu tauschen, bildeten den wirksamsten Leistungsanreiz. Unklarheit darüber, wer welche Rechte an einer Ressource hat, ermögliche es demgegenüber, sich die Erträge anzueignen, ohne dafür einen Leistungsbeitrag zu liefern. Unspezifizierte Property Rights minderten demgemäß die Bereitschaft, produktiv tätig zu werden.51 In Norths und Thomas’ „ökonomischer Theorie des Wachstums der westlichen Welt“ ist dieser Zusammenhang von zentraler Bedeutung: In England habe die im Zuge der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Einhegungen stattfindende Bündelung der Property Rights an Boden zu Privateigentum eine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität ausgelöst; das wirtschaftliche Zurückfallen Spaniens sei demgegenüber u. a. dadurch zu erklären, dass die Verteilung der Property Rights dort eine effiziente Bodennutzung und eine der englischen entsprechende Produktivitätssteigerung verhindert habe.52 Auch die Berücksichtigung von Transaktionskosten erlaubt es, aus den Prämissen institutionenökonomischer Modelle Folgerungen zu deduzieren. Die NIÖ nimmt an, dass das Niveau dieser Kosten nicht nur dafür ausschlaggebend ist, ob freiwillige, d. h. beiderseitig vorteilhafte Transaktionen überhaupt zustande kommen, sondern dass es auch die Ausgestaltung der Verträge beeinflusst. So lässt sich z. B. der Umstand, dass mittelalterliche Bauern ihren Grundherren anfänglich fast überall Fronleistungen erbrachten, mit Transaktionskostenargumenten erklären: In Abwesenheit preisbildender Märkte seien die Kosten, die beim Aushandeln der Höhe von Naturalleistungen anfielen, höher gewesen als diejenigen, die bei der Kontrolle der bäuerlichen Arbeitsleistung entstanden.53 Dieses Beispiel lässt die Identität von Ableitung und Erklärung deutlich erkennen. 51 Karl Homann: Vertragstheorie und Property-Rights-Ansatz – Stand der Diskussion und Möglichkeiten der Weiterentwicklung, in: Bernd Biervert/Martin Held (Hg.): Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie: Eigentum, Verträge, Institutionen. Frankfurt a. M./New York 1989, S. 37–69, hier 46 f. 52 Douglass C. North/Robert P. Thomas: An Economic Theory of the Growth of the Western World, in: Economic History Review 23 (1970), S. 1–17. 53 North/Thomas, The Rise and Fall of the Manorial System (wie Anm. 47), S. 789 f.

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IV. Am Ende von Abschnitt II. wurde erwähnt, dass mit Hilfe von Modellen erzielte Ergebnisse nicht ohne weiteres Aussagen über tatsächliche historische Verhältnisse zulassen. Als erster Schritt zur Lösung dieses Problems wurde im vorigen Abschnitt vorgeschlagen, die Kompatibilität der in den Modellen enthaltenen besonderen Sätze mit dem aktuell als gesichert geltenden historischen Faktenwissen zu berücksichtigen. Grundsätzlich ändert dies allerdings nichts daran, dass Kausalerklärungen, die mit Hilfe eines Modells formuliert werden, ausschließlich für das Modell selbst gelten.54 Will man nicht in einer Art Modellplatonismus verharren, so ist daher ein weiterer Arbeitsschritt erforderlich. Dieser besteht im Vergleich der Ereignisse und Entwicklungen, die das Modell hervorbringt, mit denjenigen der tatsächlichen Vergangenheit. Stimmt beides überein, so ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass die in der Realität wirksamen Kausalmechanismen analog zu denjenigen des Modells waren. Dieses Verfahren erscheint allerdings aus mehreren Gründen als problematisch. Eine Schwierigkeit, die der Vergleich zwischen wirtschaftsgeschichtlichem Modell und Original aufwirft, besteht in der Vielfalt der historischen Entwicklung. Tatsächlich weist die Geschichte so viele Einzelfälle und Sonderentwicklungen auf, dass die Entdeckung mancher, die den im Modell deduzierten Entwicklungen und Ereignissen entsprechen, nicht überraschen kann. Dieses Ergebnis ist vielmehr mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Ist das aber der Fall, so stellt sich die Frage nach der Relevanz der mit Hilfe des Modells formulierten Kausalerklärungen. Woher weiß man, ob diese nur Ausnahmeerscheinungen von insgesamt geringer Bedeutung betreffen, oder ob das, was erklärt wird, für die fragliche Epoche typische Phänomene sind? Darüber hinaus fragt sich, welchen Charakter die Aussagen über die tatsächliche Geschichte haben, die man mit den Aussagen des Modells vergleicht. Die historische Wahrheit oder Wirklichkeit ist dem Historiker schließlich unzugänglich;55 was er präsentieren kann, sind lediglich Interpretationen. Diese lassen sich jedoch nicht durch einfühlendes Verstehen im konventionell hermeneutischen Sinne gewinnen. Betrachtet man die hermeneutische Methode nämlich genauer, so wird erkennbar, dass auch sie nicht ohne nomologische Hypothesen auskommt. Beispielsweise sind zum Verständnis von Quellen Einsichten in das Funktionieren sprachlicher Verständigung erforderlich – Einsichten, die die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten voraussetzen.56 Darüber hinaus sind quellengestützte historische Thesen als hypothetische Rekonstruktionen der Vergangenheit aufzufassen, die so angelegt 54 Ein Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass man so vermeidet, die Geschichte in das Prokrustesbett sozialwissenschaftlicher Theorien zu zwängen – die verwendeten Theorieelemente und nomologischen Annahmen beziehen sich ja nur auf die Akteure und Kausalzusammenhänge innerhalb des Gedankenexperiments, das man gerade anstellt. Vgl. Weber, Die „Objektivität“ (wie Anm. 34), S. 195. 55 Darauf wird seit Droysen immer wieder hingewiesen, vgl. Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 84 ff. 56 Vgl. die Beispiele bei Seiffert, Wissenschaftstheorie, Band 2 (wie Anm. 16), S. 107 ff.

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sind, dass Existenz und Eigenart der Quellen aus ihnen erklärt werden können. Auch dies setzt voraus, dass man auf nomologische Hypothesen über die Bedingungen zurückgreifen kann, unter denen Quellen entstehen oder erhalten bleiben.57 Einen unlösbaren Widerspruch zwischen dem analytisch-erklärenden und verstehend-hermeneutischen Zugriff auf historische Probleme gibt es somit nicht.58 Geschichtswissenschaftliche Hypothesen kommen generell in einer Weise zustande, die der Formulierung von Erklärungen auf der Basis von Modellen ähnelt.59 Wenn das aber der Fall ist, läuft der Vorschlag, Modelle an der Wirklichkeit zu testen, ins Leere. Man kann sie lediglich an anderen Modellen oder Quasi-Modellen testen. Die Frage ist, ob das sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst hervorzuheben, dass es sich hier nicht um eine Besonderheit der Geschichtswissenschaft handelt. Auch Wirtschaftswissenschaftler, die ihre Modelle zu testen versuchen, sind in aller Regel auf Vergleichsmaterial angewiesen, das in irgendeiner Form aufbereitet worden ist.60 Ihnen steht nicht die Wirklichkeit zur Verfügung, sondern nur deren verbales Abbild, das von ihr in unbekanntem Grade abweicht. Ein prinzipieller Unterschied zwischen dem Umgang mit historischen Modellen und demjenigen mit denen der Ökonomik besteht hier also nicht. Im Übrigen führt der Vergleich eines wirtschaftsgeschichtlichen Modells mit einem anderen im Idealfall dazu, dass ein konsistentes Bild der historischen Entwicklung insgesamt entsteht. Ein Problem bestünde hier nur, wenn dieses Gesamtbild und die Modelle, aus denen es zusammengesetzt ist, immun gegen Kritik wären. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr kann die Entdeckung neuer Quellen zur Revision der in den Modellen enthaltenen besonderen Sätze zwingen, die Formulierung neuer Hypothesen über das Funktionieren gesellschaftlicher Zusammenhänge zur Modifikation der Ableitungen. Ein Modell an einem anderen zu testen, ist daher ein durchaus legitimes Vorgehen. Wie sieht es mit dem Problem aus, angesichts der Vielfalt historischer Sonderentwicklungen zu beurteilen, wie relevant die von einem Modell hervorgebrachten Kausalerklärungen sind? Zumindest dann, wenn das Handeln der Akteure auf der 57 Albert, Methodologischer Individualismus (wie Anm. 17), S. 221 f.; ders., Kritischer Rationalismus (wie Anm. 15), S. 96 ff.; vgl. Coats, Explanations (wie Anm. 10), S. 346. 58 Otto Friedrich Bollnow: Die Methode der Geisteswissenschaften, in: Ders.: Studien zur Hermeneutik, Band 1: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg/München 1982 (zuerst 1950), S. 114–138, hier 123 f. 59 Fernand Braudel: Einheit und Verschiedenartigkeit der Wissenschaft vom Menschen, in: Ders.: Schriften zur Geschichte, Band 1: Gesellschaften und Zeitstrukturen. Stuttgart 1993 (zuerst 1960), S. 88–98, hier 94 f. Das gilt auch für das „gesicherte Faktenwissen“, das in die Formulierung der besonderen Sätze im Modell einfließt (s. o. Anm. 32). 60 Das lässt sich anhand eines in der Neuen Politischen Ökonomie – dem Zweig der NIÖ, der das Handeln politischer Akteure untersucht – einflussreichen Modells zeigen: Eine der Vorhersagen des Downschen Demokratiemodells lautet, dass rationale Wähler keine Ressourcen für den Erwerb politischer Informationen aufwenden werden. Anthony Downs: An Economic Theory of Democracy. New York 1957, S. 253. Wie will man feststellen, ob diese Prognose zutrifft? Das kann nur aufgrund soziologischer Untersuchungen des Verhaltens großer Zahlen von Individuen geschehen, d. h. beispielsweise dadurch, dass man auf dem Wege der Befragung von Wählern Angaben über deren Informationsverhalten gewinnt, diese Daten in irgendeiner Weise sinnvoll aggregiert, das Ergebnis publiziert usw.

