SocialMania: Medien, Politik und die Privatisierung der Öffentlichkeiten 3515109501, 9783515109505

Kaum ein Medienthema polarisierte den gesellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre so nachhaltig wie die sozialen Medien

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
DIE META-NARRATIVE DES SOCIAL WEB EINE HINFÜHRUNG ZUM THEMA SOCIALMANIA
WARUM DAS SOCIAL WEB IN UNSERE ZEIT PASST
DIE ZUKUNFT DES EIGENSINNS
LOB DER FRAGMENTIERUNG DIE ÖFFENTLICHKEIT, DIE MASSENMEDIEN UND DAS INTERNET
PSEUDO-BETEILIGUNG ODER DEMOKRATIE ‚VON UNTEN‘? JUGENDLICHE UND PARTIZIPATION IM SOCIAL WEB
DER ENTFESSELTE SKANDAL DIE LOGIK DER EMPÖRUNG IM DIGITALEN ZEITALTER
MIT DEM INTERNET ZU MEHR TRANSPARENZ UND MITBESTIMMUNG – NOTFALLS DURCH DEMOKRATIE VON UNTEN
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SocialMania: Medien, Politik und die Privatisierung der Öffentlichkeiten
 3515109501, 9783515109505

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Petra Grimm / Michael Müller (Hg.) SocialMania

Herausgegeben von Rafael Capurro und Petra Grimm Band 13

Petra Grimm / Michael Müller (Hg.)

SocialMania Medien, Politik und die Privatisierung der Öffentlichkeiten

Franz Steiner Verlag

Umschlagfoto: Logo des SocialMania-Kongresses 2012, Gestaltung: Jonas Pavlicek Redaktion: Clarissa Henning Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10950-5 (Print) ISBN 978-3-515-10959-8 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Petra Grimm, Michael Müller Die Meta-Narrative des Social Web – Eine Hinführung zum Thema SocialMania..................................................................................7 Jan-Hinrik Schmidt Warum das Social Web in unsere Zeit passt ...................................................23 Gerhard Schulze Die Zukunft des Eigensinns ...........................................................................33 Stefan Münker Lob der Fragmentierung. Die Öffentlichkeit, die Massenmedien und das Internet ..............................................................................................43 Ulrike Wagner Pseudo-Beteiligung oder Demokratie ‚von unten‘? Jugendliche und Partizipation im Social Web ................................................49 Bernhard Pörksen, Hanne Detel Der entfesselte Skandal. Die Logik der Empörung im digitalen Zeitalter ......................................................................................65 Anke Domscheit-Berg Mit dem Internet zu mehr Transparenz und Mitbestimmung – notfalls durch Demokratie von unten .............................................................75

DIE META-NARRATIVE DES SOCIAL WEB EINE HINFÜHRUNG ZUM THEMA SOCIALMANIA Petra Grimm, Michael Müller

1 MEDIEN-UTOPIEN, MEDIEN-DYSTOPIEN Die Etablierung und Popularisierung neuer Medien löst seit jeher gesellschaftliche Diskurse aus, die sich nur zum geringen Teil auf die durch diese Medien kommunizierten Inhalte beziehen, sondern im Wesentlichen die Hoffnungen und Ängste thematisieren, die sich mit dem Gebrauch und der (erwarteten oder tatsächlichen) Dominanz dieser Medien im Prozess der Selbstverständigung der Kultur verbinden: Kurz – es ist immer vor allem ein Diskurs über positive oder negative Auswirkungen der Existenz und Nutzung dieser Medien. Historische Beispiele solcher Diskurse beginnen etwa bei Platons Kritik an der Schrift (vgl. Platon 2011), setzen sich über die Kritik am „Romanenlesen“ im 18. Jahrhundert (vgl. z. B. von UngernSternberg 1980) fort und begleiten auch im 19. und 20. Jahrhundert alle neu etablierten Medienformen wie die Fotografie, den Film, das Radio, das Fernsehen und natürlich auch das Internet. Insofern scheint also, frei nach Marshal McLuhan (1995), tatsächlich die pure Existenz eines neuen Mediums als Botschaft wahrgenommen zu werden, die – je nach Perspektive – zu ablehnenden oder affirmativen Reaktionen aufzurufen scheint. Diese Diskurse bedienen sich in verschieden starker Ausprägung zweier Typen von Zukunfts-Narrativen, die zu erwartende Auswirkungen des Mediengebrauchs in die Zukunft hinein erzählen, und zwar ein utopisches und dystopisches Narrativ. Platon zitiert im „Phaidros“ das utopische Narrativ, das er dem legendären Erfinder der Schrift, dem ägyptischen Gott Theuth in den Mund legt, nach dem die Schrift als „Arznei für Gedächtnis und Weisheit“ dienen könne. Das dystopische Narrativ, das Platon dagegen ins Feld führt, lässt jedoch durch die Schrift einen Verlust von Gedächtnisleistung und Weisheit befürchten. Bertolt Brecht hat in seinen Äußerungen über das Radio die Utopie eines demokratisch genutzten Radios, in dem Sender- und Empfängerrollen wechseln und gleichberechtigt an der Erstellung der Inhalte beteiligt sind, entwickelt und dieser Utopie die dystopische Variante des Radios als reines Verlautbarungsmedium der Mächtigen zur Seite gestellt (vgl. z. B. Helmes/Köster 2002: 148-154). Diese historischen Beispiele mögen hier genügen; festzuhalten bleibt, dass die utopischen und dystopischen Narrative, die sich an die jeweils neuen Medien knüpfen, meist gesellschaftlich-politisches Leben als Ganzes zum Thema haben: Wie gehen wir mit Wissen und Wissenserwerb um (Platon)? Wie können wir Macht und Partizipation organisieren (Brecht)? Auch die hinter der Lesekritik im 18. Jahrhundert stehende Dystopie thematisierte ja die gesellschaftli-

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che Frage, inwieweit sich vor allem junge Frauen (aus dem bürgerlichen Stand) durch das exzessive Lesen von Romanen in Schweinwelten flüchten und dadurch unfähig werden, ihre gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen. Auch der Diskurs über einen möglichen Bildungsverlust durch exzessiven Fernsehkonsum, wie ihn Manfred Spitzer („Vorsicht Bildschirm!“, 2005), aber auch Neil Postman („Das Verschwinden der Kindheit“, 1995) populär gemacht haben, basiert auf einem dystopischen Narrativ resp. negativen Wirkungskonzept der Medien. Wenngleich es nicht verwundert, dass auch zum Internet utopische und dystopische Narrative entstanden – z. B. überträgt Spitzer sein dystopisches Bildungsnarrativ auch auf das Internet unter dem Begriff „Digitale Demenz“ (Spitzer 2012) –, scheinen die Narrative des Internets dennoch tiefgreifender zu sein: Sie thematisieren nicht nur Auswirkungen auf das gesellschaftliche und politische Leben, sondern dessen vollständige Umgestaltung. Dies ist eine der Ausgangshypothesen, die dem an der Hochschule der Medien durchgeführten Kongress „SocialMania – Medien, Politik und die Privatisierung der Öffentlichkeit“ (Juni 2012) zugrunde lag und dessen wichtigste Vorträge in dem vorliegenden Band versammelt sind. 2 DIE GROSSEN ERZÄHLUNGEN Im Zusammenhang mit der Postmoderne wird ja häufig mit Jean-Francois Lyotard (2012) vom „Ende der großen Erzählungen“ gesprochen, also von auch in die Zukunft gerichteten Entwürfen, die Ziele für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen mit definierten: Das Paradies auf Erden, die klassenlose Gesellschaft, der Sieg über die Natur durch Wissenschaft und Technik, etc. Dies führte auch zu Francis Fukuyamas (1992) Formulierung vom „Ende der Geschichte“ als eines zielgerichteten Prozesses, an dessen Ende ein Heilsversprechen gleichgültig welcher Art stand. Die ‚großen Erzählungen‘ hatten immer auch eine utopische Dimension: Sie implizierten einen zukünftigen Zustand, den man herbeisehnte oder aber fürchtete, wie die zahlreichen negativen, dystopischen Narrative, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden sind und in Entwürfen wie denen von Orwell oder Huxley gipfelten, belegen. Sieht man sich die Erwartungen und Hoffnungen, die in den neunziger Jahren zunächst mit dem Internet allgemein und in den letzten zehn Jahren mit dem Web 2.0 bzw. Social Web verbunden werden, an, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich vielleicht so etwas wie eine neue große Erzählung im Prozess des Entstehens befindet, die sich rund um die kommunikativen Möglichkeiten des Webs dreht, ein neuer Mythos, der zu utopischen (oder dystopischen) Entwürfen führt. In der Geschichte des Internets waren seit seiner Popularisierung als World Wide Web vor allem drei Klassen solcher utopischer Narrative, immer begleitet von ihren dystopischen Facetten, in gesellschaftlichen Diskursen relevant.

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2.1 Wissensnarrative In der Frühphase des Internets, verstärkt dann ab der Etablierung des World Wide Web ab 1993/94, verbanden sich mit dem Netz Utopien bezüglich des Wissens: Endlich ist alles Wissen der Welt für alle zugänglich, es gibt keine Barrieren mehr, alles ist immer, überall und sofort verfügbar. Diese Utopie ist also die einer Demokratisierung des Wissens. Das fand auch seinen Ausdruck in neuen Lernkulturmodellen, wie sie zum Beispiel unter den Stichworten ‚E-Learning‘ oder ‚Blended Learning‘ konzipiert wurden und auch heute noch in Form der sogenannten MOOCs (Massive Open Online Courses) die Utopie eines Universitätsstudiums unabhängig von Ort und Zeit zu versprechen scheinen. Die Wissensutopien rund um das Internet Anfang der 1990er Jahre gingen jedoch über die Hoffung, Wissen werde nun für alle zugänglich, hinaus und postulierten eine neue Art von Wissen, ja Wissenschaft, die durch das Internet möglich sei; beispielhaft dafür kann etwa das von der Agentur Bilwet (1993) um den Medientheoretiker Geert Lovink postulierte Konzept einer „illegitimen Wissenschaft“ stehen, die gewissermaßen ein Gegenmodell zu der in den Hochschulen gepflegten „legitimen Wissenschaft“ aufstellten und somit nicht nur eine Demokratisierung des Wissens, sondern die Entstehung neuer Formen von Wissen postulierten, das gewissermaßen nach dem Lévy-Strauss’schen Modell der „Bricolage“ (2009) durch Neukombination und Transformation aus vorhandenem Wissen entstehe. Das Internet wird – vor allem, weil sich im Internet nicht nur gesellschaftlich institutionalisierte Spieler, sondern (fast) jedermann mit Wissensgenerierung beschäftigen kann – zu einer Parallel-Institution der Weiterentwicklung von Wissen zu den etablierten Institutionen wie Hochschulen und (klassischen) Medien. Als dystopische Ausprägung dieses Narrativs findet sich weit verbreitet der Mythos der Informationsflut und Überforderung, der sich ebenfalls bis in die gegenwärtigen Diskurse zieht. Demnach würden wir täglich mit unzähligen Informationen und Mitteilungen konfrontiert werden, die wir anscheinend nicht bewältigen können. Wir verlieren wegen der unüberschaubaren Menge jegliche Orientierung bezüglich der Relevanz oder Irrelevanz von Informationen und Botschaften und es bleibe kaum Raum mehr für Reflexion und Muße. Vor allem in Unternehmen wurden zahlreiche Konzepte und Seminare entwickelt, die den Mitarbeitern helfen sollten, mit dieser Flut an Informationen fertig zu werden. Zudem wurden in diesem Zusammenhang Möglichkeiten für Relevanzkriterien erdacht und auch Strategien der Nicht-Wahrnehmung von Informationen und Wissen als Lösung postuliert. Eine aktuelle, auch arbeitsrechtlich relevante Variante dieses Narrativs ist die gegenwärtige Diskussion über die ständige Erreichbarkeit oder Nicht-Erreichbarkeit von Mitarbeitern auch außerhalb ihrer Arbeitszeiten, was bei einigen Unternehmen ja auch schon zu einem Verbot der Weiterleitung dienstlicher E-Mails nach Feierabend geführt hat.

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2.2 Ökonomische Narrative Ab Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts beherrschte dann eine ökonomische Utopie den Diskurs: Das Internet wurde zum neuen Wachstumsmotor für die Weltwirtschaft ausgerufen. Einerseits entdeckte man es als Kanal zur Kundengewinnung und Distribution, andererseits und vor allem aber auch als Plattform für völlig neue Geschäftsmodelle. Man erinnert sich: Fast jeder noch so versponnenen Idee wurden die Investorengelder geradezu nachgeworfen, ganze ‚Kinderkreuzzüge‘ von spätpubertär-frühadoleszenten Gründern stürmten die Banken und die Büros potenzieller Venture Capitalists. In dieser Zeit wurde auch der Begriff der New Economy geprägt und damit auch auf ökonomischen Gebiet postuliert, es entstehe etwas völlig Neues, Andersartiges, das mit der herkömmlichen Old Economy nichts oder nur sehr wenig zu tun habe. Dieses Narrativ war auch insofern Utopie, als etwa die hohen Börsenwerte, die einige dieser Internetunternehmen erzielten, kaum durch Umsätze oder gar Gewinne gerechtfertigt waren; die Kraft des Narrativs war hier meist sehr viel größer als die der konkreten Zahlen. Viele der Jungunternehmer profitierten von dieser narrativen Kraft, indem sie ihr Unternehmen nach wenigen Jahren mit großen Gewinnen verkauften; den in den meisten Fällen darauf folgenden Niedergang mussten die Käufer abschreiben. Nur einigen wenigen in dieser Zeit gegründeten Unternehmen, wie etwa Google oder Amazon, gelang ein nachhaltiger Erfolg. Nach der Wirtschaftskrise Anfang des neuen Jahrtausends hatte die ökonomische Utopie des Internets zunächst an Überzeugungskraft verloren, erlebte aber eine Renaissance mit dem Social Web und einer neuen Gründungswelle, die bis heute anhält und immerhin zumindest die Lehre aus der ersten Phase der New Economy gezogen zu haben scheint, dass nicht jedes Versprechen schon ein Geschäftsmodell sei. Doch wie etwa der mehrfach überzeichnete Börsengang von Facebook und die darauf folgende Enttäuschung über die Entwicklung der Aktie zeigt, dass das ökonomische Narrativ in seiner utopischen Ausprägung noch immer die Kraft hat, ökonomische Potenz zu erzeugen. In ihrer dystopischen Ausprägung geht es beim ökonomischen Narrativ unter anderem um die Kommerzialisierung und Datafizierung der Privatsphäre, die mit dem Prozess der Digitalisierung einhergehen. Dieser Prozess impliziert Veränderungen, die tiefgreifend und unumkehrbar sind. Sie sind in ihren Auswirkungen vergleichbar mit den Umwälzungen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert. Mit dem Prozess der Digitalisierung verändern sich unser Alltag, unsere Arbeitswelt und unsere Beziehungen. Nach zehn Jahren Web 2.0 lässt sich rückblickend erkennen, dass sich die Rahmenbedingungen für die Privatsphäre verändert haben. Niemals zuvor war die potenzielle Zugänglichkeit zu persönlichen bzw. privaten Informationen größer. Dieser Transformationsprozess vollzieht sich nicht nur durch das seit 2004 etablierte sogenannte Web 2.0 bzw. Social Web, sondern auch durch die tief greifende Digitalisierung aller Gesellschaftssysteme. Einen weiteren Schub wird dieser Prozess durch das Internet der Dinge erhalten – also die Vernetzung physikalischer Objekte mit

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dem Internet, so dass Gegenstände selbstständig mit dem Internet kommunizieren können. Dabei sind die Unsichtbarkeit der Datensammler und deren Unkontrollierbarkeit wesentliche Merkmale, worauf Umberto Eco schon im Jahr 2000 in Venedig in seinem Vortrag „Verlust der Privatsphäre“ hinweist: Doch wenn der Große Bruder in Orwells Roman eine Allegorie auf ‚Väterchen‘ Stalin war, hat der Big Brother, der uns heute beobachtet, kein Gesicht und ist nicht nur einer, sondern die Gesamtheit der Ökonomie. Wie die Macht bei Foucault ist diese Wesenheit nicht mehr erkennbar, sie ist die Gesamtheit einer Reihe von Machtzentren, die das Spiel mitmachen und sich gegenseitig stützen, dergestalt, dass einer, der für ein Machtzentrum die Leute ausspäht, die in einem Supermarkt einkaufen, seinerseits ausgespäht wird, wenn er die Hotelrechnung mit einer Kreditkarte bezahlt. Wenn die Macht kein Gesicht mehr hat, wird sie unbesiegbar. Oder zumindest schwer kontrollierbar. (Eco 2007: 76)

Wenngleich systematische Diskursanalysen zu dem Narrativ des Verlusts der Privatheit im digitalen Zeitalter bislang noch kaum vorliegen, ist ersichtlich, dass nicht erst seit den Enthüllungen Edward Snowdens im Juni 2013 über die Überwachungsprogramme des US-Nachrichtendienstes National Security Agency (NSA) „Prism“ und des britischen Government Communications Headquarters (GCHQ) „Tempora“ vor allem in Technologiekreisen das Ende der Privatsphäre postuliert wird. Bereits 1999 empfahl Scott McNealy, Mitbegründer von Sun Microsystems: „Sie haben sowieso Null Privatsphäre, finden Sie sich damit ab!“ (Zit. nach Heuer/Tranberg 2013: 27) Auch die sogenannte Post-Privacy-Bewegung ist davon überzeugt, dass die Privatsphäre ein Auslaufmodell sei und setzt auf vollständige Transparenz. Datenschutz sei aufgrund der globalen Struktur des Internets, in der nationale Gesetzgebung nicht greife, und der „Kommunikationsbedürfnisse, Neugierden und Bequemlichkeiten [...] der Nutzer(innen)“ (Heller 2013: 2) nicht umsetzbar. Ein zunehmend an Popularität gewinnendes Narrativ ist Big Data, das im Diskurs über Überwachungstechnologien vor allem in netzpolitischen Kontexten, wie z. B. der re:publica 2014, aber auch zunehmend in den Feuilletons der Massenmedien auftaucht. Big Data steht als Sammelbegriff für solch „massive Datenmengen, die mit herkömmlichen Speicherungs- und Analysewerkzeugen nicht mehr zu bewältigen sind und in Terabytes oder Petabytes gemessen werden“ (Heuer/Tranberg 2013: 40f.). Das war der Anlass zur Entwicklung von Werkzeugen wie Google MapReduce oder Hadoop von Yahoo, mit denen gewaltige Datenmengen verarbeitet werden können – vor allem auch dann, wenn sie nicht bereits in Datenbanken strukturiert, sondern unstrukturiert vorliegen, wie es z. B. bei allen Daten aus sozialen Medien (Texte, Bilder, Videos) der Fall ist. So verwundert es auch nicht, dass die Internetanbieter schnell zu den führenden Anwendern dieser Werkzeuge wurden, da sie über die größten Datenmengen verfügen und ein finanzielles Interesse daran haben, aus den von ihnen gesammelten Daten einen möglichst großen Nutzen zu ziehen (vgl. Mayer-Schönberger/Cukier 2013: 13). Über eine intelligente Auswertung großer Datenmengen und die Kombination von Daten verschiedener Quellen können weitgehende Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Daten können zu beliebigen Zwecken genutzt werden – auch unabhängig davon, zu welchem

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Zweck sie einmal erhoben wurden –, z. B. um statistische Trends oder Beziehungen zwischen einzelnen Merkmalen (Muster) zu erkennen. Zu dieser dystopischen Diagnose lassen sich drei wesentliche Aspekte hinzufügen: Die Hybridisierung: Im Zuge der Mediatisierung unserer Gesellschaft haben sich sozial-kommunikative Praktiken herausgebildet, die die dichotomische Konstruktion von Privatheit und Öffentlichkeit ins Wanken bringen. Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit existiert im Social Web nur noch dem Schein nach. Und das eigentliche Problem des Datenschutzes sind die „kollabierenden Kontexte“ (Boyd 2008: 34), so dass private Daten nicht mehr selbstbestimmt kontrollierbar sind. Privacy paradox: Die Nutzer schätzen zwar allgemein den Schutz der Privatsphäre, sie handeln aber nicht entsprechend. In der Like-Economy geben die Kunden gegenüber den Eigentümern der Social Media ihre Privacy, auch noch durch die AGBs juristisch abgesichert, auf. So belegt auch eine aktuelle Studie zum Datenschutzverhalten in Bezug auf die Nutzung von Apps (mediaTestdigital 2013), dass das privacy paradox weiterhin besteht: „Trotz des eindeutigen Sicherheitsbewusstseins gibt es immer noch eine eindeutige Diskrepanz zum tatsächlichen Nutzerverhalten, wenn es um beliebte Social Apps wie Facebook oder WhatsApp geht. Denn mit 51% ist über die Hälfte der Befragten aufgrund von Datenschutzgründen nicht bereit, auf diese Apps zu verzichten“. Letztendlich könnte auch ein privacy divide entstehen: Bestimmte Nutzer bzw. Nutzergruppen sind hinsichtlich der Schutzmöglichkeiten ihrer Privatheit und der Folgenabschätzung ihres Handelns benachteiligt, sei es, weil sie nicht über eine entsprechende pivacy literacy verfügen oder es sich zukünftig nicht leisten können, Firmen für ihr Privacy Management zu engagieren. Schlussendlich postulieren diese dystopischen Ausprägungen des ökonomischen Narrativs eine Übernahme von Lebensbereichen wie dem des Privatlebens, die traditionell nicht von ökonomischen Wertsystemen bestimmt waren, durch ökonomische oder zumindest strukturell ökonomie-ähnlichen Wertsystemen. Wenn soziale Relevanz einer Person tendenziell durch die pure Zahl an ‚Freunden‘ in einem sozialen Netzwerk bestimmbar ist, so ist der ökonomische Wert der Quantifizierbarkeit von Qualitäten auch in soziale, ursprünglich nicht-ökonomische Sphären eingedrungen. Diskutiert wird zurzeit eine „Ökonomisierung der Wertesysteme“ (vgl. hierzu Grimm/Zöllner 2015) auch in Kontexten wie dem Bildungssystem, dem politischen System und in den Medien; inwieweit diese Diskurse auch mit den Internet-Narrativen zusammenhängen, soll hier nicht weiter vertieft werden. 2.3 Sozialpolitische Narrative Ab Anfang des Jahrtausends, etwa ab 2004, entstanden auch soziale bzw. politische Utopien: Das Narrativ einer neuen Politik- bzw. Demokratieform wurde mit dem Social Web, oft genannt Demokratie 2.0 oder Liquid Democracy, verknüpft. Diese – so die Idee – sei von der Transparenz politischer Akteure und Entscheidungen,

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basisdemokratischer Entscheidungsfindungen und breiter Beteiligung von Bürgern an politischen Diskursen über das Netz geprägt. Häufig wird spätestens seit dem arabischen Frühling 2010 auch der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass Social Media das Werkzeug sei, um autoritären Regimen ihre Legitimationsbasis zu entziehen und sie zum Sturz zu bringen. Diese utopische Ausprägung des sozialpolitischen Narrativs wird trotz der meist enttäuschenden Entwicklungen nach der ursprünglichen Aufbruchstimmung in den betreffenden Ländern noch immer als positives Beispiel genannt. Aber auch in Europa wurden und werden Modelle der Partizipation und einer ‚Demokratie von unten‘, die sich der Möglichkeiten der Soziale Medien bedient, entworfen. Die Erfolge der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 gaben diesem Diskurs Auftrieb. Auch wenn seither nicht zuletzt auch wegen der internen Querelen der Piratenpartei deren Politikmodell wieder an Strahlkraft verloren zu haben scheint, ist das Thema der Einbindung digitaler Medien und ihrer Verfahrensweisen inzwischen aus dem politischen, sozialen Diskurs und bis hinein in den der „digitalen Verwaltung“ (vgl. z. B. Hill/Martini/Wagner 2014) nicht mehr wegzudenken. Ein Beispiel für die dystopische Ausprägung des sozialen und politischen Narrativs findet sich im Diskurs über die sogenannte „Filter Bubble“ (Pariser 2011). Einer der Aspekte dieses Konzepts besagt, dass durch die Verlagerung der gesamten Kommunikation in die sozialen Netzwerke eine Fragmentierung der Gesellschaft entstehe, da es zunehmend keine gemeinsame Wissensbasis mehr gebe, sondern sich „digitale Fellowships“ untereinander und den eigenen Interessen und Vorstellungen entsprechend miteinander austauschen. Dadurch verschwinde zunehmend eine gemeinsame Wissensbasis und Konsensbildung der Gesellschaft, wie sie die klassischen Massenmedien zu garantieren scheinen. Auch wenn man diese Sichtweise für übertrieben hält, ist doch zumindest empirisch ersichtlich, dass die Communities zunehmend auch als Informationsquelle genutzt werden: „21 Prozent der Communitynutzer und damit jeder Fünfte von ihnen informiert sich mindestens einmal pro Woche in der Community über tagesaktuelle Themen. Dazu passend stimmen 20 Prozent der Aussage zu (voll und ganz/weitgehend), dass klassische Informationsportale wie spiegel.de, sueddeutsche.de, tagesschau.de und heute.de für sie stark an Bedeutung verlieren, da sie alle wichtigen Informationen auch innerhalb ihrer Community bekommen“ (Busemann 2013: 394). Kritisch wird des Weiteren die Dominanz einer emotionalisierten und moralisch aufgeladenen Kommunikation in Bezug auf politische Themen und Auseinandersetzungen gesehen. Raum für sachbezogene, argumentative Differenzierung würde in Communities, die Emotionen und Sentiments goutieren, nicht möglich sein. Ebenso werden die Phänomene Shitstorm und politische Fanpages hinsichtlich ihres Demokratiepotenzials im Diskurs der politischen Anti-Utopie kritisiert. Ein zweiter wesentlicher Strang des dystopischen politisch-sozialen Narrativs ist der der Überwachung von Privatpersonen, Politikern und Institutionen, der vor allem durch den NSA-Skandal Auftrieb bekommen hat. Das Internet, vor allem das Social Web, so kam vielen zu Bewusstsein, ist nicht nur eine Tür für den Einzelnen in die Öffentlichkeit und zu sozialer und politischer Partizipation, sondern sie funk-

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tioniert auch in die andere Richtung und wird zum Einfallstor klandestiner Überwachungsaktionen durch Geheimdienste, aber auch durch Unternehmen. Das Internet wird in diesem Narrativ zum ubiquitären Big Brother, der alles sieht und über Algorithmen auswertet. Auffallend ist, dass diese Dystopie trotz ihrer medialen Omnipräsenz außerhalb einzelner Gruppen von Netzaktivisten und Datenschützern kaum zu Protesten oder anderem politischen Handeln geführt hat; einen Großteil der Bevölkerung scheint das Risiko der Überwachung nicht weiter zu beunruhigen bzw. darin keinen Motivationsimpuls für ein politisches Engagement zu sehen. Sollte sich die Dystopie der Überwachung tatsächlich realisieren, wäre allerdings der Preis für das Individuum und die Gesellschaft ‚heiß‘: Wie bereits im Volkszählungsurteil erwähnt, kann die Tatsache der ständigen Datenerfassung zu Normierung und Selbstzensur führen, d. h., Menschen dazu veranlassen, sich in ihrem Verhalten einzuschränken, nicht aufzufallen bzw. sich an vermeintlich Normatives zu halten: „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.“ (Volkszählungsurteil) Sich nur stromlinienförmig zu verhalten und zu äußern bzw. die eigene Meinung zu verschweigen oder gar den Kontakt zu Menschen zu unterbinden, die sich politisch kritisch äußern, hätte fatale Folgen für eine auf Meinungsfreiheit und Autonomie begründete Demokratie. Es würde sich damit im digitalen Zeitalter eine selbstzensorische Schweigespirale in Gang setzen. 3 SOCIALMANIA Alle diese Zukunftsnarrative schwingen bei Diskursen über das Internet und speziell das Social Web immer noch mit; besonders virulent ist der über die sozialen und politischen Utopien. Diese haben wir daher zum thematischen Schwerpunkt des SocialMania-Kongresses gesetzt. Der von uns für den Titel geprägte Begriff SocialMania soll, pointiert ausgedrückt, das Phänomen eines übersteigerten sozialen Kommunikationsverlangens, das im digitalen Lebensraum des Social Web mehr oder weniger seine Befriedigung findet, beschreiben. Alles muss immer und überall kommuniziert werden. Positiv kann der Begriff aber auch darauf verweisen, dass den Menschen durch das Social Web erstmals in der Mediengeschichte die Möglichkeit gegeben wird, Inhalte mitzugestalten, am politischen Geschehen mitzuwirken und sich in einer vernetzten Gemeinschaft zu verorten. Verständlich ist, dass eine gewisse Aufregung über diese Entwicklung in der öffentlichen Diskussion besteht. Alles in allem lässt sich nicht selten ein SocialMania-Effekt konstatieren: Kommunikation ist ohne Social Media undenkbar – so scheint das neue Credo aller beteiligten Akteure, sei es im Marketing, in der Werbung, in der Unterhaltungsbranche, in den Medien und vor allem auch in der Politik zu sein. Den Begriff der Manie haben wir in Anlehnung an ähnliche Wortfügungen wie zum Beispiel Bibliomanie gewählt. Ja, gerade der Bibliomane war uns ein Modell: Jemand, der leidenschaftlich liest, exzessiv Bücher sammelt und dessen Leben zu einem wichtigen Teil von Büchern bestimmt wird, der aber auch etwas Liebenswer-

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tes hat: Immerhin ist es etwas, das wir als hohes Kulturgut schätzen, das den Bibliomanen so maßlos interessiert: Das Buch. Ähnlich, scheint es uns, verhält es sich auch bei der SocialMania: Einerseits entsteht der Eindruck, dass viele in unserer Gesellschaft von den Möglichkeiten des Social Web exzessiv Gebrauch machen und sich gar nicht mehr vorstellen können, ihren Alltag ohne ‚friends‘ bzw. ‚digital fellows‘ gestalten zu können. Andererseits ist Kommunikation und Rückkoppelung in komplexen gesellschaftlichen Systemen eine der Grundressourcen für gesellschaftliche Teilhabe und damit auch ein hoher Wert. Dieser Doppelcharakter der Manie ist schon in der etymologischen Herkunft des Begriffs angelegt: Mania bezeichnet im griechischen „Raserei, Wahnsinn, Tollheit“; dies geht wiederum auf das indoeuropäische „men“ zurück, das „denken, erinnern“ bedeutet (Kluge 1999: 537). Vielleicht ließe sich das Phänomen SocialMania demnach so interpretieren: als exzessive Kommunikation, die neue Denk- und Erinnerungsmuster hervorbringt und damit auch neue Konstruktionen der Realität impliziert. In dem Kunstwort SocialMania ist also sowohl der Ansatz zu utopischen wie zu dystopischen Zukunftsnarrativen angelegt, wie wir sie als die ganze Geschichte des Internets begleitend beschrieben haben. Einiger dieser Narrative werden auch – teilweise transformiert – in Verbindung mit dem Social Web wieder relevant: So zum Beispiel Wissensutopien im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten des ubiquitären Austausches von Inhalten, ökonomische Utopien nicht nur durch den Erfolg von Plattformen wie Facebook, sondern auch durch die neuen Möglichkeiten für Marketing und Targeting, die sich durch das Web 2.0 ergeben, sozial-politische Utopien durch die beschriebenen Hoffnungen auf neue Formen der politischen Partizipation. Daran anknüpfend möchten wir auf unserer Ansicht nach zentrale Punkte im Kontext von SocialMania etwas dezidierter eingehen: 1. Medien: Schon beim Kongress wurde unter anderem von Frank Schirrmacher1 festgestellt, dass ein Diskurs, wie er die Jahre vorher bestimmt hatte (ob es Soziale Netzwerke geben solle bzw. wie sinnvoll sie seien), nicht mehr geführt zu werden braucht: Social Media ist „in der Medienwelt angekommen“ und ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Medien- und Alltagsrealität nicht nur der jüngeren Generationen. Der Diskurs, der jedoch weitergeführt werden muss, ist der, was für ein Social Web wir haben wollen: Wie Schirrmacher ausführte, träume er von einem Tag, an dem viele Nutzer sich kollektiv dazu entschlössen, Facebook zu verlassen „und auf Plattformen zu gehen, die nicht vom Staat, aber von einer anderen Organisation treuhänderisch verwaltet ist und die garantiert, dass Daten dort nicht ausgewertet werden.“ Hinter diesem Wunsch stecken gleich mehrere Problematiken der real existierenden Sozialen Netzwerke, zumindest derjenigen, die über große Userzahlen verfügen. Einerseits ist dies die Frage danach, wer eigentlich diese Netzwerke kontrollieren solle. Hinter privatwirtschaftlich organisierten Netzwerken steht das Geschäftsmodell der Datenauswertung: „Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt“ bringt Jaron Lanier (2014) im Untertitel 1

Der Vortrag von Frank Schirrmacher konnte wegen seines Todes im Sommer 2014 leider nicht mehr in dieses Buch aufgenommen werden. Zu den Zitaten vgl. den Videomitschnitt seines Vortrags auf http://www.digitale-ethik.de/veranstaltungen/socialmania-2012/.

