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German Pages 314 Year 2007
FRIEDRICH MÜLLER (Hrsg.)
Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts
Schriften zur Rechtstheorie Heft 234
Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts
Herausgegeben von Friedrich Müller
Duncker & Humblot • Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12595-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
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Vorwort des Herausgebers Die seit Mitte der 80er Jahre bestehende „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik" legt mit diesem Buch ihren fünften Sammelband vor, die sehr vielfältigen Publikationen ihrer einzelnen Teilnehmer auch so ergänzend und weiterführend. Dieser unsubventionierte, locker organisierte, in jeder Hinsicht freie Arbeitskreis besteht aus Forschern und Lehrern der Sprach- und Rechtswissenschaft sowie aus Praktikern verschiedener Bereiche. Er ist nach der Persönlichkeit wie auch nach der wissenschaftlichen Ausrichtung seiner Mitglieder reich an Facetten und Denkansätzen, dabei überwiegend der Praktischen Semantik in der Linguistik und einer auf die sprachlichen Bedingungen der Rechtswelt aufmerksamen Jurisprudenz, einer sprachpragmatischen Rechtstheorie verpflichtet. Die Themen des vorliegenden Bandes ergeben sich, einmal mehr, aus dem transdisziplinären Charakter der Arbeit der Gruppe. Das tatsächliche, das zu verantwortende Handeln der Träger rechtlicher Entscheidungsgewalt steht unausweichlich in einem Umfeld allgemein gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Vorgaben; und diese werden, wie die Daten der Rechtsarbeit auch, durchweg durch Sprache vermittelt. Die internen Wechselwirkungen von Recht, Rechtssprache und Politik sind mittlerweile im allgemeinen Bewusstsein angekommen; sie werden im Rahmen einer avancierten Praktischen Semantik und einer nachpositivistischen Rechtstheorie deutlich besser bearbeitbar als in dem der herkömmlichen Spielarten von sprachlichem und rechtlichem Positivismus. Spätestens mit dem machtvollen Aufkommen der Neuen Medien ist schließlich die Medienwissenschaft zunehmend in den Vordergrund gerückt. Auch das Recht kann, angesichts der digitalen Medien, nicht mehr durch ein „Buch" (Gesetzbuch) eingezäunt werden. Inhalte und Formen rechtlichen Kommunizierens sind ohne eine erneuerte Reflexion auf die Medien, in denen es erfolgt, nicht mehr angemessen verstehbar. Diese materielle, die mediale Seite von Recht und Rechtssprache nimmt daher in dem vorliegenden Band gleichfalls eine wichtige Stelle ein. Die Themenbereiche der Beiträge sind, angesichts der überwiegend transdisziplinären Arbeitsweise, nicht mechanisch von einander abgrenzbar; sie werden daher im Aufbau des Bandes nach Schwerpunkten locker gruppiert. Einige der Beiträge haben ihren Schwerpunkt im Recht, in seiner Theorie und seiner Sprache. Jan Lüsing („,Re-Visionen4 des Rechts. Der mystische Grund der Gerechtigkeit bei Blaise Pascal und Jacques Derrida") begibt sich auf die Spur der von Jacques Derrida in dem Buch „Gesetzeskraft" entwickelten Rechtsphilosophie. Er unter-
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sucht - entsprechend Derridas Anknüpfungspunkt bei (Montaigne und) Biaise Pascal - zunächst Pascals rechtspositivistische Position in den „Pensées". Nah am Text verfolgt er diese frühe neuzeitliche Form von anti-naturrechtlichem, (macht-)soziologischem Relativismus: die politische Macht ist der tatsächliche, das auf Gewöhnung beruhende illusionäre Gerechtigkeitsempfinden der Unterworfenen ist der kollektiv-psychologische Geltungsgrund der Gesetze - ein Mechanismus der Selbstlegitimierung einer zufällig überkommenen Faktizität, welcher als Schrumpfform einer Rechtfertigung nur noch der Verweis auf den Normgeber bleibt. Auch Derrida sieht diesen Geltungsgrund als einen „mystischen" (sich diskursiver Begründung entziehenden) an, will aber die Frage nach der Gerechtigkeit als einer Fähigkeit, in bestimmter Weise zu handeln, dennoch nicht fallen lassen. Allerdings ist das berechnende Recht kein Medium, wo die - wesentlich auf Unberechenbarkeit beruhende - Gerechtigkeit verwirklicht werden könnte. Gerechtigkeit und Recht befinden sich in einer unruhigen, irritiert/irritierenden, gestört /störenden Konstellation gegensätzlicher, zugleich aber von einander abhängiger Elemente. Jede Setzung von Vorschriften wie auch jede Rechtsentscheidung enthalten unausweichlich Elemente von Gewalt. Gewalt ist die Unmöglichkeit von Gerechtigkeit - aber eben dies macht, nach Derrida, die Struktur des Rechts dekonstruierbar. Die jeweils gegenwärtigen Rechtsverhältnisse sind jederzeit änderbar, stets nur vorläufig, sind beständigen Re-Visionen unterworfen - und zwar solchen Revisionen, die auf mehr Gerechtigkeit drängen. Die Gerechtigkeit wirkt nicht dadurch, mit dem Recht zu harmonisieren; sondern dadurch, es permanent zu überfordern. Das schließt der Sache nach an die Position der Strukturierenden Rechtslehre von der Gerechtigkeit als der „Unruh im Räderwerk des Rechtsbetriebs" an; und auch in der Zentralfrage, wie Rechtsarbeit und juridische Entscheidung konkret vorgehen, wird - wie in der Strukturierenden Methodik - das positivistische Credo der Determinierung der richterlichen Entscheidung durch Gesetzestexte fallen gelassen. Die alte Lehre scheiterte bereits an der fehlenden Komplexität ihrer sprachphilosophischen Annahmen. Ein sprachliches Zeichen kann seine Bedeutung, kann seine künftigen Verwendungsweisen nicht selbst verbindlich kodifizieren. An die Stelle des alten Rechtfertigungsdiskurses im Rahmen einer angenommenen Rechtsfindung tritt die Aufgabe einer Reflexion der Rechtserzeugung. An dieser Position der Strukturierenden Rechtslehre (Differenz von legislativem Normtext und richterlicher Rechtsnorm) ist in der Tat, von anderen Grundlagen her, gemäß Jan Lüsings Studie Derridas Konzept in „Gesetzeskraft" angelangt. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist nicht still zu stellen. Sie bleibt, nicht abstellbar, das unruhige Herz des Rechts. Aus und in der Perspektive der Philosophie umkreist Jasper Liptow die (sprachtheoretische und rechtslinguistische) Frage aller Fragen: Wie kommt, als Praxis, sprachliche Verständigung zustande? Wie lassen sich sprachliche Bedeutung und deren Vermittlung überhaupt erklären - primär aus den Ideolekten (den „Sprachen" einzelner Sprecherinnen und Sprecher) oder aus den Soziolekten (den „Sprachen"
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ganzer Gemeinschaften)? Vor dem Hintergrund dieses seit den 80er Jahren exemplarisch zwischen Davidson (in der Nachfolge von Quine) und Dummet (dem späten Wittgenstein folgend) ausgetragenen Streits optiert der Autor dafür, die Antwort auf diese Grundfrage nach dem Beispiel der Rechtsprechung in einem System von case law zu modellieren; daher der Titel des Beitrags „Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis". Für die zuletzt genannte überwiegende Auffassung in der heutigen Sprachtheorie, die vom Primat der Soziolekte, besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in den Regeln, die in einer gegebenen Gemeinschaft zur Verwendung sprachlicher Ausdrücke gelten - grundsätzlich unabhängig vom Verhalten einzelner Beteiligten. Ihre „Initiierung" in dasselbe System von Regeln macht es einzelnen Sprechern möglich, sich zu verständigen. In erster Linie werden nicht die Äußerungen Anderer verstanden, sondern die Ausdrücke des Soziolekts der Gemeinschaft, der man angehört. Der Autor wendet sich, in der Nachfolge Donald Davidsons, gegen dieses Bild von sprachlicher Praxis und entwickelt dabei unter anderem empirische Argumente zur Individualität sprachlichen Verhaltens - mehr als dem Verstehen einer gemeinsamen Sprache diene Verständigung dazu, Andere zu verstehen. Sieht man demnach die Ideolekte einzelner Sprecherinnen als das Primäre, so lässt sich Verstehen als eine Form von Interpretation auffassen, als ein Übersetzen eines fremden in den eigenen Ideolekt. Jedes einzelne Verstehen einer fremden Äußerung wird im Sinn einer Hypothese gedeutet; und zwar so, dass sich ein bestimmter Verstehensakt immer schon auf eine unbegrenzte Vielzahl bereits gelungener Verständigungen stützt. Wir teilen mit einander zwar keinen Soziolekt, keine Sprache als Ganzes, wohl aber eine Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person. Am Modell des Fallrechts (case law) legt Jasper Liptow dann, in Anlehnung an Brandom, die Produktivität dieses Ansatzes für die Ausgangsfrage dar. Die zureichende Grundlage dafür, einen bestimmten gegenwärtigen Akt sprachlicher Verständigung zu rechtfertigen, ist jeweils die Menge weiterer Akte gelungener Verständigung. Der Ideolekt eines Einzelnen ist nur insofern eine Sprache, als er sich einer beiden Sprechern gemeinsamen Tradition gelingender Verständigung einschreiben lässt. Dabei ist kein Verständigungsakt in einem für immer abschließenden Sinn gelungen. In jedem neuen Fall muss erneut bewertet werden, was zu dieser gelingenden Tradition gehört und was nicht. Jeder gegenwärtige Akt der Kommunikation unterliegt der Beurteilung zukünftiger Verstehensakte. Sprachliche Verständigung stellt sich so als eine grundsätzlich unabschließbare Praxis gelingender Verständigung mindestens zweier Sprecher /Interpreten dar, die nach dem Muster des (modellhaft idealisierten) Fallrechts funktioniert. Einen wichtigen Ausschnitt aus der politischen Funktion von Sprache untersucht Rainer Wimmer in seinem Beitrag „Politische Korrektheit (political correctness)". Dieser Ausdruck gelangte 1991 in die Feuilletons der deutschen Presse; entstanden war er bekanntlich in den USA der 80er Jahre in Auseinandersetzungen um Minderheitenschutz und Multikulturalismus. Der Autor zeigt, dass Political Correct-
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ness (PC) weit mehr als eine modische Redeweise ist - vielmehr ein verschärfter Umgang mit (sprachlichen) Normen im Alltag, symptomatisch für bestimmte Einstellungen zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen in den westlichen Gesellschaften. Die Realität ist aber widerständig, und lenkende Maßnahmen gegenüber dem Sprachgebrauch können kollektives Bewusstsein und Mentalitäten nicht automatisch verändern. Was so zunächst entstand, sind andauernde Konflikte; in ihnen figuriert „PC" als brisantes Wort, als Ausdruck semantischer Kämpfe, die um Einstellungen / Haltungen von Personen und Gruppen zu ungelösten gesellschaftspolitischen Fragen geführt werden. Dabei wird der Konflikt um Sprachnormen auch an den Rand dessen getrieben, was in verbalen Kontroversen gerade noch möglich ist, gelegentlich in Gewalt ausartend und häufig mit stark moralisierenden Unterstellungen befrachtet. Die Rolle der Massenmedien bei alldem ist erheblich. Rainer Wimmer profiliert PC-Konflikte als durch ihre Schärfe gekennzeichnete besondere semantische Kämpfe (zu Themen wie Feminismus, Schwangerschaftsabbruch, Euthanasie, Rassismus, Auschwitz-Leugnung und vielen mehr). Bei ihnen geht es um das Beeinflussen von Sprachnormen; um das Ziel, das Sprach- und Sozialverhalten Anderer zu regulieren, und nicht zuletzt um juristische Fixierung (sei es gesetzlich, sei es vertraglich) partikularer Normen (die jeweils Ausdruck partikularer Einstellungen sind). Der Autor analysiert sie vom Standpunkt der Sprachkritik aus, verstanden als Kritik der über die „normalen" (grammatischen, lexikalischen) Regeln hinaus gehenden und dabei interessegeleiteten Anforderungen an den Sprachgebrauch Anderer. Nicht zuletzt gegenüber dem moralisierenden Druck, der viele PC-Konflikte prägt, weist er auf die Forderung hin, im Gefolge der Aufklärung Kriterien für Moral und Ethik nur als verallgemeinerungsfähige anzuerkennen, und macht Gründe für die Skepsis der Sprachkritik gegen PC-unterworfenen Sprachgebrauch nachvollziehbar. *
Rechtssprache in Aktion untersucht Felix Hanschmann an einem aufschlussreichen Beispiel aus dem Europarecht: an der in der Vergangenheit noch nicht durchgespielten Frage, wie der Ausdruck „europäisch" in Art. 49 Abs. 1 des EU-Vertrags (EUV) im Streitfall zu konkretisieren sei [„Ein Fall methodischer Kapitulation? Zur Auslegung des Begriffs „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EUV"]. Dieser Normtext eröffnet jedem „europäischen Staat", der die Grundsätze der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 EUV) achtet, die Möglichkeit des Beitritts zur Union. Ausnahmsweise ist in diesem Fall nicht die Mehrsprachigkeit des institutionellen Europa das Problem - zwischen „europäisch", „européen", „europeo" und „European" tun sich keine Differenzen auf. Es war erst der Beitrittswunsch der Türkei (und inzwischen auch die weitere Perspektive auf Länder wie Russland, Weißrussland, die Ukraine oder Georgien), der eine vorhersehbar kontroverse juristische Diskussion entfacht hat. Dabei ist es das Merkmal „europäisch", das zwischen verschiedenen Konstrukten von Identität oszilliert. Eine resignierende Position in der Debatte hält es für unbestimmbar; eine zweite möchte die Frage geographisch in
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den Griff bekommen; ein dritter Ansatz will sich auf religiöse, kulturelle und historische Merkmale stützen und ein vierter weist kulturell-religiöse Selbststilisierungen zurück und stellt auf konkretere rechtliche Elemente ab. Felix Hanschmann erörtert zunächst die resignative Version; dann den interdisziplinär-empirischen Ansatz „Geographisches Europa", also die Untersuchung von Sachbereich bzw. Normbereich von Art. 49 Abs. 1 EUV: im Ergebnis ohne geographische Trennschärfe, ganz zu schweigen davon, dass geopolitische Konstrukte ständig wandelbar und umstritten bleiben. Die weitere Analyse gilt der besonders des Nachfragens würdigen Projektion „Kulturelles Europa". Dieses soll sich, beispielsweise, auf ein Amalgam namens „lateinisches Europa" mit normativer Wirkung (Ausschluss der Türkei) gründen lassen. In den verschiedenen Varianten dieser Position wird das Tatbestandsmerkmal „europäisch" mit einer (nicht zuletzt christlich definierten - wenn auch nicht selten unter opportuner Ausscheidung der christlichen Orthodoxie der Ostkirchen) „historisch-kulturellen Identität Europas" kurzgeschlossen - ein unplausibles und unpraktikables Beispiel für autoritären Holismus des Denkens, alle inneren Widersprüche des „Kulturkreises", all seine Heterogenität, seine interne Pluralität dezisionistisch hinweg de-finierend. Der Autor neigt sich abschließend dem Kriterium „rechtlich-politisches Europa" zu: dieses identifiziert „europäisch" mit den in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten fundamentalen rechtlichen Anforderungen an die Union und an jeden ihrer Mitgliedstaaten diese liefern demnach, anders formuliert, eine Legaldefinition für „europäisch". Der Autor verschweigt nicht, dass dieses Ergebnis methodisch noch unbefriedigend bleibt und dass der fragliche Normtextausdruck weiterhin als „semantischer Kampfplatz" offen steht. Das aber ist ein Schicksal, das er mit jedem Ausdruck in geltenden Normtexten teilt. Mitten im Kampfgetümmel alltäglicher Rechtsprobleme, die von der Judikatur bewältigt werden sollen, siedelt auch der temperamentvolle Beitrag von Walter Grasnick „Die Meinungsmacher", gewidmet unter anderem dem Phänomen der „herrschenden Meinung" (als autoritäres Kürzel: „h. M.") und vor allem der (mehr oder zumeist weniger argumentativen) Berufung auf sie. Die These ist dabei (in Übereinstimmung mit der Strukturierenden Rechtslehre und ihrem Konzept der Rechtsarbeit wie auch mit dem Sprachpragmatismus), die Gerichte „fänden" nicht etwa das schon vorgegebene Recht, bei ihrem Ausspruch handele es sich nicht um „Erkenntnis" von etwas objektiv (Vör-)Gegebenem; sondern auch sie produzierten, bei Licht betrachtet, nur Meinungen - also etwas, das prinzipiell dauernder Rechtfertigung bedarf. Der Autor verwendet diesen Ausdruck hier somit als Terminus technicus: „Meinung" als begründete, als zu begründende - gegen einen umgangssprachlichen Gebrauch, der auf das Intuitive, Unverbindliche, das leichthin Gesagte abhebt. Andererseits machen es sich die Akteure der Rechtswelt aber oft leicht, indem sie auf „h. M." schlicht verweisen, um sich nähere Begründungsarbeit zu ersparen. Diesem Feld rechtlicher Praxis gilt die Analyse des Autors - immer von der zutreffenden Einsicht ausgehend, Rechtsentscheidungen seien nicht nur im Normativen, sondern auch im „nur vermeintlich rein Faktischen" erst zu erarbei-
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ten. Ausgehend von Quine spannt Walter Grasnick den Bogen zunächst zur Bestreitung von Willensfreiheit durch Aussagen der heutigen Hirnforschung (Singer, Roth), wobei auch diese Aussagen folgerichtig zu „Meinungen" herabgestuft werden; dann zu Rorty mit seinem Eintreten gegen Letztbegründungen und stattdessen für - jeweils - als überlegen ausweisbare Gründe; und schließlich zu Luhmann und dessen Einschätzung der praktischen Rolle juristischer Rhetorik („Kunstfertigkeit", „Entscheidung im Moment", „Zufall"). Der Autor nennt als praktische Felder die Strafzumessung durch die Gerichte, aber auch bereits deren Erstellung des Sachverhalts: weder Feststellung noch Re-Konstruktion, sondern Herstellung und Konstruktion: „Im Meinungskampf gibt es keine endgültigen Sieger. Nicht einmal einen neutralen, objektiven Schiedsrichter". Auch die Rechtskraft, als ein Haltepunkt im einzelnen Verfahren, bietet - was die Haltbarkeit ihrer rechtlichen Positionen über diesen Fall hinaus angeht - keine Ewigkeitsgarantie. Rechtssprache in Aktion wird auch im Beitrag von Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski in Form eines Rechtsprechungskommentars vorgeführt. In ihrem Beitrag „Zauberpilze und Cybernauten - oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen?" analysieren sie mit rechtslinguistischen Mitteln eine neue strafrechtliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH). Das Landgericht Bamberg hatte einen Angeklagten verurteilt, im Jahr 2001 mit halluzinogenen Pilzen gehandelt zu haben. Das Betäubungsmittelgesetz in damaliger Fassung stellte nur den Vertrieb solcher rauscherzeugender Substanzen unter Strafandrohung, die in „Pflanzen" oder „Pflanzenteilen" enthalten sind. Der Bundesgerichtshof urteilte nun, „auch wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen", unterfielen sie dennoch dem gesetzlichen Begriff „Pflanze" - und das obwohl es auch für das Gericht bei dieser Frage um die vorherige Bestimmtheit des Strafgesetzes geht, um seine Erkennbarkeit für die Normadressaten. In der Biologie hat sich die Auffassung von der Natur der Pilze gewandelt; die Umgangssprache bildet dagegen (ähnlich wie bei „Walfischen") einen relativen, aber keinen klar konturierten Gegenpol. Der BGH meint jedoch, die Adressaten hätten hier „in Grenzfällen ... wenigstens das Risiko einer Bestrafung" erkennen können; es komme nicht auf das Wissen des Fachmanns an, sondern auf den Sprachgebrauch des „Mannes auf der Straße". Das Gericht untersucht dabei sowohl nach wie vor bestehende Nachlässigkeiten in der biologischen Terminologie (Pilzkunde im Rahmen der Botanik - auf den zweiten Blick nicht überzeugend, da die institutionell tradierte universitäre Fächereinteilung nur begrenzten Erkenntnisweit beanspruchen kann) wie auch Alltagspraktiken (Kauf von Pilzen „gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler" - angesichts der heutigen Infrastruktur des Handelssektors keineswegs überzeugend). Ausgiebig besuchten die Richter aber auch Internetforen der an Rauschmitteln interessierten „Gemeinde" und stellten dabei ein durchaus auch in Bezug auf einschlägige Pilze vorhandenes Rechts- und Unrechtsbewusstsein fest. Die für den BGH entscheidende Frage ist denn auch nicht länger, ob Sprache aus Pilzen Pflanzen mache; sondern die nach dem Verständigungs- und Verständnisniveau un-
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ter den betroffenen Beteiligten für eine Frage der vorliegenden Art. Damit ist die „Bestimmtheit" des Normtexts verlassen - in rechtslinguistischer Sicht gibt es sie als eine vorgegebene (und zudem „für alle verständliche") Größe ohnehin nicht. Die Entscheidung läuft darauf hinaus, was der Klientel dieses Normtexts an Anstrengung der Bestimmbarkeit rechtlich noch zugemutet werden kann. Nicht um die Einhaltung oder Überschreitung einer noch immer tradierten fixen „Wortlautgrenze" geht es der Sache nach, sondern um die Eröffnung eines semantischen Spielraums der Begründbarkeit und um die Plausibilität „innerhalb" seiner vorgebrachten Argumente. Ralph Christensen und Hans Kudlich untersuchen im Folgenden ein Grundproblem des Rechts, das unausweichlich als Sprache und in Sprache zu bearbeiten ist und keine Archimedischen Punkte „außerhalb" oder „oberhalb" dieser realen Vorgänge von Bearbeitung aufweisen kann, in dem Beitrag „Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes?" Nachpositivistisches Rechtsdenken und - der Sache nach - seit jeher die Rechtspraxis stehen vor dem Paradox, in den Gesetzbüchern keine vorweg fertigen Gesetzesbefehle zu finden, die nur zu „erkennen" und sodann „anzuwenden" wären, keine leges ante casum. Was sie tatsächlich vorfinden, sind - in der Sprache heutiger Linguistik - noch nicht Texte, sondern erst Textformulare; und in jener der Strukturierenden Rechtslehre: erst Normtexte und noch nicht (Texte von) Rechtsnormen. Das, woran der juristische Entscheider (prototypisch: der Richter) gebunden ist, bringt er bei näherem Zusehen in casu erst hervor: die Rechtsnorm. Die Lösungsversuche des alten Positivismus wie die des späteren (im Konzept der Rechtsnorm nach wie vor positivistischen) Dezisionismus sind als rechtssprachlich illusionär und als dramatisch unterkomplex seit langem gescheitert. Daher gibt es schon viele Versuche, die genannte Paradoxie aufzulösen (so der hier diskutierte von Klaus Günther). Die Autoren des Beitrags wollen aber nicht weiter ent-paradoxieren, sondern vielmehr das als solches beständige Paradox ent-skandalisieren, mit ihm zu einem rechtsstaatlich vertretbaren und theoretisch realistischen praktischen Umgang kommen. Ihre Auseinandersetzung mit dem (nach Aufgabe der „Sonderfall"hypothese gemachten) Vorschlag von Vertretern der Diskurstheorie, Begründungs- und Anwendungsdiskurs strikt von einander zu trennen, arbeitet deren unhaltbare Voraussetzungen heraus, wie: „einzig richtige Entscheidung", Kryptodezisionismus, vertikal holistische Idee einer „Einheit des Rechts", Porosität der angeblich „strikten" Trennung, unproduktives Eintauschen des juristischen Entscheidungsparadoxes durch das semantische Regelparadox, Instabilität der beschworenen sozial verankerten „Rechtsparadigmen". Was demgegenüber insistiert, ist die Einsicht, dass weder diskursiv moralische Prinzipien noch ein Gefüge gültiger Normen das Recht aus seinem Status erretten können: Das Paradox meldet sich in jedem realen Rechtsstreit wieder zu Wort. Für eine avancierte Rechtstheorie ist das aber keine „Katastrophe" (so, mit Bezug auf den Widerspruch, Ludwig Wittgenstein). Für die juristische Praxis heißt das, wie Christensen /Kudlich zeigen, dass die Auflösung des Paradoxes nicht auf eine Person verschoben, nicht im Subjekt der Entscheidung aufgehoben werden, also nicht
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zugleich positivistisch und dezisionistisch traktiert werden sollte. Besser verzichtet man auf die Wunschvorstellung, die Wahrheit des Rechts sei vor der Lösung des Falls im Verfahren bereits vorweg fixiert, sie brauche nur noch erkannt und umgesetzt zu werden; oder, in den Worten der Strukturierenden Rechtslehre, auf das Credo einer lex ante casum. Nichts schützt vor dem Paradox als einem abstrakten: man kann nicht mit Sicherheit wissen, „ob die erarbeitete Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht selbst Recht oder Unrecht ist". Dieses Bewusstsein öffnet den Weg zu einer relativen Rationalität im Verfahren, im semantischen Kampf um Bedeutung von (Rechts-)Sprache, im Bemühen um eine Entscheidung, welche sich auf Argumente stützt, die - jedenfalls vorläufig - alle gegen sie vorgebrachten Gesichtspunkte sei es zu widerlegen, sei es zu integrieren vermögen. *
Das mit „die Globalisierung" bezeichnete Gesamtphänomen wird in diesem Band zum einen linguistisch, zum andern politisch und verfassungsrechtlich erörtert. In seinem Beitrag „Einschränkung der nationalen Gestaltungsmöglichkeiten angesichts der wachsenden Globalisierung und die Rolle der Zivilgesellschaft für mögliche Gegenstrategien" geht Friedrich Müller vom Nationalstaat als der herkömmlich politisch und rechtlich souveränen Organisation auf einem bestimmten Territorium aus: den (verfassungsrechtlich gesicherten Raum für die Entwicklung von Republik, Rechtsstaat und Demokratie, von Sozialstaat, Menschen- und Bürgerrechten bietend. Der demokratische nationale Verfassungsstaat erscheint nicht zuletzt für soziale Reformierbarkeit, für die gesellschaftliche Inklusion aller als das relativ leistungsfähigste aller Systeme der bisherigen Politikgeschichte. Seit einigen Jahrzehnten wird er aber als nach außen abschließbare Organisationsform zunehmend geschwächt, werden ihm zentral wichtige Entscheidungen immer mehr aus der Hand genommen: durch weltweit entgrenzte Finanzmärkte, durch sich globalisierende Produktion, Distribution und Dienstleistung, durch den drohenden Kollaps des planetaren Ökosystems. Entmaterialisierung in der Produktion, Entterritorialisierung im Steuerungsapparat, Entnationalisierung in der Vorstellung von „Souveränität" sorgen dafür, dass nicht nur alle Kommunikationen, sondern auch Grundfunktionen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft zunehmend de-zentriert, weltweit „simultan", erfüllt werden. Der Beitrag analysiert die Gründe, aus denen der Nationalstaat als Konzept, als Mittel praktischer Politik, als Transmissioninstanz für demokratische Impulse gleichwohl nicht über Bord zu werfen ist; denn die „Globalisierung" genannten Vorgänge sind auch wesentlich politisch bestimmt, sind ein neuartiges Macht- und Gewaltspiel, sind weder naturwüchsig noch Geschichtsgesetze von höherer Dignität. Ihnen gegenüber haben die Zivilgesellschaften auf staatlicher Mitwirkung und demokratischer Kontrolle zu bestehen wobei die nationalen Demokratien im Gefolge der allseits globalisierenden Tendenzen in ihrer Entscheidungsmacht inhaltlich eingeschränkt und die Chancen der Demokratisierung in Transitionsgesellschaften gefährlich geschwächt werden. Es werden im Einzelnen nationale, internationale und transnationale Vorschläge ge-
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nannt, den zum Teil fatalen Auswirkungen „der" Globalisierung auch institutionell entgegenzuwirken (wie z. B. eine Reform der UNO, Kooperation zwischen regionalen Wirtschaftsblöcken, ein Bretton Woods II, Kapitalkontrollen und Erträgnisbesteuerung, eine globale Kartellbehörde, Demokratisierung der Prozeduren innerhalb des IWF oder der WTO, und mehr). Besonders wird auf die Rolle zivilgesellschaftlicher Initiativen eingegangen (so etwa: verstärkte Formen von partizipativer Demokratie, staatlose kollektive Handlungsformen von Nichtregierungsorganisationen), in der Perspektive auf die Entwicklung von Rahmenkompetenzen eines nach und nach sich bildenden Weltrechts und der Vorahnung der Struktur eines möglichen künftigen globalen Konstitutionalismus. Den vielfältigen realen Facetten des Phänomens „Die Globalisierung" spürt Fritz Hermanns bei seinem „Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums" dieser kontroversen Bezeichnung nach: bei einer intensiven linguistischen Erörterung dessen, was für die Einen ein Fahnenwort, ein Stigmawort für die Anderen und allgemein ein Erwartungsbegriff ist. In der Begriffsvorgeschichte geht er zu Recht über „Der blaue Planet" und „Eine Welt", über „Die Grenzen des Wachstums" (1972) und McLuhans „global village" (1962) bis zu Marx' und Engels' vorgreifender Beschreibung wirtschaftlicher Globalisierung - jedenfalls in Produktion und Konsumtion - im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) zurück. Als konsensuelle Kernbedeutung arbeitet er die Aussage weltweiter Interdependenz der Geld-, Waren- und Arbeits(Dienstleistungs-)märkte im Gefolge neoliberaler Deregulierung und Privatisierung heraus; auch weist er auf den vermischten und oft unklaren Gebrauch sei es eines Zustands, eines Vorgangs oder einer Tendenz dieses Namens hin. Im Rahmen der Pauschalbedeutung kommen noch wesentlich mehr weltweit zirkulierende Bereiche hinzu, zum Beispiel Präsenz und Potenzial von Militär; (Des-)Information und Wissen; Eigentum und Organisationen; Marketing und Werbung; Recht, Menschenrechte, Demokratie und Kultur; Krankheit, Drogenhandel, Umweltschäden, Terrorismus und Kriminalität - nicht zuletzt die sich tendenziell globalisierenden Migrationsbewegungen. Politisch gewendet, tritt „die Globalisierung" im Diskurs der Neoliberalen stereotyp als fraglos gegeben, als unumkehrbar und alternativlos auf - obgleich doch von neoliberalen Regierungen und Institutionen (wie WTO, WMF, Weltbank) gezielt und energisch betrieben. Aus den ontischen Bedeutungskomponenten „Unaufhaltsamkeit" und (zumindest längerfristigem) „Nutzen für Alle" folgt für Neoliberale die deontische: „die Globalisierung" müsse gewollt und vorangetrieben werden, wobei etwa im Fall Deutschlands die weitere Forderung an alle Arbeitnehmer nicht auf sich warten lässt, sich mehr und mehr einzuschränken. Im Diskurs ihrer Verleugner ist „die Globalisierung" ein irriger Ausdruck für Internationalisierung; in dem ihrer Gegner auf jeden Fall ontisch nichts Schicksalhaftes, sondern politisch geplant und durchgesetzt und somit (deontische Folgerung) auch politisch begrenzbar und rücknehmbar. Ihren Kritikern bedeutet die Bezeichnung immer auch einen Hinweis auf segensreiche neben den unleugbar destruktiven Wirkungen, gefolgt von der deontischen Bedeutung, eine Verbesserung
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hin zu einer „Globalisierung mit menschlichem Gesicht" anzustreben. Fritz Hermanns treibt die Analyse noch weiter, indem er auch „die Begriffsrückseite" der Bezeichnung „die Globalisierung" in den Blick nimmt: die hochgradige Störanfälligkeit eines konsequenten Kapitalismus; ferner Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus, Korruption, Rechtsunsicherheit und polititisch-gesellschaftliche Instabilität als die Globalisierung hemmende Elemente. Wie andere Begriffe verbirgt auch „die Globalisierung" zugleich Vieles - nämlich bei weitem (noch) nicht weltweit zu sein, sektoral sehr oft nur partiell gegeben, voller Risiken, voll von Oligopolen und Protektionismen. Der Autor macht bewusst, wie sehr auch das Unsichtbarmachen zur Funktion des Ausdrucks und damit zur Beschreibung seiner Bedeutung gehört. *
Im Überblick über die hier diskutierten Bereiche der Wissenschaft deutet sich eine längerfristige Bewegung der Rechtstheorie über die Sprache des Rechts hin zur Medientheorie an. Dieser Vorgang betrifft auch die rechtslinguistische Selbstreflexion; ihn zu beobachten, dürfte unverzichtbar sein, will man die Rolle des Rechts und seiner Sprachen im Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft besser verstehen. Ekkehard Felder behandelt das Thema „Von der Sprachkrise zur Bilderkrise. Überlegungen zum Text-Bild-Verhältnis im Paradigma der pragma-semiotischen Textarbeit". Schon ein erster Blick auf die Welt der Medien zeigt: werde es nun „pictorial turn" oder werde es „iconic turn" genannt, wir leben in der Zeit einer bislang unbekannten Bilderflut. Angesichts ihrer beschränkt der Autor das Feld der Untersuchung auf das Wechselverhältnis zwischen Sprach- und (statischen, nicht verfälschten, nicht-fiktionalen) Bildzeichen in Kommunikations Vorgängen, die sich in der politisch interessierten Öffentlichkeit vollziehen. Er ist nicht bilderstürmerisch, wohl aber mit guten Argumenten bilderskeptisch; auch gegenüber der „Überhöhung von Bildern" im Gefolge der Sprachkrise um 1900 (Nietzsche, Mauthner, Kraus, Schnitzler, Hofmannsthal). Vielmehr meint er, dass sich bei Bildern (als „einem perspektivierten Ausschnitt von Welt zur interessengeleiteten Konstitution von Wirklichkeit") die Probleme zwischen Signifikant und Signifikat „in Bezug auf Arbitrarität, Konventionalität und Repräsentativität" im Vergleich zum Sprachzeichen noch erheblich verschärften - nicht zuletzt deshalb, weil über diese Probleme, anders als beim Medium Sprache, nicht innerhalb des Mediums theoretisiert werden kann. (Übrigens hat z. B. schon Merleau-Ponty diesen Sachverhalt bündig formuliert: „Man kann über die Malerei schreiben, aber man kann nicht über die Malerei malen".) Anhand der Untersuchung von Bildern (u. a. „Stalingrad", „World-Trade-Center") kommt Ekkehard Felder zu der These, auch beim Bildzeichen gleiche der Weg vom Entstehen über den Gebrauch, die Habitualisierung und Konventionalisierung bis hin zur Stereotypisierung „dem Verkrustungsweg sprachlicher Zeichen zu Stereotypen". Seine sorgfältigen Analysen führen ihn zur Rehabilitierung der Schrift und des Mediums Sprache als Beispiel für „eine
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linguistisch begründete Bildkritik im Paradigma der Text-Bild-Hermeneutik als Pendant zur linguistisch begründeten Sprachkritik' 4. Der Beitrag von Ralph Christensen und Kent . D. Lerch steht an einem der Schnittpunkte von Rechtslehre, Rechtslinguistik und Medientheorie: „Ein Urteil, wie es im Buche steht. Vom Aufstieg und Niedergang des Gesetzbuchs". Es steht an einem entscheidenden Schnittpunkt, denn der Richter darf im Rechtsstaat seine Entscheidung den Parteien nicht verweigern. Nach dem traditionellen Schema erfordert das die Suche nach Kriterien im Gesetz und eine abschließende Subsumtion des Falls unter diese. Dabei wird eine Sinnganzheit des Gesetzbuchs unterstellt, und die Autoren erörtern folgerichtig, auf den Spuren Derridas und Gadamers, die „Metaphysik des Buches", den „Mythos vom Gesetzbuch" - historisch ab der Wiederentdeckung der Kodifikation Justinians durch die Schule von Bologna Mitte des 11. Jahrhunderts, also seit der Ablösung der induktiv-topischen Arbeitsweise des klassischen Römischen Rechts durch die „monologische Interpretation" eines deduktiv-exegetischen Denkens. Die Glossatoren und Postglossatoren des Mittelalters begründeten so das bis heute (noch) vorherrschende Paradigma rechtlicher Entscheidung als einer Rechtsfindung, nämlich als des Auffindens des im Gesetzbuch verborgenen Sinns durch seine richtige Auslegung - zutiefst fremd dem Römischen Recht, das kein Gesetzes-, sondern ein Juristenrecht war. Die wichtigsten Stufen dieser Vorgänge, so vor allem der Übergang von der Schriftrolle zum Codex, von den offenen Kontroversen unter Fachleuten zum als geschlossen unterstellten Buch des Gesetzes, werden hier nachgezeichnet. Dabei sah allerdings die Rechtswirklichkeit der byzantischen Jurisprudenz ganz anders aus, die ungezählten dogmatischen Lücken und Widersprüche wurden durch Rhetorik überdeckt. Erst im christlichen Abendland wird das Corpus iuris zur uneingeschränkten Autorität, wobei allerdings, der Sache nach, wiederum an seine Stelle die Glossa ordinaria tritt: der Kommentar zum auszulegenden Text wird an dessen Stelle selbst zur Rechtsquelle. Dem bis heute noch nicht ganz verschwundenen irrationalen Glaubenskern, das Gesetzbuch sei eine Sinntotalität und es gebe eine Einheit der Rechtsordnung, tat auch diese Tatsache keinen Abbruch. Erst seit kurzem wankt der Mythos des Buchs, die tatsächliche mediale Infrastruktur des heutigen Rechts drängt sich in den Vordergrund. Die althergebrachten Grenzen des Buchs als Sinntotalität hat der (Rechts-)Text mit dem Auftreten der digitalen Medien nun endgültig überschritten. In der Folge unternehmen es Christensen und Lerch, vor dem Hintergrund heutiger Medientheorie, „das Verstehen neu zu denken": Navigieren des Juristen im Hypertext Recht, verantwortliche Autorschaft des Entscheiders für sein Urteil und dessen Begründung, praktische Kontroversen und rechtliches Procedere radikal nur im Medium Sprache gegeben, das Recht als Medienkonstellation, „Transkriptivität" der Rechtsarbeit als „rekursives Spiel": der Streit der Lesarten der Normtexte im Verfahren. Legitimität kann der Richter nicht mehr aus dem Gesetzbuch abstrakt „ableiten", er verdient sie sich (oder auch nicht) durch sein tatsächliches Tun - die Rechtsprechung nicht mehr als „Anwendung", sondern als Produktion von Recht. Dieses „prozedurale", „mediale", „reflexive" Recht ent-
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spricht damit genau dem, was die Strukturierende Rechtslehre seit Mitte der 60er Jahre entwickelt und was nun auch durch die Reflexion einer avancierten Medientheorie, unterstützt durch eine immer wichtiger werdende Theorie der Argumentation (die im Recht „Juristische Methodik" heißt), bestätigt werden kann. Um das „Buch" in einem sehr besonderen Sinn kreisen die beiden hierauf noch folgenden Beiträge des Bandes, welche die Lexikographie im Kontext mit der Rechtslinguistik zu Wort kommen lassen und dabei die Entwicklung der Neuen Medien und die damit verbundenen Herausforderungen in Praxis und Theorie untersuchen. Heino Speer („Grenzüberschreitungen - vom Wörterbuch zum Informationssystem") analysiert das Deutsche Rechtswörterbuch, ein den juristischen Wortschatz vom 5. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts umfassendes Großprojekt, im Medienwechsel vom Druckwerk zum Internetwörterbuch. Der seit zwei Jahrzehnten in Gang befindliche Wandel des Produktions-, des Speicher- und des Darbietungsmediums, also von einschränkender Knappheit des jeweiligen Druckumfangs zum nahezu unbegrenzten digitalen Publikationsraum, ermöglicht zum Beispiel das Rückkoppeln der Belege sei es an Faksimiles, sei es an Volltexte der jeweiligen Quellen (Rekontextualisierung), damit auch erweiterte Zugänge zur semantischen Dimension. In welchen Kollokationen einzelne Wörter stehen, ist für ihre Semantik aufschlussreich; bei genügend großen Textmengen können maschinelle Kollokationsanalysen helfen. Das von Heino Speer geleitete Deutsche Rechtswörterbuch bietet ein Beispiel dafür, wie die mit einem Medienwechsel immer verbundene Grenzüberschreitung nicht nur zu benennbaren Problemen führt, sondern, über die ursprünglichen Intentionen des Medienwechsels hinaus, auch „zu lexikographischen Mehrwerten". Auch wird die mit der physischen Grenze des Druckwerks einhergehende Endgültigkeit des Gedruckten durch die grundsätzliche Veränderbarkeit der digital gespeicherten Inhalte innovativ ergänzt; und deren Rückkopplung an herkömmlich strukturierte Wörterbücher lässt wiederum die neuen Techniken der Informationsgewinnung zu mehr als nur statistisch orientierten Ergebnissen gelangen. Das Deutsche Rechtswörterbuch gehört denn auch, so eines der Ergebnisse des den Band abschließenden Beitrags von Anja Lobenstein-Reichmann , zu den wenigen lexikographischen Unternehmungen, in denen alle Chancen der Neuen Medien tatsächlich angemessen genutzt worden sind. Unter dem Titel „Medium Wörterbuch" analysiert sie so vielschichtig wie intensiv, in welchem Verhältnis die Neuen Medien mit ihren Möglichkeiten zur Gewinnung und Speicherung von Information zur traditionellen Lexikographie (als der alten Form der Informationstechnik) stehen; und ferner, welche Folgen dieser Medienwechsel vom Printmedium zum elektronischen Medium für die Lexikographie als praktische Wissenschaft und als „Medium" hat. Dafür untersucht sie, an McLuhan anschließend, den Begriff des Mediums als Instrument zur Organerweiterung und Organverstärkung des auf seine Umwelt reagierenden und auf sie einwirkenden Menschen, nicht zuletzt als Verstärker und Konstituens von Information. Als „ausgegliedertes Sprachgedächtnis", als „Extensions of Man", nicht zuletzt aber auch als „Extensions of Communities"
Vorwort des Herausgebers
stellen sich Wörterbücher als eine Sonderkategorie von Medium dar; und, da Sprache nicht nur als passiver Speicher fungiert, sondern auch als aktive Kultur- und Weltkonstrukteurin und da Sprache in Lexika zugleich Objektsprache und Metasprache ist, als Metamedien, die ordnen, steuern und transformieren: ausgegliedertes Sprachgedächtnis, Navigationshilfen für Einzelne und Sozialisations- und Identifikationsgrundlagen ganzer Kollektive - mentalitätsgeschichtlich, wissenschaftshistorisch und sprachpädagogisch. Im Rahmen der zweiten Frage, jener der Folgen des Medienwandels auf Gegenstand und (im Sinn McLuhans) die „Botschaft" des Metamediums Wörterbuch, entwickelt Lobenstein-Reichmann von der bisherigen Erfahrung genährte skeptische bis kritische Gesichtspunkte, unterstreicht die Eigenschaft von Wörterbüchern, hermeneutisch erarbeitetes Wissen zu sein und nicht bloß additiv gewonnene Datensammlungen und insistiert auf der Notwendigkeit, die neue Informationstechnik mit der alten und ihrem „qualitativen Fundament" (Semantikkompetenz und Textkompetenz) in praktischer Verbindung zu halten. Es seien nach wie vor „die Inhalte . . . , die unser Leben prägen und nicht nur deren äußere Vernetzungen". *
Mit seinen Themen wie Gerechtigkeit und Autorität, der Wirkung der Gesetzesbindung oder der Rolle des Gesetzbuchs und der Funktion der Bilder beansprucht der Band, an der Schnittstelle von Rechts- und Sprachwissenschaft, von Politik und Medientheorie ein avanciertes fachwissenschaftliches, mit den Fragen nach political correctness, europäischer Identität, Globalisierung und Neuen Medien sogar ein über wissenschaftliche Debatten hinaus gehendes öffentliches Interesse. Heidelberg, im Frühjahr 2007
F.M.
Inhaltsverzeichnis Jan Lüsing, „Re-Visionen" des Rechts. Der mystische Grund der Gerechtigkeit bei Blaise Pascal und Jacques Derrida
Jasper Liptow, Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis
21
55
Rainer Wimmer, Politische Korrektheit (political correctness). Verschärfter Umgang mit Normen im Alltag 71
*
Felix Hanschmann, Ein Fall methodischer Kapitulation? Zur Auslegung des Begriffs „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EUV
Walter Grasnick, Die Meinungsmacher
81
105
Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski, Zauberpilze und Cybernauten - oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen? Überlegungen zu BGH 1 StR 384 / 06 v. 25. 10. 2006 aus rechtslinguistischer Sicht 119
Ralph Christensen und Hans Kudlich, des Paradoxes?
Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung 135
*
Friedrich Müller, Einschränkung der nationalen Gestaltungsmöglichkeiten angesichts der wachsenden Globalisierung und die Rolle der Zivilgesellschaft für mögliche Gegenstrategien 155
20
Inhaltsverzeichnis
Fritz Hermanns, Die Globalisierung. Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums der Bezeichnung 165 Ekkehard Felder, Von der Sprachkrise zur Bilderkrise. Überlegungen zum Text-BildVerhältnis im Paradigma der pragma-semiotischen Textarbeit 191
Ralph Christensen und Kent D. Lerch, Ein Urteil, wie es im Buche steht. Vom Aufstieg und Niedergang des Gesetzbuchs 221
Heino Speer, Grenzüberschreitungen - vom Wörterbuch zum Informationssystem. Das Deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel 261
Anja Lobenstein-Reichmann, Medium Wörterbuch
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,Re-Visionen" des Rechts Der mystische Grund der Gerechtigkeit bei Blaise Pascal und Jacques Derrida Von Jan Lüsing I. Einleitung „Force de loi . Le fondement mystique de l'autorité". So lautet der Titel des Vortrags von Jacques Derrida, in dem er erstmals seine Gedanken zur Struktur des Rechts und dessen Verhältnis entwickelt hat.1 Mit dem Untertitel „Le fondement mystique de l'autorité" spielt Derrida dabei auf eine Passage aus den Pensées2 von Blaise Pascal an: „Das einzig Gewisse ist: dass gemäß der reinen Vernunft nichts an sich gerecht ist, alles schwankt mit der Zeit. Die Gewohnheit i macht die ganze Gerechtigkeit 2, allein deshalb, weil siej sich eingebürgert hat. Das ist der mystische Grund ihrer Autorität."
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„C'est le plus sûr: Rien, suivant la seule raison, n'est juste de soi; tout branle avec le temps. La coutume fait toute l'équité, par cette seule raison qu'elle est reçue; c 'est le fondement mystique de son autorité." [B: 294/L: 60] 3
1 Vortrag von 1989 an der Cardozo Law School, New Yorker City anlässlich eines Colloquiums zum Thema „Deconstruction and the Possibility of Justice". In deutscher Übersetzung erschienen in: Derrida, Gesetzeskraft, Der mystische Grund der Autorität, 1991, (zit. GK). Originaltitel: „Force de loi. Le fondement mystique de l'autorité". Zuerst in englischer Übersetzung erschienen in: Deconstruction and the Possibility of Justice, published by The Cardozo Law Review, vol. 11, July/August 1990, numbers 5 - 6 , New York. 2 Der vollständige Titel des Werkes lautet: „Pensées de M. Pascal sur la Religion et sur quelques autres sujets". Bei diesem Werk von Blaise Pascal (1623 - 1662) handelt es sich um eine posthum veröffentlichte Sammlung von Fragmenten, die insbesondere Notizen in Vorarbeit zu einer „Apologie des Christentums" aus dem Zeitraum von 1656 bis zu Pascals Tod enthält [Vgl. Brunschvicg, Introduction aux Pensées de Pascal, in: Œuvres de Blaise Pascal, 3. Aufl., Bd. 12, 1925, S. XLVIII f.; Schäfer, Blaise Pascal, in: Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, 3. Aufl., 1994, S. 323.]. Quellenkritik-. Ohne auf die Editionsgeschichte der „Pensées" im Einzelnen einzugehen, sind wegen der zum Teil sinnrelevanten Unterschiede zwischen den deutschen Übersetzungen einerseits und zwischen den französischen Editionen andererseits, die den Übersetzungen als Textgrundlage dienten, einige quellenkritische Anmerkungen notwendig: Die erste offizielle sog. Port-Royal-Ausgabe erschien 1670 in Paris. Die zumindest bis in die sechziger Jahre maßgebliche und ausführlich kommentierte französische Ausgabe stellt die sog. Brunschvicg-Ausgabe dar: Brunschvicg, Léon (Hrsg.), Œuvres de Blaise Pascal,
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Pascal entwickelt in den Pensées eine rechtspositivistische Position. Eine Position also, der die Überzeugung zu Grunde liegt, dass sich für einen Maßstab der Gerechtigkeit keine objektive und abschließende Bestimmung angeben lässt. Eine Fixierung der Gerechtigkeit, die zeitlos ist, die unabhängig ist von gegenwärtigen Machtverhältnissen und politischen Interessen, und die vom kulturellen Wandel nicht berührt wird, gilt als nicht begründbar. Auch Derrida hält eine derartige Fixierung der Gerechtigkeit für unmöglich. Jedoch vertritt Derrida keineswegs eine rechtspositivistische Position. Er gibt die Gerechtigkeit nicht verloren - j a gerade die Unmöglichkeit ein meatrechtliches Ideal der Gerechtigkeit i m Recht zu verwirklichen, bewirkt Gerechtigkeit i m Recht. Derrida interpretiert den Ausdruck von dem ,mystischen Grund der Autorität' in eigener Weise, er entzieht ihn, wie er formuliert, „der konventionellsten und konventionalistischsten aller Lesarten" 4 . I m Folgenden wird zunächst den Ausführungen Pascals in den „Pensés" eine Deutung gegeben. Anschließend wird die rechtsphilosophischen Position Derridas entwickelt, um dann ihre Kontrast-Aspekte gegenüber den Gedanken aus den „Pensées" herauszustellen.