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Mikroebene des Modells Veränderungen auf der Makroebene auslöst, gibt es dafür eine Lösung. Zu den Makroveränderungen gehört z. B. ein langfristiger wirtschaftlicher Wandel im Sinne von Wachstum, Stagnation oder Schrumpfung. Welche Ereignisse oder Faktoren hier ausschlaggebend sind, ist ein Thema, das sowohl Wirtschaftshistoriker als auch Ökonomen seit langem beschäftigt.61 Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist dabei zunehmend deutlich geworden, dass man mit Hilfe der traditionell betonten Faktoren Kapitalakkumulation, Arbeitskräfteangebot, Technologie und Humankapitalbildung zwar erklären kann, weshalb die Wirtschaft in bestimmten Ländern wächst oder nicht, dass aber unklar bleibt, warum in einigen Ländern beispielsweise mehr Kapital investiert wird oder mehr Neuerungen entwickelt werden als in anderen. Solche Fragen beantwortet die NIÖ. Beispielsweise wirkt die Verteilung der Property Rights durch ihren Einfluss auf die individuellen Leistungsanreize mitbestimmend für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Von den in der Gesellschaft geltenden Institutionen und vom Niveau der Transaktionskosten hängt es ab, in welchem Ausmaß Gelegenheit zur Realisierung von Handelsgewinnen besteht, ob also Anreize dafür existieren, Kapital (einschließlich Humankapital) zu akkumulieren und in die Suche nach neuen Möglichkeiten zur Überwindung von Knappheiten zu investieren.62 Im Prinzip sind alle oben genannten Faktoren auch von Wirtschaftshistorikern betont worden, wobei wechselweise entweder die Kapitalakkumulation, das Bevölkerungswachstum und Arbeitskräfteangebot oder technologische Neuerungen als letzter Grund langfristigen wirtschaftlichen Wandels galten.63 Mittlerweile ist jedoch an vielen Beispielen gezeigt worden, dass die Berücksichtigung von Institutionen zu Erklärungen von größerer Reichweite führt.64 Wie kann das Handeln der Akteure auf der Mikroebene eines Modells institutionelle Änderungen hervorbringen, die auf der Makroebene wirksam werden? Das kann z. B. geschehen, wenn das Verhalten eines Akteurs mit positiven oder negativen externen Effekten verbunden ist, die die auf andere Akteure wirkenden Anreize beeinflussen und damit eine Nachfrage nach institutionellen Neuerungen auslösen. 61 Forschungsüberblicke: John L. Anderson: Explaining Long-Term Economic Change. Cambridge/New York/Melbourne 1995; Kasper/Streit, Institutional Economics (wie Anm. 2), S. 13– 21. 62 Kasper/Streit, Institutional Economics (wie Anm. 2), S. 17 f.; Rainer Metz: Expansion und Kontraktion. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, in: Reinhard Spree (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 2001, S. 79–89, hier 81. 63 Siehe z. B. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Band 1: Die vorkapitalistische Wirtschaft, 1. Halbband. München 1987 (zuerst 1916), S. 332; Ester Boserup: Population and Technological Change: A Study in Long-Term Trends. Chicago 1981; Lynn White Jr.: Medieval Technology and Social Change. London 1964. 64 Die klassischen Erklärungen langfristigen ökonomischen Wandels unter Betonung der institutionellen Faktoren stammen von North, Structure and Change (wie Anm. 3) sowie von dems./ Robert P. Thomas: The Rise of the Western World. A New Economic History. Cambridge 1973. Siehe auch Douglass C. North: The Ultimate Sources of Economic Growth, in: Adam Szirmai/Bart van Ark/Dirk Pilat (Hg.): Explaining Economic Growth. Essays in Honour of Angus Maddison. North Holland u. a. 1993, S. 65–76. Vgl. Butschek, Die verhaltenstheoretischen Grundlagen (wie Anm. 25), S. 331 ff.

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Eine weitere Möglichkeit ist der Abschluss eines Vertrags zwischen zwei Modellakteuren, der ihnen Verhaltensbeschränkungen auferlegt. Ähnlich wirken die Bildung einer Organisation und eine ganze Reihe weiterer Mechanismen.65 Wichtig ist, dass es in vielen Fällen auch ohne präzise Quantifizierungen möglich ist, Aussagen darüber zu machen, ob Neuerungen auftraten und sich verbreiteten, ob Kapital investiert wurde, wie sich die Bevölkerung entwickelte, und ob die Produktivität in bestimmten Gewerben eher stagnierte oder wuchs.66 Da dies möglich ist, kann man Modelle, aus deren Prämissen sich Aussagen über institutionelle Änderungen deduzieren lassen, einem doppelten Test unterziehen. Erstens kann man danach fragen, ob Institutionen, die den im Modell abgeleiteten entsprechen, historisch tatsächlich nachweisbar sind. Wenn dies der Fall ist, kann man noch nicht beurteilen, ob diese Institutionen Randphänomene oder typische Erscheinungen waren. Um dieses Problem zu klären, ist ein zweiter Test erforderlich: Es ist danach zu fragen, welche Richtung der Entwicklung von Produktivität oder Bevölkerung aufgrund der vom Modell hervorgebrachten und tatsächlich nachgewiesenen Institutionen zu erwarten ist, und ob eine entsprechende Entwicklung in der wirklichen Geschichte eintrat. Trat sie ein, so ist dies ein starker Hinweis darauf, dass es sich bei den Institutionen, die aus den Prämissen des Modells deduziert wurden, um für die fragliche geschichtliche Epoche typische Erscheinungen von ausschlaggebender Bedeutung handelt. Die Erklärung der historischen Entwicklung ist damit soweit erreicht, wie es auf dem Wege der Modellbildung überhaupt möglich ist. Beweise bieten solche Erklärungen zwar nicht. Was mit Hilfe von Modellen erreicht werden kann, ist lediglich die Formulierung vorläufiger Hypothesen, die akzeptabel sind, solange ihre Widerlegung aussteht. Dadurch unterscheiden sich die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse jedoch in keiner Weise von anderen historischen Hypothesen; auch diese haben stets nur vorläufigen Charakter.67 Mit der Notwendigkeit einer Revision hat man immer zu rechnen. Im Falle von Thesen, die auf dem Wege der Modellbildung erreicht wurden, kommen als Anlass dafür vor allem zwei oben bereits erwähnte Umstände in Frage: einerseits die Entdekkung bislang unbekannter Quellen, die zur Änderung der Modellprämissen zwingen kann, andererseits die Formulierung neuer Hypothesen über das Funktionieren gesellschaftlicher Kausalzusammenhänge, die es nötig machen kann, die Deduktionen zu modifizieren. Was ist zu tun, wenn das Modell die Entstehung von Institutionen vorhersagt, die sich historisch nicht nachweisen lassen oder die ungeeignet zur Erklärung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sind? In solchen Fällen ist es erforderlich, so65 Dazu North/Thomas, An Economic Theory (wie Anm. 52), S. 6 f.; Coleman, Foundations (wie Anm. 17), S. 20 f. 66 Beispielsweise lässt sich auch ohne genaue quantitative Daten feststellen, dass Spanien im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wirtschaftlich gegenüber England zurückfiel. Nach North und Thomas war angesichts der Verteilung der Property Rights in den beiden Ländern nichts anderes zu erwarten. North/Thomas, An Economic Theory (wie Anm. 52). 67 Karl R. Popper: A Pluralist Approach to the Philosophy of History, in: Erich Streissler (Hg.): Roads to Freedom. Essays in Honour of Friedrich A. von Hayek. London 1969, S. 181–200, hier 191 ff.

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wohl die Prämissen als auch die aus diesen gezogenen Folgerungen zu überprüfen. Dabei empfiehlt es sich, zunächst zu kontrollieren, ob bei den Deduktionen Fehler unterlaufen sind. Ist dies nicht der Fall, so kann man in einem Prozess von Versuch und Irrtum austesten, welche Ergebnisse sich durch Änderungen der Prämissen erzielen lassen. Dabei dürfte es sich empfehlen, zwei Grundsätze zu berücksichtigen. Erstens sollten die im vorigen Abschnitt erörterten Ansprüche, die an die Kompatibilität von besonderen Sätzen und gesichertem Faktenwissen zu stellen sind, gewahrt bleiben. Zweitens gilt auch für das modifizierte Modell der Parsimoniegrundsatz. Seiner Approximation an die Wirklichkeit sind damit Grenzen gesetzt.68 V. Wirtschaftshistorische Ereignisse und Entwicklungen sind einer unmittelbaren nomologisch-deduktiven Erklärung nicht zugänglich. Bislang ist es weder gelungen, in der Geschichte wirkende Gesetze zu entdecken und allgemeine Aussagen zu formulieren, die sie beschreiben, noch überhaupt plausibel zu machen, dass die historische Entwicklung insgesamt oder das Handeln einzelner historischer Akteure von Gesetzen determiniert wird. Da die NIÖ aber die Formulierung nomologisch-deduktiver Erklärungen anstrebt, stehen Wirtschaftshistoriker, die institutionenökonomische Theorieelemente verwenden, vor einem Problem. Gegen ihre Thesen kann stets der Einwand erhoben werden, dass sie auf unzulässigen Prämissen (nämlich auf Verhaltensannahmen mit der Qualität von Gesetzesaussagen) beruhten. Die zentrale These des vorliegenden Aufsatzes lautet, dass dieses Problem durch die Konstruktion von Modellen lösbar sei. Modelle sind Gedankenexperimente, in denen man zunächst beliebige Annahmen treffen kann. Hier steht der Verwendung der üblichen institutionenökonomischen Verhaltensannahmen daher nichts im Wege. Allerdings müssen die übrigen – d. h. nicht-nomologischen – Modellprämissen eine Bedingung erfüllen, damit die Ergebnisse, die auf ihrer Grundlage erzielt werden, Aussagen über die tatsächliche Geschichte erlauben: Die Prämissen müssen mit dem aktuell als gesichert geltenden historischen Faktenwissen kompatibel sein. Vorliegend wird die These vertreten, dass eine solche Kompatibilität durch die Nutzung der typenbildenden Methode der qualitativen Sozialforschung gewährleistet werden kann, d. h. durch kontrastierende, auf die Feststellung von Übereinstimmungen und Unterschieden abzielende Vergleiche des in den historischen Quellen überlieferten Fallmaterials. Darauf, was konkret verglichen werden muss, weisen die analytischen Kategorien der NIÖ hin: Property Rights, Institutionen, das Niveau der Transaktionskosten usw. 68 Ohnehin kann die Approximation nicht soweit führen, dass „[a]us der idealtypischen Erklärungsskizze mit dem für sie charakteristischen hohen Grad von Idealisierung auch bei besonderen Annahmen […] eine historische Erklärung mit weitgehend ‚realistischen‘ Annahmen“ wird, wie Albert, Der Gesetzesbegriff (wie Anm. 13), S. 158, meint. Der Unterschied zwischen Modell und Original, zwischen Gedankenexperiment und wirklicher Geschichte, bleibt erhalten. Siehe auch Albert, Gesetze (wie Anm. 5), S. 115; ders.: Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive. Tübingen 1987, S. 108 f.; vgl. Watkins, Ideal Types (wie Anm. 35), S. 743.

Institutionenökonomische Erklärungen und wirtschaftshistorische Modelle

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Die Erfüllung dieser Bedingung ändert zwar nichts daran, dass die nomologisch-deduktiven Erklärungen, die auf der Basis der Modellprämissen gewonnen werden, grundsätzlich nur für das Modell selbst gelten, doch kann man unter bestimmten Umständen plausibel machen, dass in der tatsächlichen Geschichte analoge Kausalzusammenhänge wirksam waren. Möglich ist das zunächst dann, wenn die im Modell deduzierten und die realhistorischen Entwicklungen übereinstimmen: Gleiche Ergebnisse lassen gleiche Ursachen vermuten. Angesichts der Vielfalt historischer Sonderentwicklungen von zeitlich und regional begrenzter Bedeutung genügen solche Übereinstimmungen jedoch nicht, um feststellen zu können, wie relevant die der Modellentwicklung entsprechenden historischen Erscheinungen waren. Dieses Problem ist lösbar, da die NIÖ eine Mikrofundierung von Makrophänomenen ermöglicht. Mit anderen Worten: unter Heranziehung institutionenökonomischer Theorieelemente kann man aus den Modellprämissen auch makroökonomische Entwicklungen deduzieren. Traten analoge Entwicklungen in der tatsächlichen Geschichte ein, weist dies darauf hin, dass dort Kausalzusammenhänge den Ausschlag gaben, die denjenigen entsprachen, die im Modell wirksam sind. Thesen, die mit Hilfe von Modellen formuliert werden, haben denselben vorläufigen Charakter wie alle anderen historischen oder überhaupt wissenschaftlichen Hypothesen: Sie sind Vermutungen, die widerlegt werden können. Dennoch haben sie eine Reihe spezifischer Vorteile. Dazu gehört vor allem der Umstand, dass es verhältnismäßig leicht ist, ihr Zustandekommen nachzuvollziehen. Vollkommene intersubjektive Nachprüfbarkeit ist zwar nicht gegeben, doch ist die Chance dazu besser als im Falle von Thesen, die auf hermeneutischer Grundlage formuliert wurden und bei deren Bildung einfühlendes Verstehen eine größere Rolle spielte. Schon damit erleichtern wirtschaftshistorische Modelle den Kontakt zwischen Wirtschaftshistorikern und anderen Wirtschaftswissenschaftlern. Dies ist umso mehr der Fall, als die Möglichkeit besteht, die Modelle in einem weiteren Arbeitsschritt ganz oder zum Teil in der Lingua Franca der exakten Wissenschaften zu fassen, d. h. zu mathematisieren. Eine Untersuchung des dazu nötigen Vorgehens würde jedoch den Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen und muss einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben.