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seines aktuellen Buches die Relation zwischen Netzwerk und User auf den Punkt. Wie diese Relation sich im schlimmstmöglichen Fall entwickeln kann, beschreiben in jüngster Zeit erschienene literarische Dystopien, allen voran „The Circle“ von Dave Eggers (2013) oder „Zero“ von Marc Elsberg (2014), in denen Internetunternehmen das gesamte Leben ihrer User dominieren und in ihrem Sinne domestizieren. Eine zweite Frage ist natürlich die nach dem staatlichen Zugriff auf die Daten; seit dem NSA-Skandal dürfte diese Problematik offensichtlich sein. Und die dritte ist die des Ausgeliefertseins an ein Soziales Netzwerk, in dem – in bestimmten Peer Groups – nahezu alle sind: Studierende erzählen nicht selten, dass sie sich gezwungen fühlen, bei Facebook zu sein, auch wenn sie dies lieber nicht wären – denn abgesehen von privaten Einladungen, die sie nicht mehr mitbekommen würden, werde selbst Vorlesungsrelevantes über Facebook ausgetauscht. Schon deshalb müsste, um auf Schirrmacher zurückzukommen, der Umzug in ein neues, nicht kommerzielles und nicht staatlich kontrolliertes Netzwerk von einer relevanten Menge an Usern gleichzeitig geschehen. 2. Politik: Ein weiterer unabgeschlossener Diskurs um das Social Web behandelt die Frage, ob die sozialen Medien Werkzeuge dafür sein können, mehr politische Partizipation und politisches Engagement hervorzubringen, oder gar ein probates Mittel gegen eine ‚politische Malaise‘. Die sich damit verbindenden Utopien wurden oben im Kontext der Internet-Narrative angeführt; klar scheint zu sein, dass auch die Fragen zu diesem Diskurs noch nicht entschieden sind. Erwähnen möchten wir nur einen Aspekt, den kürzlich der Informatiker Sandro Gaycken in einem Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG genannt hat. Er kritisiert, dass bezüglich Partizipation immer nur die Möglichkeiten der Bürger erwähnt würden, aber die Augen vor denen der Vertreter (autoritärer) politischer Macht verschlossen würden: „Die politische Bildung und Meinung im Netz sind längst nicht mehr so frei, wie sie zu sein scheinen. Spätestens seit dem arabischen Frühling haben alle autoritären Regime der Welt das Problem der Informationsfreiheit im Internet angesehen und gelernt: Das Internet ist offen für Informationen von unten. Es ist aber auch offen für Informationen von oben, die so tun, als wären sie Informationen von unten. [...] Die sogenannte Gegenöffentlichkeit wird immer mehr zum Fake. Und gibt es genügend Falschmeldungen im Netz, gibt es auch bald den Vorwand für Zensur.“ (Gaycken 2014: 2) 3. Privatisierung der Öffentlichkeiten: Die Frage nach der Politik lässt sich ausweiten zur Frage nach einer möglichen Transformation des Gefüges von Öffentlichkeit und Privatheit insgesamt. Bereits erwähnt wurde der von Eli Pariser geprägte Begriff der „Filter Bubble“. Die Gefahr, die er dahinter sieht, geht einerseits von der Empfehlungsstrategie von Suchmaschinen wie Google, aber auch von anderen Dienste-Anbietern wie zum Beispiel Amazon aus: Wenn die Ergebnisse der Suche einer Person algorithmisch bestimmt werden durch ihre vorhergehenden Handlungen im Netz (man bekommt die Bücher empfohlen, die der Algorithmus auf der Basis früherer Bestellungen oder Suchen als dem eigenen Interessengebiet zugehörig einstuft), dann bleibt man in der ‚Blase‘ seiner Interessen, bekommt tendenziell nie die Chance, etwas völlig Neues zu entdecken. In ähnlicher Weise ent-

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stehen solche ‚Bubbles‘ auch durch die Kommunikationsstruktur innerhalb Sozialer Medien: Man empfiehlt sich in seinem digitalen Freundeskreis gegenseitig Inhalte und diskutiert diese. Eine kleine Umfrage bei unseren Studierenden hat ergeben, dass sehr viele von ihnen Leitmedien wie zum Beispiel den SPIEGEL (auch in seiner Online-Version), die FAZ oder SZ, nicht mehr als Gesamtmedium rezipieren, sehr wohl aber einzelne Artikel dieser Medien, die über Soziale Netzwerke empfohlen wurden. Anstelle einer Öffentlichkeit, die durch die Diskurse derjenigen Medien, die das Agenda-Setting verantworten, definiert wird, entstehen so zahllose kleine „Privat-Öffentlichkeiten“ (man verzeihe uns die widersprüchliche Formulierung), die über die Diskurse in Facebook-Fellowships entstehen. Das Problem, falls diese Diagnose zutrifft, ist dabei einerseits wie bei den Empfehlungs-Bubbles, dass so kaum neue, innerhalb eines Freundeskreises bisher nicht interessierende Themen in diese privatisierten Klein-Öffentlichkeiten gelangen, andererseits aber und vor allem, dass die für das Funktionieren einer Demokratie fundamentale gemeinsame Öffentlichkeit einer Gesellschaft sich fragmentiert und damit auflöst. Eine weitere Frage bezüglich der Öffentlichkeit(en) im Netz bezieht sich auf die Kommunikationsstruktur und -kultur in Sozialen Netzen wie Facebook: Wird hier überhaupt noch argumentativ diskutiert, oder beschränken sich (Meinungs-) Äußerungen zu bestimmten Themen im wesentlichen auf die binäre Entscheidung, ob man ein ‚Like‘ vergibt oder nicht. Welche Auswirkungen eine solche Entwicklung auf die politische Kultur hätte, kann man sich leicht vorstellen. Falls dieses Narrativ – ob es die dystopische oder die utopische Variante darstellt, hängt vermutlich von der Perspektive ab – Wirklichkeit werden sollte, würde SocialMania unsere politische Landschaft und unsere Gesellschaft fundamental und nachhaltig verändern, wie auch Frank Schirrmacher in seinem Vortrag bereits feststellte, dass „die digitalen Technologien weit über den klassischen Begriff von Medien hinausgehen und eine gesellschaftliche Realität werden, die bei meiner sozialen Kommunikation beginnt [...] und bei meinem Wahlverhalten endet.“ 4 DIE BEITRÄGE DIESES BANDES Die Beiträge der vorliegenden Publikation greifen einen Großteil der oben aufgeführten Narrative über die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Social Web auf. So nimmt Jan-Hinrik Schmidt in seinem Beitrag „Warum das Social Web in unsere Zeit passt“ sowohl sozialpolitische als auch ökonomische Narrative – insbesondere auf der Mikroebene der Akteure – in den Blick und zeigt auf, welche Gratifikationen das Social Web für die Alltagsbewältigung des Individuums bietet. Ein eigenes Kapitel widmet er der Frage, welche Relevanz der ethische Wert der informationellen Selbstbestimmung hat. Drei Aspekte arbeitet er dabei heraus: Informationelle Selbstbestimmung als normatives Konzept, als Praxis und als Kompetenz, die sowohl bestimmte „Fertigkeiten“ als auch Wissensbestände umfasst. Auf der systemischen Makroebene führt er seine Sicht auf das Narrativ der „Partizipation und Kontrolle“ bzw. Überwachung aus, das er als „Partizipationsparadox“ beschreibt: Einerseits würde das Social Web den Nutzern „Mittel an die Hand“ ge-

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ben, um „an gesellschaftlicher Öffentlichkeit teilzuhaben und etablierte Machtstrukturen der professionellen Kommunikation zu untergraben. Andererseits verschließen sich die Anbieter […] der Teilhabe und bauen stattdessen neue machtvolle Strukturen auf“. Um diese Entwicklung kritisch begleiten zu können, sollte sich aus Sicht des Autors die Gesellschaft am Leitbild der informationellen Selbstbestimmung orientieren. Während Schmidt mit seinem Aufsatz insbesondere die subjektbezogene Bedeutung des Social Web fokussiert, legt Gerhard Schulze in seinem Beitrag „Die Zukunft des Eigensinns“ das Augenmerk auf die kultursoziologische Bedeutung der Digitalisierung, die für ihn drei Aspekte umfasst: „das Gleichbleibende“, „das Unbekannte“ und das „Gesteigerte“. Medienrevolutionen stellen für Schulze einen Rahmenwechsel dar. Ausgelöst würden sie jedoch nicht durch die Technik, sondern durch den Wunsch nach Kommunikation und Horizonterweiterung, was er mit Rückgriff auf Michael Tomasello als kommunikatives „gemeinsames Wollen“ bzw. „geteilte Intentionalität“ beschreibt; dies sei das Gleichbleibende der kommunikativen Grundidee, die sich auch im Social Web artikuliere. Das Neue an der Digitalisierung identifiziert er als die „Steigerung des Darstellenkönnens“ und „der kommunikativen Autonomie“ der Nutzer. Der dritte Aspekt der Digitalisierung, der weniger offensichtlich, aber fundamental sei, weise auf einen „langfristigen kulturellen Lernprozess“ hin, der bereits auch frühere Medienrevolutionen wie die Einführung der Schrift und des Buchdrucks gekennzeichnet habe. So könne das Social Web als eine „Schule des Eigensinns“, die zur Kommunikation, Verantwortungsübernahme und Urteilsfähigkeit auffordere, interpretiert werden, wobei Netzkritik sinnvoll sei, um deren Potenzial realisieren zu können. Im Dreiklang mit Jan-Hinrik Schmidt und Gerhard Schulze steht Stefan Münkers Beitrag „Lob der Fragmentierung. Die Öffentlichkeit, die Massenmedien und das Internet“, insofern er ebenfalls mit dem Internet bzw. Social Web kein dystopisches Narrativ verbindet. In seinem Beitrag konzentriert er sich auf eine der zentralen Frage, die der SocialMania-Kongress aufgeworfen hat, nämlich inwieweit Medien ihre Funktion, in einer komplexen Gesellschaft ein öffentliches Bewusstsein herzustellen, noch erfüllen können, wenn es anstelle von einer Öffentlichkeit – einer res publica – viele, gewissermaßen in Gruppen privatisierte ÖffentlichkeitsParzellen gibt. Münkers Antwort basiert auf zwei Thesen: Erstens habe es Öffentlichkeit immer schon im „Plural“ gegeben und zweitens sei „die Pluralisierung von Öffentlichkeiten durch das Internet […] kein Nachteil, sondern ein Vorteil für eine demokratische Gesellschaft“. Erstere These führt er anhand (medien)historischer Befunde und der Diversifizierung der Massenmedien aus. So seien Massenmedien mittlerweile durch „eine hochgradige Zersplitterung in sozial divergierende und durch unterschiedlichste Interessen geleitete Partikularöffentlichkeiten“ gekennzeichnet. Zudem sei eine Konkurrenz massenmedialer versus digitaler Öffentlichkeit weder aus systemischer Perspektive noch aus Sicht der Mediennutzer sinnhaft. Sowohl die gemeinschaftsstiftende Funktion des Social Web als auch die „Vielfalt medialer Öffentlichkeiten“ stellen für Münker wesentliche Garanten einer funktionierenden Demokratie dar, so dass eine dystopische Sicht auf das Fragmentierungsnarrativ aus seiner Sicht hinfällig sei.

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Die drei folgenden Beiträge widmen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Blickrichtungen dem Narrativ der Partizipation. Den Fokus auf die TeilhabeChancen für Heranwachsende legt Ulrike Wagner mit ihrem Beitrag „Pseudo-Beteiligung oder Demokratie ,von unten‘? Jugendliche und Partizipation im Social Web“. Aus medienpädagogischer Perspektive schlüsselt sie dezidiert den Partizipationsbegriff auf, erläutert die Voraussetzungen für Partizipation und deren Formen in und außerhalb des Social Web. Partizipation stellt für sie keine abstrakte normative Größe dar, sondern ist zum einen Ausdruck medialer Alltagstätigkeiten, die an eine „souveräne Lebensführung“ gekoppelt sind, und fungiert zum anderen als Rahmen für die Identitätsentwicklung und gelingende Lebensbewältigung von Jugendlichen. Für die Entwicklung von Beteiligungsprojekten dienen insbesondere ressourcenorientierte Ansätze, da sie der Tatsache gerecht werden, dass die individuellen und strukturellen Voraussetzungen zur Partizipation für Kinder und Jugendliche nicht gleichermaßen gegeben sind. Für gelingende Partizipationsprojekte mit dem Social Web benennt sie drei zentrale Kriterien: Diese sollten sich an die „Aneignungs- und Handlungsweisen der Einzelnen in [deren] Sozialräumen orientieren“, „Resonanzräume“ ermöglichen und Unterstützung leisten, wobei hier zwischen Peer-to-Peer-Kontexten und medialen Unterstützungsangeboten zu differenzieren sei. Als Herausforderungen für medienpädagogische Beteiligungsprojekte identifiziert sie die „Individualisierungstendenzen im Medienhandeln“, „kommerzielle Entwicklungen im Social Web“, die Ambivalenz der Transparenz (einerseits Voraussetzung für Partizipation, andererseits Gefahr für die Kontrolle der Nutzer) und die „Entgrenzung von öffentlichen und privaten Sphären“. Die von ihr beschriebenen Ziele der medienpädagogischen Partizipationsarbeit – die Förderung der „Subjektwerdung von Individuen zur Übernahme gesellschaftlicher Mitverantwortung“, deren Fähigkeit zur „Selbstorganisation“ und „Selbstbestimmung“ – lassen sich als grundlegende ethische Orientierungsmaßstäbe erkennen und verweisen damit auf die Schnittmenge medienpädagogischer und medienethischer Perspektiven. Bernhard Pörksen und Hanne Detel analysieren in ihrem Beitrag „Der entfesselte Skandal. Die Logik der Empörung in digitalen Zeitalter“ eine weitere Facette des Partizipationsnarrativs – das Phänomen der digitalen Erregung und eskalierenden Kommunikation. Im Unterschied zum klassischen, in den Massenmedien lancierten Skandal, würde beim „entfesselten Skandal“ des digitalen Zeitalters eine Ausweitung der „Erregungszonen“ und eine Entkoppelung von den linearen und interaktionsarmen Massenmedien stattfinden. Bezeichnend für diese neue Skandalform, so lässt sich aus der vorliegenden Analyse der Autoren folgern, ist ein neues narratives Aktantenmodell (im Sinne von Algirdas Greimas)2: Als „Initiatoren und Enthüller“ (quasi als ‚Held‘) kann nun ‚everybody‘ fungieren, ‚nobodies‘ können ebenfalls zum Zielobjekt werden („Status, Prominenz und Macht sind keine Voraussetzung mehr für die effektive Skandalisierung“) und das Publikum wird „selbst zum Akteur“, indem es strukturell „als Taktgeber der Skandalisierungsprozesse“ 2

Vgl. zum Aktantenmodell von Algirdas Greimas in der deutschen Übersetzung Keller/Hafner 1990, S. 87.

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fungiere. Als weitere Kennzeichen beschreiben Pörksen und Detel die Erweiterung des skandalbezogenen Themenspektrums (nicht mehr nur öffentlich ‚relevante‘, auch private Narrationen können Gegenstand des Skandals sein) sowie die „radikale Demokratisierung der mediengestützten Enthüllungs- und Skandalisierungspraxis“. Am Beispiel der Köhler-Affäre führen sie detailliert aus, wie Blogosphäre und Massenmedien in ein „Wirkungsnetz“ der Skandalisierung verstrickt sind und de facto kommunikativ kooperieren. Mit dem Hinweis darauf, dass immer noch ein Mensch hinter dem digitalen „Werkzeug und dem Medium steht“, verweisen sie auch auf die Verantwortung der Nutzer und letztlich auf die Frage nach einem digitalen Ethos. Anke Domscheit-Berg plädiert in ihrem Beitrag „Mit dem Internet zu mehr Transparenz und Mitbestimmung – notfalls durch Demokratie von unten“ für eine „Demokratie 2.0“. Das heißt, hier wird mit dem Internet das Narrativ einer neuen Politik- bzw. Demokratieform verbunden und damit auf die politische Utopie, die seit Beginn des frühen 21. Jahrhunderts mit dem Netz verknüpft wird, verwiesen. Welchen Erfolg zivilgesellschaftliches Engagement via Social Web erzielen kann, zeigt sie anhand der durch Online-Protestaktionen erfolgten Verhinderung des ehemals (2009) geplanten Internetzugangserschwernisgesetzes sowie der Mobilisierung gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung und gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA). Auch die durch das Internet potenziell umfassendere Information über Politiker und deren parlamentarische Arbeit, die mehr Transparenz für Bürgerinnen und Bürger garantieren könne, wertet die Autorin positiv. Allerdings sieht sie durchaus noch weiteres Transparenzpotenzial, wie es z. B. die in den USA bestehende Plattform www.opencongress.org verspricht. Ebenso gelte es, die Informationsverbreitung durch Whistleblower zu unterstützen und mehr Transparenz bei Behörden oder der Umsetzung von Großprojekten durch zivilgesellschaftliche Aktionen zu erwirken und das Social Web für Gesetzgebungsverfahren bzw. -initiativen zu nutzen. „Demokratie von unten“ lasse sich in der digitalen Gesellschaft durch Vernetzung, Mobilisierung und aufklärende Information mittels der digitalen Werkzeuge mehr als je zuvor realisieren. Diese damit verbundene politische (Meinungs-)Macht bedürfe allerdings auch eines Verantwortungsbewusstseins, um sie sinnvoll zu nutzen. 5 DANKSAGUNG Das Thema des Kongresses wurde im ThinkTank der Hochschule der Medien zusammen mit Studierenden des Masterstudienganges Elektronische Medien entwickelt. In diesem Zusammenhang wurden Szenarien zur Zukunft der Medien erarbeitet und die mit dem Social Web verbundenen utopischen bzw. dystopischen Narrative hinterfragt. Allen Studierenden, die im ThinkTank mitgearbeitet und den Kongress inhaltlich, konzeptionell und organisatorisch vorbereitet und begleitet haben, möchten wir an dieser Stelle herzlich danken.

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WARUM DAS SOCIAL WEB IN UNSERE ZEIT PASST Jan-Hinrik Schmidt

1 EINLEITUNG Das Internet hat sich seit Mitte der 1990er Jahre gesellschaftlich etabliert und wird inzwischen von etwa drei Vierteln der deutschen Bevölkerung genutzt (vgl. van Eimeren/Frees 2012). Aufgrund der hohen technologischen Dynamik sind innerhalb dieses vergleichsweise kurzen Zeitraums buchstäblich unzählige Dienste, Plattformen und Angebote entstanden und wieder vergangen, sodass sich auch die Praxis der Internetnutzung kontinuierlich gewandelt hat. Seit einigen Jahren sprechen wir vom Web 2.0, vom Social Web oder den sozialen Medien und beschreiben damit einen Teil des Internets, der in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem durch große Plattformen wie Facebook, YouTube, Wikipedia oder Twitter geprägt ist. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die technischen Hürden senken, Inhalte und Informationen aller Art verfügbar zu machen und soziale Beziehungen zu pflegen oder neu zu knüpfen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das Social Web mit Phänomenen wie dem Bedeutungsverlust von Experten (vgl. Keen 2008) genauso verbunden wie mit einer Erosion der Privatsphäre (vgl. Gaschke 2009). Gleichzeitig wird aber auch anerkannt, dass soziale Medien eine wichtige Rolle bei Demokratisierungsprozessen spielen (vgl. Russell 2011) oder neue Formen der Kollaboration und des unentgeltlichen Austauschs von Wissen ermöglichen (vgl. Pscheida 2010). Dieser Beitrag kann und will nicht die grundlegende Frage klären, ob das Social Web nun unter dem Strich positive oder negative Folgen für unsere Gesellschaft hat. Angesichts der Formbarkeit von Medientechnologien, die ja immer in konkreten Situationen für spezifische Kommunikationsbedürfnisse eingesetzt werden und deswegen keine inhärent-determinierende technische Logik besitzen, wäre dies ohnehin ein unmögliches Unterfangen. Stattdessen soll es hier um die Frage gehen, inwiefern das Social Web in unsere Zeit passt. Anders ausgedrückt: Was zeichnet das Social Web, seine Nutzung und die daraus erwachsenden Folgen für Individuum und Gesellschaft aus, und wie sind diese Merkmale mit breiteren gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart verbunden? Die folgenden Abschnitte geben drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Antworten. Abschnitt 2 argumentiert, dass das Social Web Praktiken unterstützt, die bei der Bewältigung des Alltags in der Gegenwartsgesellschaft behilflich sind. Abschnitt 3 zeigt, dass uns das Social Web auch die Wichtigkeit informationeller Selbstbestimmung verdeutlicht, und zwar als zentrale Norm, Praxis und Kompetenz in Gegenwartsgesellschaften. Abschnitt 4 schließlich diskutiert die ‚demokratische Frage‘ des Social Web, also das spannungsreiche Verhältnis zwi-

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schen Partizipation und Teilhabe einerseits und Kontrolle und Fremdbestimmung andererseits. 2 SOZIALE MEDIEN UND IHRE PRAKTIKEN Das Label Social Web vereint eine Reihe von unterschiedlichen Gattungen oder Genres der onlinebasierten Kommunikation (vgl. Schmidt 2011: 25ff.): Netzwerkplattformen wie Facebook oder XING, Multimedia-Plattformen wie YouTube oder Flickr, Werkzeuge des ‚Personal Publishing‘ wie Blogs oder Twitter oder auch Wikis wie die Wikipedia oder das „GuttenPlag“-Wiki. Sie sind nicht nur unterschiedlich weit verbreitet (vgl. Busemann/Gscheidle 2012), sondern haben auch sehr unterschiedliche technische Grundlagen und Funktionsweisen, sodass sie für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden können. Dennoch lassen sich aus kommunikationssoziologischer Perspektive eine Reihe von Gemeinsamkeiten identifizieren, die sich auf die grundlegenden Nutzungspraktiken beziehen (vgl. Paus-Hasebrink/ Schmidt/Hasebrink 2009, Schmidt 2011: 73ff.). Auf jeweils eigene Art und Weise unterstützen die Anwendungen des Social Web drei miteinander verbundene Nutzungsweisen: 1. das Identitätsmanagement, also all diejenigen Handlungen, mit denen Menschen online bestimmte Aspekte ihrer eigenen Person für andere zugänglich machen können, seien es persönliche Vorlieben und Erlebnisse, berufliche Erfahrungen und Kompetenzen oder politische Meinungen, aber auch personenbezogene Daten wie Geburtsort oder Geschlecht. Neben textbasierten Angaben, z. B. Einträge im Profil auf Facebook oder dem eigenen Weblog, gehören auch Fotos oder Videos, in denen sich ein Nutzer zum Beispiel als Mitglied einer bestimmten Subkultur o. Ä. inszeniert, zum Identitätsmanagement (vgl. Astheimer/NeumannBraun/Schmidt 2011). 2. Das Beziehungsmanagement besteht aus allen Nutzungsweisen, mit denen Menschen bereits bestehende Kontakte zu anderen Menschen pflegen oder auch neue Beziehungen aufbauen – zum Beispiel zu Personen mit ähnlichen Hobbies oder Interessen – oder auch im Sinne des beruflichen Networkings. Es beruht zum einen auf Kommunikationsmöglichkeiten wie Mail- oder Chatfunktionen, die auch in anderen Bereichen der Online-Kommunikation existieren. Das Social Web führt zum anderen aber auch neue Kommunikationsformen ein, insbesondere in den „persönlichen Öffentlichkeiten“ (s. u.). Zudem beruht das Beziehungsmanagement im Social Web in aller Regel darauf, dass Menschen ihre sozialen Beziehungen explizit machen, also andere Personen als Kontakt auf einer Netzwerkplattform bestätigen oder zum Follower auf Twitter werden. Dies verlangt ein im buchstäblichen Sinne ‚Management von sozialen Kontakten‘, was auch mit potenziell folgenreichen Entscheidungen einhergehen kann: Wie geht man beispielsweise mit Kontaktanfragen von Unbekannten um oder mit Anfragen von Bekannten, die man aber nicht zu seinen Freunden zählt (vgl. Adelmann 2011)? 3. Das Informationsmanagement schließlich meint all diejenigen Nutzungsweisen, mit denen Menschen Informationen (im weiten Sinne verstanden und Da-

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ten genauso wie Wissens- oder Kulturgüter umfassend) erstellen, filtern, auswählen, alleine oder mit anderen bearbeiten, teilen, weiter verbreiten, etc. Es äußert sich zum Beispiel in der Recherche zu Themen mit Hilfe von Google, im Bearbeiten eines Artikels in der Wikipedia, im Bewerten eines Videos auf YouTube oder eines Pinnwandeintrags auf Facebook mit „Gefällt mir“ oder im Abonnieren des RSSFeeds einer Online-Nachrichtenseite. In vielen Fällen dienen die individuellen Handlungen dem Auffinden, Selektieren und Filtern von relevanten Informationen. Die dabei hinterlassenen Datenspuren können allerdings wiederum aggregiert und für andere Nutzer sichtbar gemacht werden, sodass auf kollektiver Ebene neue Ordnungsstrukturen von Informationen entstehen (vgl. Weinberger 2007). Diese Praktiken bedienen sich der medientechnischen Grundlage des Internets, seiner Werkzeuge und Kommunikationsräume, ohne allerdings darauf beschränkt zu sein. Anders als noch in der Frühphase seiner gesellschaftlichen Verbreitung unterstellt, ist das Internet kein ‚Cyberspace‘ bzw. keine ‚Virtual Reality‘, das vom ‚echten Leben‘ abgetrennt wäre. Vielmehr ist die Nutzung des Internets in vielfacher Weise mit dem Alltag verwoben, und die oben differenzierten Nutzungspraktiken erlauben es auch, diese Verwobenheit näher zu spezifizieren. Denn das Identitätsmanagement im Social Web ist Bestandteil der übergeordneten Praxis der Selbstauseinandersetzung, mit der Menschen (für sich und andere) die Frage bearbeiten, wer sie sind bzw. wer sie sein möchten. Dabei mag es – je nach Plattform und je nach Nutzer – unterschiedliche Grade der Inszenierung wie auch der Selbstoffenbarung geben, doch generell gilt gerade auf den Netzwerkplattformen wie Facebook das Leitbild der Authentizität: Man erwartet voneinander, nicht als Fake aufzutreten und nicht über die eigene Person und Kommunikationsabsichten zu täuschen. Das Beziehungsmanagement hingegen hilft Menschen bei der Sozialauseinandersetzung, also der Verortung im sozialen Raum, dem Erkennen der eigenen Position in der Gesellschaft, in einer Subkultur, Lebenslage oder Szene. Nur selten geht es dabei um die Kommunikation mit komplett Fremden; auf den meisten Plattformen des Social Web setzen sich Menschen zueinander in Beziehung, die sich auch aus anderen Bereichen ihres Lebens kennen oder die zumindest bestimmte Interessen teilen. Das Informationsmanagement schließlich ist Teil der Sachauseinandersetzung, mithin der generellen Orientierung in der Welt. Auch hier ist der direkte Bezug zum ‚echten Leben‘ gegeben, denn wir können über die Wikipedia, Twitter oder Facebook Informationen finden und verbreiten, die sich auf politische Ereignisse, berufliche Gelegenheiten, Freizeiterlebnisse oder auch persönliche Gedanken und Gefühle beziehen. All diese alltäglichen Praktiken werden nicht ausschließlich, aber eben auch mit Hilfe des Social Web ausgeübt, dessen Kommunikationsräume und Informationswelten dadurch für den Einzelnen hochgradig real sind. Sie unterstützen Menschen darin, sich in einer Gesellschaft zu bewegen und zu verorten, die von „vernetzter Individualität“ (vgl. Wellman et al. 2003) gekennzeichnet ist: Der MetaProzess der ‚Individualisierung‘ hat über Jahrzehnte und Jahrhunderte dazu geführt, dass der Einzelne in die Lage versetzt wurde (und dem Zwang unterliegt), seine eigene, unverwechselbare Identität zu finden und zu leben. Zugleich haben traditi-