3. Aufl., Bd. 12-14, Paris: Hachette, 1925. Dieser Ausgabe folgt auch die Übersetzung von E. Wasmuth. Diese Übersetzung ist bis 1994 als Nachdruck der vollständig neu bearbeiten 5. Auflage von 1954 immer wieder aufgelegt worden: Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Übertr. und hrsg. v. E. Wasmuth, 9. Aufl. (unveränd. Nachdr. der 5. Aufl. 1954), Darmstadt: Wiss. Buchges., 1994. Die derzeit im deutschen Sprachraum aktuelle Ausgabe ist die Übersetzung von U. Kunzmann, die im Reclam Verlag erschienen ist: Pascal, Biaise; Gedanken; Stuttgart: Reclam, 1997. Diese basiert auf der französischen Ausgabe von Louis Lafuma: Lafuma, Louis (Hrsg.); Œuvres complètes; Paris: Seuil, 1963. Während die Brunschvicg-Ausgabe die einzelnen Fragmente nach einer eigenen thematischen Einteilung ordnet, orientiert sich die Lafuma-Ausgabe an der von Pascal selbst gesetzten Reihenfolge, soweit diese vorhanden war. Wie jeder Übersetzung so liegt auch der Wasmuth-Übersetzung bereits eine bestimmte Interpretation zu Grunde. Dies gilt insbesondere bei der Übersetzung des Ausdrucks „justice" der mit Gerechtigkeit, Recht oder auch als Rechtsprechung übersetzt werden kann. Dies ist nicht immer unproblematisch. Daher wird in der Arbeit der französische Wortlaut im Original und zwar nach der Brunschvicg-Ausgabe zitiert. Sie weist gegenüber der Lafuma-Ausgabe die umfangreichere Kommentierung auf. Die deutsche Übersetzung wird ebenfalls angegeben. Wo es dem Autor nötig erschien, wurde die Wasmuth-Übersetzung jedoch durch eine eigene Übersetzung des Autors ersetzt. 3
Die Passage ist Bestandteil des längeren Fragments Nr. 294 nach der Brunschvicg-Zählung (B: 294) und Nr. 60 nach der Lafuma-Zählung (L: 60). Inhaltlich divergieren die Editionen in der Zuordnung des Teilsatzes „et c'est le plus sûr". Die Brunschvicg-Ausgabe bezieht diesen Teil auf den kommenden Text, was durch einen Doppelpunkt markiert wird. Die Lafuma-Ausgabe ordnet ihn dem vorangegangen Satz zu. „De cette confusion arrive que l'un dit que l'essence de la justice est l'autorité du législateur, [ . . . ] , l'autre la coutume présente, et c'est le plus sûr." also „Von dieser Verwirrung kommt es, dass der eine sagt, das Wesen der Gerechigkeit sei die Autorität des Gesetzgebers, [ . . . ] ein andere die gegenwärtige Gewohnheit, und das ist das Sicherste." Außerdem beginnt der zweite Satz nach der BrunschvicgAusgabe mit „La coutume fait ..." Die Lafuma-Ausgabe hingegen mit „La coutume est..." 4 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 24.
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II. Pascals Position in den „Pensées" 1. Pascals These
a) Verzicht auf eine universelle Begründung der Gerechtigkeit Mit dem ersten Satz der zitierten Passage gibt Pascal eine negative Bestimmung der Gerechtigkeit. Eine absolute Gerechtigkeit, d. h. eine Gerechtigkeit, die ohne Bezugnahme auf empirische Bezüge nur für sich genommen bestimmt, was gerecht ist, eine solche Gerechtigkeit lässt sich aus der bloßen Vernunft nicht herleiten. Pascal erachtet weiter die Gerechtigkeit als etwas Wandelbares. Die Gerechtigkeit hat keinen Sonderstatus. Wie alles, wie die gewöhnlichen Lebensumstände sich im Laufe der Zeit verändern, so auch die Gerechtigkeit. Sie ist relativ zu Ort und Zeit. Diesen Gedanken betont Pascal an einer weiteren Stelle der „Pensées", indem er sie als Gegenstand der Mode bezeichnet. „Gerechtigkeit. - Wie die Mode das Vergnügen bestimmt, so bestimmt sie auch die Gerechtigkeit."
„Justice. - Comme la mode fait 1' agrément, aussi fait-elle la justice." [B: 309/L: 61]
Pascal vertritt daher eine relativistische Position: für Gerechtigkeit gibt es keine kulturinvariante Bestimmung. Die absolute Gerechtigkeit ist daher nicht nur nicht in der menschlichen Vernunft begründbar (1. Halbsatz), sondern sie ist überhaupt nicht fixierbar (2.Halbsatz). Pascal verwirft auf diese Weise jeden Ansatz einer naturrechtlichen Begründung: weder lässt sich die Gerechtigkeit aus der ewigen Ordnung der Natur ableiten, noch hilft die Ergründung des Willens Gottes weiter und auch aus dem Ziel der Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse lässt sich kein Prinzip der Gerechtigkeit herleiten, das in einem Gesellschaftsvertrag festzuschreiben wäre. Was Gerechtigkeit ist, ist dem Menschen unbekannt und daher bleibt mangels eines Auswahlkriteriums nur der Relativismus, so Pascal zu Beginn des Fragments der Passage. „Worauf wird er die Ordnung der Welt, die er regieren will, gründen? Auf die Laune jedes einzelnen? Was für eine Verwirrung! Auf die Gerechtigkeit? Er beachtet sie nicht.
„ [ . . . ] Sur quoi la fondera-t-il, l'économie du monde qu'il veut gouverner? Sera-ce sur le caprice de chaque particulier? quelle confusion! Sera-ce sur la justice? il l'ignore.
Sicherlich hätte er, wenn er sie kenne würde, nicht diesen Grundsatz aufgestellt, den am weitesten verbreiteten von all jenen, die es unter den Menschen gibt: Jeder folgt den Sitten seines Landes."
Certainement s'il la connaissait, il n'aurait pas établi cette maxime, la plus généraie de toutes celles qui sont parmi les hommes: que chacun suive les mœurs de sons pays; [ . . . ] . " [B: 294/ L: 60]
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b) Gewohnheit als Grundlage eines Gerechtigkeitsgefühls Lässt sich die Gerechtigkeit Pascal zufolge also nicht bestimmen, so wird damit auch ein metarechtliches Kriterium als Maßstab verneint, an dem die Inhalte der einzelnen Gesetze sich als „richtiges" Recht ausweisen könnten. Damit aber entfällt auch der Geltungsgrund des Rechts, d. h. die Verbindlichkeit der Gesetze. „Warum soll ich dem Gesetz gehorchen?" fragt sich der einzelne. Die Antwort: „Weil die Gesetze gerecht sind!" ist nach Pascal nicht möglich. Welche Rolle die Gerechtigkeit aber dennoch in Bezug auf die Legitimierung der Gesetze spielt, formuliert Pascal dann im zweiten Satz der Passage. Nicht die Gerechtigkeit in ihrem objektiven und absoluten Sinn verleiht den Gesetzen Autorität, sondern eine Gerechtigkeit, die auf Gewohnheit beruht, übernimmt als Illusion die Legitimierungsfunktion. 5 Damit ist die Gewohnheit nur mittelbar Geltungsgrund des Rechts, insoweit sie zunächst im Bewusstsein des Volkes den Gerechtigkeitsmaßstab erschafft, die dann dem Volk als Geltungsgrund dient. Gerechtigkeit in diesem Sinne ist ein bloßes durch die Einbürgerung von Gewohnheit an die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse entstandenes Gerechtigkeitsgefühl. Es ist das Für-gerecht-halten, weil man es so gewohnt ist, was den Gesetzen in den Augen der Menschen ihre Anerkennung verschafft. Das Tradierte schafft sich auf diese Weise seine eigene Legitimierung. Die Gewohnheit als zeitlich ausgedehnter Prozess verdeckt den tatsächlichen Zufallscharakter der Entstehung der geltenden Rechtsverhältnisse.6 „ [ . . . ] nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen, [ . . . ] . "
„ [ . . . ] en peu d'années de possession, les lois fondamentales changent; le droit a ses époques, [ . . . ] . " [B: 294/L: 60]
Pascal trifft damit eine empirisch rechtssoziologische Feststellung. Sie ist die Konsequenz aus seiner persönlichen Beobachtung der Wandelbarkeit dessen, was als Gerechtigkeit proklamiert wird. 7 c) Der rechtspositivistische
Realismus
Hält Pascal die Gerechtigkeit im objektiven Sinne für nicht bestimmbar und diagnostiziert er als soziologischen Geltungsgrund der Gesetze die Illusion der Gerechtigkeit aufgrund von Gewöhnung an die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse, so bleibt doch noch die Frage offen, worin Pascal in rechtsphilosophischer Hinsicht den eigentlichen Geltungsgrund der Gesetze sieht. Diesbezüglich stellt Pascal das 5
Zur Gewöhnung als Grundlage auch für die ersten Prinzipien der Wissenschaft siehe: Schäfer, Blaise Pascal, in: Höffe (Hrsg.), Klassiker der Philosophie, 3. Aufl., 1994, S. 323. 6 Geissbühler, Recht und Macht bei Pascal, 1974, S. 61; Ellrich, Zu einer pragmatischen Theorie der Rechtsgeltung bei Montaigne und Pascal, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LXXIV (1988), S. 61. 7 Vgl. hierzu auch das Fragment B: 375 / L : 520, wobei es sich um eine von Pascal verworfene Stelle handelt.
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Primat der politischen Macht vor dem Recht fest. Die Macht selbst bestimmt, was gerecht ist. „So hat man der Gerechtigkeit keine Macht geben können, weil die Macht der Gerechtigkeit widersprochen hat und gesagt, dass diese ungerecht sei, und behauptet hat, dass sie es sei, die gerecht wäre. Und da man auf diese Weise nicht erreichen konnte, dass das, was gerecht ist, mächtig sei, hat man gemacht, dass was mächtig ist, gerecht sei."
„Ainsi on n'a pu donner la force à la justice, parce que la force a contredit la justice et a dit qu'elle était injuste, et a dit que c'était elle qui était juste. Et ainsi ne pouvant faire que ce qui est juste fût fort, on a fait que ce qui est fort fût juste." [B: 298/L: 103]
„Gerechtigkeit besitzt, was gilt. Und so werden alle unsere geltenden Gesetze notwendig für gerecht gehalten, ohne dass man sie prüft, weil sie gelten."
„La justice est ce qui est établi; et ainsi toutes nos lois établies seront nécessairement tenues pour justes sans être examinées, puisqu'elles sont établies." [B: 312/L: 645]
„Wenn man es gekonnt hätte, so hätte man die Macht in die Hände der Gerechtigkeit gelegt; aber, da die Macht sich nicht führen lässt wie man will, weil sie eine handgreifliche Eigenschaft ist, während die Gerechtigkeit eine geistige Eigenschaft ist, über die man verfügt, wie man will, hat man sie in die Hände der Macht gelegt; und so nennt man gerecht, was man zu beachten gezwungen ist."
„ [ . . . ] Si l'on avait pu, l'on aurait mis la force entre les mains de la justice, mais, comme la force ne se laisse pas manier comme on veut, parce que c'est une qualité palpable, au lieu que la justice est une qualité spirituelle dont on dispose comme on veut, on l'a mise entre les mains de la force; et ainsi on appelle juste ce qu'il est force d'observer." [B: 878/L: 85]
Liegt die Bestimmung der Gerechtigkeit aber in den Händen der jeweiligen politischen Macht, so ist der Maßstab der Gerechtigkeit als Geltungsgrund der Gesetze genauso beliebig, wie der Inhalt der erlassenen Gesetze selbst. Damit aber entfällt ein metarechtliches Richtigkeitskriterium. Die Pascalsche Position steht so einer rechtspositivistischen Lesart offen: Die Gültigkeit des positiven Rechts ist unabhängig von der Bewertung seines Inhalts an einem metarechtlichen Maßstab. 9 Was gelten soll, gilt, weil es nach dem Willen der etablierten Macht gelten soll. Nicht der richtige Inhalt, sondern die Macht schafft das Gesetz: „auctoritas non
8 Geissbühler, Recht und Macht bei Pascal, 1974, S. 61; Ellrich, Zu einer pragmatischen Theorie der Rechtsgeltung bei Montaigne und Pascal, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LXXIV (1988), S. 61. 9 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 200 f.; vgl. Gräfrath/Ganslandt, Rechtspositivismus, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, 1995, S. 514 Eine Übersicht zu den verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus findet sich bei: Höffe, Rechtspositivismus, in: Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 6. Aufl., 2002, S. 214; Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, 1989, S. 10 f.
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veritas facit legem" lautet die lateinische Kurzformel. Dies ist der Rechtspositvismus der zu Lebzeiten Pascals insbesondere von Thomas Hobbes (1588-1679) vertreten wurde. 1 0 Besonders deutlich formuliert Pascal die Ablehnung eines metarechtlichen Maßstabes i m Fragment B: 294 / L : 60 i m Fortgang der Passage. Gerade die Regeln, an denen die Fehlerhaftigkeit der anderen korrigiert werden sollen, seien selbst die fehlerhaftesten. Man beruft sich auf sie i m Namen der Gerechtigkeit, doch ist das nichts anderes als die eigene subjektive Illusion, die mit der objektiven Gerechtigkeit, mit dem Wesen des richtigen Gesetzes, nichts zu tun hat. Gesetze seien einfach nur Gesetze, ohne Wahrheit, ohne höheren Geltungsgrund als den der Faktizität der etablierten Macht. „Nichts ist so fehlerhaft wie diese Gesetze, welche die Fehler abstellen. Wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht derjenigen Gerechtigkeit, die er sich einbildet, nicht aber dem Wesen des Gesetzes. Es ist ganz in sich selbst beschlossen. Es ist Gesetz und nichts weiter."
„ [ . . . ] Rien n'est si fautif que ces lois qui redressent les fautes; qui leur obéit parce qu'elles sont justes, obéit à la justice qu'il imagine, mais non pas à l'essence de la loi: elle est toute ramassée en soi; elle est loi, et rien davantage. [ . . . ] " [B: 294/L: 60]
Die Härte dieses Standpunktes wird einem nur dann verständlich werden, wenn man weiß, dass Pascal neben der weltlichen Gerechtigkeit eine göttliche Gerechtigkeit postuliert hat. Zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit besteht ein qualitativer Unterschied. 11 Der göttlichen Gerechtigkeit kommt Absolutheit zu. „Die Eins, dem Unendlichen hinzugefügt, vermehrt es um nichts, nicht mehr als ein Fuß einen unendlichen Maßstab; das Endliche vernichtet sich in Gegenwart des Unendlichen, es wird ein reines Nichts. So unser Geist vor Gott, so unsere Gerechtigkeit vor der göttlichen Gerechtigkeit."
„ [ . . . ] L'unité jointe à l'infini ne l'augmente de rien, non plus qu'un pied à une mesure infinie; le fini s'anéantit en présence de l'infini, et devient un pur néant. Ainsi notre esprit devant Dieu; ainsi notre justice devant la justice divine. [ . . . ] " [B: 233/L: 418]
10 Zumindest die Schrift „De cive" (1642) soll Pascal bekannt gewesen sein [Lafuma, Notice des personnes citées, in: Lafuma (Hrsg.), Œuvres complètes, 1963, S. 656]. Bereits dort vertritt Hobbes in Kap. 7 § 14 die Ansicht, dass der Staat die einzige Quelle des Rechts sei [vgl. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 13. Aufl, 1991, S. 196.]. In der späteren Schrift „Leviathan (1651)" finden sich dieser Gedanke insbesonder in Kap. 26: „Denn sodann ist es die souveräne Gewalt, die die Menschen verpflichtet, ihnen zu gehorchen." [Hobbes, Leviathan, Dt. Ausgabe: Fetscher (Hrsg.), 5. Aufl., 1992, S. 205.]. Auch Stolleis bemerkt eine auffällige Parallele von Pascal zu Hobbes [Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 282.].
h Geissbühler, Recht und Macht bei Pascal, 1974, S. 65 f.
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Über das Verhältnis beider Gerechtigkeiten zueinander und die menschlichen Möglichkeiten, die göttliche Gerechtigkeit zu erkennen, äußert sich Pascal dezidiert in Fragment B: 375/L: 520. Interessanterweise hat Pascal das Fragment wieder verworfen. Offenbar hatte Pascal das Verhältnis beider Gerechtigkeiten zueinander für sich noch nicht abschließend geklärt. 12 2. Pascals Konsequenz aus der positivistischen These
In einem weiteren Schritt behandelt Pascal dann die Konsequenz, die sich aus seiner Position ergibt. Zentral sind dabei zwei Textstellen. Die erste Textstelle ist das Fragment B: 325/L: 525. Hier expliziert Pascal sein Dilemma, ob seine Einsicht über den falschen Gerechtigkeitsschein der Gesetze angesichts aller möglichen Auswirkungen Allgemeinwissen werden darf oder nicht. Die zweite Textstelle ist das Fragment B: 326/L: 66, in dem er versucht, einen Ausweg aus dem Dilemma aufzuzeigen. a) Das Dilemma der Volksbelehrung In der These hat Pascal die Bestimmbarkeit der Gerechtigkeit durch weltliche Erkenntnis verneint und zwischen der politischen Macht als dem tatsächlichen Geltungsgrund von Gesetzen und dem auf Gewöhnung beruhenden Gerechtigkeitsempfinden als Illusion eines Geltungsgrundes unterschieden. Angesichts dieser Erkenntnis sieht sich Pascal nun vor ein Dilemma der Verbreitung und Nichtverbreitung dieser Einsicht gestellt.13 Einerseits wäre es für die Annerkennung der bestehenden Rechtsverhältnisse nützlich, diese Einsicht ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und Allgemeinwissen werden zu lassen. Da es in weltlicher Sicht kein Kriterium für „richtiges" und „falsches" Recht gibt, sind Streitigkeiten und Veränderungsbemühungen im Namen der Wahrheit sinnlos.14 Man würde lediglich die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse, die auf nichts anderem als kontingenten Setzungsakten der politischen Macht beruhen und mit der Dauer ihrer Geltung den falschen Dignitätsschein der Gerechtigkeit erlangt haben, durch ebenso kontingente und unbegründbare andere Rechtsverhältnisse ersetzen. „ [ . . . ] Es wäre also gut, dass man die Gesetze und Gewohnheiten befolgte, weil sie Gesetze sind; daß es wüsste, es gibt kein wahres und gerechtes Gesetz, das
„ [ . . . ] Il serait donc bon qu'on obéît aux lois et coutumes, parce qu'elles sont lois; qu'il sût qu'il n'y en a aucune vraie et juste à introduire, que nous n'y connais-
12 Weiterführend: Geissbühler, Recht und Macht bei Pascal, 1974, S. 79 ff. 13
Vgl. Ellrich, Zu einer pragmatischen Theorie der Rechtsgeltung bei Montaigne und Pascal, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. LXXIV (1988), S. 65 f. 14 Ebd., S. 66.
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Jan Liising erst einzuführen wäre; daß wir nichts davon verstehen und daß wir also allein die geltenden [Gesetze] befolgen müssen. Das würde bewirken, dass man sie nie aufgäbe.[...]"
sons rien, et qu'ainsi il faut seulement suivre les reçues: par ce moyen, on ne les quitterait jamais." [B: 325/L: 525]
„[...] Weshalb folgt man überkommenen Gesetzen und Meinungen? Tut man das, weil sie richtiger wären? Nein, aber sie sind in ihrer Art einzig, und sie entheben uns den Anlässen der Meinungsverschiedenheiten."
„ [ . . . ] Pourquoi suit-on les anciennes lois et anciennes opinions ? est-ce qu'elles sont les plus saines ? non, mais elles sont unique, et nous ôtent la racine de la diversité." [B: 301/L: 711]
Pascals Zurückweisung jeder naturrechtlichen Legitimierung von Gesetzen und insbesondere die Ablehnung der Verankerung eines Gerechtigkeitsprinzips in der Vernunft, steigert sich unter einem absoluten Friedensgebot geradezu zu einer Devotion, der zufolge alles hinzunehmen ist, weil vor dem Hintergrund der Kontingenz alles hingenommen werden kann. Dies gilt insbesondere für unzweckmäßige Gesetze. „Die unvernünftigsten Dinge der Welt werden durch die Urteilsverwirrung der Menschen zu den vernünftigsten. Was ist wohl weniger vernünftig als die Wahl des erstgeborenen Sohnes einer Königin, um einen Staat zu lenken? [ . . . ] Ein solches Gesetz wäre lächerlich und ungerecht. Aber weil sie [die Menschen] aber so sind und immer so sein werden, wird es vernünftig und gerecht, denn wen sollte man auswählen? Den Begabtesten und Tüchtigsten? Sogleich geraten wir unweigerlich in ein Handgemenge, jeder behauptet, dieser Tugendhafteste und Geschickteste zu sein. Binden wir also diese Eigenschaft an irgendein unbestreitbares Faktum. Das ist der älteste Sohn des Königs; das ist eindeutig, da gibt es keinen Streit. Die Vernunft kann es nicht besser machen, denn der Bürgerkrieg ist das größte Übel."
„Les choses du monde les plus déraisonnables deviennent les plus raisonnables à cause du dérèglement des hommes. Quy a-t-il de moins raisonnables que de choisir, pour gouverner un Etat, le premier fils d'une reine ? [ . . . ] Cette loi serait ridicule et injuste. Mais parce qu'ils le sont et le seront toujours, elle devient raisonnable et juste, car qui choisira-t-on, le plus vertueux et le plus habile ? Nous voilà incontinent aux mains, chacun prétend être ce plus vertueux et ce plus habile. Attachons donc cette qualité à quelque chose d'incontestable. C'est le fils aîné du roi; cela est net, il ny a point de dispute. La raison ne peut mieux faire, car la guerre civile est le plus grand des maux." [B: 320b/L: 977]
Es gilt darüber hinaus aber auch für die faktischen Machtverhältnisse, was in letzter Konsequenz eine Rechtfertigung des Recht des Stärkeren um des Friedens willen darstellt.
,Re-Visionen" des Rechts „Wem von uns beiden gebührt der Vortritt? Wer wird vor dem anderen zurücktreten? Der weniger Tüchtige? Aber ich bin ebenso tüchtig wie er, man wird sich deshalb schlagen müssen. Er hat vier Lakaien, ich habe nur einen: da sieht man, man braucht nur zu zählen, an mir ist es zurückzutreten, und ich bin ein Tor, wenn ich murre. Dadurch bleiben wir friedlich miteinander, und das ist das größte der Güter."
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„Qui passera de nous deux? qui cédera la place à l'autre ? Le moins habile ? mais je suis aussi habile que lui, il faudra se battre sur cela. Il a quatre laquais, et je n'en ai qu'un: cela est visible; il ny a qu' à compter; c'est à moi à céder et je suis un sot si je le conteste. Nous voilà en paix par ce moyen; ce qui est le plus grand des biens." [B: 319]
Pascal zufolge dient die Aufklärung des Volkes über die Kontingenz des geltenden Rechts daher der Friedenssicherung. Andererseits sieht Pascal in der Offenlegung des faktischen Konstitutionsprozesses der Gesetze die Gefahr der Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung. Würde man die Illusion der Gerechtigkeit der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse entlarven, so würde die Anerkennung der Rechtsverhältnisse zersetzt und es drohten Aufstände. „Aber das Volk ist für diese Lehre nicht zugänglich; und so wie es annimmt, dass man die Wahrheit finden könne und dass in den Gesetzen und Gebräuchen Wahrheit sei, glaubt es an sie und wertet ihr Alter als Beweis ihrer Wahrheit (und nicht allein als Beweis ihrer Autorität ohne Wahrheit). Deshalb befolgt es sie; es ist aber geneigt, sich zu empören, sobald man ihm zeigt, dass sie nichts wert sind; [ . . . ]."
„Mais le peuple n'est pas susceptible de cette doctrine; et ainsi, comme il croire que la vérité se peut trouver, et qu'elle est dans les lois et coutumes, il les croit et prend leur antiquité comme une preuve de leur vérité (et non de leur seule autorité sans vérité). Ainsi il y obéit; mais il est sujet à se révolter dès qu'on lui montre qu'elles ne valent rien; [ . . . ]." [B: 325/L: 525]
Pascal geht dabei von gesellschaftlichen Strukturen aus, in denen die den gesellschaftlichen Alltag bestimmenden Normen ohne einen höheren Geltungsgrund keine verpflichtende Wirkung entfalten würden. Der Illusion der Gerechtigkeit kommt daher eine zentrale Stabilisierungsfunktion zu. Das Verhältnis der politischen Macht zur Gerechtigkeit ist nicht nur durch das Primat der Macht gekennzeichnet, sondern die politische Macht ist auch für ihren eigenen Erhalt auf den Schein des Gerechten angewiesen. 15 Die reine Macht wäre tyrannisch und würde ständig in Frage gestellt werden. „ [ . . . ] die Macht ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch. [ . . . ] die Macht ohne Gerechtigkeit wird angeklagt. [ . . . ] "
„ [ • • • ] l a force sans la justice est tyrannique. [ . . . ] la force sans la justice est accusée. [ . . . ] " [B: 298/L: 103]
15 Geissbühler, Recht und Macht bei Pascal, 1974, S. 62.
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Pascals Dilemma, ob seine Einsicht über die Kontingenz der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse und der Gerechtigkeit als bloßer Deckmantel der politischen Macht dem gemeinen Volk zugänglich gemacht werden kann, hat seinen Ausgangspunkt in Pascals Überzeugung, eine Destabilisierung der gesellschaftlichen Strukturen um jeden Preis zu verhindern „damit Friede sei, der das höchste Gut ist." 16. Denn in Bezug auf das Ziel der Friedenssicherung besitzt der allgemeine Volksglaube an die Gerechtigkeit gegenüber der relativistischen Position kontingenter Faktizität noch seine Rechtfertigung. Zugleich aber sichert die Einsicht in die Kontingenz der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse den Frieden, indem sie jeden Streit um Wahrheit und Gerechtigkeit als sinnlos entlarvt. Somit aber ergibt sich das Dilemma, dass im Namen der Friedenssicherung sowohl der Erhalt des falschen Dignitätsscheins des Rechts als auch dessen Entlarvung durch Aufzeigen der Kontingenz geboten ist. Zeigt man aber die Kontingenz der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse auf, um sinnlosen Auseinandersetzungen vorzubeugen, zerstört man zugleich den Anschein der Gerechtigkeit, der ebenfalls dem sozialen Frieden dient, indem er die Gesetzesinhalte als von einem höheren Prinzip abgeleitet darstellt. Ein Ausweg aus diesem Dilemma müsste es also ermöglichen, die Kontingenz der Rechtsverhältnisse aufzuzeigen, ohne zugleich den Gesetzen ihren Geltungsgrund zu entziehen. b) Der Ausweg aus dem Dilemma Daher wäre ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, wenn sich ein die Gesetze legitimierender Geltungsgrund finden ließe, der mit der relativistischen Position verträglich wäre. Die Position des Relativismus hatte sich für Pascal aus der Konsequenz ergeben, dass eine Fixierung der Gerechtigkeit und damit eine objektive Bestimmung dessen, was als gerechter Gesetzesinhalt gelten kann, unmöglich ist. 17 Folglich müsste der gesuchte Geltungsgrund rein formal sein. Einen solchen formalen Geltungsgrund formuliert Pascal konsequenter Weise dann auch in Fragment B: 326/L: 66. Ein Gesetz gilt demnach nicht, weil es gerecht ist, d. h. sein Inhalt in einem dem Recht vorgängigen, höheren Prinzip legitimiert werden kann, sondern es gilt, weil es ein Gesetz ist, d. h. rein formal, weil es die Regelung einer zur Gesetzgebung berechtigten Autorität darstellt. „Es ist gefährlich, dem Volk zu sagen, daß die Gesetze nicht gerecht sind, denn es gehorcht ihnen nur, weil es sie für gerecht hält. Daher soll man ihm zugleich sagen, man müsse ihnen gehorchen, weil sie Gesetze sind, wie man den Oberen
16
„11 est dangereux de dire au peuple que les lois ne sont pas justes, car il ny obéit qu'à cause qu'il les croit justes. C'est pourquoi il lui faut dire en même temps qu'il y faut obéir parce qu'elles sont lois, comme il faut obéir aux supérieurs, non
Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Übertr. und hrsg. v. E. Wasmuth, 9. Aufl., 1994, Frgm. 299 a.E. 17 Dazu oben unter II. 1. a).
,Re-Visionen" des Rechts nicht deshalb gehorchen muss, weil sie gerecht sind, sondern weil sie die Oberen sind. Dadurch wird jeder Empörung vorgebeugt, wenn man das verständlich machen kann, [ . . . ] . "
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parce qu'ils sont justes, mais parce qu'ils sont supérieurs. Par là, voilà toute sédition prévenue si on peut faire entendre cela, [ . . . ] . " [B: 326/L: 66]
Damit entkommt Pascal seinem Dilemma auf folgende Weise: Statt des materiellen Geltungsgrunds, demzufolge ein Gesetz gilt, weil sein Inhalt sich an einem rechtsvorgängigen Gerechtigkeitsprinzip bewährt hat, lässt er einen formalen Geltungsgrund als Rechtfertigung ausreichen. Hiernach gilt ein Gesetz, weil es von einer normsetzenden Autorität herrührt. Somit kommt es allein auf die Art der Normerzeugung an. Der Norminhalt spielt keine Rolle mehr. Dieser Übergang von einer inhaltlich orientierten Rechtskultur zu einer rein formalen, kommt der Unterscheidung nahe, die Hans Kelsen (1881 -1973) in seiner „Reinen Rechtslehre" in Bezug auf Normsysteme macht. Dort unterscheidet er zwischen einem statischen und einem dynamischen Typ. In einem statischen Normsystem gilt eine Norm, weil ihr Inhalt als aus einer abstrakteren und in diesem Sinne höheren Norm abgeleitet gedacht wird. Die höherrangige Norm enthält damit den Geltungsgrund für die niederrangigere. Am Anfang eines solchen Ableitungssystems muss eine oberste Grundnorm stehen, die selbst nicht mehr abgeleitet werden kann und daher keinen Geltungsgrund hat. Ihr Inhalt muss daher als unmittelbar einleuchtend angenommen werden. 18 Demgegenüber gilt in einem dynamischen Normsystem eine Norm, weil sie von der zur Normsetzung berechtigten Autorität erlassen wurde. 19 Dabei arbeitet Kelsen sorgfältig heraus, dass der Geltungsgrund einer solchen Norm nicht schon die Autorität selbst ist, sondern eine Norm, die die jeweilige Autorität zur Normsetzung ermächtigt. 20 Auch in einem dynamischen Normsystem gibt es daher eine oberste Grundnorm, wenn auch nur als bloße Ermächtigungsgrundlage für eine Autorität zur Normsetzung. Da für den Setzungsakt der obersten Grundnorm keine Autorität durch eine höherrangige Ermächtigungsgrundlage berechtigt werden kann, muss die Grundnorm vorausgesetzt werden. An diesem Punkt muss die Frage, warum man einer Anordnung der anordnenden Autorität Folge leisten soll, abgebrochen werden. 21 18
Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 198. Kelsen beschreibt damit den Aufbau der Systementwürfe des säkularisierten Naturrechts aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Als die bedeutendsten Naturrechtsvertreter in Deutschland sind zu nennen: Samuel Pufendorf (1632-1694), Christian Thomasius (1655-1728), Christian Wolff (1679 -1754). Zu den einzelnen Personen siehe: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988, S. 277 ff. 19 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 199. 20 Ebd., S. 196. 21 Ebd., S. 199. Kelsen führt dies am Beispiel eines Kindes aus, dass den Vater fragt, warum es seinem Befehl gehorchen soll, in die Schule zu gehen.
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Ein solches Frageverbot muss Pascal nun auch für seinen formalen Geltungsgrund der gesetzgebenden Autorität hinsichtlich der Hinterfragung eben dieser gesetzgebenden Autorität ansetzen. Denn der Relativismus bezieht sich auch auf die die Rechtserzeugung regelnden Normen. Derjenige aber, der eine Begründung für die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse verlangt, würde den Verweis auf die gegenwärtigen Autoritätsstrukturen nicht als Grund anerkennen, es sei denn, dass diese in Gottes Plan oder in der anerkannten Tradition fußen. Damit schleicht sich die materielle Rechtfertigung durch die Hintertür bei der Begründung von Autoritätsstrukturen wieder ein. Die Gewöhnung an die Gesetze erscheint nun im neuen Gewand als Gewöhnung an Autoritätsstrukturen. Damit stellt sich das alte Dilemma erneut. 3. Zusammenfassung
Das geltende Recht ist das Produkt historischer Kontingenz. Das Autorität stiftende Fundament der Gerechtigkeit ist die Gewöhnung an die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse. Dieses Gewohnt-sein erzeugt in Bezug auf das Bestehende die Illusion von Gerechtigkeit - ein Für-gerecht-halten. Das Überkommene wird für gerecht gehalten. Gerechtigkeit ist daher laut Pascal nur ein Gefühl, das nicht als Prüfmaß bestehender Rechtsverhältnisse dient, sondern umgekehrt von diesen Verhältnissen geprägt und definiert wird. Pascal deckt nach seinem Verständnis einen Mechanismus der Selbstlegitimierung des Überkommenen, des Faktischen auf, welchem selbst eigentlich nur Zufälligkeit zukommt. Aufgrund dieses Relativismus entfällt ein metarechtliches Richtigkeitskriterium überhaupt. Damit steht die pascalsche Position einer rechtspositivistischen Lesart offen: Die Gültigkeit des positiven Rechts ist unabhängig von der Bewertung seines Inhalts an einem metarechtlichen Maßstab. Was gelten soll, gilt, weil es nach dem Willen der etablierten Macht gelten soll. Jedoch ist das Verhältnis der politischen Macht zur Gerechtigkeit nicht nur durch das Primat der Macht gekennzeichnet, sondern die politische Macht ist auch für ihren eigenen Erhalt auf den Schein des Gerechten angewiesen. So stellt sich die Frage, ob seine Einsicht über die Kontingenz der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse und der Gerechtigkeit dem gemeinen Volk zugänglich gemacht werden kann. Dabei befindet man sich in einem Dilemma: Zeigt man die Kontingenz der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse auf, um sinnlosen Auseinandersetzungen vorzubeugen, zerstört man zugleich den Anschein der Gerechtigkeit, der ebenfalls dem sozialen Frieden dient, indem er die Gesetzesinhalte legitimiert. Ein möglicher Ausweg könnte nach Pascal aber in der Ersetzung des Geltungsgrundes der Gerechtigkeit durch eine formale Legitimierung liegen, die in dem bloßen Verweis auf den Normgeber besteht.
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III. Die Grundlagen des Rechts bei Derrida 1. Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im Recht
a) Die Fragestellung Derrida nimmt nicht nur mit dem Titel seines Vortrags auf die entsprechende Passage in den Pensées Bezug, sondern zitiert sie auch zusammen mit einem ebenfalls diese Formulierung enthaltenden Textauszug von Montaigne, von dem der Ausdruck ursprünglich stammt.22 Wie bei Montaigne und Pascal so betrifft auch bei Derrida das Mystische den Geltungsgrund der gegenwärtigen Gesetze und Rechtsverhältnisse. Bei Montaigne und Pascal gelten Gesetze und Rechtsverhältnisse zwar deshalb, weil man sie aufgrund von Gewöhnung für gerecht hält, tatsächlich fehlt ihnen damit aber zugleich ein vorgängiger Geltungsgrund. Mystisch ist daher nicht nur die Gewohnheit als stille, unbemerkte Quelle eines Gerechtigkeitsempfinden, welches nur ein scheinbarer Geltungsgrund sein kann (da dieses Empfinden nicht vorgängig, sondern den gegenwärtigen Rechtsverhältnissen nachgängig ist, da es ja erst durch diese geprägt wird), sondern mystisch ist vielmehr auch der tatsächliche Geltungsgrund gegenwärtiger Gesetze und Rechtsverhältnisse, insofern sie ohne Grund gelten - gelten müssen. Genau darin, in dem Fehlen eines Geltungsgrundes, liegt aber auch für Derrida das Mystische. Der Begründungsdiskurs von Normen, kann nicht selbst wieder durch einen Metadiskurs begründet werden. Denn auch für diesen Metadiskurs müsste man konsequenterweise nach einem ihn begründenden Meta-Metadiskurs verlangen, so dass sich ein endloser Begründungsregress ergibt. 23 Daher bleibt nur der Abbruch der Begründung auf erster Stufe, so dass Rechtsverhältnisse als Akt der Gewalt ohne vorgängige Rechtfertigung gestiftet werden. 24 Mystisch nennt Derrida daher, was sich einer diskursiven Begründung entzieht.25 „Das Moment ihrer Stiftung, ihrer (Be)gründung oder ihrer Institutionalisierung [ . . . ] wäre ein Gewaltakt, eine performative und also deutende Gewalt, in sich selbst weder gerecht noch ungerecht; eine Gewalt, die ihrer eigenen Definition gemäß von keiner vorgängigen Justiz, von keinem vorgängigen Recht [ . . . ] für ungültig erklärt werden könnte. [ . . . ] An diesem Punkt stößt der Diskurs auf seine Grenze: in sich selbst, in seinem eigenen performativen Vermögen, in seiner performativen Kraft oder Macht. Ich schlage vor, daß man dies hier das Mystische nennt." [GK, 27 f.]
Vor diesem Hintergrund des Rechtsetzungsakts als eines Gewaltaktes, der ein Akt der Gewalt ist, weil er selbst nicht rechtfertigbar, nicht aus anderem ableitbar ist, stellt Derrida die Frage nach der Möglichkeit von Gerechtigkeit im Recht. Je22 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 24 f. 23 Ebd., S. 29. 24 Vgl. Zeillinger, Nachträgliches Denken, 2002, S. 128. 25 Menke, Können und Glauben. Die Möglichkeit der Gerechtigkeit, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion, 2002, S. 256.
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doch nicht im Sinne eines objektiven Maßstabes der Gerechtigkeit, sondern im Sinne einer Fähigkeit in bestimmter Art und Weise zu handeln, d. h. im Sinne der Realisierbarkeit der Anforderungen der Gerechtigkeit an die Handlung des Entscheidens in der Praxis des Rechts.26 „Kann man je sagen, daß eine Handlung nicht nur rechtmäßig, sondern auch gerecht ist? Daß eine Person nicht nur ihr Recht wahrnimmt, sondern auch sich gerecht verhält? Daß jemand, daß eine Entscheidung gerecht ist?" [GK, 35]
b) Die Gegensätzlichkeit von Recht und Gerechtigkeit Wenn sich das Problem der Gerechtigkeit für Derrida nicht in der allgemeinen Frage, wann eine Handlung gerecht ist, stellt, sondern als Frage, ob sich die Anforderungen der Gerechtigkeit in einer Handlung realisieren lassen, dann deshalb, weil er bereits einen Gerechtigkeitsbegriff vorgibt. In Anlehnung an den Gerechtigkeitsbegriff von Emmanuel Levinas, den dieser in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit" 27 entwickelt hat, 28 bestimmt Derrida Gerechtigkeit insbesondere als unendlich und im Verhältnis zum jeweils Anderen als heteronom. In der Lesart Derridas ist Gerechtigkeit bei Levinas die Verantwortung für den Anderen, die der Andere einem als Befehl auferlegt. 29 Sie ist unendlich, weil man der Verantwortung gegenüber dem Anderen niemals wird Genüge leisten können.30 Sie ist heteronom, weil sie von dem Anderen auferlegt wird. 31 Zudem beruht die Gerechtigkeit nicht „auf einem berechneten Gleichmaß"32, sondern „auf einer absoluten Asymmetrie" 33 . Wie bei Levinas hängt die Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber dem Anderen daher nicht von einer späteren Gegenleistung ab. 34 Die in dem Gerechtigkeitsbegriff gedachte Verantwortung ist nicht eine Verantwortung für eigenes Verschulden, sondern eine soziale Verantwortung für den Anderen. 35 Zusammen genommen lässt sich daher die Eigenschaft der Unberechenbarkeit als der wesentliche Charakter der Gerechtigkeit ausmachen. Einer so bestimmten Gerechtigkeit setzt Derrida einen Begriff des Rechts entgegen, der sich gerade durch seine Berechenbarkeit auszeichnet.36 26 Vgl. ebd., S. 247 u. 251. 27 Als deutsche Ausgabe: Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Übers, v. W. N. Krewani, 1987. 28 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 45. 29 Ebd., S. 45. 30 Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 167. 31 Ebd., S. 168. 32 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 45. 33 Ebd., S. 45. 34 Ebd., S. 52; Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 167. 35 Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 170. 36 Gehring, Gesetzeskraft und mystischer Grund, in: Gondek/Waidenfels (Hrsg.), 1997, S. 230 f.
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„Das Recht ist nicht die Gerechtigkeit. Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, daß es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnet". [GK, 33 f.]
Damit aber stehen Recht und Gerechtigkeit in einem unüberbrückbaren Gegensatz.37 Das Medium des Rechts, das durch seine Berechenbarkeit die richterlichen Entscheidungshandlungen vorhersehbar machen will, das durch Berechung Rechtssicherheit garantieren will, ist mit einer Gerechtigkeit, die gerade Unberechenbarkeit verlangt, unvereinbar. Recht und Gerechtigkeit stehen sich exkludierend gegenüber. Das berechnende Recht ist kein Medium zur Realisierung einer auf Unberechenbarkeit beruhenden Gerechtigkeit. „ [ . . . ] eine Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit (die unendlich ist, unberechenbar, widerspenstig gegen jede Regel, der Symmetrie gegenüber fremd, heterogen und heterotrop) und ihrer Ausübung in Gestalt des Rechts, der Legitimität oder Legalität (ausgleichbar und satzungsgemäß, berechenbar, ein System geregelter, eingetragener, codierter Vorschriften)." [GK, S. 44 f.]
c) Die wechselseitige Abhängigkeit von Recht und Gerechtigkeit In dieser Situation der Gegensätzlichkeit von Recht und Gerechtigkeit scheinen nur zweierlei Wege möglich. Entweder man opfert die Gerechtigkeit dem Recht oder umgekehrt das Recht der Gerechtigkeit. Erstes ist der Weg des Rechtspositivismus, der die Geltung des positiven Rechts unabhängig von einer Inhaltsbewertung an einem Maßstab der Gerechtigkeit macht. 38 Der zweite Weg ist der von Utopien, die die Verwirklichung der Gerechtigkeit unabhängig von einer Rechtsordnung zu verwirklichen suchen, sei es in der Utopie des guten Herrschers oder in der Utopie einer herrschaftslosen Gemeinschaft. 39 Für Derrida sind beide aber keine gangbaren Wege. Die Entlastung des Rechts von der Gerechtigkeit weist Derrida als konventionalistischen Relativismus und Nihilismus zurück, indem er für die Position Pascals eine neue Lesart sucht,40 die nicht in der Konsequenz endet, dass der Mangel eines vorgängigen Geltungsgrundes durch die Illusion der Gerechtigkeit zu verhüllen ist. „Pascals Gedanke [ . . . ] hat vielleicht eine Tragweite, die ihn jenseits des konventionalistischen oder utilitaristischen Relativismus führt, jenseits eines alten oder modernen Nihilismus, der von dem Gesetz nichts zurückbehält als ein ,masked power 4, jenseits der zynischen Moral der Lafontainschen Fabel Der Wolf und das Lamm, die uns lehrt, daß „der Stärkste immer recht hat." [GK, S. 26]
37 Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 170 f. 38 Vgl. Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 2001, S. 35, § 2 Rz. 14. 39 Menke, Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Recht und Gerechtigkeit, in: Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, 1994, S. 280. 40
Ebd., S. 282; Menke, Können und Glauben. Die Möglichkeit der Gerechtigkeit, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion, 2002, S. 255 f.
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Die Abschaffung des Rechts zu Gunsten der Gerechtigkeit weist Derrida schließlich mit seiner Kritik an Walter Benjamins Aufsatz „Zur Kritik der Gew a l t " 4 1 von 1921 zurück, die Gegenstand des zweiten Teils der „Gesetzeskraft" ist42 „Diesen unruhigen, rätselhaften, furchtbar zweideutigen Text halte ich bereits im voraus [ . . . ] für einen Text, der vom Thema der radikalen Zerstörung, der vollkommenen Vernichtung und Auslöschung heimgesucht wird. Zunächst soll das Recht, ich sage nicht: die Gerechtigkeit ausgelöscht werden; [ . . . ] . " [GK, 60] Über die Zurückweisung der beiden Auswege aus der Gegensätzlichkeit von Recht und Gerechtigkeit hinaus verschärft Derrida aber nochmals die Situation, indem er neben der Gegensätzlichkeit zugleich eine wechselseitige Abhängigkeit behauptet. Recht könne nicht ohne die Gerechtigkeit auskommen und die Gerechtigkeit nur i m Medium des Rechts realisiert werden. 4 3 Der Vollzug des Rechts, seine Ausübung impliziert stets einen Gerechtigkeitsanspruch. Nur vor der Distinktion von ,gerecht' und ,ungerecht' ist es überhaupt möglich, eine Rechtsordnung einzurichten. 4 4 Andererseits braucht aber auch die Gerechtigkeit das Medium des Rechts, um überhaupt Wirksamkeit zu entfalten. „Alles wäre viel einfacher, wenn der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Recht ein wahrer Unterschied wäre, ein Gegensatz, dessen Wirken sich logisch regeln und beherrschen ließe. Das Recht enthält aber den Anspruch einer Ausübung, die im Namen der Gerechtigkeit geschieht; die Gerechtigkeit wiederum erfordert, dass sie in einem Recht sich einrichtet, das ,enforced' werden muß." [GK, 46] Zudem weist Derrida wohl dem berechnenden Moment des Rechts auch für die Gerechtigkeit eine gewisse Orientierungsfunktion z u . 4 5 „Auf sich selbst gestellt, sich selbst preisgegeben, aufgegeben und allein gelassen, befindet sich die allen Berechnungen, allem Kalkül trotzende, Gerechtigkeit spendende Idee stets in nächster Nähe zum Bösen, ja zum Schlimmsten, da das perverseste Kalkül sie sich stets wieder aneignen kann. Diese Möglichkeit bleibt immer bestehen. Die jeder Berechnung, jedem Kalkül gänzlich fremde Gerechtigkeit befiehlt also die Berechnung und das Kalkül." [GK, 57] 41 Erschienen u. a. in: Benjamin: Zur Kritik der Gewalt. In: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Nachw. v. Herbert Marcuse; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971. 42 Vgl. Menke, Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Recht und Gerechtigkeit, in: Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, 1994, S. 282. 43 Menke, Können und Glauben. Die Möglichkeit der Gerechtigkeit, in: Kern/Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion, 2002, S. 251; Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 173. 44 Ebd., S. 256. 45 Ein ähnlicher Gedanke findet sich in einem Fragment Pascals: „Niemals tut man derart vollständig und heiter das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut." [Pascal, Über die Religion und über einige andere Gegenstände, Übertr. und hrsg. v. E. Wasmuth, 9. Aufl., 1994, Frgm 895.]
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Mit der Zurückweisung aller Positionen, die im Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit das eine dem anderen opfern wollen und mit der weitergehenden Behauptung, der wechselseitigen Abhängigkeit von Recht und Gerechtigkeit sind alle möglichen Auswege, die Gegensätzlichkeit von Recht und Gerechtigkeit aufzulösen, verbaut. Die Situation ist ausweglos - die Situation ist eine Apo-
d) Aspekte der Aporie der Gerechtigkeit im Recht Die Aporie Recht und Gerechtigkeit in Einklang zu bringen, ist die Aporie Gerechtigkeit im Recht zu verwirklichen. Sie hat ihren Ursprung im entgegengesetzten Charakter von Recht, dessen Wesen in der Berechenbarkeit liegt und dem Charakter der Gerechtigkeit, dessen Wesen die Unberechenbarkeit ist. Aus dieser auf eine philosophische Frage bezogenen Aporie, ergibt sich aber eine weitere, unmittelbar praktische Aporie. Die Unmöglichkeit nämlich, in einer bestimmten Situation eine richtige, eine gerechte Entscheidung zu treffen. Auf praktischer Ebene tritt die Berechenbarkeit als Wesenszug des Rechts in Form der Allgemeinheit einer Regel in Erscheinung. Diese Form der allgemeinen Regel, die das Recht wiederholbar und damit vorhersehbar macht, die das Recht handhabbar macht, ohne die es überhaupt kein Recht im Sinne eines Systems vorherbestimmter Ergebnisberechnung geben kann, kollidiert mit der seitens der Gerechtigkeit erhobenen Anforderung einer unendlichen Verantwortung gegenüber dem Anderen, womit die Beachtung der Einzigartigkeit, der Individualität des Anderen gefordert wird. 47 Die Bindung an eine Regel ist also notwendig aus Achtung vor dem allgemeinen Recht.48 Eine vorgegebene Regel zu ignorieren, wäre der Verrat der Gemeinschaft. Die Achtung vor der einzigartigen Besonderheit des Einzelnen wiederum fordert einen unbeschränkten Entscheidungsraum.49 Eine vorgegebene Regel zu beachten, wäre der Verrat des Individuums. 46 Vgl. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, 33. 47 Dieses Problem, wie eine allgemeines Gesetz, das für eine Vielzahl von Fällen gedacht ist, auf einen konkreten Fall angewendet werden kann, wird schon von Piaton in seiner Schrift „Politikos" diskutiert [Piaton, Politikos, in: Sämtliche Werke. Bd. 3, 1994, 294b f.]: Fremder: Das Gesetz aber sehen wir doch, dass es eben hiernach strebt, wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch, der nichts will anders als nach seiner eigenen Anordnung tun und auch niemanden weiter anfragen lassen, auch nicht, wenn für jemanden etwas Neues etwa besser ist außer der Ordnung, die er selbst festgestellt hat. Sokrates d. J.: Richtig. Genauso, wie du jetzt gesagt hast, macht es das Gesetz uns allen. Fremder: Unmöglich also kann sich zu dem niemals Einartigen das richtig verhalten, was durchaus einartig ist. Sokrates d. J.: So scheint es. 48 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 49. 4 Ebd., S. .
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„ [ . . . ] ; in der Gestalt des Rechts scheint die Gerechtigkeit aber die Allgemeinheit einer Regel, einer Norm oder eines universalen Imperativs vorauszusetzen. Wie soll man den Akt der Justiz, der stets ein Besonderes in einer besonderen Lage betrifft, Individuen, Gruppen, unersetzbare Existenzen, mich einen/den/als anderen, mit der Regel, der Norm, dem Wert oder dem Imperativ der Justiz in Einklang bringen, wenn diese zwangsläufig eine allgemeine Form aufweisen, [ . . . ] . " [GK, 34 f.]
Für Derrida liegt hier das „aporetische Potential" 50 , was sich in vielen Aspekten zeigt, wenn man den eigentlichen Akt der Entscheidung, die logische Sekunde des Entscheidens genauer zu fassen versucht. Derrida führt in der „Gesetzeskraft" insgesamt drei Aspekte dieses Moments der Entscheidung näher aus. Mit dem ersten Aspekt wird direkt das Anwendungsproblem einer Regel in Bezug auf einen Einzelfall thematisiert. Der zweite Aspekt problematisiert ein noch vor der Anwendung der Regel liegendes Entscheidungsproblem, nämlich die Entscheidung zur Entscheidung. Als drittes wird schließlich auf den Charakter der Entscheidung als Abbruch des Entscheidungsprozesses eingegangen. aa) Aspekt der Regelanwendung Derrida zufolge muss eine Entscheidung in Befolgung einer Regel getroffen werden und zugleich, um gerecht zu sein, darf sie nicht durch eine Regel geleitet gewesen sein. „Kurz: damit eine Entscheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muß sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, [ . . . ] einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen." [GK, 47]
Diese zwei gegensätzlichen Anforderungen ergeben sich, weil aus der Perspektive der Gerechtigkeit eine freie Entscheidung gefordert wird, aus Sicht des Rechts aber eine berechenbare. Frei muss eine Entscheidung sein, weil man gegenüber der richterlichen Entscheidung die Erwartung hat, dass hier jemand in verantwortlicher Weise handelt. Raum für verantwortliches Handeln eines Subjekts bleibt aber nur, wenn das Subjekt das Ergebnis nicht ausschließlich im rein mechanischen Vollzug von vorgegebenen Wenn-dann-Regeln erzeugt, wenn das Subjekt nicht schon durch das Regelsystem vollständig im Sinne einer Quasi-Kausalität determiniert ist. „Gemein ist uns das Axiom, dass wir frei sein müssen, verantwortlich für unsere Handlungen, [ . . . ] um gerecht oder ungerecht sein zu können, [ . . . ] . Wenn ein Wesen nicht frei ist, wenn es bei dieser oder jener Tat sich nicht frei verhält, sagen wir wohl kaum, daß seine Entscheidung gerecht oder ungerecht ist." [GK, 46]
Wird die Entscheidung durch die Anwendung von Regeln geleitet, so muss die Regel in Bezug auf den Einzelfall ausgelegt, konkretisiert werden. Diese Konkretisierung gelingt aber nur, wenn der eigentliche Regelungsgedanke der Regel entEbd., S. 4 .