Jörg Baten DIE ZUKUNFT DER KLIOMETRISCHEN WIRTSCHAFTSGESCHICHTE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM Wie wird sich die kliometrische Wirtschaftsgeschichte entwickeln? Wir werden nachfolgend einen Überblick über die Forschung der jüngeren Vergangenheit geben – mit besonderem Augenmerk auf Publikationen in der VSWG – und Perspektiven für die künftige Entwicklung aufzeigen. Anhand der Trends der jüngsten Publikationen und Arbeitspapiere wollen wir anschließend abzuschätzen versuchen, welche Themenfelder und Fragestellungen in der Zukunft besonders wichtig sein werden. Nebenbei wird dabei deutlich, dass – aufgrund der bisherigen Marktsegmentierung weitgehend unbemerkt von vielen Historikern – in den letzten Jahren eine „kritische Masse“ von Kliometrikern im deutschsprachigen Raum entstanden ist, die dem Fach Wirtschaftsgeschichte zusätzlichen Schwung verschaffen kann. Als erfreuliches Faktum ist festzustellen, dass es im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahrzehnten eine Pluralität der Methoden in der Wirtschaftsgeschichte gibt. Nur wenn die „Konsumenten“ von Wirtschaftsgeschichte über Alternativen verfügen, unter denen sie sich die für sie gerade spannendste und wichtigste Lektüre auswählen können, ist es möglich, sie von der Daseinsberechtigung unseres Faches zu überzeugen. Insbesondere gab und gibt es stärker geschichtswissenschaftlich und stärker wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete Vertreter unseres Faches. Viele der Letzteren werden aufgrund ihrer Neigung zu quantitativen Analysen auch „Kliometriker“ genannt (nach Klio, der Muse der Geschichte, und Metrik, der Kunst des Messens). Neben der stärkeren Beachtung ökonomischer Theorie zeichnen sich Studien von Kliometrikern (ebenso wie die fast aller empirischer Ökonomen und der meisten Sozial- und Naturwissenschaftler) durch die Nutzung der Regressionsanalyse aus, die den Test konkurrierender Hypothesen über Zusammenhänge erlaubt (näheres dazu unten). Im Schlusskapitel werden wir über ein Multimedia-Projekt berichten, in dem eine Serie von CD-ROMs erstellt wird, auf denen unter anderem die Regressionsanalyse allgemeinverständlich erklärt wird. Auf diese Weise wollen wir zur Kommunikation zwischen Kliometrikern und Nichtkliometrikern beitragen. Gerade der wissenschaftliche Nachwuchs unseres Faches wird sich zumindest einige Kenntnisse dieser statistischen Methoden aneignen wollen: – seit 2001 gingen alle vier Ausschreibungen für Professuren in Wirtschaftsgeschichte der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten an Kliometriker (Tübingen, Humboldt-Universität Berlin, Hohenheim, und derzeit wohl Zürich). – es gibt nun – gemeinsam mit den quantitativ ausgerichteten Münchner Kollegen und den Kliometrikern im Ausland, die sich thematisch mit unserem Raum beschäftigen – die erwähnte kritische Masse von deutschen Kliometrikern.1 1

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich die folgenden Kollegen nennen: Albrecht Ritschl, Jochen Streb, Ulrich Woitek, Mark Spoerer, Helge Berger, Georg Fertig, Michael Kopsidis sowie Oliver Volckart und Rainer Metz. Zudem arbeiten John Komlos und der emeritierte

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Hierbei ist natürlich auch die Aufgeschlossenheit vieler anderer, nicht direkt kliometrisch ausgerichteter Kollegen wichtig, die gerade in letzter Zeit gewachsen ist.2 – die Nachfrage nach datenanalytischen Kenntnissen von Studierenden wird dramatisch steigen. Derzeit existiert eine Marktlücke an vielen deutschen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten: Da sich die Ökonomen in Deutschland bisher sehr stark theoretisch ausrichteten und sich die Ökonometriker gern mit der Entwicklung neuer Verfahren und weniger gern mit der Anwendung etablierter Verfahren beschäftigten, könnten Wirtschaftshistoriker diese Marktlücke schließen. Wenn wir nachfolgend einen Überblick über die Vergangenheit der Kliometrie geben, werden wir nicht erneut die Anfänge darstellen, da es zu diesem Bereich bereits ausgezeichnete Darstellungen von John Komlos, Scott Eddie, Richard Tilly, Rolf Dumke und anderen gibt.3 Gehen wir von den akademischen Familienbeziehungen („Doktorvater“) aus, so werden wir also wenig über die Generation der „Großväter“ (Robert Fogel, Douglass North, Milton Friedman usw.) oder gar der „Urgroßväter“ (Simon Kuznets), sondern nur etwas über die Forschung der „Väter“ sagen. Die jüngste Vergangenheit und die Zukunft (auch des wissenschaftlichen Nachwuchses und unserer Disziplin insgesamt) ist der Gegenstand, der uns nachfolgend interessieren soll. 1. Kliometrische Studien in der VSWG seit den 1970er Jahren Natürlich ist die Jubilarin nicht gerade eine vorwiegend kliometrische Zeitschrift. Aber dennoch ist eine ganze Reihe von Arbeiten in der VSWG erschienen, an denen interessante Aspekte aufgezeigt werden können. Der Fokus liegt dabei auf den Publikationen der jüngeren Zeit, nachdem Rolf Dumke bereits über den Stand Mitte der 1980er Jahre berichtet hat.4 Wir werden unten einen Bogen zu seinen Kernthesen schlagen.

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Richard Tilly in Deutschland zu kliometrischen Themen. Im Ausland: Rainer Fremdling, Jacek Wallusch, Joachim Voth, Oliver Grant, Max Stephan Schulze, Timothy Guinnane, John Brown, Simone Wegge und weitere nachfolgend Zitierte. Unter den Nachwuchskliometrikern möchte ich exemplarisch nennen Markus Baltzer, Ulf Ewert, Nikolinka Fertala, Isabel Schnabel, Gerhard Kling, Nikola Köpke, Margaryta Korolenko, Aravinda Meera Guntupalli, Alexander Moradi, Marco Sunder, Nikolaus Wolf, Shuxi Yin. Christoph Buchheim, Toni Pierenkemper, Reinhard Spree, Rolf Walter und die Herausgeber dieses Bandes seien exemplarisch genannt. Teilweise werden sogar quantitativ-datenanalytische Dissertationsschriften von aufgeschlossenen Kollegen betreut, wie z. B. diejenige von Alexander Engel am Lehrstuhl von Hartmut Berghoff in Göttingen. Richard Tilly: Soll und Haben II, in: Ders.: Kapital, Staat und Sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1982. Zudem die einleitenden Betrachtungen von Komlos, Eddie und Tilly in John Komlos/Scott Eddie (Hg.): Selected Cliometric Studies on German Economic History. Stuttgart 1997. Zu Dumkes Bestandsaufnahme siehe den folgenden Abschnitt. Rolf Dumke: Clio’s Climacteric? Betrachtungen über Stand und Entwicklungstendenzen der Cliometrischen Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG 73 (1986), S. 457–487.

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Ein Pionier der Kliometrie ist ohne Zweifel Richard Tilly. Sein erster Beitrag in der VSWG wendete ökonomische Theorie, jedoch damals noch keine ökonometrischen Methoden an. Er griff im Jahre 1973 die Diskussion über die Kapitalverfügbarkeit in Deutschland auf und bestätigte, dass Deutschland nicht pauschal als kapitalknappes Land bezeichnet werden könne.5 Vier Jahre später knüpfte Dumke an dessen methodische Vorgehensweise an, indem er ökonomische Theorie (aber ohne Formeln und Ökonometrie) und recht vorsichtig formulierte Thesen verwendete. Mit diesen Instrumenten untersuchte er den Zollverein, insbesondere dessen Auswirkungen auf Süddeutschland.6 In der Gesamtschau waren die 1970er Jahre relativ stark quantitativ geprägt. Dies wurde von dem US-amerikanischen Aufschwung stimuliert, den Arbeiten Walter G. Hoffmanns, dem Wirken von Richard Tilly und seiner Schüler sowie vom damaligen Boom der Sozialgeschichte, der auch zur Gründung des Kölner Zentrums für Historische Sozialforschung führte. Insgesamt kann in den 1980er Jahren und den frühen 1990ern eher ein Abebben der quantitativen Forschung konstatiert werden. Außer dem Überblicksaufsatz Dumkes finden sich auch in der VSWG recht wenige Studien, wobei wir allerdings keinen Anspruch auf vollständige Darstellung erheben wollen. In jüngerer Zeit machte Albrecht Ritschl im Jahre 1992 mit einer Studie zu den Investitionen im nationalsozialistischen Deutschland der späten 1930er Jahre einen neuen Anfang.7 Auch er wählte damals eine wenig ökonometrische Technik, weil er mit der Studie in erster Linie die Präsentation und Auswertung neuer, archivalisch erhobener Daten zu diesem interessanten Zeitraum beabsichtigte. Ausgesprochen technisch fiel hingegen die Betrachtung von John Komlos und Marc Artzrouni im Jahre 1994 aus, die ein Simulationsmodell zur gesamten Menschheitsgeschichte präsentierten.8 Insbesondere gingen die Autoren dem Kerngedanken nach, ob durch plausible Gleichungen eine Akkumulation von Kapital (breit definiert, inklusive Humankapital usw.) dargestellt werden kann, die letztlich im 18. Jahrhundert ein so hohes Niveau erreichte, dass die Industrielle Revolution auf dieser Basis zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum führen konnte. Insbesondere gilt ihr Interesse den „Störungen“ in vorindustrieller Zeit, die immer wieder zu malthusianischen Krisen führten. Nach den Krisen haben die Menschen jedoch nicht wieder auf dem ursprünglichen Stand begonnen, sondern konnten etwas von dem bereits erlangten Humanund Sachkapital für den neuen Aufschwung retten. Diese Sichtweise der Industriellen Revolution als Überwindung des malthusianischen Bevölkerungssystems stand auch im Zentrum der Überblicksdarstellung von Komlos zu den „Konzeptionen der

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Richard Tilly: Zur Entwicklung des Kapitalmarktes und der Industrialisierung im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, in: VSWG 60 (1973), S. 145–165. Rolf Dumke: Intra-German Trade in 1837 and Regional Economic Development, in: VSWG 64 (1977), S. 468–496. Albrecht Ritschl: Über die Höhe und Struktur der gesamtwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland 1935–38, in: VSWG 79 (1992), S. 156–176. John Komlos/Marc Artzrouni: Ein Simulationsmodell der Industriellen Revolution, in: VSWG 81 (1994), S. 324–335.