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onelle gemeinschaftliche Formen der sozialen Organisation wie die dörfliche Gemeinschaft oder auch die großen gesellschaftlichen Milieus (z. B. das Arbeitermilieu oder das katholische Milieu) an Bedeutung verloren. Stattdessen ist das Netzwerk zu einer Leitfigur der sozialen Organisation unserer mediatisierten Gesellschaft geworden (vgl. Castells 2001, Krotz 2007): Aufgrund fortschreitender Ausdifferenzierung von sozialen Zugehörigkeiten sind Menschen in flexiblere und teilweise zeitlich begrenzte soziale Beziehungsgeflechte eingebunden. Gestiegene räumliche Mobilität und die Auflösung von vormals deutlichen Rhythmen zwischen Arbeitszeit und Freizeit haben dazu geführt, dass Menschen tendenziell ständig für unterschiedliche Bezugspersonen bzw. -gruppen erreichbar sind. Diese Entwicklungen in der Grundstruktur moderner Gesellschaften, gepaart mit einer stetigen Zunahme verfügbarer Informationen, lassen Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement zu Schlüsselpraktiken werden, um sich in der Welt zu verorten und zu orientieren. Das Internet hilft also einerseits, mit diesen Anforderungen umzugehen, bestärkt andererseits aber auch ebendiese Entwicklungen. 3 PPREKÄRE INFORMATIONELLE SELBSTBESTIMMUNG Die gesellschaftlichen Folgen des Social Web lassen sich an weiteren Entwicklungen zeigen, die aus dem Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement folgen. Denn dadurch, dass eine Vielzahl von Menschen unter spezifischen medientechnischen Bedingungen Aspekte der eigenen Person zugänglich macht, dabei soziale Beziehungen pflegt oder knüpft, und sich mithilfe der so artikulierten sozialen Beziehungen auch in den Informationsumgebungen orientiert, entsteht ein neuer Typ von Öffentlichkeit. Er lässt sich als persönliche Öffentlichkeit beschreiben und ist durch drei wesentliche Unterschiede gegenüber den journalistisch-massenmedialen Öffentlichkeiten charakterisiert (vgl. im Folgenden ausführlich Schmidt 2011: 107ff.): Erstens gilt in persönlichen Öffentlichkeiten das Kriterium der persönlichen Relevanz bei der Selektion von Informationen, nicht notwendigerweise das Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz, das der Journalismus anlegt. Zweitens besteht das (intendierte) Publikum in persönlichen Öffentlichkeiten aus Personen, mit denen man in (freundschaftlicher, kollegialer, familaler etc.) Beziehung steht, während journalistische Massenkommunikation ein verstreutes, untereinander unverbundenes und in der Regel deutlich größeres Publikum adressiert. Daraus folgt schließlich drittens, dass in persönlichen Öffentlichkeiten ein anderer Kommunikationsmodus dominiert, nämlich das Konversation betreiben im wechselseitigen Austausch und Dialog. Journalistische Öffentlichkeiten sind hingegen durch den Kommunikationsmodus des Publizierens gekennzeichnet. Prototypisch lassen sich persönliche Öffentlichkeiten auf Netzwerkplattformen wie Facebook finden, aber auch andere Social-Web-Angebote wie Twitter, Blogs oder auch YouTube stellen einen kommunikativen Rahmen – bestehend aus technischen Features und entsprechenden sozialen Routinen und Erwartungen – bereit, der diesen neuen Typ von Öffentlichkeit fördert. Sie kennen keine so strikte Tren-

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nung zwischen Sender- und Empfänger-Rolle, wie sie die Massenkommunikation kennzeichnet. Nutzer teilen ja gerade deswegen Erlebnisse, Eindrücke, Meinungen oder Inhalte mit ihrem erweiterten sozialen Netzwerk, um Antworten und Einschätzungen, aber auch Anerkennung und so das Gefühl der sozialen Einbettung zu erhalten. Gleichzeitig verfolgen sie diejenigen Informationen, die ihre eigenen Kontakte für mitteilenswert halten und können selbst darauf reagieren. Die so geteilten Informationen sind nicht mehr nach der Logik von abgrenzbaren Ausgaben oder Sendungen gebündelt, sondern erreichen den Nutzer als kontinuierlicher Strom von Informationen aus dem eigenen sozialen Netzwerk, der beständig aktualisiert wird. Diese Informationsströme sind nicht beliebig, sondern vielmehr hochgradig personalisiert – denn jeder Nutzer hat seine ganz eigene Kombination an sozialen Kontakten – und genau dadurch auch relevant für den Einzelnen, den mit seinen Kontakten ja etwas verbindet. Neben den Äußerungen von Laien können auch Informationen in diese persönlichen Öffentlichkeiten eingehen, die von professionellen Kommunikatoren bereitgestellt werden. Eine wachsende Zahl von Politikern und Parteien, Marketing- und PR-Kräften genauso wie von journalistischen Medien sind im Social Web aktiv oder bieten zumindest Schnittstellen, um ihre Botschaften in die persönlichen Öffentlichkeiten einzuspeisen. Dort können sie kommentiert, bewertet und weiter verbreitet werden, sodass die Nutzer als Filter bzw. Multiplikatoren für gesellschaftlich relevante Themen agieren, die sie in ihre eigenen sozialen Netzwerke einspeisen. Diese sich neu herausbildende Medien- und Akteurskonstellation beeinflusst nicht nur die Struktur gesellschaftlicher Öffentlichkeit, sondern ist auch hochgradig relevant für Fragen nach Datenschutz und Privatsphäre: Das Social Web verändert die Art und Weise, wie Menschen personenbezogene Daten und Informationen zugänglich machen, berühren also den Kernbereich der informationellen Selbstbestimmung. Dieses Prinzip, das in den 1980er Jahren im Zuge der Volkszählungsdebatten vom Bundesverfassungsgericht geprägt wurde (vgl. Papier 2012), hat im Social Web eine dreifache Bedeutung: Erstens ist informationelle Selbstbestimmung ein normatives Konzept, an dem sich das Handeln unterschiedlicher Akteure orientieren soll und muss. Es ist Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung, sodass auch im Social Web die Kontrolle einer Person gewährleistet sein soll (1) über die von ihr selbst mitgeteilten Daten, (2) über die sie betreffenden Daten, die andere Nutzer preisgeben sowie (3) über die Daten, die Betreiber etc. sammeln. Es ist in zahlreichen weitergehenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen und Regelungen spezifiziert (vgl. Heckmann 2012), umfasst aber auch geteilte (wenngleich ungeschriebene) soziale Normen und Konventionen. Auch sie rahmen das Handeln im Social Web, weil sie ausdrücken, was (sub-)kulturell als gewünschtes oder akzeptables Verhalten in Bezug auf Preisgabe oder Kontrolle von Informationen über eine Person erwartet wird. Informationelle Selbstbestimmung lässt sich zweitens aber auch als eine Praxis verstehen, die in konkreten Situationen ausgeübt wird: Nutzer des Social Web, die sich in den vernetzten persönlichen Öffentlichkeiten bewegen, betreiben informationelle Selbstbestimmung, und zwar mehr oder weniger kompetent, reflektiert, evtl.

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auch scheiternd. Man muss die ausgeübte Praxis in den Blick nehmen, um privatsphärerelevante Handlungen jenseits von (und unter Umständen auch in Widerspruch oder Abweichung von) rechtlich-sozialen Normen zu erfassen, auch um ein Gespür für mögliche langfristige Veränderungen im Verständnis von Privatsphäre und informationeller Selbstbestimmung zu erfassen (vgl. Heller 2011). Und schließlich ist informationelle Selbstbestimmung drittens eine Kompetenz, also etwas, das man können muss bzw. sollte. Menschen benötigen bestimmte Fertigkeiten (z. B. über den Umgang mit Privatsphäre-Einstellungen) und bestimmtes Wissen (z. B. über die mittel- und langfristigen Konsequenzen des eigenen informationsbezogenen Handelns), um ihr Recht auf Privatheit überhaupt wahrnehmen zu können und im Sinne einer informierten Einwilligung (unter Kenntnis von Umfang und Zweck) einer Verarbeitung der eigenen Daten zuzustimmen oder diese abzulehnen. Zudem berührt diese Vorstellung von informationeller Selbstbestimmung als Kompetenz die „informationelle Autonomie“ (vgl. Kuhlen 2004: 157ff.), die eine Person in die Lage versetzt, eine freie Wahl von Quellen und Kommunikationsräumen vorzunehmen, um die eigenen Handlungsziele zu erreichen. 4 PARTIZIPATION UND KONTROLLE Das Social Web hat Hoffnungen erneuert und bestärkt, die bereits in früheren Phasen des Internets an die neue Medientechnologie geknüpft wurden: Es könne demokratisierend wirken, weil es marginalisierten Stimmen Gehör verschaffe, Machtmonopole breche und politische Prozesse transparenter mache (vgl. Schrape 2010; Schmidt 2012). In den letzten Jahren gab es zahlreiche Ereignisse und politische Debatten, in denen Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter oder Blogs eine wichtige Rolle spielten: Über Blogs können Dissidenten in China oder Kuba eine Gegenöffentlichkeit schaffen, während über YouTube Demonstrationen oder staatliche Übergriffe in autoritären Regimen dokumentiert und für ein weltweites Publikum zugänglich gemacht werden können. Im Iran 2009 („Twitterrevolution“) und zuletzt im arabischen Frühling („Facebookrevolution“) dienten Internetplattformen sogar als Namensgeber für politische Proteste und sozialen Wandel. Innerhalb von Deutschland hingegen hat sich die Piratenpartei als politische Formation etabliert, die zum einen das Internet ganz selbstverständlich als Instrument der internen (aber offenen) Willensbildung und Mobilisierung nutzt. Zum anderen steht sie dafür, das dem Internet innewohnende Transparenz- und Partizipationsversprechen auf möglichst alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu erweitern (vgl. Bieber/Leggewie 2012). Nun werden allerdings Infrastruktur und Regeln gerade der besonders populären Social-Web-Angebote wie Facebook, YouTube oder Twitter von einigen wenigen global agierenden Unternehmen bereitgestellt und gestaltet. Diese haben letztlich immer ein kommerzielles Interesse, sodass eine grundlegende Spannung zwischen den partizipativen Potenzialen und Verheißungen des ‚Mitmachwebs‘ einerseits (vgl. zur folgenden Dreiteilung von Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung: Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011) und den ihm zugrundeliegenden

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Strukturen von Kontrolle, Einhegung und Ausbeutung von Nutzeraktivitäten andererseits existiert. Zwar ermutigen die Betreiber zu Mitwirkung, weil der Wert einer Social-Web-Plattform in der Regel erst aus den Nutzeraktivitäten resultiert: persönliche Informationen und Status-Updates, Fotos und Videos, explizit gemachte soziale Beziehungen und Interaktionsnetzwerke. Die Plattformbetreiber treten hier augenscheinlich ‚nur‘ als Mittler auf, lassen sich faktisch aber oft weitreichende Rechte an den Daten einräumen und behalten sich auch vor, bestimmte Inhalte zu sperren. Dies verweist auf eine zweite Facette von Partizipation: Nutzer können in gewissem Rahmen durchaus Mitbestimmung ausüben. Sie haben zum Beispiel Möglichkeiten, ihr eigenes Profil anzupassen und zu personalisieren, oder sind in der Lage, bei der Moderation oder Kontrolle von Inhalten mitzuhelfen. Gerade auf Plattformen wie YouTube oder Facebook sind die Rückmeldungen von Nutzern sogar unverzichtbarer Bestandteil der Kontrolle von nutzergenerierten Inhalten, denn aufgrund der schieren Menge kann keine vollständige redaktionelle (Vor-) Prüfung stattfinden. Die community tritt also an die Seite der Algorithmen und technischen Filtersysteme, um anstößige, extremistische, gewaltverherrlichende oder anderweitig problematische Inhalte zu identifizieren. Zugleich ist diese Form der Teilhabe aber wiederum eine Form der unentgeltlichen Arbeit, die in der Funktionsweise einer Plattform einkalkuliert ist und ihren Wert steigert. Die weitestgehende Form von Partizipation ist schließlich drittens die Selbstbestimmung, verstanden als eigenverantwortliches Gestalten von Strukturen und Regeln. Sie ist bei den großen Social-Media-Plattformen nicht vorgesehen, denn als Nutzer begibt man sich in ein Vertragsverhältnis zu den Anbietern, das man mit den Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Terms of Service akzeptiert. Diese sind von Nutzerseite her nicht verhandelbar, mehr noch: Aufgrund ihrer Komplexität und Konditionen sind sie für die meisten Menschen noch nicht einmal durchschaubar. Als Nutzer kann man Leistungen einer Plattform kostenfrei in Anspruch nehmen, wenn man im Gegenzug Daten und Aufmerksamkeit liefert. Diese wiederum werden vor allem gegenüber Werbetreibenden vermarktet, sodass man zynisch formuliert noch nicht einmal Kunde von Facebook und anderen Plattformen ist, sondern das Produkt. Weil Mechanismen der Nutzeranhörung oder der Abstimmung zwischen unterschiedlichen Varianten der Gestaltung einer Plattform, wenn überhaupt, dann nur rudimentär vorhanden sind, bleibt oft nur das Verlassen einer Plattform, wenn man mit bestimmten Änderungen oder Verfahrensweisen nicht einverstanden ist. Dies kann allerdings mit erheblichen Entbehrungen verbunden sein, denn zumindest in bestimmten Altersgruppen oder Szenen ist die Präsenz auf einer Netzwerkplattform wie Facebook derzeit unerlässlich, um sich nicht sozial zu isolieren. Und selbst wenn man sich zum Verlassen einer Plattform entschieden hat, kann man die dort hinterlegten Daten des eigenen Profils und Kontaktnetzwerks nicht zu einem anderen Konkurrenznetzwerk transferieren. Dies verweist auf das Problem, dass Anbieter von Social-Media-Plattformen über eine immense Fülle an Daten verfügen. Sie umfassen nicht nur die im engeren Sinne personenbezogenen Informationen, sondern auch solche Daten, die eher beiläufig und für den Nutzer möglicherweise unbemerkt anfallen, wie Interessen, Ak-

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tivitäten und räumliche Bewegung. Hinzu kommen die Informationen über die soziale Verortung einer Person im Geflecht einander überlappender Beziehungs- und Interaktionsnetzwerke. Aufgrund von basalen sozialpsychologischen Prozessen wie der Homophilie – tendenziell gruppieren sich Menschen mit ähnlichen anderen Personen – lassen sich aus den Daten zu Verhalten und Beziehungsgeflecht auch relativ treffsichere Vorhersagen über zukünftige Präferenzen oder Verhalten machen (vgl. Rieger/Kurz 2011). Was aus Sicht von Marketing und Persuasionskommunikation ungeahnte Möglichkeiten für zielgerichtete, personalisierte Ansprache und Werbung eröffnet, ist aus Sicht der oben skizzierten informationellen Selbstbestimmung ein Albtraum. Digitale vernetzte Technologien eignen sich eben auch zur Überwachung und zur Kontrolle, und die auf ihnen basierenden Öffentlichkeiten können gefiltert, zensiert, automatisch und verdeckt durchsucht oder manipuliert werden. Dies ist solange kein Problem, wie Nutzerinnen und Nutzer darauf vertrauen können, dass Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung nur in gesellschaftlich legitimierten Ausnahmefällen geschehen. Doch genau diese Grenzen der Kontrolle sind derzeit umstritten, was sich nicht nur in innenpolitischen Debatten um Netzneutralität oder Internetsperren ausdrückt, sondern mit der NSA-Affäre auch in den Fokus der internationalen Beziehungen und der Abwägung zwischen freiheitlichen Rechten und sicherheitspolitischen Einschränkungen gerückt ist. Die über lange Zeit nur schlummernde Ahnung von Nutzerinnen und Nutzern weltweit ist zur Tatsache geworden: Kommunikation auf Plattformen wie Facebook oder Twitter wird von USamerikanischen Sicherheitsbehörden überwacht, ohne dass man sich der genauen Umstände und des Ausmaßes der Datenweitergabe sicher sein kann. 5 FAZIT Das Social Web passt in unsere Zeit, weil es zentrale Morphologien, Mechanismen und Paradoxien der Gegenwartsgesellschaft formt, vermittelt und ausdrückt. Es unterstützt Menschen dabei, dem Leitbild einer vernetzten Individualität folgend zu leben und sich im Informationsüberfluss zu orientieren. Gleichzeitig trägt es aber auch dazu bei, dass genau diese Formen der Vergesellschaftung reproduziert oder sogar noch bestärkt werden. Zugleich ist im Kern des Social Web ein „Partizipationsparadox“ angelegt: Es gibt seinen Nutzern einerseits die Mittel an die Hand, an gesellschaftlicher Öffentlichkeit teilzuhaben und etablierte Machtstrukturen der professionellen Kommunikation zu untergraben. Andererseits verschließen sich die Anbieter dieser Plattformen aber selbst der Teilhabe und bauen stattdessen neue machtvolle Strukturen auf, in denen eine bisher ungeahnte Fülle von Informationen über unseren Alltag erhoben und verarbeitet wird. Es ist also auch eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe unserer Zeit, diese Entwicklung kritisch zu begleiten und Rechte und Strukturen von freiheitlichen demokratischen Gesellschaften zu verteidigen bzw. einzufordern. Das Leitbild der informationellen Selbstbestimmung als Norm, Praxis und Kompetenz kann hierbei Orientierung bieten.

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DIE ZUKUNFT DES EIGENSINNS Gerhard Schulze

1 FOKUS EIGENSINN In seinem Alterswerk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ trägt Gotthold Ephraim Lessing den kühnen Gedanken vor, dass sich die Menschheit auf einem langen Marsch zur Vernunft befände. Würde Lessing dies heute in einer Talkrunde vortragen, wäre das eine fantastische Steilvorlage für seine Gesprächspartner. „Lieber Herr Lessing, in welcher Welt leben Sie eigentlich?“ Umso überraschter muss man sein, wenn man optimistische und pessimistische Einschätzungen der Social Media auf ihren gemeinsamen Nenner hin untersucht, denn sie laufen letztlich gleichermaßen auf die Vision Lessings hinaus. Anders als er halten wir den langen Marsch zur Vernunft allerdings nicht für einen Selbstläufer. Wir befürchten, die Tour zu vermasseln und hoffen gleichzeitig auf ihr Gelingen. Das ist eine gute Nachricht. Dann gibt es noch eine zweite Überraschung: Nicht nur die Optimisten setzen auf den Einzelnen und den Gebrauch seines Verstands, sondern auch die Skeptiker. Sie warnen zwar vor Mainstreaming, Filter Bubble und anderen Formen der Hirnamputation, haben damit aber implizit dasselbe Ziel wie die Optimisten vor Augen. Sinnvoll sind ihre Warnungen nämlich nur dann, wenn sie den Menschen zutrauen, sich gegen den angekündigten Verlust zur Wehr zu setzen. Wenn ich im Folgenden also nach der Zukunft des Eigensinns frage, beziehe ich mich auf den versteckten und vergessenen Lessing in uns allen. Aus gegebenem Anlass ist Lessings alte Frage neu zu stellen: Die Digitalisierung bringt einen Rahmenwechsel mit sich, wie ich zunächst im folgenden Abschnitt herausarbeiten will; sie gehört in die Reihe der großen Medienrevolutionen, wie etwa die Schrift oder der Buchdruck. In allen Medienrevolutionen finden wir nun ein menschliches Ur-Motiv fortgeschrieben. Worin es besteht und wie es sich gegenwärtig manifestiert, wird Gegenstand des übernächsten Abschnitts sein. Doch Revolutionen heißen nur deshalb so, weil sie immer auch etwas Nie-Dagewesenes hervorbringen. Darauf wird ein weiterer Abschnitt eingehen: In welches Neuland katapultiert uns die Digitalisierung? Schließlich legen Medienrevolutionen noch eine dritte Facette an den Tag, mit der sich der letzte Abschnitt beschäftigen wird: Sie sind Ergebnis und Ausgangspunkt langfristiger kollektiver Lernprozesse.

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Diese drei Aspekte der Digitalisierung und der Netze – das Gleichbleibende, das Unbekannte, das Gesteigerte – bringen am Schluss Lessing und die Zukunft des Eigensinns in den Blick. 2 MEDIENREVOLUTIONEN ALS RAHMENWECHSEL Alles Neue ist das Gestrige von morgen; alle Innovation ist Routine; und an das Nie-Dagewesene sind wir gewöhnt wie an den Wechsel der Jahreszeiten. Während einem die Fernsehwerbung das absolut neueste Waschmittel hinterherkräht oder den Durchbruch der Nassrasierer, geht man schnell mal ‚wohin‘. Umso bemerkenswerter ist die kollektive Reaktion auf die Digitalisierung der Welt. Seit etwa zwei Jahrzehnten sind wir Zeugen und Ergriffene einer anhaltenden Faszination, deren Anlass mit dem mathematisch und technisch konnotierten Begriff der Digitalisierung geradezu falsch etikettiert erscheint. Denn dass etwa Moores Gesetz einer Verdoppelung der Speicherkapazität alle 18 Monate nach wie vor zutrifft, beschreibt ja bloß jene alltägliche Innovationsroutine, die uns nur dann noch erregen würde, wenn sie ausbliebe. Nein, was uns an der Digitalisierung bezaubert oder empört, ist aus demselben Stoff gemacht wie Fußballspiele, Klatschgeschichten oder die Liebe. Es ist Kultur. Es ist der gemeinsame Nenner von Arabischer Rebellion, Wikileaks, Facebook, Partnerschaftsportalen, Blogs, Staatstrojanern, Twitter oder einem Popupfenster mit einer Senfwerbung, das sich öffnet, kurz nachdem wir unsere Freunde zu einem Grillfest eingeladen haben. Offenbar haben wir es mit einem fundamentalen Rahmenwechsel zu tun. Damit ist ein schlagartiger Austausch der Rollen, des Drehbuchs und der Wahrnehmungsschemata gemeint, wie beim Staatsbesuch von Königin Beatrix in Deutschland. Der Limousine entstieg eine elegant gekleidete Dame mit blauem Kostüm und geschmackvollem Hütchen, die sich bald als der Komiker Hape Kerkeling entpuppte.1 Das war ein Rahmenwechsel. Mit diesem soziologischen Begriff (in der Tradition von Alfred Schütz und Harold Garfinkel) verfügen wir über ein Instrument der Selbstdeutung, das uns die in diesen Jahrzehnten ablaufende Digitalisierung besser verstehen lässt. Medienrevolutionen sind Rahmenwechsel. Auch die Erfindung der Schrift war eine Medienrevolution, auch sie brachte einen Rahmenwechsel mit sich. Was die Schrift aus einer Kultur macht, kann heute jeder einzelne andeutungsweise in seiner persönlichen Bildungskarriere nachvollziehen. Das Schreiben und Lesen stößt eine Tür auf, durch die man in einen neuen Raum des Denkens und Zusammenlebens eintritt. Nur einen Aspekt davon beleuchtete Goethe mit seiner Bemerkung, wer kein Tagebuch führe, sei kein richtiger Mensch. Mit einem Tagebuch hat man mehr vom Leben. Erlebnisse werden durch Beschreibung erst greifbar; das Geschriebene bleibt stehen und wird nicht vergessen; der Akt des Schreibens beglückt; im Tagebuch kultiviert man den Blick auf sich selbst. 1

Siehe online unter: http://www.youtube.com/watch?v=9O5fh8TLqAY (Abfrage: 01.08.2014).

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Analog verfügen Schriftkulturen über eine Art kollektives Tagebuch. Darin finden wir Gesetzestexte, heilige Schriften, philosophische Abhandlungen, Forschungsberichte, Liebesbriefe, Geschäftsbriefe, Gebrauchsanweisungen, Protokolle, Romane und Rezensionen. Die Schrift erzieht alle zur Disziplin der Linearität. Schriftkulturen lernen, die Dinge auf die Reihe zu bringen. Nun also die Digitalisierung. Nur langsam orientieren wir uns im erweiterten kulturellen Möglichkeitsraum, aber sein Potenzial hat schon Konturen gewonnen. Die magnetische Wirkung von Smartphones, I-Phones, I-Pads, E-Books oder Apps bezeugt ebenso wie das rasende technische Innovationstempo eine Art kultureller Intuition der User. Triebwerk der Digitalisierung ist das menschliche Gespür für kommunikative Möglichkeiten und das heiße Verlangen nach mehr davon. Gab es jemals so viel Autodidaktentum, so schnelles Erlernen der Nutzung gerade erst erschlossener Optionen? 3 ERSTER ASPEKT: DAS AUFSCHEINEN EINER UR-IDEE Inzwischen wurde die Rhetorik der Revolution zur Routine und der Blick auf das Neue zur Fixierung. Zumindest für Soziologen aber ist die Archäologie der Urgeschichte im Durcheinander der Gegenwart ebenso interessant wie die Futurologie. Was ist das Normale im Neuen? Welche alte Idee durchwandert einen Rahmenwechsel nach dem anderen? Die Anfänge von Schrift, Buchdruck, audiovisuellen Medien und Digitalisierung atmen alle denselben Geist: Neugier auf eine kommunikative Horizonterweiterung. So zeigt sich in den großen Medienrevolutionen eine überraschende Kontinuität, eine Ähnlichkeit der Begrüßungsgesten gegenüber Erfindungen, die auf etwas ganz Altes und Erstes hinweisen: auf die intersubjektive symbolische Sphäre, die entsteht, sobald Menschen irgendwann und irgendwo auf der Welt miteinander zu tun haben. In einem gewissen Sinn ist das Gattungswesen Mensch seine eigene Kopfgeburt. Seine Ankunft in der Evolutionsgeschichte fällt in eins mit seiner Fähigkeit zu kommunizieren. Das tun die Vögel im Frühling doch auch, könnte jemand einwenden. Gewiss, lautet das Gegenargument, aber sie können sich weder über die Zubereitung eines Kartoffelgratins verständigen noch über den Unterschied zwischen dem frühen und dem späten Wittgenstein. Der Mensch ist das geborene Medium für Inhalte beliebiger Art und denkbar höchster Komplexität. Sein Auftauchen wäre selbst eine Medienrevolution gewesen, hätte es vor ihm schon Medien gegeben – er war der mediale Urknall. 2011 hat Michael Tomasello dieser Deutung ein empirisches Fundament gegeben. Seine Theorie über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation beruht auf der Beobachtung von Zeigehandlungen. Ein Zweijähriger, der ein Flugzeug hört, nach oben deutet und seine Mutter dabei ansieht, operiert mit einem höchst voraussetzungsvollen Paradigma: Er lädt seine Mutter zu einer gemeinsamen Perspektive ein; er setzt voraus, dass sie ein Bewusstsein hat; und er will gemeinsam mit ihr staunen.

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Das Zeigen fängt damit an, dass man sich der Aufmerksamkeit des anderen versichert. Nur wenn er herschaut, lohnt sich das Zeigen überhaupt. Mit dem Zeigen selbst verbindet sich ein subtiles Apriori: Der Zeigende setzt voraus, dass der Hinschauende ihm ein Wollen unterstellt, in der Hoffnung, dass daraus ein gemeinsames Wollen wird. Tomasello nennt dies „geteilte Intentionalität“2. Um diesen grundlegenden intersubjektiven Tatbestand zu erfassen, begab sich Tomasello zurück zu zwei Anfängen, die auch heute noch zugänglich sind. Primaten beobachtete er als phylogenetische Vorstufe der Menschen, Kleinkinder als ontogenetische Vorstufe der Erwachsenen. Von diesen Zugängen aus öffnet sich der Blick für das Wesen allen Kommunizierens, ob Staatsschuldenkrise oder Einladung zu einem Glas Wein. Wann immer Menschen miteinander zu tun haben, geht es um gemeinsames Wollen, vor allem auch dann, wenn sie völlig uneinig sind. Der Mensch als Primat 2.0 konstituierte sich durch Mitteilsamkeit, durch Medialität, durch aufeinander bezogenes Innenleben; und die großen Medienrevolutionen waren Schritte auf dem Jahrtausende langen Pfad der Entfaltung des Menschheitsprojekts geteilter Intentionalität. Was auch jetzt im Schub der Digitalisierung gleichbleibt, lässt sich beispielsweise am Fußball studieren. Die um den Ball kämpfenden Männer oder Frauen, die nur zwei Ziele haben, nämlich irgendwie den Ball ins gegnerische Tor zu praktizieren und das eigene Tor sauber zu halten, liefern eine unübertreffliche Veranschaulichung dafür, was Tomasello mit geteilter Intentionalität meint. Die Stadien blieben leer, hätte nicht jeder Fan ein tiefes Verständnis gerade für das vollkommen Unsichtbare: für das wildbewegte gemeinsame Bedeutungsuniversum zwischen den Spielern, auf das ihre Zeigegesten, Verzweiflungsschreie, Triumphsprünge, Beleidigungen und Jubelattacken hinweisen. Wer sich in die Steinzeit zurückbeamen will, muss sich nur ein Fußballspiel ansehen. Um es in der Sprache der Digitalisierung auszudrücken: Die Spieler auf dem Platz bilden das Netz, das Stadion ist das Portal und ihre Körper sind die Endgeräte. Da ist sie in voller Authentizität: eine Gruppe jagender Menschen mit Blickkontakt, die sich durch gemeinsame Teilnahme an der Welt auf subtile Weise koordinieren. Genau diese ungreifbare Kulturleistung jedoch ist das Gravitationszentrum der gesamten Mediengeschichte. Schrift, Vervielfältigung des Gedruckten, audiovisuelle Wiedergabe und schließlich Digitalisierung von Schrift, Wort, Musik, Bild und Bewegung geben uns jeweils neue ‚frames‘ für ein elementares Phänomen vor. Das Hineinfinden in einen neuen kommunikativen Möglichkeitsraum hat bezeichnenderweise etwas Selbstläufiges, wie sich schon bei der Schrift zeigte. Vielen Kulturen genügte bereits das bloße Hörensagen, um von der Idee der Schrift ergriffen zu werden und sich selbst eine auszudenken. Der Evolutionsbiologe und Physiologe Jarred Diamond berichtet sogar von einem Einzelnen, der dies tat, von einem Indianer, der Missionare beim Schreiben beobachtet hatte und sich dann seine eigene Schrift schuf.3 2 3

Tomasello 2011, S. 84. Vgl. Diamond 1997.