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nommen wird, um ihn dann in dem jeweiligen Sinne anzuwenden, den der Regelungsgedanke für den Einzelfall haben kann. Dass aber heißt nichts anderes, als für die konkrete Entscheidung selbst eine passende Regel zu bilden. „Um gerecht sein zu können, darf zum Beispiel die Entscheidung eines Richters nicht bloß einer Rechtsvorschrift oder einem allgemeinen Gesetz folgen, sie muß sie auch übernehmen, sie muß ihr zustimmen, sie muß ihren Wert bestätigen: dies geschieht durch eine Deutung, die wieder eine Gründung oder Stiftung ist, so, als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren, als würde der Richter es in jedem Fall selbst erfinden." [GK, 47]
Gerade die Berechenbarkeit, die das verantwortliche Handeln beschneidet, dient aber der Rechtssicherheit hinsichtlich der ausstehenden, richterlichen Entscheidung. Von der richterlichen Entscheidung wird erwartet, dass sie nicht zufällig, nicht ohne erkennbare Leitlinien ergeht. Diese Leitlinien sodann dürfen auch nicht die persönlichen Weitpräferenzen des Entscheidenden sein, sondern müssen eine Verankerung in der Gesellschaft haben. „Diese Freiheit, diese Entscheidung, die das Gerechte und Angemessene betrifft, muß sich jedoch, um als solche erkannt zu werden, an einem Gesetz ausrichten, einer Vorschrift oder einer Regel folgen." [GK, 46]
Damit wird die richterliche Entscheidung zur Aporie. Die Notwendigkeit von Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit auf der einen Seite und zugleich die Notwendigkeit von Determiniertheit, Anbindung und Entprivatisierung auf der anderen Seite machen eine gerechte Entscheidung unmöglich. „Wenn eine solche Regel ein ausreichender, ein ausreichend sicherer Garant für die Deutung ist, erweist sich der Richter als eine Rechenmaschine (was manchmal zutrifft) und kann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewußt gelten. Umgekehrt kann er auch dann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewusst gelten, wenn er sich auf kein Recht, keine Regel bezieht, oder wenn er keine Regel für vorgegeben hält, die über seine Deutung hinausgeht, und deshalb die Entscheidung suspendiert, beim Unentscheidbaren stehen bleibt oder bar aller Regeln und Prinzipien improvisiert." [GK, 48]
bb) Aspekt der Entscheidung vor der Entscheidung Derrida selbst hat den zweiten Aspekt der Aporie einer gerechten Entscheidung „Die Heimsuchung durch das Unentscheidbare" 51 genannt. Dabei ist das Unentscheidbare etwas, was im prinzipiellen Sinn der Berechenbarkeit, einer Regel entzogen ist. „Das Unentscheidbare ist [ . . . ] die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt, [ . . . ] . " [GK, S. 49]
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Was aber ist prinzipiell der Berechnung entzogen? Prinzipiell der Berechung entzogen ist die der Berechnung vorgängige Entscheidung, etwas zu berechnen. Innerhalb der Regel, innerhalb des juridischen Algorithmus, gibt es keine Freiheit. Die Wahl der Regel, das Bestimmen des Algorithmus aber ist eine Handlung, die selbst nicht von der Regel oder dem Algorithmus vorgegeben werden kann. „Wenn eine Berechnung nämlich eine Berechnung ist, so läßt sich die Entscheidung, etwas zu berechnen, nicht dem Berechenbaren zuordnen: sie darf sich ihm nicht zuordnen lassen." [GK, S. 49]
Solange aber keine bestimmte Regel zur maßgeblichen Entscheidungsgrundlage bestimmt worden ist, solange ist die Entscheidung insgesamt suspendiert. Die Entscheidung des Falls beginnt also nicht mit der Anwendung einer Regel, sondern mit der Wahl der anzuwendenden Regel, ohne die man erst gar nicht zur Anwendung des Rechtskalküls, zu einer Entscheidung gelangt. „Ohne ausschlaggebende Entscheidung kann keine Gerechtigkeit in der Gestalt des Rechts eine praktische Anwendung erfahren. [ . . . ] Sie wurzelt bereits dort, [ . . . ] wo die Initiative des Berechnens ergriffen wird." [GK, S. 49]
Da die Wahl der Regel nun nicht von der Regel selbst geregelt werden kann, ist diese Wahl nie selbst vom Recht verbürgt. 52 Insoweit die Wahl der Regel aber auch die Entscheidung determiniert, trifft dieser Mangel an Verbürgtheit die Entscheidung als ganze. Der Strenge des Algorithmus, den Regeln des verbürgten Rechts, haftet die Unentscheidbarkeit ihrer Anwendung an. In diesem Sinne kann nie eine Regel angewandt werden, die schon vor der Entscheidung vorhanden ist. „Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst." [GK, S. 50 f.]
cc) Aspekt der Entscheidung als Endpunkt des Entscheidungsprozesses Der dritte Aspekt der Unmöglichkeit einer gerechten Entscheidung ergibt sich daraus, dass nach Derrida eine gerechte Entscheidung stets sofort zu ergehen hat. Gerechtigkeit kommt ein drängendes Moment zu, weshalb ihr unverzügliche Geltung zu verschaffen ist. „Die Gerechtigkeit wartet nicht. Sie ist jenes, was nicht warten darf, was nicht warten muß. [ . . . ] Eine gerechte, angemessene Entscheidung ist immer sofort, unmittelbar erforderlich, ,right away'. Sie kann sich nicht zuerst eine unendliche Information besorgen, das grenzenlose Wissen um die Bedingungen, die Regeln, die hypothetischen Imperative, die sie rechtfertigen könnten." [GK, 53 f.]
Auf der anderen Seite benötigt eine Entscheidung Zeit. Insbesondere vor dem Hintergrund der von der Gerechtigkeit auferlegten unendlichen Verantwortung ge52
Vgl. Reinhard, Gegen den philosophischen Fundamentalismus, 2003, S. 143.
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genüber dem Anderen und dem Verlangen, dem jeweiligen Einzelfall gerecht zu werden, wäre geradezu eine unendliche Vorlaufzeit für die Entscheidung notwendig. Damit aber ist eine gerechte Entscheidung in zweifacher Hinsicht unmöglich. Zum einen bedarf eine jede Falllösung, und sei es eine noch so flüchtige Berechnung des Falls im Recht, zumindest eines gewissen Zeitaufwandes, so dass, wenn es eine Entscheidung gibt, es sich immer um eine im Sinne der Gerechtigkeit verspätete Entscheidung handelt. Zum anderen aber muss sich eine gerechte Entscheidung auf unendliche Information und Wissen stützen, so dass, wenn es eine Entscheidung gibt, es sich immer um eine überstürzte Entscheidung handelt, weil sie auf unvollständigem Wissen (bzw. einem Abbruch der Suche nach einer Entscheidungsgrundlage) beruht. Damit aber ist jede Entscheidung, wenn sie gefällt wird, verspätet und zugleich überstürzt. „Auch wenn man von der Hypothese ausgeht, daß die Zeit und die Überlegtheit, die Geduld des Wissens und die Meisterschaft unbegrenzt sind, ist die Entscheidung in ihrer Struktur endlich, so spät sie auch getroffen werden mag: dringliche, überstürzte Entscheidung, in der Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung." [GK, 54]
e) Die Konsequenz Das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit hat Derrida zunächst als gegensätzlich gekennzeichnet. Während der Wesenszug des Rechts in der Berechenbarkeit liegt, so stellt die Unberechenbarkeit den Wesenszug der Gerechtigkeit dar. Damit stehen sich Recht und Gerechtigkeit exkludierend gegenüber. Beides zugleich kann es nicht geben. Das Verhältnis ist ein Entweder-Oder. 53 Indem Derrida darüber hinaus zugleich aber eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Recht und Gerechtigkeit sieht, verschärft er das Problem weiter. Nicht nur, dass Recht und Gerechtigkeit nicht zugleich bestehen können, sondern auch jedes für sich kann es nicht geben. Hierin liegt die Zuspitzung der Aporie, der Frage nach der Möglichkeit von Recht und Gerechtigkeit, die bezogen auf die Praxis sich als Unmöglichkeit darstellt, einen konkreten Fall gerecht zu entscheiden.54 Damit ist die eingangs von Derrida formulierte Frage, ob man je sagen kann, „daß eine Handlung nicht nur rechtmäßig, sondern auch gerecht ist" 5 5 , verneint. Was aber ist die Konsequenz der Unmöglichkeit gerechter Handlungen und also auch gerechter Entscheidungen? Eine wesentliche Konsequenz dürfte sein, dass es unter diesen Umständen nicht mehr möglich ist, Entscheidungen des Rechts und den sich daran anknüpfenden staatlichen Zwang unter Berufung auf die Gerechtigkeit zu legitimieren und zu rechtfertigen. Recht kann nicht mehr im Namen der Gerechtigkeit ausgeübt und 53 54 55
Dazu oben unter III. 1. b). Dazu oben unter III. 1. c). Dazu oben unter III. 1. a).
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vollstreckt werden. Positiv formuliert, heißt dies aber auch, dass welche Ideologie auch immer unter dem Namen der Gerechtigkeit firmiert, ihr kein Kontrollanspruch gegenüber dem positiven Recht zukommt. Das Recht bleibt unlegitimiert und kontingent. Mit ihm lässt sich kein totalitärer Endgültigkeitsanspruch verknüpfen. Diese Konsequenz ergibt sich jedoch bereits aus der bloßen Gegensätzlichkeit von Recht und Gerechtigkeit. Sie ist schon eine Konsequenz der pascalschen Position, die nur Recht kennt und Gerechtigkeit als Illusion entlarvt. Gerade auch die Immunisierung des Rechts vor einer ideologischen Verzerrung zugunsten der Rechtssicherheit ist das Hauptargument für eine rechtspositivistische Position. 56 Neben dieser Ergebnisgleichheit mit der rechtspositivistischen Position, stellt sich nun die Frage nach der Konsequenz aus der postulierten Abhängigkeit von Recht und Gerechtigkeit. Während der Gegensätzlichkeit gewissermaßen ein Moment der Abstoßung innewohnt, so kann umgekehrt der wechselseitigen Abhängigkeit ein Moment der Anziehung zugesprochen werden. Damit besitzt bei Derrida das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit eine weitaus komplexere Struktur, als dies bei Theorien der Fall ist, die eine reine Gegensätzlichkeit diagnostizieren und dann das Recht der Gerechtigkeit oder umgekehrt die Gerechtigkeit dem Recht opfern. 57 Recht und Gerechtigkeit stehen im Verhältnis antipathischer Sympathie. Diese Konstellation, dass Dinge, die nicht zueinander passen, zu einander gezwungen werden, bewirkt eine Dynamik im Sinne einer permanenten Unruhe, Irritation und Störung, die sich eben nicht schon aufgrund einfacher Gegensätzlichkeit ergibt. Genau diese Struktur verbürgt Derrida zufolge aber die Eigenschaft des Rechts dekonstruierbar zu sein. „Daß die Dekonstruktion an dieser Stelle nicht nachgibt, daß sie stets die Befragung des Ursprungs, der Grundlagen und der Grenzen unseres begrifflichen, theoretischen, normativen Apparates, der um die Gerechtigkeit kreist, in Atem hält, bedeutet [ . . . ] . [ . . . ] , dass man nicht allein die theoretischen Grenzen anzeigt, sondern auch konkrete Ungerechtigkeiten denunziert, solche Ungerechtigkeiten, die dort geschehen und deren Wirkungen dort besonders sinnfällig sind, wo das gute und ruhige Gewissen dogmatisch bei dieser oder jener überkommenen Bestimmung der Gerechtigkeit stehen bleibt." [GK, 41]
Das Recht scheitert aufgrund seiner Funktion, Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit und also Rechtssicherheit zu gewährleisten, zwangsläufig an den Anforderungen der Gerechtigkeit, die keinerlei Vorgaben duldet, wenn es darum geht, dem Einzelfall Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das Recht ist einer permanenten Überforderung ausgesetzt, ohne sich dieser entziehen, sich des Anspruchs auf Gerechtigkeit entledigen zu können. Gerechtigkeit ist dem Recht ein Dorn, wenn die56 Kaufmann, Rechtspositivismus, in: Erler, A./Kaufmann, E. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, S. 326. 57 Vgl. Menke, Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Recht und Gerechtigkeit, in: Haverkamp (Hrsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, 1994, S. 283.
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ses zur Ruhe kommen will. Damit wird die Gerechtigkeit, obwohl sie im Recht nicht aufgehen kann, doch im Recht wirksam.
2. Wirksamkeit der Gerechtigkeit im Recht zum besseren Recht
a) Die Sicherung der Dekonstruktion
in der Struktur des Rechts
Im Verhältnis der antipathischen Sympathie zwischen Recht und Gerechtigkeit erzeugt das Wirken der Gerechtigkeit die Erfahrung des permanenten Scheiterns des Rechts an den Anforderungen der Gerechtigkeit. Es bewirkt als Mechanismus der Irritation und Störung des Rechts, dass dem Recht immer der Zug des Provisorischen, des Revidierbaren anhaftet. Diese Re-Visionen finden im Rahmen der Rechtsanwendung statt. Dort wo es gilt eine Regel anzuwenden, kann sie ersetzt werden, indem sie neu gedeutet wird. 58 Daher wohnt jeder Anwendung einer Regel zugleich auch „das Moment ihrer Stiftung, ihrer (Be)gründung oder ihrer Institutionalisierung" 59 inne. Setzung und Vollzug von Gesetzen lassen sich nicht trennen. Der Moment der Stiftung des Rechts seinerseits hat aber auch keine feste Grundlage, sondern ist Derrida zufolge stets ein Akt der Gewalt ohne vorgängige Rechtfertigung. 60 Beidem, Setzung und Vollzug der Gesetze, mangelt es daher an einer vorgängigen Legitimationsgrundlage, so dass die Struktur des Rechts eine Struktur des Provisorischen, Revidierbaren und also des Dekonstruierbaren ist. „Die Struktur, die ich gerade beschreibe, ist eine Struktur, in der sich das Recht seinem Wesen nach dekonstruieren läßt: entweder, weil es in Text-Schichten gründet, die man deuten und verwandeln kann (das ist die Geschichte des Rechts, seine mögliche und notwendige Verwandlung, manchmal sogar seine Verbesserung), oder weil sein letzter Grund per definitionem grund-los, un-be-gründet ist." [GK, 29 f.]
Derrida zufolge liegt aber nun genau in dieser Struktur des Rechts mit der die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im Recht einhergeht, die Möglichkeit für Gerechtigkeit. 61 „Aber 2. glaube ich, daß es ohne diese Erfahrung keine Gerechtigkeit gibt, ohne diese unmögliche Erfahrung der Aporie. Die Gerechtigkeit ist eine Erfahrung des Unmöglichen." [GK, 33]
Mit dieser paradoxen Wende, dass die Erfahrung der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im Recht zugleich die Möglichkeit der Gerechtigkeit überhaupt ist, lässt Derrida ein Ergebnis produktiv werden, an dem man üblicherweise resignieren würde. Die Dekonstruierbarkeit des Rechts ist Voraussetzung und Chance der Ge58 Dazu oben unter III. 1. d) aa). 59 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 28. 60
Dazu oben unter III. 1. a). 61 Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 186; vgl. Gehring, Gesetzeskraft und mystischer Grund, in: Gondek/Waldenfels (Hrsg.), 1997, S. 247 f.
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rechtigkeit. Das Recht kann jederzeit einer Re-Vision unterzogen werden. In jeder Re-Vision aber liegt die Möglichkeit der Verbesserung, des Fortschritts hin zu mehr Gerechtigkeit. 6 2 „Daß sich das Recht dekonstruieren lässt, ist kein Unglück. Man kann darin auch die politische Chance historischen Fortschritts erblicken." [GK, 30] Der Fortschritt selbst wird durch Dekonstruktion des Rechts erzielt. Die Dekonstruktion schafft Gerechtigkeit. Damit geht Derrida davon aus, dass die Re-Visionen des Rechts nicht nur ein bloßes ungerichtetes Alternieren ist, sondern darin Schritte hin zu einem Mehr an Gerechtigkeit liegen. „Diese Gerechtigkeit, die kein Recht ist, ist die Bewegung der Dekonstruktion: [ . . . ] . " [GK, 52] b) Das erste Moment der Dekonstruktion Derrida beschreibt die Dekonstruktion 6 3 als einen aktiven Prozess des Einmischens und Hinterfragens, dem zwei Momente innewohnen. „Im Sinne der Hypothese, die ich jetzt nur oberflächlich streife, entspricht das, was man geläufig unter Dekonstruktion versteht, nicht etwa einer beinahe nihilistischen Abdankung, die dort erfolgt, wo die ethisch-politisch-juristische Frage nach der Gerechtigkeit sich stellt und der Gegensatz zwischen dem Angemessenen und dem Unangemessenen, dem Gerechten und dem Ungerechten relevant wird [ . . . ] - sondern einer doppelten Bewegung, [ . . . ]." [GK, 39 f.] Das erste Moment, die erste Bewegung der Dekonstruktion ist destruktiv. Sie baut unmittelbar auf der Struktur des Rechts auf, die keine Fixpunkte kennt, die alles der Re-Vision ausliefert. Sie ist die Bewusstmachung des permanenten Scheiterns des Rechts an den Anforderungen der Gerechtigkeit. Sie zeigt auf die Grundlosigkeit jeder Entscheidung i m Recht. Sie dekonstruiert die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse, indem sie die herrschenden Definitionen immer wieder in Frage stellt. 6 4 „Als Sinn für eine grenzenlose und folglich notwendig übermäßige, unberechenbare Verantwortung gegenüber dem Gedächtnis; also als Aufgabe, die Geschichte, den Ursprung, den Sinn, will sagen die Grenzen der Begriffe der Gerechtigkeit, des Gesetzes, des Rechts, und die Grenzen der Werte, der Normen, der Vorschriften ins Gedächtnis zurückzurufen: die Grenzen der Begriffe und der Werte, die sich (im Laufe dieser Geschichte) durchgesetzt und sedimentiert haben, die mehr oder weniger lesbar sind, die in höherem oder in geringerem Maße vorausgesetzt werden. Mit dem Namen der Gerechtigkeit - der Justiz versehen, wird uns in mehr als einer Sprache etwas vererbt, was der Dekonstruktion in 62 Vgl.: Zeillinger, Nachträgliches Denken, 2002, S. 128 f.; Köpper, Dekonstruktive Textbewegungen, 1999, S. 74. 63 Zur Dekonstruktion in anderen Kontexten: Lucy, A Derrida Dictionary, 2004, Eintrag:'deconstruction', S. 11 ff. 64 Vgl. Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 188.
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ihrem Herzen die Aufgabe eines geschichtlichen und auslegenden Gedächtnisses überträgt." [GK, 40]
So begünstigt dieses erste Moment der Dekonstruktion aber die Re-Visionen als Chancen des Fortschritts hin zu einer gerechteren Ordnung, die ihrerseits wieder dekonstruierbar ist. Seine Leistung ist es, eine Erstarrung in den gegenwärtigen Rechtsverhältnissen zu verhindern und das Rechtssystem im Bewusstsein seiner Kontingenz für Re-Visionen offen zu halten. Damit ist das erste Moment der Dekonstruktion notwendige Bedingung für die Gerechtigkeit. c) Das zweite Moment der Dekonstruktion Damit aber die Re-Visionen des Rechts nicht lediglich ungerichtetes Alternieren des Rechts, ein Wechsel der Gewohnheiten im Wandel der Zeit sind, bedarf es eines konstruktiven Moments, das sicherstellt, dass zumindest die überwiegende Zahl der Re-Visionen einen Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit bedeutet.65 Daraus ergeben sich zwei Anforderungen an eine Re-Vision. Zum einen darf ein Re-Vision nicht durch die bestehenden Rechtsverhältnisse bedingt sein. 66 Denn würde sie sich aus Vorhandenem deduzieren lassen, so wäre damit nichts Neues erreicht, da der Informationsgehalt der Konklusion immer schon in den Prämissen enthalten ist. Eine Re-Vision muss also als ein Akt der Spontaneität gedacht werden, der sich nicht an der Faktizität orientiert, sondern diese übersteigt. „Die Gerechtigkeit ist der Zukunft geweiht, es gibt Gerechtigkeit nur dann, wenn sich etwas ereignen kann, was als Ereignis die Berechnungen, die Regeln, die Programme, die Vorwegnahmen usw. übersteigt. Als Erfahrung der absoluten Andersheit ist die Gerechtigkeit undarstellbar, doch darin liegt die Chance des Ereignisses und die Bedingung der Geschichte." [GK, 57]
Zum anderen muss die Re-Vison aus sich heraus im Sinne der Gerechtigkeit ethisch imprägniert sein. Sie darf gegenüber dem Erreichten keinen Rückschritt darstellen. Derrida zufolge ist dies der Fall, weil die treibende Kraft zur Re-Vision des gegenwärtig Bestehenden, selbst aus der Gerechtigkeit herrührt. 67 „Die Dekonstruktion ist verrückt nach dieser Gerechtigkeit, wegen dieser Gerechtigkeit ist sie wahnsinnig. Dieses Gerechtigkeitsverlangen macht sie verrückt. Diese Gerechtigkeit, die kein Recht ist, ist die Bewegung der Dekonstruktion: [ . . . ] . " [GK, 52] „Denn woher würde die Dekonstruktion ihre Kraft schöpfen, woher würde sie ihre Gewalt nehmen, woher würde sie ihren Bewegungsimpuls oder ihre Motivierung haben, wenn nicht von diesem immer unzufriedenen Ruf, von dieser nie zufriedenstellenden Forderung, jenseits der vorgegebenen und überlieferten Bestimmungen dessen, was man in bestimm65 Vgl. ebd., S. 192. 66 Vgl. ebd., S. 190 f. 67 Vgl. ebd., S. 192.
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Jan L s i n g ten Zusammenhängen als Gerechtigkeit, als Möglichkeit der Gerechtigkeit bezeichnet?" [GK, 42]
Die Annahme, dass sich sobald sich etwas Neues ereignet, sich auch etwas Gerechtes ereignet, ist nicht unproblematisch. Woraus eigentlich resultiert das Drängen der Gerechtigkeit auf Verwirklichung, das jede Re-Vision sozusagen ethisch imprägniert, so dass in den Re-Visionen ein Fortschritt zu mehr Gerechtigkeit liegt. Von seiner Theoriekonzeption her gesehen muss Derrida einen solchen Mechanismus annehmen, um nicht auf der Stufe des Rechtspositivismus bei einer bloßen Abwehr von Ideologisierungen des Rechts stehen zu bleiben. Fraglich ist allerdings, ob darin nicht mehr ein Wunsch als eine empirisch belegbare Entwicklung zu sehen ist. Tatsächlich formuliert Derrida an einer Stelle durchaus vorsichtig: „das ist die Geschichte des Rechts, seine mögliche und notwendige Verwandlung, manchmal sogar seine Verbesserung". 68 Unter der Voraussetzung des Bestehens einer Erinnerungskultur in der Rechtsgemeinschaft scheint mir die Annahme einer schrittweisen Realisierung von Gerechtigkeit jedoch durchaus begründbar. Resultiert der Impuls zur Re-Vision aus einem Zustand der Unzufriedenheit, so wird die jeweilige Re-Vision auf die Beseitigung dieses Zustandes zielen und darauf ausgerichtet sein, eine Veränderung in die entgegengesetze Richtung zubewirken. Ist damit zunächst nur einfach eine neue Situation geschaffen worden mit neuen Zuständen der Unzufriedenheit, so kann für die erneute Re-Vision in Reaktion auf diese neue Situation auf die Erfahrung des der zu verändernden Situation vorangegangen Zustandes zurückgegriffen werden. Die Anforderung für die neue Re-Vision ist daher die Beseitigung des gegenwärtigen Mangels unter der Bedingung, nicht wieder in die Situation zurückzufallen, die zuvor Bestand hatte. Jeder neuen Re-Vison verbieten sich Zustände, die sich in früherer Zeit als revisonsbedürftig erwiesen haben. In diesem Sinne ist die Re-Visionen des Rechts nicht nur ein bloßes ungerichtetes Alternieren, sondern ein Schritt hin zu einem Mehr an Gerechtigkeit, nicht im Sinne einer Annäherung an einen vorgegebenen Idealzustand, sondern als schöpferische Leistung wie sie in der avantgardistischen Kunst oder Musik vollbracht wird, bei dem jeder einzelne Beitrag eine Ausrichtung jeweils als Reaktion auf das schon Bekannte gewinnt. 3. Zusammenfassung
Derrida zufolge beinhaltet das Recht notwendig Gewaltelemente. Zum einen stellt die Setzung von Rechtsnormen einen Akt der Gewalt dar, weil es für sie keine Letztbegründung gibt. 69 Zum anderen stellt aber auch jede rechtliche Entscheidung auf Grundlage des geltenden Rechts ein Akt der Gewalt dar. Dies erklärt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit, dass sich als antipathische Sympathie beschreiben lässt. Antipathisch ist das Verhältnis insofern dem Recht als dem Berechenbaren die Gerechtigkeit als das Unberechenbare ge68 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 30. 69 Krauß, Die Politik der Dekonstruktion, 2001, S. 29.
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genübersteht.70 Das Recht ist seinem Wesen nach berechenbar, weil das Recht mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit regelgeleitet und also berechenbar sein muss. Die Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach unberechenbar, weil durch sie eine unendliche Verantwortung gegenüber dem Anderen auferlegt wird, deren Wahrnehmung jedes regelgeleitete Entscheiden verbietet. 71 Mit diesem ethisch anspruchsvollen Gerechtigkeitsbegriff orientiert sich Derrida an Levinas. 72 Aufgrund dieser Gegensätzlichkeit kann eine regelbasierte Rechtspraxis nie den Anforderungen der so definierten Gerechtigkeit genügen. Rechtliche Entscheidungen sind daher niemals gerechte Entscheidungen.73 Sympathisch ist das Verhältnis, insofern Derrida Recht und Gerechtigkeit als sich gegenseitig bedingend erachtet. Recht wird stets im Namen der Gerechtigkeit ausgeübt und die Gerechtigkeit kann sich nur in den Entscheidungen der Rechtspraxis zur Geltung bringen. 74 In einer solchen Konstellation der Abhängigkeit gegensätzlicher Elemente, wird zweierlei sichergestellt. Zum einen, dass das eine dem anderen nicht geopfert werden kann, so dass beide Elemente stets in einem Verhältnis zueinander stehen. Zum anderen aber auch, dass dieses Verhältnis kein harmonisches ist, sondern durch Unruhe, Irritation und Störung gekennzeichnet ist. Es wird immer Entscheidungen des Rechts im Namen der Gerechtigkeit geben und diese werden niemals als vollkommen gerecht gelten können. Daher wiederholt sich die Gewalt der Rechtsetzung in jeder Entscheidung. Der Struktur des Rechts ist daher die Gewalt als Unmöglichkeit der Gerechtigkeit immanent. Genau aufgrund dieses Makels aber ist die Struktur des Rechts nach Derrida zugleich dekonstruierbar. 75 Die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse können in Frage gestellt werden und nie für sich einen Endgültigkeitsanspruch erheben. Sie sind ein Provisorium und jederzeit revidierbar. 76 Damit gibt Derrida dem Makel eine positive Lesart. Den entscheidenden Schritt in Bezug auf die Gerechtigkeit macht Derrida sodann, indem er der dekonstruierbaren Struktur des Rechts die Dekonstruktion als eine „doppelte Bewegung" folgen lässt.77 Zum einen kommt ihr die Aufgabe zu, die Dekonstruierbarkeit des Rechts ins Bewusstsein zu rufen und so Re-Visionen der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse zu begünstigen.78 Zum anderen stellt sie die 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Ebd., S. 34. Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 46, 57. Ebd., S. 30. Ebd., S. 41. Ebd., S. 39 f. Ebd., S. 40.
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Re-Visionen in den Dienst des Drängens der Gerechtigkeit, so dass den Re-Visionen die Richtung zu mehr Gerechtigkeit innewohnt.79 Erst mit dieser letzten Annahme lässt sich sagen, dass die Dekonstruktion Gerechtigkeit schafft und die Dekonstruierbarkeit des Rechts die Möglichkeit der Gerechtigkeit ist. Damit aber ergibt sich das Paradox, dass die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im Recht (Dekonstruierbarkeit des Rechts) die Voraussetzung zur Realisierung von Gerechtigkeit ist (Dekonstruktion des Rechts). Da die absolute Gerechtigkeit, wie sie Derrida denkt, nie erreicht werden kann, bleibt sie stets erreichbar. „Die Politisierung etwa ist ein endloser Prozeß, sie kann und darf aber niemals zu einem Abschluß kommen, eine totale Politisierung sein. [ . . . ] Jedes Vorstoßen der Politisierung zwingt uns dazu, die Grundlagen des Rechts, die aus einer schon erfolgten Berechung und Abgrenzung resultieren, erneut in Erwägung zu ziehen und folglich neu zu deuten." [GK, 58]
Die Gerechtigkeit ist das Sisyphussyndrom des Rechts.
IV. Kontrast-Aspekte bei Pascal und Derrida 1. Re-Vision statt Illusion
Lässt sich eine Fixierung der Gerechtigkeit begründen, die zeitlos ist, die unabhängig ist von gegenwärtigen Machtverhältnissen und politischen Interessen, und die vom kulturellen Wandel nicht berührt wird? Mit einer solchen Bestimmung hätte man ein metarechtliches Kriterium, um zwischen „richtigem" und „falschem" Recht zu unterscheiden. Man hätte einen Geltungsgrund, der die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse legitimieren würde. Auf die Frage eines Normadressaten, warum er das Gesetz befolgen solle, ließe sich antworten: „Weil das Gesetzt gerecht ist.". Zugleich ließe sich auch die Grenze zulässiger Zwangsausübung bestimmen, die dort verläuft, wo das gerechte Recht endet. Auf die Frage des Genötigten, warum man ihm Zwang zufüge, ließe sich antworten: „Weil der Zwang dich in die gerechten Schranken zurückverweist.". Diese Warum-Fragen enthalten eine Aufforderung, Rechenschaft zu geben, eine Begründung zu liefern. Sie sind nicht nur die Fragen des mit der Methode des systematischen Zweifels ausgerüsteten Philosophen, sondern es sind vor allem die Fragen desjenigen, der einer sein Handeln einschränkenden Herrschaftsordnung unterworfen ist. Ein so Betroffener erwartet, dass die Beschränkung seiner Freiheit ähnlich notwendig ist, wie die Beschränkungen seines natürlichen Handlungsraums durch die Naturgesetze. Die Begründung der Freiheitsbeschränkungen als mehr oder weniger zufällige Ergebnisse der gegenwärtigen Machtverhältnisse und politischen Interessen würde er nicht akzeptieren, auch wenn er aus anderen Gründen gezwungen wäre, die Beschränkungen hinzunehmen. Lässt sich nun für Gerechtigkeit eine objektive und abschließende Bestimmung angeben? 79 Ebd., S. 42.
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Pascal verneint die Möglichkeit der Erkenntnis einer allgemeingültigen, objektiven Gerechtigkeit. Seine Rechtstheorie ist positivistisch. Sie leistet keine Legitimierung der Norminhalte. Die Gültigkeit des positiven Rechts ist unabhängig von der Bewertung seines Inhalts an einem metarechtlichen Maßstab. Gerechtigkeit ist bei Pascal ein bloßes für-gerecht-Halten. Die Gewöhnung an die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse prägt das Gerechtigkeitsempfinden, das dann als Legitimationsgrund eben der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse funktioniert. So legitimiert sich das Überkommene, das einst grundlos Gesetzte selbst. Die Autorität der Gerechtigkeit in ihrer Funktion, die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse zu legitimieren, hat daher als mystische, als im Dunkeln verborgene Grundlage allein die Gewohnheit. Als Konsequenz daraus muss Pascal zufolge dieses mystische Fundament der Autorität von Gerechtigkeit und damit zugleich auch der Rechtsverhältnisse verborgen werden, wenn man nicht will, dass die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse zu Fall kommen. Die Illusion von Gerechtigkeit ist daher das statische Fundament des Systems, das zumindest nicht ersatzlos wegfallen darf. Einen solches den Gesetzen Verbindlichkeit verschaffendes Fundament sieht Pascal in der rein formalen Begründung, dass die Gesetze nämlich von einer zur Gesetzgebung berechtigten Autorität erlassen worden sind. Damit erfährt das Begründungsbedürfnis des Normbetroffenen eine prinzipielle Einschränkung. Die Warum-Frage wird nur noch mit Verweis auf eine Ermächtigungsnorm beantwortet. Ein Gesetz ist zu befolgen, weil es ein Gesetz ist, d. h. von der zur Gesetzgebung berechtigten Autorität erlassen wurde. Auf die Frage des Normadressaten, warum er die Ermächtigung der gesetzgebenden Autorität akzeptieren solle, gibt der Rechtspositivismus in letzter Konsequenz keine Begründung. Die Kette der Warum-Fragen wird abgebrochen.80 Der Normadressat, der die Autorität nicht schon als solche akzeptiert, ist in seinem Bedürfnis nach einem den Gesetzesinhalt legitimierenden Geltungsgrund nicht befriedigt worden. Ihm wurde nur gesagt, dass er nicht mehr sinnvoll weiterfragen könne. Pascal desillusioniert damit im Ergebnis die Erwartung der Beantwortung der Warum-Frage nach dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz. Die objektive, allgemeingültige Bestimmbarkeit der Gerechtigkeit erweist sich als Illusion. Jedoch will Pascal seiner Zeit die Desillusionierung der Gerechtigkeit nicht zumuten. Es gilt ihm als gefährlich, das Volk über die Kontingenz des geltenden Rechts aufzuklären. 81 Allenfalls wenn mit der Aufklärung des Volkes diesem zugleich ersatzweise der formale Geltungsgrund der Autorität gegeben wird, könnte man die Illusion von dem Recht als gerechtem Recht entlarven. 82 Daher überwiegt bei Pascal die Grundüberzeugung, dass das Bewusstsein vom Recht als etwas Provisorischem, etwas Revidierbarem die Rechtsgemeinschaft gefährdet und eher verborgen als der Rechtsgemeinschaft ins Bewusstsein gebracht gehört:
so Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 200. 81 Dazu oben unter II. 2. a). 82 Dazu oben unter II. 2. b).
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„Die Gewohnheiti macht die ganze Gerechtigkeit 2, allein deshalb, weil siei sich eingebürgert hat. Das ist der mystische Grund ihrer 2 Autorität.
„La coutume fait toute l'équité, par cette seule raison qu'elle est reçue; c'est le fondement mystique de son autorité.
Wer es auf seinen wahren Grund zurückführen will, der hebt es auf. [ . . . ] Man darf die Wahrheit der gesetzlosen Setzung nicht merken lassen, sie wurde einmal ohne Begründung gegeben, sie ist vernünftig geworden; man muss sie als maßgeblich, ewig betrachten und ihr Herkommen verbergen, wenn man nicht will, dass sie bald endet."
Qui la ramène à son principe, lânèantit. [ . . . ] Il ne faut pas qu'il sente la vérité de l'usurpation, elle a été introduite autrefois sans raison, elle est devenue raisonnable; il faut la faire regarder comme authentique, éternelle, et en cacher le commencement si on ne veut qu'elle ne prenne bientôt fin." [B: 294/L: 60]
Derrida widerspricht. Das Bewusstsein vom Recht als etwas Provisorischem, etwas Revidierbarem ermöglicht überhaupt erst die Verwirklichung von Gerechtigkeit i m Recht: „Das Aufkommen des Rechts und der Gerechtigkeit, von denen Pascal redet, das Moment der Stiftung, der (Be)gründung, der Rechtfertigung des Rechts impliziert eine performative Kraft (Gewalt), das heißt es impliziert regelmäßig eine deutende Kraft (Gewalt): jetzt nicht in dem Sinne, daß das Recht einer Macht dient, daß es ein folgsames, unterwürfiges und also äußerliches Instrument der herrschenden Mächte ist, sondern indem, daß es mit der sogenannten Kraft, Gewalt, Macht, Gewalttätigkeit in einem Verhältnis steht, das tiefer ins Innere reicht und eine höhere Komplexität aufweist." [GK, 27] Derrida sieht in dem A k t der Rechtsetzung, in dem „Moment der Stiftung des Rechts" den Ursprung eines Wirkmechanismus, der die Grundlage für die Möglichkeit von Gerechtigkeit überhaupt ist. Der A k t der Rechtsetzung führt nach Derrida zur Möglichkeit der Re-Vison als der spezifischen Struktur des Rechts, die bewirkt, dass Recht hinterfragbar, revidierbar bleibt, dass Recht dekonstruierbar ist. „Mit anderen Worten: Die Hypothese oder die Aussagen, denen ich mich hier tastend annähere, tragen eher den Untertitel ,Die Gerechtigkeit als Möglichkeit der Dekonstruktion, die Struktur des Rechts oder des Gesetzes, der (Be)gründung, der Auto-Autorisation oder der Selbst-Ermächtigung des Rechts als Möglichkeit einer Ausübung der Dekonstruktion.'" [GK, 31] Dekonstruktion i m rechtlichen Kontext bedeutet aber das Ins-Gedächtnis-Rufen von begrifflichen Grenzen insbesondere für Ausdrücke wie Gerechtigkeit, Recht und Gesetz sowie das Erinnern an Grenzen der geltenden Werte und Normen. 8 3 Dekonstruktion ist daher eine Irritation, eine Störung der gegenwärtigen Rechtsverhältnisse. Wenn Derrida sodann behauptet, dass Dekonstruktion Gerechtigkeit schafft, so liegt hierin der Clou seiner Überlegungen: Das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit war i m klassischen Denken durch Versuche gekennzeichnet, das Recht der Gerechtigkeit als ein dem Recht vorgängiges Ideal anzunähern, die Ge83 Derrida, Gesetzeskraft, 1991, S. 40.
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rechtigkeit im Recht aufgehen zu lassen, die Gerechtigkeit als Profil eines idealen Rechts zu denken.84 Aufgrund der Begründungsschwierigkeiten von objektiv „richtigen" Inhalten des Rechts hat man sich auf formale und intersubjektive Kriterien zurückgezogen, und den Konsens zwischen den Normadressaten als neue Basis entdeckt.85 Der Clou bei Derridas Ansatz liegt nun darin, gerade in der entgegengesetzten Richtung nach einer Möglichkeit der Einflussnahme der Gerechtigkeit auf das Recht zu suchen. Nicht durch Harmonie mit dem Recht entfaltet die Gerechtigkeit ihre Wirkung, sondern durch Überforderung des Rechts. Indem die Gerechtigkeit das Recht mit ihren Anforderungen konfrontiert, die das Recht aufgrund seiner ihm eigenen Anforderung der Berechenbarkeit nie wird erfüllen können, irritiert sie das Recht und lässt es nicht zur selbstgefälligen Ruhe kommen. Da dies aber die Umgestaltung und Reformprozesse hin zu mehr Gerechtigkeit begünstigt, wird die Gerechtigkeit durch ihr destruktives Wirken produktiv. Indem sie das Recht permanent scheitern lässt, bringt sie sich selbst zur Geltung. Derridas Idee ist, Gerechtigkeit indirekt durch Irritation, durch Störung, durch Überforderung des Rechts mit der Gerechtigkeit durchzusetzen. Es ist ein indirektes Vorgehen, das nicht unmittelbar darauf gerichtet ist, die Gerechtigkeitsdefizite zu beseitigen, sondern das die Gerechtigkeitsdefizite selbst zur Voraussetzung der Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit macht. „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit." [GK, 30]
Damit aber ist Gerechtigkeit nicht eine Illusion, die die jeweiligen Rechtsverhältnisse stabilisiert, solange ihr mystisches Fundament im Dunkeln verborgen bleibt, sondern umgekehrt Gerechtigkeit in einem ethisch anspruchsvollen Sinn wird gerade dadurch erreicht, dass das mystische Fundament der jeweiligen Rechtsverhältnisse aus dem Dunkeln ans Licht und ins Bewusstsein der Menschen gebracht wird. Das System wird durch seine Destabilisierung dynamisch stabilisiert. 2. Rechtserzeugung statt Rechtsanwendung
Der Rechtspositivismus verneint jede außerrechtliche Quelle der Entscheidungsbestimmung. Ihm bleibt daher nur der Wert der Rechtssicherheit als solcher, so dass rechtspositivistische Rechtslehren einen strengen Determinismus der Entscheidung durch das Gesetz implizieren. Denn beides, die ausschließliche Konzentration auf das Gesetz und die Bindung des Richters an den Wortlaut des Gesetzes, sind die Bedingungen der Rechtssicherheit. Das positive Recht wird so vor ideologischen Einflüssen immunisiert, die den Gesetzeswortlaut im Sinne der Ideologie verzerren oder gar die Gültigkeit einer ganzen Norm bestreiten. Dem Richter wird eine Abweichung vom Gesetzeswortlaut unter Berufung auf außerrechtliche Vorgaben untersagt. Das Ideal der Rechtsanwendung im Sinne der Rechtssicherheit ist die voll-
84 Vgl. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 4. Aufl., 2000, S. 147, Rz. 261. 85 Vgl. Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 2001, S. 165, § 9 Rz. 20.
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ständige Determinierung der richterlichen Entscheidung durch das Kalkül des Rechtssystems. Theoriegeschichtlich ist dies das Modell von Montesquieu (1689-1755), der den Richter lediglich als „Mund des Gesetzes" betrachtet. 86 Der objektive Wille des Gesetzgebers ist in dem Gesetzes Wortlaut kodiert und kann bei der Anwendung des Gesetzes vom Richter wieder dekodiert werden. Damit spricht, entscheidet und verantwortet der Gesetzgeber das Urteil und nicht der Richter. 87 Dies gilt auch für das Konzept von Pascal. Sein Konzept zielt auf die Rechtfertigung der Gesetze und nicht etwa des einzelnen Richterspruchs. Damit liegt seiner Position ein Rechtsverständnis zugrunde, wonach die primäre Verantwortung auf der Ebene des Gesetzgebers und nicht auf der Ebene des Richters liegt, der das Gesetz anwendet. Die Position geht von einem Modell der Rechtsanwendung aus, wonach die richterliche Entscheidung im Wesentlichen vom Gesetz determiniert, die Lösung des Falles nach dem Algorithmus des Rechts berechnet wird. Die Defizite eines solchen Modells zeigen sich jedoch bereits bei den semantischen Spielräumen des Normtextes in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsseite oder auf der Rechtsfolgenseite bei Ermessenstatbeständen. Das Modell des Richters als reine Rechenmaschine, das die Rechtsanwendung auf die Instanzen von Gesetzestext und Richter verkürzt, hat darüber hinaus aber ein prinzipielles Problem, das in der fehlenden Komplexität seiner sprachphilosophischen Annahmen liegt. 88 Ein sprachliches Zeichen kann seine Bedeutung nicht selbst kodifizieren. Die Bedeutung ergibt sich vielmehr aus der Verwendungsweise des Zeichens in der Sprachpraxis. 89 Der Richter sieht sich bei der Gesetzesanwendung jedoch nicht einer einheitlichen Verwendungsweise der sprachlichen Zeichen gegenüber, sondern einem heterogenen Spektrum von Verwendungsweisen.90 Neben den Verwendungsweisen aus Präjudizien und der kommentierenden Literatur gibt es die konträren Verwendungsweisen der Streitparteien, mit denen sie das Gesetz jeweils zu ihren Gunsten deuten.91 Dann aber liegt die Aufgabe des Richters nun nicht in der Anwendung eines Gesetzes als eines den objektiven Willen des Gesetzgebers kodifizierenden Normtextes, sondern darin, eine Entscheidung zwischen verschiedenen Verwendungsweisen zu treffen, d. h. zwischen verschiedenen Normen. Eine solche Entscheidung aber ist von der Regel selbst nicht determiniert. Derrida widerspricht aber auch hier. Mit den ersten beiden Aspekten bei der Aporie zwischen Recht und Gerechtigkeit greift er genau dieses Problem auf. 92 86
Müller, Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders. (Hrsg.), Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997, S. 56. 87 Ebd., S. 55 f. 88 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II: Europarecht, 2003, S. 428. 89 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, 9. Aufl., 1993, §43, §85, §201. 90 Vgl. ebd., § 198. 91 Vgl. Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 68. 92 Dazu oben unter III. 1. d).
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Der Richter wendet daher nicht nur ein Gesetz an, sondern er setzt durch Entscheidung über die Verwendungsweise der sprachlichen Ausdrücke im Normtext selbst die anzuwendende Norm. Die Bindung des Richters an das Gesetz reduziert sich darauf, dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext eine Deutung zu geben, die dem Normtext plausibel zugerechnet werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Analyse der Rechtspraxis lässt sich die Warum-Frage nach dem Gehorsam gegenüber Gesetzen nicht nur nicht mehr befriedigend beantworten, sondern sie lässt sich auch nicht mehr sinnvoll stellen. Sie muss neu formuliert werden, nämlich als Warum-Frage nach dem Gehorsam gegenüber dem konkreten Urteil. Es geht nicht mehr wie bei Pascal darum, ein vorgegebenes Rechts-Kalkül zu rechtfertigen, sondern mit Derrida muss die Rechts-Erzeugung im Verfahren als verantwortlicher Umgang mit dem geltenden Recht geleistet werden. Der Richterspruch als Ergebnis eines Rechtserzeugungsprozesses ist damit der Ort, wo die Warum-Frage entspringt und wo sie zu beantworten ist. Hier ist eine Rechtfertigung, eine Begründung für die plausible Deutung, für die Wahl der Regel zu verlangen, nach der entschieden wurde. Damit erfährt die Warum-Frage nach dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz eine weitere Desillusionierung. Nachdem sich die objektive, allgemeingültige Bestimmbarkeit der Gerechtigkeit als Illusion erwiesen hat, ist nun auch die Idee der prinzipiellen Erreichbarkeit von Rechtssicherheit als Illusion entlarvt. Die Desillusionierungen sind Zumutungen an die Rechtskultur. Pascal wollte seiner Zeit die Desillusionierung der Gerechtigkeit nicht ohne Ausgleich durch den formalen Geltungsgrund der Autorität zumuten. Auch in Bezug auf die Desillusionierung der Rechtssicherheit kann nun die Frage der Zumutbarkeit gestellt werden. Sie ist in letzter Konsequenz für jede Gesellschaft nur an einem Kriterium zu entscheiden: der Kompetenz zum Rechtsdiskurs im Rahmen rechtsstaatlicher Strukturen.
Das Fallrecht als Modell sprachlicher Praxis Von Jasper Liptow Ziel meiner Überlegungen ist es, plausibel zu machen, dass sich unsere Praxis sprachlicher Verständigung aus philosophischer Perspektive in gewinnbringender Weise nach dem Modell einer (stark idealisierten) Praxis der Rechtsprechung verstehen lässt, nämlich des Fallrechts (case law). Die Entwicklung dieses Modells und seine Anwendung auf sprachliche Praxis wird im Zentrum des zweiten Teils des Aufsatzes stehen. Im ersten Teil werde ich die Problemlage entwickeln, die die Wahl des Modells motiviert. I.
Seit den 80er Jahren wird in der Sprachphilosophie und der Linguistik ein mäßig engagierter Streit darüber ausgetragen, ob Idiolekten, also den „Sprachen" einzelner Sprecherinnen und Sprecher, oder Soziolekten, also den „Sprachen" ganzer Gemeinschaften, das theoretische Primat bei der Erklärung sprachlicher Bedeutung und sprachlicher Verständigung zukommt. Exemplarisch wird dieser Streit in einer Auseinandersetzung zwischen Donald Davidson und Michael Dummett ausgefochten. 1 Davidson folgt dabei Überlegungen seines Lehrers W. V. O. Quine2 und weiß Noam Chomsky3 an seiner Seite, Dummett sieht sich in der Tradition des späten Wittgenstein und kann sich als Sprachrohr der überwiegenden Mehrheit der gegenwärtigen Sprachphilosophinnen und -philosophen verstehen. Sprachphilosophen wie Michael Dummett, die Soziolekten das theoretische Primat bei der Erklärung sprachlicher Verständigung einräumen, gehen dabei - etwas zugespitzt und vereinfacht - von einem Bild wie dem folgenden aus: Ein Soziolekt ist ein System von Regeln zur Verwendung sprachlicher Ausdrücke, die in einer Gemeinschaft gelten. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke besteht in diesen Regeln. Was ein sprachlicher Ausdruck bedeutet, ist daher prinzipiell unabhängig davon, wie einzelne Sprecherinnen und Sprecher ihn verwenden. Die gängige Analogie, die dieses Sprachverständnis veranschaulichen soll, ist die zwischen Soziolek-
1 Vgl. Davidson 1986, Dummett 1986, Davidson 1994 und Dummett 1994. 2 Vgl. z. B. Quine 1958, 5. 3 Vgl. z. B. Chomsky 1986.
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ten und bestimmten regelgeleiteten Spielen, wie sie in folgender Passage von Normal Malcom zum Ausdruck kommt (der damit den Anspruch erhebt, die Position des späten Wittgenstein zu referieren): To speak a language is to participate in a way of living in which many people are engaged. The language I speak gets its meaning from the common ways of acting and responding of many people. I take part in a language in the sense in which I take part in a game - which is surely one reason why Wittgenstein compared languages to games. Another reason for this comparison is that in both languages and games there are rules. To follow the rules for the use of an expression is nothing other than to use the expression as it is ordinarily used which is to say, as it is used by those many people who take part in the activities in which the expression is embedded. Thus the meaning of the expression is independent of me, or of any other particular person; and this is why I can use the expression correctly or incorrectly. It has a meaning independent of my use of it. 4
Diesem Verständnis von Bedeutung korrespondiert ein bestimmtes Verständnis von sprachlicher Verständigung: Sprecherinnen und Sprecher können sich verständigen, weil und insoweit sie im Zuge des Spracherwerbs in dasselbe System von Regeln „initiiert" worden sind oder dasselbe System von Regeln, wie es auch heißt, internalisiert haben. Sie verstehen einander, weil und insoweit sie die Bedeutung verstehen, die die Ausdrücke, die sie verwenden, in der gemeinsamen Sprache dank der geltenden Regeln haben. Der primäre Begriff des sprachlichen Verstehens ist also nicht der Begriff des Verstehens der Äußerungen anderer, sondern der des Verstehens der Ausdrücke des Soziolekts der Gemeinschaft, der man angehört. Ich halte dieses Bild von sprachlicher Praxis für grundlegend verfehlt, und zwar unter anderem aus folgenden Gründen.5 Zunächst ist es eine schlichte, aber - wie sich noch zeigen wird - philosophisch bedeutsame empirische Tatsache, dass sich Soziolekte nicht unmittelbar im Verhalten einzelner Sprecherinnen und Sprecher manifestieren: Das Sprachverhalten einzelner Sprecherinnen und Sprecher ist vor allem in Bezug auf die Verwendung des Lexikons - zunächst eine individuelle Angelegenheit. Jede und jeder von uns hat einen anderen Wortschatz und verwendet darüber hinaus viele Wörter auf eine Weise, die zumindest partiell abweicht von der Art und Weise, in der andere diese Wörter verwenden. Die sprachlichen Dispositionen einer und eines jeden Einzelnen weisen eine individuelle Physiognomie auf. Womit wir es in Situationen sprachlicher Verständigung als Interpretinnen und Interpreten tatsächlich zu tun haben, sind immer mehr oder weniger ähnliche Idiolekte. Dabei sind die Unterschiede im Sprachgebrauch der verschiedenen Sprecherinnen und Sprecher von anderer Art als - sagen wir - die Unterschiede in den Bewegungsabläufen verschiedener Schachspielerinnen und -spieler. Es handelt sich nicht bloß um oberflächliche Unterschiede, die als verschiedene Weisen der Befolgung oder als verschiedene Realisierungen ein und derselben Regel verstanden 4 Malcom 1989, 22. 5
Weitere Gründe habe ich ausgeführt in Liptow 2004, Kap. 5.