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Industriellen Revolution“ im Jahre 1997.9 Er diskutierte unter anderem die revisionistische Sichtweise, dass die Beschleunigung des englischen Wirtschaftswachstums im 18. Jahrhundert relativ bescheiden gewesen sei, und integrierte diesen Revisionismus in seine demographisch inspirierte Interpretation der Industriellen Revolution. Im vorangegangenen Jahr hatte ich – als Schüler von Komlos – die regionalen Unterschiede des Lebensstandards im frühen 19. Jahrhundert analysiert, am Beispiel der rund 200 regionalen Einheiten in Bayern.10 Gegenüber dem „frühen Tilly“ und dem „frühen Ritschl“ fanden sich darin wenig ökonomisch-theoretische Überlegungen. Der Aufsatz betonte stattdessen die ökonometrisch-empirische Seite der Kliometrie. Die in der VSWG damals vorsichtig formulierte Sichtweise, dass die Proteinversorgung eine weithin unterschätzte, aber zentrale Rolle für die Entwicklung von Lebensstandards spielte, wurde seitdem für zahlreiche Regionen und Länder bestätigt. Insbesondere die aktuelle spannende Debatte über die zeitliche Dynamik der indischen und chinesischen Entwicklung im Vergleich mit der europäischen kann aus dieser frühen VSWG-Studie wichtige Impulse gewinnen: Bisher beschränkte sich diese Debatte aufgrund fehlender Daten auf Warenkörbe mit Getreide, Reis und anderen Lebensmitteln ohne tierisches Protein. Insbesondere Milch und Milchprodukte wurden ignoriert, bei denen Europa traditionell stark war und die die europäische Bevölkerung mit wichtigen Immunkräften gegen Krankheiten versorgte.11 Im Jahre 2000 thematisierten Ulf Ewert und Jan Hirschbirgel ein mindestens genauso ungewöhnliches Thema: Die Ökonomie des Schenkens im Mittelalter.12 Sie verwendeten zur Analyse ihres – für diese frühe Zeit – überraschend detaillierten Datensatzes recht umfangreiche ökonometrische Methoden. Rainer Metz benutzte ebenfalls aufwändige Statistik, um die Zyklizität in den Zeitreihen der deutschen Wirtschaftsentwicklung zu untersuchen.13 Die beiden letztgenannten Aufsätze erbrachten besondere methodische Leistungen und zeichneten ein differenziertes, recht vorsichtiges Bild bei den inhaltlichen Aussagen. 9 10 11

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John Komlos: Ein Überblick über die Konzeptionen der Industriellen Revolution, in: VSWG 84 (1997), S. 461–511. Jörg Baten: Der Einfluss von regionalen Wirtschaftsstrukturen auf den biologischen Lebensstandard. Eine anthropometrische Studie zur bayerischen Wirtschaftsgeschichte im frühen 19. Jahrhundert, in: VSWG 83 (1996), S. 180–213. Mit regionalen Entwicklungsmustern beschäftigte sich auch kurz darauf der – quantitativ arbeitende – französische Kollege Michel Hau im Band 88. Er thematisierte die Rückkopplungen von ökonomischer Entwicklung, Fehlernährung und demographischen Strukturen am Beispiel des Elsass; Michel Hau: Überbevölkerung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert: der elsässische Fall, in: VSWG 88 (2001), S. 199–209. Ulf Ewert/Jan Hirschbirgel: Gabe und Gegengabe. Das Erscheinungsbild einer Sonderform höfischer Präsentation am Beispiel des französisch/burgundischen Gabentausches zum neuen Jahr um 1400, in: VSWG 87 (2000), S. 5–37. Ebenfalls mit der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte befasste sich Oliver Volckart, der neuere ökonomische Denkansätze in der Tradition von Douglass North benutzte; Oliver Volckart: Politische Zersplitterung und Wirtschaftswachstum im Alten Reich, ca.1650–1800, in: VSWG 86 (1999), S. 1–38. Rainer Metz: Probleme der statistischen Analyse langer historischer Zeitreihen, in: VSWG 80 (1993), S. 457–486.

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Natürlich ist der Anteil der Aufsätze in der VSWG, die z. B. Regressionsanalysen verwenden, relativ gering, während im Journal of Economic History, dem European Review of Economic History oder den Explorations in Economic History heutzutage nur selten ein Aufsatz ohne diese statistischen Methoden erscheint. Der Gesamtüberblick zeigt jedoch ein überraschend breites Spektrum an kliometrischen Forschungen, die in der Vierteljahrschrift publiziert wurden. Insbesondere ist es von zentraler Bedeutung, dass sich die kliometrische und die nichtkliometrische Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum weiterhin begegnen, und hierfür liefert die VSWG eine willkommene Basis. Es ist spannend zu beobachten, wie sich die deutsche kliometrische Landschaft seit Dumkes Zustandsbericht in den 1980er Jahren verändert hat. Damals beklagte er beispielsweise, dass nur sehr wenige Nicht-Anglophone in der Cliometric Society Mitglied seien und dass unser Land auf kliometrischen Konferenzen unterrepräsentiert bzw. fast unsichtbar sei. Dies hat sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Schon auf der letzten Cliometrics World Conference in Montreal 2000 waren die Deutschen stark repräsentiert. Auf der großen kliometrischen Konferenz der European Historical Economics Society im Juli 2003 in Madrid waren die Deutschen im Programm im Vergleich mit den anderen europäischen Nationen deutlich überrepräsentiert. Nur die Gastgebernation Spanien war mit mehr Vortragenden vertreten (auch berechnet auf die Bevölkerungszahl). Gleichwohl: in Deutschland wird dies unter vielen, eher historisch-qualitativ orientierten Kollegen bisher vielleicht noch kaum wahrgenommen, weil sich die wissenschaftlichen Diskurse und die Veröffentlichungsinstitutionen stark ausdifferenziert haben. Bei den Wirtschaftswissenschaftlern, die sich sonst mit der Gegenwart beschäftigen, ist das Interesse an der Kliometrie hingegen wesentlich gestiegen. Auf der letzten Konferenz der American Economic Association (AEA/ASSA) gab es eine sehr große Zahl kliometrischer Sektionen, und dies war in der Vergangenheit ein wichtiger Prognoseindikator für die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften in Europa. Um die Welten „Wirtschaftswissenschaften/Kliometrie“ und „Geschichte/nichtkliometrische Wirtschaftsgeschichte“ nicht zu weit auseinanderdriften zu lassen, sind Begegnungsmöglichkeiten wie die VSWG von eminenter Bedeutung. 2. Jüngste Trends der Kliometrik: Aktuell entstehende Arbeiten Nach der Betrachtung der kliometrischen Publikationen innerhalb der Jubiläumsschrift wollen wir nun schauen, welche Themen außerhalb der VSWG in jüngster Zeit aufgegriffen wurden und welche in teilweise noch laufenden Projekten erforscht werden. 2.1 Biologischer Lebensstandard in vorindustrieller Zeit Ulf Ewert, der in jüngster Zeit der Münchener Schule um John Komlos entstammt, untersucht in einem umfangreichen anthropometrischen Projekt den Lebensstandard in Sachsen und stößt dabei erstmalig für Deutschland in das 17. Jahrhundert

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vor, denn die militärischen Musterungslisten für Sachsen beginnen bereits in diesem Jahrhundert. Er benutzt die durchschnittliche Körpergröße als Indikator der Ernährungsqualität, die wiederum oft mit anderen Lebensstandardkomponenten wie Gesundheit und Langlebigkeit zusammenhängt. Auch Nikola Köpke betrachtet vorindustrielle Lebensstandards. In einem interdisziplinären Projekt zwischen Archäologie, Anthropologie und Wirtschaftsgeschichte erfasst sie Körpergrößen, die auf der Basis von Skelettuntersuchungen geschätzt wurden, um Lebensstandards in Mitteleuropa in den letzten 2000 Jahren darzustellen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der römischen Antike. Laut Köpke scheint die Integration in das Römische Reich für den biologischen Lebensstandard interessanterweise eher eine ungünstige Entwicklung gewesen zu sein.14 Obwohl viele Archäozoologen und Archäobotaniker herausgefunden haben, dass neue Tier- und Pflanzensorten von den Römern in Mitteleuropa eingeführt wurden, muss dies aus ökonomischer Perspektive nicht unbedingt ein Fortschritt gewesen sein. Denn man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass die damaligen mittelmeerischen Pflanzen nicht für das hiesige Klima geeignet waren.15 Köpke stellt fest, dass die Körpergrößen zwischen dem 1. Jahrhundert nach Christus und dem 2. Jahrhundert drastisch abnahmen und bis zum 4. Jahrhundert stagnierten, so dass die Entwicklung des Lebensstandards in der römischen Zeit eher ungünstig zu beurteilen ist.16 2.2 Vorindustrielle Zeit: Handwerk Sheilagh Ogilvie hat der vor- und protoindustriellen Wirtschaftsgeschichte und der Geschlechtergeschichte neue Impulse gegeben. Sie studierte insbesondere viele Quellen zum württembergischen Schwarzwald. In einem neueren Arbeitspapier untersucht sie beispielsweise interessante Thesen zur Frage: Waren die frühneuzeitlichen Zünfte effizient, weil sie Marktversagen bei der Qualitätssicherung, der Aus-

14 Nikola Köpke: Anthropometric Decline of the Roman Empire?, in: Proceedings of the International Economic History Association Conference. Buenos Aires 2002 (auf CD-ROM). Auch verfügbar unter http://www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/powerpoint0603.ppt. 15 Außerdem können kleinere Tiere durchaus einen höheren Wirkungsgrad erreichen, so dass die römischen Züchtungserfolge größerer Tiere nicht unbedingt effizient gewesen sein müssen. 16 Zur vorindustriellen Zeit sind auch die Studien von Bauernfeind und Woitek von zentraler Bedeutung, die in einer Reihe von Arbeiten das Funktionieren von mittelalterlichen Getreidemärkten thematisierten, vgl. Walter Bauernfeind/Michael Reutter/Ulrich Woitek: Rational Investment Behavior and Seasonality in Early Modern Grain Prices, in: European Review of Economic History 5 (2001), S. 281–310. Zur Anthropometrie des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. die neuen Beiträge von Stefan Lang/Marco Sunder: Non-parametric regression with BayesX: a flexible estimation of trends in human physical stature in 19th century America, in: Economics and Human Biology 1 (2003), S. 77–89; John Komlos/Marieluise Baur: From the Tallest to the Fattest: the Fate of the American Population in the Twentieth Century. Arbeitspapier München 2003. Zu neueren demographischen Forschungen vgl. John Brown/Timothy Guinnane: The Fertility Transition in Bavaria. Economic Growth Center Discussion Paper Nr. 821 (2001), verfügbar unter http://www.ssrn.com/.

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bildung und der Innovation zu vermindern halfen?17 Im Ergebnis verneint sie diese Hypothese, kann den Zünften jedoch eine positive Rolle bei der Bildung von Sozialkapital zubilligen: Sie schufen gemeinsame Werte und belohnten politische Aktivität ihrer Mitglieder, die der Zunft Vorteile brachte. Dies trug wesentlich zu ihrer Langlebigkeit bei: Viele Zünfte überlebten bis ins 19. Jahrhundert; viele Zünfte wurden erst im 16. bis zum 18. Jahrhundert gegründet, was gegen ihre „Mittelalterlichkeit“ spricht.18 2.3 Geschichte des Kreditwesens Bei der Kreditvergabe gibt es stets das Problem der asymmetrischen Information. Wie sehr wird sich der Kreditnehmer bemühen, die Kredite zurückzuzahlen? Wird er vielleicht betrügerischen Bankrott anmelden oder einfach auswandern? Tim Guinnane benutzt in seinen Studien Datensätze zu ländlichen Kreditvereinen aus dem späten 19. Jahrhundert, um diese Fragen empirisch zu untersuchen und die ökonomische (Gegenwarts-)Forschung zu bereichern, die gerade durch die Kleinkreditvergabe in Entwicklungsländern wichtige Impulse gewonnen hat.19 Guinnane konnte den Vorteil messen, der sich aus der genauen Kenntnis anderer ländlicher Vereinsmitglieder in den kleinräumig organisierten Kreditvereinen ergab. 2.4 Kapitalmärkte Ein anderes wichtiges Feld der jüngsten deutschen Kliometrie ist die Untersuchung der Kapitalmärkte. Gerhard Kling hat beispielweise das sogenannte Fusions-Paradox untersucht. Dies bezeichnet die Beobachtung, dass Unternehmen fusionieren, obwohl nach der Fusion der Gesamtwert an der Börse oft unter dem vorherigen Wert der ursprünglichen Unternehmen liegt.20 Er hat dieses Merger-Paradox für die Zeit vor 1914 zurückgewiesen, offenbar gibt es dort keinen sehr negativen Einfluss 17 Sheilagh Ogilvie: Guilds, Efficiency, and Social Capital. Evidence from German Proto-Industry, CESifo Working Paper Nr. 820 (2003), S. 1–33. 18 Ogilvie hat sich auch durch die Herausgabe der „New Social and Economic History of Germany“ verdient gemacht (der dritte Band erscheint im Oktober), einer englischsprachigen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, die auch kliometrische Beiträge einschließt, vgl. Sheilagh Ogilvie/Richard Overy (Hg.): Germany: A New Social and Economic History, Band III: 1800–1989. London 2003. 19 Zusammenfassend vgl. Timothy W. Guinnane: Delegated Monitors, Large and Small: Germany’s Banking System, 1800–1914, in: Journal of Economic Literature 40 (2002), S. 73– 124. 20 Gerhard Kling: The Impact of Merger Announcements on Stock Prices: The Application of Event Study Analysis to a Historical Issue. Vortrag auf der Economic and Business Historical Society Conference Memphis 2003, auch verfügbar unter http://www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/ slides.ppt. Vgl. auch die Forschungen Markus Baltzers zur Gründerkrise 1872–1874, siehe http:/ /www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/baltzer1.pdf, und Nikolinka Fertala zum Kapitalmarktzugang von Immigrant Entrepreneurs.