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Während aber die Schrift mehreren Kulturen fast wieder verloren ging, trifft die Digitalisierung auf eine alphabetisierte und öffentlichkeitsgewohnte Weltbevölkerung mit einem weit entwickelten Sinn für alles Mediale. Heute ist jeder Jarred Diamonds Indianer. Dass die Schrift so ansteckend, ja elektrisierend wirkte, ist wie ein fernes Spiegelbild unserer heutigen Faszination am Digitalen. Von der gleichen Faszination waren die Menschen auch nach anderen Medienrevolutionen ergriffen, so in den Jahrhunderten nach der Erfindung des Buchdrucks, so nach der Erfindung von Radio und Fernsehen. 4 ZWEITER ASPEKT: NEULAND Wenn jedoch in jeder Medienrevolution nur die Ausgangsidee der Kommunikation weitergesponnen würde, worin bestünde dann eigentlich das Neue? Anders gefragt: Inwiefern katapultieren uns Medienrevolutionen in Neuland, nicht nur in technischer, sondern auch in kultureller Hinsicht? Davon kündet mit einer fast schon vergessenen Lust des Entdeckens beispielsweise der Werbespot eines Netzbetreibers Ende der neunziger Jahre. Man sieht Boris Becker, wie er eher genervt am Computer herumprobiert. Auf einmal durchzuckt es ihn. „Ich bin drin!“, ruft er.4 Heute kommt uns dieser Gruß aus den Kindertagen des Netzes fast schon antiquiert vor, damals aber war er ein Weckruf. Ich bin drin: Das war die belebende Erfahrung des Users vor dem heute allmählich einsetzenden Ergrauen der Online-Welt in Normalität. Die Szene mit Boris Becker lässt uns wieder über das Selbstverständliche staunen. Im Drinsein erfährt der User eine schlagartige Möglichkeitssteigerung in zwei Grundfunktionen des Menschen: Beobachten und Darstellen. Lange vor Tomasello hat Erving Goffman bereits eine Metapher geprägt, die soziologisch ausdrückt, was im virtuellen Raum geteilter Intentionalität passiert: „Wir alle spielen Theater“. Goffman verwendet dieses Bild nicht in entlarvender Absicht, vielmehr soll es die Grundkonstellation des Zusammenseins von Menschen wiedergeben: ein Hin und Her von Zeigegesten, bei dem jeder sowohl Darsteller ist als auch Publikum.5 Daran wird auch Wikileaks nichts ändern oder jeder andere Versuch der Verschiebung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Theater ist überall, auch im Allerprivatesten, im Separee von Intimbeziehung, Nacktheit, Tabuverletzung, Intrige, Verschwörung und ungeschminkter Selbstbetrachtung. Gerade dort, wo die weitere Öffentlichkeit ausgeschlossen bleiben soll, wird Inszenierung zur Lust, zur Kunst, zur Taktik, zum Selbsterfindungswerkzeug. Ausspähung, Entlarvung, Voyeurismus, Selbstentblößung und öffentliches Tagebuchschreiben im digitalen Zeitalter künden nicht etwa vom Ende des Menschentheaters, sondern von seiner Fortsetzung. Das Lüften von Geheimnissen wird sofort selbst zum Theater; 4 5

AOL-Werbespot von 1999 online unter: http://www.youtube.com/watch?v=S7mGbRkUP7Q (Abfrage: 01.08.2014). Vgl. Goffman 1983.

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die Geheimnisse sind ihrerseits Theater; und alle Versuche zum Schutz der Separees sind es auch. So gesehen sind Digitalisierung, Schrift, Buchdruck und audiovisuelle Übertragung eine gewaltige Inszenierungsvermehrung. Was von Anfang an da war, das Beobachten und Beobachtetwerden in einem gemeinsamen Rahmen, wird immer weiter fortgesetzt. Potenziell hat nun jeder die ganze Welt zum Publikum, und umgekehrt kann potenziell jeder zum Publikum beliebiger virtueller Inszenierungen werden. In dieser gleich gebliebenen Grundkonstellation wechselseitiger Präsentation geht es im neuen Rahmen immer noch um die alten Themen. Während nun die Steigerung des Beobachtenkönnens einen Anhauch des Altgewohnten hat, das der Konsument schon von den Printmedien und den audiovisuellen Medien kennt, ist die Steigerung des Darstellenkönnens das eigentlich Elektrisierende. Bisher ewig scheinende Asymmetrien erweisen sich plötzlich als historisch begrenzt, und allenthalben verringert sich das Gefälle: zwischen Autoren und Lesern, Regisseuren und Zuschauern, Vorlauten und Zurückhaltenden, Päpsten und Gläubigen, Stars und Fans, Meinungsführern und Meinungsfolgern. Wenn sich jeder zu Wort melden kann, warum nicht auch ich? Diese radikal neue Steigerung der kommunikativen Autonomie geht mit einer Befreiung von jenem Sanktionsdruck des Stirnrunzelns, Kopfschüttelns und Verächtlichmachens einher, der in Face-to-Face-Kontakten auf den Beteiligten zu lasten pflegt. Mit der Digitalisierung wurde aus der Hier-und-Jetzt-Gruppe des ursprünglichen Menschentheaters eine Jetzt-Gruppe ohne Hier. Theoretisch ist zwar auch das Jetzt aufgehoben, denn alles wird irgendwo gespeichert und bleibt für Ewigkeiten auffindbar. Faktisch aber wird gerade wegen des damit entstehenden Ozeans von Informationen eine Gegenwartsinsel notwendig, um sich nicht völlig im virtuellen Raum zu verlieren. Das neue Jetzt ist ein Zeitfenster von Stunden bis zu Tagen mit unscharfen Grenzen. In diesem digitalen Präsens ereignet sich die Gegenwart von Vielen, die füreinander gleichzeitig Darsteller und Publikum sind, doch ohne am selben Ort zu sein wie klassische Menschenmengen. Die traditionellen Massen der Straßen und großen Plätze, der Arenen und Theater wurden von ihren Beobachtern als unberechenbare, schnell von Emotionen gepackte Tiere geschildert. Dagegen bleibt die abwesende Menge im gedehnten Jetzt ohne Hier immer ein Aggregat von Einzelnen in der reflexiven Distanz von Lesenden, Schreibenden und Bildbetrachtenden ohne unmittelbaren Kontakt in einem gemeinsamen Drama vor Ort. Mainstreams, die auf diese Weise entstehen, haben gegenüber den aufgeputschten früheren Hier-Mengen, vor denen etwa Elias Canetti in „Masse und Macht“ gewarnt hat, einen Vorsprung des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft. Doch wer gehört zur Jetzt-Menge dazu, wer nicht? Sind es meine Freunde im sozialen Netzwerk, sind es die Teilnehmer in den von mir besuchten Blogs, sind es meine Follower bei Twitter? All diese Abgrenzungen wären zu kurz gegriffen. Im Netz laufen potenziell alle Inhalte rund um die Welt; die einzigen Grenzen sind Produktivität und Selektivität der User einerseits und die unscharfen Ränder des Zeitfensters im digitalen Präsens andererseits. So ist im vergangenen Jahrzehnt eine

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globale Bühne entstanden, während die Weltbevölkerung genau in dieser kurzen Zeit erneut um eine Milliarde anwuchs. 5 DRITTER ASPEKT: KOLLEKTIVES LERNEN UND DIE ZUKUNFT DES EIGENSINNS Pointiert mit Tomasello gesprochen, wurde Kommunikation ja geradezu erfunden, um von der anfänglichen Verschiedenartigkeit von Individuen immer wieder zu gemeinsamer Intentionalität zu gelangen. Die Zeigegesten schon von Primaten und Kleinkindern sind Einladungen, sich gemeinsam zum Ausgangspunkt aller Gemeinsamkeit zu begeben. Schau so hin wie ich hinschaue! Ausgangspunkt aller Gemeinsamkeit ist die gleiche Perspektive. Es ist nun zumindest eine offene Frage, ob die Menschen im Weltinnenraum des digitalen Zeitalters sich um perspektivische Annäherung bemühen werden, oder ob sie ihre Intelligenz dazu verwenden werden, in dieser Hinsicht dumm zu bleiben – für beides liefert die Geschichte, aber auch die alltägliche Kommunikationserfahrung genug Beispiele. Was diesen verhaltenen Optimismus nicht völlig unplausibel erscheinen lässt, ist eine dritte Facette der digitalen Revolution neben den beiden schon dargestellten. Als erste Facette habe ich das Gleichbleiben der kommunikativen Kernidee herausgearbeitet, als zweite das fundamental Neue beleuchtet. Doch der Theaterdonner, mit dem das Neue auf die Bühne kracht, lenkt von einem dritten Aspekt der Digitalisierung ab – von einem stillen, oft in Abrede gestellten Vorgang, ohne den sich die großen Medienrevolutionen ebensowenig gelohnt hätten wie unser Erlernen des Sprechens und Schreibens im Kindesalter. Es gibt Hinweise auf einen langfristigen kulturellen Lernprozess trotz aller zivilisatorischen Pubertätskrisen, Zusammenbrüche und endlos scheinenden Verfinsterungen. Worin er besteht, lässt sich am besten in Analogie zur Entwicklungspsychologie bestimmen. Was setzen Eltern voraus, wenn aus „Das kapierst du noch nicht“ der Appell „Sei doch vernünftig“ wird? Es braucht abstrakte Tugenden wie Empathie, Reflexionsfähigkeit, Gefühlskontrolle, Moral und einen Schuss Erkenntnistheorie, um einzusehen, dass man dem jüngeren Bruder sein Eis nicht wegnehmen soll. Könnte der entwicklungspsychologischen Reifung von Menschen ein kulturgeschichtliches Pendant entsprechen? Im Jahr 2011 hat Stephen Pinker eine umfangreiche Studie vorgelegt, die einen allmählichen Rückgang der Gewalt während der gesamten Menschheitsgeschichte behauptet, wenn auch auf schwankender empirischer Basis. Ganz ohne Verbindung dazu, aber mit gleicher Tendenz, äußert sich Hans Joas in seiner jüngst erschienenen ideengeschichtlichen Untersuchung über die Menschenrechte, die er über die Jahrhunderte hinweg auf dem Vormarsch sieht.6 Indirekt wird dabei deutlich, dass zwei vorangegangene Medienrevolutionen diesen kulturellen Fortschritt erst möglich machten. Ohne die Schrift und ohne den Buchdruck mit der Folgeerscheinung 6

Vgl. Joas 2011.

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einer überregional diskutierenden Öffentlichkeit hätten die Menschenrechte kein Thema gegenwärtiger politischer Bewegungen werden können. Auch die Medienrevolution der Digitalisierung wird der kollektiven Reifung einen Schub versetzen. Wenn es je eine Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts gegeben hat, von der Lessing sprach, dann ist es das Netz. Reife erlernt man durch freies Wählen, durch Urteilen, durch öffentliche Selbstdarstellung, durch Feedbacks, durch Debatten und durch das Beispiel anderer. In der Schriftkultur wurde die gereifte Selbstbeobachtung systematisiert; in der Printkultur wurde sie in die Öffentlichkeit getragen; in der digitalen Kultur wird sie zur alltäglichen Kulturtechnik. Dieser Befund greift eine zentrale These der ersten großen soziologischen Analyse des digitalen Zeitalters auf, die Manuel Castells im Jahr 1996 vorgelegt hat. Dort skizziert er die Menschheitsgeschichte im Stil einer großen Erzählung mit zwei Protagonisten: Natur und Kultur. Am Anfang, so Castells, stand Kultur vor der Aufgabe, sich der Natur anzupassen. Dann startete die Kultur der Moderne das Projekt der Naturbeherrschung. Heute schließlich wird Kultur zu ihrem eigenen Gegenstand. Bildlich gesprochen: Nach einem ersten Stadium der Obdachlosigkeit und einem zweiten des Hausbaus treten wir nun in das Stadium des Wohnens im Weltinnenraum ein. Unser Blick wandert von der objektiven Lehrmeisterin Natur zur unscharfen und extrem variablen Wirklichkeit des Zwischenmenschlichen, von der Fremdreferenz zur Selbstreferenz. Da nun Lessing von der Erziehung des Menschengeschlechts spricht, liegt es nahe, das Social Web mit einer Schule zu vergleichen. Eine Evaluierungskommission, die diese Schule zu begutachten hätte, käme zu einem positiven Gesamtergebnis. Trotz aller Mängel in dieser Schule überwiegt die Förderung des Eigensinns, nicht seine Schädigung. Kulturell relevant wird Eigensinn aber erst durch Mitteilen und Einbeziehen. Tomasellos „geteilte Intentionalität“ lässt sich übersetzen in „geteilter Eigensinn“. Einer der ersten Sätze in meinem Leben, an den ich mich genau erinnere, wohl weil er so oft wiederholt wurde, war jedoch „Sei nicht so eigensinnig!“ Das Teilen des Eigensinns ist ein Nullsummenspiel. Es ruft Instanzen auf den Plan, die sich nicht mit gleichen Portionen für alle zufrieden geben wollen: Autoritäten, Mächtige, Ausbeuter und Manipulatoren. Im Social Web nun wird die öffentliche Asymmetrie des Eigensinns in einem nie dagewesenen Umfang durchbrochen, sowohl quantitativ, weil milliarden Menschen Zugang haben, wie qualitativ, und zwar in drei Hinsichten, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Meine Stichworte sind: sprechen, verantworten, urteilen. Sprechen: Eigensinn gewinnt seine innere Gestalt erst mit dem Bemühen, ihn für andere sichtbar zu machen. Zeigegesten haben ein Janusgesicht, sie deuten nach außen und innen. Niemand hat dies besser auf den Punkt gebracht als Heinrich von Kleist in seinem 1805 publizierten Text über „[d]ie allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Das Social Web verführt täglich und millionenfach zur allmählichen Verfertigung des Eigensinns, zur Selbstaneignung durch Selbstkon-

Die Zukunft des Eigensinns

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struktion im Akt der Mitteilung. Wenn ich etwa jemandem erkläre, dass ich ihn oder sie sympathisch finde, dann wirkt diese Äußerung auf mein Innenleben zurück; sie verändert meine Wahrnehmung der anderen Person und meine Selbstwahrnehmung. Kleist bezieht seine These auf das Reden. Für das Schreiben, das ja die im Web vorherrschende Form des Sprechens darstellt, gilt sie erst recht. Im Jahr 2009 erschien die Standford Study of Writing, die das gesamte Textvolumen von fünfzehntausend Studenten in fünf Jahren untersuchte. Die Leiterin der Studie, Andrea Lunsford, sprach in einem Interview mit der Zeitschrift WIRED von einer Revolution des Schreibens, die nur mit der griechischen Kultur vergleichbar sei. Sie meinte damit explizit auch Tweets, Blogs, Mails, Chats, Wikis und Postings. Mit seinen Texten wirbt man für sich, dadurch aber formt man sich auch selbst. Goethes Diktum, erst durch das Führen eines Tagebuchs werde man zum Menschen, erfährt im digitalen Zeitalter eine ungeahnte Ausweitung. Verantworten: Wer etwas mitteilt, muss gleichzeitig in die Rollen von Autor und Lektor oder Regisseur und Darsteller schlüpfen und sich in andere hineinversetzen. Einerseits stehen die ‚Web-Menschen‘ mit viel mehr anderen Menschen in Verbindung, als dies jemals der Fall war, andererseits sind sie in dieser Situation auf sich selbst verwiesen. Sie gehen in einen Zustand introvertierter Extraversion, der etwa auf Bahnsteigen oder in Abflughallen als Nebeneinander zahlreicher in Kommunikation versunkener Menschen an ihren Endgeräten sichtbar wird. Der WebMensch handelt in produktiver Einsamkeit; er ist der Herr seiner Klicks; er ist der Gatekeeper seiner Kontakte; er ist der PR-Manager seiner Selbstoffenbarungen und Geheimnisse. Beiläufig zieht ihn das Web in die Verantwortung, es drängt ihn dazu, das zu tun, was Kant ihm auftrug: sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Die Konsequenzen seines Handelns haben die Form von Reputation, Likes, Widersprüchen, Beleidigungen oder Shitstorms. In der Schule des Eigensinns sind das die Noten. Urteilen: Am Anfang war die Zeigegeste. Im Lauf der Zeit schälte sich dann aus dem archaischen Sprechen die Sonderform des Urteilens heraus. Nehmen wir den gegenwärtig häufigsten Urteilstypus als Beispiel, das Liken in Facebook. Es handelt sich dabei um Mitteilungen, die sich ihrerseits auf Mitteilungen beziehen. So primitiv nun das Anklicken des Like-Buttons erscheint, es bringt eine zweite Ebene ins Spiel, die Meta-Ebene. Beim Urteilen bewertet man von der Metaebene aus, was man auf der operativen Ebene beobachtet. Allerdings lassen primitive Urteile wie Liken, Johlen oder Auspfeifen die Kriterien der Urteilsbildung unausgesprochen. Werden diese explizit gemacht, betritt man die Steuerzentrale im Raum geteilter Intentionalität – ein Fortschritt zur Metaebene der Abgabe begründeter Stellungnahmen. Diese finden sich überall im Web. Rezensionen bei Amazon oder Holiday Check sind nur zwei populäre Beispiele für die Verbindung von öffentlicher Darstellung des Eigensinns mit dem Versuch, ihn nachvollziehbar zu machen: Wer urteilt, sagt immer: „So sehe ich die Dinge – könnt ihr mich verstehen?“

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Gerhard Schulze

6 FAZIT Das Social Web ist eine Schule des Eigensinns, weil es die Beteiligten zum Sprechen veranlasst, sie zur Verantwortung drängt und sie im begründeten Urteilen übt. Indirekt findet man diese Auffassung im Umgang heutiger Diktaturen mit dem Social Web bestätigt. Für Diktaturen ist der Eigensinn der Vielen eine Gefahr, für Demokratien ist er die zentrale Ressource. Ein Selbstläufer wird diese Schule des Eigensinns allerdings nicht sein; ihre Zukunft hängt vom Wollen der Autodidakten ab, die sie besuchen. Die Geschichte vergleichbarer Einrichtungen stimmt einen skeptisch. So war etwa auch die Universität einmal als Anstalt zum Erlernen des Selbstdenkens gedacht, de facto aber droht sie mehr und mehr zu einer Anstalt des Denkens mit fremdem Gehirn zu werden, wie das schon Schopenhauer befürchtete. Das Web ist noch ganz am Anfang, vor Euphorie ist zu warnen. Ob es sich als Weg zur Aneignung oder zur Enteignung des Gehirns herausstellen wird, ist eine offene Frage, und deshalb ist jede Netzkritik zu begrüßen. Trotzdem würde Lessing sagen: Wenn es das Social Web nicht gäbe, man müsste es erfinden. BIBLIOGRAPHIE Canetti, Elias (1960): Masse und Macht. Hamburg: Fischer. Castells, Manuel (1996): The Rise of Network Society. Oxford: Oxford University Press. Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Polity Press. Diamond, Jarred (1997): Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Fischer. Goffman, Erwing (1983): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper. Joas, Hans (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin: Suhrkamp. Kleist, Heinrich von (1805): „Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. In: Streller, Siegfried (Hrsg.) (1986): Heinrich von Kleist – Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3. Frankfurt a. M., S. 722-723. Lessing, Gotthold Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1779). Online: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1175/1 (Abfrage: 01.08.2014). Pinker, Stephen (2011): Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a. M.: Fischer. Schütz, Alfred (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stanford Study of Writing. Online: https://ssw.stanford.edu/ (Abfrage: 01.08.2014). Tomasello, Michael (2011): Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

LOB DER FRAGMENTIERUNG DIE ÖFFENTLICHKEIT, DIE MASSENMEDIEN UND DAS INTERNET Stefan Münker

Der Kongress SocialMania, so hieß es in der Ankündigung auf der Website und im Flyer, wollte unter anderem die Frage klären, ob angesichts aktueller Entwicklungen im Social Web „Medien ihre Funktion, in einer komplexen Gesellschaft ein öffentliches Bewusstsein herzustellen, noch erfüllen können.“ Ansonsten, so lautete es weiter, gäbe es „[a]nstatt einer Öffentlichkeit, einer res publica, [...] dann viele, gewissermaßen in Gruppen privatisierte Öffentlichkeits-Parzellen“1. Diese Frage ist ebenso interessant wie spannend, und ihre Antwort ist für das Selbstverständnis unserer modernen Gesellschaft(en) zentral – denn eine Gesellschaft ohne funktionierende Öffentlichkeit wäre tatsächlich eine andere. Die Befürchtung, wir steuerten auf eben diese Situation zu, begründet eine kritische Haltung vor allem gegenüber dem Internet und seinen sozialen Medien (als den vermuteten Treibern dieser Entwicklung), die von vielen geteilt wird – und das über die politischen und professionellen Lager hinweg. Vor einiger Zeit schon beklagte unsere Bundeskanzlerin in der Zeitschrift BUNTE die „Vielzahl der Informationskanäle“, die dafür verantwortlich sei, dass „es immer schwieriger [werde], ein Gesamtmeinungsbild zu erkennen“. Der „sehr große technische Wandel“, so Merkel weiter, mache es zunehmend schwer, „alle Menschen, alle Generationen zu erreichen, denn diese nutzen die einzelnen Medien mittlerweile sehr unterschiedlich“.2 Für eine Politikerin, die Wahlen nur gewinnen kann, wenn sie die Wähler zuvor erreicht hat, verbindet sich mit dieser Diagnose eine strategisch nachvollziehbare Angst. Ein durchaus ähnlicher Befund findet sich allerdings auch bei Jürgen Habermas, dessen Diagnose sich fast wie eine unmittelbare Antwort auf die Frage dieses Kongresses liest. Das Internet nämlich, so Habermas, fördere mit Millionen von weltweit zerstreuten Chatrooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten, jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. [...] Auf diese Weise scheinen die bestehenden nationalen Öffentlichkeiten unterminiert zu werden. Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegensetzen.3

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Online: http://socialmania.eu/der-kongress/ (Abfrage: 03.09.2013). Riekel 2010. Habermas 2008, S. 161.

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Stefan Münker

Soweit also die Ausgangslage. Wäre die Diagnose von Habermas richtig, hätten wir angesichts des Erfolgs der Sozialen Medien tatsächlich ein Problem. Ich glaube allerdings, dass man zeigen kann, dass die Diagnose falsch ist. Mehr noch: Ich werde zeigen, dass die Ausgangsfrage bereits falsch gestellt ist. Meine Begründung ist entsprechend eine doppelte, die entlang zweier Thesen argumentiert. Die eine These lautet: Das, was wir Öffentlichkeit nennen, gab und gibt es immer nur im Plural. Die Emergenz digitaler Öffentlichkeiten kann die Öffentlichkeit oder das öffentliche Bewusstsein gar nicht unterminieren, weil es die Öffentlichkeit oder das öffentliche Bewusstsein nie gegeben hat. Nun wird man mir mit Sicherheit entgegnen, dass ich gleichwohl ja kaum bezweifeln könne, dass im Netz neue und vielfältige Formen von Öffentlichkeit entstanden sind. Was ich natürlich auch nicht tue, im Gegenteil!4 Meine zweite These lautet: Die Pluralisierung von Öffentlichkeiten durch das Internet ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil für eine demokratische Gesellschaft. Kommen wir zur ersten These. Die Rede von Öffentlichkeit im Singular ist eine Idealisierung, die allerdings die Moderne, genauer: das Bild, welches sich die moderne Gesellschaft von sich selbst gemacht hat und immer noch macht, entscheidend geprägt hat. Tatsächlich aber ist die Öffentlichkeit, die res publica, schon immer eine res publicae gewesen. Weder gab es je eine Öffentlichkeit, ein öffentliches Bewusstsein, das alle Mitglieder einer Gesellschaft geteilt hätten, noch gab es je ein Medium, das tatsächlich alle Mitglieder einer Gesellschaft zugleich erreicht hätte. Schon in den überschaubar großen antiken Stadtstaaten war der öffentliche Raum parzelliert in die Sphären der Sklaven und Freien, der Männer und Frauen – und natürlich waren auf der Agora nie alle da, wenn debattiert wurde. Das aber gilt auch für die medial generierte Agora moderner Gesellschaften lange vor der Ära des Internets: War die Öffentlichkeit eines FAZ-Lesers wirklich jemals die gleiche wie die eines BILD-Lesers? Wer teilt die Öffentlichkeit, welche die Zeitung eines Hundezüchtervereins aus Berlin-Reinickendorf herstellt? Wie groß ist die Schnittmenge zwischen der öffentlichen Anhörung einer Bauplanung einer beliebigen Kleinstadt und der ebenfalls öffentlichen Aktionärsversammlung eines DAX-Unternehmens? Die bürgerliche Öffentlichkeit, deren Degeneration durch profitgetriebene Strategien von Massenmedien Jürgen Habermas in seinem berühmten Bericht über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“5 bereits vor einem halben Jahrhundert kritisiert hat, war die bewusst idealisierte Öffentlichkeit von literarischen Salons, von intellektuellen Treffen in Caféhäusern und Teestuben – mit zehn oder 20 Teilnehmern! Aber natürlich: Die Öffentlichkeit, deren Fragmentierung die Kritiker des Internets beklagen, ist eine ganz andere – es ist die Öffentlichkeit der bis dato erfolgreichsten Öffentlichkeitsgeneratoren der Geschichte: Die Öffentlichkeit der elektronischen Massenmedien – von Radio und Fernsehen. Und von den vielen Millionen Hörern und Zuschauern, die diese beiden Medien zeitgleich vor sich versammeln (konnten) – für eine gewisse Zeit: Das Radio erreichte den Höhepunkt an 4 5

Vgl. hierzu ausführlich Münker 2009. Habermas 1962.

Lob der Fragmentierung

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Rezipienten in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, das Fernsehen in den 60er und 70er Jahren. Zeiten, in denen tatsächlich manches Mal, bei bestimmten Ereignissen, eine Mehrzahl der Bevölkerung zugleich Teil einer Öffentlichkeit war. Diese Zeiten aber sind passé. Und es war nicht das Internet, sondern die systemimmanente Ausdifferenzierung und Konkurrenz – beim Radio vor allem durch das Fernsehen, beim Fernsehen vor allem durch die Pluralisierung der Kanäle –, die dazu geführt haben, dass sich jene Situationen mittlerweile dramatisch verändert haben. In Zeiten, in denen Fernsehsender als erfolgreich gelten, wenn sie mehr als zehn Prozent der Zuschauer erreichen, kann auch hier von einer Öffentlichkeit nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil – angesichts der Tatsache, dass sich das Publikum mittlerweile in vielfacher Hinsicht hochgradig ausdifferenziert auf die Angebote der verschiedenen Sender und Programme verteilt, zeigt sich gerade hier im Bereich der massenmedialen Aufmerksamkeitsattraktoren bereits eine hochgradige Zersplitterung in sozial divergierende und durch unterschiedlichste Interessen geleitete Partikularöffentlichkeiten, deren Mitglieder zudem die Grenzen ihrer Gruppen nur selten transzendieren. Dennoch ist es vor allem die Perspektive der Massenmedien, aus der die Konstruktion einer Konkurrenz der bedrohten Öffentlichkeit im Singular durch die vermeintlich neuen Öffentlichkeiten im Plural sinnvoll nachvollziehbar ist – denn die Massenmedien Print, Radio und Fernsehen treffen im Kampf um die Aufmerksamkeit der Rezipienten durch die Medien des Internets auf einen neuen und ernst zu nehmenden Gegner. Und tatsächlich haben die Massenmedien ihren ehemaligen Exklusivitätsanspruch als primäre Informationsvermittler und Öffentlichkeitsstifter bereits weitgehend eingebüßt – freilich, ohne dass sie damit auch ihr Publikum, ihre Leser, Zuschauer oder Zuhörer verloren hätten. Existenzbedrohend ist das Internet für die Massenmedien insgesamt derzeit nicht; indem es jedoch immer mehr zum Beispiel die Funktion des Agenda-Settings übernommen hat, zwingt es die Massenmedien dazu, ihre gesellschaftliche Rolle zumindest zu überdenken, wenn nicht gänzlich neu zu definieren. Aus der Perspektive des Internets hingegen macht die Konkurrenz Öffentlichkeit dort (im Sektor der traditionellen Massenmedien) und Öffentlichkeiten hier (im Netz) schlicht keinen Sinn. Das Internet, ganz abgesehen davon, dass es ja auch das Internet im Singular gar nicht gibt, das Internet also hat keine Konkurrenten: Es ist als zentrale technische Infrastruktur unserer Gegenwart schlicht alternativlos – welche Form von Öffentlichkeit wir auch immer meinen, sie alle sind mittlerweile entweder unmittelbar Teil des Netzes oder doch mittelbar mit ihm verknüpft. (Das wiederum gilt selbstverständlich auch für die Massenmedien Print, Hörfunk und Fernsehen, die ja allesamt mittlerweile mehr oder weniger erfolgreiche und mächtige Akteure innerhalb der digitalen Netzkulturen geworden sind.) Die Konkurrenz von Öffentlichkeit und Öffentlichkeiten macht aber auch aus der Perspektive der Mediennutzer keinen Sinn, denn die, das haben wir gesehen, nutzen ja immer schon verschiedene öffentliche Sphären und Foren. In Sport, Politik, Wissenschaft oder Kultur. Allein oder mit anderen. Und schließlich, und damit sind wir bei meiner zweiten These, macht die Konkurrenz von Öffentlichkeit und Öffentlichkeiten eben auch aus der Perspektive der

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Stefan Münker

Zivilgesellschaft keinen Sinn: Wir leben in einer nicht nur komplexen, sondern intrinsisch pluralen Gesellschaft, deren Öffentlichkeiten sich immer schon nur partiell überlappen und nur temporär verschmelzen. Und so zeigt auch der Blick zurück in die Erfolgsgeschichten der Massenmedien, dass auch ihnen die Stiftung gesamtgesellschaftlicher Publika nur selten gelungen ist: Legendäre Momente der Vereinigungen ganzer Nationen vor den Bildschirmen waren eben auch in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Ausnahme, nicht die Regel. Nur, wer in rückwärtsgerichteter Idealisierung in der gegenwärtigen Pluralität das Zersplittern einer verlorenen singulären Öffentlichkeit sieht, kann in dieser Pluralität schon einen Werteverfall sehen; andere (der Verfasser gehört dazu) sehen hier einen Perspektivengewinn. Bei der Vermittlung der vielfältigen und zum Teil auch heterogenen Perspektiven spielen Medien eine große Rolle – die etablierten Massenmedien ebenso wie neue mediale Phänomene im Netz. Die Diversität, die im Internet zweifellos existiert, bedeutet zugleich ja gegen Habermas’ Unterstellung keineswegs, dass es hier keine gemeinschaftstiftenden und teilöffentlichkeitsüberschreitenden Phänomene gibt – im Gegenteil! Natürlich gibt es im Netz sehr wohl „Mechanismen und Praktiken, die einen gemeinsamen Rahmen von Themen, Interessen und öffentlichem Wissen erzeugen, in dem Öffentlichkeit entstehen kann“6. Wer beobachtet, wie sich manche Informationen via Twitter und anderen Plattformen des Web 2.0 verteilen, weiß, wovon Benkler spricht. Doch es geht um mehr als um Informationsflüsse: Warum ist das Social Web so erfolgreich? Warum zum Beispiel sind so viele Menschen bei Facebook?7 Weil ein Algorithmus sie dazu nötigt? Weil die digitale Technik sie dazu zwingt? Natürlich nicht. Menschen sind da, weil andere da sind; sprich: aufgrund sozialer Bindungskräfte. Das Social Web heißt Social Web und nicht Private Web, weil es um soziale Interaktionen geht – nicht aller mit allen (wie im privaten Umfeld), und auch nicht einer mit vielen (wie im Bereich der Massenmedien), sondern einer mit mehr oder weniger vielen anderen in verschiedenen, größeren und kleineren Gruppen, die sich aufgrund unterschiedlicher Interessen gebildet haben und stetig neu bilden, und die hierbei auch immer wieder neue Formen von Öffentlichkeiten entstehen lassen. Der Zuwachs an Öffentlichkeiten im Plural aber kann der Gesellschaft kaum schaden. Im Gegenteil: Gerade weil das Wohlbefinden demokratischer Gesellschaften und die Existenz funktionierender Öffentlichkeiten voneinander abhängen, ist die Vielfalt medialer Öffentlichkeiten, mit denen unsere Gesellschaft es derzeit zu tun hat, nicht nur keine Gefahr für unsere Demokratie, sondern das beste Zeichen für ihre Stärke. Demokratien leben schließlich nicht von Uniformität, sondern von der Differenz ihrer Mitglieder und der Divergenz ihrer Meinungen.