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werden können, sondern um Unterschiede die - egal auf welche Weise man letztlich die sprachlichen Regeln bestimmt - den Inhalt der jeweiligen Regeln selbst betreffen. Nehmen wir etwa an, die Bedeutungsregeln einer Sprache seien primär Anwendungsregeln - dann wirkt sich die Individualität sprachlichen Verhaltens dahingehend aus, dass verschiedene Sprecher dasselbe Prädikat auf verschiedene Gegenstände anwenden und also verschiedenen Anwendungsregeln folgen. Nehmen wir an, die bedeutungstheoretisch relevanten Regeln seien Folgerungsregeln dann impliziert die Individualität sprachlichen Verhaltens ebenfalls, dass verschiedene Sprecherinnen aus der Anwendung desselben Prädikats auf einen bestimmten Gegenstand verschiedene Folgerungen ziehen und also verschiedenen Folgerungsregeln folgen. 6 Besonders auffällig wird die Individualität sprachlichen Verhaltens bei der Kommunikation mit Kindern, bei der Kommunikation mit Personen, deren erste Sprache nicht „die deutsche Sprache" ist, oder bei der Lektüre philosophischer oder literarischer Texte. Die relative Fremdheit des Sprachgebrauchs beliebiger anderer kann einem aber auch bereits der Vergleich mit der besonderen Vertrautheit mit den sprachlichen Gewohnheiten von engen Freunden oder Verwandten verdeutlichen. Was ist diesem Bild zufolge die Rolle von Soziolekten? Immerhin glauben wir doch, einen ziemlich klaren Begriff von so etwas wie „dem Deutschen" zu haben, dessen Grammatik wir untersuchen und dessen Wortbedeutungen wir in Lexika erfassen können. Soziolekte können diesem Bild zufolge zweierlei sein: Entweder handelt es sich um Idealisierungen, die wir zu Zwecken der wissenschaftlichen Untersuchung von Sprache vornehmen. Oder sie können als Normen verstanden werden, denen wir den Sprachgebrauch einzelner Individuen zum Zweck der Erleichterung sprachlicher Kommunikation anzugleichen bemüht sind, die aber in keiner Weise konstitutiv für sprachliche Bedeutung sind. In beiden Fällen „existieren" Soziolekte aber nicht in derselben Weise wie Idiolekte, die in den faktischen Dispositionen zu sprachlichem Verhalten einzelner Sprecherinnen und Sprecher realisiert sind. Sprachliche Verständigung und ihre theoretische Erklärung müssen auf die Individualität sprachlicher Praktiken vor allem deswegen Rücksicht nehmen, weil das sprachliche Verhalten einer Person in konstitutiver Weise in ihr übriges Verhalten eingebettet ist und die sprachlichen Äußerungen einer Person konstitutiv mit ihren Überzeugungen und anderen mentalen Zuständen zusammenhängen. Wenn jemand 6
Dies gilt um so mehr, wenn wir Quines Ablehnung einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen teilen, da es dann keine Prinzipien gibt, nach denen eine philosophische Bedeutungstheorie zwischen solchen Überzeugungen unterscheiden kann, deren Erwerb eine Veränderung der Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke zur Folge hat, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Dann aber müssen alle Unterschiede in den Überzeugungssystemen verschiedener Sprecherinnen und Sprecher als potenzielle Quellen von Differenzen in den semantisch relevanten Aspekten des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke in Betracht gezogen werden.
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ein Wort anders verwendet als es im Duden steht, dann hilft mir ein am Duden orientiertes Verständnis seiner Äußerung in folgenden Hinsichten nicht weiter: Es führt nicht dazu, ihm die Überzeugungen und anderen mentalen Zustände zuzuschreiben, die er tatsächlich hat, es hilft nicht, seine Handlungen angemessen zu erklären oder sein Verhalten vorherzusagen. Das aber sind keine nebensächlichen Mängel. Die korrekte Zuschreibung von Überzeugungen und Wünschen und die damit zusammenhängende Erklärung und Prognose von Handlungen sind konstitutiv für intersubjektive Handlungskoordination. Kommunikation wird weitgehend witzlos, wenn sie diesem Zweck nicht mehr dient. Ein philosophisches Verständnis von Sprache, das diesem Verständnis von Kommunikation nicht Rechnung tragen kann, ist daher verfehlt. Sprachliche Verständigung dient primär dazu, andere zu verstehen. Insofern sie als das Verstehen einer gemeinsamen Sprache konzipiert wird, verfehlt sie diesen Zweck immer dann, wenn andere in ihren Sprachgewohnheiten - ihren Idiolekten - von dem abstrakten Ideal abweichen. Dass wir dem Begriff der Bedeutung eines Ausdrucks im Idiolekt von Sprechern Rechnung tragen müssen, wird daher auch von Philosophinnen und Philosophen anerkannt, die am Primat des Soziolekts und damit an einem grundlegenden Begriff des Verstehens von Ausdrücken einer gemeinsamen Sprache festhalten möchten. Ein Beispiel hierfür ist Michael Dummett. Nachdem er dafür votiert, den Begriff einer gemeinsamen Sprache als den philosophisch primären anzusehen, gesteht er ein, dass dann eine Lücke klafft zwischen dem, was die Ausdrücke der Sprache bedeuten, und dem sprachlichen Verhalten der einzelnen Sprecherinnen und Sprecher, da „jeder Sprecher nur einen Teil der Sprache erfaßt und diesen zum Teil fehlerhaft" 7. Wie können wir diese Lücke schließen? Dummett meint: „das nächstliegende Verfahren ist dies, daß man einen Idiolekt als [ . . . ] partielle und zum Teil fehlerhafte Theorie über die Bedeutungen der Ausdrücke in dieser Gemeinsprache [deutet]".8 Es ist diese Theorie - Überzeugungen der Sprecherinnen und Sprecher über die Bedeutungen der Ausdrücke ihrer Sprache - , welche die Verbindung zwischen dem Verstehen der Bedeutung der geäußerten Worte im Soziolekt und den Überzeugungen und Handlungen der Sprecherinnen und Sprecher wieder herstellt. Betrachten wir zwei Beispiele. Ich habe als Kind regelmäßig meine Mutter dazu aufgefordert, mein Essen „wärmer" zu machen, nicht nur, wenn es zu kalt, sondern auch, wenn es zu heiß war. Diese Aufforderung scheint zutiefst irrational zu sein, wenn man den Ausdruck „warm" hier in seiner üblichen Bedeutung versteht. Dummett zufolge wird die drohende Irrationalität nun nicht dadurch vermieden, dass man annimmt, „wärmer" habe damals in meinem Mund etwas anderes bedeutet als im deutschen Soziolekt. Es hat bedeutet, was es nun einmal in jedem (deutschen) Mund bedeutet, nämlich das, was es in der deutschen Sprache bedeutet: Eine Erhöhung der Temperatur. Allerdings habe ich damals (irrtümlich) geglaubt, ein Essen 7 Dummett 1986, 265. s Dummett 1986, 265.
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„wärmer" zu machen würde bedeuten, es - von welcher Ausgangstemperatur auch immer - einem angenehm warmen Zustand anzunähern. Das zweite Beispiel ist fiktionaler Natur. So wird in Kontexten wie diesen gerne auf Frau Stöhr verwiesen, jene bedauernswerte Figur aus Thomas Manns Zauberberg, die sich mit Fremdwörtern noch schwerer tut als die meisten von uns und etwa von unverschämten Personen sagt, sie seien „insolvent". Hier droht zunächst vielleicht noch keine Irrationalität im starken Sinn, aber mindestens die Zuschreibung einer absurden Überzeugung. Dies wird nach Dummett wiederum nicht dadurch vermieden, dass man sagt, „insolvent" bedeute in Frau Stöhrs Mund eben insolent, sondern dadurch, dass man sagt, obwohl es insolvent bedeutet, glaubt Frau Stöhr, dass es insolent bedeute. Dummetts Versuch, individuelles Sprachverhalten und die gemeinsame Sprache miteinander zu versöhnen, scheitert jedoch. Und zwar mindestens aus den folgenden beiden Gründen. Erstens hätte der vorgeschlagene Bezug auf den Soziolekt in vielen Fällen keinen Erklärungswert. 9 Denn wenn sich zwei Sprecherinnen in derselben Weise über die wirkliche Bedeutung der Wörter irren, verstehen sie einander so gut, wie man sich nur verstehen kann. Was für einen sprachphilosophischen Sinn macht es dann aber noch zu sagen, dass sie beide die Bedeutung der geäußerten Sätze falsch verstehen? Das wäre nur dann angemessen, wenn ihre (fehlerhafte) Kenntnis der Bedeutung der Wörter des Soziolekts in irgendeiner Weise dafür verantwortlich wäre, dass sie einander verstehen. Das aber scheint nicht der Fall zu sein. Warum sollte man aus sprachphilosophischer Perspektive überhaupt von einem Fehler sprechen, wenn doch die Verständigung so gut gelingt, wie sie nur gelingen kann? In Bezug auf obige Beispiele kann man sich etwa vorstellen, Frau Stöhr habe eine Tochter, die aufgrund ihrer sprachlichen Sozialisation das Wort „insolvent" auf dieselbe Art verwendet wie ihre Mutter. In dieser Weise werden wahrscheinlich viele Eltern Eigenheiten ihrer Idiolekte an ihre Kinder weitergeben. Zweitens ist der Vorschlag entgegen dem ersten Anschein gar nicht verständlich. Denn wenn Idiolekte Theorien über die Bedeutung der Ausdrücke im Soziolekt sind, dann ist anzunehmen, dass man einer Sprache bedarf, um diese Theorien zu formulieren. In welcher Sprache sollen die Sprecherinnen und Sprecher diese Theorien aber formulieren? Sicherlich nicht in ihrem Idiolekt, denn der ist ja nichts anderes als diese Theorie. Aber doch wohl auch nicht im Soziolekt, denn den beherrschen die Sprecherinnen und Sprecher ja gerade nur in Form einer (fehlerhaften) Theorie. Wie sollen wir etwa dem kleinen Jasper die Überzeugung zuschreiben, „wärmer" bedeute wärmer, wenn das Essen zu kalt ist, und kälter, wenn es zu warm ist, wo er doch gerade die „korrekte" Bedeutung von „wärmer" im Deutschen gar nicht kennt? Dieser Gedankengang bedeutet sicherlich nicht das Aus für eine am Soziolekt orientierte Herangehensweise an den Zusammenhang von Bedeutung, Verstehen 9 Vgl. zu diesem Punkt ähnlich auch Heck 2006.
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und Verständigung. Aber er kann als Motivation hinreichen, um einmal nachzusehen, ob sich die Sache nicht schlanker ohne Bezug auf die gemeinsame Sprache verstehen lässt. Das hieße, sprachliche Verständigung nicht in erster Linie als das Verstehen einer Sprache zu konzipieren, das dann erst in zweiter Linie zum Verstehen von Sprecherinnen und Sprechern führt, sondern direkt als das Verstehen der Äußerungen anderer. Unsere Frage ist also: Wie könnte ein Verständnis sprachlicher Praxis aussehen, das von einem Primat des Idiolekts ausgeht? Und eine Antwort könnte sein: Wenn die Idiolekte einzelner Sprecherinnen und Sprecher das Primäre sind, warum sollten wir dann nicht alles Verstehen als eine Form der Interpretation im Sinne der Übersetzung eines fremden in den eigenen Idiolekt auffassen? Dieser Gedanke scheint - zumindest in den Augen vieler Interpretinnen und Interpreten - von Donald Davidson artikuliert worden zu sein, wenn dieser schreibt: The problem of interpretation is domestic as well as foreign: it surfaces for speakers of the same language in the form of the question, how can it be determined that the language is the same? Speakers of the same language can go on the assumption that for them the same expressions are to be interpreted in the same way, but this does not indicate what justifies this assumption. All understanding of the Speech of another involves radical interpretation. 10
Um das zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, was Davidson unter „radikaler Interpretation" versteht. Für meine Zwecke reicht dabei folgende Bestimmung: Radikale Interpretation ist die Ausübung der Fähigkeit einer Interpretin, Äußerungen eines Sprechers einer ihr völlig unbekannten Sprache Sinn abzugewinnen, ohne dabei auf Hilfsmittel wie Übersetzungshandbücher oder auf Dolmetscher zurückgreifen zu können. Davidson nimmt an, dass sich diese Tätigkeit als das Erstellen und Überprüfen einer Theorie über die Bedeutungen der Ausdrücke der unbekannten Sprache verstehen lässt. Das Ergebnis der Theorie ist so etwas wie eine Übersetzung der Ausdrücke der fremden Sprache in die Sprache der Interpretin. Die Theorie liefert im Idealfall - für jeden Satz der fraglichen Sprache einen Satz in der Sprache der Interpretin, der dessen Bedeutung angibt. Die Annahme ist plausibel, dass sich diese Bedeutungsangaben als Theoreme der Interpretationstheorie auffassen lassen also als Sätze, die aus der Theorie abgeleitet werden können - während sich die Axiome der Interpretationstheorie einerseits auf die syntaktische Struktur der Sätze der zu interpretierenden Sprache beziehen, andererseits auf den Beitrag, den die einzelnen Wörter zur Bedeutung der Sätze leisten. Eine Interpretationstheorie in diesem Sinn müsste sich auf der Basis von Belegen erstellen oder überprüfen lassen, die einer Interpretin bereits vor der Interpretation zugänglich sind. Das heißt: Nicht nur stehen - trivialerweise - Tatsachen in Bezug darauf, was Ausdrücke der unbekannten Sprache bedeuten, nicht als Belege zur Verfügung, auch Tatsachen in Bezug auf die Absichten, Überzeugungen und 10 Davidson 1973, 125.
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Wünsche der Sprecherinnen und Sprecher scheiden aus, denn diese lassen sich nicht unabhängig von der Bedeutung ihrer Äußerungen ermitteln. Als Belege für die Theorie bleiben letztlich nur Tatsachen in Bezug auf das beobachtbare sprachliche und außersprachliche Verhalten der Sprecherinnen und Sprecher der unbekannten Sprache übrig, die bereits jemandem zugänglich sind, der die Sprecherinnen und Sprecher nicht versteht. Davidson sagt nun in dem obigen Zitat - und auch sonst - nicht genau, in welchem Sinn alles Verstehen anderer radikale Interpretation „beinhaltet", aber sicherlich legt das Zitat folgende Interpretation nahe: Alles Verstehen der Äußerungen einer anderen Person lässt sich philosophisch rekonstruieren als das Verfügen über eine Interpretationstheorie für den Idiolekt dieser Person in dem eben erläuterten Sinn. Dieser Gedanke könnte mit dem Einwand zurückgewiesen werden, dass er das Verfügen über eine Sprache in einer möglicherweise problematischen Art voraussetzt. Was es heißt, die Äußerungen anderer zu verstehen, wird mit Bezug auf das Verfügen über eine Theorie erklärt, die die Bedeutung der geäußerten Sätze angibt. Über eine Theorie dieser Art kann aber wiederum nur verfügen, wer bereits eine Sprache beherrscht. Das Beherrschen des eigenen Idiolekts, kann daher nicht mehr als das Verfügen über eine Theorie erklärt werden. Dann wird es aber schlicht vorausgesetzt. Nun wäre das allein noch kein fataler Einwand. Denn immerhin geht es hier ja auch um eine Erklärung sprachlicher Verständigung, und die an sprachlicher Verständigung beteiligten Personen verfügen nun einmal über die begrifflichen und sprachlichen Ressourcen, um Theorien über die Sprachen der jeweils anderen zu formulieren. Natürlich formulieren Sprecherinnen und Sprecher in Wirklichkeit keine Theorien, um einander zu verstehen. Dieser Vorschlag darf nicht als eine Beschreibung realer psychischer Vorgänge begriffen werden. Aber es impliziert keinen Widerspruch, die Fähigkeit von Sprecherinnen und Sprechern, einander zu verstehen, dadurch zu erklären, dass man sie als das Anwenden von Theorien begreift. Wir haben es hier mit einem Modell dieser Fähigkeit zu tun, das uns - uns Philosophen - grundlegende begriffliche und epistemologische Zusammenhänge klären soll, nicht mit einer psychologischen Beschreibung. Ein zweites Problem aber ist in meinen Augen fatal: Theorien haben als solche nun einmal die Eigenschaft, falsch sein zu können. Wenn alles Verstehen der Äußerungen anderer eine Form der radikalen Interpretation darstellte, dann müsste es zumindest denkbar sein, dass unsere Interpretationstheorien allesamt falsch sind, dass wir noch nie jemanden verstanden haben und noch nie verstanden worden sind. Dieser Gedanke wäre aber nur dann ein verständlicher Gedanke, wenn man den Begriff des Sprechens einer Sprache ganz von dem der Verständigung mit anderen Sprecherinnen und Sprechern ablösen könnte. Es müsste dann möglich sein, selbst über eine Sprache - seinen Idiolekt - zu verfügen, ohne sich jemals mit anderen zu verständigen.
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Dafür ließe sich zwar argumentieren, aber mir zumindest reicht dieser Einwand. Situationen gelingender sprachlicher Verständigung sind die paradigmatischen Situationen bedeutungsvoller Sprachverwendung, es gibt sprachliche Bedeutung nur dort, wo Sprecherinnen und Sprecher einander zuverlässig verstehen.11 Dann aber muss ein angemessenes Verständnis von sprachlicher Verständigung die eben genannte Möglichkeit universellen Missverstehens von vornherein begrifflich ausschließen. Wir stehen damit vor einem gewissen Dilemma: Wie können wir die fatale Konsequenz vermeiden, in die der Gedanke führt, dass alle Verständigung radikale Interpretation beinhaltet, ohne den Gedanken aufzugeben, dass Idiolekte gegenüber Soziolekten theoretisch primär sind?
II. Folgendes ist eine mögliche Strategie: Wir halten den Gedanken fest, dass das Verstehen anderer sich auf deren Idiolekt bezieht: Welche Bedeutung die Worte einer Sprecherin haben, hängt davon ab, wie diese Sprecherin die Worte im Rahmen ihres Idiolekts zu verwenden disponiert ist. Und in Bezug darauf kann ein Interpret in jedem einzelnen Fall falsch liegen. Alles Verstehen ist daher in dem Sinn ein Interpretieren, dass jedes einzelne Verständnis einer fremden Äußerung im Sinne einer Hypothese gedeutet werden kann. Homophone Interpretationen - Interpretationen, bei denen der Interpret den Worten der Sprecherin die Bedeutung zuweist, die sie in seinem eigenen Munde hätten - sind dabei in keiner Weise gegenüber heterophonen Interpretationen auszuzeichnen: Dass andere ein bestimmtes Wort in derselben Weise verwenden wie ich, ist genauso eine Hypothese wie die, dass sie es anders verwenden als ich. (Das ist die Wahrheit, die hinter Davidsons oben zitiertem Diktum steckt.) Aber - und das ist nun der entscheidende Gedanke - nicht alle meine Verständnisse anderer können falsch sein. Verstehen kann nicht durchweg radikale Interpretation beinhalten. Dieser Tatsache können wir dadurch Rechnung tragen, dass wir unser Verstehen anderer zwar als etwas auffassen, das prinzipiell im Sinne von Hypothesen verstanden werden kann, die der Rechtfertigung bedürfen, dass wir die Belege für unsere Hypothesen aber als etwas auffassen, das seinerseits nur jemandem zugänglich ist, der die fraglichen Sprecherinnen und Sprecher bereits immer schon vielfältig verstanden hat und von ihnen verstanden worden ist. Ein bestimmter Akt des Verstehens, so der Gedanke, stützt sich immer schon auf einen Hintergrund einer unbegrenzten Vielzahl bereits gelungener Akte der Verständigung. Jedes einzelne dieser Verständnisse kann seinerseits wieder in Frage gestellt werden, aber ein solches In-Frage-Stellen macht 11 Das hat gerade Davidson besonders betont, der so weit geht zu behaupten, dass „it is understanding that gives life to meaning, not the other way around" (Davidson 1994, 121). Meiner Auffassung zufolge beleben sich die Begriffe des Verstehens und der Bedeutung wechselseitig.
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seinerseits wieder nur vor einem Hintergrund gelungener Verständnisse Sinn. Einem solchen Begriff von Verständigung zufolge teilen wir zwar keine Sprache, aber eine unüberschaubare Vielzahl von Situationen gelungener Verständigung mit mindestens einer weiteren Person. Eine solche Strategie wirft die Frage auf, ob hier nicht wieder das Beherrschen des eigenen Idiolekts einfach vorausgesetzt wird und insofern das Problem des Verstehens sprachlicher Bedeutung einfach verschoben wird. Diesem Einwand kann auf eine einfache Art und Weise begegnet werden: Wir müssen das Beherrschen eines Idiolekt als etwas verstehen, das seinerseits durch erfolgreiche wechselseitige Verständigung mit konstituiert wird. Die Begriffe der Bedeutung und des Verstehens im Sinne der Interpretation werden dann als wechselseitig voneinander abhängige Begriffe verstanden, die aber nicht aufeinander reduziert werden können. Das Beherrschen einer Sprache wird als etwas verstanden, das seinerseits genauso das Produkt wie die Voraussetzung gelingender Verständigung darstellt. Der Begriff des Idiolekts muss dann nicht als unerklärter Erklärer hingenommen werden, sondern kann mit in den Kreis der Begriffe einbezogen werden, in deren wechselseitiger Erklärung eine philosophische Bedeutungstheorie besteht. Diese Herangehensweise muss ihre Produktivität natürlich darin beweisen, dass sie eine solche Erklärung im Detail vornimmt. Genau das soll das Modell des case law oder Fallrechts leisten, zu dem ich jetzt komme. Dabei werde ich das Modell in einem ersten Schritt ohne Bezug auf seine sprachphilosophische Anwendung darlegen, um dann in einem zweiten Schritt zu zeigen, wie eine solche Anwendung aussehen müsste. Das Fallrecht-Modell sozialer Praxis, von dem ich im Folgenden einen sprachphilosophischen Gebrauch machen will, wurde von Robert Brandom in einem ganz anderen Kontext (dem einer Interpretation von Hegels Begriff des Begriffs) entwickelt. 12 Bei dem Modell handelt es sich um eine Idealisierung der Praxis der Rechtsprechung, wie sie im anglo-amerikanischen case law vorliegt. Dem Modell zufolge kennt Rechtsprechung keine allgemeinen Gesetze, Regeln oder Prinzipien, die von Richtern ausgelegt und auf einzelne Fälle angewendet werden könnten. Sie beruht ausschließlich auf einzelnen Fällen. Wenn ein Richter ein Urteil zu fällen hat, dann ist die einzige Grundlage, auf die er sich diesem Modell zufolge stützen kann, die Menge der bereits gefällten Urteile, d. h. der potentiellen Präzedenzfälle. Der Richter fällt sein Urteil, indem er begründet, inwiefern der gegenwärtige Fall sich an eine Tradition entsprechender Präzedenzfälle anschließen lässt. Insofern, so könnte man zunächst denken, besitzt die Tradition eine einseitige Autorität, die der von allgemeinen Gesetzen nicht unähnlich ist: Was in der Vergangenheit als richtig gegolten hat, legt fest, was gegenwärtig als richtig gilt. 12 Brandom 1999.
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Aber diese Darstellung übersieht die Autorität des gegenwärtigen Richters gegenüber der Vergangenheit. Denn er ist es ja, der in seinem Urteil entscheidet, welche der vergangenen Urteile tatsächlich Präzedenzfälle in Bezug auf den jetzt zu beurteilenden Fall darstellen. Dabei kann es vor allem zwei Gründe geben, einen bereits entschiedenen Fall nicht als Präzedenzfall zuzulassen. Der erste lautet schlicht, dass der Fall dem jetzt zu beurteilenden nicht ähnlich genug ist. Aber auch in allen relevanten Hinsichten ähnliche Fälle müssen nicht unbedingt als Präzedenzfälle anerkannt werden. Der Richter kann vergangene Urteile nämlich zweitens als verfehlte Urteile kritisieren. Diese Kritik vergangener Urteile kann dabei unter Bezug auf weitere vergangene Urteile wieder gerechtfertigt werden. Der Richter kann argumentieren, dass die Fälle, auf denen das verfehlte vergangene Urteil basierte, nur scheinbar Präzedenzfälle für dieses Urteil darstellten, tatsächlich aber dem in Frage stehenden Fall entweder zu unähnlich oder ihrerseits verfehlt waren, was wieder auf dieselbe Weise begründet werden kann. Jetzt sieht es aus, als könne der gegenwärtige Richter letztlich nach seinem Gutdünken entscheiden. Schließlich befindet er darüber, wann ein Fall ähnlich genug ist, um als Präzedenzfall in Frage zu kommen, und ob das entsprechende Urteil als korrekt anerkannt wird. Dann wäre die Rede von einer „Rechtfertigung" seines Urteils und der Gedanke einer „Autorität" der Präzedenzfälle aber leer und das Modell würde in sich zusammenfallen. Wie Brandom formuliert: Der gegenwärtige Richter scheint der Vergangenheit somit nur zu schulden, was er als seine Schuld ihr gegenüber anerkennt. Und wenn und soweit dies richtig ist, ist die Autorität der vergangenen Entscheidungen leer [ . . . ] . Die Stimme der Vergangenheit kann keine Autorität über die Gegenwart besitzen, wenn die Gegenwart sowohl darüber befinden kann, wann sie hinhört und wann nicht, als auch darüber, wie das, was sie aus der Vergangenheit hört, auszulegen ist. 13
Aber dieser Anschein einer Asymmetrie entsteht nur dann, wenn man nicht in Betracht zieht, inwieweit der gegenwärtige Richter mit seinen Entscheidungen selbst potentieller Gegenstand der Kritik zukünftiger Richter ist. Seine eigene Entscheidung wirkt nämlich nur dann traditionsbildend, wenn sie in ähnlichen Fällen ihrerseits als Präzedenzfall anerkannt wird: Wenn [die künftigen Richter] angesichts ihrer Auslegung der von ihm ererbten Tradition zu dem Schluß kommen, daß der gegenwärtige Richter falsch entschieden hat, dann besitzt die Entscheidung des gegenwärtigen Richters überhaupt keine Autorität. [ . . . ] Da dieser Prozeß prinzipiell unabschließbar ist, da er keine letzte Autorität kennt, die nicht ihrerseits wieder auf Anerkennung angewiesen wäre, ist die normative Situation völlig symmetrisch. 14
Wir können uns nun der Frage zuwenden, wie das Modell auf die Praxis sprachlicher Verständigung angewendet werden kann, um einem am Begriff der Interpre13 Brandom 1999, 379. 14 Brandom 1999, 380.
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tation und des Idiolekts orientierten Verständnis auf die Beine zu helfen, das gleichwohl auf den Gedanken verzichtet, dass Verstehen durchweg in radikaler Interpretation besteht. Die Analogie, die ausgenutzt werden soll, ist folgende: Im Fallrecht-Modell basieren die Urteile nicht auf einem von den Richtern geteilten System von Gesetzen. Das entspricht dem Gedanken, dass Verständigung dem Primat des Idiolekts zufolge nicht auf einem von Sprecherinnen und Interpreten geteilten System von sprachlichen Regeln basieren soll. Aber die Urteile basieren auch nicht auf Fakten, die von außerhalb der Praxis der Rechtsprechung zugänglich wären. Das entspricht der Zurückweisung des Gedankens, dass sprachliche Verständigung durchweg radikale Interpretation sein könnte, die auf der Basis von Tatsachen gerechtfertigt werden muss, die von außerhalb der Praxis sprachlicher Verständigung zugänglich sind. Der „Mittelweg", den das Fallrecht-Modell weist, besteht darin, dass ein Urteil immer nur auf weiteren Urteilen basiert. Jedes einzelne Urteil muss einen Hintergrund entschiedener Präzedenzfälle also richtiger Urteile für seine Rechtfertigung voraussetzen. Aber keines dieser vorausgesetzten Urteile ist für sich betrachtet unantastbar. Jedes einzelne bezieht seine Rechtfertigung wiederum allein aus weiteren Präzedenzfällen. Ein „Gesetz" - eine bestimmte Tradition aufeinander als Präzedenzfälle rekurrierender Urteile - ist daher für ein einzelnes Urteil ebenso konstitutiv, wie es partiell durch es konstituiert wird. Betrachten wir den einfachsten Fall einer Sprecherin und eines Interpreten. Die Frage, die zu beantworten ist, lautet: Wie kann der Interpret in seiner Anwendung einer bestimmten Interpretationstheorie auf eine bestimmte Äußerung der Sprecherin gerechtfertigt sein (was kann als ein Standard des Gelingens sprachlicher Verständigung herangezogen werden), ohne dass seine Belege für die Interpretation unabhängig von Akten der Verständigung zugänglich sind, was bedeuten würde, dass - wie in der Situation der radikalen Interpretation - schlicht vorausgesetzt wird, dass der Interpret bereits über eine von der Verständigung unabhängig bedeutungsvolle Sprache verfügt. Die Antwort, die das Fallrecht-Modell bereithält, lautet, dass alles, was es als Grundlage für die Rechtfertigung einer Interpretation eines bestimmten gegenwärtigen Akts sprachlicher Verständigung braucht, die Menge weiterer Akte gelungener Verständigung ist. Dies bindet den Begriff der Sprache oder des Idiolekts eines Sprechers an den Begriff der gelungenen Verständigung zurück: Im Gegensatz zu der Figur des radikalen Interpreten verfügt der Interpret im vorliegenden Modell überhaupt nur insofern über seine eigene Sprache, als diese sich in Akten gelungener Verständigung bewährt hat. Unabhängig von gelungener Verständigung wäre der Idiolekt des Sprechers nichts als ein komplexes Muster von Dispositionen zur Äußerung von Lauten. Man könnte auch sagen: Der Idiolekt eines Sprechers ist nur insofern eine Sprache, als er sich als Fortsetzung einer beiden Sprechern gemeinsamen Tradition gelingender Verständigung begreifen lässt.
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Dabei - und das ist das nächste, was vom Fallrecht-Modell zu lernen ist - müssen die vergangenen Akte erfolgreicher Kommunikation, die die Grundlage für den gegenwärtigen kommunikativen Erfolg bilden - die Tradition gelungener Verständigung - in keiner Weise als ein „Fundament" der Verständigung in einem starken Sinn dieses Wortes verstanden werden. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen konnte jeder dieser vergangenen Verständigungsakte seinerseits nur auf genau dieselbe Weise zustande kommen, wie ein gegenwärtiger Verständigungsakt: auf der Grundlage ungezählter weiterer Akte gelungener Verständigung. Zum anderen - und vor allem - ist kein Verständigungsakt in einem abschließenden Sinn gelungen. Denn die Bewertung dessen, was als Verständigung ermöglichende Tradition gilt, muss jedes Mal aufs Neue erfolgen. Einzelne Kommunikationsakte, die bisher als Teil der Tradition gegolten haben, werden eventuell im Licht neuer Äußerungen nachträglich als missglückt bewertet, andere, die bisher von der Tradition ausgeschlossen waren, nachträglich aufgenommen. Und auch der letzte Schritt des Fallrecht-Modells findet seine Entsprechung. Denn die Tatsache, dass eine gegenwärtige Entscheidung, ob die Verständigung gelungen ist, unter Bezug auf eine Tradition gelungener Verständigung gerechtfertigt wird, die ihrerseits ein Konstrukt der Gegenwart ist, begründet nur scheinbar eine einseitige Autorität der Gegenwart über die Vergangenheit. Denn eine gegenwärtige Entscheidung darüber, ob ein bestimmter Akt der Kommunikation gelungen ist oder nicht, kann nur dann eine Autorität in Bezug auf die Vergangenheit entwickeln, wenn er (und das mit ihm zusammenhängende Konstrukt der Tradition) von zukünftigen Akten gelungener Verständigung als Teil der Tradition anerkannt wird. Wenn diese Überlegungen haltbar sind, dann wäre der grundlegende Begriff von sprachlicher Verständigung der einer prinzipiell unabschließbaren Praxis gelingender Verständigung mindestens zweier Sprecher/Interpreten, die nach dem Muster des Fallrecht-Modells funktioniert. Jeder einzelne Akt der Verstehens wäre in dem Sinn eine Interpretation des Sprechers, als er eine Hypothese darstellte, die von der Interpretin im Prinzip mit Bezug auf das vergangene sprachliche und außersprachliche Verhalten des Sprechers gerechtfertigt werden könnte. Diese Rechtfertigung würde aber Tatsachen darüber mit einbeziehen, was die Äußerungen des Sprechers zu anderen Zeitpunkten bedeutet haben, was er damit gemeint hat oder welche Überzeugung er zum Ausdruck bringen wollte. Es wäre eine Rechtfertigung, die von innerhalb einer Praxis sprachlicher Verständigung zugänglich wäre, die sich aus einer Tradition gelungener Verständigung ergäbe. Kurz: Verständigung gelingt, wenn die Interpretin über eine Interpretationstheorie für den Idiolekt des Sprechers verfügt, die sich mit Bezug auf die gemeinsame Tradition gelungener Verständigung rechtfertigen lässt. Die sprachlichen und begrifflichen Mittel, die das auf Seiten des Interpreten voraussetzt, sind dabei ihrerseits das Produkt derselben Tradition, die durch ihre Anwendung fortgeschrieben wird. Das skizzierte Modell bedarf in zweierlei Hinsichten ausführlicherer Kommentare, als ich sie im Rahmen dieses Aufsatzes leisten kann. Zum einen wäre zu über-
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legen, wie das Modell ausgestaltet werden kann, um unserer tatsächlichen Praxis sprachlicher Verständigung gerecht zu werden. Zum anderen müssten die theoretischen und empirischen Implikationen des Modells genauer entfaltet werden. An dieser Stelle müssen einige kurze Hinweise ausreichen. So ließe sich überlegen, wie der Begriff der gelungenen Verständigung, dessen ich mich bei der Formulierung des Modells bedient habe, genauer zu verstehen ist. Bisher klang es so, als wäre Verständigung etwas, das entweder vollkommen oder gar nicht gelingt. Stattdessen könnte man Verständigung aber auch als eine graduelle Angelegenheit begreifen, als etwas, das entweder besser oder schlechter gelingen kann. Welche dieser beiden Strategien dir richtige ist, ist mir nicht ganz klar. So scheint es viele paradigmatische Situationen sprachlicher Kommunikation zu geben, in Bezug auf die ein gradueller Begriff des Verstehens wenig Sinn ergibt. Wenn jemand sagt: „Komm doch mal bitte rüber!", dann gilt in der Regel, dass ich ihn verstehe oder nicht, und wenn ich ihn verstehe, verstehe ich ihn (in der Regel) so vollständig, wie man nur etwas vollständig verstehen kann. Wenn jemand allerdings gegen Ende eines Buches schreibt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.", dann sind offensichtlich sehr viele bessere und schlechtere Interpretationen möglich und der Gedanke eines vollständigen Verstehens wirkt unangemessen. Eine der interessanteren Implikationen des Modells besteht darin, dass die Praxis sprachlicher Verständigung ihm zufolge strukturell weder einen Anfang noch ein Ende kennt: Jeder einzelne Akt gelungener Verständigung, der ihr angehört, kann als ein solcher nur unter Bezug auf vergangene und zukünftige Akte gelingender Verständigung begriffen werden. Das könnte auf den ersten Blick Zweifel an der Anwendbarkeit des Modells wachrufen, die sich aber bei genauerem Hinsehen wieder legen müssten. Denn in unserem Leben gibt es tatsächlich keinen ersten Akt der gelungenen sprachlichen Verständigung, sondern wir können in jedem einzelnen Fall der Kommunikation auf unzählige Fälle erfolgreicher Kommunikation zurückblicken. Das liegt schlicht daran, dass sprachliche Verständigung eine Sache ist, die sich holistisch und graduell entwickelt. Nicht wird uns zunächst eine, dann eine zweite, dann eine dritte Äußerung verständlich, bis wir irgendwann alle verstehen. Sondern wir lernen, mit einem sich entwicklenden Ganzen von potenziellen und tatsächlichen Äußerungen immer besser umzugehen. Die Geltung sprachlicher Regeln in einer Gemeinschaft wird diesem Modell zufolge nicht geleugnet, aber die Regeln erhalten einen abgeleiteten Status: Es handelt sich, mit John Searles Unterscheidung, um regulative, nicht um konstitutive Regeln.15 Die Praxis könnte theoretisch ohne diese Regeln auskommen, praktisch ist es natürlich in Komunikationsgemeinschaften wie der unseren vollständig unabdingbar, Normen der Sprachverwendung durchzusetzen. Diese Normen sichern, 15 Vgl. Searle 1969, Kap. 2.5; vgl. zu verschiedenen Arten von Regeln auch den Exkurs in Liptow 2004, 95-103, wo Searles regulative Regeln als „präskriptive Regeln" bezeichnet und von instrumentellen und konstitutiven Regeln abgegrenzt werden.
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dass unsere sprachlichen Dispositionen sich so weit ähneln, dass die homophone Interpretation tatsächlich einen praktisch ausgezeichneten Fall darstellt. Abschließend möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass das Fallrecht-Modell sprachlicher Praxis, wie ich es skizziert habe, reduktiven theoretischen Ansprüchen - also etwa der Zurückführung des Begriffs sprachlicher Bedeutung auf sprach unabhängige Begriffe - offenbar nicht genügen kann. Eine Bedeutungstheorie, die von diesem Modell ausgeht, verzichtet darauf, sprachlicher Verständigung auf etwas zurückzuführen, das unabhängig davon verständlich wäre. Die Begriffe, die hier eine Rolle spielen - Verständigung, Idiolekt, Bedeutung, Intentionalität, Wahrheit und andere - , können nicht auf einander oder auf andere Begriffe zurückgeführt werden in einem Modell, das den Begriff der Verständigung (unter anderem) durch den des Idiolekts und diesen seinerseits (unter anderem) durch den der Verständigung erläutert. Der Erklärungsanspruch ist der bescheidenere (aber auch plausiblere), diese Begriffe auf eine klare und philosophisch möglichst fruchtbare Weise zueinander in Beziehung zu setzen.
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Politische Korrektheit (political correctness) Verschärfter Umgang mit Normen im Alltag* Von Rainer Wimmer I. Nur ein neues Modewort für normativen Sprachgebrauch? Der Ausdruck „politische Korrektheit" (political correctness, abgekürzt: „PC") ist 1991 aus den USA nach Deutschland, genauer: in die Feuilletons der deutschen Presseorgane, gekommen (vgl. von Uthmann 1991). Er ist inzwischen zu einem regelrechten Modewort geworden für die Bezeichnung normgerechten bzw. nichtabweichenden Verhaltens, insbesondere auch Sprachverhaltens. Wenn beispielsweise jemand in einer überfüllten Straßenbahn drängelnd seinen Weg sucht und sich dabei ständig entschuldigt, so mag das politisch korrekt (politically correct, abgekürzt: pc) sein; es wäre aber nicht-pc, wenn die Entschuldigungen ausblieben. Oder: Es ist schon lange nicht mehr pc, eine mit Schokoladenüberzug versehene Schaummasse als Negerkuss zu bezeichnen, weil die Verwendung des Wortes „Neger" weitgehend tabuisiert ist. Hilfsschulen heißen pc-mäßig Sonderschulen, Verbrecher sind Straftäter, Gefängniswärter sind Vollzugsbeamte, Gummiknüppel sind Rettungsmehrzweckstöcke, Müllmänner sind Entsorger usw. (vgl. Zimmer 1997, S. 152; Glück/Sauer 1997, S. 117). Der Ausdruck „politische Korrektheit" ist deshalb in den vergangenen Jahren zu einem Modewort geworden, weil inzwischen alle möglichen schonenden und euphemistischen Redeweisen in allen möglichen gesellschaftlichen Zusammenhängen als pc bezeichnet werden. Entsprechend ist die Literatur, die PC im Titel führt, vor allem die populäre Zeitschriftenliteratur zu dem Thema, fast unüberschaubar geworden. Diese Popularisierung des PC-Konzepts ist für den Sprachbetrachter natürlich nicht kritikwürdig; sie kann registriert werden als kleines Anzeichen eines Sprachwandels, der offensichtlich bei vielen auf - erneuertes - Interesse stößt. Trotz dieser Feststellungen ist m. E. an dem PC-Phänomen noch etwas mehr dran als die modische Redeweise über altbekannte Dinge (Euphemismen, Höflichkeit, indirekte Benennung, Bezeichnungswandel). PC ist - wenigstens teilweise - charakterisiert durch einen verschärften Umgang mit (sprachlichen) Normen im Alltag, der symptomatisch ist für bestimmte Einstellungen zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen in unseren westlichen Gesellschaften bzw. Demokratien. Dazu möchte ich im Folgenden einige Hinweise geben. Also: Ohne den Anspruch zu erheben, * Zuerst in: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 3, S. 41 ff.
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zu sagen, was PC „eigentlich" ist, will ich einige Merkmale herausstellen, die aus sprachorientierter Sicht das Neue und Besondere des Phänomens ausmachen. In den USA ist „political correctness" Ende der 80er Jahre auch zu einem Modeund Schlagwort geworden mit einem ähnlich breiten Bedeutungsspektrum wie oben angedeutet. Dabei ist der Verbreitung des Ausdrucks möglicherweise entgegengekommen, dass „political" im Englischen eine etwas weitere Bedeutung haben kann als im Deutschen - Verwendungsweisen, die nicht strikt auf Regierung und politische Parteien beschränkt sind. Der Ursprung der PC-Debatten in den USA lag aber nicht in Streitigkeiten um modische Allerweltsthemen, sondern in Auseinandersetzungen (besonders seit den 70er Jahren) um gesellschaftspolitische Themen von großer Relevanz: Wie ist mit den Minderheiten in der Gesellschaft umzugehen, insbesondere mit der schwarzen Bevölkerung, mit den Indianern, mit den Spanisch sprechenden Einwanderern? Wie können Diskriminierungen vermieden werden? Was kann für die Gleichstellung von Frauen in Gesellschaft und Politik getan werden? Wie können Behinderte geschützt werden? Wie müssen die Bildungsinhalte in Schulen und Universitäten verändert werden, um in einer multikulturellen Gesellschaft keine relevante Gruppe zu benachteiligen? Veränderung des Bewusstseins in der Gesellschaft in Bezug auf diese Probleme war und ist gefragt. Symptomatisch für die Einstellung zu den Problemen können das Verhalten und der Sprachgebrauch im Alltag sein. In den USA hat es sich (im offiziellen Sprachgebrauch) weitgehend durchgesetzt, die Amerikaner afrikanischer Abstammung als Afroamericans zu bezeichnen; diskriminierender Sprachgebrauch („negroes", „blacks" o. Ä.) wird vermieden, als nicht-pc. Den meisten reflektierten Sprecherinnen und Sprechern in den USA und den meisten in anderen westlichen Ländern dürfte nicht entgangen sein, dass sich der Sprachgebrauch bei der Anrede, Bezeichnung und Nennung von Frauen und Frauengruppen (zumindest im öffentlichen Sprachgebrauch) in den vergangenen dreißig Jahren tatsächlich gewandelt hat, und zwar durchaus unter dem Einfluss von feministischen Sprachanalysen und entsprechenden Vorschlägen für „neutralen", nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch; die zahlreichen Gesetzesinitiativen zur „Gleichbehandlung in der Sprache" sind auch nicht wirkungslos geblieben (vgl. Stickel 1988). Diese einfachen und allbekannten Beispiele können bereits deutlich machen, dass der diskriminierende bzw. nicht-diskriminierende („neutrale") bzw. positiv konnotierte Sprachgebrauch als Symptom bzw. Faktor im Sprachwandel und im Mentalitätswandel eine Rolle spielt. Die Intellektuellen und die reflektierten Sprecherinnen und Sprecher in den USA, in Deutschland und in anderen westlichen Ländern haben mit ihrem Pochen auf politisch korrekten Sprachgebrauch bewirkt, dass (wiederum: zumindest im öffentlichen Sprachgebrauch) mehr Aufmerksamkeit für die Einstellungsbekundungen erreicht wurde, die mit den meisten unserer Sprachhandlungen verknüpft sind (vgl. Keller 1977), dass soziale Diskriminierungen, die auch sprachlich ihren Ausdruck finden, kenntlich gemacht und angepran-
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gert werden und dass Opfer und Täter in unseren alltäglichen Sprachhandlungen sichtbar werden. Für diese Intellektuellen hatte und hat PC einen positiven Klang; PC steht für den Schutz von Minderheiten in unserer Gesellschaft, für Hilfen für Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, für Eintreten für mehr Gerechtigkeit. Diese positiv konnotierte Verwendung von „PC" und die damit verbundenen Einstellungen zu gesellschaftspolitischen Problemen sind in den USA bereits in den 80er Jahren von konservativen Kulturkritikern konterkariert worden. Dies war leicht möglich; denn durch sprachliche Veränderungen, durch BezeichnungsWechsel ändern sich nicht die Verhältnisse; so einfach ist das Verhältnis zwischen Sprachgebrauch und Wirklichkeit nicht. Robert Hughes hat mit Recht darauf hingewiesen, dass für viele weiße Amerikaner die Schwarzen Nigger geblieben sind, auch wenn sie heute den Ausdruck „Afroamericans" verwenden (vgl. Hughes 1994, S. 35). Aus der Sprachgeschichte und der Soziolinguistik (und hier nicht nur aus den Erfahrungen mit der kompensatorischen Erziehung) ist seit langem bekannt, dass sprachlenkende Arbeit am Sprachgebrauch nicht automatisch Bewusstseins- und Mentalitätsänderungen nach sich zieht. Mit Euphemismen kann man gut lügen. So hatten konservative Kulturkritiker in PC-Debatten oft leichtes Spiel, den Spieß umzudrehen, zumal sich die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und die Situation der Minderheiten in den USA (und in anderen westlichen Ländern) in den letzten Jahrzehnten nicht grundlegend verändert haben. PC-Befürworter wurden als akademische Illusionisten hingestellt, die den klaren Blick für die Realitäten, insbesondere für die ökonomischen Verhältnisse verloren haben. Maßnahmen, den traditionellen akademischen Bildungskanon multikulturell zu erweitern, wurden als Bruch mit den bewährten antiken und europäischen Traditionen gesehen; man sah die klassischen Autoren der europäischen Geschichte als DWEMs diffamiert („dead white European men"). So wurde „PC" in den Augen konservativer Kulturkritiker ein negativ konnotiertes Kampfwort gegen die PC-Befürworter (vgl. Huhnke 1997). In zahlreichen Publikationen wird versucht, die sprachlichen Umbenennungsbemühungen der PC-Befürworter lächerlich zu machen (vgl. z. B. Beard/Cerf 1992, Bittermann/Henschel 1994, Röhl 1995). In den Auseinandersetzungen zwischen PC-Befürwortern und PC-Gegnern ist der Ausdruck „politische Korrektheit" zu einem brisanten Wort bzw. zu einem sozialen Kampfwort geworden, das es verdient, in die entsprechenden sprachhistorischen Darstellungen aufgenommen zu werden (vgl. Hermanns 1982, Strauß/Haß/ Harras 1989, Stötzel / Wengeler 1995). „PC" ist positiv besetztes Fahnenwort für die einen und negativ besetztes Stigmawort für die anderen (vgl. Frank 1996, Hellinger 1997). Es ist in seiner Gebrauchsweise Ausdruck semantischer Kämpfe, die wiederum brisante gesellschaftspolitische Themen und Probleme signalisieren.