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auf den Unternehmenswert. Eine weitere wichtige Anomalie auf den Kapitalmärkten ist beispielsweise der sogenannte Größeneffekt. Er bezeichnet das überraschende Phänomen, dass Aktien kleiner Unternehmen sich oft besser entwickeln als „Blue Chips“ (Papiere von Großunternehmen). Sogar wenn Risiko, Transaktionskosten und ähnliche Faktoren kontrolliert werden, blieb in zahlreichen Studien ein bisher unerklärbarer Rest. Peter Bossaerts und Caroline Fohlin betrachteten den Zeitraum 1880–1913 und stellten fest, dass der Größeneffekt für diese Periode nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann.21 In einer Studie von Margaryta Korolenko, Peter Beckschäfer und mir stellten wir für den Zeitraum 1880–1990 die Hypothese auf, dass der Größeneffekt wirksam wird, wenn Investoren durch Kriege und erhebliche Krisen stark verunsichert sind.22 In derartigen Situationen sind sie bereit, auf einen Teil ihrer Rendite zu verzichten, selbst wenn man das höhere Sterblichkeitsrisiko kleinerer Unternehmen berücksichtigt. Offenbar bleibt hier ein Rest von Irrationalität im Anlegerverhalten. Nur Wirtschaftshistoriker mit ihrer langfristigen Perspektive können diese komplizierten – und faszinierenden – Rätsel lösen. 2.5 Integration von Wirtschaftsräumen und Effekte von Währungsunionen Albrecht Ritschl hat in einer großen Anzahl von Aufsätzen die Wirtschaftsgeschichte der Weltwirtschaftskrise und der NS-Wirtschaft erforscht. In einer besonders interessanten jüngeren Studie untersucht er gemeinsam mit Nikolaus Wolf, inwieweit sich die Handelsblöcke der frühen 1930er Jahre mit Währungsunionen vergleichen lassen, um so ein Schlaglicht auf die heutige Diskussion der handelsschaffenden Wirkung von Währungsunionen zu werfen. Insbesondere das Commonwealth, der Goldblock um Frankreich sowie die Partner, mit denen sich das Deutsche Reich zu einem Handelsblock zusammengeschlossen hatte, wiesen doch zumindest einige Ähnlichkeiten zu Währungsunionen auf. Ritschl und Wolf kommen zu dem Ergebnis, dass die handelsschaffenden Effekte von Währungsunionen wesentlich moderater sind als jüngere Schätzungen von Außenhandelsfachleuten vermuten lassen.23 2.6 Ökonomische Schocks und politische Gewalt Helge Berger und Mark Spoerer haben in einem Aufsatz im Journal of Economic History die Frage untersucht, inwieweit ökonomische Not zu den Unruhen und Revolutionen von 1848/49 geführt haben könnten. Sie betrachteten nicht die absolute 21 Peter Bossaerts/Caroline Fohlin: Has the Cross-Section of Average Returns Always Been the Same? Evidence from Germany, 1881–1913. Caltech Social Science Working Paper No. 1084, auch verfügbar unter http://www.ssrn.com/. 22 Vgl. Margaryta Korolenko/Jörg Baten/Peter Beckschäfer: The Capital Market Anomaly of the Size Effect. Arbeitspapier Tübingen, verfügbar unter http://www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/ korolbatenbecks.ppt 23 Albrecht Ritschl/Nikolaus Wolf: Endogeneity of Trade Blocs and Currency Unions: Evidence from the Inter-War Period. Arbeitspapier Berlin (Humboldt-Universität) 2003. Wolf thematisierte Integrationsprozesse auch in seiner Dissertation zu den Regionen in Polen nach 1918.

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Notlage, zum Beispiel der unteren Schichten, sondern sie interessierten sich für schockartige Abweichungen von einer längerfristigen Entwicklung. Der Hintergedanke dabei ist, dass sich die Menschen bei einer relativ großen Schwankungsbreite (Volatilität) der Kaufkraft durch Pufferungsstrategien auf diese Instabilität einstellen. Wenn hingegen ein einmaliger Schock die vorangegangene Variabilität weit übertrifft, dann könne dies, so die Autoren, zu einer erhöhten Bereitschaft zu Protest und zu gewalttätiger Aktion führen. Tatsächlich stellten sie fest, dass die Länder, bei denen solche schockartigen Ausschläge auftreten, eine weitaus höhere Neigung zu Aufruhr und Revolution im Jahre 1848 hatten.24 Alexander Moradi thematisierte ähnliche Fragen für afrikanische Länder der Periode 1950–1980: Inwieweit führt ökonomische Unzufriedenheit zu gewalttätigen Konflikten?25 Welche Rolle spielt Ungleichheit oder auch der „Curse of Natural Resources“, die oft beobachtete ungünstige Wirkung von Bodenschätzen auf die Eigentumsrechte? In einer Studie mit Uwe Fraunholz kam ich für Lateinamerika im gleichen Zeitraum zum Ergebnis, dass Ungleichheit zu einer stärkeren Neigung führt, sich vom Weltmarkt abzuschotten.26 3. Ausblicke auf die zukünftige Entwicklung 3.1 Fazit: Vielversprechende Forschungsfelder der Zukunft Natürlich kann diese Liste jüngster Trends und laufender Projekte in keiner Weise vollständig sein und ist auch von subjektiver Wahrnehmung geprägt.27 Dennoch gibt es gute Gründe dafür, dass einige Gebiete für die zukünftige Forschung besonders vielversprechend sein werden. Ich möchte exemplarisch vier Gebiete hervorheben. (1) Das Studium von Integrations- und Desintegrationsprozessen zwischen wirtschaftlichen Räumen (Länder, Regionen und Kontinente). Diese Forschungen werden in besonderem Maße durch die Frage motiviert, ob die heutigen ökonomischen 24 Helge Berger/Mark Spoerer: Economic Crises and the European Revolutions of 1848, in: JEH 61 (2001), S. 293–326. 25 Alexander Moradi: Heights of Women in Sub-Saharan Africa 1950–1980: An Economic Perspective, in: Proceedings of the International Economic History Association Conference. Buenos Aires 2002 (auf CD-ROM). Auch verfügbar unter http://www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/ heightwomen.pdf. 26 Jörg Baten/Uwe Fraunholz: Did Partial Globalization Increase Inequality? Did Inequality Stimulate Globalization Backlash? The Case of the Latin American Peripherie, 1950–2000, in: CESifo Working Paper Series Nr. 693 (2002). Auch verfügbar unter http://www.unituebingen.de/uni/wwl/baten_fraunholz.pdf. 27 Weitere Forschungen wären bei mehr verfügbarem Raum zu nennen, z. B. Jochen Strebs Forschungen zu Innovationsverhalten (und unser gemeinsames DFG-Projekt, in dem wir 40.000 Patentdaten sammeln und mit Unternehmensdaten verknüpfen) oder auch die Publikationen aus meinem Projekt zu Unternehmenssteuerlisten, das zu einer Datenbank von rund 20.000 deutschen Unternehmen mit Gewinn-, Beschäftigungs- und Kapitaldaten führte, die noch viele Forschungserträge abwerfen wird, vgl. auch http://www.uni-tuebingen.de/uni/wwl/thyssen.html.

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Integrationstendenzen („Globalisierung“) andauern werden oder ob es vielleicht wieder ein „dunkles Zeitalter“ von Weltkriegen und Desintegration geben wird. Es ist außerordentlich wichtig, die Integrationsbewegungen vergangener Jahrhunderte auf multiple Ursachengeflechte hin zu untersuchen und Handlungsmöglichkeiten zur Vermeidung von Desintegration aufzuzeigen. (2) Teilweise damit verbunden ist die Erforschung der Determinanten von Konflikten, Fanatismus, (Bürger-)Kriegen und Terrorismus, bei der die Wirtschaftsgeschichte einen besonders wichtigen Beitrag leisten kann. In diesen Bereich fällt natürlich auch die weiterhin unzweifelhaft bedeutsame Erforschung der nationalsozialistischen Wirtschaftsgeschichte.28 (3) Anomalien und Paradoxe auf Kapitalmärkten, die mit einfacher ökonomischer Theorie nicht vollständig erklärt werden können, sind ein Forschungsfeld, in dem die langfristige Perspektive der Wirtschaftsgeschichte ganz zentrale Impulse setzen kann. (4) Wirtschaftsgeschichte ist für viele internationale Kollegen gleichbedeutend mit der Frage: „Warum sind wir wohlhabend und viele andere Länder arm?“ Die langfristige Messung und Analyse von Lebensstandards, technologischem Fortschritt und Produktivität bleibt ohne Zweifel ein wichtiges Forschungsfeld. Andererseits können wir mit keiner derartig kurzen Liste zufrieden sein – denn, wie eingangs erwähnt, die Wirtschaftsgeschichte lebt von der Pluralität. Viele kleine Einzelprojekte von unternehmerischen Forschertalenten sind mindestens genauso wichtig wie diese vorläufigen Vorschläge für gemeinsame Schwerpunkte. 3.2 Diskussionen über kliometrische Eigenheiten: die Betonung der referierten Zeitschriften In welchen Bereichen könnte und sollte die kliometrische Wirtschaftsgeschichte ihre Eigenheiten verändern? Wir haben oben das gegenseitige Verständnis von Kliometrikern und Nichtkliometrikern als Zukunftsfrage betont, und dies betrifft nicht nur die ökonometrischen Analysemethoden. Es betrifft auch die Organisation des Wissenschaftsbetriebes und die Evaluierung wissenschaftlicher Qualität, die die Kliometriker teilweise von den Wirtschafts- und Naturwissenschaften übernommen haben. Hier sind Historiker beispielsweise oft entsetzt über die große und teilweise alleinige Bedeutung, die Aufsätzen in sogenannten referierten Zeitschriften beigemessen wird (relativ etwa zu monographischen Leistungen). Warum eigentlich werden Aufsätze in international referierten Zeitschriften zur Beurteilung der Forschungsqualität betrachtet? Ökonomen meinen, bei der Qualitätsabschätzung von wissenschaftlicher Forschung komme es darauf an, „schwer 28 Zu jüngeren kliometrischen Arbeiten vgl. Jörg Baten/Andrea Wagner: Autarky, Market Disintegration, and Health: The Mortality and Nutritional Crisis in Nazi Germany 1933–37, in: Economics and Human Biology 1 (2003), S. 1–28; Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur: Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen DawesPlan und Transfersperre 1924–1934 (JbWG, Beiheft 2). Berlin 2002.