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Benkler 2006, S. 257 (dt. SM). Zum Messzeitpunkt des zweiten Quartals 2014 waren 1,317 Mrd. Nutzer bei Facebook registriert. Online: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/37545/umfrage/anzahl-der-aktivennutzer-von-facebook/ (Abfrage: 01.08.2014).

Lob der Fragmentierung

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BIBLIOGRAPHIE Benkler, Yochai (2006): The Wealth of Networks. How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven/London: Yale UP. Habermas, Jürgen (1962): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied: Luchterhand. Habermas, Jürgen (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie. In: ders.: Ach Europa. Kleine Politische Schriften XI. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 138-191. Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien des Web 2.0. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Riekel, Patricia (2010): Merkel: „Zeit zum Nachdenken finden“. In: Bunte, 22.07.2010. Online: http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Artikel/2010/07/2010-07-22-interview-bunte. html (Abfrage: 13.9.2012).

PSEUDO-BETEILIGUNG ODER DEMOKRATIE ‚VON UNTEN‘? JUGENDLICHE UND PARTIZIPATION IM SOCIAL WEB Ulrike Wagner

1 EINFÜHRUNG Dem Internet und insbesondere dem Social Web wird ein hohes Potenzial für die Umsetzung des normativen Anspruchs einer möglichst breiten und intensiven Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der politischen Öffentlichkeit nach den Maßgaben potenzieller Unabgeschlossenheit des Publikums, Egalität und Diskursivität zugeschrieben. Hier kann das Internet mehrere Funktionen (vgl. Emmer/Wolling 2010) erfüllen: Es dient als Quelle bzw. Mittel politischer Information, aber auch als Gelegenheitsstruktur für politische Kommunikation bzw. Interaktion. Zu fragen ist danach, von wem und in welcher Form diese Beteiligungsofferten realisiert werden, um sich an der engeren und weiteren Sozialwelt in Willensbildungsund/oder Entscheidungsprozesse einzubringen. Der vorliegende Beitrag stellt Jugendliche und ihre Handlungsweisen im Social Web in den Mittelpunkt und richtet den Blick auf die alltäglichen Beteiligungsformen von Heranwachsenden. Zugrunde gelegt wird dabei ein breites Verständnis von Partizipation im Sinne von Jenkins u. a. (2008): Sie beschreiben die aktuellen medialen Entwicklungen zusammenfassend als die Möglichkeit zur Realisierung einer „participatory culture“, in der man Teilhabe nicht mehr als relativ abstrakte, stark normativ orientierte Zielvorstellung des Handelns begreift, sondern als eine, die ihren Ausdruck in den alltäglichen medialen Tätigkeiten findet (vgl. Jenkins u. a. 2008). Erleichtert wird diese Art von Teilhabe durch einfache Hilfsmittel wie etwa Software. Diese Hilfsmittel fördern produktive Akte und sie bieten die Möglichkeit, sich fast zu jeder Zeit und allerorts in Interaktionen mit anderen einzubringen. Dieser Ausgangspunkt korrespondiert mit einem Grundprinzip handlungs- und subjektorientierter Medienpädagogik, das – ausgehend von den Lebenswelten und Ressourcen der Heranwachsenden – Kinder und Jugendliche bei ihrer souveränen Lebensführung mit Medien begleiten und unterstützen will. Mit dem Begriff der souveränen Lebensführung wird der Versuch unternommen, die Verbindung zwischen den notwendigen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen des Subjekts zur Bewältigung des Alltags herzustellen (siehe ausführlich Wagner 2013). Aufgabe der Pädagogik ist es, entsprechende Räume für ihre Förderung zu eröffnen, um damit eine souveräne Lebensführung von Heranwachsenden zu unterstützen. So umfasst die Entwicklung einer Kultur von Partizipation notwendigerweise auch die Entwicklung von Kompetenz im Umgang mit medialen Interaktions- und Kommunikationsstrukturen. Darüber hinaus ist auch notwendig, in der pädagogischen

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Ulrike Wagner

Praxis eine Diskussion über den Zusammenhang von Partizipation und Medien, insbesondere dem Social Web zu führen (vgl. dazu ausführlich Wagner/Gerlicher/ Brüggen 2011). 2 GESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFÄHIGKEIT UND PARTIZIPATION Ausgangspunkt für eine Diskussion um den Zusammenhang zwischen Partizipation und Medienhandeln bildet das Konzept des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts in der Begriffsbestimmung nach Geulen: Es ist grundsätzlich in der Lage, selbstständig die Welt zu erkennen, zu reflektieren, Handlungsalternativen abzuwägen, sich auf andere Subjekte und deren Interessen zu beziehen und mit ihnen zu verständigen (Geulen 2005: 153). Zentraler Aspekt in dieser Konzeption ist eine dialektische Beziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft, in der das Subjekt beständig seine Handlungsfähigkeit und damit auch sich selbst weiterentwickelt (ebd.: 168). Die Subjekte bringen sich je nach Entwicklungsstand, ihren Motiv- und Interessenlagen mit ihren Bedürfnissen in ihre jeweiligen Sozialräume ein. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt ist ein emanzipiertes, aktives Subjekt, das sich selbstbestimmt an gesellschaftlichen Diskursen kommunikativ beteiligt. Damit ist die Zielebene gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit die Teilhabe des Subjektes an seiner engeren und weiteren Sozialwelt. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt entwickelt sich in Interaktion mit der Umwelt. Die Medien sind integrierter Bestandteil der Umwelt. Sie vermitteln die Umwelt an die Menschen und sind zugleich ein Instrument des menschlichen Handelns. Die Kompetenz des Medienhandelns der Subjekte ist entsprechend als ein konstitutiver Teil gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zu werten. (Theunert/Schorb 2010: 251)

In der Auseinandersetzung des Subjekts mit der (mediatisierten) Welt haben Medien, ihre inhaltlichen Angebote und zunehmend auch mediale Kommunikationsund Interaktionsstrukturen wichtige Funktionen. Das Medienhandeln ist integriert in alltägliche Lebensvollzüge und damit integrativer Bestandteil der Sozialisation Heranwachsender. Das gesellschaftlich handlungsfähige Subjekt ist – insbesondere mit Blick auf Partizipation – ein sich informierendes, sich orientierendes sowie ein kommunizierendes Subjekt, das hierzu kompetent auf Medien zugreift (Wagner/ Würfel 2013: 160). Teilhabe im Sinne beteiligungszentrierter Demokratietheorien umfasst soziale, kulturelle und politische Sphären und erschöpft sich nicht in einem einfachen Drinnen oder Draußen, also der Inklusion in oder Exklusion von Gesellschaft.1 Dabei wird Partizipation als „politische Beteiligung möglichst vieler über möglichst vieles, und zwar im Sinne von Teilnehmen, Teilhaben, Seinen-Teil-Geben und innerer Anteilnahme am Schicksal eines Gemeinwesens“ (Schmidt 2008: 236) angesehen. 1

M. Schmidt (2008) fasst unter diesem Begriff sowohl unterschiedliche Ansätze der partizipatorischen Demokratietheorien (z. B. Pateman 1970) und deliberative Ansätze der Demokratietheorie (z. B. Habermas 1992, 1999, Fishkin 1991, 1997) zusammen.

Pseudo-Beteiligung oder Demokratie ‚von unten‘?

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Teilhabe an der Willensbildung „[ist] ein wichtiger und für Demokratien unerlässlicher Bereich von Partizipation“ und zudem ist „mit dem Begriff der Partizipation ein umfassender sozialer und politischer Anspruch sowie eine vielgestaltige Praxis der Beteiligung verbunden“ (Krüger 2008: 60). Mit diesem breiten Begriff von Partizipation, der nicht eingeengt wird auf Beteiligung in Bezug auf politische Entscheidungsprozesse im engeren Sinn, wird es möglich, die Beteiligungsprozesse in allen Lebensbereichen in den Blick zu nehmen, vor allem auch jene Bereiche, die für die alltägliche Lebensführung von Relevanz sind. Wenn Partizipation als Grundmuster gesellschaftlichen Zusammenlebens angesehen wird, ist davon grundsätzlich die gesamte Lebenswelt der Heranwachensenden tangiert. Bartelheimer (2008) systematisiert fünf Bereiche der Teilhabe: Erwerbsarbeit, soziale Nahbeziehungen und informelle Arbeit, bürgerlich-politische Rechte, soziale Rechte und Bildung/ Kultur (Bartelheimer 2008: 16). Für Kinder und Jugendliche gilt es dabei zu berücksichtigen, dass sich zum einen ihre im engeren Sinn politischen Rechte der Mitbestimmung noch eher auf den engeren Nahbereich (Kommune) konzentrieren. Zum anderen werden sie aber ebenfalls mit Globalisierungsthemen (z. B. Klimawandel, Nachhaltigkeit, Umweltschutz) konfrontiert. Im Alltag der Kinder- und Jugendlichen sind also Möglichkeiten zur Mitbestimmung und -gestaltung in ihren unmittelbaren Nahräumen zu finden, die nicht nur auf pädagogische Proberäume beschränkt sind, sondern auch durchaus ihre Alltagswelt prägen können (Wagner 2011: 58). Aus der Perspektive der Sozialpsychologie, die die Entwicklung des Subjekts unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt stellt, argumentiert Keupp, dass Partizipation eine zentrale Rahmenvoraussetzung für die Identitätsarbeit in einer spätmodernen Gesellschaft ist: Die roten Fäden für die Stimmigkeit unserer inneren Welten zu spinnen, wird ebenso zur Eigenleistung der Subjekte wie die Herstellung lebbarer Alltagswelten. Menschen müssen in der Lage sein, ein Berufsleben ohne Zukunftsgarantien zu managen, ihren individuellen Lebenssinn ohne die Vorgabe von Meta-Erzählungen zu entwickeln und eine Komplexität von Weltverhältnissen auszuhalten, die nur noch in Sekten auf ein einfaches Maß reduziert werden kann. (Keupp 2008: 21)

Für eine gelingende Lebensbewältigung stehen „Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Schöpfung von Lebenssinn“ (ebd.). Keupp diagnostiziert unsere gegenwärtige gesellschaftliche Phase als eine, in der den Subjekten stabile kulturelle Rahmungen abhanden gekommen sind. Umso mehr ist heutzutage individuelle Passungs- und Identitätsarbeit gefordert, deren Gelingen sich aus der Perspektive des Subjekts „von innen am Kriterium der Authentizität und von außen am Kriterium der Anerkennung bemisst“ (ebd.). Als Konsequenz daraus müssen Heranwachsende in ihren Ressourcen so gestärkt werden, dass sie ihre eigene Identitätspassung finden. Für eine „verbindliche und umfassende Partizipation“ ist diese „Empowermentperspektive“ unabdingbar (ebd.), wenn Partizipation von Heranwachsenden nicht nur Alibifunktionen eines ‚So-tun-als-ob‘, einer scheinbaren Beteiligung an Entscheidungen übernehmen soll (vgl. dazu z. B. Stange 2007, Wagner 2011: 56ff.):

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Ulrike Wagner

Ernstgemeinte Partizipation sichert den Heranwachsenden ihren Status als Subjekte mit eigener Entscheidungsgewalt. Partizipation wird dabei nicht gewährt, sondern sie ist ein fundamentales Recht aller Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Knauer/Sturzenhecker 2005). Mitsprache, Mitwirkung und Mitbestimmung reichen noch nicht aus, den Ansprüchen dieser Perspektive gerecht zu werden. Zentral für die Erfüllung der Ansprüche dieser normativen Begriffsbestimmung von Partizipation ist die mitverantwortliche Selbstbestimmung: Partizipation muss also so gestaltet werden, dass sie ein Mehr an Mit- und Selbstbestimmung der Jugendlichen herausfordert und auch ihre Fehler, mangelnden Kompetenzen, Rückschritte als Aspekte des Lernprozesses zu mehr Demokratie versteht. (Ebd.: 67)

Diese Begriffsbestimmung knüpft an die Ansätze der partizipatorischen bzw. deliberativen Demokratietheorie an (vgl. dazu z. B. Barber 1994, Fraser 1996). Partizipation wird in diesen Ansätzen als „permanenter Lernprozess möglichst vieler Menschen“ begriffen (Stange 2007: 10). Zentral für den pädagogischen Prozess erweist sich, dass durch die konzeptionelle Radikalität der Zielperspektive Selbstbestimmung die Zwischenstufen und -schritte von Beteiligung nicht als wertlos betrachtet werden. Knauer und Sturzenhecker (2005) verweisen darauf, dass diese Zwischenstufen in Bezug zum Entwicklungsstand und zu den Kompetenzen der Heranwachsenden zu betrachten sind. 3 RESSOURCENORIENTIERUNG ALS ZENTRALES PRINZIP Als Voraussetzungen für Partizipation sind die Rahmenbedingungen des Aufwachsens sowie die individuellen wie strukturellen Ressourcen der Subjekte zu differenzieren (Wagner 2011: 60ff.): Die Fähigkeiten zur Mitbestimmung sind an das Alter und den psychosozialen Entwicklungsstand der Heranwachsenden gebunden und werden sukzessive entwickelt. Die Ausbildung dieser Fähigkeiten ist eng an ihre sozialen und moralischen Lernerfahrungen sowie ihre kognitiven Kompetenzen geknüpft. „Wichtig ist, dass sie grundsätzlich dazu in der Lage sind und Fähigkeiten der Beteiligung an demokratischen Entscheidungen potenziell besitzen und deshalb auch ihre Fähigkeiten darin entwickeln und steigern können“ (Knauer/Sturzenhecker 2005: 68). Materielle Sicherung bildet eine weitere Grundvoraussetzung für Partizipation. Kinder und Jugendliche sind in Deutschland im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich von Armut betroffen und materielle Ressourcen entscheiden den Zugang zu Bildung, Kultur und Gesundheit mit. Dies führt zu einer „wachsenden Ungleichheit der Chancen auf Lebensgestaltung“ (Keupp 2008: 23, vgl. auch Knauer/Sturzenhecker 2005) im Sinne einer Entwicklung einer souveränen Lebensführung, zu der auch die Erfahrung von Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gemeinschaft gehört. Neben den materiellen Ressourcen sind es soziale Netzwerke, familiäre wie außerfamiliäre, im Jugendalter insbesondere die Beziehungen zu den Peers, denen besondere Bedeutung auch in Bezug auf Beteiligungsprozesse zuzusprechen ist. Diese Netzwerke müssen aktiv gepflegt werden und setzen wiederum soziale Kompetenzen voraus (Keupp 2008: 22). Sie bilden ein wesentliches

Pseudo-Beteiligung oder Demokratie ‚von unten‘?

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Auffangnetz für die Arbeit an der eigenen Identität, der Bewältigung von Krisen und Belastungen, und sie haben damit „unterstützende Qualität für eine souveräne Lebensgestaltung“ (ebd.: 23). Bartelheimer (2008) skizziert ein Modell der Teilhabe mit Bezug auf den Capability-Ansatz von Sen (1999).

Abb. 1: Wie Teilhabe ‚funktioniert‘ (Bartelheimer 2008: 15), eigene Darstellung (Wagner 2011: 62).

Die oben skizzierten Ressourcen bilden die Voraussetzungen, um Teilhabe zu realisieren. Diese Umsetzung der Möglichkeiten verlangt individuelle Fähigkeiten und gesellschaftliche Strukturbedingungen (z. B. sozioökonomische Faktoren). Davon hängen wiederum die Handlungs- und Entscheidungsspielräume zur Verwirklichung der persönlichen oder mit anderen geteilten Teilhabeziele ab. Das Ergebnis ist eine spezifische Lebenslage, die sowohl auf individuelle wie strukturell-gesellschaftliche Bedingungen zurückzuführen ist. Teilhabe hat zudem in unterschiedlichen Lebensbereichen verschiedene Ausformungen, je nach Verfügbarkeit der Ressourcen und Umwandlungsfaktoren (Bartelheimer 2008: 16). Mit ressourcenorientierten Ansätzen, die den Blick auf die handelnden Subjekte richten und deren soziale, kulturelle und persönliche Bedingungen systematisch einbeziehen, können die individuellen Eigenarten und Kompetenzen der Subjekte differenziert betrachtet werden (Leu 2002: 22). Eine Differenzierung von Ressourcen kann dazu beitragen, Lebenslagen zu dimensionieren und man gewinnt „eine an typischen Alltagsthemen und -anliegen orientierte Darstellung ungleicher Voraussetzungen der Interessenentfaltung und -realisierung“ (ebd.). Diese Ansätze erscheinen auch für eine interaktionistische Perspektive auf Sozialisation mit, in und über Medien hilfreich, um das Subjekt in seinen sozialen, kulturellen und politischen Handlungsräumen zu betrachten: Sie berücksichtigen sowohl die individuellen Voraussetzungen als auch lebensweltliche (sozio-ökonomische wie soziokulturelle) Bedingungen, die die alltägliche Lebensführung rahmen (Wagner 2001: 63).

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4 VERÄNDERUNGEN IM MEDIENHANDELN VON HERANWACHSENDEN Spätestens mit dem Ende der Kindheit weitet sich das Medienspektrum der Heranwachsenden, und es kommen verstärkt mediale Angebote, die Kommunikationsund Interaktionsstrukturen bieten, in den Blick der Heranwachsenden. In der Auseinandersetzung mit den Medien sind viele Heranwachsende im beginnenden Jugendalter offen gegenüber neueren Entwicklungen. Mit dem „Mitmachnetz“ (Fisch/ Gscheidle 2008) treten neue Strukturen und Räume in den Vordergrund, die den Mediengebrauch der Heranwachsenden nachhaltig verändern und die die Möglichkeiten, selbst zum Akteur/zur Akteurin zu werden, vereinfachen. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Umgang mit Sozialen Netzwerkdiensten (Wagner/Bürggen 2013) oder auch bei der Bearbeitung von Videos und Bildern, die nicht mehr nur einem auserwählten Kreis von technikbegeisterten oder internetaffinen Personen zur Verfügung stehen, sondern insbesondere unter Jugendlichen in allen Bildungsmilieus weit verbreitet sind (Wagner 2008, vgl. dazu z. B. auch Tillmann 2008, Boyd 2008, Schorb u. a. 2008 und 2009). Die Betrachtung der Medien als Gestaltungs-, Produktions- und Lebensräume erhält durch derartige Angebote neue Akzentuierungen. In Online-Räumen wie z. B. den Angeboten des Social Web, in denen sich Heranwachsende bewegen und verschiedenartigen Tätigkeiten nachgehen können, haben sie nun mehr denn je Möglichkeiten, sich mit ihren handlungsleitenden Themen und mit unterschiedlich gelagerten Motiven auseinanderzusetzen. Sie sind zum einen Rezeptionsfläche für mediale Inhalte und zum anderen Räume zur Interaktion und zur Präsentation eigener Werke (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel 2009). Studien zum Umgang mit Konvergenz (Wagner/Theunert 2006, Wagner/Brüggen/Gebel 2009) und Untersuchungen, die sich mit dem Internetumgang von Heranwachsenden befassen (z. B. Schmidt/Paus-Hasebrink/Hasebrink 2009), verweisen auf Erweiterungen im Medienhandeln von Heranwachsenden und die Bedeutung für ihre Lebensvollzüge. Insbesondere im Umgang mit Social Web-Angeboten zeigen sich diese Erweiterungen besonders deutlich: - Erweiterungen sind beim Zugang zu den Optionen der Medienwelt festzustellen. Das Angebot an gestalterischen Tätigkeiten ist niedrigschwelliger geworden und wird von vielen Heranwachsenden, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, genutzt. Eigene Fotos als Slideshow zusammenzustellen ist z. B. für viele Heranwachsende selbstverständlich geworden. - Kommunikative Aktivitäten gehören für viele Jugendliche inzwischen zum Alltag und sind fester Bestandteil ihres alltäglichen Medienhandelns. Insbesondere kommunikativ orientierte Plattformen bieten Räume für Austausch und für die Erfahrung sozialer Zugehörigkeit an. - Sich und seine Anliegen zu präsentieren, z. B. über die Strukturen in Sozialen Netzwerkdiensten, bietet neue Möglichkeiten, um einerseits Facetten des Selbst zu erproben. Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass sich die Möglichkeiten, Identitätsarbeit mit und über Medien nachzugehen, erweitern. Zum anderen sind damit wiederum Möglichkeiten verknüpft, um andere auf die eigene

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Position oder sogar eigene (politische) Aktionen aufmerksam zu machen und sich mit anderen (Gleichgesinnten) zu vernetzen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität findet dabei auf drei Ebenen statt (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel 2009, Wagner 2011: 147): Auf der individuell-persönlichen, der sozialen, aber auch der gesellschaftlich-kulturellen Ebene. Zentral für diese Prozesse der Identitätsarbeit werden nicht nur die gestalterischen Tätigkeiten der Heranwachsenden, sondern auch die Möglichkeiten, sich und seine Werke zur Diskussion stellen zu können. Jugendliche finden in diesen Räumen zudem die Möglichkeit, sich selbstbestimmte Freiräume zu schaffen. Neben der Erfahrung sozialer Eingebundenheit bilden Kompetenzerleben und die Erfahrung von Autonomie zwei weitere, zentrale Dimensionen gelingender Identitätsarbeit. Sich selbst als kompetent zu erleben ist für die Heranwachsenden dort möglich, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können und ihr Wissen als Expertinnen und Experten geschätzt wird: Dies kann z. B. in verschiedenen Jugendszenen wie Computerspielszenen etc., in denen Medien eine wichtige Rolle spielen, erfahren werden. Die Erfahrung von Autonomie tangiert ein wesentliches Motiv, nämlich den Wunsch, sich zur Geltung bringen zu können. Gerade über die produktiv-gestalterischen Tätigkeiten kann diesem Wunsch Ausdruck verliehen werden. 5 SYSTEMATISIERUNG VON BETEILIGUNGSFORMEN IM INTERNET2 Um einen differenzierten Blick auf das Handeln der Heranwachsenden im Internet und deren Möglichkeiten für Partizipation werfen zu können, bietet sich das Stufenmodell von Schröder (1995) in der Modifizierung von Stange (2007) an, der drei Bereiche von Teilhabe bestimmt:3 - Formen der Beteiligung4, die von der Teilhabe bis hin zur Mitbestimmung reichen, - Formen der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung und - Fehlformen, in denen Kinder und Jugendliche nicht selbst entscheiden können, in denen sie als Dekoration dienen oder nur Alibi-Funktionen übernehmen.

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Dieser Abschnitt ist in Teilen übernommen aus Wagner/Gerlicher/Brüggen (2011: 5f.) sowie Wagner/Brüggen (2012: 27ff.). Die ursprüngliche Gliederung von Schröder (1995) sieht eine Stufenleiter vor, die Stange aber nebeneinander als nicht hierarchisch gegliederte Abfolge darstellt. Beteiligung umfasst im ursprünglichen Modell zudem den Bereich von „Zuweisung und Information“, der sich aber als sehr spezifisch für sozialpädagogische Kontexte erweist und deshalb in der Übertragung auf das Medienhandeln nicht berücksichtigt wurde.

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Fehlformen

Beteiligung

Selbstbestimmung

-

-

-

Fremdbestimmung Dekoration Alibi-Teilnahme

Teilhabe Mitwirkung Mitbestimmung

Selbstbestimmung Selbstverwaltung

Abb. 2: Zusammenfassung der Partizipationsformen (Wagner 2011: 164)

Dieses Modell kann für eine Differenzierung des Medienhandelns in Online-Räumen nutzbar gemacht werden, und mit ihm kann eingeschätzt werden, wo sog. Beteiligung zum Alibihandeln wird, z. B. bei tendenziösen Web-Umfragen, die eher der Meinungsmanipulation dienen, oder einer Beschränkung auf einen Klick mittels eines ‚Gefällt mir‘-Buttons. Diese Kategorisierung zeigt aber auch, wie ‚echte‘ Beteiligungsformen im Internet aussehen sollten und an welchen Kriterien sie zu bemessen sind (vgl. ausführlich Wagner 2011). Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass es nicht ausreicht, das Medienhandeln alleine zu betrachten; der thematische wie der soziale Kontext sind wesentlich, um die Qualität von Beteiligungsformen einschätzen zu können. Unterschiedliche Formen der Beteiligung lassen sich beispielhaft am Gebrauch jener Angebote, die unter dem Schlagwort des Social Web zusammengefasst werden, differenzieren: - Das Positionieren über Statements oder über die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen ist eine gängige Form der Teilhabe, im Sinne von Stange (2007) verstanden als eher einfache Form, am Geschehen einer Gruppe teilzuhaben. - Mitwirkung ist über die verschiedenen Formen des Sich-Einbringens möglich: Insbesondere wenn Jugendliche eigene Werke online präsentieren, leisten sie einen aktiven Beitrag zur Gestaltung des medialen Raumes. Dabei werden Themen aufgeworfen, diskutiert und die Einzelnen können über Beiträge von anderen Rückmeldung erhalten. Weitere Formen sind unter dem Stichwort Mitbestimmung zusammenzufassen. Die Formen der Beteiligung weisen hier eine große Bandbreite auf, z. B.: - die Einrichtung und Moderation eigener Gruppen in Communitys, - verschiedene Formen der Abstimmung, z. B. über das Erscheinungsbild einer Community oder - Mitbestimmungsformen über die Ausrichtung und thematischen Schwerpunkte der Angebote. Formen der Selbstbestimmung sind da auszumachen, wo Heranwachsende sich ihre eigenen Räume weitgehend außerhalb vorgegebener und vorstrukturierter Räume schaffen und ihre eigenen Spielregeln konstituieren, z. B. - in Form von selbst initiierten thematischen Communitys oder Foren, die unabhängig von etablierten Communitys gemeinschaftlich realisiert werden,

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- über eigene Websites, Blogs oder die Nutzung von Social Web-Tools wie Twitter, bei denen die Anbieter Strukturen zur Verfügung stellen, aber innerhalb dieses Rahmens keine inhaltlich einschränkenden Vorgaben zu erkennen sind. Hier ist die Eröffnung von Diskursen zu bestimmten Themen möglich, die in ihren Konsequenzen dem Ideal von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung nahekommen können. Der Blick auf den „Gefällt mir-Klick“ oder die Bewertung bestimmter Dinge nach Sternen oder Punkten reicht nicht aus, um das Handeln der Subjekte in Bezug auf Partizipation einzuschätzen. Wichtiger erscheint es, ihre zugehörigen Artikulationen und die sozialräumlichen Kontexte hinzuzuziehen, um zu einer differenzierten Bewertung zu kommen. Ein Beispiel dafür, wie sich Beteiligungskultur in alltägliches Medienhandeln einbetten kann, bietet die Beobachtung des Verlaufs der Markteinführung von Battlefield 3 (Wagner/Brüggen 2012: 26): Der Umgang mit persönlichen Daten durch Electronic Arts (EA), den Anbieter des Spiels, erzeugte viel Aufsehen in der entsprechenden Computerspielszene. Um dieses Spiel spielen zu können, musste erst Origin installiert und dabei einer Lizenzvereinbarung zugestimmt werden, bei der man u. a. dem Spieleanbieter das Recht einräumte, auf individuelle Daten auf dem Computer der Spielenden zuzugreifen. Daraufhin hat sich ein großer Proteststurm auf www.amazon.de erhoben. Tausende von Spielbegeisterten gaben die niedrigstmögliche Bewertung für das Spiel ab, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen und so Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erlangen. Sie konnten tatsächlich Druck ausüben, sodass EA diese Bestimmungen teilweise zurücknahm bzw. umformulierte. Darüber hinaus wurde auf amazon.de z. B. auch auf Online-Petitionen zum Datenschutz hingewiesen. Das Beispiel zeigt, wie ein kommerziell gerahmter Handlungsraum in Gebrauch genommen werden kann, um seine Meinung auch schon mit einem Klick zu äußern, damit aktuelle Entwicklungen zu kommentieren und auf diese Weise gesellschaftlich relevante Diskussionen anzustoßen und voranzubringen. Für Antworten auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Partizipation mit und über Medien sind also mehrere Ebenen zu berücksichtigen – die Verankerung partizipativer Handlungsformen in der Alltagspraxis von Heranwachsenden, ihre Formen, sich zu artikulieren und die Foren, in denen sie Resonanz darauf erhalten. 6 KRITERIEN FÜR EINE MEDIENPÄDAGOGISCHE AUSEINANDERSETZUNG MIT BETEILIGUNGSFORMEN IM UND AUSSERHALB DES SOCIAL WEB Der bislang skizzierte Rahmen verdeutlicht, dass eine medienpädagogische Auseinandersetzung differenziert und systematisch vonstatten gehen muss, um eine Weiterentwicklung von pädagogischen Modellen und Konzepten zu forcieren. Im Sinne der Verwobenheit von On- und Offline-Interaktionen in den Sozialräumen werden derartige Projekte im Folgenden als Partizipationsprojekte bezeichnet. Pädagogische Partizipationsprojekte, deren Leitlinien handlungsorientiertes Lernen und Ressourcenorientierung bilden und die sozialräumliche Aneignungsprozesse von

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Heranwachsenden berücksichtigen, ermöglichen es, Heranwachsende in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen zu begleiten, um gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Zentral erscheinen für eine Diskussion dieser Partizipationsprojekte folgende Leitlinien, wie sie Sturzenhecker (2007) für die politische Bildungsarbeit formuliert hat und die für Beteiligungsprojekte im, mit und über das Social Web weiterhin Gültigkeit beanspruchen können: - „Sehen und anerkennen“ als respektvolles Beobachten ist die Grundvoraussetzung, um die Ressourcen und die Verschiedenheit von Heranwachsenden zu akzeptieren und erst darauf aufbauend ihre Themen, Bedürfnisse und Motivationen einzuordnen und im Projektkontext zu integrieren. - „Jugendlichen eine Stimme geben“ bedeutet, dass Jugendliche ihre eigene Position zu bestimmten Themen finden, diese für berechtigt halten und ihr auch Ausdruck verleihen und sich Gehör verschaffen können. Dazu gehört auch, Raum für Resonanz und Dialog zu schaffen. - „Demokratischen Konflikt ermöglichen“ wird im Austausch von Positionen und Argumenten möglich, bei dem die Kritikfähigkeiten der Jugendlichen gefordert und sukzessive erweitert werden. Geschärft werden müssen aber die Kriterien, an denen Partizipationsprojekte zu messen sind, die sich dieser medialen Werkzeuge bedienen. Folgende Kriterien erscheinen im Kontext des vorliegenden Beitrags zentral (Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011: 36ff.)5: 1. Partizipationsprojekte müssen sich an den Aneignungs- und Handlungsweisen der Einzelnen in ihren Sozialräumen orientieren. Das Wissen über die Aneignungs- und Handlungsweisen der Einzelnen in ihren Sozialräumen ist (weiterhin) Voraussetzung, um Projekte der politischen Bildungsarbeit zu konzipieren und umzusetzen. Für Partizipationsprojekte bedeutet dies, sich differenziert mit den anzusprechenden Zielgruppen und ihrem Medienhandeln zu beschäftigen. Medienhandeln erweist sich als sozial strukturiert und ist eng mit kulturellen Milieus und ihren spezifischen Ausdrucksformen, wie z. B. in bestimmten jugendkulturellen Szenen, verbunden. Umso wichtiger ist eine fundierte Auseinandersetzung mit der anvisierten Zielgruppe und - ihren Themen und Interessen sowie den damit verbundenen Motivlagen, - den medialen und nicht medialen Interaktions- und Kommunikationsformen in ihren Sozialräumen, vor allem im Peer-to-Peer-Kontakt, - den von ihnen gewählten produktiven Ausdrucksweisen (z. B. Videos oder Fotos) sowie - ihren ästhetischen Ansprüchen an die mediale Aufbereitung und Gestaltung von Themen. Die Verwobenheit von On- und Offline-Interaktionen bedeutet, dass Sozialräume zunehmend über Social Web-Angebote, insbesondere Soziale Netzwerkdienste, von den Heranwachsenden strukturiert werden. Ihre Handlungspraktiken im Alltag sind es, die zunächst den Maßstab für den Einstieg in politische Bildungsarbeit setzen, um sie in der medialen Artikulation ihrer Interessen und Belange zu unter5

Die Kriterien sind vollständig nachzulesen in Wagner/Gerlicher/Brüggen (2011: 36ff.).