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II. Verschärfte semantische Kämpfe um gesellschaftspolitische Themen Das Ziel vieler semantischer Kämpfe ist es, „auf dem Wege der Durchsetzung eines bestimmten Ausdrucks die mit diesem Ausdruck semantisch verbundene Haltung durchzusetzen" (Keller 1977, S. 28). Diese Aussage trifft genau auf PCAuseinandersetzungen zu. PC-Auseinandersetzungen sind nichts anderes als semantische Kämpfe, die um die Einstellungen bzw. Haltungen von Personen bzw. Personengruppen zu bestimmten brisanten gesellschaftspolitischen Themen geführt werden. Die Besonderheit von PC-Debatten (das heißt das, was PC-Auseinandersetzungen gegenüber allen möglichen anderen semantischen Kämpfen auszeichnet) liegt darin, dass der Normenkonflikt (Sprachnormenkonflikt) auf die Spitze getrieben wird, an den Rand dessen, was in verbalen Auseinandersetzungen möglich ist. Oft ist es nur ein kleiner Schritt zur tätlichen Auseinandersetzung, d. h. zur Gewaltanwendung. Aus den USA wurden und werden „Fälle" gemeldet, in denen die Schärfe der Auseinandersetzung exemplarisch zum Ausdruck kommt (vgl. z. B. Hughes 1994, S. 28 ff.). Zum Beispiel verhindern militante Abtreibungsbefürworterinnen in New York im Oktober 1992 eine Diskussionsveranstaltung zu dem Thema „Kann ein Liberaler Abtreibungsgegner sein?" mit Gewalt. Es geht um das brisante Thema: „Schwangerschaftsunterbrechung" - „Tötung (Mord?) ungeborenen Lebens". Einige Abtreibungsbefürworterinnen tragen Buttons mit der Aufschrift: „Fuck free speech". Hughes schreibt zu der Situation in den USA: „In letzter Zeit wimmelt es in Amerika nur so von Anlässen, bei denen ein Mensch einem anderen den Mund verbietet und dann leugnet, dass die Meinungsfreiheit dadurch in irgendeiner Weise eingeschränkt würde" (Hughes 1994, S. 29). Beispiel Zensur: An amerikanischen Schulen, Colleges und Universitäten werden Literatur-Kanones aufgestellt und für verbindlich erklärt, um bestimmte Denkrichtungen zu befördern, andere zu verdammen, auch um bestimmte Sprachgebräuche zu zensieren, andere zu befördern (vgl. z. B. Kaffsack 1995, Gumbrecht 1995). So wurde beispielsweise an Colleges Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn" auf Zensur-Listen gesetzt, weil das Wort „Nigger" darin vorkommt. Nach der Art und Weise des Vorkommens, nach Kontexten, nach dem Sinn einer Lektüre von historischen Texten wird nicht gefragt. Die Beispielliste ließe sich leicht fortsetzen. Natürlich lassen sich auch aus Deutschland solche „Fälle" berichten. Beispielsweise ohrfeigt an einer deutschen Universität eine Dozentin (mit feministischer Programmatik) in einer halböffentlichen Lehrkräfte-Sitzung nach einem Wortgefecht über die Förderung von Studentinnen einen Kollegen mehrfach heftig und rechtfertigt die Tätlichkeit damit, sie sei von dem Kollegen (verbal) vergewaltigt worden. Zu einer ordentlichen Entschuldigung kommt es nicht; die Dozentin fühlt sich im Recht. In Beschreibungen solcher „Fälle" in Zeitungs-, Zeitschriftenaufsätzen und in sonstiger (meist populärer) Literatur stößt man oft auf die Tendenz, die Ereignisse zu dramatisieren, das Provozierende besonders herauszustellen, um für die Öffent-
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lichkeit etwas Spektakuläres zu präsentieren. Die „Fälle" werden für die populären Medien zubereitet. Hier zeigt sich ein typischer Zug der PC-Diskussionen. Das PCThema hätte sich in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht so schnell in kulturkritischen Texten (Diskursen) weltweit verbreiten können und „PC" wäre nicht so schnell zu einem Modewort geworden, wenn die Massenmedien nicht ihren Teil dazu beigetragen hätten. Und die Massenmedien konnten sich des Themas „annehmen", weil es immer wieder etwas von spektakulären Ereignissen, von Aufsehen erregenden Ärgernissen und Aktionen an der Grenze zu Rechtsbrüchen zu berichten gab. Die Falldarstellungen in den Medien sollten also mit der für Medienrezeptionen in derartigen Kontexten gebotenen Vorsicht betrachtet werden; sie bieten in jedem Fall auch Stoff für die Untersuchung von medial produzierten und verbreiteten Fiktionen und Gerüchten - was nicht verwundern sollte, denn die Medienberichte sind natürlich Teil der PC-Kämpfe (vgl. z. B. Cameron 1995, S. 116 ff., Cameron 1996, S. 14 f.). Mit der gebotenen Vorsicht kann man aus den Falldarstellungen abstraktiv typische Merkmale von PC-Debatten und PC-Aktionen entnehmen. Ich unterscheide fünf Merkmale: 1. Gegenstand der Auseinandersetzungen ist offensichtlich ein normativer Sprachgebrauch. Es geht um Normenkonflikte - an der Oberfläche um Sprachgebrauchsnormen, die aber (wie immer) Ausdruck von (sozialen) Einstellungen, Haltungen, Wertungen, Mentalitätsunterschieden sind. 2. In PC-Aktionen äußert sich ein ungewöhnlich starker Drang der Beteiligten, das Sprach- und Sozial verhalten anderer zu regulieren. Oft fallen die Aktionen durch Aggressivität, distanzlose Humorlosigkeit und Kompromisslosigkeit der Beteiligten auf. 3. Die PC-Gegner vertreten partikulare, oft auch persönliche und idiosynkratische Normen, für die sie einen überzogenen, im Hinblick auf die Interessen anderer unreflektierten Geltungsanspruch erheben. 4. Die Normierungskontrahenten nützen gesellschaftliche Freiräume aus, um ihre partikularen Interessen „ausleben" zu können. 5. Die Normierer streben eine Kodifizierung und juristische Fixierung ihrer partikularen Normen an. Durch die genannten Merkmale wird das PC-Konzept durchaus in der Weise stilisiert, dass es sich abhebt von allen möglichen interessegeleiteten Sprachnormierungen im Alltag und im Zusammenhang von semantischen Kämpfen jeglicher Art. Ich halte es für sinnvoll, PC nicht nur als eine Modeerscheinung zu sehen, die konturlos aufgeht in der unüberschaubaren Menge von Sprachnormierungs- und Sprachlenkungsversuchen, die in der Sprachgeschichte bis heute bekannt geworden sind. Der empirische Befund (Welche Normenkonflikte werden vorzugsweise als PC-Konflikte bezeichnet?) spricht durchaus dafür, PC-Konflikte als besondere semantische Kämpfe anzusehen; sie sind ausgezeichnet durch die Schärfe der Aus-
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einandersetzungen. Die Schärfe ergibt sich speziell aus den Merkmalen 2 (aggressiv-kompromissloser Regulierungsdrang), 3 (überzogener Geltungsanspruch für partikulare Normen) und 5 (Streben nach Kodifizierung und juristischer Fixierung). Eine Zensurmaßnahme bezüglich des Literaturkanons beispielsweise, der für Anschaffungen einer Schulbibliothek verbindlich gemacht werden soll (worin auch immer die inkriminierten Eigenschaften der Texte bestehen mögen), nimmt sich in westlich-demokratischen Gesellschaften durchaus aggressiv aus. Bestimmte Eltern, Elterngruppen, Lehrer, Lehrergruppen wollen anderen, insbesondere den Schulpflichtigen, vorschreiben, was sie zu lesen haben, was für sie geeignet ist und was nicht. Die partikularen Normen einiger weniger sollen anderen aufgezwungen werden, und zwar mit größtmöglicher Verbindlichkeit in unserer Gesellschaft, d. h. mit juristischer Verbindlichkeit, „Gesetzeskraft". Kodifizierung und juristische Verbindlichkeit verstehe ich hier in einem weiteren Sinne; sie beginnen nicht erst, wenn Landes- oder Bundesgesetzgeber tätig werden, sondern können z. B. auch durch Verträge zwischen der Elternschaft und den Trägern einer Schule bzw. eines College erreicht werden. Übrigens sind schulische oder universitäre Zensurmaßnahmen, wie sie aus den USA berichtet worden sind, in Deutschland nicht in dieser Weise möglich, weil in Deutschland das Bildungswesen im Wesentlichen staatlich kontrolliert ist. In den USA gibt es mehr private „Freiräume" (Merkmal 4 von PCAktionen). Meine These ist, dass der Drang zur juristischen Kodifizierung ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung von PC-Konflikten ist. Mit juristischen Kodifizierungen, die für möglichst viele Geltung erlangen, erreichen PC-Aktivistinnen und -aktivisten ihre Etappensiege auf dem Weg der Durchsetzung ihrer normativen Vorstellungen. Versucht man einen Überblick über die wichtigsten PC-Themen in unseren westlichen Gesellschaften, so wird deutlich, dass in den meisten Fällen Juridifizierungsversuche eine wichtige Rolle spielen. Zentrale Themen in den USA habe ich oben genannt; einige von ihnen sind auch in Deutschland wichtig, u. a. die Feminismusdebatte, die Auseinandersetzungen um den Schwangerschaftsabbruch (§ 218), die Debatten um die Definition des Endes des Lebens („Gehirntod", „Herztod", Euthanasie), Rassismus (Asylanten, ethnische Minderheiten). Für alle diese Fälle ist klar, dass es immer auch - ja sogar letztlich - um gesetzliche Regelungen ging. Es kam in jedem Fall darauf an, juristische Fixierungen von Tatbeständen zu erstreiten. PC-Themen - wie alle Sprachund Sozialthemen - sind kultur- und geschichtsabhängig. So gibt es auch viele PC-Themen, die Deutschland-spezifisch sind, z. B.: die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit (u. a. die Auschwitz-Leugnung); der Streit um die Bezeichnung des Kriegsendes am 8. Mai 1945 („Kapitulation", „Niederlage" oder „Befreiung"), die Konfrontation zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland (z. B.: Soll es verboten werden, die Bundesrepublik Deutschland mit dem Kürzel „BRD" zu bezeichnen? Vgl. Glück/Sauer
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1977, S. 16 ff.), die Einstellung zu Juden in Deutschland, die Aussiedlerfrage (für eine ausführlichere Themenliste vgl. Noelle-Neumann 1996). Die gesellschaftspolitischen Debatten um all diese Fragen mündeten kritisch auch immer wieder in eine mögliche Juridifizierung ein. Spektakulär im europäischen Kontext (und im Vergleich mit den USA) ist z. B. das deutsche strafrechtliche Verbot der Auschwitz-Leugnung, das im Widerstreit mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung steht (die Verurteilung des Weinheimer Lehrers Deckert wegen der Leugnung der Auschwitz-Vergasungen hat großes Aufsehen erregt). Offensichtlich schätzt die maßgebliche deutsche Jurisprudenz (m. E. zu Recht) die Meinungslage in Deutschland so ein, dass ein strafrechtliches Verbot der Auschwitz-Leugnung das Meinungsfreiheitsgebot des Grundgesetzes brechen muss. Die Auschwitz-Leugnung einerseits und deren Verbot andererseits sind ein typischer Fall für einen PC-Konflikt: Einstellungen bzw. Haltungen zu einem historischen Ereignis müssen, sollen reguliert werden. Die Wirklichkeit ergibt sich für die PC-Konfliktäre erst im Ergebnis des semantischen Kampfes.
III. Sprachkritische Standpunkte PC bietet für die Sprachkritik keine neuartigen Herausforderungen. Die traditionelle Sprachkritik ist eine Sprachnormenkritik, wobei Sprachnormen verstanden werden als interessegeleitete Anforderungen an den Sprachgebrauch, die über die „normalen" Sprachgebrauchsregeln hinausgehen. Die normalen (grammatikalischen, lexikalischen) Sprachregeln, die „blind", unbewusst befolgt werden, sind traditionell nicht Gegenstand der Sprachkritik; das Sprachsystem als solches steht nicht zur Debatte. Vielmehr geht es in der Sprachnormenkritik um solche Sprachregeln, die a) kodifiziert sind, b) anderen zur Vorschrift für jeweils andere gemacht werden sollen, c) zur Durchsetzung von Interessen dienen sollen. In PC-Konflikten geht es genau um diese Art von Normen. PC-Normenkonflikte können durch Sprachkritik keinesfalls aus der Welt geschafft werden, denn die Konflikte haben ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Lebenswelt. Sie ergeben sich gewissermaßen naturgemäß aus den differierenden Lebensformen von Personen und Personengruppen. Was die Sprachkritik leisten kann, ist: Analyse. Darstellung der Phänomene ist gefragt, sodass jeder, der interessiert ist (unter den Normen leidet), vielleicht Hilfen bekommt für das Verständnis dessen, was ihm geschieht. Eine linguistisch begründete Sprachkritik kann nur einen partikularen Beitrag zur Phänomenanalyse leisten (vgl. Wimmer 1982): Sie versucht, durch Sprachanalysen Aufschlüsse zu geben über das, was in Normenfixierungen passiert. Oberstes Ziel einer solchen Sprachkritik ist es, reflektierten Sprachgebrauch zu erzeugen. Jemandes Sprachgebrauch ist reflektiert, wenn er bereit und in der Lage ist, seinen eigenen Sprachgebrauch in relevanten Situationen (Streit- bzw. Lernsituationen) zur Diskussion zu stellen. Die radikale Sprachkritik
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(„radikal" im Sinne von „an die Wurzeln gehend") lehrt, dass jegliche Sprachnormierung (sofern sie von Sprecherinnen und Sprechern überhaupt erkannt wird) zu kritisieren (d. h. zu analysieren) ist (vgl. Mauthner 1982). Danach käme es bei den PC-Konflikten darauf an, möglichst genau die normativen Einstellungen der PCKontrahenten zu analysieren und offen zu legen. Eine besondere Provokation für die Sprachkritik bieten die vielfältigen moralisierenden Ansinnen von PC-Kontrahenten. Oft wird von Aktivistinnen und Aktivisten der Anspruch erhoben, im Sinne einer übergeordneten und allgemein akzeptierten Moral zu handeln. Wer in geeigneten Kontexten das sog. Binnen-I („Aktivistin", „Leserin", „Studentin") verwendet, gilt als Frauen-Freundin. Wer geflissentlich eintritt für die Bevorzugung von Frauen bei einer Stellenbesetzung, wer x für y sagt in geeigneten Kontexten, gilt als moralisch besser. Und so weiter. Auch im Kleinen sind die PC-Auseinandersetzungen oft und manchmal unmerklich, manchmal aber auch massiv mit moralischen Wertungen verquickt. Mancher gute Bürger glaubt, moralischer zu handeln, wenn er „von jüdischer Abstammung" sagt statt „Jude". Ehrt es die Verwaltung, wenn sie das pejorativ besetzte Wort „Asylant" durch „Asylbewerber" ersetzt? Moral ist das begleitende Genugtuungsgefühl beim Bezeichnungswandel. Die Sprachkritik würde darauf hinweisen müssen, dass seit der europäischen Aufklärung die Universalierbarkeit und die Begründbarkeit von Normen die Kriterien für Moral und Ethik sind. Partikularer Bezeichnungswandel ändert nichts am Allgemeinen, wenn die Akzeptanz und damit die Legitimation fehlt. Wer kann für sich in Anspruch nehmen, seine eigenen partikularen Normen anderen aufzuzwingen? PC-Kontrahenten, gleich welcher Couleur, stehen immer unter Legitimationszwang. Die Sprachkritik will sie unter einem solchen Zwang halten, und zwar dauerhaft. Fritz Mauthners Credo war, jede erkennbare Norm zu kritisieren und wieder in Fluss zu bringen. Wenn Sprachkritik es schaffen würde, Skepsis gegenüber jeder Art von PC-orientiertem Sprachgebrauch zu erzeugen und zu verbreiten, so wäre viel gewonnen.
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Ein Fall methodischer Kapitulation? Zur Auslegung des Begriffs „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 EUV Von Felix Hanschmann I. Einleitung Normtexte, die keiner Interpretation bedürfen, gibt es nicht. (Norm-)Begriffe und (Norm-)Texte sind hinsichtlich ihres Bedeutungsgehaltes unvermeidlich mehrdeutig. Unsinnig wäre es folglich, Normtexte, über deren Bedeutung Juristen entscheiden müssen, danach zu unterscheiden, dass sie mehr oder weniger interpretationsbedürftig, mehr oder weniger „klar" sind. Wie beim nationalen Recht greift man, um Auslegungsergebnisse rational nachvollziehbar zu begründen, auch im europäischen Recht auf ein methodisches Instrumentarium zurück, das aus grammatischer, systematischer, historisch-genetischer und teleologischer Auslegung besteht. Hinzu kommen empirische und rechtsvergleichende Argumente, sowie die gemeinschaftskonforme Auslegung.1 Sollte es nun aber im europäischen Primärrecht einen Begriff geben, dem mit diesen Instrumentarium nicht beizukommen ist? Kann es überhaupt Begriffe geben, die sich als so sperrig erweisen, dass die vermittels der genannten Canones geleistete „Rechtsarbeit" keinen Erkenntnis-, d. h. in diesem Fall: Bedeutungsgewinn abwirft? Und sollte Letzteres seinen Grund nicht einmal in den durch die Multilingualität potenzierten Problemen juristischer Rechtsarbeit haben? Die mit der mehrsprachigen Abfassung von Rechtstexten zwangsläufig entstehenden Bedeutungsdivergenzen und die damit verbundenen Folgen vor allem für die Rechtssicherheit, die auch Sicherheit bezüglich sprachlicher Bedeutung meint, lassen sich bezogen auf den gemeinten Begriff jedenfalls nicht beobachten. Hinsichtlich der sprachlichen Formulierung sind die jeweiligen Abfassungen des Vertrages über die Europäische Union (EU) ohne Unterschied. Während Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU den Beitritt zur Union prinzipiell für jeden „europäischen" Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze achtet, eröffnet, spricht der französische Wortlaut des EU von „Tout État européen qui respecte les principes énoncés à l'article 6, paragraphe 1". Der spanische Vertragstext will die Union offen halten für „Cualquier Estado europeo que respete los principios enunciados en el apartado 1 del articulo 1 Zur juristischen Methodik im Europarecht: Müller, Friedrich / Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Bd. II (Europarecht), Berlin 2003.
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6", wohingegen es im englischen heißt, dass „Any European State which respects the principles set out in Article 6(1)" der Union beitreten kann. Die italienische Fassung spricht schließlich von „Ogni Stato europeo che rispetti i principi sanciti nell'articolo 6, paragrafo l " . 2 Die Gründe dafür, dass man in der rechtswissenschaftlichen Literatur lange Zeit die nähere Konkretisierung des Attributes „europäisch" vernachlässigt hat, hängen demnach offensichtlich nicht mit den originär durch Mehrsprachigkeit verursachten Interpretationsschwierigkeiten zusammen. Die bisher nicht erfolgte begriffliche Konkretisierung lag aber auch nicht daran, dass das europäische Primärrecht hierfür keinen Anlass geboten hätte. Schon vor dem im Jahre 1992 geschlossenen Maastrichter Vertrag, der in seinem Artikel O bestimmte, dass jeder „europäische" Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, enthielten die Verträge der drei Gemeinschaften von Beginn an gleich lautende Bestimmungen.3 Allerdings warfen weder die bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums erfolgten Beitritte, noch die nach 1989 vorgenommenen Erweiterungen, die die ehemaligen Ostblockstaaten in die Union integrierten, Fragen hinsichtlich des „europäischen" Charakters der jeweils beigetretenen Staaten auf. 4 Umgekehrt scheint im Fall des Beitrittsantrages von Marokko, der von der Kommission am 14. Juli 1987 zurückgewiesen wurde, die Qualifizierung als nicht-europäischer Staat so offenkundig gewesen zu sein, dass auch hier kein Anlass zur genaueren Bestimmung der der Ablehnung zugrunde liegenden Norm gesehen wurde. 5 Schließlich scheint die Frage der Justiziabilität des Merkmals „europäisch" gleichfalls nicht geeignet, bei Juristen ein Präzisierungsinteresse zu wecken. Zwar führt, wie soeben erwähnt, die konkrete Auslegung des Tatbestandsmerkmals im Einzelfall dazu, dass ein von einem als nicht-europäisch qualifizierten Staat gestellter Antrag als unzulässig zurückgewiesen werden muss.6 Darüber hinaus unterliegt die Erfüllung der in Art. 49 EU genannten Voraussetzungen gemäß Art. 46 lit. e der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Allerdings hat der EuGH eine ex-ante Überprüfung des Beitritts potentieller Beitrittskandidaten ausdrücklich abgelehnt.7 Daneben scheint aber auch die theo-
2 Zum Aspekt der Mehrsprachigkeit in der juristischen Methodenlehre: Müller, Friedrich/ Christensen, Ralph, a. a. O., 22 ff., 205 ff. 3 Die Art. 237 Abs. 1 S. 1 EWGV, Art. 205 Abs. 1 S. 1 EAGV und Art. 98 Abs. 1 S. 1 EGKS V regelten je gesondert den Beitritt zu den einzelnen Gemeinschaften. 4 Zur Beitrittsgeschichte, siehe nur: Meng, Werner, in: von der Groeben, Hans / Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar EU/EG, Bd. 1, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 49 EUV Rn. 38-51. 5 Begründet wurde die Zurückweisung des Beitrittsantrages Marokkos von der Kommission ausdrücklich mit dem Hinweis darauf, dass Marokko nicht zum „europäischen Raum" gehöre. Die ablehnende Entscheidung der Kommission ist abgedruckt in: Europa-Archiv 1987,Z 207. 6 Nach: Langenfeld, Christine, Erweiterung ad infinitum? - Zur Finalität der Europäischen Union, ZRP 2005, 73, 73, war die Zurückweisung des Beitrittsantrages Marokkos „rechtlich geboten". Siehe hierzu auch: Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidungen und Beitrittsrecht, EuR 2002, 461, 464 ff.
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retische Möglichkeit einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle der Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen nicht geeignet, Hoffnungen auf eine Präzisierung des Merkmals „europäisch" zu generieren. Zum einen stehen einer derartigen Nachprüfung des Beitrittsvertrages, der zwar unter Beteiligung von Gemeinschaftsorganen geschlossen wird, letztendlich aber ein Vertrag zwischen den bisherigen Mitgliedstaaten und dem beitretenden Staat ist, prozessuale Hindernisse entgegen, zum anderen aber auch der durchgängig hervorgehobene große Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der an einem Beitrittsverfahren beteiligten Akteure.8 Erst die in der jüngsten Vergangenheit immer konkreter werdende Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union und die seit 1989 zumindest nicht mehr völlig auszuschließenden potentielle Beitritte von Ländern wie Russland, Weißrussland, Ukraine oder Georgien, scheinen die Diskussion um die Auslegung des bisher in der rechtswissenschaftlichen Literatur unterbelichtet gebliebenen Merkmals „europäisch" in Art. 49 EU angefacht und Bemühungen um dessen Präzisierung in Gang gesetzt zu haben.9
II. Die Voraussetzungen zum Beitritt der Europäischen Union Nach dem Vertrag von Amsterdam werden die materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Beitritt eines Staates zur Europäischen Union in Art. 49 Abs. 1 1. Hs. EU bestimmt. Danach kann jeder europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 EU genannten Grundsätze achtet, beantragen, Mitglied der Union zu werden. Art. 6 Abs. 1 EU, der auch als „Verfassungskern der Europäischen Union" 1 0 be7 EuGH, Rs. 93/78, Mattheus / Doego, Slg. 1978, 2203 Rn. 7 und 8. Zum tatsächlichen, politischen und rechtlichen Hintergrund dieser Entscheidung: Ehlermann, Claus-Dieter, Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft - Rechtsprobleme der Erweiterung, der Mitgliedschaft und der Verkleinerung, EuR 1984, 113, 114 ff. 8 Zu Überprüfung der Einhaltung der Beitrittsvoraussetzungen und zu den damit in Zusammenhang stehenden verfahrensrechtlichen Problemen: Pechstein, Matthias, in: Streinz, Rudolf, EUV/EGV, München 2003, Art. 49 EUV Rn. 15; Meng, Werner, in: von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar EU/EG, Bd. 1, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 49 EUV Rn. 54; Herrnfeld, Hans-Holger, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 49 EUV Rn. 16. Explizit zur Unzulässigkeit einer Nichtigkeitsklage: EuGH, verb. Rs. 31 und 35/86, LAISA, Slg. 1988, 2285 Rn. 18. 9 Bisher erschienene Arbeiten, die sich vertieft dem Begriff „europäisch" i. S. d. Art. 49 Abs. 1 EU widmen, sind: Dorau, Christoph, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736-753; Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidungen und Beitrittsrecht, EuR 2002, 461-482; Bruha, Thomas/Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997, 477-502. 10 So: Beutler, Bengt, in: von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Bd. 1, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 6 EUV Rn. 1. Calliess, Christian, Europa als Wertegemeinschaft, JZ 2004, 1033, 1040, spricht von der „„Geschäftsgrundlage" der Mitgliedschaft in der EU". Ähnlich auch: Straub, Thomas, Zum Verfassungsvertrag für Europa
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zeichnet wird, wiederum nennt die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Diese Grundsätze, auf denen die Union dem ersten Halbsatz des Art. 6 Abs. 1 E U nach beruht, sind gemäß dem zweiten Halbsatz dieses Artikels allen Mitgliedstaaten gemeinsam. 11 Weitere Voraussetzungen, die jeder potenzielle Beitrittskandidat erfüllen muss, finden sich in den so genannten Kopenhagener Kriterien, die am 22. Juni 1993 vom Europäischen Rat in Kopenhagen zur Vorbereitung der Osterweiterung beschlossen wurden, in deren Folge am 1. M a i 2004 Estland, Lettland, L i tauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern der Union beigetreten sind. Ihnen zufolge muss jeder Beitrittskandidat als Voraussetzung für die Mitgliedschaft „eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können." Nicht unmittelbar auf die politischen, ökonomischen und rechtlichen Strukturen in dem um Beitritt nachsuchenden Staat, sondern vielmehr auf die Union selbst bezogen, ist schließlich das vierte Kriterium, demzufolge die Aufnahme des Staates nicht den Erhalt der Stoßkraft der europäischen Integration gefährden und dem Beitritt der Türkei, in: StudZR 2005, 199, 200, demzufolge in Art. 6 Abs. 1 „die Identität der Union ihren normativen Kern" finde. Speer, Benedikt, Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, DÖV 2001, 980, 986, spricht von der „zentralen materiellen Norm des allgemeinen Unionsrechts", Nettesheim, Martin, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, in: Schwarze, Jürgen / Müller-Graff, Peter-Christian (Hrsg.), XX. FIDE-Kongress, Europarecht, Beiheft 1 (2004), 7, 67, hingegen von „einer der Kernbestimmungen des Unionsrechts". Als „wichtigste Bestimmung des gesamten Europarechts" wird Art. 6 Abs. 1 EU betrachtet von: Schmitz, Thomas, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte, in: Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert/Murswiek, Dietrich (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, Berlin 2005, 73, 83 f. 11 Der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), der ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten sollte, bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden jedoch nicht die erforderlichen Mehrheiten gefunden hat, normiert in Art. 1-2 S. 1 unter der Überschrift „Die Werte der Union" in leichter terminologischer Abwandlung und unter Hinzufügung neuer Gehalte, dass die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, sind. Gegenüber Art. 6 Abs. 1 EU hinsichtlich der Adressatenstellung ebenfalls leicht abgewandelt, bestimmt sodann Satz Art. 1-2 S. 2, dass diese Werte allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam sind, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
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darf. 12 Während sowohl Art. 6 Abs. 1 EU mit den dort genannten Rechtsprinzipien als auch die Kopenhagener Kriterien „in effect define institutionalized Europe in civic terms", d. h. auf der Grundlage von „western Europe's contemporary constitutional self-definition" 13, oszilliert die Interpretation des Merkmals „europäisch" zwischen verschiedenen Identitätskonstruktionen. In der Literatur lassen sich unter Außerachtlassung von gelegentlich zu beobachtenden Überschneidungen vier Interpretationsansätze ausmachen. Während die erste Position resignierend die Unbestimmbarkeit des Merkmals „europäisch" einräumt, greift die zweite Auffassung auf geographische Kriterien zurück. Ein dritter Definitionsversuch rekurriert auf religiöse, kulturelle und historische Spezifika, während die vierte Position schließlich darin besteht, interpretative Substantialisierungen durch religiös-kulturelle Bezüge, wie sie von der zuletzt genannten Auffassung vorgenommen werden, zurückzuweisen und bei der Auslegung von Art. 49 Abs. 1 EU statt dessen maßgeblich auf rechtlich-politische Elemente abzustellen. III. Position 1: Unbestimmbares Europa Aus dogmatisch-methodischer Sicht unbefriedigend, gleichwohl häufig anzutreffen, ist eine Haltung, die aus den semantischen Schwierigkeiten des Art. 49 EU eine resignative Konsequenz zieht. Die Vielfalt der konkurrierenden Bestimmungen der europäischen Eigenheiten, ihre Widersprüchlichkeit und Subjektivität sowie die rührende Hilflosigkeit entsprechender Konkretisierungsbemührungen nimmt man ernst und kapituliert. Einen Verbündeten findet man in Joseph Roth, der in seinem Buch „Die Flucht ohne Ende" eine abendliche Konversation schildert, die um die verzweifelte Suche nach den Gemeinsamkeiten der europäischen Kultur kreist. Der Protagonist der Erzählung, Franz Tunda, bittet die Anwesenden, ihm „präzise zu sagen, worin diese Kultur besteht, die Sie zu verteidigen vorgeben, obwohl sie gar nicht von außen angegriffen wird". Während „der Präsident, der niemals die Kirche besuchte" auf die Religion verweist, ist „die Dame, von deren illegitimen Beziehungen die Welt wusste", der Auffassung, dass die europäische Kultur „in der Gesittung" bestehe. Der „Diplomat, der seit seiner Schulzeit kein Bild betrachtet hatte", nennt die Kunst, „ein Herr namens Rappaport" sieht die europäische Kultur „in der Idee Europa" und der „Aristokrat begnügte sich mit dem Zuruf: Lesen Sie doch meine Zeitschrift!" Tunda durchschaut die Paradoxie, dass das repetitiv postulierte Bestehen der europäischen Gemeinschaft gerade der Beleg dafür ist, dass diese Gemeinschaft selbstverständlich nicht besteht, sondern 12 Europäischer Rat, Erklärung vom 21./22. Juni 1993, Bull. EG Nr. 6/1993, I. 13. Zu den Kopenhagener Kriterien, ihrer Rechtsnatur und ihrer Verbindlichkeit: Bruha, Thomas/ Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997, 477, 484 ff. 13 Wallace, William, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? The Transformation of the EU and NATO, 76 International Affairs 475, 486 (2000).
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vielmehr konstruiert werden muss: „Sie wollen", sagte Tunda, „eine europäische Gemeinschaft erhalten, aber sie müssten sie erst herstellen. Denn die Gemeinschaft ist ja nicht vorhanden, sonst würde sie sich schon selbst zu erhalten wissen. Ob man überhaupt irgend etwas herstellen kann, scheint mir ja sehr zweifelhaft. Und wer sollte übrigens diese Kultur, wenn sie noch da wäre, angreifen? Etwa der offizielle Bolschewismus? Der will sie ja auch in Russland"14 An anderer Stelle wird dem Protagonisten von seinem Bruder vorgeworfen, er habe „keine europäischen Anschauungen mehr", dass es andererseits „hier am Rhein" aber „noch ein paar alte Festungen der alten bürgerlichen Kultur" gebe. Deren „Traditionen reichen vom Altertum über das katholische Mittelalter, den Humanismus, die Renaissance, die deutsche Romantik." Tunda bleibt skeptisch und fragt: „Ist das europäische Kultur?", nicht ohne zu vergessen, „auf die Buddhas, die Polster, die breiten und tiefen Sofas, die orientalischen Teppiche" zu zeigen: „Ihr habt, scheint es mir, einige Anleihen gemacht. Deine Gäste haben heute einige Negertänze getanzt, die wahrscheinlich nicht im ,Parsifal' vorkommen. Ich verstehe nicht, wie Du noch von europäischer Kultur sprechen kannst. Wo ist sie? In den Kleidern der Damen? Hat der Fabrikant, der heute bei dir war, europäische Kultur? Er gefällt mir übrigens besser als die anderen, denn er verachtet euch. Diese alte Kultur hat tausend Löcher bekommen. Ihr stopft die Löcher mit Anleihen aus Asien, Afrika, Amerika. Die Löcher werden immer größer. Ihr behaltet die europäische Uniform, den Smoking und die weiße Hautfarbe und wohnt in Moscheen und indischen Tempeln. Wenn ich du wäre, würde ich einen Burnus tragen." „Wir machen ein paar Konzessionen", sagte der Kapellmeister, „nichts mehr. Die Welt ist kleiner geworden, Afrika, Asien und Amerika sind uns näher. Man hat zu allen Zeiten fremde Sitten übernommen und sie der Kultur eingefügt." „Wo aber ist die Kultur, der ihr sie einfügen wollt? Ihr habt ja lauter Attrappen einer alten Kultur. Sind die Studenten mit den farbigen und schlecht sitzenden Mützen alte deutsche Kultur? Ist es euer Bahnhof, dessen größtes Wunder es ist, dass Züge von ihm abgehen und in ihm ankommen? Ist Kultur in euren Weinstuben, wo man ,Ein rheinisches Mädchen4 singt, wenn man besoffen ist, und Charleston tanzt, wenn man nüchtern ist? Ist alte Kultur in euren trauten Giebeldächern, in denen Arbeiter wohnen, keine Handwerker, keine Goldschmiede, keine Uhrmacher, keine Meistersinger, sondern Proletarier, die in Bergwerken leben und in elektrischen Fahrstühlen zu Hause sind, aber nicht zwischen den unleserlichen gotischen Buchstaben? Das ist ja ein Maskenfest und keine Wirklichkeit! Ihr kommt ja aus den Kostümen nicht heraus!" 15 Natürlich werden die naive Rührigkeit jedes DefinitionsVersuches und die Nicht-Kommunizierbarkeit von Authentizität und Identität in der Rechtswissenschaft nicht in der Dramatik und Deutlichkeit zugegeben, wie Franz Tunda's Provokationen dies tun. Immerhin, ein Politologe schließt sich Joseph Roth an und erklärt das Merkmal „europäisch" i. S. d. Art. 49 EU zu einem „beliebigen Inklusi14 Roth, Joseph, Die Flucht ohne Ende, 4. Aufl., Köln 2001, 116 f. 15 A. a. O., 90 f.
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ons- und Exklusionsbegriff" 16. Die Einsicht aber, dass sich dieser Normbegriff definitorischer Bestimmbarkeit entzieht, dass er zu einer Vielzahl von Interpretationen Anlass gibt, welche auf unterschiedliche und mannigfache kulturelle Kriterien, historische Prägungen, religiöse Ursprünge und differente geographische Grenzbestimmungen Bezug nehme können, wird von einigen Rechtswissenschaftlern zumindest zum Anlass genommen, „beachtliche Schwierigkeiten hinsichtlich der juristisch handhabbaren Bestimmung des Begriffs ,europäischer Staat' 17 einzuräumen und festzustellen, dass „es weder einen feststehenden Inhalt noch eine zumindest oberflächliche Definition von ,Europa 418 gebe. Das mag von den wenigsten Autoren in dieser Deutlichkeit gesagt werden. Gleichwohl kann nur schlecht verdeckt werden, dass eine inhaltliche Präzisierung in genau dem Moment verweigert wird, in dem die Entscheidung, ob ein Staat „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU ist, letztlich dem Beurteilungsspielraum der politisch Verantwortlichen zugeschrieben wird. 19 Konsequenterweise wird von dieser Position aus die Frage, ob die Türkei als „europäischer" Staat zu qualifizieren ist, seit dem im Jahre 1963 geschlossenen Assoziationsabkommens zwischen der EWG und der Türkei als nicht mehr relevant erachtet. Dadurch, dass das Abkommen der Türkei im vierten Absatz der Präambel und in Art. 28 einen späteren Beitritt eingeräumt habe, sei die Türkei ohne Berücksichtigung der in der Literatur vorgenommenen Konkretisierungs- und Begrenzungsbemühungen ein „europäischer" Staat im Sinne des Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU. 2 0
16 So: Münkler, Herfried, Die politische Idee Europa, in: Delgado, Mariano/Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.), Herausforderung Europa, München 1995, 9, 10. 17 Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV, EuR 2002, 461, 465. Ähnlich auch: Tortarolo, Edoardo, Europa. Zur Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: Bogdandy, Armin von (Hrsg.), Die Europäische Option, Baden-Baden 1993, 21, 21 und 22. 18
Dorau, Christoph, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736, 736. 19 So ausdrücklich: Vedder, Christoph, in: Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, München 2000, Art. 49 EUV Rn. 8; Bitterlich, Joachim, in: Lenz, Carl Otto/Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl., Köln 2003, Art. 49 EUV Rn. 1; Herrnfeld, Hans-Holger, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 49 Rn. 3; Geiger, Rudolf, EUV/EGV, 3. Aufl., München 2000, Art. 49 EUV Rn. 4; Meng, Werner, in: von der Groeben, Hans / Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar EU /EG, Bd. 1, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 49 EUV Rn. 53, jedenfalls für „Grenzfälle" „an den Randgebieten Europas"; Streinz, Rudolf, Europarecht, 6. Aufl., Heidelberg 2003, Rn. 78; Iliopoulos, Constantin, Rechtsfragen der Osterweiterung der EU unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Republik Zypern, EuR 2002, 637, 639; Böllmann, Felix, Aktuelle Entwicklungen im Rahmen der Assoziation der Türkei mit der EU, ZEuS 2003, 643, 654; Straub, Thomas, Zum Verfassungsvertrag für Europa und dem Beitritt der Türkei, in: StudZR 2005, 199, 201. Auch Bruha, Thomas/Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997, 477, 482, sind scheinbar dieser Auffassung, wenden andererseits aber gegen Herfried Münkler's Formulierung vom „beliebigen Inklusions- und Exklusionsbegriff" ein, dass das Antragserfordernisses des „europäischen" Staates „nun einmal im Vertrag [steht], so dass ihm die normative Bedeutung nicht ohne weiteres abgesprochen werden kann." Siehe: a. a. O., 480.
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IV. Position 2: Geographisches Europa Gegen einen derartigen Dezisionismus, dem Juristen, die methodisch kapitulieren, Vorschub leisten, wendet sich ein Interpretationsansatz, der zur Konkretisierung des Merkmals „europäisch" in Art. 49 Abs. 1 S. 1 EU allein oder wenigstens maßgeblich auf geographische Kriterien abstellt.21 Durch den interdisziplinären Bezug wird versucht, dem semantischen Streit um die angemessene Auslegung der Norm zu entkommen und das Merkmal „europäisch" zu konkretisieren. Legt man die eingangs erwähnten methodischen Auslegungsarten zugrunde, lässt sich diese Vorgehensweise am ehesten den empirischen Argumenten 22 zuordnen.
1. Geographische Bestimmungsversuche
Für die Zulässigkeit eines auf Beitritt gerichteten Antrages entscheidend auf geographische Kriterien abzustellen, macht im Interesse der Bestimmung des Bedeutungsgehaltes des Art. 49 Abs. 1 EU nur Sinn, wenn überhaupt geographische Grenzen Europas genannt werden. Unzureichend ist es deshalb, einen Staat dann als „europäisch" zu qualifizieren, wenn dieser „nur mit einem kleineren Teil seines Gebietes geographisch in Europa liegt oder sich in einer Randlage zum geographischen Kontinent befindet" 23 oder wenn man umgekehrt die Mitgliedschaft solcher Staaten ausschließt, „die zur Gänze außerhalb Europa liegen" 24 . Auch wenn festgestellt wird, dass die „Mitgliedschaft der Türkei in der EU deren Ausdehnung nach Asien" bedeuten würde, weil „nicht mehr als drei Prozent des Staatsgebietes" der Türkei „geographisch zu Europa gehört", sie sich andererseits aber „über 1500 Kilometer auf asiatisches Gebiet" erstreckt und deshalb „mit dem Beitritt der Türkei aus der Europäischen Union eine europäisch-kleinasiatische Union" 25 würde, 20 Vedder, Christoph, in: Grabitz, Eberhard / Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, München 2000, Art. 49 EUV Rn. 11; Oppermann, Thomas, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, § 32 Rn. 31; Ehlermann, Claus-Dieter, Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft - Rechtsprobleme der Erweiterung, der Mitgliedschaft und der Verkleinerung, EuR 1984, 113, 114. Ausführlich zu den Beziehungen zwischen der Türkei und der Union: Sen, Faruk, Probleme und Perspektiven der Türkei auf dem Weg in die Europäische Union, ZAR 2003, 3 - 7 ; ders., Die Türkei zu Beginn der EU-Beitrittspartnerschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B13-14/2001, 27-38, jeweils m. w. N. 21 Klein, Eckart, in: Hailbronner, Kay u. a. (Hrsg.), Handkommentar EUV/EGV, Köln u. a. 1994, Art. O Rn. 8; Oppermann, Thomas, Europarecht, 3. Aufl., München 2005, §32 Rn. 8; Beutler, Bengt u. a., Die Europäische Union, 5. Aufl., Baden-Baden 2001, Rn. 64; Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV, EuR 2002, 461, 466. 22 Speziell hierzu: Müller, Friedrich / Christensen, Ralph, a. a. O., 85 ff.; in technischen Termini die Analyse von Sachbereich bzw. Normbereich. 23 Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidungen und Beitrittsrecht, EuR 2002, 461, 466 f. 24 Richter, Pascal, Die Erweiterung der Europäischen Union, Baden-Baden 1997, S. 26 f. 2 5 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Nein zum Beitritt der Türkei, FAZ vom 10. 12. 2004, S. 35.
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lassen sich die genauen geographischen Grenzen Europas nur erahnen. Präziser ist es, wenn behauptet wird, dass Europa im Westen, Norden und Süden seine „natürliche Grenzen in den Meeren" 26 , d. h. im Atlantik und seinen Nebenmeeren bzw. im Mittelmeer, finde. Im Osten und Südosten, wo man Grenzbestimmungen als problematisch und offen ansieht, kommt man immerhin, bei allen Zugeständnissen an den konstruktiven Charakter von Grenzziehungen und ihrer geschichtlichen Kontingenz, zu auch für das Recht relevanten „Standbildern des historischen Prozesses" in geographischer Hinsicht: Während man sich im Osten mit einer seit dem 18. Jahrhundert weithin geteilten Konvention hilft und den Ural als Grenze Europas ausmacht,27 sollen als „natürliche Südostgrenze zwischen Europa und Kleinasien [ . . . ] die Dardanellen, das Marmarameer und der Bosporus" 28 gelten.
2. Probleme einer geographischen Bestimmung
Die geographische Bestimmung des Merkmals „europäisch" leidet daran, dass sie den konstruktivistischen Virus, der die Geographie infiziert hat, nicht ernst genug nimmt. Sicherlich können sich tief wurzelnde konventionelle Überzeugungen herausbilden, aber diese „imaginary lines in mental maps are movable, given changing circumstances, political leadership and time" 29 . Geopolitische Landkarten mögen sich im Bewusstsein von Menschen festsetzen und dadurch wirkungsmächtig werden, aber sie sind niemals unumstritten, bleiben hochgradig flexibel und abhängig von geographischen Kenntnissen, sich wandelnden politischen Konstellationen, Interessen und Zwecken sowie von philosophischen, geschichtlichen, religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Auffassungen. 30 Gerade ihr artifiziel26
Isensee, Josef, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 103, 106. 27 So beispielsweise: Isensee, Josef, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 103, 106; Murswiek, Dietrich, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: Böhmer, Jürgen u. a. (Hrsg.) Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte (FS Ress), Köln u. a. 2005, 657, 660 f. 28 Murswiek, Dietrich, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: Böhmer, Jürgen u. a. (Hrsg.) Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte (FS Ress), Köln u. a. 2005, 657, 660 f. Ähnlich auch: Blanke, Hermann-Josef, Erweiterung ohne Vertiefung? Zur „Verfassungskrise" der Europäischen Union, EuR 2005, 787, 797 f. 29 Wallace, William, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris? The Transformation of the EU and NATO, 76 International Affairs 475,483 (2000). 30 Siehe nur die faszinierende Darstellung der Vielfalt geographischer Definitionsversuche bei: Schultz, Hans-Dietrich, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie, Claus (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Frankfurt a.M. 1994, 39-53. Ebenfalls aufschlussreich hierzu die zahlreichen, die Unabschließbarkeit der geographischen Bestimmung Europas belegenden Wortmeldungen in: Körber-Stiftung (Hrsg.), Europa - aber wo liegen seine Grenzen? (104. Bergedorfer Gesprächskreis), Hamburg 1995, vor allem: 14, 16, 18, 53, 60 und 68. Zur politischen Instrumentalisierung geographischer Aussagen, siehe schließlich auch: Schultz, Hans-Dietrich, Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas" in der deutschen Geographie, in: 5 Europa Regional, 2 - 1 4 (1997).
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ler und voluntaristischer Charakter erlaubt es, sie instrumentalistisch und zweckorientiert zu benutzen und zu missbrauchen. Dass zeigt nicht zuletzt die vielfach wiederholte Behauptung, die Ostgrenze Europas bilde der Uralfluss bzw. das Uralgebirge. Aufgestellt wurde diese These erstmals von dem russischen Historiker und Geographen Wassilij Tatischtschew. Ihren motivationalen Hintergrund fand die These jedoch nicht in gesicherten geographischen Erkenntnissen, vielmehr beteiligte sich Tatischtschew an einem öffentlichen Diskurs über die Frage, ob Russland zu Asien oder zu Europa gehört. Seine Behauptung, der Ural bilde die Grenze zu Asien, sollte der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Auffassung entgegenwirken, der Moskauer Staat und seine Erben gehörten zu Asien. Tatischtschew's These mag sich aktuell in der Wahrnehmung vieler Beobachter durchgesetzt habe, gleichwohl bleibt sie, wie der Historiker Jürgen Kocka feststellt, „willkürlich: eine wenig begründete, wenig belastbare Konvention." 31 Nichts verdeutlicht dies mehr, als ein Einblick in die von Geographen seit dem 16. Jahrhundert gezogenen Ostgrenzen, deren Schwankungsbereich zwischen ca. 80 Längengraden lag und die von den Rokitno-Sümpfen östlich des Bug bis jenseits des Jenisseij reichten. 32 Neben der immer als problematisch erachteten Ostgrenze Europas erweisen sich aber auch vermeintlich sichere Grenzmarkierungen, wie beispielsweise das Mittelmeer als südliche Grenze Europas, nicht als naturgegeben, sondern als Grenzen, die in Frage gestellt und mit alternativen topographischen Narrationen konfrontiert werden. 33 „Natürliche Grenzen" kommen in der Terminologie der modernen länderkundlichen Geographie, wenn überhaupt, nur noch bezogen auf von Meeren umgebene Kontinente vor. 34 Der um Klärung des Merkmals „europäisch" bemühte Jurist, der Halt und Sicherheit bei den Geographen sucht, greift tatsächlich auf eine wissenschaftliche Disziplin zurück, die sich von essentialistischen Raumkonzepten verabschiedet und sich einem konstruktivistischen Raumverständnis geöffnet hat.
31 Kocka, Jürgen, Die Grenzen Europas, in: Folke Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf/ Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 275, 282. 32 Schultz, Hans-Dietrich, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie, Claus (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Frankfurt a.M. 1994, 39, 42; ders., Erdteilindividuum oder Konstrukt? Das geographische Europa, in: Wetter, Ingo (Hrsg.), Die Europäische Union und die Türkei, Hamburg 2006, 39, 50. Siehe hierzu auch: Dorau, Christoph, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736, 738 f. 33 So betonte beispielsweise der preußische Offizier und Geograph Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstern nicht den trennenden, sondern den verbindenden Charakter des Mittelmeeres und rechnete zu Europa neben der Nordküste Afrikas alle Territorien bis zum Indus, Amu, Tobol und Ob. Siehe: Rühle von Lilienstern, Johann Jakob Otto August, Der Wechsel der politischen Grenzen und Verhältnisse von Europa während der letzten Jahrzehende, Dresden / Leipzig 1811, S. 62 f. 34 Und selbst der Begriff des Kontinents scheint in der Geographie nicht unumstritten, muss doch zur Abgrenzung gegenüber „Inseln", die ebenfalls von Meeren umgeben sind, auf immer auch anders quantifizierbare Größenverhältnisse abgestellt werden. Hierzu: Schultz, Hans-Dietrich, Erdteilindividuum oder Konstrukt? Das geographische Europa, in: Wetter, Ingo (Hrsg.), Die Europäische Union und die Türkei, Hamburg 2006, 39, 41, mit weiteren Nachweisen.
Auslegung des Begriffs „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 E U V 9 1
Fokussiert werden nicht „natürliche Grenzen", sondern unter welchen Bedingungen Raumkonzepte in einer Gesellschaft diskursiv produziert, verbreitet und durchgesetzt werden, wie bestimmte Raumvorstellungen entstehen und wieder vergehen, weil sie durch alternative oder ganz andere Raumkonzepte ersetzt werden. Die Vorstellung, bestimmte Grenzen, die immer schon da sind und nur auf ihre ,Entdeckung' warten, würden ,gefunden', hat sich in der klassischen Geographie hinreichend diskreditiert: „Interessierte früher, wer,wirklich' dazugehörte und wer nicht, so heute nur noch: Wer hat wen aus welchen Gründen (resp. Interessen) wo platziert?" 35 Bestätigung finden jener geographische Konstruktivismus, die Artifizialität jeder Grenzziehung und die Instrumentalisierung geographischer Argumente gerade unter Berücksichtigung der von Widersprüchen gekennzeichneten (Erweiterungs-)Geschichte der Europäischen Union. So ist mit der Geographie allein nicht zu erklären, warum Zypern, das nur 200 Kilometer von der Küste des Libanon entfernt ist, südlicher liegt als Algier oder Tunis und östlicher als Kiew, ohne Debatte geographischer Kriterien Mitglied der Union wurde. Ohne dass geographisch begründete Zweifel aufkamen, gehörten darüber hinaus das damals noch kolonisierte Algerien sowie die überseeischen französischen Departements Guadeloupe, Martinique und Réunion seit ihrer Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an. Die rechtlich-politisch zu Spanien gehörenden Kanaren wiederum werden von Geographen zumeist dem afrikanischen Kontinent zugeordnet. 36 All dies verstärkt nicht nur den Eindruck, dass die Mitgliedstaaten, „wenn opportun, die Geographie beiseite schieben und sich an anderen Gesichtspunkten orientieren" 37. Es verdeutlicht vor allem, dass es nicht möglich ist, vermittels geographischer Erkenntnisse eine auch nur annähernde Eindeutigkeit darüber zu erlangen, wo die Grenzen des „Europäischen" verlaufen. 38 Aber selbst 35 Schultz, Hans-Dietrich, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie, Claus (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Frankfurt a.M. 1994, 39, 39 ff., vor allem 52 f.; ders., Erdteilindividuum oder Konstrukt? Das geographische Europa, in: Wetter, Ingo (Hrsg.), Die Europäische Union und die Türkei, Hamburg 2006, 39, 84 ff.; ders, Europa als geographisches Konstrukt, Jena 1999. 36
Zu solchen und anderen geographischen Merkwürdigkeiten: Wallace, William, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris?, 76 International Affairs 475, 483 f.
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Oppermann, Thomas, Die Grenzen der Europäischen Union oder das Vierte Kopenhagener Kriterium, in: Gaitanides, Charlotte / Kadelbach, Stefan, Rodriguez Iglesias, Gil Carlos (Hrsg.), Europa und seine Verfassung (FS Zuleeg), Baden-Baden 2005, 72, 74 f., der unter Bezugnahme auf das geographische Kriterium von „Voluntarismus" und einer „Politisierung der Beitrittspraxis" spricht und festhält, „dass die Geographie Europas und „europäischer Staat" im Sinne von Art. 49 EUV wenig miteinander zu tun haben." 38 Ebenso: Bogdandy, Armin von, Konturen des integrierten Europas, Europa-Archiv 1993, 49, 56; Bruha, Thomas/Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997, 477, 481; Dorau, Christoph, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736, 738 f. und 750. Aus historischer Perspektive ebenfalls sehr deutlich: Smith, Anthony D., National Identity and the Idea of Eu-
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wenn man den konstruktiven Charakter geographischer Aussagen und die damit einhergehende Variabilität jeglicher Grenzziehung einmal beiseite lässt, gewinnen geographische Argumente für die Bestimmung der Grenzen der Europäischen Union keine Plausibilität. Unbeantwortet bleibt dann nämlich immer, warum den Konturen der Erdoberfläche eine normative Bindungswirkung für politische Grenzziehungen zukommen soll. Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit bestimmen sich nicht nach politische Entscheidungen determinierenden geographischen Einsichten, sondern werden abhängig gemacht von ökonomischen, geostrategischen und politischen Interessen.