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fälschbare Signale“ zu finden.29 Wer schon einmal an einem Refereeverfahren teilgenommen hat, weiß, wie schwer es ist, in einer guten Zeitschrift akzeptiert zu werden. Man sendet ein Papier ein, das anonymisiert wird und in der Regel von zwei ebenfalls anonym bleibenden Kollegen beurteilt wird, und zwar meist in sehr scharfer Form. Es ist schmerzhaft und frustrierend, ablehnende Gutachten über die eigene Arbeit zu lesen. Nur wer die hohe Schwelle überschreitet, einen abgelehnten oder schwer kritisierten Aufsatz neu einzureichen (evtl. bei einer anderen Zeitschrift), hat hier eine Chance auf Erfolg. Erschwerend kommt hinzu, dass die anonymen Gutachter natürlich auch Fehler machen oder Vorlieben pflegen. Sie kennen sich vielleicht weniger im Spezialgebiet des Aufsatzes aus oder könnten einer irgendwie anders ausgerichteten Gruppe zugeordnet werden. Im letzteren Fall entstehen schnell Befürchtungen, es könne eine karrierehinderliche „Verschwörung“ durch diese Gruppe geben (was in der Regel nicht der Fall ist). Wenn ein Artikel schließlich gedruckt wird, ist er durch viele Qualitätskontrollen gegangen.30 All diese psychologischen Kosten und hohen Schwellen führen dazu, dass Ökonomen einen Erfolg bei einer international referierten Zeitschrift als einen Indikator für relativ überzeugende und gründlich geprüfte Forschungen halten. Ob man dieser Evaluierungsmethode zustimmt oder nicht – sie hat sich weltweit weitgehend durchgesetzt und dürfte kaum wieder aufgehoben werden. Es ist sehr schwierig, aussagekräftige Qualitätskriterien für wissenschaftliche Leistung zu finden, und diese Methode hat sich in den Augen vieler als relativ robust erwiesen. Natürlich gibt es bei all diesen Indikatoren Messfehler. Besonders spektakuläre Forschungen haben es manchmal schwerer mit den referierten Zeitschriften als weniger mutige „Marktlückenfüller“. Theorie ist oft schwerer anzugreifen als Empirie, wo es immer irgendwelche Bedenken zur Messqualität geben kann. Insgesamt hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass diese „schwer zu fälschenden“ Signale wichtig sind – und nicht nur wortreiche Spezialmonographien, Sammelbände oder Quelleneditionen. Diese können zwar auch außerordentlich nützlich sein, werden aber von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern nicht voll als wissenschaftliches Qualitätssignal anerkannt, weil die Qualitätskontrolle der einzelnen Elemente als weniger systematisch gilt.31 Ich meine, dass zur Beurteilung der Gesamtqualität eines Wissenschaftlers nicht nur die Qualität der Forschung herangezogen werden sollte. Aufsätze in guten Zeitschriften sind nicht alles, was im real existierenden Wissenschaftsbetrieb gebraucht wird. Zumindest zwei weitere Kerneigenschaften erscheinen mir von ganz zentraler Bedeutung und sollten ebenfalls bei Evaluierungen herangezogen werden (weitere entfallen hier aus Platzgründen). 29 Vgl. z. B. Robert Frank: Microeconomics and Behaviour. 2. Aufl., Boston u. a. 1997. 30 Hierbei hängen die Kriterien natürlich von der Ausrichtung der Entscheider ab. 31 Mit der Betonung der „Systematik“ wollen wir darauf hinweisen, dass einzelne Sammelbände, Monographien usw. natürlich sehr wohl einer strengen Qualitätskontrolle unterzogen werden. Aber diese gilt meist nicht so systematisch für alles, was in diesem Bereich gedruckt wird. Dicke Bücher werden in manchen Fällen auch mit Informationen überfüllt, die vielleicht lieber auf einer CD-ROM archiviert werden sollten, weil sie keine Leser, sondern nur „Nachschlagende“ haben werden.

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(A) Kommunikationsfähigkeit und Didaktik bei komplizierten Inhalten. Nicht nur für die Lehre, sondern auch für die effiziente Präsentation unter Fachkollegen (mündlich und schriftlich) ist es entscheidend, wie verständlich Inhalte transportiert werden und wie radikal weniger wichtige Informationen weggelassen werden. Welchen Grad der Komplexität wähle ich, wenn ich mit nichtkliometrischen Geisteswissenschaftlern über Regressionsanalyse spreche? Welche Fachbegriffe muss ich meinen wirtschaftswissenschaftlichen Studierenden mindestens beibringen, damit sie andere Texte verstehen – und welche kann ich fortlassen? Bemühen sich engagierte junge Doktoranden um eine verständliche Darstellungsform mathematischer Sachverhalte, wenn ihr Gegenüber sich vielleicht in einer Situation geringer Aufnahmefähigkeit befindet? Stellt ein Experte für historisches Steuerrecht die Praxis der Steuererhebung so verständlich dar, dass der Zuhörer gut über diese institutionellen Details für eine ökonomische Analyse informiert wird? Für die Zukunft der kliometrischen Wirtschaftsgeschichte werden diese Kommunikationsfähigkeit und die Bereitschaft dazu entscheidend sein. Gleichzeitig sollten komplexe Zusammenhänge deshalb aber nicht ausgelassen werden, wenn sie für die Analyse wichtig sind. (B) Kooperationsbereitschaft. Bekanntlich gibt es viele Möglichkeiten, sich mit anderen Wissenschaftlern zu zerstreiten. Die gegenseitige Qualitätsbeurteilung kann leicht zu verletzenden Konflikten führen. Harmoniesucht sollte nicht zu Unehrlichkeit und Verhinderung von Qualitätsbeurteilung führen, aber wenn etwa Aggressionen aufgrund verletzter Eitelkeiten fahrlässig eingesetzt werden, gefährden wir unser Fach. Bei jeglicher Qualitätsbeurteilung von Wissenschaftlern sollte auch diese Komponente beachtet werden. 3.3 Zukunftsziel Verständlichkeit Aus dem eben genannten folgt, dass es besonders wichtig ist, unsere Teildisziplin in Zukunft noch stärker als bisher für Nicht-Ökonometriker und Nicht-Theoretiker verständlich zu machen, zumindest in einem Teil der Publikationen. Ein gewisses Maß an mathematischer Komplexität ist natürlich unverzichtbar, aber sämtliche schwer verständlichen Text- und Formelstücke gehören unerbittlich auf den Prüfstand: Wird hier wirklich Mehrwert geschaffen, oder entstand eine Komplikation nur aus Wortkargheit, Fremdwörterbegeisterung oder weil es „schick“ schien? Könnte ein Teil der Mathematik in die Fußnoten gebracht werden, wenn er keinen tragenden Teil des Textes darstellt? Werden gelegentlich narrative Elemente und Beispiele eingefügt, um zu verdeutlichen und auch, um ein wenig zu unterhalten? Wird die Bedeutung der Forschungen gut kommuniziert? Nicht nur bei den Fachkollegen können diese Prinzipien positive Effekte erreichen, sondern auch z. B. bei den Studierenden. Dass eine ausreichende Zahl von Studierenden vorhanden ist, wird in Zeiten knapper Finanzmittel zu einem wichtigen Argument für unser Fach, und gerade an Wirtschaftsfakultäten gibt es entgegen wirkende Kräfte (z. B. das Argument der Studienzeitverkürzung auf Kosten angeblich „nicht zentraler und praxisbezogener Fächer“). Natürlich ist eine untechnische Darstellung nicht bei allen

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Aufsätzen möglich. Manche Forschungen sind so komplex, dass wichtige Dinge verloren gehen würden. Außerdem will man manche Forschungen in ökonomischen Zeitschriften veröffentlichen, bei denen ein gewisses Maß an Mathematik als positives Signal verstanden wird. Andererseits sind selbst ökonometrische Kollegen froh, wenn die Zahl der Abkürzungen und Spezialbegriffe, die sie im Kopf behalten müssen, nicht übertrieben und unnötig groß ist. Moderne Textprogramme bieten auch für Tabellen usw. früher ungeahnte Möglichkeiten, Abkürzungen aufzulösen und erläuternde Beschriftungen einzufügen. 3.4 Das Multimediaprojekt „Kliometrische Methoden und Ergebnisse“ Methodenpluralität erbringt die besten Ergebnisse, wenn man einander versteht. Für eine erfolgreiche Zukunft unseres Faches ist es entscheidend, dass wir miteinander kommunizieren können, so dass wechselseitige Rezeption und fairer Wettbewerb möglich ist. Bei der Regressionsanalyse haben jedoch die meisten Nichtkliometriker Schwierigkeiten. Daher haben wir an der Universität Tübingen gemeinsam mit Partnern aus z. Zt. zwölf Ländern eine Initiative gestartet, die für dieses Problem eine Lösung anbieten wird. Wir erstellen eine Serie von kurzen Filmen und Präsentationen (auf CD-ROM), die ein grundlegendes Verständnis von Regressionsanalysen und anderen kliometrischen Techniken und Ergebnissen vermitteln soll (man benötigt nur einen PC mit Lautsprechern oder einer Kopfhörerbuchse, die z. B. fast alle Notebooks haben). Die CDs werden gegen eine geringe Aufwandsentschädigung an interessierte Benutzer versandt. Weil es für die Zukunft unserer Disziplin überaus wichtig ist, dass sich Kliometriker und Nichtkliometriker verständigen können, möchte ich etwas ausführlicher auf das Multimediaprojekt eingehen. Diese anwendungsorientierte Einführung in wichtige Analysetechniken soll nur wenige oder keine mathematischen Kenntnisse voraussetzen.32 Insbesondere wollen wir auf diese Weise Berührungsängste abbauen und einen einfachen Einstieg bieten, so dass die Nutzer eigene, einfache Analysen schnell durchführen können, ohne Mathematik und Ökonometrie studieren zu müssen. Sie werden auch Aufsätze verstehen können, die mit diesen statistischen Methoden arbeiten. Darüber hinaus werden sie neue Anwendungsmöglichkeiten für eigene Fragestellungen entdecken – gerade statistische Graphik und Kartographie führen zu neuen Fragen und Antworten. Was sind die großen Vorteile der Regressionsanalyse? Auch rein qualitativ arbeitende Wissenschaftler, sofern sie nicht rein journalistisch veranlagt oder mit l’art pour l’art zufrieden sind, suchen nach Zusammenhängen. Mit der Regressionsanalyse können Zusammenhänge aber darauf hin untersucht werden, wie systematisch („statistisch signifikant“) sie auf eine Datensammlung zutreffen und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie sich auch in anderen, vergleichbaren Regionen oder Zeiträumen wiederfinden lassen. Auch der quantitative Analytiker sollte daher ein 32 Für Einsteiger: Jeffrey Wooldridge: Introductory Econometrics: A Modern Approach. o. O. 2000; für Fortgeschrittene: Chandan Mukherjee u. a.: Econometrics and Data Analysis for Developing Countries. New York 1998.