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stützen und zu begleiten. Dabei ist insbesondere das Zusammenspiel verschiedener Artikulationsformen (über Text, Bild und Ton) als vernetztes Handeln in den Blick zu nehmen. 2. Partizipationsprojekte müssen Resonanzräume schaffen, damit Jugendliche Anerkennung und Wirksamkeit erfahren. Die Artikulation von Interessen und Belangen impliziert deren Veröffentlichung. Sich Gehör zu verschaffen für seine Anliegen ist aber ein schwieriges Unterfangen, da mit dem Prinzip, dass im Social Web potenziell jede/r senden und empfangen kann, es auch schwieriger geworden ist, Öffentlichkeit(en) anzusprechen und zu erreichen. Damit sich Partizipationsprojekte nicht nur mit einem ‚So-tun-als-ob‘ begnügen, bei dem Partizipation auf einer Spielwiese erprobt wird, sondern die Stimmen der Jugendlichen auch gehört werden und sie die Wirksamkeit ihres Handelns erfahren können, sind Resonanzräume erforderlich. Diese Resonanzräume müssen in pädagogischen Projekten zum Thema Partizipation bewusst gestaltet werden; dabei sind insbesondere die Spezifika der Social Web-Angebote, z. B. Feedback-Kanäle, kooperative Arbeitsweisen etc. in den Blick zu nehmen. Diese ermöglichen zum einen Resonanz in Bezug auf das subjektive Kompetenzerleben der Einzelnen, die Rückmeldung auf ihre Handlungen bekommen. Zum anderen ist aber auch Resonanz über das aktive Einbinden von relevanten Teilöffentlichkeiten anzustreben, in dem z. B. der Kontakt zu relevanten Entscheidungsträgern oder zu anderen im selben Themenfeld engagierten Gruppierungen on- und offline gesucht wird und eine diskursive Auseinandersetzung stattfindet, die über den engen Projektkontext hinausreicht und Partizipationserfahrungen in einem (wenn auch medial vermittelten) sozialen Austausch ermöglicht. 3. Partizipationsprojekte müssen ihre Unterstützungsleistungen differenzieren, die sie über medial gestützte Strukturen anbieten. Heranwachsende erfahren vielfältige Unterstützung über ihre Peergroup und insbesondere in Sozialen Netzwerkdiensten in Form von sozialer Einbettung, Erleben von Kompetenz und Erfahrung von Autonomie. Für Partizipationsprojekte ist es wichtig, Unterstützung im Peer-to-Peer-Kontext als auch angeleitete oder mediale Unterstützungsangebote zu differenzieren. Dabei ist zu klären, - in welchen Bereichen Heranwachsende Unterstützung erfahren können und - in welcher Form Social Web-Strukturen dafür herangezogen werden. Zentral ist dabei, die Beteiligungsmöglichkeiten zu differenzieren und je nach Zielstellung des Projekts ihren Einsatz zu überlegen. Die Kategorien der Mitwirkung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung sollten dabei leitend sein. Je nach Vorerfahrungen brauchen Jugendliche Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für ihre Fragen. Insbesondere Gleichaltrige werden dabei besonders geschätzt. Dem Ideal der Selbstbestimmung am nächsten kommen Projekte, die auf die Expertise unter Gleichaltrigen setzen (Peer-to-Peer-Lernen). Insbesondere jene Jugendlichen, die weniger Erfahrung mit Social Web-Angeboten mitbringen, brauchen gezielte Unterstützungsangebote zu den Zielen des Projekts, zur Erläuterung der Handlungsund Gestaltungsmöglichkeiten und dazu, wie sie ihre Ansprechpersonen bei Fragen finden können.

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7 HERAUSFORDERUNGEN FÜR PARTIZIPATIONSPROJEKTE IM KONTEXT GESELLSCHAFTLICHER ENTWICKLUNGEN Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen werden Herausforderungen offenkundig, die gerade für die Auseinandersetzung mit Partizipation und Pädagogik von entscheidender Bedeutung sind, wenn Partizipationsprojekte ihren Anspruch umsetzen wollen, Wirkung im Sinne von Einflussnahme auf Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zu erzielen (Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011: 33ff.): - Individualisierungstendenzen im Medienhandeln aufgreifen und hinterfragen: Im Medienhandeln der Einzelnen sind deutliche Individualisierungstendenzen festzustellen. Augenfällig wird dies insbesondere beim Informationsverhalten: So sind Inhalte orts- und zeitunabhängig abrufbar, die Suche nach Informationen bestimmt sich immer stärker nach subjektiven Gesichtspunkten. Dies bedeutet, dass jede/r Einzelne mehr gefordert ist, sich Informationen zu beschaffen. Die unterschiedlichen hierfür entwickelten Routinen rücken im alltäglichen Medienhandeln nur selten ins Bewusstsein. In Bezug auf Partizipationsprojekte ist es jedoch gewichtig, für alle einen ähnlichen Informationsstand herzustellen, da dies die Basis für demokratische Willensbildungsprozesse bildet. - Kommerzielle Entwicklungen im Social Web als Thema aufgreifen und nichtkommerzielle Alternativen bereithalten: Viele beliebte Räume des Social Web sind kommerziell strukturiert und primär an kommerziellen Interessen ausgerichtet. Sie sind nicht auf gesellschaftliche Teilhabe gerichtet, Beteiligung zielt hier auf ‚harvesting the crowd‘, d. h. über die Beteiligung möglichst vieler finanziellen Mehrwert (sei es über Werbung o. Ä.) abzuschöpfen. Diese kommerziellen Räume sind fest in der Medienhandlungspraxis von Heranwachsenden verankert, sie geben einen Rahmen für die Wahrnehmung von Inhalten, für alltägliche Interaktion und Kommunikation. Diese Räume werden aber auch von ihren Nutzenden ausgestaltet und für vielfältige Zwecke und Interessen in Gebrauch genommen. Damit gestalten Heranwachsende ‚ihre‘ Sozialräume, in denen offline und online eng miteinander verwoben sind und vielfältige Aushandlungsprozesse stattfinden (vgl. Wagner/ Brüggen 2013). Nicht kommerzielle mediale Räume stehen im Vergleich dazu meist im Abseits und müssen sich mit der Frage beschäftigen, wie und ob sie mit kommerziellen Angeboten verbunden sein wollen.6 - Transparenz bildet die Voraussetzung für die Realisierung von Partizipation und birgt andererseits auch die Gefahr der Kontrolle über die Beteiligten: Die Forderung nach Transparenz ist wesentlich für demokratische Willensbildungsprozesse. So ist das Ideal einer diskursiven Öffentlichkeit nicht denkbar ohne das Offenlegen von Akteurinnen und Akteuren und ihren Zie6

Siehe auch die Diskussion auf www.pb21.de zwischen Christiane Schulzki-Haddouti (Online: http://pb21.de/2011/06/nur-facebook-abstinenz-uberzeugt; Abfrage: 01.07.2014) und Thomas Pfeiffer (Online: http://pb21.de/2011/06/politische-bildung-muss-nach-facebook, Abfrage: 01.07.2014).

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len, Abläufen der Willensbildung und der Entscheidungsfindung. Dies gilt sowohl für die Verfahren repräsentativer Demokratien als auch für kooperative und direktdemokratische Verfahren. Zugleich gilt Transparenz im Sinne der Veröffentlichung von Informationen durch Medien stets als Mittel, um Machtapparate zu kontrollieren hinsichtlich der ‚4. Gewalt‘. Insofern sind Macht und deren Kontrolle ein beständiges Thema, das politische Strukturen prägt. Durch die Möglichkeiten digitaler Datenerfassung und -speicherung ist die Forderung nach Transparenz allerdings in einer neuen Facette zu beleuchten. Über die Auswertung von Daten der Beteiligten können Nutzungsprofile erstellt werden, die neue Kontrollmöglichkeiten erlauben. - Prozesse der Entgrenzung von öffentlichen und privaten Sphären zum Gegenstand machen: Die Herstellung von Öffentlichkeit ist ein grundsätzliches Prinzip demokratischer Willensbildung und ist notwendig, um Transparenz herzustellen. ‚Die‘ Öffentlichkeit erweist sich nicht erst durch die Etablierung von Social Media als fragmentiert (vgl. z. B. Stalder 2011, Winter 2010). Es bilden sich Nischen und Teilöffentlichkeiten aus, in denen zum Teil sehr spezialisierte Diskurse geführt werden und in denen sich eigene Symboliken und Praktiken entwickeln. Zu denken ist hier beispielsweise an verschiedene Jugendkulturen oder Medienszenen, wie Computerspiele-Clans, oder auch an zivilgesellschaftliche Gruppierungen. Die Artikulation der eigenen Anliegen (auch in Teilöffentlichkeiten) reicht nicht aus, sie braucht Resonanz, um Wirkung im Sinne eines demokratischen Willensbildungsprozesses zu erlangen, d. h. Akteure müssen sich mit ihren Positionen entsprechend öffentlich machen und brauchen Feedback für eine diskursive Auseinandersetzung im Willensbildungsprozess. Wenn Beteiligte in den Strukturen des Social Web zu öffentlich Agierenden werden, sind aber z. B. über die Nutzerprofile auch thematisch unabhängige, persönliche Informationen zugänglich. Die Grenzen zwischen privat und öffentlich verschieben sich dabei, insbesondere dann, wenn Partizipationsprojekte nicht nur eigene, ‚geschlossene‘ Räume vorsehen, sondern mit ihren Aktionen in andere mediale Räume hineinwirken (z. B. kommerzielle Soziale Netzwerkdienste). Werden diese Informationen der Beteiligten aus den verschiedenen Räumen durch andere Nutzende miteinander verknüpft, können durchaus persönliche Informationen an Menschen gelangen, für die diese nicht bestimmt waren. Pädagogische Arbeit, insbesondere politische Bildung, soll, so die Grundannahme in der zugrundegelegten Definition von Partizipation, die Subjektwerdung von Individuen zur Übernahme gesellschaftlicher Mitverantwortung fördern. Dazu werden zielgruppensensibel konzipierte Projekte benötigt, die gestaltete Formen von Partizipation ermöglichen, damit Heranwachsende entsprechend ihrer Ressourcen ihre Fähigkeiten weiterentwickeln können. Ziel ist dabei, die Fähigkeiten zur Selbstorganisation zu stärken und dafür Sorge zu tragen, dass die Entwicklungsschritte des Lernens auch mit Phasen der Selbstbestimmung begleitet werden. Die grundsätzliche Offenheit für das Ziel Selbstbestimmung bildet den normativen Rahmen, an dem Partizipationsprojekte sich orientieren müssen. Dies impliziert auch eine Reflexion der Rolle pädagogischer Fachkräfte, bei der ein ‚Kontrollverlust‘

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über die öffentlich zugängliche Kommunikation dann nicht mehr als bedrohlich wahrgenommen, sondern als Selbstermächtigung und Selbstbestimmung von Heranwachsenden bewertet werden sollte. BIBLIOGRAPHIE Bartelheimer, Peter (2008): Was bedeutet Teilhabe. In: Maedler, Jens (Hrsg.): TeilHabeNichtse. Chancengerechtigkeit und kulturelle Bildung. 1. Aufl. München: kopaed Verlag, S. 13-19. Boyd, Danah (2008): Taken Out of Context. American Teen Sociality in Networked Publics. University of California, Berkeley. Online: http://www.danah.org/papers/TakenOutOfContext.pdf (Abfrage: 15.05.2013). Emmer, Martin/Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, Wolfgang/Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag, S. 36-58. Fisch, Martin/Gscheidle, Christoph (2008): Mitmachnetz Web 2.0: Rege Beteiligung nur in Communitys. In: Media Perspektiven, H. 7, S. 356-364. Online: http://www.media-perspektiven.de/ uploads/tx_mppublications/Fisch_II.pdf (Abfrage: 15.05.2013). Fishkin, James (1991): Democracy and Deliberation. New Directions of Democratic Reform. New Haven-London: Yale University Press. Fishkin, James (1997): The Voice of the People. Public Opinion and Democracy. New Haven-London: Yale University Press. Geulen, Dieter (2005): Subjektorientierte Sozialisationstheorie. Sozialisation als Epigenese des Subjekts in Interaktion mit der gesellschaftlichen Umwelt. Weinheim/München: Juventa Verlag. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1999): Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur Politischen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jenkins, Henry (2009): Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century. Massachusetts: MIT Press. Online: http://digitallearning.macfound.org/atf/ cf/%7B7E45C7E0-A3E0-4B89-AC9C-E807E1B0AE4E%7D/JENKINS_WHITE_PAPER. PDF (Abfrage: 15.05.2013). Keupp, Heiner (2008): Sozialpsychologische Dimensionen der Teilhabe. In: Maedler, Jens (Hrsg.): TeilHabeNichtse. Chancengerechtigkeit und kulturelle Bildung. 1. Aufl. München: kopaed Verlag, S. 20-26. Knauer, Raingard/Sturzenhecker, Benedikt (2005): Partizipation im Jugendalter. In: Hafeneger, Benno/Jansen, Mechthild M./Niebling, Torsten (Hrsg.): Kinder- und Jugendpartizipation: Im Spannungsfeld von Interessen und Akteuren. Opladen: Leske + Budrich, S. 63-94. Krüger, Thomas (2008): Teilhabe und Willensbildung – Chance für mehr Demokratie. In: Maedler, Jens (Hrsg.): TeilHabeNichtse. Chancengerechtigkeit und kulturelle Bildung. München: kopaed Verlag, S. 59-66. Leu, Hans Rudolf (2002): Sozialberichterstattung über die Lage von Kindern – ein weites Feld. In: Leu, Hans Rudolf (Hrsg.): Sozialberichterstattung zu Lebenslagen von Kindern. Opladen: Leske + Budrich, S. 9-33. Pateman, Carol (1970): Participation and Democracy. Cambridge: Cambridge University Press. Schmidt, Jan-Hinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe (2009): Entwicklungsaufgaben im Social Web. In: Schmidt, Jan-Hinrik/Paus-Hasebrink, Ingrid/Hasebrink, Uwe (Hrsg.): Heranwachsen mit dem Social Web. Zur Rolle von Web 2.0-Angeboten im Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin: Vistas, S. 265-274. Schmidt, Manfred G. (2008): Demokratietheorien. Eine Einführung. 4. überarb. und erw. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.

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Wagner, Ulrike/Würfel, Maren (2013): Gesellschaftliche Handlungsfähigkeit in mediatisierten Räumen. In: Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reißmann, Wolfgang (Hrsg.): Das handelnde Subjekt in der Medienpädagogik. Festschrift für Bernd Schorb. München: kopaed Verlag, S. 159-167. Winter, Rainer (2010): Widerstand im Netz. Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation. Bielefeld: Transcript Verlag.

DER ENTFESSELTE SKANDAL DIE LOGIK DER EMPÖRUNG IM DIGITALEN ZEITALTER1 Bernhard Pörksen, Hanne Detel

1 MERKMALE DES KLASSISCHEN SKANDALS Skandale sind, das lässt sich leicht zeigen, überall. Und es ist unendlich leicht geworden, sich zu empören – auch ohne das Informationsgewitter der digitalen Überall-Medien. Man muss nur eine Zeitung zur Hand nehmen, am besten die mit den großen Schlagzeilen. Man muss nur die Abendnachrichten einschalten, vorzugsweise die der privaten Sender. Man muss sich nur in irgendeiner Weise mit den Erregungsmaschinen der modernen Mediengesellschaft verbinden. Und schon ist er da, unabweisbar, aufdringlich und laut: der Skandal. Er treibt uns um, wenn auch nur für kurze Zeit; er fordert Opfer, die wir schnell vergessen; er zwingt zur öffentlichen Buße, was uns freut. Der Skandal ist allgegenwärtig – und zu einer Art Medium der Medien geworden: ein Raster zur Organisation von Erkenntnis und Aufmerksamkeit, eine Möglichkeit, ferne, unbekannte Sphären des Realen blitzschnell einzuordnen und ohne größere intellektuelle und sonstige Unkosten zu bewerten.2 Und es vergeht kein Tag, an dem diese Gesellschaft nicht mit neuen Vorschlägen, sich zu erregen und zu empören, versorgt werden würde. Es gibt Finanz- und Korruptionsskandale, Sex- und Missbrauchsskandale, Skandale des Feuilletons und der intellektuellen Debatte, politische Skandale, Skandale der Kirchen und der Gewerkschaften, der Unternehmen, der Banken und der Medien, des Sports, des Theaters und der Literatur. Wer das Wort Skandal bei Google eingibt, also die moderne Form des Existenz- und Relevanznachweises führt, erhält gut 46 Millionen Treffer. „Tag für Tag“, so der Philosoph Peter Sloterdijk, versuchen Journalisten neue Erreger in die Arena einzuschleusen, und sie beobachten, ob der Skandal, den sie auslösen wollen, zu blühen beginnt. Man darf nicht vergessen, dass in jeder modernen Nation jeden Tag zwanzig bis dreißig Erregungsvorschläge lanciert werden, von denen naturgemäß die meisten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen. Die moderne Gesellschaft ist zwar eine sehr skandalisierungsfreudige Lebensform, aber sie nimmt nicht jeden Skandalisierungsvorschlag auf. Die meisten Erregungsvorschläge werden abgelehnt oder mit mäßigem Interesse studiert.3 1

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Dieser Beitrag geht zurück auf das gemeinsame Buch „Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ (Herbert von Halem-Verlag, Köln) und erschien zuerst unter dem Titel „Über die Zukunft der Enthüllung – Journalismus in einer veränderten Medienwelt“ in der Zeitschrift: Aus Politik und Zeitgeschichte, 62. Jg., Nr. 29-31, S. 9-15. Smoltczyk 1999, S. 16-29. Sloterdijk 2007, S. 273.

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Allerdings hat die allgemeine Skandalsucht keine besonders gute Presse. Man nimmt sie eher angewidert zur Kenntnis. Im Kampf um Aufmerksamkeit und Marktanteile praktizierten Journalisten, so heißt es, eine brutale Form der Menschenjagd. Der Skandal werde zu einer überaus schädlichen Kommunikationsform. Wahrheit, meint beispielsweise der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger, sei zwar noch erkennbar, habe aber in der Regel keine Chance sich durchzusetzen. Ohnehin sei der Skandalisierer mehr Künstler als Analytiker, der den Skandal erst kreativ aus dem Material von Missständen produziere.4 Das heißt: Schon der klassische, der in den Massenmedien lancierte und verbreitete Skandal ist bei genauerer Betrachtung Instrument der Aufklärung – und der Gegenaufklärung. Er erzwingt, oft äußerst brutal und effektiv, dies lässt sich positiv verbuchen, Verantwortung und den womöglich dringend gebotenen Neuanfang – und stimuliert doch andererseits häufig nur die gedankenarme Schadenfreude, den voyeuristischen Zeitvertreib, das kollektive Amüsement über den dramatischen Absturz der einst gefeierten Helden. Er setzt Themen und lässt die moralische Debatte dringlich erscheinen, schüchtert Mächtige ein, zerstört Hierarchien der Herrschaft und erreicht mitunter die Kraft einer urdemokratischen Wahl, die gefährliche Charismatiker und Despoten zu Fall bringt. Schon der klassische Skandal hat zwei Gesichter. Oft wird das Banale einfach nur zur Sensation aufgebläht. Und es gibt jede Menge Opfer. Denn der Skandal verletzt eben auch immer wieder Unschuldige oder KaumSchuldige und nimmt ihnen ihre Würde. 2 CHARAKTERISTIKA DES ENTFESSELTEN SKANDALS Allerdings: Im Schatten der allgegenwärtig gewordenen Neigung zur Empörung – das ist die zentrale These dieses Essays – bildet sich ein neues Skandalschema heraus, das auch den Journalismus verändert und neue, nicht mehr eingrenzbare Erregungszonen in der Sphäre der Öffentlichkeit entstehen lässt. Ursächlich dafür ist, dass sich der Skandal von seiner Fesselung an die lineare, weitgehend interaktionsfreie Logik der Massenmedien entkoppelt und eine neue Evolutionsstufe erreicht; er emanzipiert sich von den Beschränkungen, die physische, räumliche oder zeitliche Grenzen vorgeben, löst sich von den klassischen Themen und den gesellschaftlich relevanten Normverletzungen, erweitert sein inhaltliches Spektrum – eben durch die offensiven Aktivitäten derjenigen, die einst das zur Passivität verdammte Medienpublikum bildeten. Die vielen Einzelnen sind es, die sich nun zur publizistischen Großmacht vereinen können. Die Schlüsselmerkmale des entfesselten Skandals lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: - Die Initiatoren und Enthüller der Skandalisierungsprozesse sind nicht mehr nur die von Peter Sloterdijk so rhetorisch geschliffen attackierten Journalisten, nicht mehr notwendig die professionellen Gatekeeper mit dem grundsätzlich eben doch gegebenen Interesse an Fragen von öffentlicher Relevanz, sondern auch Blogger, in Schwärmen oder Mobformationen auftretende Kol4

Vgl. Kepplinger 2005, S. 145f.

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laborateure im Social Web oder auch Einzelne, die den richtigen Moment erwischen, ihr ganz persönliches Thema einem aufnahmebereiten Weltpublikum vorzustellen. Jeder kann heute effektiv skandalisieren, wenn es ihm gelingt, Aufmerksamkeit zu erregen. - Aufzeichnungsmedien wie Handys, Digitalkameras, leistungsstarke Computer, Verbreitungsmedien im Social Web, also Netzwerk- und MultimediaPlattformen wie Facebook oder YouTube, Blogs, persönliche Websites und Wikis sind die neuartigen Instrumente solcher Skandalisierungsprozesse. Sie liegen heute potenziell in den Händen aller. - Es gibt neue Opfer – eben weil auch ganz und gar Ohnmächtige und komplett Unschuldige und vor allem bislang vollständig Unbekannte zum Objekt kollektiver Empörung und unerwünschter Aufmerksamkeitsexzesse werden können. Status, Prominenz und Macht sind keine Voraussetzung mehr für die effektive Skandalisierung. Natürlich lassen sich nach wie vor die ‚alten‘, die klassischen Formen der öffentlichen Abrechnung und Aufrechnung entdecken, die sich gegen die Mitglieder einer gesellschaftlichen Elite richten. Aber gesellschaftliche Fallhöhe ist heute kein Schlüsselkriterium mehr. - Das klassische, massenmedial vorstrukturierte Themenspektrum wird, vorsichtig formuliert, entlang der möglichen Extreme erweitert. Relevante Information und private Narration, echte Missstände und abstruse Behauptungen, das Kuriose und das Ekelhafte, die bedeutsame Enthüllung und die ‚hingerotzte‘ Banalität sind gleichermaßen vorhanden, gehen neuartige Mischungsverhältnisse ein; sie provozieren eigene Formen der Bearbeitung und des kollektiven Spiels mit Inhalten. Die Frage der gesellschaftlichen Bedeutung ist nicht mehr ausschließlich entscheidend. Interessantheit dominiert Relevanz. - Die Empörung eines zwischen den Extremen schwankenden Publikums, das von der kleinen Wutgemeinde der Wenigen bis hin zur globalen Erregungsgemeinschaft der Vielen reichen kann, bricht sich – man denke im Kontrast nur an die mehr oder minder strikt redigierten Leserbriefseiten einer klassischen Tageszeitung – vergleichsweise ungefiltert Bahn. Das Publikum agiert in einem bislang unbekannten Ausmaß als Taktgeber der Skandalisierungsprozesse. Es wird selbst zum Akteur. - Es bilden sich im Zwielicht der Monitore und der Datenströme neue Formen der Ungewissheit. Denn man kann sich als Betroffener nie sicher sein, was andere von einem wissen, auf welcher Grundlage sie das eigene Ich als digitales Image rekonstruieren. Und als Rezipient muss man sich fragen, was davon überhaupt stimmt, welchen Wahrheitsstatus man den frei flottierenden Informationen und leicht retuschierbaren Bildern eigentlich mit welchen Gründen zubilligen kann und muss. An die Stelle des leicht veränderbaren und damit stets verdächtigen Dokuments tritt im Zweifel die Autorität und die Glaubwürdigkeit der Quelle. Diese Quelle wird in Zeiten einer wachsenden Verunsicherung zur entscheidenden Meta-Information. Das heißt: Es entstehen neue Formen der Enthüllung und neue Formen, Empörung öffentlich zu artikulieren, die aus der Sicht der Betroffenen und Gemeinten als ein

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fundamentaler Kontrollverlust erlebt werden. Und auch das Verhältnis von Laien, einzelnen Qualitätsmedien und journalistischen Profis gerät in Bewegung, transformiert sich im Zuge der aktuellen Medienentwicklung. Das Zentrum der sich abzeichnenden Trends bildet eine radikale Demokratisierung der mediengestützten Enthüllungs- und Skandalisierungspraxis. Enthüllungs- und Empörungsprozesse werden zum Aktionsfeld der Vielen. Und der entfesselte Skandal kann jeden treffen. Er kann den Lebensgang von Mächtigen und das Schicksal von Ohnmächtigen beeinflussen, er lässt auch den Analytiker und die Bewohner des Elfenbeinturms nicht unberührt und kann sich gegen den Skandalisierer selbst wenden. Kurzum: Der entfesselte Skandal ist kein Distanzereignis mehr, sondern immer auch in die eigene Lebenssphäre eingebettet, in ihr konkret und direkt erfahrbar geworden. Jeder weiß von individuellen Erlebnissen und Erfahrungen zu berichten. 3 DER BLOGGER UND DAS WIRKUNGSNETZ An dieser Stelle eine Fallgeschichte aus der eigenen, der akademischen Nahwelt, die dies illustriert: Am 2. Juni 2010 schreibt der MÜNCHNER MERKUR: „Ein Student brachte Köhler zu Fall. Das Internet macht’s möglich: Ein Student hat offenbar einen großen Anteil am Rücktritt von Horst Köhler.“ Weiter heißt es: Wahrscheinlich ist Jonas Schaible schuld an dem ganzen Salat. Er und ein paar seiner Kollegen aus dem Internet. Schaible ist 20, studiert Politik in Tübingen und hatte sich vor ein paar Tagen sehr gewundert – weil nichts passierte. Schaible hatte Köhlers Worte zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan gelesen und war irritiert – vor allem davon, dass die Nachrichten das nicht aufgriffen. Kurzerhand setzte er sich hin und verschickte Mails an überregionale Medien, zudem nutzte er den Kurznachrichtendienst Twitter – und plötzlich nahm die Geschichte Fahrt auf. Ihr Ende ist bekannt. Das konnte niemand ahnen – auch nicht Schaible, der Studiosus.5

Zwei Tage zuvor hat der Bundespräsident Horst Köhler überraschend sein Amt niedergelegt. Und die öffentlichen Reaktionen auf den plötzlichen Abgang sind verheerend („Fahnenflucht“, „Verzweiflungstat“). Köhler selbst kritisiert in seiner kurzen Erklärung die Medien. Man habe sein Interview zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr gezielt missverstanden und es als grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen offensiv fehlinterpretiert. In dem dann einsetzenden Deutungsvakuum, der hektischen Suche nach Ursachen und Erklärungen, gerät eben jener Tübinger Student als „Königsmörder“ in den Blick.6 Er ist es, so die plötzlich aufflackernden Meldungen, der Horst Köhler mit ein paar E-Mails, einigen TwitterMeldungen und seinem medienkritischen Blog zu Fall gebracht haben soll. Die Geschichte hat eine archetypische Aktualität und wird strikt monokausal nacherzählt: Blogger stürzt Bundespräsidenten, David schlägt Goliath. Im HEUTEJOURNAL verhandelt Claus Kleber den Fall als eine „Geschichte über die Macht des Netzes“ und meint, sie werde „wohl einmal tatsächlich in den Geschichtsbü5 6

Arsenschek 2010. Die folgende Darstellung stützt sich auf die umsichtige Analyse, die Marcel Wagner 2010 vorgelegt hat. Siehe: Wagner 2010, S. 1-9.

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chern stehen“7. Ein Tübinger Professor des Studenten – einer der Autoren dieser Zeilen – absolviert einen einigermaßen unglücklichen Auftritt in der Sendung und spricht von einer „Skandalisierung von unten“. Die penetrant im eigentlichen Interview wiederholten Sätze, man könne Netzwerkeffekte nicht personalisieren, weil dies der Logik des gesamten Geschehens widerspreche, fallen dem Vereinfachungsgebot des Mediums zum Opfer. Gleichwohl bleibt die Geschichte auch ohne offensive Zuspitzung aufschlussreich, weil sie etwas anderes demonstriert: Der entfesselte Skandal funktioniert nicht nach linearen Ursache-Wirkungs-Pfeilen (A erzeugt B und B erzeugt C), sondern verletzt unsere klassische Vorstellung von Kausalität. Es macht wenig Sinn, die etablierten Massenmedien gegen die digitalen Medien auszuspielen, vielmehr brauchen sie sich wechselseitig: In der Blogosphäre wird der Empörungsvorschlag lanciert, getestet, ausprobiert und variiert – und dann von Zeitungen und Zeitschriften, Netzmedien und dem Fernsehen mit der nötigen Wucht versorgt. Es sind die Mails und Twittermeldungen und die Reaktionen von Journalisten, die eine Art Wirkungsnetz entstehen lassen. Zunächst gänzlich unbedeutend erscheinende Anstöße können in diesem Wirkungsnetz plötzlich massive Folgen haben. 4 DIE MOBILISIERENDE KRAFT DES VERDACHTS Ganz konkret und im Detail: Am Anfang steht ein zunächst in seiner möglichen Brisanz weitgehend unbemerktes Interview. Auf der Rückreise von Masar-i-Scharif in Afghanistan in der Nacht des 21. Mai 2010 äußert Horst Köhler gegenüber dem DEUTSCHLANDRADIO-Reporter Christopher Ricke u. a. folgende Sätze: In meiner Einschätzung sind wir insgesamt auf dem Wege, in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren – zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch negativ auf unsere Chancen zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Alles das soll diskutiert werden – und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.