V. Position 3: Kulturelles Europa Bereits die geographische Bestimmung Europas erzeugt vielfältige kulturbezogene Assoziationen, auch wenn diese aufgrund der vermeintlich naturwissenschaftlichen Objektivität topographischer Aussagen häufig nicht gleich zu erkennen sind. Dass Letztere mehr transportieren „als nur eine Adressenangabe"39 und Adjektive wie „asiatisch" oder „europäisch" Vorurteile und (Ab-)Wertungen enthalten, lässt sich nicht nur der geschichtlichen Geographie entnehmen, in der sich von Kausalitätsbehauptungen zwischen den geographischen Eigenschaften eines Raumes und dadurch bedingten kulturellen Prägungen der dort lebenden Menschen über fragwürdige Schlussfolgerungen von einer geographischen Ontologie auf politische Raumordnungen bis hin zu missbräuchlichen Instrumentalisierungen geographischer Raumkonzepte für imperiale Machtansprüche vielfach Behauptungen kultureller Hegemonie finden lassen.40 Jenseits der jeweils gezogenen Ostgrenze fand man nicht nur physisch-geographische und klimatische Differenzen, die zur Begründung der Grenzziehung unmittelbar herangezogen wurden. Aufgrund der angeblich natürlichen Interdependenz zwischen der jeweiligen Landesnatur einerseits und dem Denken, Handeln und Fühlen der Bewohnerinnen andererseits kam man auch schnell zu kulturellen Dichotomisierungen und Diskriminierungen. Östlich des Urals, in der „Brutalität des großen Raumes"41, konnten die dort lebenden Völropean Unity, 68 International Affairs (1992), 55, 68 f.: „lack of any serious geographical barriers". Grenzziehungen, so Smith a. a. O., seien „historical claims, not geographical ,facts 4". 39 Schultz, Hans-Dietrich, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie, Claus (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Frankfurt a.M. 1994, 39, 53. 40 Zum Zusammenhang zwischen geographischen Konstrukten, narzisstischer Hybris und hegemonialen Ansprüchen: Schultz, Hans-Dietrich, Die Türkei: (k)ein Teil des geographischen Europas?, in: Leggewie, Claus (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Frankfurt a.M. 1994, 39-53; ders., Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese „Mitteleuropas" in der deutschen Geographie, in: 5 Europa Regional, 2 - 1 4 (1997); ders., Erdteilindividuum oder Konstrukt? Das geographische Europa, in: Wetter, Ingo (Hrsg.), Die Europäische Union und die Türkei, Hamburg 2006, 39, 46 ff., besonders 70 ff. 41 So der Geograph Hugo Hassinger unter dem Stichwort „Europa", in: Ewald Banses Lexikon der Geographie, Bd. 2, Braunschweig / Hamburg 1923, 412. Die konstatierte Weite und
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ker mit Attributen wie Schwerfälligkeit, Gleichgültigkeit, Melancholie und Untertanengeist beschrieben werden. Während im Westen Gerechtigkeit, Freiheit und die Idee des Individuums herrschten, zeichneten sich die politischen Systeme des Ostens durch Kollektivismus, Tyrannei und barbarische Machtausübung aus. Während der Westen rational, wissenschaftsorientiert und fortschrittlich erschien, sowie über ein flexibles, auf gesetzten Normen bestehendes Rechtsystem verfügte, charakterisierte man den Osten unter Rückgriff auf eine krude Anthropogeographie als abergläubisch und rückständig, versehen mit einem schwerfälligen, auf tradiertem Gewohnheitsrecht beruhenden Rechtssystem.42
1. Kulturelle Bestimmungs versuche
In der Rechtswissenschaft vermeiden Autoren, die die Grenzen Europas über historisch-kulturelle Gemeinsamkeiten zu definieren versuchen, zwar jene diskriminierenden Untertöne. Der Rückgriff auf religiöse, geschichtliche oder kulturelle Kriterien, auf die zur Begründung der Grenzen der Europäischen Union zurückgegriffen wird, ist hingegen häufig zu beobachten. Ein Staat, so die in der rechtswissenschaftlichen Literatur wohl vorherrschende Interpretation, sei dann „europäisch" im Sinne des Art. 49 EU, wenn meist unbestimmt bleibende „historischkulturelle und geistesgeschichtliche Aspekte" 43 gegeben sind. Negativ formuliert müsse die Europäische Union „dort ihre Grenzen finden, wo die Gemeinsamkeit der Völker zu stark abnimmt, dort wo die historisch-kulturelle europäische Identität der Menschen und Völker nicht mehr in ausreichendem Maße besteht."44 KonkretiEinförmigkeit Russlands nahm auch der Schweizer Geograph Peter Heinrich Schmidt zum Anlass, den dort lebenden Menschen Schwermut und eine Maßlosigkeit „in Zielen und Handlungen" zuzuschreiben. Siehe: Schmidt, Peter Heinrich, Europa. Natur und Schicksal eines Erdteils, Zürich 1945, 299 ff. Zumindest semantisch nicht weit davon entfernt ist: Isensee, Josef, Europäische Union - Mitgliedstaaten. Im Spannungsfeld von Integration und nationaler Selbstbehauptung, Effizienz und Idee, in: Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Europa - Idee, Geschichte, Realität, Mainz 1996, 71, 97, wenn er schreibt, dass „die kleine Halbinsel Europa von der Ländermasse Asiens" zu unterscheiden ist. 42 Zu kulturellen Dichotomisierungen und Diskriminierungen, siehe die hierfür immer noch maßgebende Arbeit von: Said, Edward, Orientalism, 1979. Darüber hinaus: Gellner, Ernest, The Turkish Option in Comparative Perspective, in: Bozdogan, Sibel / Kasaba, Re§at (eds.), Rethinking Modernity and National Identity in Turkey, Seattle: Washington University Press (1997), 233-243; Paddock, Troy, Creating an Oriental Feindbild, Central European History 29 (2006), 214-243. 43 Langenfeld, Christine, Erweiterung ad infinitum? - Zur Finalität der Europäischen Union, ZRP 2005, 73, 73. 44 Dorau, Christoph, Die Öffnung der Europäischen Union für europäische Staaten, EuR 1999, 736, 751. Ebenso: Meng, Werner, in: von der Groeben, Hans / Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar EU/EG, Bd. 1, 6. Aufl., Baden-Baden 2003, Art. 49 EUV Rn. 55, demzufolge die Annahme, ein Beitrittskandidat sei ein „europäischer Staat" im Sinne des Art. 49 EU gleichbedeutend ist mit der „Bejahung der kulturellen Gemeinsamkeit". Nach: Herrnfeld,
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sierungen lassen sich insbesondere in der kontrovers geführten Diskussion über einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union finden, in der die im Außerrechtlichen wurzelnden substantiellen Gemeinsamkeiten bemüht werden, um die Grenzen Europas zu bestimmen. Immer wieder genannte Anknüpfungspunkte bilden die griechische Philosophie und Mythologie, das römische Recht, das Christentum (häufig jedoch unter Ausschluss von dessen orthodoxen Abspaltung), die Machtkämpfe zwischen katholischer Kirche und weltlichen Machthabern, die Reformation und Gegenreformation, die Epochen der Renaissance und des Humanismus, die Säkularisierung und Aufklärung, der europäische Rationalismus und die Entstehung der Wissenschaften, die industrielle Revolution, sowie der Individualismus, die rechtsstaatlich-demokratische Organisation politischer Herrschaft und die Herausbildung der Menschenrechte in der Moderne. Aus diesem Amalgam widerspruchsfrei gedachter Einflüsse und Prägungen, Ideen und Entwicklungen wird in verkürzter Form das Modell eines die nationalen Unterschiede überwölbenden „lateinischen Europa". 45 Vor dem Hintergrund einer solchen Interpretation des Art. 49 EU überrascht es nicht, dass bezüglich der Argumente für die Ablehnung eines Beitritts der Türkei nicht auf die unzureichende Umsetzung rechtlicher Anforderungen, auf makroökonomische Defizite oder auf die Schwächung der institutionellen Handlungs- und Funktionsfähigkeit der Union, sondern statt dessen auf eine diffus bleibende „soziokulturelle Verfassung" 46, die sich aus religiösen, historischen und kulturellen Bezügen zusammensetzt, abgestellt wird. Das Tatbestandsmerkmal „europäisch" markiert demnach nicht weniger als einen „europäischen Kulturkreis". Wer diesem nicht angehört, weil er nicht teilhat an der „historisch-kulturellen Identität Europas" 47, bleibt ausgeschlossen. Im Ergebnis Hans-Holger, in: Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 49 Rn. 3, kommt es zwar einerseits auf die „Kultur- und geistesgeschichtlich bedingte Zugehörigkeit zur europäischen Wertegemeinschaft" an, andererseits wird aber betont, dass die „Beurteilung der Erfüllung des Beitrittskriteriums „europäisch" [ . . . ] letztlich der politischen und auch politisch zu verantwortenden - Entscheidung der Mitgliedstaaten" obliegt. 45 Siehe beispielsweise: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Nein zum Beitritt der Türkei, FAZ vom 10. 12. 2004, S. 35 und 37; Isensee, Josef, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 103, 104, passim; ders., Europäische Union - Mitgliedstaaten. Im Spannungsfeld von Integration und nationaler Selbstbehauptung, Effizienz und Idee, in: Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.), Europa - Idee, Geschichte, Realität, Mainz 1996, 71, 97; ders., Integrationsziel Europastaat, in: Due, Ole/Lutter, Marcus / Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 1, Baden-Baden 1995, 567, 585 und 591; Kirchhof Paul, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee, Josef (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 63, 66; Blumenwitz, Dieter/Gornig, Gilbert/Murswiek, Dietrich, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2, 6. 4
6 Isensee, Josef, Nachwort, in: ders. (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, Berlin 1993, 103, 121. 47 Murswiek, Dietrich, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: Böhmer, Jürgen u. a. (Hrsg.) Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte (FS Ress), Köln u. a. 2005, 657, 683.
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liegt die „semantische Verfügung über das, was je als Europa bezeichnet wurde" 48 bei denen, die über eine privilegierte Einsicht in die religiösen, kulturellen und geschichtlichen Spezifika Europas verfügen.
2. Probleme einer kulturellen Bestimmung
Abgesehen davon, dass die den christlich-abendländischen Kulturkreis markierenden Aufzählungen bestimmte historische Erfahrungen und geistesgeschichtliche Strömungen, die zu Unterdrückung, Verfolgung, Krieg und Massenvernichtung geführt haben, meist stillschweigend ausblenden oder solche „bitter experiences" 49 unter pathetischen Beschwörungen europäischer Höchstkultur verloren gehen, begegnen Bestimmungsversuche einer gemeinsamen europäischen kulturellen Grundlage erheblichen Bedenken. Vermögen schon die geographischen Definitions- und Begrenzungsversuche keine feststehenden und stabilen Konturen des in Art. 49 Abs. 1 EU angesprochenen Europas zu vermitteln, „so verschwimmen die Konturen einer historisch-kulturellen Definition vollends." 50 Ihre semantische Unbestimmtheit erscheint zum einen grenzenlos, zum anderen verdecken sie mit ihrer holistischen Art Widersprüche, Diskontinuitäten, Flexibilitäten, Ambivalenzen und Interdependenzen im Sinne gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung. Sie suggerieren Eindeutigkeit, Kontinuität sowie die Möglichkeit klarer Grenzziehungen und postulieren entgegen zu beobachtenden kulturbezogenen Internationalisierungs- als auch Nationalisierungstendenzen scheinbar hermetisch geschlossene, über eine gemeinsame Kultur, Religion und Geschichte konstituierte „Kulturkreise", gerade so als seien die genannten Einzelprägungen frei von Antagonismen und stünden vielmehr in einem Zustand der inhaltlichen Kompatibilität. 51 Mühsame Konkretisierungen der beschworenen spezifisch europäischen Kultur werden weitgehend gemieden, die kulturelle Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit innerhalb der nunmehr angeblich homogen strukturierten Gesellschaften der Mitglied48 Münkler, Herfried, Die politische Idee Europa, in: Delgado, Mariano/Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.), Herausforderung Europa, München 1995, 9, 10. 49 Zur Nichtberücksichtigung der „bitter experiences": Joerges, Christian, On the Disregard for History in the Convention Process, European Law Journal, Vol. 12, No. 1, January 2006, 2 - 5 , der, a. a. O., 5, festhält: „The historical indifference of the convention meant that the strongest legitimating basis for the drive towards European unity remained unexploited." Hierzu auch die Beiträge in: ders. / Ghaleigh, Navraj Singh (eds.), Darker Legacies of Law in Europe: The Shadow of National Socialism and Fascism Over Europe and Its Legal Traditions, Hart 2003. 50 Bruha, Thomas / Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997,477,481. 51 Zur Widersprüchlichkeit zwischen den einzelnen Traditionssträngen, auf die immer wieder rekurriert wird: Denninger, Erhard, Integration und Identität. Bitte um etwas Nachdenklichkeit, KJ 2001, 442, 443; Hettlage, Robert Euro-Visionen. Identitätsfindung zwischen Region, Nation und transnationaler Union, in: ders./Deger, Petra/Wagner, Susanne (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 320, 339.
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Staaten, die oftmals als „Sprengstoff und Spaltpilz fungieren" 52, werden eingeebnet oder geleugnet.53 Meist wird nicht einmal der jeweils verwendete Begriff der „Kultur" selbst einer näheren Klärung zugeführt, obgleich Schwierigkeiten, „emanating from the inherent polysemy of the term and the variety of doctrinal approaches to cultural phenomena"54, unübersehbar sind. 55 Wenn man allerdings über das Merkmal „europäisch" in Art. 49 Abs. 1 EU außerrechtliche Aspekte zur Voraussetzung des Beitritts eines Kandidaten macht und als antragsberechtigt nur solche Staaten gelten lassen will, die an einer angeblich maßgeblichen kulturellen Substanz teilhaben, müsste man zumindest den Versuch einer genaueren Bestimmung des „Zauberwortes Kultur" 56 wagen. Selbst wenn man aber eine begriffliche Klärung leisten könnte, würden im nächsten Schritt unvermeidlich inhaltliche Differenzen zwischen unendlich vielen Erzählungen offenbar. Unbestrittene Narrationen, die auf religiöse, kulturelle oder historische Faktoren rekurrieren und die Grenzen der Union zwingend festlegen, lassen sich, das zeigt in beeindruckender Weise die gesamte Diskussion über den Beitritt der Türkei, nicht identifizieren. Aus dem undurchdringlichen und immer umkämpften Geflecht vielfältiger symbolischer und materieller Praktiken, das jede komplexe Gesellschaft kennzeichnet, lässt sich „nicht die eine Kultur, ein kohärentes System der Überzeugungen, Sinngehalte, Symbolisierungen und Praktiken, das sich „über das gesamte Spektrum menschlicher Aktivitäten" erstrecken würde" entnehmen. Statt dessen stößt man auf „mannigfaltige
52 Kocka, Jürgen, Die Grenzen Europas, in: Folke Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf/ Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 275, 284. 53 Zu diesen Argumenten, insbesondere auch zur erwähnten Internationalisierung bzw. Nationalisierung von Kultur, siehe: Joas, Hans/Mandry, Christof, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft, in: Folke Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf/Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 541, 541 f. Sehr aufschlussreich hierzu auch: Tortarolo, Edoardo, Europa. Zur Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: Bogdandy, Armin von (Hrsg.), Die Europäische Option, Baden-Baden 1993, 21, 21 ff.; Wallace, William, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris?, 76 International Affairs 475, 483 ff.
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So zutreffend und mit weiteren Nachweisen: Mitsilegas, Valsamis, Culture in the Evolution of European Law, in: Fitzpatrick, Patrick/Bergeron, James Henry (eds.), Europe's Other, Ashgate-Dartmouth (1998), 111, 120. 55
Bereits im Jahre 1952 wurden von: Kroeber, Alfred L. / Kluckhohn, Clyde, Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, Harvard University Peabody Museum of American Archeology and Ethnology Papers, Vol. 47 No. 1, für das Wort „Kultur" nicht weniger als 300 verschiedene Definitionen gezählt. Aus neuerer Zeit, siehe hierzu: Luhmann, Niklas, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt 1995, 31, 31 ff. 56 Nassehi, Armin, Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die „multikulturelle Gesellschaft", in: ders. (Hrsg.), Nation, Ethnie, Minderheit, Wien 1997, 177, 184 ff., der zwar einräumt, dass es „sich bei Kultur doch ohne Zweifel um einen soziologischen Grundbegriff' handelt, dieser aber „schon aufgrund seiner Ubiquität kaum eine Chance auf Eindeutigkeit hat." Offenbar, so Nassehi a. a. O. weiter, „ist es wenig aussichtsreich, nach der exakten Bedeutung, sozusagen nach der ontologischen Verfassung des Phänomens Kultur zu fragen."
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und rivalisierende kollektive Erzählungen und Bedeutungsmuster, die sich nicht an Institutionen binden lassen"57. Beschwört man pathetisch „die" europäische Kultur und zieht diese zur Grenzziehung heran, was meint man dann? Meint man „die Hochkultur von Theater, Musik und Bildender Kunst oder die institutionalisierte Populärkultur aus Vorabendserien, Markenprodukten und Musikstilen vom Techno über Hiphop bis Rap? Oder eher so etwas wie die europäische Rechtskultur und die basale Gesellschaftsform mit ihrem spezifischen Zueinander von Individuum und Gemeinschaft und einer ausgeprägten, eben europäischen Zivilität? Bei allen diesen Beispielen ist zweifelhaft, inwiefern sie dazu geeignet sind, eine europäische Kulturgemeinschaft zu beschreiben. Denn diese Vorstellung scheint doch zu implizieren, dass eine bestimmte Menge an kulturellen Bestandteilen zu identifizieren ist, die „Europa" innerlich auszeichnet und zugleich in seiner Eigenart nach außen abgrenzt. Aber so wie die Populärkultur bereits weitgehend internationalisiert ist und ihre Vorbilder und Stilprägungen grundsätzlich von überall bezieht, vorwiegend jedoch aus den USA und aus Fernost, so ist andererseits die „Hochkultur" seit dem Zeitalter der Nationalstaaten weitgehend national ausgerichtet. Spiegeln sich in diesen Hochkulturen nicht mindestens ebenso viele Gemeinsamkeiten wie Unterschiede, ja auch innereuropäische Angrenzungen, weil die nationale Selbstbehauptung historisch auch mit den Mitteln der Kultur ausgetragen wurde?" 58 Aus systemtheoretischer Perspektive ist die Suche nach im Kulturellen wurzelnden Besonderheiten, die die Identität eines Kollektivs ausmachen sollen, sowieso zum Scheitern verurteilt. Zum einen, so Niklas Luhmann, sind die kulturellen Ähnlichkeiten, die gemeinsamen „Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Lebensformen" 59, auf die man zur Begründung des Europäischen rekurrieren will, „schon in normalen Großstädten nicht mehr gesichert" 60. Zum anderen können „Identität, Authentizität, Echtheit, Originalität im Sinne von Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit" aus der Perspektive der Systemtheorie, die Kultur als einen Vergleiche anstellenden Reflexionsmodus begreift, gar nicht mehr 57 Benhabib, Seyla, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt a.M. 1999, 47 f. Ähnlich auch: Geertz, Clifford, Welt in Stücken - Kultur und Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1996, 74. 58
Joas, Hans/Mandry, Christof, Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft, in: Folke Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf / Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, 541, 541 f. Ganz ähnlich, allerdings bezogen auf eine vermeintlich spezifisch deutsche Kultur, auch: Fisahn, Andreas, Demokratie in Europa - ein Volk oder das Volk?, in: Bovenschulte, Andreas u. a. (Hrsg.), Demokratie und Selbstverwaltung in Europa, 131, 136: „Was ist gemeint? Pöbelnd grölende Fußballfans, die sich an jeder Ecke öffentlich vom übermäßigen Bierkonsum erleichtern? Sind hier übergewichtige Volksmusiker gemeint oder dürre Punker; volltrunkene Stammtischbrüder oder wasserstoffblonde Berufstöchter; koksende Bundestrainer oder kiffende Rastafaris astreiner deutscher Herkunft; exhibitionistische Swingerpärchen oder katholische Jungfrauen; selbstherrliche Konsumprotzer oder asketische Veganer; dynamische Karrierefrauen oder hauptberufliche Ehefrauen?" 59 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Nein zum Beitritt der Türkei, FAZ vom 10. 12. 2004, S. 35. 60 Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, 220 f.
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plausibilisiert werden. Man markiert die genannten Begriffe als Desiderate, „weil hier für die Universalität der Vergleichbarkeit bezahlt werden muss. Dies werden jetzt die Differenzbegriffe, die in der sich selbst kulturierenden Gesellschaft die höchste Überzeugungskraft und Ichbesetzung gewinnen. Denn jeder weiß natürlich intuitiv, dass sie genau auf ihn selbst zutreffen. Aber eben nur für das Individuum für sich. Für die Gesellschaft sind sie Kontrastformen, in denen sie ihre Hoffnungslosigkeit, ihre Ausweglosigkeit, ihre Realität vor sich selber verbirgt. Denn all dies: Identität, Authentizität, Echtheit, Originalität, Einzigartigkeit lässt sich nicht kommunizieren. Jeder Versuch dekonstruiert sich selbst, weil die konstative Komponente der Kommunikation durch die performative Komponente, die Information durch ihre Mitteilung widerlegt wird." 61 Vor dem Hintergrund der geschilderten Begrenzungen wird auch die Kritik an der Formulierung des Art. 151 Abs. 1 EU, der die „Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes" als Aufgabe formuliert, zu der die Gemeinschaft einen Beitrag leistet, verständlich. Die Vorschrift, so der Einwand, „generates obfuscation and uncertainty. It presumes a definition of something that is simply not defined, or, in the sense of being debated, barely exists at all." 6 2 Als inhaltlich umrissene Substanz, die als gegeben vorausgesetzt wird und nur auf ihre „Hervorhebung" wartet, wird man das in Art. 151 Abs. 1 EGV angesprochene gemeinsame kulturelle Erbe weder lokalisieren noch stabilisieren können. Entgegen der auch im Vertragstext insinuierten definitorisehen Stabilität stößt man statt dessen auf „ever shifting boundaries" 63. Daran können auch paradoxe Formulierungen wie „Vielfalt in Einheit" oder „Einheit durch Vielfalt" nichts ändern, weil sie die Frage nach der Bestimmung der gemeinsamen Kultur nur auf den Begriff der unbestimmt bleibenden Einheit verschieben, dadurch die Frage aber nicht beantworten, sondern lediglich unsichtbar machen.64 Ob man folglich die über eine gemeinsame kulturelle Grundlage fundierte Homogenität Europas hervorhebt oder aber die Heterogenität kultureller Traditionen betont, entscheidet sich jeweils anhand (argumentations-)strategischer und politischer Ziele. „Historical and cultural definitions of Europe", so der englische Politologe William Wallace, „are not only inherently subjective, but also unavoidably political in their consequences- and in their intention." 65 Da sich mit historischen und kulturellen Argumenten jede beliebige Grenz61
Luhmann, Niklas, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, Frankfurt 1995, 31, 50 f. 62 Ward, Ian, The Culture of Enlargement, in: 12 The Columbia Journal of European Law 2005/2006, 199, 201. 63 Ward, Ian, The Culture of Enlargement, in: 12 The Columbia Journal of European Law 2005/2006, 199, 206. 64 Zur Unergiebigkeit dieser Formulierungen: Mitsilegas, Valsamis, Culture in the Evolution of European Law, in: Fitzpatrick, Patrick/Bergeron, James Henry (eds.), Europe's Other, Ashgate-Dartmouth (1998), 111, 125. 65 Wallace, William, From the Atlantic to the Bug, from the Arctic to the Tigris?, 76 International Affairs 475, 484 (2000). Ganz ähnlich auch: Simon, Dieter, Wie weit reicht Europa?,
Auslegung des Begriffs „europäisch" im Sinne des Art. 49 Abs. 1 E U V 9 9
Ziehung behaupten lässt, überrascht es denn auch nicht, dass in Teilen der europarechtlichen Literatur hinsichtlich der inhaltlichen Präzisierung des Merkmals „europäisch" in Art. 49 EU der Bezug auf kulturelle Kriterien wegen Unergiebigkeit aufgegeben und statt dessen der Versuch einer auf rechtliche Gesichtspunkte zurückgreifenden Auslegung unternommen wird.
VI. Position 4: Rechtlich-politisches Europa Auch wenn die Schwierigkeiten bei der näheren Bestimmung des Begriffs „europäisch" offensichtlich sind, erscheinen die bisher dargestellten Positionen für Juristen, die an einer „exakten Bestimmung der dogmatischen Tragweite des Art. 49 E U V " 6 6 interessiert sind, doch unbefriedigend. Dem Politikwissenschaftler fällt es leicht, die semantische Grenzenlosigkeit anzuerkennen und von einem „beliebigen Inklusions- und Exklusionsbegriff" 67 zu sprechen. Juristen hingegen müssen sich, wenn sie an der Operationalisierbarkeit rechtlicher Begriffe und ihrer rationalen Nachprüfbarkeit festhalten, um eine begriffliche Präzisierung bemühen. Zu Recht wurde daher gegen die erste Position, die auf den nahezu unbegrenzten Ermessenspielraum der politischen Ebene hinweist und sich damit einem nicht kontrollierbaren Dezisionismus ergibt, eingewendet, dass das Merkmal „europäisch" „nun einmal im Vertrag" steht und ihm folglich „die normative Bedeutung nicht ohne weiteres abgesprochen werden kann." 68 Dies gilt auch dann, wenn, wie oben dargestellt, eine gerichtliche Nachprüfung der Einhaltung der Beitritts Voraussetzungen aus verfahrenstechnischen Gründen nicht möglich oder zumindest in hohem Maß unwahrscheinlich ist. 69 Wenn aber weder die geographischen noch die historisch-kulturellen Definitionsversuche zu überzeugen vermögen, auf welche Kriterien lässt sich dann abstellen? Vereinzelt finden sich in der Literatur Stimmen, die die Anforderung, es müsse sich um einen „europäischen" Staat handeln, mit den materiellen Beitrittsvoraussetzungen, wie sie in Art. 6 Abs. 1 EU, auf den Art. 49 Abs. 1 EU verweist, norin: Tinnefeid, Marie-Theres / Philipps, Lothar /Heil, Susanne (Hrsg.), Informationsgesellschaft und Rechtskultur in Europa, Baden-Baden 1995, 23, 33. 66 Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidungen und Beitrittsrecht, EuR 2002, 461, 464. 67 So: Münkler, Herfried, Die politische Idee Europa, in: Delgado, Mariano / Lutz-Bachmann, Matthias (Hrsg.), Herausforderung Europa, München 1995, 9, 10. 68 Bruha, Thomas / Vogt, Oliver, Rechtliche Grundfragen der EU-Erweiterung, Verfassung und Recht in Übersee 1997,477,480. 69 Ebenso: Vedder, Christoph, in: Grabitz, Eberhard / Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, München 2000, Art. 49 EUV Rn. 10, der es als unzulässig erachtet, „die Bedeutung des Kriteriums „europäisch" auf ein bloßes Programm zu reduzieren", nur weil „die Einhaltung dieses Kriteriums durch die MS bei Abschluss eines Beitrittsvertrages gerichtlich nicht überprüft werden kann". Dies sei, so Vedder a. a. O., „mit dem Wortlaut der Norm und dem Ziel der europäischen Integration nicht zu vereinbaren."
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miert sind, gleichsetzt. Als „europäisch" erweist sich ein Staat danach dann, wenn „er die in Art. 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achtet." 70 Auf den ersten Blick erscheint diese Position befriedigend, wendet sie sich doch einerseits gegen die Vorstellung, das Merkmal „europäisch" sei zwar im Vertragstext enthalten, die darauf bezogenen Entscheidungen des politischen Systems aber gleichwohl in keiner Weise einer Kontrolle unterworfen. Andererseits ersetzt sie den Bezug auf diffuse, kaum rationalisierbare außerrechtliche Kriterien durch die Fokussierung auf rechtliche Anforderungen. Letztere wiederum lassen sich aber, bei aller semantischen Unbestimmtheit und entsprechenden Konkretisierungsschwierigkeiten 71, die auch den in Art. 6 Abs. 1 EU enthaltenen Grundsätzen eigen sind, in Rechtstexten und vor allem in Rechtswirklichkeiten verifizieren. Änderungen und Anpassungen nationaler Gesetze durch einen Beitrittskandidaten, sowie von ihm in Gang gesetzte Reformen der rechtlichen, administrativen und institutionellen Strukturen lassen sich im Unterschied zu historischen oder kulturellen Erzählungen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung und wirksamen Umsetzung nachprüfen. Darüber hinaus entziehen sie sich auch nicht, wie die im Außerrechtlichen wurzelnden und entweder gegebenen oder nicht gegebenen Elemente, dem willentlichen Einfluss der Akteure. Vielmehr verweisen rechtliche Anforderungen auf eine von einer instrumentellen Perspektive dominierte Sphäre, in der Handlungs- und Umsetzungsspielräume sowie willentlich gesteuerte Machbarkeiten und gezielte Interventionen stillschweigend vorausgesetzt werden. 72 In methodischer Hinsicht wirft die vorgeschlagene Identifizierung des Merkmals „europäisch" mit den in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätzen allerdings Fragen auf. Abgesehen davon, dass die Europäische Union schon ihrem Namen nach eine regional beschränkte Organisation ist und sich eine räumliche Beschränkung eben gerade auch in dem Wort „europäisch" in Art. 49 Abs. 1 EU spiegelt, steht einer solchen Auslegung ein grammatisch70 Cremer, Hans-Joachim, in: Calliess, Christian / Ruffert, Matthias (Hrsg.), Kommentar EUV/EGV, 2. Aufl., Neuwied 2002, Art. 49 EUV Rn. 5. Ähnlich, wenn auch nicht explizit auf Art. 49 Abs. 1 EU bezogen, auch: Schneider, Heinrich, Europäische Identität: Historische, kulturelle und politische Dimension, in: integration 14 (1991), 160, 160, demzufolge „die „europäische Identität", um die es sich in Wahrheit handelt, [ . . . ] die politische Identität einer Europäischen Union" ist. Siehe hierzu m. w. N. auch: Sarcevic, Edin, EU-Erweiterung nach Art. 49 EUV: Ermessensentscheidungen und Beitrittsrecht, EuR 2002, 461, 465 f. 71 Hierzu: Schorkopf, Frank, Homogenität in der Europäischen Union, Berlin 2000, 70, 73, 79,81 und 99. 72 Auf die Bedeutung der Beachtung nicht nur der textuellen Umsetzung, sondern auch der Rechtswirklichkeit weist auch: Schorkopf, Frank, Homogenität in der Europäischen Union, Berlin 2000, 209, hin, wenn er hinsichtlich der Erfüllung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze „eine fortlaufende Beobachtung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und Rechtswirklichkeiten" fordert. In der Stellungnahme der EU-Kommission zu den Beitrittsanträgen der osteuropäischen Staaten in der „Agenda 2000": wird ausdrücklich festgehalten: „Von den Ländern, die Mitglieder der Union werden wollen, wird erwartet, dass sie sich nicht nur zu den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen, sondern dass sie sie im Alltag auch tatsächlich praktizieren." Vgl. die Texte zur „Agenda 2000" in: Wiehler, Frank (Hrsg.), Die Erweiterung der Europäischen Union, Baden-Baden 1998. Die zitierte Stelle findet sich a. a. O. auf S. 63.
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systematisches Argument entgegen. Setzt man „europäisch" mit der Achtung der in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze gleich, käme dem Merkmal „europäisch" keine eigenständige Funktion innerhalb des Normtextes mehr zu. Die Vertragsparteien hätten eine Formulierung gewählt, die letztlich Überflüssiges enthält. Aussagen würde Art. 49 Abs. 1 EU in diesem Fall, dass jeder Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 EU genannten Grundsätze achtet, Mitglied der Union werden kann. Das wiederum ist ein Ergebnis, das sich mit keinem methodischen Argument wird belegen lassen. Umgekehrt, das sollten die obigen Ausführungen zeigen, gelingt es nicht, mit dem zur Verfügung stehenden methodischen Instrumentarium ein Präzisierung des Wortes „europäisch" zu erreichen. Was bleibt, ist ein Normtextbegriff, der in besonderer Weise geeignet erscheint, als semantischer Kampfplatz zu dienen. Das mag in methodischer Hinsicht unbefriedigend sein. Beunruhigen muss es jedoch nicht. Grund zur Beunruhigung wäre nur dann gegeben, wenn versucht würde, über die apodiktische Festschreibung eines bestimmten Inhalts des „Europäischen" eigene Interessen zu verdecken und Ausschlussentscheidungen rational begründet erscheinen zu lassen.
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Die Meinungsmacher Von Walter Grasnick I.
Meinungen werden jederzeit und überall gemacht. Und verbreitet. Am augenfälligsten seitens der durch die Talkshows tingelnden Politiker und deren mediale Verstärker. Äußerlich weniger aufwendig, doch im Effekt kaum minder machtvoll, sind die juristischen Meinungsmacher am Werk. Freilich, so genannt zu werden, mögen die wenigsten. Sie geben ihre Meinungen lieber als Erkenntnisse aus. Das hört sich besser an, vor allem seriöser, überzeugender. Meinen sie. Auch wähnen sie sich als vermeintlich Erkennende sicherer denn als „nur" Meinende. Erkenntnisse haben in ihren Augen etwas Starkes, schwer zu Erschütterndes. Meinungen hingegen eignet eher ein Moment der Flüchtigkeit. Man kann sie leichter ändern als es gelingt, Erkenntnisse umzustoßen. So lange bis sie gegen neue ausgewechselt werden, ist man fein heraus, nämlich fürs erste - und eben oft recht lange - in der Lage, einfach nur auf sie zu verweisen: „Seht her, so ist es. Und so ist es allein richtig". Meinungen bedürfen indessen, jedenfalls prinzipiell, dauernder Rechtfertigung, der Angabe von Gründen, warum etwas so richtig ist - und nur so. Freilich haben es auch die juristischen Meinungsmacher einfach, sofern und soweit ihre Meinungen zu dem Phänomen erstarken, das sie sich angewöhnt haben, „herrschende Meinung" zu nennen. Bekanntlich versehen mit dem Kürzel „h. M.". Wer sich auf die berufen kann, dem kann vorerst nichts passieren. Zumal wenn er obendrein im Windschatten der ständigen Rechtsprechung segelt, „h. M." und „st.Rspr." ist ein Gütesiegel der ganz besonderen Art. Angeheftet einer Ware mit regelmäßig langer Haltbarkeit. Dass indessen auch die Rechtsprechung lediglich Meinungen produziert, wird noch weniger gern zugegeben als im Reich der Dogmatik. Der Schein, auch hier ginge es um Erkenntnisse - nachgerade ein Heiligenschein - wird scheinbar beglaubigt durch jede Entscheidung, in der es heißt, das Gericht habe „für Recht erkannt". Sprachsensiblen fällt indessen das verräterische „für" auf. Aber es gibt nichts zu erkennen. Auch nichts zu finden. Man muß es leider stets und ständig wiederholen: Rechtserkenntnis und Rechtsfindung sind die falschen Metaphern. Sie suggerieren fälschlich, dass da bereits etwas sei, ein Etwas, das Recht. Man brauchte es lediglich nur noch zu finden. Was allerdings offenkundig gar nicht so einfach ist. Wozu bedürfte es sonst einer detailliert ausgearbeiteten „Rechtsfindungslehre"? Die aber nicht so genannt wird. Vermutlich aus Angst, die anderen könnten doch einmal dahinter kommen, dass die Metapher des Findens Uneinlös-
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bares verspricht. Zutreffend und zudem allein ehrlich heißt es dagegen „Juristische Methodenlehre"1 oder noch kürzer: „Juristische Methodik". 2 Tatsächlich wird dagegen das Recht von Mal zu Mal erst hergestellt. Anders gesagt: Es wird erarbeitet. In Gestalt von Meinungen. Rechtsmeinungen als Ergebnis von „Rechtsarbeit". 3 Das ist es. Bemerkenswerterweise wird das auch gar nicht so selten zugegeben. Selbst von Richtern. Aber nur klammheimlich, in verklausulierter Form. Und zwar im Rahmen der Begründungen richterlicher Entscheidungen. Dort ist immer wieder zu lesen, wie sich ein Gericht mit der Literatur auseinandersetzt. Mit „Meinungen", die von der eigenen Auffassung abweichen. Auch die Abweichler werden unter einer seit langem eingebürgerten Abkürzung abgeheftet, nämlich unter „aM" 4 Die Anders- oder Mindermeinenden haben also durchaus ihre Meinung. Und die Richter? Sind sie wirklich besser dran? Eignet richterlichen Äußerungen eine höhere Dignität als denen, die von Rechtswissenschaftlern in Umlauf gebracht werden? Anders gefragt: Spielen die Richter in der Champions League und ihre universitären Kollegen bestenfalls in der 2. Liga? Das wäre seltsam genug. Zumal dann, wenn, was ja durchaus vorkommt - leider nur viel zu selten - , ein Gericht sich von der Wissenschaft belehren läßt, sich mithin deren Meinung sogar ausdrücklich anschließt. Ist das dann keine Meinung mehr? Mutiert die übernommene Meinung etwa qua freundlicher Übernahme zur Erkenntnis? Wenn aber nicht, dann sollten die Betroffenen sich endgültig dazu durchringen, ihren bislang verfochtenen Anspruch aufzugeben, richterliche Akte seien der Ausdruck richterlicher Erkenntnis. Nein, Erkenntnisse im Sinne von erkannt zu haben, was immer schon „ist", sind in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung gleichermaßen nicht zu haben. Das gilt nicht allein im Bereich des Normativen, vielmehr auch auf dem Gebiet des nur vermeintlich rein Faktischen. Letzteres ist noch immer geeignet, die meisten in Harnisch zu bringen. Auch diesmal blende ich diesen Fragenkomplex nicht vollends aus. Selbst wenn ich damit rechnen muss - freilich nicht ohne ein gewisses Vergnügen - , mich mit den Realisten erneut anzulegen. „Ich sage, was zu sagen ist", so Alfred Kerr, wenn er seine Meinung sagte.5 1
So nennt Reinhold Zippelius seine einschlägige Schrift: Juristische Methodenlehre, 8., neubearb. Aufl., München 2003. Vgl. dazu meinen Besprechungsaufsatz in:ZRph 2005, Heft 1. 2 Das ist der Titel des Werkes von Friedrich Müller und Ralph Christensen: Juristische Methodik, Band I. Grundlagen. Öffentliches Recht, nunmehr in 9., neubearb. und stark erw. Aufl., Berlin 2004. Die 8. Aufl. habe ich rezensiert in der FAZ vom 6. 11. 2002. In der 9. Aufl. wird auf S. 389 f. das Phänomen „herrschende Meinung" analysiert. 3 Diese plastische Metapher hat Friedrich Müller in die Methodendiskussion eingeführt. Siehe zuletzt Müller/Christensen, Methodik (FN 2), RN 11 ff. u. öfter. 4 Vgl. statt vieler nur den Standardkommentar von Herbert Tröndle/Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 50. Aufl., München 2001, IVX.
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II. Auch ich sage also meine Meinung. Was sonst. Naturgemäß, wie Thomas Bernhard gesagt hätte. Ihn und seine Lieblingsvokabel zitiere ich gerne. Ohne Sorge, verdächtigt zu werden, ich beriefe mich damit auf die „Natur der Sache". Und triebe somit selbst just das, was ich anderen anlaste: alteuropäische Metaphysik. Ob wir freilich ganz und gar ohne sie und die Ontologie wirklich auskommen können, muß im Augenblick noch dahinstehen. Vielleicht genügt es ja, den „ontologischen Gürtel ... enger (zu) schnallen", wie uns der große amerikanische Logiker, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Willard Van Orman Quine so dringend anempfohlen hat.6 Seine Meinung kommt uns sehr gelegen. Gerade wenn wir die Meinungen und Meinungsmacher in der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung thematisieren. Sie alle dürfen ihre Hände nicht länger in Unschuld waschen. Das Wasser, mit dem allein sie kochen, ist ausnahmslos dasselbe. Denn es kommt aus derselben Quelle, der Meinungsquelle. Die aber speist kein unterirdischer Strom und keine überirdische Macht. Auch die sogenannte Rechtsquelle ist durch und durch ein metaphorisches Kunstprodukt. Deshalb kommt aus ihr nur heraus, was man hineingegeben hat. Das ist bei Rechtsquellen nicht anders als bei den Zylinderhüten der Zauberer. Der Unterschied: Von denen lassen wir uns gerne etwas vormachen. Wir bewundern sie sogar dafür. Doch die Theoretiker und Praktiker des Rechts finden in uns nicht länger ein dankbares Publikum, das ihre Tricks freudig beklatscht. Zur Klarstellung: Wenn hier von Rechtswissenschaftlern die Rede ist, sind die Rechtstheoretiker, die Vertreter der Juristischen Methodenlehre und die Rechtsphilosophen selbstredend immer mitgemeint. Zumal sie sich - zu Recht, wenn auch häufig genug nicht ausdrücklich - als Metawissenschaftler begreifen, die den anderen, den Nur-Dogmatikern und Richtern gern sagen würden, wo es langgeht. Jedenfalls im Grundsätzlichen. Wobei zu monieren ist, dass sich die Meta-Juristen leider gar nicht häufig genug einmischen - mit ihren Meinungen. Das ist umso bedauerlicher, als gerade sie im Vergleich zu den Juristen vor Ort, ihren Richterkollegen, in bemerkenswerter Weise privilegiert sind. Sie müssen nämlich nicht entscheiden, dürfen es nicht einmal. Ohne Entscheidungszwang haben sie Zeit und Muße, sich um - in jedem Wortsinn - Grundsätzliches zu kümmern, Grundlegendes, um das, was allem richterlichen Entscheiden zugrunde liegt. Oder liegen sollte. Worum sich aber die Richter im Dauerstress des immer und ewigen Entscheidenmüssens nicht selbst sorgen können.7 Hier nicht aushelfend 5
Unter diesem Titel sind Alfred Kerrs „Theaterkritiken 1893-1919", hrsg. von Günther Rühle, erschienen. Frankfurt am Main 1998. 6 Willard Van Orman Quine, Das Sprechen über Gegenstände, in: ders., Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, 7 ff. (29). 7 Zum „Entscheidungszwang" und seiner Rolle im Rechtsherstellungsprozeß ebenso knapp wie grundlegend Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993, 304: „Der Entscheidungszwang und die mit ihm einhergehende, durch ihn produzierte Freiheit,
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einzuspringen, heißt, das Privileg des Nur-Wissenschaftlers, des Meta-Juristen, nicht als das zu begreifen, was es ist: eine Verpflichtung aufzuklären. Würde sie ernst genommen, das Rechtsprechen geschähe weniger defizitär. Wobei die zu beklagenden Defizite nicht - überhaupt nicht, zumindest nicht in erster Linie - falsche Ergebnisse sind, sondern die Art ihres Zustandekommens. Es mangelt an Transparenz. Und häufig genug daran, dass die Richter keine klare Vorstellung davon haben, was sie eigentlich tun. Tatsächlich tun oder richtigerweise nach zutreffender Meinung(!) - tun müssen. Als Beispiel wähle ich den freien Willen, jüngst erst ins Kreuzfeuer der Hirnforscher geraten.8 Deren Angriffen ist nicht mit einem Achselzucken zu begegnen. Salopp nach der Devise - zu viele Richter verfahren nach ihr -„Laßt sie nur reden, entscheiden tun wir". Wenn sie es denn überhaupt können. Denn träfen die Thesen von Gerhard Roth und Wolf Singer zu, entschiede das Gehirn des Richters. Nicht er. Sein Richterspruch wäre bestenfalls nichts anderes als der Vollzug dessen, was das Gehirn jeweils immer schon entschieden hat. Das Gefühl des Richters, selbst frei seine Entscheidung zu fällen, subsumieren die Hirnforscher milde lächelnd unter bloßer Illusion.9 Das kann keinem Richter gleichgültig sein, der geschworen hat, nur „der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen". Streichen wir getrost die Emphase aus dem Richterschwur. Die richterliche Verpflichtung bleibt, so etwas zu sprechen, das den Namen Recht noch irgendwie verdient. Das indessen allein zu haben ist von freien Menschen für freie Menschen. Sollte man meinen. Womit klar sein dürfte, dass die Bestreitung des freien Willens nichts ist, das nur die Strafjuristen unter uns anginge. Wenngleich sie es sind, die sich regelmäßig als erste und oft genug allein angesprochen fühlen und sich deshalb auch allein zu Wort melden. Zu Unrecht, wenn wir unseren Blick auch auf das Zivilrecht lenken. In dem jüngst erschienenen, in jeder Hinsicht beeindruckendem ersten Band des Historisch-kritischen Kommentars zum BGB steht der vermutlich kaum bestrittene Satz: „Die Frage, ob tatsächlich der Wille des Richters oder aber der Wille der am Geschäft Beteiligten bestimmen soll, welche Bedeutung einer rechtsgeschäftlichen Regelung zukommt, steht seit über einem Jahrhundert im Zentrum der privatrechtlichen Auslegungslehre: Privatautonomie oder richterliche, und damit staatliche
nach Gründen für eine (wie immer fragwürdige) Entscheidung zu suchen, wird durch Gerechtigkeitsgesichtspunkte eingeschränkt. Und diese Trias von Zwang, Freiheit und Einschränkung produziert Recht" (Hvh. i.O.). 8 Beispielhaft hierzu der Sammelband: Hirnforschung und Willensfreiheit, hrsg. von Christian Geyer, Frankfurt 2004. Siehe ferner - wie stets erhellend, wenn man ihm auch nicht in allen Punkten folgen muß - : John R. Searle, Freiheit und Neurologie, Frankfurt 2004. 9 Vgl. statt vieler nur Gerhard Roth, Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Geyer, Hirnforschung (FN 8), 218 ff.
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Intervention? ... Nur wenige Materien des Bürgerlichen Rechts lassen sich derart unmittelbar auf Ewigkeitsfragen der politischen Philosophie zurückführen". 10 Letzteres mag ja wahr sein. Nur: Der für Rechtsphilosophen vielleicht verlockende Blick auf Ewiges sollte sie und die Dogmatiker des Rechts, erst recht nicht die Richter selbst, davon dispensieren, auch und gerade zu sehen, was hierzu die theoretische Philosophie zu sagen weiß. Deren Meinung ist als erste gefragt, wenn es um den Willen geht. Wessen Willen auch immer. Ist das zunächst hinreichend geklärt (bis zum nächsten Meinungsumschwung, würdevoller: Paradigmenwechsel), erscheinen dann möglicherweise auch Ewigkeitsfragen in einem etwas kürzeren, dafür helleren Licht. III. Vielleicht sind es ja am Ende tatsächlich die Gehirnforscher, die wirklich Erhellendes beizutragen haben, wenn der freie Wille zur Diskussion steht. Oder schon zur Disposition? Nur in einem Punkt dürfen wir wirklich ganz sicher sein. Den radiert auch der radikalste Verfechter der Kontingenz nicht aus. Eine Ewigkeitsantwort bleiben uns auch die Neurobiologen schuldig. Eine Folge allein des Umstandes, dass auch sie nur Meinungen im Sortiment haben. Ich entsinne mich noch, wie man vor etlichen Jahren gleichsam über Ewiges in Bindings Normentheorie debattierte. 11 Heute sind er und seine Theorien nicht mehr en vogue.12 Und in dem Jahr, da Karl Popper 100 geworden wäre, also 2002, fragten Anhänger und Kritiker seiner Philosophie: „Was bleibt vom kritischen Rationalismus?"13 Besser - zudem dem Titel ihres Buches angemessener - hätten sie die Frage formuliert: „Was ist bis heute geblieben?" Nein, ewig Bleibendes überlassen wir getrost den Theologen. Denn - Herbert Keuth hat daran erinnert - : „Es scheint das Schicksal aller Annahmen zu sein, dass sie überholt werden". 14 Der Schein trügt nicht. Keuth fährt nämlich zutreffend fort: „Das gilt selbst für die Theorien der,härtesten' Erfahrungswissenschaften". So wurde bekanntlich die Newtonsche Gravitationstheorie, die einst Keplers Planetengesetze überholt hatte, später ihrerseits durch Einsteins Relativitätstheorie revidiert. „Und es gibt keinen Grund anzunehmen, die Relativitätstheorie werde nie abgelöst werden". 16 Das macht bescheiden. Und froh zugleich. Entbindet aber 10 HKK/Vogenauer, §§ 133, 157, RN 1 (i.O. teilweise hvh.). 11 Vgl. nur Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie. Normlogik und moderne Strafrechtsdogmatik, 2. erw. Aufl., Göttingen 1988. 12 Was man durchaus bedauern kann. Vgl. Georg Freund, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Personale Straftatlehre, Heidelberg 1998, 12, Fn 45. 13 So ausdrücklich Herbert Keuth: Was bleibt vom kritischen Rationalismus? In: Jan M. Böhme u. a. (Hrsg.), Karl Poppers kritischer Rationalismus heute, Tübingen 2002,43 ff. 14 Keuth, Was bleibt (FN 13), 43. 15 Keuth, Was bleibt (FN 13), 43.
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auch nicht von der Aufgabe, nur heute - für heute und, wenn es gut geht, noch für morgen - sich darum zu kümmern, welchen Wert die Meinungen der Hirnforscher für das Recht haben. Das hängt erkennbar davon ab, welche Argumente wir ihnen entgegenzusetzen haben. Der genannte Sammelband17 demonstriert das geradezu beispielhaft. Das nach meiner Meinung überzeugendste Argument stammt just wieder von Popper: das argumentum ad absurdum. 18 Das nur scheinbar harmlose Reden von Argumenten hat es in sich. Denn wir haben in der Tat nicht mehr. Argumente, nichts als Argumente. Für und gegen Meinungen. Nichts anderes und schon gar nichts Besseres. Das hat - mit den denkbar besten Argumenten - wohl keiner überzeugender vorgeführt als Richard Rorty. 1 9 Er verfügt freilich auch über einen argumentativ nicht einholbaren Vorteil. Er ist Amerikaner. Konkret: Rorty kann es sich leisten, dafür zu plädieren, dass wir „die Idee aufgeben müssen, daß der Liberalismus gerechtfertigt und die nazistischen ... Feinde des Liberalismus ... widerlegt werden könnten". 20 Er gehört auch zu den wenigen, die sich nicht scheuen, ihre eigene Theorie konsequent gegen sich selbst in Stellung zu bringen. Vermutlich würde Rorty allerdings diese martialische Metapher nicht sonderlich schätzen. Wie auch immer. In seltener Konsequenz unternimmt er jedenfalls nicht den leisesten Versuch, sein Credo, „daß Grausamkeit das schlimmste ist, was wir tun", diesen - nach seiner Meinung - Schlüsselsatz des Liberalismus gegen Angriffe dauerhaft zu immunisieren. Ganz im Gegenteil. Er bekennt ohne Wenn und Aber: „Es gibt keine neutrale , nichtzirkuläre Weise, die liberale Behauptung zu verteidigen", wonach, wie gesagt, „Grausamkeit das Schlimmste ist, was wir tun" 2 1 ; das Schlimmste, dessen wir überhaupt fähig sind. 22 Wenn Rorty von Verteidigung oder Widerlegung spricht, dann meint er stets ein argumentatives, mit Meinungen operierendes Vorgehen. Widerspricht er damit seiner eigenen Begründungsskepsis? Aber so schlimm ist es nun doch nicht. Vordergründig freilich - das läßt sich überhaupt nicht bestreiten - stellt Rorty der Möglichkeit, für Meinungen argumentativ einzutreten, kein gutes Zeugnis aus. Doch zielt er damit nur auf Letztbegründungen. Die gelängen in der Tat allein von einem archimedischen Punkt aus.23 Einem Gottesgesichtspunkt.24 Der nun einmal nie und nimmer der unsrige sein kann. •6 Keuth, Was bleibt (FN 13). 43. 17
Geyer, Hirnforschung (FN 8). 18 Siehe Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, 247 ff. Vgl. dazu näher Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, Tübingen 1987, 53 f. 19 Dazu Grasnick, Richard Rorty: Der Begründungsskeptiker, www.uni-marburg.de/ fbOl/lehrstuehle/strafrecht/grasnick. 20 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1989, 99. 2 1 Rorty, Kontingenz, (FN 20), 14, 319. 22 Siehe dazu Rorty, Kontingenz (FN 20), 281. 23 Vgl. Richard Rorty, Kontingenz (FN 20), 91.