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offenes Auge für die Abweichungen von der Regel haben, was bei der Suche nach Zusammenhängen gelegentlich in den Hintergrund tritt. Im Gegensatz zu einfachen Vergleichen (oder auch Vergleichen von Mittelwerten) kann mit der Regressionsanalyse die Repräsentativität der Ergebnisse beurteilt werden. Einzelne abweichende Fälle können als solche erkannt werden. Falls viele Faktoren einen Beitrag zur Erklärung eines Zusammenhanges leisten, kann mit der „multiplen“ Regressionsanalyse auch der relative Einfluss der einzelnen Erklärungsfaktoren bestimmt werden. Andererseits gibt es auch eine Reihe potentieller Probleme. Die vielen neuen Darstellungsformen und Begriffe können den Ungeduldigen überfordern. Außerdem sollten Zweifel über die Aussagekraft und Eignung der Daten ernsthaft geprüft werden – nicht jede Messqualität ist ausreichend. Es gibt eine Reihe von nicht gelungenen Analysen, bei denen man sich zu wenig Gedanken über die Genese von Daten und Quellen gemacht hat. Weitere Gefahren bestehen in den sogenannten Scheinkorrelationen: es kann natürlich der Fall auftreten, dass nicht oder nur sehr schwer messbare Variablen die erklärende und die zu erklärenden Variablen beeinflussen. In diesem Fall helfen einerseits möglicherweise ausgefeiltere Techniken, andererseits die Erfassung von zusätzlichen vergleichbaren Datensätzen zu anderen Regionen und Zeiträumen. Die häufigste Ursache für das frühe Ende (oder gar die völlige Abneigung) von Statistikanwendungen dürfte jedoch vom „Kontakt“ mit schwer verständlichen Statistikbüchern oder Ratgebern herrühren. Unsere CD-Serie zielt vor allem auf den Anwender, der nur relativ wenig Zeit investieren möchte. Allerdings muss er dafür in Kauf nehmen, dass er letztlich nicht alle Spezialkniffe und -begriffe kennen wird. Die Analogie zum Autofahren drängt sich hier auf: Manche Autofahrer möchten außerordentlich viel Zeit aufwenden, um selbst den Motor reparieren oder tunen zu können. Hierzu müssen sie die Funktionsweise aller Autoteile gründlich studieren, was viel Zeit kostet, in der man z. B. andererseits auch neue Fragestellungen zur langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung kennenlernen oder neue Daten sammeln könnte. Durch die Verbesserung der Daten oder die Entwicklung neuer Fragestellungen wurden oft mehr Erkenntnisse gewonnen als durch eine extrem ausgefeilte Analysetechnik. In unserem Einführungskurs legen wir besonders viel Wert auf graphische Darstellungen von möglichen Zusammenhängen. Ein zentrales Element ist hier z. B. das Streudiagramm, in dem die zu erklärende Variable auf der vertikalen Achse und die erklärende Variable auf der horizontalen Achse abgetragen werden. Es verdeutlicht sehr klar das Prinzip der Regressionsanalyse, nämlich durch die so entstehende Punktewolke eine Linie („Regressionsgerade“) zu legen, bei der die Abweichungen von dieser Linie („Fehler“) möglichst gering ausfallen sollten. Die statistischen Kennzahlen, die über Erklärungskraft der betrachteten Variablen Auskunft geben, werden dann zunächst in der Art eines Kochbuches erklärt. (Zwar lernt man sonst in den statistischen Lehrbüchern in der Regel mehr über die Hintergründe, aber meist vergessen die meisten Anwender die Details über diese Hintergründe bald wieder.) Besonderes Gewicht legt die CD-Serie auf die Betrachtung von „ungewöhnlichen“ Fällen, deren Diskussion zu weiteren Analysen und neuen Fragestellungen führen kann. Zudem werden qualitative Variablen besonders prominent behandelt, denn es ist ein verbreiteter Irrtum, dass statistische Analyse sich nur auf Faktoren beziehen

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kann, die mit „echten“ Zahlen gemessen werden können. Beobachtet man z. B. vier verschiedene Verhaltensweisen von historischen Akteuren und möchte diese auf qualitativ formulierte Hintergründe zurückführen, so kann dies sehr wohl mit statistischer Analyse geprüft werden. Zusammenfassend sei betont, dass diese CD-Serie einiges zum Verständnis von kliometrischen Methoden durch Nichtkliometriker beitragen könnte, wenn sie der CD-Serie offen gegenüberstehen und auch ihre Schüler einige Stunden damit verbringen lassen. In diesem Überblick haben wir ein Vierteljahrhundert kliometrische Aufsätze in der Jubiläums-Zeitschrift VSWG Revue passieren lassen. Hierbei handelt es sich um keine enorm hohe Zahl von Aufsätzen, aber sie hat doch ein breites Spektrum kliometrischer Methoden beleuchtet. Das Ziel des Beitrags bestand darin, aus der Vergangenheit Schlüsse auf die Zukunft dieses Teilbereiches der Wirtschaftsgeschichte zu ziehen. Wir haben neben den bereits publizierten Arbeiten auch die derzeit laufenden Projekte und deren vorläufige Ergebnisse dargestellt. Es kristallisierten sich vier zentrale Bereiche heraus, die in der Zukunft erhebliche Bedeutung erlangen dürften. Aber darüber hinaus ist die Tätigkeit in vielen kleinen Einzelprojekten von entscheidender Bedeutung. Wir stellten uns auch die Frage, inwieweit Kliometriker ihre bisherigen Verhaltensweisen ändern könnten, damit die gegenwärtig beobachtbare Desintegration zwischen den stärker historisch orientierten Nichtkliometrikern und der Kliometrie reduziert werden kann. Die oft als befremdlich empfundene Evaluierungsstrategie mit „referierten Zeitschriften“ gehört offenbar nicht zu den veränderbaren Verhaltensweisen, weil sie exogen von der weltweiten Gemeinschaft der Ökonomen bereits weitgehend akzeptiert wurde. Dennoch ist hier eine Erweiterung der Kriterien wünschenswert und durchaus auch realisierbar. Schließlich wurde der Bereich der indirekten Lehre über die CD-ROMs unseres Multimedia-Projektes als Instrument diskutiert, das zum Verständnis beitragen könnte.

AUTORINNEN UND AUTOREN Gerold Ambrosius, geb. 1950, seit 1997 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Siegen. Promotion Tübingen 1976, Habilitation Freie Universität Berlin 1983. Anschließend Lehrstuhlvertretungen und Auslandsaufenthalte, 1992 bis 1997 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert (1986); Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien (1996); Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte (2001). Jörg Baten, geb. 1965, seit 2001 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Promotion Ludwig Maximilians-Universität München 1997, Habilitation 2001 ebd. Mitglied im Editorial Board der Zeitschriften „European Review of Economic History“ und „Social Science History“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung in Bayern, 1730–1880 (1999); Health under National Socialism: the mortality and nutritional crisis in Germany 1933–38, mit A. Wagner, in: Economics and Human Biology 1– 1 (2003), S. 1–28; Anthropometrics, consumption and leisure: the standard of living, in: Germany: a new social and economic history, III: 1800–1989, hg. von S. Ogilvie/R. Overy (2003), S. 383–422; Climate and nutritional status in 18th century southern Germany, in: Journal of European Economic History 30-1 (2001), S. 9– 47. Volker Berghahn, geb. 1938, seit 1998 Seth Low Professor of History an der Columbia University in New York. Promotion University of London 1964, Habilitation Mannheim 1970. Danach Lehrtätigkeiten in England und Amerika. – Ausgewählte Veröffentlichungen: The Americanisation of West German Industry, 1945– 1973 (1986); America and the Intellectual Cold Wars in Europe (2001); Europa im Zeitalter der Weltkriege (2002). Peter Borscheid, geb. 1943, seit 1989 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Marburg. Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Gerontologie und angewandte Sozialethik an der Universität Marburg. Promotion Heidelberg 1974, Habilitation Münster 1978. 1983 bis 1989 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Münster. Mitherausgeber der „Zeitschrift für Unternehmensgeschichte“ (verantwortlicher Redakteur), der „Studien zur Geschichte des Alltags“ und des „Marburger Forums zur Gerontologie“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Geschichte des Alters: 16. –18. Jahrhundert (1987); Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, mit C. Wischermann (1995); Der Einzug der Wissenschaften ins Private (1997); Sicherheit in der Risikogesellschaft (1999); Unternehmenskommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, mit C. Wischermann/K.-P. Ellerbrock (2000).

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Autorinnen und Autoren

Helmut Braun, geb. 1960, seit 2002 Wiss. Oberassistent und Privatdozent am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Regensburg. Promotion Universität Frankfurt a. M. 1995, Habilitation 2002. Forschungsschwerpunkte: Entstehung und Ausbreitung von Innovationen; Wirtschaftsgeschichte der Transformationsstaaten; Entwicklung von Industrien und Märkten; Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehren. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Aufstieg und Niedergang der Luftschiffahrt (im Erscheinen); Historische Wurzeln spezifischer Transformations- und Entwicklungsprobleme der Mongolischen Republik, in: VSWG 84 (1997), S. 512– 543; Schumpeter and Keynes on money and interest, mit M. Wagner-Braun, in: The Economic Theory in the Light of Schumpeter’s Scientific Heritage, Essays in Memory of Schumpeter on his 50th Death Anniversary, hg. von S. B. Dahiya/V. Orati (2001) S. 579–589. Rolf Caesar, geb. 1944, seit 1992 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbes. Finanzwissenschaft, an der Universität Hohenheim. Promotion Köln 1970, Habilitation 1979 ebd. 1984 bis 1992 Professor für Volkswirtschaftspolitik an der Universität Bochum. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Der internationale Zusammenhang der Löhne (1970); Der Handlungsspielraum von Notenbanken – Theoretische Analyse und internationaler Vergleich (1981); Zur Reform der Finanzverfassung und Strukturpolitik der EU, als Hg. (1997); Ökonomische und politische Dimensionen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, hg. mit H.-E. Scharrer (1999); EU-Osterweiterung und Finanzmärkte, hg. mit F. Heinemann (2001); Der unvollendete Binnenmarkt, hg. mit H.-E. Scharrer (2003). Ute Daniel, geb. 1953, seit 1997 Professorin für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts und die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Braunschweig. Promotion Bielefeld 1986, Habilitation Siegen 1994. Mitherausgeberin der Reihe „Geschichte und Geschlechter“ (Campus-Verlag). – Ausgewählte Veröffentlichungen: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft 1914–1918: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg (1989); Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–1989, hg. mit W. Siemann (1994); Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert (1995); Das 19. Jahrhundert: 1800 bis 1914 (2001); Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (2001, 3. Aufl. 2002). Markus A. Denzel, geb. 1967, seit 2002 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Leipzig. Promotion Bamberg 1994, Habilitation Göttingen 1997, apl. Professor 2000. Lehrstuhlvertretungen in Bamberg und Göttingen, Gastprofessuren in Hamburg und Bozen. Heinz Maier-Leibnitz Preis der DFG und des BMBF 1998. Generalsekretär des Internationalen Komitees für Historische Metrologie, Leiter der „Büdinger Gespräche“. Mitherausgeber des „Jahrbuchs für europäische Überseegeschichte“, der „Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ und der „Studien zur Gewerbe- und Handelsgeschichte der vorindustriellen Zeit“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: „La Practica della Cambiatura“. Europäischer Zahlungsverkehr vom 14. bis zum 17. Jahrhundert (1994); Professionen und Professionisten. Die Dachsbergsche Volksbeschreibung im Kurfürstentum Baiern