Das Interview sendet man im Berliner DEUTSCHLANDRADIO KULTUR und im Kölner DEUTSCHLANDFUNK. Die später kritisierte Passage taucht indes nur im DEUTSCHLANDRADIO KULTUR auf und wird hier auch in den Nachrichten zitiert. Die Netzfassung hat man jedoch um die entscheidenden Passagen bereinigt, ein reiner Zufall, eine Nachlässigkeit, so heißt es in späteren Stellungnahmen der Radiomacher. In dieser Latenzphase des Skandals versenden sich die Äußerungen zunächst, werden aber schließlich von dem Blogger Stefan Graunke aufgegriffen, der bemerkt, dass die eine, die später so entscheidende Passage in Audiodokumenten zwar auffindbar ist, aber in der online abrufbaren Wort- und Textfassung fehlt.8 Jetzt wittern die Blogger Zensur und Manipulation, fassen per E-Mail bei der Re7 8

heute-journal, Sendung vom 02.06.2010, ZDF. Das Phasenmodell, das hier als Analyse- und Darstellungsraster verwendet wird, findet sich in leicht abgewandelter Form in: Burkhardt 2006, siehe insbesondere S. 181 und S. 204.

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daktion nach, transkribieren die entscheidenden Textstellen. Verschwörungstheorien kursieren. Stefan Graunke startet diverse Anfragen: Warum das Interview, das womöglich eine nicht verfassungskonforme Position des Bundespräsidenten enthalte, um die entscheidenden Passagen gekürzt worden sei? Es entsteht eine rege Diskussion. Interessierte Kreise wollten, so die Annahme, das Interview womöglich verschwinden lassen; eben deshalb fertigt man Sicherheitskopien an. Der vermeintliche Kontrollversuch provoziert Widerstand und der Zensurverdacht macht das Thema für die Bloggerszene infektiös, mobilisiert eine Urangst vor Manipulation und nährt den großen Verdacht gegenüber den Mainstream-Medien. Allmählich machen die entsprechenden Äußerungen einen Kontext- und Funktionswandel durch. Aus einem medienkritisch benutzten Text („Zensur beim Deutschlandradio“) wird ein gegen die politische Elite gerichtetes, entsprechend interpretiertes Dokument („Militäreinsätze zur nationalen Wohlstandssicherung“); die Inhalte selbst geraten in den Blick, nicht mehr der angeblich manipulative Umgang mit ihnen. Der Tübinger Student Jonas Schaible verschickt an die Online-Redaktionen großer Zeitungen (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, DIE ZEIT, TAGESZEITUNG, FRANKFURTER RUNDSCHAU, DIE WELT etc.) und an große Nachrichtenagenturen per E-Mail die Anfrage, warum man nicht über den Fall berichte – und liefert die skandalisierten Interviewpassagen gleich als Beweismittel für den möglichen Skandal mit. Er stellt den Journalisten folgende Fragen: „Mich würde interessieren, wieso Sie dem nicht nachgegangen sind? Sind Sie nicht der Meinung, das Zitat sei diskussionswürdig? [...] Warum wurde das Thema nicht ins Blatt/den Online-Auftritt genommen? Zum Schluss: Dürfte ich eine etwaige Antwort in meinem Blog zitieren?“ Auch beginnt er intensiver über den Fall zu bloggen und fasst über Twitter bei den Redaktionen nach. Nun kommt der Skandal allmählich in die Aufschwungphase. ZEIT ONLINE dankt für die Anregung. Ein Ressortleiter der FRANKFURTER RUNDSCHAU kündigt die eigene Berichterstattung an, räumt gegenüber Jonas Schaible ein, dass man das Interview und seine Brisanz schlicht übersehen habe. Einzelne Redaktionen reagieren – auch weil sie noch vonseiten anderer Leser auf den Fall aufmerksam gemacht werden. Bei SPIEGEL ONLINE, dem entscheidenden Agendasetter im Online-Universum, erscheint der Artikel „Bundeswehr in Afghanistan – Köhler entfacht neue Kriegsdebatte“9 mit kritischen Stimmen der Opposition. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU legt kurz darauf nach: „Ärger um Köhler-Äußerungen – das böse Wort vom Wirtschaftskrieg“10. Es erscheinen weitere Berichte, befeuert durch die Stellungnahmen der Opposition („Kanonenbootpolitik“), begleitet von einem einzigen, einigermaßen hilflosen Versuch des Skandalmanagements: Das Bundespräsidialamt lässt verlauten, man fühle sich missverstanden. Horst Köhler habe sich mit seinen Äußerungen nicht ausdrücklich auf die Afghanistan-Mission bezogen, sondern eigentlich aktuelle Einsätze der Bundeswehr gegen Piraterie gemeint. Der Versuch einer Klarstellung wird jedoch blitzschnell demontiert – auch durch die schlichte Dokumentation der Originaltöne und die sich verstärkende Kri9 10

Fischer/Medick 2010. Schmale 2010.

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tik der politischen Gegner. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG („Schwadroneur im Schloss Bellevue“11) und vor allem in der aktuellen, bereits am Samstag vorab verfügbaren und im Regierungsviertel kursierenden Montagsausgabe des SPIEGEL wird Horst Köhler in bislang beispielloser Schärfe als „Horst Lübke“12 attackiert. Schließlich folgt die Entscheidungsphase mit dem Höhepunkt des Blitzrücktritts. Eben hier, in diesem Zusammenspiel, zeigt sich eine hochnervöse, von enormer Geschwindigkeit, von unüberbietbar günstiger Information und von Instrumenten der Ad-hoc-Verifikation regierte Kommunikation: Die hastig individualisierten E-Mails und die Twitter-Meldungen kann man ohne großen Aufwand und zu jeder Tages- und Nachtzeit an die entscheidenden Multiplikatoren verschicken, die Dateien und Originaldokumente – ausschlaggebende Beweisstücke – können leicht in die eigenen Informationspakete und Empörungsangebote integriert werden. Und eben dieses Zusammenspiel von technischen Möglichkeiten und plötzlicher Erregung eines mächtig gewordenen Medienpublikums lässt ein eigenes Wirkungsnetz entstehen. Die zunächst schlicht in ihrer Brisanz verkannte Interviewpassage wird über den Umweg eines anders gelagerten Verdachts („Zensur“, „Manipulation“) erneut zum Thema. Es folgt ein zweites Agendasetting durch E-Mails, Twitter-Meldungen und journalistische Reflexe der Bloggerszene: „Die Sprengkraft“, so etwa Jonas Schaible in seinem Blog, „die diesem Zitat innewohnt, ist riesig.“ Und weiter: Dass ein deutscher Bundespräsident derart unverhohlen Militäreinsätzen das Wort redet, dass er derart deutlich mit der bisherigen, zumindest offiziellen, Staatsräson bricht, dass er ungeniert wirtschaftliche nationale Interessen mit Waffengewalt zu sichern erwägt, ist ein Skandal.13

5 DER GEBROCHENE ZEITPFEIL UND DIE EWIGE GEGENWART Das Beispiel zeigt auch: Klassische Leitmedien, etablierte Onlinemedien, Blogger und eine sich aggressiv gebärdende Opposition agieren aller möglichen prinzipiellen Animositäten zum Trotz faktisch kooperativ. Natürlich sind die Vorbehalte auf allen Seiten massiv. Ein Journalist weiß, warum ein Oppositionspolitiker seine Thesen über den Gegner immer weiter zuspitzt, sich mit Themenvorschlägen und Interviewanregungen bei ihm meldet, ihm zitierfähige Formeln in einem Akt der strategischen Unterwerfung anbietet – und welche Motive des persönlichen bzw. politischen Machtgewinns ihn eigentlich umtreiben und in seine Anbiederei hineintreiben. Und er hat womöglich, in einem stillen Moment auf der Hinterbühne befragt, keine besonders hohe Meinung von den Bloggern und ihren oft so selbstbewusst ausgeflaggten Leistungen. Und die Blogger selbst freuen sich wiederum an den Versäumnissen der etablierten Medien, beobachten sie mit einer eigenen Mischung aus Faszination und Herablassung, zelebrieren die Fehler der Profis als seien sie ein 11 12 13

Brössler 2010. Berg/Hickmann 2010. Schaible 2010.

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eigener Kompetenzbeweis und Indiz ihrer besonderen Überlegenheit. Aber diese inhaltlichen Differenzen sind, darauf kommt es an, nicht unbedingt kommunikativ relevant. Sie alle heizen in dieser konkreten Situation des Sommers 2010 die Debatte kollektiv an – und erzeugen so ein Klima, das offenkundig die Kurzschlussreaktion eines noch immer nicht letztgültig geklärten Rücktritts erzeugt. Die klassische, die Normalform der Skandalkausalität (zuerst die Normverletzung, dann die mediale Enthüllung der Normverletzung, schließlich die kollektive Empörung des Publikums) wird hier offenkundig neu arrangiert und partiell außer Kraft gesetzt: Die Empörung des Publikums lässt das bereits Veröffentlichte und achtlos versendete Material mit einem Mal brisant und potenziell skandalös erscheinen. Und es sind Teile des Publikums selbst, die in der Rolle des Rechercheurs, Archivars und des Informanten, des Beweis-Lieferanten und des journalismusaffinen Anklägers in Erscheinung treten. Die etablierten Massenmedien reagieren auf die noch unkoordiniert flackernden Empörungszeichen und versorgen sie mit der nötigen Wucht und den Elementen einer zusätzlichen Legitimation. Sie kanalisieren die Aufmerksamkeit. Sie fokussieren die keimende Empörungsbereitschaft – bis zum Moment der Entscheidung, in dem der Bundespräsident fassungslos zurücktritt. Der Fall zeigt überdies, unabhängig davon, wie man das konkrete Geschehen und die tatsächliche Brisanz dieses präsidialen Interviews einschätzt: Den entfesselten Skandal charakterisiert eine eigene Zeitform. Es ist die potenziell ewige Gegenwart. Der lineare Zeitpfeil, der von der Vergangenheit in die Gegenwart und von dort in die Zukunft weist, scheint gebrochen. Auch Vergangenes und gerade noch gnädig Versendetes – eine unbedachte Äußerung, eine idiotische Fehlleistung, ein unsympathisch wirkender Aussetzer – wird zur abrufbaren und bei Bedarf erneut aktualisierbaren Gegenwart und zum bedrohlich im Hintergrund brodelnden Zukunftsgift. Selbst marginales Fehlverhalten bleibt öffentlich abrufbar und womöglich weltweit präsent. Die digitale Erinnerung ist gewiss nicht absolut, sie ist nicht total, aber das Vergessen und Verlöschen der Spuren geschieht auf schwer kontrollierbare Weise. Man weiß nie, was (trotz beseitigter Kommentare, abgeschalteter Server, untauglich gewordener Links) noch vorhanden ist. 6 DIE TENDENZ EINES WERKZEUGS Man mag diese potenziell ewige Gegenwart beklagen oder kritisieren, für die eigene Position das Etikett der neutralen Analyse beanspruchen oder die sich abzeichnende Entwicklung euphorisch als Verwirklichung einer Vision totaler Transparenz begrüßen, die im Ergebnis ein neues Ethos zu begründen vermag. Frei nach dem Motto: Weil alle ohnehin (fast) alles wissen, lohnt sich auch das Verbergen des Anrüchigen nicht mehr – und man kann sich gleich korrekt verhalten, um der wahrscheinlich gewordenen Entlarvung zu entgehen. Auch der Kulturpessimist könnte sich an dieser Stelle zu Wort melden und eine allgemeine Verwahrlosung des Journalismus und der Publizistik behaupten, die Fallgeschichte also in sein Schema des Niedergangs und die von ihm prophezeiten Szenarien der Degeneration einbauen. Allerdings lässt sich, aller prinzipiellen Skepsis zum Trotz, eines mit Gewissheit

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sagen: Für eine endgültige Bewertung, ein definitives Urteil und eine Entscheidung zwischen den extremen Ansichten und Interpretationen ist es noch viel zu früh; und wahrscheinlich ist eine solche prinzipielle Entscheidung auch gar nicht möglich, weil sich für alle Positionen die entsprechenden Belege finden lassen. Das Telos der digitalen Werkzeuge und der allgegenwärtig gewordenen Medien weist nicht in eine einzige, eine klar identifizierbare Richtung, aber es existiert eine Tendenz. Ihr Gebrauch ist einerseits prinzipiell offen, aber doch andererseits nicht völlig beliebig. Sie setzen einen Rahmen für die Kommunikation, sie stecken ihn ab, sie schaffen Möglichkeiten, sie blockieren andere, sie prägen auch diejenigen, die sie verwenden. Noch einmal: Die digitalen Werkzeuge ermöglichen neue Formen der Auseinandersetzung und der Partizipation, sie forcieren eine bislang unbekannte Geschwindigkeit der Verbreitung und Streuung, eine neuartige Dimension der kombinatorischen Vielfalt und der raschen Verfügbarkeit. Sie ermöglichen andere, bislang unbekannte Evolutions- und Eskalationsstufen im Prozess der Skandalisierung. Aber sie sind nicht dazu gemacht, das konkrete Geschehen und die jeweiligen Inhalte in einer stets berechenbaren Art und Weise zu determinieren. Hinter dem Werkzeug und dem Medium steht immer noch ein einzelner, im Letzten verantwortlicher Mensch mit seinen guten oder schlechten Absichten, seinen Zielen, seinen Sehnsüchten und Wünschen. Er ist es, der sich entscheidet, zu publizieren, was ihm – aus welchen Gründen auch immer – skandalös erscheint. BIBLIOGRAPHIE Arsenschek, Robert/Dunz, Kristina/Rafalski, Frank (2010): Ein Student brachte Köhler zu Fall. Online: http://www.merkur-online.de/aktuelles/politik/student-brachte-koehler-fall-zr-789396. html (Abfrage: 09.07.2014). Berg, Stefan/Hickmann, Christoph (2010): Horst Lübke. In: Der Spiegel 22/10. Online: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-70701690.html (Abfrage: 30.06.2014). Brössler, Daniel (2010): Schwadroneur im Schloss Bellevue. Online: http://www.sueddeutsche.de/ politik/koehler-zu-militaereinsaetzen-schwadroneur-im-schloss-bellevue-1.950985 (Abfrage: 30.06.2014). Burkhardt, Steffen (2006): Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln: Herbert von Halem Verlag. Fischer, Sebastian/Medick, Veit (2010): Bundeswehr in Afghanistan: Köhler entfacht neue Kriegsdebatte. Online: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-in-afghanistan-koehler-entfacht-neue-kriegsdebatte-a-696982.html (Abfrage: 30.06.2014). Kepplinger, Hans Mathias (2005): Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen. 2., aktualisierte Aufl. München: Olzog, S. 145f. Schaible, Jonas (2010): Horst Köhler und der Krieg für Arbeit und Einkommen. Online: http://beimwort-genommen.de/2010/05/25/horst-kohler-und-der-krieg-fur-arbeit-und-einkommen/ (Abfrage: 30.06.2014). Schmale, Holger (2010): Das böse Wort vom Wirtschaftskrieg. Online: http://www.fr-online.de/politik/aerger-um-koehler-aeusserungen-das-boese-wort-vom-wirtschaftkrieg,1472596,4436262. html (Abfrage: 30.06.2014). Sloterdijk, Peter (2007): Am Medienhimmel. Ein Gespräch mit Jana Kühle und Sugárka Sielaff. In: Bergmann, Jens/Pörksen, Bernhard (Hrsg.): Medienmenschen. Wie man Wirklichkeit inszeniert. Münster: Solibro, S. 273.

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Smoltczyk, Alexander (1999): Skandal! Die nackte Wahrheit. In: SPIEGELreporter. Nr. 12, S. 1629. Wagner, Marcel (2010): Auch du, Brutus? Wer waren die Königsmörder? Unveröffentlichtes Manuskript.

MIT DEM INTERNET ZU MEHR TRANSPARENZ UND MITBESTIMMUNG – NOTFALLS DURCH DEMOKRATIE VON UNTEN Anke Domscheit-Berg

1 EINFÜHRUNG Die digitale Gesellschaft verändert auch unsere Demokratie. Sie schafft neue Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, sich an politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zu beteiligen, mehr Informationen breiteren Kreisen verfügbar zu machen, und gleichzeitig gibt sie uns vielfältige Optionen, unabhängiger von der Bereitwilligkeit aufseiten der Politik und Verwaltung zu werden und Informationen zu teilen. Wir haben mehr Macht als je zuvor, Transparenz von unten herzustellen, auch wenn das von politischer Seite häufig scheinbar nicht gewollt ist. In der digitalen Gesellschaft können auch einzelne Menschen über eine hohe Reichweite verfügen und Veränderungen anstoßen, indem sie Massen mobilisieren. Das gibt uns allen mächtige Werkzeuge in die Hand – aber wir müssen verstehen, dass es sie gibt, lernen, wie man sie verwendet, und wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, das zum einen auch zu tun (nämlich weil wir es können) und zum anderen, sie für positive Veränderungen einzusetzen. Die nachfolgend beschriebenen Beispiele zeigen die Bandbreite dessen auf, was Demokratie 2.0 bedeuten kann. Beispiele, in denen die Rede von Bürgern ist, die erfolgreich Gesetze verhindern, die sie nicht wollen, oder gemeinsam die Gesetze schreiben, die sie haben wollen – Beispiele, durch die die Macht der Transparenz erkennbar wird, wenn Informationen Minister zu Fall bringen und Politiker in Erklärungsnöte. Sie sollen zeigen, was wir gemeinsam erreichen können, um unsere Gesellschaft besser zu machen – wenn wir die Mechanismen des digitalen Zeitalters klug einsetzen. 2 BÜRGER VERHINDERN GESETZE Immer wieder in der Vergangenheit musste das Verfassungsgericht Gesetze kassieren, weil sie gegen das Grundgesetz verstießen. Aber auch immer häufiger wehren sich Bürgerinnen und Bürger massiv gegen neue Gesetze, die ihre Bürgerrechte einschränken sollen, sie mobilisieren über das Internet, verbreiten aufklärende Informationen viral auf allen erdenklichen Kanälen. Sie schaffen das mit wenig Ressourcen. Als im Frühjahr 2009 die Online-Proteststürme gegen die geplanten Internetsperren selbst die TAGESSCHAU bestimmten, war klar, dass die Dimension des Widerstands eine neue Qualität erreicht hatte. Die damalige Familienministerin Ur-

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sula von der Leyen hatte ein „Internetzugangserschwernisgesetz“ entworfen, mit dem erklärten Ziel, Kinderpornografie im Internet zu bekämpfen. In ihrer Vorstellung sollte eine schwarze Liste mit Weblinks vom Bundeskriminalamt entwickelt und täglich aktualisiert werden und die dort gelisteten Webseiten dann durch die sogenannten Internetsperren nicht mehr aufrufbar sein. Stattdessen sollten Besucher dieser Webseiten ein Stoppschild und eine entsprechende Sperrinformation sehen. Internetprovider sollten zum Filtern bestimmter Inhalte verpflichtet werden. Soweit der Plan von Ministerin von der Leyen. Leider hatte diese Idee gleich mehrere Mängel. Zum einen zeigen Beispiele aus anderen Ländern, die mit solchen Listen operierten, dass sie fehlerhaft sind und häufig falsche Webseiten auf Sperrlisten geführt werden. Zweitens sind die Internetsperren sehr einfach zu umgehen – wer immer auf die dahinter versteckten Inhalte gelangen möchte, lernt mit ein paar Googleklicks, wie das geht. Drittens führt eine solche Praxis dazu, dass der Fokus auf das Unsichtbarmachen von Problemen gelenkt ist, aber nicht auf die Beseitigung des Problems. Denn wie beschrieben: Die Internetsperren können leicht umgangen werden – die Kinderpornografie bliebe also weiter erreichbar –, aber was noch viel schlimmer ist, die Erstellung von Kinderpornografie selbst, die ja bekanntlich nicht im Internet passiert, sondern im sogenannten ‚realen Leben‘, findet weiterhin statt. Kinder werden gequält, erniedrigt und missbraucht, aber die Welt bekommt davon weniger mit – wegen der Stoppschilder im Internet. Das kann wohl kaum eine gewollte Lösung sein. Last, but not least erfordert ein solcher Eingriff den Aufbau einer Zensurinfrastruktur, die, einmal installiert, für jeden beliebigen anderen Eingriff auf Inhalte im Internet nutzbar ist. All diese Nachteile haben Aktivisten frühzeitig und heftig kritisiert. Was man ihnen erst als Schwarzmalerei vorwarf, nämlich die Kritik, eine einmal etablierte Zensurinfrastruktur auch für andere Zwecke zu missbrauchen, zeigte sich als berechtigt, denn bald forderten Politiker Internetsperren auch für Glücksspielseiten oder für rechtsradikales Gedankengut im Netz. Ministerin Ursula von der Leyen, die wichtigste Verfechterin des im Juni 2009 vom Bundestag verabschiedeten Gesetzes, erhielt bald den Spitznamen „Zensursula“. Ihr Konterfei fand sich mit diesem Begriff versehen auf Großdemos wie der „Freiheit statt Angst-Demonstration“ im September 2009, bei der Zehntausende auf die Straße gingen – gegen Zensur im Internet. Aber schon im Mai hatte die 29-jährige Franziska Heine eine Online-Petition für den Bundestag eingerichtet, bei der in nur vier Tagen das Quorum von 50.000 namentlichen Unterzeichnern erreicht war. Mehr als 130.000 Menschen unterschrieben diese Petition in wenigen Wochen Laufzeit – das war bis dahin der Rekord. Im Internet wurden kleine Videos viral verbreitet, die das Internetzugangserschwernisgesetz und all seine Problematiken erklärten, auch mit animierten Legosteinen. So wurde das komplexe Thema einer großen Öffentlichkeit verständlich gemacht. Der Druck auf die Politik wuchs. In den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009 von CDU/CSU mit der FDP wurde eine Aussetzung des Gesetzes beschlossen. Es trat zwar im Februar 2010 in Kraft, aber das Bundesinnenministerium wies das Bundeskriminalamt an, es nicht umzusetzen. Ende 2011 wurde das Gesetz endgültig aufgehoben. Der Widerstand hatte gesiegt.

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Einen ähnlichen Protest gab es gegen die Vorratsdatenspeicherung, ein Gesetz, das Ende November 2007 vom Bundestag beschlossen wurde, und Telekommunikationsunternehmen zur Speicherung von Verkehrsdaten ihrer Kunden über sechs Monate verpflichtete. Diesmal diente die Terrorbekämpfung als Grund für die Überwachung der Telekommunikation von Bürgerinnen und Bürgern. Auch in diesem Fall vernetzten sich die Kritiker, mobilisierten ihre Kräfte online. Allein das Aufklärungsvideo „Du bist Terrorist“1 wurde auf YouTube mehrere Millionen Mal angesehen. So war es möglich, fast 35.000 Beschwerdeführer für eine gemeinsame Verfassungsklage vor dem Bundesverfassungsgericht zu bündeln – ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte. Die Klage war erfolgreich, das Bundesverfassungsgericht erklärte das Gesetz für nichtig. Den Höhepunkt erfolgreicher Proteste stellt jedoch das gescheiterte Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) dar, in dem mit dem vordergründigen Ziel der Pirateriebekämpfung wieder rechtsstaatliche Grundprinzipien verletzt, die Freiheit von Menschen im Internet eingeschränkt und ihre Kommunikation und Handlungen überwacht worden wären. Der Missbrauch von „geistigem Eigentum“ sollte verhindert und schärfer verfolgt werden. Als Maßnahmen wurden erneut eine Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren und das sogenannte Three Strikes-Modell diskutiert. Beim Three Strikes-Modell soll einem Internetnutzer bei der dritten festgestellten Copyrightverletzung (also z. B. einem illegalen Download von Musik oder Filmen) der Internetzugang abgeschaltet werden. Das ist natürlich nur möglich, wenn man genau schaut, was ein Internetnutzer so im Netz treibt. Das ist der Überwachungsstaat 2.0 und war nicht nur Bürgerrechtsbewegungen überall auf der Welt ein Dorn im Auge. Weitere Kritik richtete sich gegen die voraussichtlich starken negativen Auswirkungen von ACTA auf den Zugang von Menschen in ärmeren Ländern zu Saatgut oder Medikamentengenerika. ACTA hätte Menschenleben kosten können. ACTA entstand über Jahre hinweg hinter verschlossenen Türen als multilaterales Handelsabkommen auf völkerrechtlicher Ebene, ohne öffentliche Debatte, ohne Beteiligung der Zivilgesellschaft. Lobbyisten aus den Industrien, die davon besonders profitieren würden, etwa die Musik- und Filmbranche, investierten viel Zeit und Geld, um die Interessen ihrer Auftraggeber zu vertreten. Sie waren darin offenbar recht erfolgreich. Allerdings formierte sich parallel dazu ein massiver weltweiter Widerstand. Seine Wurzeln hatte er in einem bei WikiLeaks veröffentlichten Dokument, dem ACTA-Entwurf 2007, der 2008 auf der Whistleblower-Plattform veröffentlicht wurde. In den folgenden Jahren arbeiteten zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen in vielen Ländern an der Organisation des Widerstands. Das Hackerkollektiv Anonymous unterstützte den Protest ebenso wie die Piratenparteien vieler Länder. Auch bei ACTA-Protesten spielte YouTube eine ganz wesentliche Rolle, aber nicht nur wegen der millionenfach angeklickten Mobilisierungsvideos, sondern auch wegen der erfolgreichen Demonstrationsaufrufe von YouTubeStars, deren Teenagerfans in Scharen auf die Straße liefen und insbesondere den deutschen Politikern einen unerwartet heftigen Protest bescherten. Politiker schaff1

Online: http://www.youtube.com/watch?v=SGD2q2vewzQ (Abfrage: 01.07.2014).

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ten es noch eine Zeit lang, kritische Kommentare auf Facebook oder Twitter als nicht relevant zu ignorieren, aber mehr als 100.000 Menschen bei Minus zehn Grad in 55 deutschen Städten auf der Straße ließen sich nicht mehr ausblenden. In Polen erreichte der Protest eine Stärke, wie man sie seit der Solidarność Bewegung2 in den frühen Achzigerjahren nicht mehr erlebt hatte. Der polnische Regierungschef knickte ein und nach ihm eine europäische Regierung nach der anderen. Eine Bundestagspetition erreichte das Quorum von 50.000 Unterschriften, die Graswurzel-Petitionsplattform Avaaz.org sammelte international fast drei Millionen Unterschriften gegen ACTA, die dem Europäischen Parlament überreicht wurden. Der Druck der digitalen Zivilgesellschaft wurde einfach zu groß: Das EU Parlament lehnte im Juli 2012 den ACTA-Entwurf endgültig ab – mit 478 Gegenstimmen bei nur 39 Ja-Stimmen. Die Heftigkeit der Proteste hatte nicht nur mit der Art des Angriffs auf die Privatsphäre der Menschen und die Freiheit des Internets zu tun, sondern insbesondere auch mit der undemokratischen Entstehung des Handelsabkommens. Um wenigstens nachträglich etwas Licht in das Dunkel der Deutschen Beteiligung zu bringen, wurde eine Informationsfreiheitsanfrage an die Bundesregierung gestellt, mit der Bitte um Offenlegung der Delegationsteilnehmer an ACTA-Verhandlungsrunden. Die Beantwortung dieser IFG-Anfrage wurde jedoch mit Verweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vom Bundesministerium für Justiz abgelehnt – eine hanebüchene Ausrede, gegen die der Antragssteller Widerspruch eingelegt hat. Es dauert offenbar in Deutschland noch etwas, bis sich in der Verwaltung und der Politik herumgesprochen hat, dass Intransparenz und die allzu großzügige Anwendung des Amtsgeheimnisses für Vorgänge von öffentlichem Interesse nicht mehr in die Demokratie einer digitalen Gesellschaft passen. 3 BÜRGER SCHAFFEN TRANSPARENZ Über das Internet können sich Politikinteressierte einfacher, schneller und umfassender als je zuvor über die Aktivitäten ihrer Volks- und Regierungsvertreter informieren und gemeinsam an der Offenlegung undurchsichtiger Sachverhalte arbeiten. Die Transparenz, die dabei entsteht, ist nicht immer gewünscht und kann für die betroffene Politprominenz auch mit größeren Schwierigkeiten verbunden sein. Manche kostete es den Job, wie den damaligen Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg. Vielleicht empfanden ihn einige Bürgerinnen und Bürger als zu arrogant und selbstsicher – wer weiß schon, was der konkrete Anlass war, der am Ende dazu führte, dass bis zu 160 Menschen in ihrer Freizeit anonym und ehrenamtlich die Doktorarbeit des Ministers auf Plagiate untersuchten und ihre Funde in einem öffentlichen Wiki dokumentierten. Auf 94 Prozent aller Hauptseiten seiner 2

„Unabhängige polnische Gewerkschaft, die 1980 nach sozialen Unruhen gegründet wurde und wichtigste Kraft der politischen Transformation in Polen war. Seit 1981 offiziell verboten, arbeitete sie bis 1989 (nur teilweise verdeckt) im Untergrund und war danach als Bürgerkomitee politisch tätig.“ Schubert, Klaus/Klein, Martina (2011): Das Politiklexikon. 5., aktual. Aufl. Bonn: Dietz.