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Allgemeiner formuliert: Wir stehen niemals und nirgends auf rundum festem, sicherem Boden. Damit sollten sich Fundamentalismen eigentlich von selbst verbieten. Aber die Einsicht, weder mit unumstößlichen Wahrheiten zu dienen, noch absolute Richtigkeitsgarantien vorweisen zu können, steht dem nicht entgegen, was Welsch zu Recht „argumentative Überlegenheit" nennt.25 Sie ist das Kind, das zurückbleibt, wenn das Bad der gestrigen Ewigkeiten und universellen Gültigkeiten nur vorsichtig genug ausgeschüttet wird. Ein zwar zum Glück recht strammes Kind, das gleichwohl noch weiterer Aufpäppelung bedarf. Das Nährmittel der Wahl: argumentative Rhetorik. IV. Aber die Rhetorik will ich heute nicht zu einem eigenen Thema machen. Sondern lediglich - dies aber nachdrücklich - anmerken, dass gerade die Juristen als argumentierende Meinungsmacher ihrer nicht entraten können.26 Ein so kluger Mann wie Luhmann wußte das und hat deshalb in seiner Rechtstheorie zu Recht die Rolle der Rhetorik eigens hervorgehoben. 27 Die freilich denen verborgen bleiben muss, die ihre Theorien und Pseudotheorien in die Welt setzen „ohne viel Rücksicht darauf, wie Juristen in praktischen Situationen tatsächlich argumentieren". 28 Geradezu spannend wird es, wenn man sieht, in welchem Zusammenhang der praxiserfahrene Luhmann die Rhetorik thematisiert. Er kann uns gelegener nicht kommen, wird doch an dieser Stelle einmal mehr deutlich, dass sich die Juristen - nicht zuletzt die Richter - unabänderlich im Medium des Meinungsmäßigen bewegen. Bevor Luhmann die Rhetorik aber beim Namen nennt, lehnt er es dezidiert ab, von der Theorie umzustellen auf eine „Methode in dem Sinne, daß die Sicherheit (Problemlosigkeit) der Schritte gewährleistet sein und die Reihenfolge der Argumente vorweg festgelegt werden könnte, mit denen man ein vorgestelltes Ziel erreicht". 29 24 So nennt es zum Beispiel auch Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt 1982, 75 f. u. öfter. 25 Wolfgang Welsch, Vernunft, Frankfurt 1995, 233 f., Fn 72. 26 Dazu näher Grasnick, Über Rechtsrhetorik heute. Weshalb man ihrer bedarf und wie man sie betreibt, in: Gert Ueding u. a. (Hrsg.) Rhetorik, 7 (1988), 1 ff., sowie Ders., Rechtsrhetorik - Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Rechtsrhetorik?.in: Schl.HA 1998, 5 ff., jeweils m. w. N.
27 Niklas Luhmann, Recht (FN 7), 304 u. öfter. 28
Luhmann, Recht (FN 7), 344. Luhmann zitiert in diesem Zusammenhang (Fn 17) auch den unvergessenen Josef Esser, der bereits treffend angemerkt hatte: „ohne sich länger mit juristischer Feldarbeit und Bestandsaufnahme zu belasten". Esser bezog sich seinerzeit auf Alexys „Theorie der juristischen Argumentation". Er konnte unmöglich ahnen, dass und wie Jürgen Habermas später in „Faktizität und Geltung" empirieabstinent diskursein würde. 29 Luhmann, Recht (FN 7), 345.
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Und dann folgt der Satz, den auch nur hinzuschreiben dem Selbstausstellen eines Freibillets zur Fahrt in die Hölle gleichkommt, wohin die stockbraven, hartgesottenen Mainstreamer alle diejenigen wünschen, die den methodologischen Trampelpfad verlassen. Viele freilich sind es bestimmt nicht, die es wie Luhmann fertigbringen zu schreiben: „Wie in der alten Rhetorik bleibt vieles der Kunstfertigkeit und der Entscheidung im Moment überlassen, oder auch einfach dem Zufall". 30 Soll so Recht geschehen? So geschieht es. Tagtäglich. Und der Zufall - oder wer auch immer das Wunder vollbringt - will es, dass unsere Justiz, was ihre Ergebnisse anlangt, nach wie vor leidlich funktioniert. Die Ausnahmen kennt jeder. Vornehmlich aus den Medien. Nur sind die dort publizierten Fälle eben nicht die Routinefälle des Alltags. Wie aber auch und gerade selbst in diesen Routinefällen gegen alles das verstoßen wird, was in den schlauen Büchern steht, denen des Gesetzgebers und jenen der gelehrten Juristen, das kann einer am besten und schnellsten beobachten, wenn er sich zum Beispiel die Strafzumessungspraxis unserer Gerichte als Anschauungsmaterial wählt. Die verfährt - so hat es vor Jahren Eckhard Horn gerügt - „system- und gesetzwidrig". 31 Dieses Diktum habe ich früher fast genüßlich zitiert. Heute bin ich da eher vorsichtig. Das ist für einen dezidierten Verfechter von Richterrecht nur folgerichtig. Aber gewiß nicht ungefährlich. Denn natürlich ist es, wie weniges sonst, bestens geeignet, schier unausrottbare Vorurteile erneut zu bestätigen. Wer für Richterrecht votiert, ein Votum, zu dessen Kernaussagen es nun einmal gehört, dem Gesetz nur noch lediglich den Platz eines Topos unter Topoi einzuräumen, den Rang eines meinungsleitenden Faktors neben anderen, zugegeben: vielleicht des wichtigsten, der wird leicht der bloßen Subjektivität geziehen, der blanken Willkür, am Ende der puren Beliebigkeit. Für Trostbedürftige: Den Vertretern einer sogenannten Postmoderne ergeht es nicht viel besser. Man lese nur, wie der Geschichtswissenschaftler Richard J. Evans nach seiner eigenen Einschätzung „versucht, dem historischen Denken einen Weg durch die Dickichte und Minenfelder der postmodernen Debatten zu bahnen".32 Und zwar dadurch, dass er seine Gegner verunglimpft. So wird der bedeutende britische Historiker Edward Hallet Carr der „semantischen Verwirrung" 33 geziehen, nur weil er es gewagt hatte, sogenannte geschichtliche Tatsachen als das zu bezeichnen, was sie bestenfalls sind, nämlich Interpretationskonstrukte. 34 Mithin keine crude facts. Selbst Evans gesteht das - allerdings wohl eher unfreiwillig - zu, wenn er Hayden White „großen Einfluß" bescheinigt, der sich „vor allem in einem zu begrüßenden wachsenden Bewußtsein der Historiker für die literarischen Aspekte ihrer eigenen Arbeit beim Forschen wie beim Schreiben (zeigt)". 35 Gewiß doch. 30 Luhmann, Recht (FN 7), 345, Hvh. v.m. 31 Eckhard Horn, SK StGB I, vor § 46, RN 2. 32 Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt 1998, 9. 33 Evans, Fakten (FN 32), 79. 34 Vgl. Evans, Fakten (FN 32), 79. 35 Evans, Fakten (FN 32), 125.
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Und deshalb wäre es jetzt an sich am Platze, dies detailliert auszuarbeiten. Das aber ist in diesem Rahmen unmöglich nachzuholen. Doch die Aufgabe bleibt uns nicht erspart. 36 Besonders den Prozessualisten nicht. Und natürlich nicht den Tatrichtern, wenn sie sich eine hinlänglich klare Vorstellung von dem verschaffen wollen, was sie eigentlich leisten, leisten müssen, bei ihrem Umgang mit der Vergangenheit. Genauer: Bei der Konstruktion (nicht länger Re-konstruktion), der Herstellung (nicht mehr Feststellung) des Sachverhalts, den sie hernach zu entscheiden haben.37 V. Heute kommt es mir vor allem darauf an, einsichtig zu machen, dass bereits hier in diesem frühen Stadium der richterlichen Rechtsarbeit dem Meinungsmäßigen nicht zu entkommen ist. Schon das vermeintliche nur Erkennen des angeblich rein Faktischen ist jedenfalls primär keine Sache der Kognition, sondern als Konstruktion ein in jeder Hinsicht entscheidender Aspekt der Meinungsbildung des Richters, der Herstellung seines Meinungsbildes. Eines Bildes ohne Vorbild. Ohne Urbild, mit dem es verglichen werden könnte.38 Zumindest das einzusehen, sollte doch den Vertretern der überkommenen Meinung so schwer nicht fallen. Denn das sogenannte historische Ereignis, das „Geschehnis" wie Larenz / Canaris den angeblich nur noch zu rekonstruierenden Fall nennen,39 ist gleichsam per definitionem verschwunden, auf immer und ewig nicht mehr da. Es kommt mithin als Kriterium für die Wahrheit oder Unwahrheit von Aussagen vor Gericht nicht in Betracht. Nicht von ungefähr sagt deshalb das Gesetz - manchmal kann man sich auf den Gesetzgeber eben doch verlassen - , keineswegs rein zufällig also heißt es im § 261 StPO, dass das Gericht „über das Ergebnis der Beweisaufnahme ... nach seiner freien ... Überzeugung (entscheidet)". Die Frage „Erkenntnis oder Entscheidung"40 ist damit klar beantwortet. Zugunsten der Entscheidung. Die wiederum - man kann es nicht oft genug wiederholen basiert auf der Meinung des Richters. In diesem Sinne verstehe ich auch Georg Freund, wenn er die sogenannte „,'Tatsachenfeststellung'... als das »entlarvt'..., 36 Nur wenige haben sich ihrer bislang angenommen. Ein herausragendes Beispiel ist die Studie von Michael Stolleis: Rechtsgeschichte als Kunstprodukt, Baden - Baden 1997. Bezeichnend ihr Untertitel: Zur Entbehrlichkeit von „Begriff' und „Tatsache". 37
Vgl. Grasnick, Das Recht der Zeichen im Zeichen des Rechts, Josef Simon/Werner Stegmaier (Hrsg.), Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt 1998, 194 ff. (204 ff.). 38
Vgl. dazu näher m. w. N. Grasnick, Andere sehen mehr, Lüderssen-FS, Baden-Baden 2002, 67 ff. (79 ff.). 39 Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. neubearb. Aufl., Heidelberg 1995, 99 ff. 40
So der prägnante Titel des Buches von Herbert Keuth, Tübingen 1999.
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was sie wirklich ist: eine Annahme ..., die der Rechtfertigung
darf"
(Legitimation) be-
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Es macht schon einige Mühe nachzuvollziehen, warum ausgerechnet Juristen sich mit der Entscheidung für die Entscheidung häufig so schwer tun. Erklären kann man es sich wohl am ehesten damit, daß es nicht zu ihrem Weltbild paßt. Nicht in ihr Weltbildhaus.42 Renovierung hülfe hier so wenig wie Restaurierung. Ein völliger Umbau ist nötig. Man sieht, es ist noch viel zu tun. Dazu gehört nicht zuletzt, endlich zu begreifen, dass es nicht länger angeht, sich hinter dem Gesetz zu verkriechen. Auch nicht hinter § 261 StPO. Hier, wie stets in Rechtsfragen - und mit denen haben wir es ausnahmslos zu tun - muss der Richter über seine Meinungsbildung Rechenschaft ablegen. Zunächst den Betroffenen und sodann gegebenenfalls den Revisionsrichtern. Um hier mit wenigem wenigstens zu beginnen: Wer übernimmt denn nun aber „die Bürgschaft für die Geltung der Aussagen",43 die Angeklagte oder Parteien und Zeugen dem Richter gegenüber machen? Es gibt nur einen, der das kann. Das ist der Richter. Denn er entscheidet.44 Und zwar auch darüber, wie er mit den Aussagen umgeht. Ob und gegebenenfalls wie er sie verwendet, um daraus - und mit weiteren Materialien - den Fall allererst einmal zu konstruieren. Was die partout nicht akzeptieren wollen, die sich mit aller Macht gegen die „Meinung" sträuben, auch Jurisprudenz sei wirklich und wahrhaftig nichts anderes als „bloßes Meinungsdenken".45 Sie werden sich erst recht die Haare raufen, wenn sie mit der Meinung konfrontiert werden, selbst die Fallkonstruktion via Argumentation sei „wahrheitsloses Meinungsdenken".46 Man hört schon den Aufschrei aller billig und gerecht denkenden Wahrheitshungrigen: „Das darf doch nicht wahr (!) sein!" Aber genau das ist es. Und zudem nicht einmal neu. Der Leser möge sich an Aristoteles erinnern, dessen Meinungsdenken Ottmar Ballweg speziell für die Juristen aufbereitet hat. Er resümiert, Aristoteles sei „ganz selbstverständlich" der Meinung gewesen: „meinungsmäßige Aussagen (endoxa) seien nicht wahrheitsfähig. 47 41 Georg Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung", Heidelberg 1987, 151 (Hvh.i.O.). 42 Diese schöne Metapher klaue ich mir von Peter Fuchs. Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne. Sozialphilosophische Vorlesungen, Konstanz 2001. 43 Herbert Keuth, Erkenntnis (FN 40). 44
Mit dieser Meinung setze ich mich scheinbar in Widerspruch zu einer von mir früher geäußerten Auffassung: Damals hieß es: „Nicht der Richter entscheidet". Systemtheoretisch gesehen sei es vielmehr die Kommunikation, die entscheidet. (Meyer-Gossner, FS 2001, 207 ff. (222)). Und das gilt nach wie vor. Nur will ich den vorliegenden Aufsatz mit dieser für Nicht-Luhmänner ungewohnten Komplikation nicht befrachten. Für unser „Meinungsbild" darf sie getrost vernachlässigt werden. 45 So treffend Lege in seiner knappen Darstellung der „Mainzer Schule", in: Joachim Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz, Tübingen 1999, 434 f. 46 So noch einmal Lege, Pragmatismus (FN 45), 538.
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Dem Selbstverständnis der allermeisten Juristen entspricht das noch lange nicht. Sie begeben sich lieber: „Auf die Suche nach der verlorenen Wahrheit". Unter diesem Titel sind Beiträge versammelt, die zuerst im Rechtshistorischen Journal erschienen sind. Den schönen Buchtitel müßte man freilich kursiv setzen eingedenk der pfiffigen Erkenntnis des klugen Karl Kraus, wonach man für die Deutschen Ironie stets kursiv setzen sollte. Man möchte vieles aus diesem Buch am liebsten Wort für Wort zitieren. Ich beschränke mich auf das Motto, das der Historiker Oexle seinem Beitrag vorangestellt hat. Es lautet: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist". 4 8 Die aber „machen" wir. Wie die Tatsachen. Von denen schon Nietzsche „gegen den Positivismus" vorbrachte: „nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen". 49 Also wieder Meinungen. Wie die Theorien. Die wiederum werden - das haben wir alle von Popper gelernt bestenfalls falsifiziert. Wofür, wie gesagt, der angeblich zu rekonstruierende Fall jedenfalls nicht zur Verfügung steht. Was bleibt, ist der wirklich einzig und allein taugliche Test: die Bewährung. Über sie oder ihr Ausbleiben belehren uns die Meinungen der jeweils mit einer Theorie Arbeitenden. Und derer, die ihnen dabei zusehen. Im Jargon Luhmanns sind das die Beobachter 2. Ordnung. 50 Letztere können gleichfalls - wen wundert das jetzt noch? - nur ihre Meinungen äußern. Zum Beispiel, ich wähle ein x-beliebiges, über die praktischen Vor- und Nachteile der Theorien zur Freiwilligkeit des Rücktritts. Jakobs täuscht sich nicht: „Die Bestimmung der Freiwilligkeit ist äußerst streitig". 51 Gewiss auch diesmal deshalb, weil die Bewohner mindestens zweier Weltbildhäuser miteinander im Clinch liegen: die Psychologisten und die Normativisten, wobei sich letztere wiederum in verschiedenen Stockwerken eingenistet haben. Indessen: Absolut sicher kann man sich nirgendwo wähnen. Meinungen werden eben immer von Meinungen bedroht. Und selbst die herrschende Meinung hat vielleicht demnächst den Status einer Mindermeinung. VI. Im Meinungskampf gibt es keine endgültigen Sieger. Nicht einmal einen neutralen, objektiven Schiedsrichter. Immerhin aber - das bieten nur der Papst und unse47 Ottmar Ballweg, Phronetik, Semiotik und Rhetorik, in: Ders./Thomas Michael Seibert (Hrsg.), Rhetorische Rechtstheorie, Freiburg 1982, 27 ff. (31). 48 Otto Gerhard Oexle, Im Archiv der Fiktionen, in: Rainer Maria Kiesow / Dieter Simon (Hrsg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt 2000, 87. 49 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Karl Schlechta (Hrsg.), Werke III, 903. 50 Luhmann hat seine Beobachtertheorie immer wieder vorgestellt. Vgl. nur das große Kapitel „Beobachten" in: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, 68-121. 51 Günther Jakobs, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnung. 2., neubearb. u. erw. Aufl., Berlin 1991, 757.
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re Gerichte - letztgültige, rechtskräftige Entscheidungen. Sei es, um bei den Juristen zu bleiben, dass „die Parteien" (im Strafverfahren sind es der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft) auf Rechtsmittel verzichten oder die dafür vorgesehene Frist versäumen. Oder eben dadurch - und dieser Fall interessiert uns hier allein - , dass letztlich das Revisionsgericht entschieden hat, gegen dessen Spruch ein Rechtsmittel ausgeschlossen ist. Der klassische Instanzenzug ist allerdings etwas in Unordnung geraten, nachdem das Bundesverfassungsgericht sich praeter legem kurzerhand zum Revisionsgericht 2. Ordnung erklärt und dort noch entscheidet, wo es eigentlich zu schweigen hätte. Aber just einer derartigen Intervention des Bundesverfassungsgerichts, seinem Übergriff in die Kompetenz des an sich allein zuständigen Fachgerichts - hier des BGH - verdanken wir die Einsicht, wie leicht es am Ende gelingen kann, dass eine jahrzehntelange Rechtsprechung, die scheinbar zementierte Meinung der Rechtsprechung dann doch eines Tages von heute auf morgen gekippt wird: durch das Votum eines einzigen, neu hinzugekommenen Richters mit seiner speziellen (parteipolitischen Überzeugung. Sprich: Meinung. Gemeint ist selbstverständlich der Wandel in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Gewaltanwendung durch blockierende Fahrzeuge. Drastischer als es hier geschehen ist, vermag man wahrlich nicht vorzuführen, dass auch und gerade unsere Rechtsprechung Meinungssache ist. Damit soll den richterlichen Meinungsmachern nicht etwa Willkür angelastet werden. Wenngleich unumwunden zuzugeben ist: Die Meinung, wir hätten es nur mit Meinung zu tun „klingt sehr gefährlich und wird im allgemeinen nicht so betont ausgesprochen".52 Weil es hochgradig geeignet ist, vor allem Laien zu verunsichern und ihrem Glauben an die vermeintlich streng objektiven Gerichte irre zu machen. Ein Irrglaube, der noch verstärkt wird, wenn die Richter ihre Verantwortung nicht argumentativ einlösen. Den Dogmatikern des Rechts gesteht man ja zur Not noch Meinungen zu. Manche - freilich mehrheitlich gerade keine juristischen Laien - bestreiten deshalb der Jurisprudenz auch den Charakter einer Wissenschaft. Wir wollen diesen Punkt jetzt nicht vertiefen. 53 Von Richtern jedenfalls erwartet man sichere Erkenntnisse. Dabei wird freilich vieles übersehen. Nicht zuletzt, was man nur Laien nicht verübelt, dass ausgerech52 Die Belegstelle ist mir umzugsbedingt abhanden gekommen. Der Autor müsste, so meinte ich, eigentlich Ottmar Ballweg sein. Dieser erklärte mir auf telefonische Anfrage, er meine, es nicht zu sein, fügte jedoch hinzu, er könnte es aber durchaus sein und gestattete mir in der ihm eigenen Konzilianz, das dürfe ich gern schreiben. - Zur Brüchigkeit des Vertrauens auf eine Rechtskraft in aeternum, sprich: zum Wandel höchstrichterlicher Rechtsprechung, vgl. die Analyse in Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, 9. Aufl. 2003, S. 493 ff. 53 Das hat Bernd Rüthers getan. Siehe den Abschnitt „Rechtswissenschaft - Jurisprudenz Rechtsdogmatik" in seiner: Rechtstheorie, 3., neubearb. Aufl., München 2007, 198 ff.
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net das Gesetz ja selbst in heute seltener Klar- und Klugheit expressis verbis auf deren „Überzeugung" abstellt. Diese ist „aber nur das anspruchsvollere Wort für Meinung". 54 Und vergessen wir zu allerletzt nicht, dass die Richter das, was sie können, zuvörderst auf der Universität gelernt haben. Eben von den dort tätigen Dogmatikern und deren Meinungen. Der einzige Unterschied: Richter haben die Macht, ihre Meinungen anderen gewaltsam aufzuzwingen. Nicht zu Unrecht spricht man mit Bezug auf sie von der Dritten Gewalt. Es ist die Gewalt der Meinungsmacher in Robe. Die in roten Roben leisten uns nur scheinbar ganz nebenbei - einen ganz besonderen, unschätzbaren Dienst. Denn nur sie kennen und machen ja davon auch gar nicht so selten Gebrauch das dissenting vote. Merke: „Das positive Rechte insgesamt ist ein Fundus wirkungsmächtiger Rechtsansichten".55 Und die, weil von der Mehrheit überstimmt, weniger mächtigen werden beim Bundesverfassungsgericht fast gleich behandelt. Rechtsdemokratie mit Abweichlern. Auch mit schlicht Irrenden? Ein „selbstkritischer" Bundesrichter hat einmal formuliert: „Auch oberste Bundesgerichte irren, aber sie irren rechtskräftig". 56 Nur: Wer subjektive Irrtümer reklamiert, postuliert objektive Richtigkeit. Und dekuvriert sich damit als Illusionist. Da hilft dann auch keine Rechtskraft. Deren wirklich große Stärke zeigt sich darin, dass wenigstens in rechtskräftig entschiedenen Einzelfällen zumindest prinzipiell verhindert wird, dass einer der alleinigen Richtigkeit endlos hinterher läuft. So wird bewirkt, dass er mit der bloßen Meinung der Richter leben muss.
54 Man lese mal wieder in den §§ 286 ZPO und 261 StPO. Und dazu Ottmar Ballweg, Prolegomena einer rhetorischen Didaktik des Rechts, Festschrift für Kriele, München 1997, 1067 ff. (1072). 55
Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, 4. neubearb. Aufl., Heidelberg 2006, 7. 56 Siehe Rüthers, Rechtstheorie (FN 53), 201.
Zauberpilze und Cybernauten - oder: Macht Sprache aus Pilzen Pflanzen? Überlegungen zu BGH 1 StR 384/06 v. 25.10. 2006 aus rechtslinguistischer Sicht Von Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski I. Die Not des Strafrichters mit dem Wortlaut Je nachdem, in welchem „Fach" ein Jurist arbeitet, sieht sein persönlicher Super-GAU anders aus: Während sich etwa der Zivilrechtler nicht vorhalten lassen will, „den Interessen der Vertragsparteien nicht gerecht" geworden zu sein, oder vielleicht den Staatsrechtler der Vorwurf besonders hart treffen würde, mit seinen Überlegungen zentrale Staatszielbestimmungen missachtet zu haben, liegt für den Strafjuristen der worst case anderswo: in der Rüge, den Wortlaut einer Strafnorm (in malam partem) nicht hinreichend beachtet und die durch diesen gezogene Grenze überschritten zu haben. Dieser Respekt vor Wortlaut und Wortlautgrenze hat zwei Wurzeln: Die erste, ebenso offenkundige wie verfassungsrechtlich gewollte, ist der nulla-poena-Grundsatz in Art. 103 II GG, § 1 GG,1 der insbesondere mit seinen Ausprägungen der Gebote der lex stricta und certa (Analogieverbot und Bestimmtheitsgrundsatz) eine besondere, über die selbstverständliche Einbeziehung der grammatischen Auslegung in jeden AuslegungsVorgang hinausgehende Bindung an den Normtext (oder in traditioneller Diktion: eine Wortlautgrenze) statuiert. Die zweite, wohl von jedem Juristen „erfühlte", aber als Problem deutlich seltener explizierte, ist die Schwierigkeit zu bestimmen, „was die im Gesetz verwendeten Wörter eigentlich bedeuten", wobei die Schwierigkeit eine doppelte ist: nicht nur, wo im konkreten Fall die „Wortlautgrenze" liegt, sondern auch, wie sie allgemein betrachtet zu ziehen ist. 1
Art. 103 II GG ist insoweit ein Paradebeispiel für eine methodenrelevante Norm des Grundgesetzes; vgl. zu solchen schon Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, z. B. S. 155 ff., 394 ff., 433 ff., u.ö.; neuerdings, auch für jeweils verschiedene Zusammenhänge, Ralph Christensen / Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 286 ff., sowie dies., Gesetzesbindung - Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis, im Erscheinen 2007. Er gibt für die Rechtsfindung im Strafrecht ergänzend zu den in der juristischen Profession über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hervorgegangenen methodischen Standards (vgl. dazu auch dies., Theorie richterlichen Begründens, S. 269 ff.) eine ganz spezielle methodische Anweisung für die Entscheidung von Bedeutungskonflikten.
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Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski
Dabei geht es etwa um die Fragen, wie der „allgemeine" und wie ein eventueller „Fachsprachgebrauch" zu bestimmen ist, wie sie ggf. zueinander stehen und vor allem, ob die „Wortlautgrenze" der Auslegung wirklich als Grenze „vorgegeben" ist oder nicht vielmehr erst durch die Auslegung ermittelt werden kann.2 Vergleichsweise leicht - so sollte man meinen - müsste der Umgang mit der Wortlautgrenze aber jedenfalls dort fallen, wo der Gesetzestext anderswo, z. B. auch in anderen Wissenschaftsbereichen, klassifikatorisch mehr oder weniger klar bestimmte Begriffe verwendet. Denn wo der Gesetzgeber sich auf solche Begriffe bezieht, müsste er sich ja auch an den dort verwendeten Festlegungen orientieren. Sollten gerade sie nicht Orientierungs-, ja geradezu Stabilisierungspunkte auf der schwankenden Oberfläche von sich ständig verschiebenden Bedeutungen3 bilden?
II. Die Not des oberfränkischen Pilzhändlers mit dem BtMG 1. Dass das keineswegs so (einfach) sein muss, zeigt eindrucksvoll eine Entscheidung des BGH aus dem Oktober 2006, in der dieser es mit der aus biologischer Sicht vermeintlich leicht zu beantwortenden Frage zu tun hatte, ob man Pilze als „Pflanzen" bezeichnen und somit als solche betrachten kann. Anknüpfungspunkt war das „unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge".4 Vorausgegangen war eine Entscheidung des Landgerichts Bamberg, das einen Angeklagten verurteilt hatte, der im Jahre 2001 mit halluzinogenen, sprich: rauscherzeugenden Pilzen gehandelt hatte. Das BtMG in der für den Tatzeitraum maßgebenden Fassung nun umfasste (als vorliegend interessierende Variante) als Tatobjekte nur Pflanzen oder Pflanzenteile, welche die in der Anlage I zu § 1 I BtMG enthaltenen Wirksubstanzen beinhalten. Die vom Revisionsführer gehandelten Pilze enthielten zwar u. a. die in der Anlage aufgeführten Substanzen Psilocybin und Psilocin; er machte dazu jedoch geltend, dass Pilze keine Pflanzen und somit auch nicht vom BtMG als der die Entscheidung tragenden Norm erfasst seien. Der BGH dagegen ist der Ansicht, „auch wenn aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen", würden diese dennoch (ohne Erfordernis einer Analogie) „von dem Pflanzenbegriff i.S. des § 2 I Nr. 1 BtMG und der Anlage I zu § 11 BtMG in den vom 1. 2. 1998 bis 17. 3. 2005 geltenden Fassungen erfasst". 5
2
Vgl. dazu auch Hans Kudlich / Ralph Christensen, Wortlautgrenze: spekulativ oder pragmatisch?, ARSP 2007, 128, 141. 3 Vgl. grundlegend Rudi Keller, Sprachwandel, 2. Aufl., 1994, passim; aus medientheoretischer Sicht Michael Giesecke, Sinnwandel, Sprachwandel, Kulturwandel, 1992, S. 36 ff., 209 ff.; ferner vom juristischen Standpunkt unter weitgehender Ausblendung des linguistischen Forschungsstandes Nicole Rowe, Recht und sprachlicher Wandel, 2003, S. 31 f. 4 Vgl. BGH NJW 2007, 524. 5 Vgl. BGH NJW 2007, 524 f.
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2. Sieht man genau hin, so gab es „ i n der Sache" eigentlich keinen Streit. Natürlich war dem Beklagten bewusst, was er da über den Ladentisch schob. Dies umso mehr, als er seine Ware „trotz ihres unangenehmen fischigen Geruchs - in ,Duftdosen4 und ,Duftkissen' gefüllt hatte". 6 Eine Praktik, die - wie man leicht entsprechenden Internetangeboten und Forumsbeiträgen entnehmen kann - durchaus verbreitet ist. 7 Nicht zuletzt unter einem starken Fahndungsdruck sowie wohl auch aus finanziellen Gründen weichen Jugendliche zunehmend aus den „klassischen" Feldern des Drogenkonsums und -handels darauf aus, sich aus an sich als harmlos geltenden Pflanzen, die frei zugänglich in der heimischen Flora vorkommen oder leicht selbst zu züchten sind, ihre berauschenden Essenzen und Mixturen zu erzeugen. 8 Dazu gehören, teils bewusst in schamanische und kultische Tradition gestellt, eben auch und vor allem Pilze. Die entsprechenden Foren i m Internet etwa sind voll der wohlmeinenden Ratschläge dazu. Und es fehlt auf der anderen Seite nicht an Warnungen vor den Gefahren solcher unkontrollierbarer Praktiken. 9 3. Worum geht dann also der Streit? Er geht, wie der B G H selbst betont, um Bestimmtheit. 1 0 Er geht darum, ob bei einer strafrechtlichen Erfassung von Pilzen als „Pflanzen" i. S. d. B t M G „Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und
6 BGH NJW 2007, 524. 7
So findet man z. B. unter http://www.stammheim4ever.de/pilze-pilz das „Duftkissen Mexico" und das „Duftkissen Hawaii" angeboten, mit entsprechenden Hinweisen zum geeigneten „Konsum" von Pilzen. Zugleich wird unter http://www.zauberpilz.com gewarnt: „Das Verbot von Pflanzen und Tieren, welche Betäubungsmittel enthalten gilt ab dem 1. Juli auch für Pilze mit illegalen Substanzen. Dies bedeutet beispielsweise, dass der Verkauf von Duftkissen mit Psilocybinpilzen nun gegen das Betäubungsmittelgesetz verstößt." Und unter http://www.sonic-warrior.de /Drogen/pilze/drogen_pilze.htm#2 wird noch feinsinnig differenziert: „Wie man an Pilze kommt:* der Erwerb in einem Head-Shop (Hanf-Laden):hier werden die edelnen Pilze als Duftkissen verkauft, das öffnen des Kissens ist jedoch nicht erlaubt!" [sie]. 8
So stellt beispielsweise das LKA Niedersachen unter http: //www.lka.niedersachsen.de/ praevention/dez204zdp/pages/5.9_biogene_subs.html zur aktuellen Lage fest: „Mit der Verbreitung von synthetischen Drogen hat der Missbrauch von Pflanzen und Pflanzenprodukten zugenommen. Die Herstellung ist „ökologisch", Konsumenten geben sich dem Trugschluss hin, die Inhaltsstoffe zu kennen und empfinden den Konsum von Pflanzen als sauber und ungefährlich. Betäubungsmittelrechtlich relevante Wirkstoffe in Pflanzen können z. B. sein: Psilocybin/Psilocin oder Mescalin." Siehe auch einleitend die Informationsbroschüre http://www.pilzbroschuere.de der Landesarbeitsgemeinschaft DROGEN Berlin sowie das Dossier „Weiche Drogen. Alles so schön bunt, hier!" unter http://service.spiegel.de/digas/ servlet / dossieransicht / S7007951. 9 Als Beispiele hier nur http://www.pilzbroschuere.de; „Qualimedic.de - Ihr Arzt im Internet" unter http://www.qualimedic.de; „Das Cannabisarchiv" unter http://cannabisarchiv.de; http: //www.hanfverband.de; http: //www.drogenring.org; „Your psychedelic Community. Land der Träume" unter http://www.land-der-traeume.de; http://www.stammheim4ever.de / pilze-pilz; http: / / www.azarius.at / cat_mushrooms.html; http: / / www.psycho naut.com; http: / / www.sonic-warrior.de / Drogen / pilze / drogen_pilze.htm#2. 10 Vgl. NJW 2007, 534, 525.
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sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen".11 Denn erst durch die 19. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung vom 10. 3. 2005 12 ist in die Anlage zu § 1 I BtMG die weite Formulierung von „Organismen und Teile von Organismen in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand mit in dieser oder einer anderen Anlage aufgeführten Stoffen" aufgenommen worden, während sich das BtMG samt Anlagen vorher auf „Pflanzen und Pflanzenteile" kapriziert hatte,13 wohl auch, weil die Entwicklung „auf dem Markt" und die Beschaffungsphantasie der Konsumenten bei Abfassung und Erlass des Normtextes so nicht voraussehbar gewesen war. III. Sind Pilze Pflanzen? 1. Fach wissenschaftlicher Ausgangspunkt
Das Bestimmtheitsproblem entsteht aus einem Wandel in der Auffassung davon, was denn Pilze nun eigentlich sind. Dementsprechend wird fraglich, ob sich der Rechtsunterworfene noch darüber im Klaren sein kann, ob und inwiefern Pilze dem BtMG unterfallen. Muss er davon ausgehen, dass dies so ist, weil Pilze nun einmal wie Pflanzen auf bzw. unter der Erde wachsen? Oder kann er davon ausgehen, dass dem keineswegs so ist, weil Pilze alles andere sind als Pflanzen? Das Problem hat seinen Grund im Fortschritt biologischer Erkenntnisse, die nunmehr davon abgerückt sind, in Pilzen Pflanzen zu sehen. So hat man zwar ursprünglich in einer bloß dualen Einteilung der Lebewesen in Tier- und Pflanzenreich, Fauna und Flora, Pilze den Pflanzen zugerechnet. Ebenso etwa, wie man einst Wale als „Fische" bezeichnete, nur weil sie flossenartige Bewegungsorgane haben und im Meer schwimmen. Heutzutage ist die Biologie jedoch zu der Auffassung gelangt, dass aufgrund ihrer ganz spezifischen Eigenheiten Pilze keineswegs mehr als Pflanzen betrachtet werden können. Vielmehr handelt es sich um eine Spezies ganz eigener Art. „Pilze sind keine Pflanzen. Es sind Organismen, die zu einem eigenständigen Organismenreich zusammenzufassen sind, das, ebenso wie das der Pflanzen (Plantae) und das der Tiere (Animalia), aus dem der eukaryotischen, einzelligen Protisten (Protista) hervorgegangen ist." 1 4
11 Vgl. NJW 2007, 534, 525. 12 Vgl. BGBl. 12005, S. 757. 13 Vgl. auch heute noch die Definition BtMG § 2 Ziff. 1: „Im Sinne dieses Gesetzes ist Stoff: eine Pflanze, ein Pflanzenteil oder ein Pflanzenbestandteil in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand sowie eine chemische Verbindung und deren Ester, Ether, Isomere, Molekülverbindungen und Salze - roh oder gereinigt - sowie deren natürlich vorkommende Gemische und Lösungen." 14 So das „Hypertext-Lehrbuch Botanik-Online" unter http://www.biologie.unihamburg.de/b-online/d33/33.htm. Für viele weiter wegen der Popularität dieses Nachschlagewerks dann auch der Wikipediaartikel „Pilze" unter http: //de.wikipedia.org/wiki/Pilze.
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2. Fortbestand des Sprachgebrauchs außerhalb der Fachwissenschaft
Andererseits ist durchaus festzustellen, dass vereinzelt noch die Rede von Pilzen als „Pflanzen" oder wenigstens „niederen Pflanzen" geht. 15 Selbst für das Wörterbuch ist der „Pilz" noch eine „aus schlauchförmigen Fäden bestehende, kein Blattgrün bildende Pflanze, die bei der Herstellung von Arzneimitteln sowie von Nahrungs- und Genussmitteln von Bedeutung ist, zum Teil auch als Krankheitserreger auftritt." 16 Und auch in der grundlegend bildenden Anstalt der Schule mag man noch unbeanstandet von Pilzen wenigstens als „pflanzenähnlichen Mikroorganismen" reden. 17 Aber wie ernst ist das zu nehmen? Schließlich reden viele aus lieber alter Gewohnheit weiter von „Walfischen", obwohl ihnen vollkommen klar ist oder wenigstens nach allgemeinem Bildungsstand klar sein sollte, dass es sich dabei um Säugetiere handelt. Man kann es offenbar drehen und wenden, wie man will. Pilze sind nun einmal keine Pflanzen. Gerade das vom Wörterbuch angeführte besondere Merkmal, dass Pilze „kein Blattgrün", kein Chlorophyll bilden, war für die Wissenschaft mit ausschlaggebend, sie aus dem Pflanzenreich zu verbannen. Und das hat dann, wie im Fall der Wale, durchaus Eingang in die breiteren Auffassungen von Pilzen gefunden.
3. Fachwissenschaftliche Klassifikation vs. Erkennbarkeit des Strafbarkeitsrisikos nach dem Allgemein-Sprachgebrauch
a) Genau hier hatte die Revision mit ihrer Begründung angesetzt.18 Was der Wissenschaft recht ist, sollte dem aufgeschlossen gemeinen Mann auf der Straße mehr als billig sein - nämlich davon ausgehen zu können, dass jeglicher Umgang mit Pilzen vom (damaligen) Text des BtMG unberührt ist, da es sich bei ihnen keineswegs um „Pflanzen" handelt. Die unlauteren Absichten des Angeklagten mögen sein wie sie sind, auf keinen Fall hätte er vorhersehen können, dass er sich im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnis eines Verstoßes gegen das BtMG schuldig gemacht habe, das allein von „Pflanzen und Pflanzenteilen" redet und so schlichtweg Pilze nicht meinen kann. 15 „Oft werden Pilze zu den niederen Pflanzen gezählt, so wie Algen, Moosen und Farne." http://www.notizbrett.de/#_parent. So beispielsweise auch http://www.encyclopediawiki.org / encyclopedias / medizin. DWDs. Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts unter http://www.dwds.de. Der BGH selbst führt dafür das „Bertelsmann Wörterbuch" bei www.wissen.de an, das „unter dem Stichwort ,Pilz':,Pflanze ohne Chlorophyll, die von organischen Stoffen lebt...'" verzeichnet, vgl. NJW 2007, 524, 526. 17 http: / / www.bionet.schule.de / -grübe / e+h / infdiseu / pilze.htm. 18 Vgl. BGH NJW 2007, 524 sowie auch als von der Revisionsbegründung in Bezug genommene Präzedenz die Entscheidung des OLG Koblenz, NStZ-RR 2006, 218.
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b) Kann man es sich aber wirklich so einfach mit dem Normtext machen? Kann man sich tatsächlich so an das Wort klammern? Klar ist, dass man nicht jeden beliebigen Sprachgebrauch zugrunde legen kann. Viele mögen nach wie vor von Pilzen als Pflanzen reden. Aber die Leute sagen so manches, ohne dass dies gleich zum Maßstab für Bedeutung und Bedeutsamkeit erhoben werden kann. Maßstäblich und ausschlaggebend kann nur der gesichert neueste Stand der Erkenntnis sein. So hätte man sicherlich größte Bedenken, einen Kapitän, der so - wenig legal wie auch immer - einen Wal fängt, wegen des Verstoßes gegen eine fiktive Norm über den Umgang mit „Fischen" zu verurteilen, nur weil manche Leute von Walen als „Fischen" reden. Wohl wissend, dass diese nach allen allgemein zugänglichen und verbreiteten Erkenntnissen der Wissenschaft keine solchen sind, kann der Mann doch guten Gewissens davon ausgehen, überhaupt nichts getan zu haben, was auch nur im entferntesten mit dem Umgang mit „Fischen" zu tun hat. 19 Im vorliegenden Fall aber geht es - so meint der BGH - trotzdem nicht so einfach. Zwar wird nicht bezweifelt, dass „aus heutiger wissenschaftlicher Sicht Pilze keine Pflanzen sind, sondern biologisch eine eigenständige Kategorie von Organismen darstellen". 20 Das allein könne aber nicht für die Frage ausschlaggebend sein, ob der Rechtsunterworfene davon ausgehen könne, dass der Handel und Umgang mit ihnen straflos sei. Denn so ohne weiteres lasse sich die Rede von Pilzen als Pflanzen und damit als möglichen Tatobjekten i. S. d. BtMG nicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse vom Tisch wischen. Vielmehr sei gerade zur Feststellung, ob der Normadressat in der Lage sei, „anhand der gesetzlichen Regelung vorauszusehen, ob ein Verhalten strafbar ist" oder „in Grenzfällen ( . . . ) wenigstens das Risiko einer Bestrafung" zu erkennen, 21 „die Bedeutung des Pflanzenbegriffs ( . . . ) nach dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bestimmen und nicht anhand der spezifisch wissenschaftlichen Terminologie in der Biologie." 22 Es kommt also nicht darauf an, was der Fachmann weiß. Vielmehr kommt es darauf an, was der „Mann auf der Straße" meint. Danach wäre aber eine Interpretation, nach der Pilze i. S. d. Gesetzes auch Pflanzen sein könnten, nach dem „aus der Sicht des Normadressaten erkennbaren Wortsinn des Terminus ,Pflanze' gedeckt", für den Normadressaten war „also jedenfalls das Risiko einer Strafbarkeit erkennbar". 23 c) Nun sieht dieser Verweis auf die linguistisch etwas dubiose Größe „allgemeiner Sprachgebrauch" zwar auf den ersten Blick danach aus, als bediene sich der 19 Wohl aber mit der Tätigkeit des „Fischens" - denn der Begriff „fischen" in § 293 StGB wird durchaus weit als jede „auf Fangen oder Erlegen frei lebender Wassertiere (auch Krebse, Frösche, Schildkröten [ . . . ] ) gerichtete Handlung" verstanden (vgl. nur Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., 2007, § 293 Rn. 3), ohne dass dabei auf irgendwelche biologischen Klassifizierungen abgestellt würde. 20 Vgl. BGH NJW 2007, 524.
21 Vgl. BGH NJW 2007, 524. 22 Vgl. BGH NJW 2007, 524, 525. 23 BGH NJW 2007, 524, 525.
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BGH hier der traditionellen Camouflage der Lehnstuhlmethode einer Semantik allein von Richters Gnaden. Bei näherem Hinsehen aber geht der Senat hier durchaus sorgfältiger und problembewusster vor. Das Gericht rekurriert genau auf all die in Belegen weiter verbreiteten und gepflogenen Redeweisen, nach denen Pilze zumindest stark etwas mit Pflanzen zu tun haben, und beschränkt sich insoweit sehr bewusst nicht auf „Nachschlagewerke und Lehrbücher", die „zwar den allgemeinen Sprachgebrauch prägen" können, „ihn aber häufig nicht genau wieder(geben) und ( . . . ) mithin keine sichere Auskunft über dessen aktuellen Stand" geben.24 Dies gelte um so mehr, als sich die einschlägige Fachwissenschaft - die Biologie offenbar selbst noch nicht ganz und eindeutig von dem überkommenen Verständnis gelöst habe. „Zwar ist in der Biologie mittlerweile anerkannt, dass Pilze als eine eigene Organismengruppe neben den (Grün-)Pflanzen stehen. Diese Abgrenzung wird jedoch nicht trennscharf durchgehalten. So wird die Pilzkunde (Mykologie) auch weiterhin als ein Teilgebiet der Botanik (Pflanzenkunde) angesehen. Botanische Standardwerke widmen sich nach wie vor in eigenen Abschnitten den Pilzen"25 d) Macht also, zumindest für den Normalverbraucher, Sprache doch aus Pilzen Pflanzen? Und müsste sie dann aus den gleichen Gründen nicht nach wie vor aus Walen Fische machen? Ab wann und inwiefern wird wissenschaftliche Erkenntnis sprachlich ausschlaggebend und wann und inwiefern ist sie dies noch nicht? Zweifel daran, dass es sich so umstandslos mit dem „allgemeinen Sprachverständnis" in Hinblick auf Pilze verhält, wie der BGH annimmt, kommen auf, wenn er zudem für die „für den Laien augenscheinliche Nähe zu den Pflanzen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch" anführt: „Immerhin kauft man Pilze auch gemeinhin beim Obst- und Gemüsehändler."26 Denn die Einzelhandelsinfrastruktur orientiert sich ersichtlich weder am fach- noch am alltagssprachlichen Pflanzenbegriff, sind doch die meisten „Obst- und Gemüsehändler" heutzutage südländische Feinkostläden, in denen auch Schafskäse und Mozzarella erworben wird, während man in „Pflanzen- und Gartencentern" oft weder Obst noch Gemüse, dafür aber häufig Zierfische und Vögel kaufen kann. Und das gilt auch für andere Branchen: Schließlich werden Handys, Unterwäsche und Rasierapparate nicht schon dadurch zu Genussmitteln, dass sie regelmäßig in den Filialen eines bekannten Kaffeerösters angeboten werden. Und auch das Argument, selbst die Biologie betreibe ihre Pilzkunde im Rahmen der Botanik 27 , also Pflanzenkunde, ist so stichhaltig nicht, wie es sich auf den ersten Blick gibt. Dies hat eher mit kanonisch institutionalisierten, akademisch-universitären Fächereinteilungen zu tun, die auch auf anderen Gebieten nicht unbedingt mit dem inhaltlichen Wandel der Wissenschaften Schritt halten und daher 24 25 26 27
Vgl. BGH NJW 2007, 524, 526, sowie auch die dort vom Gericht angeführten Belege. Vgl. BGH NJW 2007, 524, 526. NJW 8, 2007, 526, [16]. Siehe dazu den Artikel „Mykologie" unter http: / / de.wikipedia.org / wiki / Mykologie.
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hilfsweise Kompositionalwissenschaften wie etwa die „Biochemie" zeugen.28 Es deutet sich hier an, dass sich die nach dem Bestimmtheitsgebot gerade auszuschließende Willkür durch die Hintertür einer passend zugerichteten oder auch nur kontingent begrenzten Belegauswahl wieder einzuschleichen droht.
IV. Die Praxis der Verständigung als Mittel zum Rückschluss „auf Bedeutung" 1. Bedeutung ist keine Eigenschaft von Worten
Das Problem einer durchgreifenden Unentschiedenheit indes macht sich hier nicht von ungefähr vernehmlich. Was kann überhaupt als ausschlaggebend oder auch nur prägend für den Wortsinn angenommen werden? Und was kann entsprechend im Fall des Rechtsstreits den Betroffenen als ihr Verständnis unterstellt werden? Ganz sicher sind es nicht Bedeutungen, die den Worten anhaften würden. Der BGH ist sich dessen durchaus bewusst, wenn er - wie oben schon erwähnt - die dafür herkömmlich gern angeführten Wörterbücher nur mit Skepsis betrachtet. 29 Der Senat bemüht sich daher nicht von ungefähr um Quellen, die einen allgemeinen Sprachgebrauch erschließen können, etwa die „Recherche im Internet, das jedermann zur Veröffentlichung eigener Texte zugänglich ist und das deshalb umfassende Auskunft über das gesamte Spektrum des aktuellen Sprachgebrauchs geben kann". 30 Er tut dies allerdings offenbar mit einer falschen Erwartung - mit derjenigen nämlich, daraus eine Feststellung bzw. Erkenntnis ziehen zu können, die die Entscheidung vorzeichnet. 31 Denn auch mit dem Sprachgebrauch ist es ein eigen Ding, sofern sich angesichts seiner unabsehbaren Vielfalt gleich wieder die Frage stellt, wessen Sprachgebrauch ausschlaggebend sein soll und warum ausgerechnet dieser: Warum soll die Rede eines vom Pilzkonsum beflügelten Jugendlichen oder Gemüsehändlers mehr gelten als die täglich gepflogene Rede von Biologen oder kundigen Pilzsammlern? „Den" Sprachgebrauch gibt es jedenfalls nicht, we28 „Die Biochemie, früher auch Physiologische Chemie, (griechisch ßioxrmeia biochemeia, ,die Chemie des Lebens') ist die Lehre von den chemischen Vorgängen in Lebewesen. Sie bearbeitet den Grenz- bzw. Überschneidungsbereich zwischen Chemie, Biologie und Physiologie." http: / / de.wikipedia.org / wiki / Biochemie. 29
Allgemein zu diesem Problem hier nur Ralph Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Die Sprache des Rechts Band 2, Berlin /New York 2005, 1 ff., 12 ff. 30 Vgl. BGH NJW 2007, 524, 526. 31 Vgl. etwa BGH NJW 2007, 524, 526, wo festgestellt wird, „vor dem Hintergrund der Einteilung der lebenden Natur mittels des Begriffspaars Flora und Fauna werden die Pilze (Pilzfruchtkörper) wegen ihrer für den Laien augenscheinlichen Nähe zu den Pflanzen nach dem allgemeinen Sprachgebrauch vielmehr nach wie vor" diesen zugeordnet.
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der „den" allgemeinen noch im Sinne eines Erkenntnisgegenstandes irgendeinen besonderen. Entgegen der linguistisch-akademischen „Gebrauchstheorie der Bedeutung", die meint, für ihren Gegenstand „Sprachgebrauch" aus den Belegen Regularitäten ablesen zu können, die ihn jeweils festschreiben, verbleibt dieser stets in der Kontingenz mehr oder weniger gelingender Verständigung. Es verhält sich also ganz sicher nicht so, dass „der" Sprachgebrauch von sich aus entscheiden könnte, ob jemand Pflanzen im Sinn hat, wenn er von Pilzen redet. 32 Zieht man ihm entsprechende Grenzen, ist und bleibt dies allein eine Angelegenheit dessen, welcherlei Belege man zu welchen Zwecken und aus welchen Gründen dafür heranzieht und wann man es damit genug sein lässt.33 Denn für jede geäußerte Meinung lässt sich ganz sicher mit genügend Beharrlichkeit eine Gegenmeinung finden. 34 2. Sprachverstehen und Verständigung
a) Immerhin legt der Verweis auf den Sprachgebrauch die richtige Fährte. Allein die Rede, die Praxis von Verständigung kann die Quelle sein, aus der Aufschlüsse über Bedeutung zu schöpfen sind. Aber das können keine Feststellungen oder auch nur Erkenntnisse sein. Es können immer nur im buchstäblichsten Sinne Schlüsse auf Bedeutung sein, und zwar aus einer belegten Bedeutsamkeit für die jeweils Beteiligten heraus, 35 etwa die der Ansicht von Pflanzen für die Rede von „Pilzen". Auf der Spur der Bedeutung trifft man immer nur Sprecher, Personen, die sich verständigen.36 Entsprechend zeigt die unbeherrschbare Vielfalt der Wendungen und Redeweisen nichts anderes, als dass man im Grunde mit jedem Sprecher eine Sprache antrifft. 37 Das kann das Entscheidungsproblem nicht lösen. Es kommt vielmehr auf die Bestimmtheit entscheidungskritischer Ausdrücke eines Normtextes für einen jeden möglichen an, den sie betrifft. Was aber kann und wie weit reicht 32
Zum Problem der Juristen damit hier nur Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Wie normativ ist Sprache? Der Richter zwischen Sprechautomat und Sprachgesetzgeber, in: Ulrike Haß-Zumkehr (Hrsg.): Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Institut für Deutsche Sprache, Berlin/New York 2002, 64 ff., 67 ff. 33 Immer noch unübertroffen luzide zu diesem Problem Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, §§ 68 ff. 34 Hier etwa entgegen dem dominierenden Trend der Belege, um die Strafbarkeit des Konsums von Zauberpilzen zu wissen Raver's Corner. Magic Mushrooms 5/99 unter http: / / www.step-hannover.de / data / dprae / rav5.html?id=l&artikel=70. 3 5 Hier nur juristisch zu der Differenz von Bedeutung und Bedeutsamkeit Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik. Band I. Grundlagen. Öffentliches Recht. Neunte, neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 2004, Rn. 186. 36 Grundsätzlich zum Verstehen als Personenverstehen im Anschluss an Donald Davidson Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2001, 177. 37 Dazu Donald Davidson, Die zweite Person, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48, 2000, 395 ff.