Autorinnen und Autoren

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1771–1781 (1998); Währungen der Welt II–XI, hg. mit J. Schneider u. a. (1992– 1999). Gerhard Fouquet, geb. 1952, seit 1996 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Kiel. Promotion Siegen 1985, Habilitation 1995 ebd. Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und des „Jahrbuch für Regionalgeschichte“. Aufsichtsratmitglied des „Instituts für vergleichende Städtegeschichte“ in Münster. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Bauen für die Stadt (1999); Europa im Spätmittelalter 1215–1378, mit U. Dirlmeier/B. Fuhrmann (2003). Rainer Gömmel, geb. 1944, seit 1990 Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Regensburg. Promotion Universität Erlangen-Nürnberg 1977, Habilitation Regensburg 1984. 1986 bis 1990 akademischer Oberrat an der Universität Erlangen-Nürnberg. Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und der „Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte“. Stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Mitglied der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Wachstum und Konjunktur der Nürnberger Wirtschaft 1815–1914 (1978); Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800 (1998). Friedrich-Wilhelm Henning, geb. 1931, seit 1971 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität zu Köln, 1996 emeritiert. Promotion 1963 zum Dr. rer. pol und Dr. jur. an der Universität Göttingen, 1967 Habilitation für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebd. 1967 bis 1971 Dozent an der Universität Göttingen. 1972 bis 1996 Wissenschaftlicher Direktor des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs in Köln. Mitherausgeber der „Scripta Mercaturae“, der Reihe „Wirtschafts- und Rechtsgeschichte“ und der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert (1969); Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3 Bde., Bd. 1 (1974, 5. Aufl. 1995), Bd. 2 (1973, 9. Aufl. 1995), Bd. 3 (1974, 9. Aufl. 1997); Düsseldorf und seine Wirtschaft. Zur Geschichte einer Region, 2 Bde. (1981); Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Bd. 1 (1991), Bd. 2 (1996); Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters (1994). Eberhard Isenmann, geb. 1944, seit 1999 Professor für Geschichte des Mittelalters mit dem Schwerpunkt Späteres Mittelalter an der Universität zu Köln. Promotion Tübingen 1975, Habilitation 1983 ebd. 1985 bis 1989 Professor auf Zeit mit dem Arbeitsbereich „Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters und der Neuzeit“ an der Universität Tübingen, 1992 Ruf auf die Professur für das Fach „Geschichte des Mittelalters“ an der Universität Essen, 1993 bis 1999 Professor für das Fach „Mittelalterliche Geschichte, insbesondere Geschichte des späten Mittelalters“ an der Universität Bochum. Mitherausgeber der „Kölner Historischen Abhandlungen“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jh., in: ZHF 7 (1980), S. 1–75, 129–218; Die deutsche Stadt im Spätmittelalter (1988);

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Gesetzgebung und Gesetzgebungsrecht spätmittelalterlicher deutscher Städte, in: ZHF 28 (2001), S. 1–94, 161–261; Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Stadt und Recht im Mittelalter, hg. von P. Monnet/G. O. Oexle (2003), S. 215–479. Karl Heinrich Kaufhold, geb. 1932, seit 1975 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Direktor des gleichnamigen Instituts an der Universität Göttingen, 1999 emeritiert. Promotion Göttingen 1968, Habilitation 1973 ebd. Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, der „Studien zur Gewerbe- und Handelsgeschichte der vorindustriellen Zeit und der Enzyklopädie deutscher Geschichte. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Das Handwerk der Stadt Hildesheim im 18. Jahrhundert (1968, 2. Aufl. 1980); Das Gewerbe in Preußen um 1800 (1978); Preußische Gewerbestatistik vor 1850, 3 Bde., mit U. Albrecht/B. Holschumacher/W. Sachse (1989, 1994, 2000). Rainer Metz, geb. 1951, seit 1996 Abteilungsleiter am Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln und seit 2002 Titularprofessor für Wirtschaftsgeschichte und Methoden der Empirischen Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen. Promotion Trier 1988, Habilitation St. Gallen 1996. Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsgeschichte, insbesondere Wachstum, Konjunktur und Innovation, Geld und Preise (Mittelalter und Frühe Neuzeit); Empirische Wirtschaftsforschung, insbesondere ökonometrische Zeitreihenanalyse; Geschichte der Volkswirtschaftslehre; Didaktik und Methodik der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Geld, Währung und Preisentwicklung. Der Niederrheinraum im europäischen Vergleich: 1350–1800 (1990); Säkulare Trends der deutschen Wirtschaft, in: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, hg. von Michael North (2000); Trend, Zyklus und Zufall. Bestimmungsgründe und Verlaufsformen langfristiger Wachstumsschwankungen (2002). Toni Pierenkemper, geb. 1944, seit 1997 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Universität zu Köln. Promotion Münster 1977 und Habilitation 1984 ebd. 1985 bis 1989 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Münster und 1990 bis 1997 in Frankfurt a. M., unterbrochen von einer Tätigkeit als Visiting Professor an der Georgetown University, Washington D.C. (1993 bis 1994). Geschäftsführender Herausgeber des „Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Die westfälischen Schwerindustriellen 1852–1913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg (1979); Angestellte und Arbeitsmarkt im Deutschen Kaiserreich 1880–1913. Interessen und Strategien als Instrumente der Integration eines segmentierten Arbeitsmarktes (1987); Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (1994); Unternehmensgeschichte. Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse (2000). Hans Pitlik, geb. 1963, seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Hohenheim. Promotion Hohenheim 1996. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Politische Ökonomie des Föderalismus (1997);

Autorinnen und Autoren

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Bargaining Powers of Smaller States in Germany’s Länderfinanzausgleich 1979– 90, mit G. Schmid/H. Strotmann, in: Public Choice 109 (2001), S. 183–201; Politikberatung der Öffentlichkeit?, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2 (2001), S. 61–73; The path of liberalization and economic growth, in: Kyklos 54 (2002), S. 57–80; Do crises promote the extent of economic liberalization? An empirical test, mit S. Wirth, in: European Journal of Political Economy 19 (2003), S. 565– 581. Werner Plumpe, geb. 1954, seit 1999 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt a. M. Promotion Bochum 1985, Habilitation 1994 ebd. Gastprofessur an der Keio-Universität Tokio. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Vom Plan zum Markt. Wirtschaftsverwaltung und Unternehmerverbände im britisch-amerikanischen Besatzungsgebiet 1945 bis 1949 (1987); Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, hg. mit G. Ambrosius (1994); Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur Chemischen Industrie (1999); Unternehmensgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (vorauss. 2004). Hans Pohl, geb. 1935, seit 1969 Professor für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn (2000 emeritiert). Promotion Köln 1961, Habilitation 1968 ebd. Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und des „Bankhistorischen Archivs“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Beziehungen Hamburgs zu Spanien und dem spanischen Amerika in der Zeit von 1740 bis 1806 (1963); Die Portugiesen in Antwerpen (1567–1648). Zur Geschichte einer Minderheit (1977); Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Dokumentation, mit S. Habeth/B. Brüninghaus (1986); Aufbruch der Weltwirtschaft. Geschichte der Weltwirtschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg (1989); Die rheinischen Sparkassen. Entwicklung und Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft von den Anfängen bis 1990 (2001). Werner Rösener, geb. 1944, seit 1996 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Promotion Freiburg 1972, Habilitation Göttingen 1990. 1974 bis 1996 Referent am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Mitherausgeber der „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Bauern im Mittelalter (1985); Grundherrschaft im Wandel (1991); Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter (1992); Die Bauern in der europäischen Geschichte (1993); Einführung in die Agrargeschichte (1997). Joachim Scholtyseck, geb. 1958, seit 2001 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Promotion Bonn 1991, Habilitation Karlsruhe 1998. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, mit M. Kißener (1997, 2. Aufl. 1999); Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933–1945 (1999); Die Außenpolitik der DDR (2003).

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Autorinnen und Autoren

Günther Schulz, geb. 1950, seit 2000 Professor für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn und Leiter der gleichnamigen Abteilung. Promotion Bonn 1977, Habilitation 1990 ebd. 1991 Gastdozent an der Technischen Universität Dresden, 1992 bis 2000 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität zu Köln. Federführender Herausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Arbeiter und Angestellten bei Felten & Guilleaume. Sozialgeschichtliche Untersuchung eines Kölner Industrieunternehmens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert (1979); Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1957 (1994); Die Angestellten seit dem 19. Jahrhundert (2000). Jan Pieter Schulz, geb. 1972, seit 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Hohenheim. 1999 Beendigung des Studiums zum Diplom-Volkswirt an der Universität Hamburg. Arbeits- und Interessengebiete: Theoriegeschichte der Volkswirtschaftslehre, Steuertheorie, Theorie der Sozialen Sicherung. Jörn Sieglerschmidt, geb. 1945, seit 1986 Privatdozent an der Universität Konstanz, jetzt Mannheim. Promotion Konstanz 1977, Habilitation 1986 ebd. Seit 1987 Konservator am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Territorialstaat und Kirchenregiment. Studien zur Rechtsdogmatik des Kirchenpatronatsrechts im 15. und 16. Jahrhundert (1987); Social and Economic Landscapes, in: Germany. A Social and Economic History, vol. 2: From the Thirty Years War to the Roots of Industrialization 1600–1800, hg. von S. Ogilvie/B. Scribner (1996), S. 1–38; Die Mechanisierung der organischen Substanz, in: Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, hg. von G. Neumann/H. J. Teuteberg/A. Wierlacher (1997), S. 336–355; MusIS – Chancen und Probleme großer Dokumentationsprojekte, in: Kulturgut aus Archiven, Bibliotheken und Museen im Internet – Neue Ansätze und Techniken (2004), S. 47–63. Florian Tennstedt, geb. 1943, seit 1996 Professor für Sozialpolitik an der Universität Kassel. Promotion Göttingen 1971. 1975 bis 1996 Professor für Jugend und Sozialrecht. Herausgeber der „Zeitschrift für Sozialreform“ und Mitherausgeber der „Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Sozialgeschichte der Sozialpolitik vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (1981); Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 3 Bde., mit Ch. Sachße, 1. Bd. (1980, 2. Aufl. 1998), 2. Bd. (1988); 3. Bd. (1992). Oliver Volckart, geb. 1964, seit 2003 Lecturer an der London School of Economics. Promotion Freie Universität Berlin 1995, Habilitation Jena 2000. 2001 bis 2003 Dozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Frühneuzeitliche Obrigkeiten im Wettbewerb (1997); Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung im vormodernen Deutschland, 1000 bis 1800 (2002).

Autorinnen und Autoren

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Rolf Walter, geb. 1953, seit 1991 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Jena. Promotion Universität Erlangen-Nürnberg 1982, Habilitation 1988 ebd. Mitherausgeber u. a. der „Scripta Mercaturae“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart (1995, 4. Aufl. 2003); Einführung in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1994); Zeiss 1905-1945 (2000). Heide Wunder, geb. 1939, seit 1977 Professorin für Sozial- und Verfassungsgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Kassel. Promotion Hamburg 1964. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland (1986); „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit (1992); Der andere Blick auf die Frühe Neuzeit. Forschungen 1974–1995 (1999). Wolfgang Zorn, geb. 1922, seit 1991 Professor emeritus an der Universität München. Promotion 1945 und Habilitation 1959 ebd. 1962 Professor für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn, 1967 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in der Staatswirtschaftlichen Fakultät München, ab 1974 in der Sozialwissenschaftlichen Fakultät und Mitdirektor des GeschwisterScholl-Instituts für Politische Wissenschaft. 1968 bis 1996 Mitherausgeber der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und seit 1990 der „Deutschen Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit“. – Ausgewählte Veröffentlichungen: Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648–1871. Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums (1961); Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. mit H. Aubin (1971–1976); Bayerns Geschichte im 20. Jahrhundert: von der Monarchie zum Bundesland (1986); Wirtschaftlich-soziale Bewegung und Verflechtung: ausgewählte Aufsätze (1992); Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, hg. mit G. Müller/H. Weigelt (2000–2002).

Anläßlich des 100. Geburtstags der VSWG

geschränkt – ja nachdrücklich empfehlens-

ziehen die Autoren eine umfassende Bilanz

wert.“

der sozial- und wirtschaftshistorischen For-

Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschafts-

schung. Sie zeigen Desiderate auf und

geschichte

untersuchen die wechselseitigen Beziehungen zu den Nachbarfächern.

„Der Spagat zwischen dem Charakter als Festschrift und dem einer Einführung in die Leistungen, Probleme und Aussichten der

Pressestimmen:

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gelingt fast immer, teils sogar sehr überzeugend …

„Der Band ist wegen seiner umfassenden

Der Band bietet viele anregende Beiträge

Repräsentativität, vor allem aber aufgrund

von beeindruckender inhaltlicher Fülle; er

vieler guter Übersichtsdarstellungen, die

wird zu Recht Beachtung und Verwendung

jeweils ein Gebiet griffig umreißen, unein-

finden.“

H-Soz-u.Kult

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 3-515-08771-0

9 7 83 5 1 5 087 7 1 1