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Dissertation wurden letztlich Plagiate nachgewiesen – von einer fleißigen Mannschaft uneigennütziger Transparenzaktivisten, darunter Wissenschaftler, die die Ehre der Wissenschaft verteidigen wollten, und ‚Normalos‘, die einfach ehrliche Politiker an der Spitze der deutschen Bundesregierung wünschen und niemanden, der lügt und blendet. Die unbestechliche Beweisführung des Wikis „Guttenplag“, die in der schlichten direkten Gegenüberstellung von Original und Plagiats-Passage mit eindeutiger Quellenangabe bestand, verhinderte den Erfolg seiner anfänglichen Unschuldsdeklaration. Es ist für Politiker schwerer geworden, das Wahlvolk an der Nase herumzuführen. Jeder hatte Zugang zu diesen Informationen, jeder konnte die auf Guttenplag veröffentlichten Beweise mit eigenen Augen sehen und sich selbst ein Bild machen. Auch in diesem Plagiatsfall fanden offline Proteste statt, zu denen online aufgerufen wurde. Einer, an dem die Autorin selbst teilnahm, hatte einen Vorlauf von ein paar Stunden. Über Twitter und Facebook verteilte sich die Nachricht dennoch so schnell, dass sich hunderte Protestanten am Potsdamer Platz einfanden und auch die Medien zahlreich vertreten waren. Die Bilder mit aus Verachtung hochgehalten Schuhen – einer aus dem arabischen Raum bekannt gewordenen Protestgeste mit starker Wirkung – gab es dann am gleichen Abend in der TAGESSCHAU im Ersten Deutschen Fernsehen zu sehen. So geht Protest mit den Mitteln des Internets: Crowdsourcing der Kontrolle von unten, damit Bürgerinnen und Bürger mehr wissen über die Arbeit und Integrität derer, die ihre Interessen vertreten sollen. Eine Plattform wie www.opencongress.org in den USA gibt es in Deutschland leider nicht und so ist die Transparenz, die wir über unsere Volksvertreter im Bundestag haben, recht übersichtlich. Während man in den USA auf dieser von einer NGO betriebenen Website mit öffentlich zugänglichen Daten einsehen kann, von wem ein Abgeordneter wie viel Geld bekommen hat (in Dollar und Cent) oder wie er oder sie im Parlament aktiv war (bei Abstimmungen, Anträgen und Anfragen), fehlt eine solche Übersicht hierzulande. Die Nebeneinkünfte findet man nur in irgendwelchen Stufen abgebildet, bei manchen fehlt die Transparenz zur Geldquelle ganz, weil sie sich etwa auf das Berufsgeheimnis in ihrer Tätigkeit als Juristen berufen. Auch zu den allgemeinen Tätigkeiten im Bundestagsbetrieb finden sich nur die Informationen, die die Abgeordneten von selbst bereitstellen und auch bereitgestellt lassen. Wer eine bestimmte Meinungsäußerung nicht mehr vertritt, kann sie von der eigenen Seite löschen, dann ist sie verschwunden – zumindest solange sie nicht in die formellen parlamentarischen Prozesse z. B. in Form einer Anfrage eingeflossen ist, denn dann ist sie zumindest anderweitig im Netz zu finden. Auch über das Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneter wissen wir wenig, wenn wir nicht regelmäßig Parlaments-TV schauen und die Sitzordnung auswendig kennen. Aber immerhin sind die namentlichen Abstimmungen dokumentiert und die Daten für Dritte auswertbar. Eine solche Weiterverarbeitung der Daten hat der Onlinedienst des Zweiten Deutschen Fernsehens mit der Anwendung „Parlameter“ vorgenommen. Unter www.parlameter.zdf.de kann man in einer sehr übersichtlichen und allgemein verständlichen grafischen Darstellung der Sitze im Bundestag (farblich nach Fraktionen sortiert) alle Abgeordneten als einen farbigen Punkt sehen, der nach Auswahl

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einzelner Abstimmungen im Bundestag das Stimmverhalten grafisch auf einen Blick erkennbar macht. Zusätzliche Filter gibt es für die Sortierung der Abgeordneten nach Ost/West, Familienstand, Kinderzahl und Höhe der Nebeneinkünfte. Es macht geradezu Spaß, mit diesem Transparenzwerkzeug zu spielen und zu schauen, welche Zusammenhänge es zwischen diesen Faktoren und dem Abstimmverhalten gibt – unabhängig von der Parteizugehörigkeit (die allerdings auch leicht erkennbar immer noch das Abstimmverhalten maßgeblich determiniert). Die Aufgabe der Medien – die Menschen zu bilden und aufzuklären und auch als kontrollierende Macht gegenüber dem Staat die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten – wird durch die Verarbeitung und Visualisierung solcher Daten auf eine ganz neue Art wahrgenommen. Solchen Datenjournalismus erleben wir immer häufiger und mit steigender Qualität. Medien wie DIE ZEIT, DER SPIEGEL und die kleine TAGESZEITUNG aus Berlin stehen in Deutschland dabei an der Spitze. Der Datenjournalismus stellt ein neu entstandenes Berufsbild dar, das diese Anforderungen unserer Zeit, die neuen Erwartungen von Menschen, die mehr Transparenz wünschen, in der Praxis umsetzbar macht. Datenjournalisten gibt es jedoch auch außerhalb des klassischen Medienbetriebs, etwa in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Open Knowledge Foundation. Das Internet macht die Verbreitung von Informationen einfacher, auch für Whistleblower. Mit WikiLeaks bekam das ‚Leaken‘ von Dokumenten, die anderweitig unter Verschluss gehalten wurden, eine neue Dimension. Es gehört jetzt in das Standardrepertoir aufrechter Staatsbürger – zumindest, wenn er oder sie ‚Schweinereien‘ dokumentiert sieht, die an das Tageslicht gehören, aber deren Offenlegung die Whistleblower selbst in Probleme bringen würde. Tausende Dokumente wurden auf WikiLeaks veröffentlicht und machten Umweltverbrechen publik, wie die Verklappung von Giftmüll durch die holländische Firma Trafigura vor der Elfenbeinküste. Aber auch Korruption in größtem Maßstab wie in Kenia flog auf und beeinflusste massiv den Ausgang der folgenden Wahlen. Ausgefeilte Systeme aus der Bankenwelt wurden bekannt und damit die höchst direkte Unterstützung von Steuerhinterziehung reicher Anleger oder das Arbeiten in die eigene Tasche der Bankiers selbst. Viel Aufsehen erregten aber auch Berichte auf der WikiLeaks-Plattform über den Alltag in Kriegsgebieten wie Afghanistan und Irak. Kriegsverbrechen wurden bekannt und standen auf einmal auf den ersten Seiten der Weltmedien. Das geleakte Video „Collateral Murder“3 von der Bordstation eines Militärhubschraubers, von dem aus Zivilisten und auch ein Journalist faktisch hingerichtet wurden, wurde fast 14 Millionen Mal angeschaut. Die sogenannten Afghan War Logs, die Kriegsprotokolle aus Afghanistan, warfen auch im Deutschen Bundestag Fragen auf und waren Gegenstand neuer Debatten zur deutschen Beteiligung dort. Aber nicht nur bei WikiLeaks wurde ‚geleakt‘, sondern immer mehr auch die zur Veröffentlichung genutzt, die auch früher schon die braunen Briefumschläge erhalten hatten – Medienorganisationen, die das Vertrauen bestimmter Whistleblower genossen. 3

Collateral Murder, 5. Apr 2010. Online: https://wikileaks.org/wiki/Collateral_Murder,_5_ Apr_2010 (Abfrage: 10.07.2014).

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Verträge, wie die umstrittenen und geheimen Wasserverträge des Landes Berlin mit einem Privatunternehmen, wurden an eine Tageszeitung übermittelt.4 Millionen von Daten über ein weltweites Netzwerk von Steuerhinterziehern landeten bei einer Vereinigung investigativer Journalisten und erschütterten im Frühjahr 2013 den einen oder anderen Millionär oder Promi erheblich. Auf Geheimnisse kann man sich heute nicht mehr gut verlassen, schon gar nicht auf schmutzige. Es gibt mehr Menschen mit gutem Charakter und sensiblem Gewissen, die das Rückgrat haben, solche Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, als man denkt. Schwarze Schafe können sich nicht mehr länger in Sicherheit wiegen. Transparenz ist ihr größter Feind, nur im Dunkeln sind schwarze Schafe gut getarnt. Im Scheinwerferlicht der Transparenz werden sie erkennbar und strafbar. Aber es gibt auch offizielle Wege, auf denen man an Informationen herankommt, zumindest an manche. Es gibt in Deutschland ein Informationsfreiheitsgesetz (IFG) des Bundes und immerhin in elf Bundesländern ein IFG auf Länderebene. Solche IFG-Anfragen zu stellen, ist aber nicht ganz einfach. Die erste Hürde stellt meist schon der direkte Kontakt in die richtige Behörde dar. Die nächste Hürde ist die Neigung vieler Behörden, Anfragen nicht beantworten zu wollen. Diese Hürde kann man oft durch eine gute Formulierung der Anfrage überwinden, in der bereits die häufigsten Ablehnungsgründe entkräftet und die entsprechenden Paragrafen der einschlägigen Regelungen dazu genannt werden. Um diesen Prozess zu erleichtern und Bürgerinnen und Bürger dazu zu motivieren, mehr solcher Anfragen zu stellen und die Antworten dann auch öffentlich zu machen, wurde von zivilgesellschaftlichen Akteuren die Plattform www.fragdenstaat.de entwickelt. Sie baut auf einem Vorgänger aus England auf, den die NGO MySociety entwickelt hatte. Das war leicht möglich, denn dieser Vorgänger basierte auf Open Source Software. Inzwischen wurde er vielfach kopiert, selbst für eine IFG-Plattform der Europäischen Union. Mit fragdenstaat.de ist das Stellen einer Anfrage nach einem Landes- oder Bundes-IFG kinderleicht und in ein paar Klicks getan. Besonderen Charme hat aber die Veröffentlichung aller Antworten der Verwaltung. Die Lächerlichkeit mancher Ausreden wird dadurch ebenso transparent wie die Professionalität schnell und umfassend antwortender Behörden. Die Unterschiede sind gewaltig. Manche Behörden beantworten fast alle Anfragen, andere verhalten sich wie verschlossene Austern. Besonders verschlossen ist seltsamerweise der Bundestag selbst, der 2006 das Informationsfreiheitsgesetz beschlossen hatte. Es gibt eine ganze Reihe von Anfragen, die die Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes betreffen, der als Unterbereich der Verwaltung des Bundestages dem IFG unterliegt. Das entschied auch das Verwaltungsgericht Berlin, aber der Bundestag legte dagegen Berufung ein. Er möchte die Gutachten, die mit Steuergeldern finanziertes Wissen zu Themen von öffentlichem Interesse darstellen, weiter unter Verschluss halten. Das ist unverständlich und wird sich wohl nicht mehr lange so aufrecht erhalten lassen. Spätes-

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Siehe hierzu: Hauser, Sebastian: Die geheimen Wasserverträge. Online: http://blogs.taz.de/rechercheblog/2010/10/29/die_geheimen_wasservertraege/ (Abfrage: 10.07.2014).

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tens die nächsten gerichtlichen Instanzen werden hier Klarheit und Rechtsverbindlichkeit schaffen. Aber solche Prozesse dauern mitunter Jahre. Immerhin hat fragdenstaat.de schon jetzt das Stellen von Anfragen bekannter gemacht. Wurden bis zum Jahr vor Existenz der Plattform erst 1.500 Anfragen pro Jahr gestellt, waren es im Jahr danach (2012) bereits über 6.000 Anfragen. Manche dieser Anfragen sind sogenannte Ein-Klick-Anfragen, mit denen Antragsteller eine identische Anfrage zu einer bereits erfolgreichen stellen können. Das macht dann Sinn, wenn die Behörde zwar dem ersten Antragsteller Unterlagen zuschickt, aber eine Veröffentlichung der Dokumente z. B. mit Verweis auf das Urheberrecht untersagt. Wenn diese Behörde sich mit einer Antragsflut von mehreren hundert Anfragen konfrontiert sieht, wird sie sich genau überlegen, ob sie diese Austernpolitik länger durchhalten möchte, oder das betreffende Dokument doch einfach ins Netz stellt oder zur Veröffentlichung freigibt. Auch so kann man Behörden zu mehr Transparenz ‚erziehen‘. Fehlende Transparenz ist auch bei Großprojekten der öffentlichen Hand eine stets widerkehrende Ursache für heftige Proteste, wenn wieder einmal das Vorhaben viel zu teuer, falsch geplant, schlecht umgesetzt oder generell an den Wünschen der Bürger vorbei in Angriff genommen worden war. Leider gibt es solche desaströsen Großprojekte viel zu häufig, und leider sind die fiskalischen Folgen solcher Fehlleistungen außerordentlich hoch, was in der Natur der Sache begründet ist. Bürger wollen früher und ernsthafter an der Entscheidungsfindung zu solchen Projekten beteiligt werden, aber genau das findet fast nie statt. Und dort, wo es Anfänge von Bürgerbeteiligung gibt, hapert es meist mit der Transparenz. Wenn Bürgerinnen und Bürger aber nicht umfassend informiert sind, können sie sich auch nicht sinnvoll beteiligen. Wenn Gutachten erst Jahre später und in Salamitaktik öffentlich werden, hat das mit Beteiligung auf Augenhöhe nicht mehr viel zu tun. Ein Informationsgefälle erzeugt automatisch auch ein Machtgefälle. Der Frust nach einer solchen Alibibeteiligung ist dann auch besonders groß. Nicht nur in Stuttgart hat das die Leute auf die Straße getrieben und zu einer erheblichen Störung des sozialen Friedens im Ländle geführt. Auch die Hamburger Elbphilharmonie erregte Ärger, in Berlin war es der geplante Großflughafen BER International. Bei BER International lief einiges schief. Am bekanntesten ist vermutlich das Drama um die fahrlässigen Brandschutzvorkehrungen. Aber auch der Lärmschutz für Anwohner verursachte enorme Reibungen, die vermeidbar gewesen wären. Als vor einigen Jahren die Flugrouten als Teil der Planungsunterlagen zur Ansicht und Stellungnahme von Bürgern öffentlich auslagen, war den Bauherren bereits bekannt, dass dies nicht die Routen sein werden, nach denen die Flugzeuge tatsächlich eines Tages fliegen. Aber das verschwieg man den Anwohnern, und so kam es bei Bekanntwerden der neuen Flugrouten zu erheblichen Protesten von Bürgern, die auf einmal Betroffene waren, jedoch vorher davon nichts ahnten und daher auch nicht den normalen Weg der Stellungnahme hatten wählen können. Im Rahmen dieser Proteste schlugen Bürgerinitiativen alternative Flugrouten vor, die keiner zur Kenntnis nehmen wollte, bis auf der Website der TAGESZEITUNG in einer leicht verständlichen Visualisierung die Unterschiede in der Lärmbelastung zu den bisher geplanten Flugrouten für jeden deutlich wurden. Die neue Sichtbar-

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keit und der höhere Grad an Verständlichkeit senkte die Beteiligungshürden und führte zu mehr Druck auch durch die Berichterstattung. Am Ende wurden wenigstens einige Anregungen der Bürger aufgenommen und die Kosten für Lärmschutz stiegen dramatisch an, da für die neuen Flugrouten auch neue Ausgaben für den regionalen Lärmschutz anfielen und mehr Bürger als vorher betroffen waren. Eine ehrlichere Planung und offene Beteiligung hätte auch in Berlin das Konfliktpotenzial deutlich reduzieren können. Nach vielen Jahren bisher erfolgloser Bauzeit, explodierender Kosten und stets verschobener Termine für die endgültige Inbetriebnahme geriet auch der v. a. von Politprominenz besetzte Aufsichtsrat der BER-Flughafengesellschaft in das Visier der Kritik. Einige Köpfe rollten und das Abgeordnetenhaus von Berlin setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der seither in mühevoller Kleinarbeit versucht, Licht in das Dunkel zu bringen. Kein Journalist, kein Manager, kein Politiker, kein Projektleiter und schon gar kein Aufsichtsrat schien noch Durchblick zu haben. Die Leitung des Untersuchungsausschusses übernahm ein Mitglied der Berliner Fraktion der Piratenpartei, Martin Delius. Die Piratenfraktion war es auch, die eine neue Online-Plattform aufsetzte (BERwatch), auf der in gut strukturierter Form alle wesentlichen Dokumente, Informationen, aber auch offene Fragen sortiert nach Themen wie Brandschutz, Lärmschutz, Kosten, Inbetriebnahme etc. abrufbar sind. Kleine Anfragen zum Thema finden sich dort ebenso wie die Protokolle der Aufsichtsratssitzungen und andere Dokumente, aus denen auch Antworten auf die Frage hervorgehen, wer, wann, was gewusst hat. Dieser Art von Transparenz hätte es bei einem Projekt dieser Größenordnung von Anfang an bedurft. Viele Fehler wären früher aufgefallen und Konsequenzen entsprechend weniger teuer geworden. Aber es war und ist nicht die zuständige Flughafengesellschaft (die sich zu 100 Prozent in öffentlicher Hand befindet), die diese Transparenz über ein mehrere Milliarden (Steuer-) Euro teures Großprojekt schafft – es ist eine Gruppe Abgeordneter, die hier ersatzweise tätig wurde. Es sollte andersherum sein, aber dieses Beispiel zeigt auch, dass andere einspringen können und es immer öfter tun, wenn der Staat in seiner Rolle versagt. Ein transparenter Staat ist die Zukunft – ganz egal, ob bzw. in welchem Maße die Politik dahintersteht. Was nicht von selbst transparent gemacht wird, das machen Dritte transparent. Wo Politiker das nicht tun wollen, werden sie durch mehr Druck von unten dazu gezwungen. 4 BÜRGER MACHEN AUCH GESETZE SELBST – GEMEINSAM IM INTERNET Einen bisher einmaligen Fall, wie Bürgerinnen und Bürger gemeinsam ihre Volksvertreter zum Einlenken und Herstellen von Transparenz zwingen, stellt die Entstehungsgeschichte des Transparenzgesetzes von Hamburg dar. In Hamburg war der Filz der Verwaltung berühmt-berüchtigt, so wie in anderen deutschen Großstädten auch. Der Wunsch, diesen Filz erkennbarer und damit schwächer in seinem Einfluss zu machen, war in den letzten Jahren gewachsen. Die Menschen hatten einfach keine Lust mehr, das alte System länger so hinzunehmen. Aber die Bürgerschaft in

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Hamburg reagierte nicht auf den Ruf nach mehr Transparenz, und so schlossen sich einige Bürger zusammen und schalteten eine Online-Plattform live, die ein schlichtes Wiki wie die Kollaborations- und Wissensplattform Wikipedia war und schlugen vor, in diesem Wiki gemeinsam ein Gesetz zu schreiben. Ein Transparenzgesetz für die Stadt Hamburg. Im Sommer 2011 ging es los. Zu den Initiatoren gehörten die NGO Mehr Demokratie e.V., aber auch die deutsche Sektion von Transparency International und der Chaos Computer Club. Später schlossen sich weitere Bündnispartner an, Vereine und Parteien der Opposition, einschließlich der Piratenpartei. Eine Volksinitiative „Transparenz schafft Vertrauen“ wurde der gemeinsame Nenner, für den man sich in einem breiten Bündnis engagierte.5 Nach einigen Monaten war ein gutes Gesetz entstanden, sogar ein ehemaliger Verfassungsrichter hatte daran mitgewirkt. In einer ersten Stufe, ein halbes Jahr nach dem Start des Wikis, wurden dann für die Volksinitiative mehr als 15.000 Unterschriften gesammelt, ein folgendes Volksbegehren und ein Volksentscheid waren damit ein Stück realistischer geworden. Im Frühjahr 2012 gab es Anhörungen, eine Überarbeitung des Gesetzentwurfes und seine Einreichung als Grundlage für ein Volksbegehren. Mit der Zeit bekam die Hamburger Bürgerschaft wohl kalte Füße. Die breite Basis hinter der Volksinitiative machte sie zu einer mächtigen Graswurzelopposition, und das Szenario eines erfolgreichen Volksentscheides, der der Bürgerschaft ein von den Wählern selbst geschriebenes Gesetz oktroyieren würde, erschien offenbar wenig attraktiv. Innerhalb weniger Wochen wurden Verhandlungen zwischen den Fraktionen in der Bürgerschaft und den Vertretern des Bündnisses geführt und im Juni 2012 – weniger als zwölf Monate nach dem Start des Wikis im Internet – verabschiedete die Bürgerschaft einstimmig das erste deutsche Transparenzgesetz, das weit über die Grenzen des Stadtstaates hinaus Aufsehen erregte. Ein Jahr später gibt es in mehreren Bundesländern Gesetzesinitiativen für ein ähnliches Transparenzgesetz. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz hat bereits die Umsetzung eines solchen Gesetzes für ihr Land angekündigt, in Berlin und in Nordrhein-Westfalen arbeitet man an Entwürfen – leider oft nach Fraktionen getrennt, dabei war das Erfolgsgeheimnis in Hamburg die parteienübergreifende Initiative. Den ähnlichsten Weg schlug Bayern ein, wo von Bündnis 90/die GrünenMitgliedern ebenfalls ein offenes Wiki unter www.bayerntransparent.de geschaffen wurde, in dem gemeinsam ein bayerischer Gesetzentwurf entwickelt werden kann. 5 FAZIT An den vorab beschriebenen Beispielen wird deutlich, dass in der digitalen Gesellschaft viel mehr gelebte Demokratie als je zuvor möglich ist. Die dafür notwendige Transparenz und Information einer breiten Masse ist machbar und finanzierbar. Auch Beteiligungsformate sind mit dem Internet skalierbarer und dezentraler ein5

Volksinitiative Transparenz schafft Vertrauen. Online: http://www.transparenzgesetz.de/ (Abfrage: 10.07.2014).

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setzbar. Ob und wie diese Formate eingesetzt werden, ist jedoch vor allem eine Frage der Einstellung, des Willens in Politik und Verwaltung – und daran hapert es leider oft. Eine übergreifende Strategie für Offenheit im staatlichen Sektor fehlt in Deutschland nach wie vor. Auch Phänomene wie die Piratenpartei sind Zeichen für Veränderungen. Piraten machen anders Politik, wie die Transparenzplattform zum BER-Flughafen zeigt, die deren Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus betreibt und die einen neuen Goldstandard für die Dokumentation der Aufklärung in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen darstellt. Es spricht viel dafür, dass eine Partei, die so klar für Transparenz und mehr Beteiligung in einer digitalen Gesellschaft eintritt, noch lange gebraucht wird. Die Verdrossenheit mit den bisher im Bundestag präsenten Parteien ist groß, der Wille zu einem schnellen und umfassenden Umbau von Politik und Verwaltung hin zu einem Staat der Offenheit und Teilhabe dort leider noch sehr gering. Klar wurde aber auch, dass Beteiligung und Mitbestimmung nicht nur über politische Parteien möglich sind, sondern zunehmend einzelne Akteure, formelle oder informelle Gruppen der Zivilgesellschaft – offen oder anonym – neue Kräfte darstellen, die mitunter die Macht von Legislative und Exekutive empfindlich einschränken können und damit der Kontrollfunktion des Volkes wieder echte Relevanz verleihen. Transparenz wird so entweder durch massiven Druck von unten erzwungen oder durch Leaken und Massenkollaboration selbst hergestellt. Bürger fordern mehr gesetzliche Regelungen, die mehr Transparenz festschreiben – oder sie schreiben sich solche Gesetze selbst und erreichen eine Umsetzung wie in Hamburg. Sie starten E-Petitionen auf offiziellen Plattformen oder nutzen unabhängige wie die von Avaaz.org und sammeln tausende, manchmal Millionen Unterstützerunterschriften, die ebenfalls zum politischen Gewicht in der parlamentarischen Meinungsbildung werden. Bürgerinnen und Bürger vernetzen sich mit sozialen Netzen, sie mobilisieren, informieren, decken auf – alles das mit einfachen Werkzeugen und zuweilen enormer Reichweite. Sie nutzen die Medien unserer Zeit virtuos und erreichen damit nicht nur die YouTube-Fans, sondern auch Zeitungs-, Radio- und Fernseh-Konsumenten, denn in all diesen Medien wurde von den großen Protestbewegungen der sogenannten Netzgemeinde berichtet. So erfahren immer mehr Menschen, was bisher hinter verschlossenen Türen geschah und wie man sich dagegen wehren kann. Wir begreifen langsam, wie viel Macht wir haben, wenn wir an eine Sache glauben und sie gemeinsam angehen, aber (hoffentlich) verstehen wir auch, dass diese Macht mit der Verantwortung einhergeht, sie sinnvoll und verantwortungsvoll zu nutzen. Wir können nicht darauf warten, dass andere die Gesellschaft schaffen, die wir uns wünschen. Das müssen wir schon auch selbst in Angriff nehmen.

KURZBIOGRAFIEN

Hanne Detel Geboren 1983. Studium der Journalistik und Kommunikationswissenschaft, des Öffentlichen Rechts sowie von Osteuropastudien in Hamburg und Stellenbosch (Südafrika) – gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Journalistenausbildung der Konrad-Adenauer-Stiftung und Arbeit für die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Mediatisierungsforschung, das Social Web, Skandale und (ungewollte) Prominenz im digitalen Zeitalter. Anke Domscheit-Berg Geboren 1968. Studium der internationalen Betriebswirtschaft (B.A., M.A.) in Deutschland und England und Studium der Textilkunst in der DDR. Buchautorin, Journalistin und Aktivistin für ein freies Internet, Transparenz und Open Government sowie Gründerin der Unternehmen fempower.me und opengov. me. Hierfür (ehrenamtliche) Teilnahme an vielfältigen Initiativen. U. a. Gründungsmitglied und Vorstand des Government 2.0 Netzwerk Deutschland e.V. Ehemals Director Government Relations bei Microsoft Deutschland, Projektleiterin für IT-Strategieprojekte im Business Technology Office von McKinsey und fast ein Jahrzehnt in verschiedenen Positionen bei der IT-Beratung Accenture. Prof. Dr. Petra Grimm Geboren 1962 in München. Studium der Neueren Deutschen Literatur, Kommunikationswissenschaft und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 1991-1998 Dozentin an der Universität Kiel, Institut für Neuere Literatur und Medien sowie Institut für Pädagogik. 1994 Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zum Thema „Filmnarratologie“. 1994-1998 Dezernentin für Programmaufsicht und Medienforschung bei der Unabhängigen Landesanstalt für Rundfunk und neue Medien (ULR), Kiel. Seit 1998 Professorin für Medienforschung/Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien (HdM), Stuttgart. Seit 2000 Ethikbeauftragte der Hochschule der Medien.

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Kurzbiografien

2006-2010 Dekanin der Fakultät Electronic Media. Seit 2010 Gewähltes Senatsmitglied der Hochschule der Medien. 2011 Preisträgerin des Landeslehrpreises Baden-Württemberg. Mitgliedschaften: Fokusgruppe „Internet-Kinderschutzzentrum“ des Bundesfamilienministeriums; Forschungsbeirat des Bundeskriminalamtes (BKA); Fachgruppe „Kommunikations- und Medienethik“ der Deutschen Gesellschaft für Publizistikund Kommunikationswissenschaft (DGPuK); Stellv. Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM). Mit-Herausgeberin der Schriftenreihe Medienethik, Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Arbeitsschwerpunkte: Medienethik, Online Privacy, Gewalt in den Medien und Cybermobbing, Mediennutzung von Kinder und Jugendlichen. Prof. Dr. Michael Müller Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität München. Ehemals Kulturmanager bei der Siemens AG, danach selbstständige Tätigkeit und seit mehr als 15 Jahren Berater von Unternehmen bei der Kommunikation nach innen und außen. Als Autor für Unternehmensmedien Entwicklung zahlreicher Unternehmensfilme, Internetauftritte und Printmedien. 1997 Mitgründer der Beratergruppe »System + Kommunikation« und Entwicklung der Storytelling-Methode zusammen mit seinen Partnern. In der Folge Beratung von Unternehmen, Organisationen und öffentlichen Institutionen bei der Kommunikations- und Kulturentwicklung, bei Veränderungsprozessen und Markenführung auf Basis narrativer Ansätze. Seit 2010 Professor für Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien Stuttgart. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Methoden und Anwendungen der narrativsemiotischen Medienforschung, Konstruktion von Identitäten im digitalen Raum, narrative Methoden in Coaching und Organisationsberatung. PD Dr. habil. Stefan Münker Privatdozent am Institut für Musik- und Medienwissenschaft der Humboldt Universität Berlin und Mitarbeiter eines deutschen Fernsehsenders. Im WS 2011/12 Fellow am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Medienphilosophie, Theorie und Geschichte neuer, digitaler Medien (vor allem des Internets) sowie die Philosophie des Fernsehens. Ausgwählte Publikationen: Web 2.0. Die Emergenz digitaler Öffentlichkeiten (Frankfurt a. M. 2009: Suhrkamp); Philosophie nach dem Medial Turn. Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft (Bielefeld 2009: transcript).

Kurzbiografien

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Prof. Dr. Bernhard Pörksen Geboren 1969. Sechs Jahre lang Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg. Heute Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: u. a. Inszenierungsstile in Politik und Medien. Verfasser von Kommentaren zu aktuellen Debatten in Zeitungskolumnen, Radiound Fernsehbeiträgen. Verfasser zahlreicher Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften und populärwissenschaftlicher Bücher, die amüsant und scharfzüngig die gegenwärtige Medienlandschaft beschreiben. Das 1998 mit dem Physiker und Philosophen Heinz von Foerster zusammen verfasste Buch über die Wahrheit der Wahrnehmung und die Philosophie des Konstruktivismus („Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“) wurde zum Bestseller und gilt heute als Klassiker des systemischen Denkens. 2008 Auszeichnung zum „Professor des Jahres“ für seine Lehrtätigkeit. Dr. Jan-Hinrik Schmidt Geboren 1972 in Würzburg. Studium der Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. 2000-2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Instituten und Lehrstühlen der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. 2004 Promotion an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg zum Thema „Der virtuelle lokale Raum. Zur Institutionalisierung lokalbezogener Internetangebote“. 2005 DAAD-PostDoc-Stipendiat an der Donau-Universität Krems (Österreich). 2005-2007 Stellvertretender Leiter der Forschungsstelle „Neue Kommunikationsmedien“ an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Seit 2007 wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung. Arbeitsschwerpunkte: Nutzung und gesellschaftliche Folgen des Social Web, digitale Spiele, Software-Entwicklung als kommunikative Figuration. Prof. emer. Dr. Gerhard Schulze Geboren 1944. Professor (emer.) für Soziologie an der Universität Bamberg. Zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge sowie Rundfunk- und Fernsehbeiträge zu Fragen sozialen und kulturellen Wandels. Zahlreiche Kooperationen mit Wirtschaft, Politik, Medien und Kulturszene. Dr. Ulrike Wagner Studium der Kommunikationswissenschaft und Politologie an der Universität Salzburg und der Università degli Studi di Pavia.

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Kurzbiografien

Doktoratsstudium an der Universität Leipzig. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am JFF. Seit November 2010 Direktorin des JFF. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Medienkonvergenz und medialer Wandel aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und ihrem pädagogischen und erzieherischen Umfeld, Partizipation von Heranwachsenden in einer mediatisierten Gesellschaft, Sozialisation mit und über Medien, Kinder- und Jugendmedienforschung in sozial benachteiligten Milieus, Methoden der Kindheits- und Jugendforschung.

Kaum ein Medienthema polarisierte den ge­ sellschaftlichen Diskurs der letzten Jahre so nachhaltig wie die sozialen Medien. Der Begriff „SocialMania“ beschreibt das Phänomen eines hochfrequenten sozialen Kommunikations­ verhaltens im digitalen Lebensraum. Die po­ sitive Seite könnte man darin sehen, dass den Menschen durch das Social Web die Möglich­ keit gegeben wird, Inhalte selbst mitzugestalten und am politischen Geschehen mitzuwirken. Auf der anderen Seite scheinen zunehmend pri­ vate und individuelle Präferenzen gegenüber gesamtgesellschaftlichen favorisiert zu werden.

So liegt die Frage nahe, ob Medien ihrer Funk­ tion, in einer komplexen Gesellschaft ein öf­ fentliches Bewusstsein herzustellen, noch nach­ kommen können. Oder werden demokratische Prozesse zukünftig zunehmend „von unten“ angetrieben? Und wird nicht gerade durch die neue Rolle jedes einzelnen als Autor und Kriti­ ker ein Bewusstsein geschaffen, das Demokra­ tie fördert und stärkt? Die Beiträge dieses Ban­ des gehen auf Aspekte dieser Diskussion aus pädagogischer, soziologischer, netzpolitischer und medienwissenschaftlicher Sicht ein.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10950-5