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Sprache dafür in das Recht? Ganz sicher ist von drei grundsätzlichen Tatsachen auszugehen: (1) Zum ersten haben Wörter keine Bedeutung es sei denn, durch ihre Handhabung zum Zwecke der Verständigung. Diese aber ist stets im Fluss. Was man gestern als „Pflanze" bezeichnete, ist heute längst keine mehr und morgen vielleicht sogar ein Tier. 38 Was man also einst als „Pflanze" bezeichnete, mag man jetzt schon längst nicht mehr als eine solche betrachten. (2) Zum zweiten kann es zu einer Verständigung nur kommen, wenn die Rede zugleich in von den Beteiligten voraussehbaren Bahnen verläuft. 39 Redete jeder radikal so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, könnte er sich nicht einmal mehr selbst verstehen. (3) Der Grund dafür liegt in einer dritten Tatsache. Wenn wir einander unsere Überzeugungen mitteilen wollen, haben wir nichts anderes als sprachliches Bedeuten. Umgekehrt erschließen sich Bedeutungen nur daraus, welche Überzeugungen wir dem anderen unterstellen. Dafür aber haben wir wieder nichts anderes als das, was uns als „Sprache" geboten wird. 40 b) Hier nun reißt das Problem (nicht nur) für den Juristen als Abgrund auf, den nur eine Entscheidung über Bedeutung überwinden kann. Die Welt, um die es geht, zeigt sich nur in unseren Überzeugungen. Das heißt aber, dass sie nur als sprachliches Bedeuten fassbar ist und keinen neutralen Bezugspunkt bietet. Es nutzt also nichts, für einen semantischen Lokaltermin in den Wald zu gehen und nachzusehen, was es mit den Pilzen auf sich hat. In der Sphäre des Rechts kommt verschärfend hinzu, dass einerseits zwar die mit dem Bestimmtheitsgebot zwingend eingeforderte Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen möglichst für jeden erreichbar sein soll, dass die in den Normtexten verfasste Sache aber genau damit kollidieren kann - im konkreten Fall also die Welt bzw. das Ensemble all jener berauschenden Substanzen, deren Konsum praktisch strafbar zu machen sein soll. 38 „Lange zu den Pflanzen gerechnet, gelten Pilze heute aufgrund genetischer und physiologischer Eigenschaften als wesentlich näher mit den Tieren verwandt." http://de.wikipedia. org/wiki/Pilze. 39 Es braucht dafür theoretisch keinen Rückfall in Konventionalismus oder Regelplatonismus. Jasper Liptow hat hierfür überzeugend ein entsprechendes Modell der Orientierung von Kommunikation an den Fällen erfolgreicher Verständigung als in deren Zukunft hinausreichende anleitende Präzedenzen vorgestellt. Siehe Jasper Liptow, Interpretation, Interaktion und die soziale Struktur sprachlicher Praxis, in: Georg W. Bertram / Jasper Liptow (Hrsg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, Weilerswist 2002, S. 129 ff.; sowie ders., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, Weilerswist 2004, 148 ff., v.a. 220 ff. 40 Grundlegend hierfür der Interpretationismus Donald Davidsons. Siehe etwa Donald Davidson, Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1990, S. 183 ff.; Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Eva Picardi/ Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, 203 ff., 206. Dazu K: Stüber, Donald Davidsons Theorie sprachlichen Verstehens, Frankfurt/M. 1993, v.a. 40 ff.
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c) Was der Jurist demnach braucht, ist Aufschluss darüber, welche der Überzeugungen für jene Bedeutung prägend sind, die die Beteiligten an der Verständigung einander unterstellen bzw. die man nach Lage der Belege ihnen zumindest als bekannt oder zugänglich unterstellen kann. Nach der Stereotypensemantik und vordergründig erst einmal zur Enttäuschung des BGH sind dies die Überzeugungen der Experten. Gewissermaßen die Leithammel der Semantik, da man ihren Überzeugungen trauen kann. Es gibt keine begrifflichen Merkmale, die unabhängig davon die Bedeutung von Worten wie etwa „Pilz" notwendig oder auch nur hinreichend festlegen und somit zwangsläufig ihren Gebrauch regeln könnten. Zugleich gibt es keine unabhängig zugänglichen Eigenschaften der Dinge, etwa von Pilzen, die als Kriterien für eine sinnvolle und verständliche Rede davon fungieren könnten.41 Geltung und Verbindlichkeit und damit auch Vörhersehbarkeit und Unterstellbarkeit verdankt die Verständigung allein den Praktiken der Kritik und Korrektur, die sie veranlassen und die ihren Verwendungssinn ausmachen. An erster Stelle sind das Einweisung und Einführung, die vor allem jenen Eindruck einer Verantwortlichkeit von Normen und Regeln für den Sprachgebrauch erwecken und aufrechterhalten sollen und die die semantischen Intuitionen einer Fundierung des Sprachgebrauchs in Bedeutung prägen. Aufrechterhalten wird dieser Eindruck jedoch allein durch den normativen Druck der Umgebung, welche Konformität mit den entsprechenden Zuweisungen mentaler und sozialer Kompetenz belohnt.42 Dabei ist es wichtig zu sehen, dass sich die „Kenntnis der Bedeutung" dann nicht auf irgendeinen geheimnisumwitterten Gegenstand namens „Bedeutung bezieht 43 Vielmehr sind es die leitenden, prestigeträchtigen Uberzeugungen von „Experten" und Autoritäten, die im Rahmen einer „sprachlichen Arbeitsteilung" dafür die Maßstäbe und Meilensteine setzen. d) Sprachverstehen ist Personenverstehen. Das Problem des Juristen ist, welches Verständnis er den Rechtsunterworfenen berechtigterweise unterstellen kann, insofern dieses für sie maßgeblich ist. Dieses Problem kann nun durch den Bezug auf die sprachliche Arbeitsteilung angegangen werden. Allerdings darf man dabei nicht irgendwelche Gewissheiten erwarten. Bearbeitbar wird das Problem für den Juristen nun mit der Frage, welche Autorität einem bestimmten, für den Rechtsstreit relevanten Sprachgebrauch zuzumessen ist. Die Frage ist also, wie sich jene Autoritäten auffinden lassen, an denen sich orientiert, was als erfolgreiche Verständigung gelten kann.
41 Grundlegend zu diesem ganzen Komplex Hilary Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung", 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990. 42 Hilary Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung", 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990, 65. 43 Vgl. Hilary Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung", 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990, 94.
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Hans Kudlich, Ralph Christensen und Michael Sokolowski 3. Der Wortverwendung der Cybernauten auf der Spur
a) Hier nun hat der BGH durchaus Recht damit, dass diese Autorität nicht unbedingt die Wissenschaft sein muss. Das liegt nicht nur daran, dass deren Ruf als Wahrheitswalterin längst empfindliche Einbußen erlitten hat und dass eine wahre Inflation von Äußerungen mehr oder weniger selbsternannter „Experten" das Vertrauen in ebensolche erschüttert. Vielmehr verläuft semantische Prägung heutzutage längst nicht mehr vorwiegend vertikal, sondern hat sich gerade in den letzten Jahren radikal horizontalisiert. Dazu haben entscheidend die Entwicklungen des sogenannten „Web 2.0" beigetragen, 44 d. h. der „zweite Internet-Boom", in dessen Folge Inhalte und Meinungsbildung in einer nicht mehr übersehbaren Fülle und Vernetzung - etwa in Gestalt von Foren, Blogs, Wikis - im Internet zur Verfügung gestellt werden. Der BGH ist also durchaus auf der Höhe der Zeit, wenn er den Sprachgebrauch im Internet sucht und sich für ihn „dort ( . . . ) zwar durchaus etliche Webseiten (finden), auf denen darauf hingewiesen wird, dass Pilze - aus wissenschaftlicher Sicht - keine Pflanzen seien, selbst dort aber auch mit dem Zusatz, dass Pilze irrtümlich (d. h. umgangssprachlich) immer noch den Pflanzen zugerechnet werden." 45 Auf den in der „Bloggosphäre" geführten zahllosen Webtagebüchern hat sich eine umfangreiche (in sich zudem unmittelbar, oft in Echtzeit vernetzte) Kommunikationsplattform entwickelt. Im Austausch und vor allem in der Bewertung der häufig besuchten und ständig gepflegten Beiträge, hat sich in kürzester Zeit so etwas wie eine Experten- und Autoritätenkultur „von unten" ausgebildet46 Durch die wiederum meist unmittelbare Vernetzung wird sofort ablesbar, welchen Stellenwert und welche Qualifizierung die Benutzer den jeweiligen Autoren zumessen. Das alles geschieht nicht in irgendwelchen Nischen des Netzes. Vielmehr verzeichnen die Websites des Web 2.0 tausend- bis millionenfache Besucherzahlen. b) Gerade für Communities, die wie die Konsumenten und Liebhaber berauschender Pilze einerseits unter starkem sozialen Druck stehen, andererseits sich daher durch diesen Austausch beständig konstituieren und bestätigen müssen, kann das Internet durchaus als Belegquelle für die bei dieser Klientel voraussetzbaren Überzeugungssysteme und damit auch entsprechenden Semantiken gelten. Dabei zeigen, was Pilze angeht, die Belege, dass in Hinblick auf Pilze, ob nun im strengen Sinne Pflanze oder nicht, in der „Gemeinde" durchaus ein ausgeprägtes Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein herrscht. 47 Unsicherheiten, die eventuell noch 44
Einen Überblick gibt Tom Alby, Web 2.0. Konzepte, Anwendungen, Technologien, München/Wien 2007. 4 5 BGH NJW 2007, 524, 526. 46 Dazu Tom Alby, Web 2.0. Konzepte, Anwendungen, Technologien, München/Wien 2007, v.a. 21 ff. 47 Vgl. nur http://www.zauberpilz.com, sowie etwa auch http://www.pilzbroschuere.de der „Landesarbeitsgemeinschaft Drogen Berlin", http://www.cannabislegal.de/start.htm, http: //www.pilzbroschuere.de, http: //www.drogenring.org/index.htm;www.hanfverband.de.
Zauberpilze und Cybernauten
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bestehen, werden diskutierend ausgeräumt, wie der folgende Ausschnitt einer Forumsdebatte exemplarisch zeigt: „Pilze sind keine Pflanzen??? In Anlage I stehen neben chemischen Substanzen auch Tiere und Zellkulturen. Diese sind jedoch keine Stoffe gemäß § 2. Damit sind Tiere und Zellkulturen auch keine Betäubungsmittel. Pilze mit ihren verschiedenen Erscheinungsformen Sporen, Mycelien und Früchte sind in der Anlage I neben „Pflanzen und Pflanzenteile" ähnlich wie Tiere explizit erwähnt. Dies impliziert, dass Pilze mit dem Begriff „Pflanzen und Pflanzenteile" nicht erfasst sind. Damit sind Pilze auch keine Betäubungsmittel. Ist diese Argumentation schlüssig?" fragt der Psilocybernaut. Eine der Antworten: „ ( . . . ) also biologisch ist die sache eindeutig: pilze sind keine pflanzen, juristisch wurden sie allerdings oft darunter gefasst, aber warum werden sie dann extra in Anlage I erwähnt? Gesetze zeichnen sich doch nicht durch ausschweifende prosa aus. ( . . . ) Klar der Wirkstoff ist entscheidend. Pilze, die nix enthalten, unterliegen nicht dem btmg. Pilze, die psilocybin oder psilocin enthalten, sind, wenn sie zu rauschzwecken missbraucht werden sollen, Teil der Anlage I. Aber kein Stoff gemäß § 2, da sie weder pflanze, pflanzenteil, pflanzenbestandteil sind noch ein natürlich vorkommendes gemisch oder lösung darstellen. Da sie kein Stoff gem. § 2 und auch keine Zubereitung sind, sind sie kein betäubungsmittel gem. § 1. Dass der gehalt eines Wirkstoffs, der in anlage I steht, für die erfassung durch das btmg nicht ausreicht, zeigt die gängige handhabung von meskalinhaltigen kakteen. Im Allgemeinen dienen diese eben nicht dem missbrauch zu rauschzwecken und sind daher frei handelbar. kakteen der gattung trichocereus, die fast alle meskalin enthalten, bilden das ,rückgrat' der kakteenzuchtkunst. sie sind in jedem 2. gartencenter erhältlich." 4 8 Gleichzeitig lässt diese Diskussion erkennen, dass sich die als relevant zu betrachtenden Sprecher durchaus i m Klaren sind, worauf es dann ganz auch i m Sinn der teleologischen und grammatischen Argumentation des B G H ankommt. Nicht auf die Tatsache allein, dass man es mit Pilzen zu tun hat. Vielmehr darauf, wozu diese aufgrund der in ihnen enthaltenen Stoffe geeignet sind oder nicht. Es geht nicht um Pilze schlechthin, immer ist von „Zauberpilzen" die Rede, wenn die Frage nach einem Zusammenhang mit dem B t M G ins Spiel k o m m t . 4 9 Selbst wenn i m Gesetz ausdrücklich von „Pilzen oder Pilzteilen" die Rede wäre, käme niemand auf die Idee, die Frage nach Champignons zu stellen. Ausschlaggebend ist nach dem ganzen Duktus und Zweck des Gesetzes der Zusammenhang zu einer bestimmten Wirkung aufgrund der jeweils dafür verantwortlichen Substanzen. Und diesen Zusammenhang macht, wie sich aus den dazu aufgrund der immensen Besucherzahlen entsprechender Websites in hinreichender Verbreitung, Zugänglichkeit und Bekanntheit verfügbaren Belegen ablesen lässt, der Normtext für jeden, der es wissen will, klar. c) Die für die Entscheidung von Recht nach dem B t M G ausschlaggebende Frage ist also auch gar nicht, ob Sprache aus Pilzen Pflanzen macht oder nicht. Vielmehr 48 http://www.uni-protokolle.de. Siehe auch eine entsprechende Debatte unter http://cannabis-archiv.de.: sowie „Your psychedelic community. Land der Träume" unter http: / / www.land-der-traeume.de / forum.php?seite=2&t=5782. 49 So beispielsweise unter http: / / de.wikipedia.org / wiki / Zauberpilze.
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fragt sich, was die Verständigung jener Sprecher über Pilze ausmacht, die sich auf ihre gefährliche Reise in das Land jener Träume zu begeben gedenken. „Denn die Anlagen wenden sich, da sie strafbegründende Wirkung haben, auch an den Bürger und berücksichtigen - trotz der Komplexität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Betäubungsmittel - dessen Sprachverständnis. ( . . . ) Überdies könnte der Pflanzenbegriff in der Anlage I nicht anders bestimmt werden als in § 2 BtMG, der jedenfalls keine spezifisch wissenschaftliche Terminologie enthält." 50
V. Fazit Der BGH kann seine Auffassung also durchaus aus einer praktischen Semantik von „Pilz" begründen. Nur sollte er, wie jeder Jurist, dabei wissen, was er tut. Die Entscheidung, dass „unabhängig von ihrer naturwissenschaftlichen Zuordnung ( . . . ) psilocybin- und psilocinhaltige Pilze dem Anwendungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes (unterfallen)", lässt sich nicht aus einer entsprechenden Bestimmtheit des Wortlauts des BtMG ableiten. Einen solchen gibt es im Sinn einer Bedeutung, die jedermann erkenntlich sein müsste, schlichtweg nicht. Vielmehr lassen sich anhand der relevanten Belege sprachlicher Verständigung die Grenzen dessen ermessen, was an Bestimmbarkeit der betroffenen Klientel zugemutet werden kann. Oder etwas legerer ausgedrückt: welchen Reim diese sich erwartbar auf den Normtext machen wird. In diesem, aber auch nur in diesem Sinn war in dem anstehenden Fall „der Wortlaut der den Anwendungsbereich des Betäubungsmittelgesetzes bestimmenden Regelungen der §§ 1 I, 2 I BtMG i. V. mit der Anlage I zu § 1 I BtMG in den vom 1. 2. 1998 bis 17. 3. 2005 geltenden Fassungen ( . . . ) auch geeignet, dem Normadressaten den gesetzgeberischen Willen, auch den Umgang mit psilocybin- und psilocinhaltigen Pilzen unter Strafe zu stellen, zu vermitteln. Die Wortlautgrenze war nicht überschritten, da eine derartige Interpretation im Tatzeitraum vom aus der Sicht des Normadressaten erkennbaren Wortsinn des Terminus ,Pflanze 4 gedeckt ist, für ihn also jedenfalls das Risiko einer Strafbarkeit erkennbar war." 51 Nicht die Sprache des Normtextes zeichnet die Entscheidung über die Strafbarkeit der Tat in dieser Hinsicht vor. Vielmehr eröffnet sie einen semantischen Raum der Begründbarkeit einer Entscheidung darüber entsprechend dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot. Die Begründung ist juristisch argumentativ zu führen, wie es der BGH in seiner grammatischen, genetischen und systematischen Argumentation auch tut. 5 2 Verglichen mit den Belegen läuft diese in ihrem semantischen Duktus durchaus konform mit den bedeutungsprägenden Überzeugungen der Betroffenen, die sich aus den Belegen ablesen lassen. Worauf also läuft die Semantik des Pilzes hinaus? Macht Sprache denn nun aus ihm eine Pflanze oder 50 Vgl. BGH NJW 2007, 524, 525 f. 51 BGH NJW 2007, 524, 526. 52 Vgl. BGH NJW 2007, 534, 525.
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nicht? Die Antwort kann nur lauten: es kommt darauf an. Es kommt darauf an, wie der Jurist sich diese Semantik für seine Entscheidung von Recht zu eigen machen will. Sprache vermag ihn, wie immer, hier jedenfalls nicht aus der juristischen Pflicht zu nehmen. In ihr gründet das Problem, aber es lässt sich keine Begründung seiner Lösung aus ihr gewinnen. Willkür ist damit indes keineswegs Tür und Tor geöffnet. Der Jurist trifft auf eine Vielfalt semantisch prägender Überzeugungen, die zudem stets im Wandel begriffen sind. Diese können ihm daher seine Entscheidung über einen „Wortsinn" nicht vorgeben. Vielmehr markieren die Überzeugungen, die der Jurist plausibel belegbar der relevant betroffenen Population als geteilt und leitend unterstellen kann, einen Rahmen. Seine Entscheidung über den Wortlaut hat sich in diesem Rahmen zu bewegen. Damit aber ist die Entscheidung nicht gefällt. Vielmehr wird so erst einmal Entscheidbarkeit eröffnet. Es ist dann der Jurist, der anhand dieser Möglichkeit seine Entscheidung über einen „Wortlaut" treffen muss. Dafür hat er eigens die Arbeit einer Begründung auf sich zu nehmen. Erst durch diese transponiert er Semantik in rechtliches Bedeuten. Es geht für das Recht darum, sich in den kollidierenden sprachlichen bzw. semantischen Rationalitäten jeweils mit der Entscheidung vertretbar zu profilieren. Das probate Verfahren dazu ist juristische Argumentation, die für die nötige Bestimmbarkeit sorgt und durch die Recht vorhersehbar bestimmt zu bleiben vermag.
Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes? Von Ralph Christensen und Hans Kudlich I. Hinführung 1. In seiner juristischen Methodik1 erläutert Friedrich Müller im Zusammenhang mit „Normtext und Legitimität" den „realen Ablauf des einzelnen Entscheidungsvorgangs", der „mit einem Text" endet, welcher „die ,Bedeutung4 der geltenden Rechtsordnung" für den zu entscheidenden Fall wiedergibt. Verbindet man die Vorstellung von dieser Konkretisierung mit dem - in seiner grundsätzlichen Berechtigung unbestrittenen2 - Postulat der Gesetzesbindung, so kommt man dazu, dass der Richter scheinbar an etwas gebunden ist, was er selbst erst produziert, oder überspitzt formuliert: Der Richter weiß, dass er gebunden ist, aber vor seiner Entscheidung noch nicht, woran. Müller spricht hier von der „Paradoxie, dass sich die juristische Textarbeit die Grenze erst selbst zu ziehen hat, der sie unterworfen und an der sie zu messen ist". 3 Was aber dort ein bloßer (zumal noch ausdrücklich als „vordergründiger" bezeichneter) „Befund" ist, könnte an anderer Stelle als maßgeblicher Einwand formuliert werden, sieht man doch in „Paradoxien" nicht selten Schwachstellen eines Systems, die einem den Anforderungen an wissenschaftliche Erkenntnis und rechtsstaatlich gebotene Verlässlichkeit genügenden Rationalitätsmaßstab entgegenstünden. Insoweit ist wenig verwunderlich, wenn immer wieder auch und gerade solche Autoren, welche einerseits die Unzulänglichkeiten der traditionellen Bindungsmodelle erkennen, sich aber andererseits mit der Unterkomplexität des Dezisionismus nicht abfinden wollen, Versuche unternehmen, solche Paradoxien „aufzulösen". Unser Anliegen ist nun nicht, den Versuchen derartiger „Entparadoxierungen" einen weiteren hinzuzufügen. Vielmehr sind wir der Ansicht, dass juristische Rationalität nicht ohne Paradox - wenn man denn den o.g. Befund als solchen bezeichnen will - denkbar ist, dass aber andererseits ein solches Paradox auch nichts ist, was man „fürchten" müsste. Schon aus Gründen des Umfangs wol1 Hier zitiert nach Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, 9. Aufl., 2004, Rn. 531 f. 2 Vgl. nur Müller/Christensen, Juristische Methodik (Fn. 1), Rn. 219 ff. zur rechtsstaatlichen Textstruktur. Zur Diskussion der Möglichkeit einer Grenze der Textarbeit vgl. ebd., Rn. 337-347. 3
Müller/Christensen, Juristische Methodik (Fn. 1), Rn. 532.
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len wir uns dabei auf den elaborierten Ansatz Klaus Günthers beschränken, den gordischen Knoten, in den sich der Versuch, das rechtliche Verfahren zu begründen, immer wieder verstrickt, durch die strikte Trennung von Anwendungs- und Begründungsdiskurs zu zerschlagen. 2. An dieser Stelle nicht näher nachgegangen werden kann dagegen dem „Paradox interner Rationalität", das sich zu stellen scheint, wenn man aus den methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts Anforderungen an die Methodik praktischer Rechtsarbeit ableitet,4 weil die „Methode" dabei durch dogmatische Aussagen aus dem Verfassungsrecht begrenzt werden müsse, welches seinerseits den Gegenstandsbereich der Methodik bilde.5 Ebenfalls nicht vertieft werden kann vorliegend die Auseinandersetzung mit der diskurstheoretischen Sonderfallhypothese, die das Rationalitätsproblem durch Bezug auf die allgemeinen Prinzipien des praktischen Diskurses lösen und dabei der juristischen Entscheidung auch im Fall der Entscheidung zwischen kollidierenden Normen Maßstab und Begründung liefern soll. Das damit verbundene Postulat einer Sinnmitte in Gestalt des (gleichsam an die Stelle der Rechtsidee tretenden) diskursiv begründeten Konsenses6 ist - wie an anderer Stelle bereits näher gezeigt7 - praktisch nicht einlösbar. Denn der praktische juristische Diskurs ist eben kein Sonderfall des allgemeinen (idealen) philosophischen Diskurses.8 Er unterscheidet sich von jeder „idealen Sprechsituation"9 dadurch, dass es den Parteien im Rechtsstreit nicht einfach um die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern um den Erfolg 4 Vgl. dazu bereits Ralph Christensen / Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 280 ff. 5 Vgl. Jan Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267, in Anschluss an Bernhard Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., insbes. S. 96 ff. Vgl. zum Ganzen auch Bernhard Schlink, Juristische Methodik zwischen Verfassungstheorie und Wissenschaftstheorie, in: Rechtstheorie 1976, S. 94 ff. Dazu die Erwiderung von Friedrich Müller, Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: ders. Rechtsstaatliche Form - Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., insbes. 285 ff. 6 Vgl. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Aufl., 1996, S. 176 f. Dazu Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, S. 73 ff. 7 Vgl. Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 4), S. 82 ff. 8
Ausführlich zur Kritik Ulfrid Neumann, Zur Interpretation des forensischen Diskurses in der Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas, in: Werner Krawietz / Gerhard Preyer (Hrsg.), System der Rechte, demokratischer Rechtsstaat und Diskurstheorie des Rechts nach Jürgen Habermas, Rechtstheorie, Bd. 27, H. 3, 2., 2. Aufl., 2004, S. 415 ff. 9 Klassisch dafür Jürgen Habermas, Theorie kommunikativen Handelns. 2 Bde., 1987. Des näheren dazu Enrique P. Haba, Standortbestimmung zeitgenössischer Rechtstheorie Rawls, Dworkin, Habermas und andere Mitglieder der „heiligen (Rede-)Familie", in: Werner Krawietz/Gerhard Preyer (Hrsg.), System der Rechte, demokratischer Rechtsstaat und Diskurstheorie des Rechts nach Jürgen Habermas, Rechtstheorie, Bd. 27, H. 3, 2., 2. Aufl., 2004, S. 277 ff., 287 ff. Zur Kritik hier insbes. auch Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Die Sprache des Rechts, Band 2, 2005, S. 105 ff., 116 ff.
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für sich geht, 10 und die für das Urteil beanspruchte Richtigkeit kann nur am Verfahren und den vorgebrachten Argumenten gemessen werden. 11 Dagegen setzt die „für die Diskurstheorie konstitutive Bindung der Richtigkeit der Entscheidungen an ein bestimmtes Verfahren ( . . . ) voraus, dass dieses Verfahren den Gesichtspunkt der Unparteilichkeit und der Offenheit der Beteiligten für das ,richtige 4 Ergebnis operationalisiert." 12 Demgegenüber sperrt sich das Gerichtsverfahren „gegen die Zuordnung zum allgemein-praktischen Diskurs ( . . . ) auch im Hinblick auf institutionelle Besonderheiten forensischen Argumentierens. Nicht nur Prozesshandlungen wie Klageerhebung, Einlegung von Rechtsmitteln usw., sondern auch bestimmte Tatsachenbehauptungen haben den Charakter von Spielzügen, an deren Ausführung bzw. Unterlassung prozessuale Konsequenzen geknüpft werden." 13 Wenn also die Sonderfallhypothese einen praktischen Richtigkeitsanspruch voraussetzt und dann feststellt, dass der juristische Diskurs diesen Anspruch nicht einlösen kann, so ist damit nur bewiesen, dass der juristische Diskurs anders funktioniert, als es ihm nach der Theorie des praktischen Diskurses erlaubt ist. Damit zerschlägt sich die Hoffnung auf einen dem Verfahren entzogenen Rationalitätsmaßstab.
II. Die Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs 1. Angesichts der Schwierigkeiten, die ideale Sprechsituation i. S. der Diskurstheorie in der Verfahrenssituation des Rechtsstreits wieder zu finden, haben Vertreter der Diskurstheorie die Sonderfallhypothese aufgegeben. 14 Die Lösung, die sie für das Problem eines Rationalitätsmaßstabs juristischen Entscheidens vorschlagen, ist die einer strikten Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs. 15 Während bei der Begründung von Normen ihre abstrakte Gültigkeit thematisiert 10 Ausführlich dazu Friedrich Müller/Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. 11 Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle? Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts, 2002, S. 143. Das sehen teilweise auch die Diskurstheoretiker selbst, vgl. etwa Alexy, Theorie (Fn. 6), S. 264; allerdings sehen sie die Verfahrensbeteiligten beständig dem normativen Druck ausgesetzt, sich wenigstens der Form nach an die Präponderabilien praktisch vernunftorientierten Argumentierens halten müssen, damit ihre Auseinandersetzung über den bloßen Schlagabtausch hinaus als berechtigter Streit um Recht gelten kann, vgl. Alexy a. a. O., S. 434, sowie Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Aufl., 1994, S. 283, 289. 12 Neumann, Interpretation (Fn. 8), S. 415 ff., 418 f. 13 Neumann, Interpretation (Fn. 8), S. 415 ff., 419. 14
Siehe Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 1988; sowie im Anschluss daran Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 11), S. 138 ff. 15 Als Versuch dazu Klaus Günther, Kopf oder Füße? Das Rechtsprojekt der Moderne und seine vermeintlichen Paradoxien, in: Rainer Maria Kiesow / Regina Ogorek/Spiros Simitis (Hrsg.), Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag, 2005, S. 255 ff.; vgl. hierzu auch Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 36.
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wird, steht bei ihrer Anwendung die Angemessenheit in einer bestimmten Situation im Zentrum. Die normative Geltung von Recht als „Gerechtfertigtem" wird als Begründungsbasis einer Rechtserzeugung vorausgesetzt. Die Anwendung braucht sich damit selbst nicht mehr um eine Richtigkeit von Recht sorgen. Sie kann sich ganz auf ihre konkrete Berechtigung konzentrieren. Diese Lösung scheint bestechend. So könnte es gelingen, konsequent den Gegebenheiten des juristischen Verfahrens Rechnung zu tragen, ohne das Ziel einer anspruchsvolleren Begründung der Entscheidung aufzugeben. Die Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs will all den Problemen aus dem Weg gehen, die sich aus einer Kontaminierung des praktischen Diskurses moralischer Richtigkeit mit dem juristischen Diskurs ergeben. 16 Denn „eine ,im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vernünftige Begründung' kann ex definitione keine Geltungsbegründung sein. Vielmehr wird die Gültigkeit der Normen oder der Rechtsordnung im Ganzen in der juristischen Argumentation ja gerade vorausgesetzt."17 2. Wie aber soll sich dann überhaupt noch eine Richtigkeit der Entscheidung im Sinn einer „Angemessenheit" der mit ihr vollzogenen Rechtsanwendung ergeben?18 Dazu muss man an erster Stelle die Situation beachten. Darauf kann sich der Anwendungsdiskurs aber nicht beschränken. Die Entscheidung würde sich auf eine lediglich opportunistische und damit willkürliche Befriedung des aktuellen Rechtsstreits verkürzen. Es bedarf schon eines Pendants zum Forum der Richtigkeit von Recht, um eine ernstzunehmende Begründung über den Tag hinaus zu erreichen. Ein solches Pendant soll darin liegen, dass „zum einen alle relevanten Merkmale der Situation sowie zum anderen alle weiteren in Betracht kommenden, unter Umständen auch kollidierenden Normen zu berücksichtigen sind." 19 Diese Generalisierung ist sozusagen der Prüfstein für die Bewährung der Entscheidung als bestands- und geltungsfähig. Die Abfederung der Universalität durch den praktischen Diskurs zu einer Generalisierbarkeit der Anwendung soll durch eine Umkehr des Brennpunkts der Rechtfertigung bewerkstelligt werden: „Im Anwendungsdiskurs verändert sich der Gesichtspunkt, unter dem eine Norm thematisiert wird. Statt um ihre Geltung geht es nun um ihren Situationsbezug. Welche Norm einer Situation angemessen ist, lässt sich erst feststellen, wenn die Diskursteilnehmer alle prima facie anwendbaren Normen auf eine vollständige Situationsbeschreibung bezogen haben." 20 16
Vgl. Klaus Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 20, 1989, S. 163 ff., 186. Dann wiederum gegen eine Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs Robert Alexy, Normenbegründung und Normenanwendung, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, S. 52 ff., 17 Günther, Kohärenz (Fn. 16), S. 163 ff., 186. is Zu dieser Bestimmung Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 11), S. 286 f. 19 Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 148.
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Die große Frage der Richtigkeit vor dem Forum der Vernunft soll zur kleinen Frage der Berechtigung vor den Schranken des Gerichts reduziert werden. Es geht dann nicht mehr um die große Frage nach der Vernunft des erreichten Ergebnisses. Es geht nur noch um Adäquität und „Angemessenheit" des Weges.21 Die Frage nach einer absoluten Rationalität der Begründung wäre zurechtgestutzt auf die Frage nach einer relativen Rationalität der Anwendung, die beruhigt die erste dahin gestellt sein lassen könnte. Dies wäre sozusagen die irdische Version der Universalisierungsforderung des praktischen Diskurses. 3. Aber sind die Probleme wirklich beseitigt? Mit der Sonderfallhypothese teilt die Trennungsthese nach wie vor grundlegenden Prätentionen: Zum einen hält auch die Trennungsthese daran fest, dass es im Einzelfall nur die „einzig richtige Entscheidung" geben kann. 22 Das folgt daraus, dass diese Entscheidung zum anderen aus dem Ganzen des Rechts heraus vorgezeichnet ist. Nur so kann das Recht weiter als Garant für die Richtigkeit der Entscheidung wirksam sein, auch wenn die Richtigkeit des Rechts im Verfahren nicht zur Sprache gebracht und damit auch nicht in den Streit hinein gezogen wird. „Die spezifischen juridischen Regeln für die Konkretisierung von Normtexten sollen so rekonstruiert werden, dass sie eine kohärente Interpretation aller prima facie anwendbaren Rechtsnormen angesichts einer vollständig beschriebenen Situation ermöglichen." 23 Damit wird berücksichtigt, dass die als Begründungsbasis vorausgesetzte Norm natürlich nicht ihre Anwendung im konkreten Fall vorzeichnen kann. 24 Dies ist der unabsehbaren Dynamik der möglichen Rechtslagen und der Unübersehbarkeit der in der Norm liegenden rechtlichen Möglichkeiten für die Beteiligten geschuldet. Würde im Übrigen die Norm all ihre Anwendungen schon von sich aus die Richtung weisen, bräuchte man gar kein Verfahren. Man könnte es beim alten positivistischen Automatismus eines Rechts aus dem Gesetzbuch belassen. Andererseits muss die Entscheidung aber, um als angemessen gerechtfertigt werden zu können, über ihre Situationsverhaftung hinausweisen. Tut sie dies nicht, könnte man sie kaum als eine „Anwendung" ausweisen. Man landete beim alten dezisionistischen Gewaltstreich einer Schöpfung von Recht aus dem Nichts. Zuletzt muss der Nachweis der Angemessenheit im Verfahren möglich sein, ohne die zur Anwendung gebrachte Norm selbst mit in die Debatte zu verwickeln und damit einen sich unabsehbar fortschreibenden Begründungsbedarf loszutreten. Hinter die Gültigkeit der Norm wird also doch durch den Anwendungsdiskurs zwangsläufig erst einmal ein Fragezeichen gesetzt. Den in „Begründungsdiskursen 20 Günther, Kohärenz (Fn. 16), S. 163 ff., 175. 21 Siehe Günther, Sinn (Fn. 14). Zur kritischen Diskussion Alexander Somek/Nikolaus Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts, 1996, S. 319 ff. 22 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 11), S. 256. 23 Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 37. 24 Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 36.
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gerechtfertigten Normen kommt nur ein „prima facie-Charakter" zu, d. h. die Anwendung steht unter einem „ceteris paribus-Vorbehalt. " 2 5 Das kann nur bedeuten, dass der Anwendungsdiskurs die Geltung der Norm nicht ganz so vorbehaltlos voraussetzt, wie die Trennungsthese nahe legt. Damit vollzieht sich die erste Aufweichung der Trennungsthese. Der Anwendungsdiskurs geht als sein Ansatzpunkt keineswegs von der Gültigkeit des Gesetzes aus. Vielmehr unterstellt er erst einmal nur die Geltung der Norm in dem aktuell vorliegenden Rechtsfall. Das heißt, der Anwendungsdiskurs soll auf der einen Seite zwar nicht die Gültigkeit der Norm problematisieren; dies ist dem Begründungsdiskurs vorbehalten, der für die Entscheidung als gelungen unterstellt wird. Auf der anderen Seite soll der Anwendungsdiskurs aber sehr wohl die Gültigkeit der Norm nicht fraglos unterstellen. Die Norm besagt zwar, dass man nach ihr zum Recht kommen kann, sie vermag aber nicht zu sagen, wann das der Fall ist und wie dies im Einzelnen geschehen soll. Sie weist an, dass in einer entsprechenden Rechtslage nach ihr zu verfahren ist; dies gibt der Anwendung das Thema vor. Die vorderhand gültige Norm vermag aber nicht zu sagen, welches diese Lage ist und wie sie dementsprechend einzusetzen und anzuwenden ist. Das kann daher allein Sinn und Zweck eines Anwendungsdiskurses sein. Denn „dass eine Norm prima facie gilt, bedeutet nur, dass sie unparteilich begründet worden ist; erst ihre unparteiliche Anwendung führt zur gültigen Entscheidung eines Falles. Die Gültigkeit der Norm verbürgt noch keine Gerechtigkeit im Einzelfall." 26 Das zieht natürlich die Frage nach sich, wie man entscheiden kann, ob der Anwendungsdiskurs richtig liegt. Nach der Trennungsthese soll dies im Lichte der weiteren Normen im Gefüge des Rechts geschehen. Jede gültige Norm soll „mit allen anderen gültigen Normen eine kohärente Ordnung bilden", welche aber erst in der einzelnen Situation durch angemessene Interpretation generiert werde." 27 Diese Ordnung springt in der Frage des Zweifels oder gar der Kollision als Bewertungs- und Abwägungsgrundlage ein. Ausschlaggebend ist dann die Variante, die sich kohärent der rechtlichen Ordnung fügt: „Anwendungsdiskurse stehen ( . . . ) unter der Anforderung, bei Berücksichtigung aller für eine Situation relevanten Merkmale die als angemessen angesehene Norm auszuwählen, inhaltlich zu bestimmen und unparteilich anzuwenden. Da die Geltung von Normen durch sie unangetastet bleiben soll, bildet die Auflösung sogenannter externer Normkollisionen und die Einbettung von dabei zu entwickelnden Kollisionsregeln in ein kohärentes Schema den zentralen Bezugspunkt."28 4. Dies ist die alte Idee der Einheit des Rechts in neuem Gewände. Ihren Niederschlag findet sie darin, dass der Anwendungsdiskurs alle denkbaren Anwendungs25
Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 36. Siehe dann auch selbst Günther, Sinn (Fn. 14), S. 78 ff., 266. 2 6 Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 11), S. 266. 27 Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 37; sowie Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, S. 119 ff., 141. 28 Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 337.
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Situationen zu erwägen hat, um darüber befinden zu können, ob der aktuell vorliegende Fall dazu gehört. Zugleich aber wird diese Ordnung erst durch die angemessene Anwendung geschaffen. Das ist zwar prinzipiell richtig. Die Rechtserzeugung bewegt sich als ein holistisches Unternehmen immer entlang einer Kontextualisierung ihrer einzelnen Argumente zugunsten von deren Abstützung oder Widerlegung. Zugleich stellt diese Kontextualisierung aber erst einen Zusammenhang her, der sich als ein System von Recht jeweils präsentiert. 29 Genau dies muss die Trennungsthese bestreiten. Denn damit ist der Anwendungsdiskurs genötigt, jenen Begründungsdiskurs zu führen, der als eine unabhängige Rationalitätsquelle eigentlich ausgeklammert bleiben sollte. Also muss dafür doch den Normen eine „eine alle möglichen Kontexte übergreifende Geltung" unterstellt werden, damit arbeitsteilig „komplementär dazu ( . . . ) das , An wenden4 ( . . . ) die Relevanz von Normen für einzelne Kontexte" herausstellen kann. 30 Auf der einen Seite wird Gültigkeit vorausgesetzt, damit die Anwendung als eine Entscheidung von Recht gelingen kann. Auf der anderen Seite aber doch wieder nicht, damit die Anwendung als eine angemessene erfolgreich sein kann. Bei Licht besehen kann dies nur durch das Prozedere des Verfahrens eingelöst werden. Die Gültigkeit der Norm wird über eine situationsadäquate Interpretation in das Verfahren eingeführt. Darin macht sich ein universalisierendes Moment bemerkbar, aus dem sich die Rechtfertigung der Entscheidung speisen soll. Sie soll gewissermaßen dadurch das aktuelle Erbe des Begründungsdiskurses antreten können, „aufgrund einer möglichst umfassenden Situationsbeschreibung vor dem Hintergrund geltender Normen eine vollständige unparteiliche Situationsdeutung zu erarbeiten." 31 Zugleich muss sich das Verfahren als ein Anwendungsdiskurs an den Begründungsdiskurs zurückwenden, um diese Situationsbeschreibung ins Benehmen mit der gültigen Norm zu setzen, sie als einen ihrer Fälle ausweisen. „Welche Norm zur Anwendung gelangt, hängt davon ab, welche als korrekt erachtete Norminterpretation sich mit der angemessenen Situationsdeutung zur Deckung bringen lässt." 32 Schaut man genau hin, dann hat sich unter der Hand die Norm von einer Voraussetzung in ein Argument verwandelt. Sie fungiert nicht mehr als Bezugspunkt für das Verfahren. Vielmehr dient sie im Verfahren, als Bestandteil des Verfahrens dazu, die Situation des zur Entscheidung anstehenden Streits in eine durch die Entscheidung zu formulierende Rechtslage zu transponieren. „Mit konkreten Situationsbeschreibungen konfrontiert erscheinen geltende Normen mithin wie bloß prima-facie anwendbare ,Prinzipien 4. Sie verwandeln sich in vorrangig zu berücksichtigende Argumente, die in einen Diskurs über Angemessenheit eingebracht werden." 33 29 Ausführlicher dazu Christensen / Sokolowski, Krise (Fn. 9), S. 105 ff., 147 ff. 30 31 32 33
Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 337. Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 337. Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 337. Somek/Forgo, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 338.
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5. Damit ist die angeblich so „strikte" Trennung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs bis zur Unkenntlichkeit porös geworden. Infolgedessen steht auch neuerlich die Frage an, aus welcher Quelle sich dann die Rechtfertigung der Entscheidung speisen soll, wenn die Anwendung ganz offensichtlich das Recht nicht einfach voraussetzen kann. Günther weicht hier auf die Semantik aus,34 indem er davon ausgeht, „dass geltende Normen, sobald sie gemeinschaftlich akzeptiert sind, eine durch sprachliche Verwendungsregeln garantierte feststehende Bedeutung haben, die an sich von jener, welche sie im Anwendungsdiskurs zeigt, unabhängig ist, mag sie in diesem auch genauer ermittelt werden können. Dieser semantische Gehalt müsste der Anwendung folglich ,Deckung' verleihen können." 35 Damit handelt sich die Trennungsthese ein gewaltiges Problem ein. Die „Deckung" der Anwendung soll dadurch möglich sein, dass die Norm in ihrem Bedeutungsgehalt eine Regel gibt, auf deren Befolgung hin der aktuell zur Entscheidung anstehende Fall geprüft werden kann. Seine Lösung stellt dies im Urteil fest. Semantik ist die Folie, auf der juristische Praxis zu einer gerechtfertigten Entscheidung von Recht kommen kann. Als Scheck auf eine Rechtfertigung der Entscheidung ist dies selbst aber wiederum ungedeckt.36 Denn nach eigenem Eingeständnis der Trennungsthese kann er nicht anders eingelöst werden, als „dass die Beteiligten an einem Anwendungsdiskurs selbst darüber zu entscheiden haben, ob sich die Konstruktion einer individuellen Norm im Rahmen eines Systems gültiger Normen bewegt oder nicht. Die Anwender legen also die Grenzen des geltenden Gehalts von Normen fest." 37 Oder anders ausgedrückt: der Anwendungsdiskurs prägt selbst die Münze, die er für die Richtigkeit der Entscheidung einzulösen hat, die Begründung. Für den Anwendungsdiskurs ist unglücklicherweise das Paradox wieder erreicht, das er zum Verschwinden bringen sollte. Das Kunststück, mit der Gültigkeit der Norm zu operieren und gleichzeitig doch wieder nicht, soll sich in die Frage nach der Bedeutung der Norm als Regel für die Entscheidung auflösen. Damit ließen sich die zunächst in sich widerstreitenden Momente von Vorgabe durch die Norm und Handhabung als Norm in das Verhältnis von Regel und Befolgung auseinander legen. Als Handlungsanweisung hätte man zum einen eine Kohäsion. Zugleich ließe sich diese in ihre abstrakte Form als Regel und ihre konkrete Erscheinung als Befolgung zerlegen. Zwischen Regel und Befolgung bestünde dann ein Ableitungszusammenhang. Allerdings ist dieser Zusammenhang tatsächlich ein interner. Das bedeutet, dass die Trennungsthese mit ihrer Bewegung in die Semantik lediglich das Paradox der 34 Vgl. Günther, Kohärenz (Fn. 16), S. 163 ff., 176. 35
Somek/Forgo, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 340. Zu dem mit Günthers Semantisierung einhergehenden „Problem der Unbestimmtheit" Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 4), S. 87 ff. 37 Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 340.; sowie Günther, Kohärenz (Fn. 16), S. 163 ff., 181. 36
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Entscheidung gegen das Regelparadox eintauscht. Das sieht auch Günther selbst.38 Wenn die Entscheidung im Anwendungsdiskurs aus dem Normtext abgeleitet wird, kann dies nur in die Suche nach einer sprachlichen Regel münden, deren Deutung dann im Regelparadox endet. Dem könnte die Trennungsthese nur entgehen, wenn zwischen der Regel und ihrer Anwendung eine stabil präformierende Beziehung bestünde. Das ist aber ganz und gar nicht so, wie Günther eingestehen muss: „Keine Regel kann ihre eigene Anwendung regeln. Regeln für die Anwendung einer Regel müssen ihrerseits angewendet werden, ohne ihre eigene Anwendung regeln zu können, usw." 39 Wittgensteins Konsequenz daraus ist bekanntlich, das Regelfolgen konsequent als Praxis aufzufassen. Mit jeder Befolgung steht die Regel auf dem Spiel, sofern eine Abweichung eine Regelveränderung nach sich ziehen kann, statt als Fehlschlag sanktioniert zu werden. Alles hängt so von der „Auffassung einer Regel" ab, „die nicht eine Deutung ist, sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ,Regel folgen 4 und was wir ,ihr entgegenhandeln' nennen.4'40 Genau darum geht es bezogen auf rechtliche Normierungen vor Gericht. Strittig ist damit auch gar nicht, was der rechtlichen Regel genügt. Strittig ist vielmehr, was im anstehenden Fall überhaupt die Regel ist. 41 Der Normtext als Anweisung auf eine Regelformulierung weist dem Streit darum lediglich bindend seine Perspektive. Den Inhalt dieser Form muss das Verfahren aber erst festlegen. 42 Die Trennungsthese kann das natürlich nicht wollen, da es bedeutet, dass Begründungs- und Anwendungsdiskurs als rechtliches Verfahren intern relationiert sind. Sie sind lediglich zwei Seiten der gleichen Medaille einer argumentativen Rechtfertigung der Entscheidung. Günther meint dem entgehen zu können, wenn er Wittgensteins Vorgabe zur Auflösung des Regelparadox für das juristische Verfahren doch noch einmal externalisieren will. Man müsse nur den Blick aus dem engeren Zusammenhang des Verfahrens heraus lenken. Was als Regelbefolgen gelten kann, entscheidet sich demnach nicht erst fallweise durch die Anwendung. Vielmehr „beziehen wir uns immer auf ein ganzes Netzwerk mehr oder weniger gut geordneter Normen. Innerhalb dieses Netzes operieren wir im Hinblick auf sich verändernde Anwendungssituationen und werden dabei mit unvorhersehbaren Normkollisionen konfrontiert, die nach einer kohärenten Auflösung in kommunikativen Verfahren durch die Be-
38 Vgl Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 267 ff. 39 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 272. 40
§201.
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 8, 1984,
41 Siehe Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Wie normativ ist Sprache? Der Richter zwischen Sprechautomat und Sprachgesetzgeber, in: Ulrike Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Institut für Deutsche Sprache, 2002, S. 64 ff., 68 f. 42 Im Einzelnen und ausführlich dazu Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre. 2. Aufl., 1994.
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troffenen selbst (die ja in Anwendungssituationen keinen Beobachterstandpunkt außerhalb ihrer Praxis einnehmen können) verlangen. Dieses Erfordernis ist kein Indiz für ein essentielles Defizit regelgeleiteter Praxis überhaupt, sondern bloß für die Zukunftsoffenheit unserer Praxis. Wir fangen eben nicht in jeder neuen, unvorhergesehenen Situation von neuem an, uns Regeln zu schaffen." 43 Einen Ausweg für das Problem der Selbstverfertigung der Begründung durch die Entscheidung ergibt das nicht. An erster Stelle ist die Stabilität entsprechend sozial verankerter „Rechtsparadigmen" 44 kontingent. Eine systematische Beziehung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs lässt sich darauf nicht bauen. Es bedeutet nur, dass man sich an den jeweiligen Gewissheiten auf Zeit orientiert, um zuzusehen, wie es damit aktuell weiter gehen kann. Mehr nicht. Systematisch steht immer alles auf dem Spiel. Paradigmen als Überzeugungssysteme und Leitlinien sind letztlich nicht weniger fragil als Regeln. Jede durch sie geleitete Argumentation kann sie aus dem Sockel heben und verändern. Gerade das aber ist in besonderer Weise im Rechtsstreit der Fall. Mit jedem Argument steht die Stabilität jenes „Netzes" in Frage. Und das kann auch gar nicht anders sein, sofern juristisches Argumentieren im Wechselspiel der Interpretation von Äußerungen aus Überzeugungen und deren Erschließen wiederum aus dem, was die Beteiligten zum Ausdruck bringen, sich als Arbeit an der Regel vollzieht. Diese sind also mitnichten festgeschürzte Knoten im Netz. Sicher, dies mag halten, solange der Streit nur um das richtige Anwenden der Argumentformen geht, solange also lediglich Fragen der juristischen Kunstfertigkeit zur Debatte stehen. Im Moment ihrer Thematisierung als Streit um Recht aber droht ihnen die Auflösung und mit ihnen das Kollabieren des Ganzen.45 Das wiederum hängt damit zusammen, dass, schärfer noch, die sozial eingefahrenen Paradigmen von Recht im Antagonismus des Rechtsstreits gerade nicht die Rolle eines Endpunkts für die Ableitung der Entscheidung spielen. Sie sind vielmehr genau umgekehrt Ausgangspunkt für die Parteien, überhaupt in den Rechtsstreit eintreten zu können. An ihnen müssen sie nämlich ihr Vorbringen überhaupt erst einmal relevant als Rechtsmeinung ausweisen. Das bedeutet, dass mit dem Rechtsstreit jene Paradigmen mit sich in Widerstreit liegen, über die juristisch zu urteilen ist. Ganz analog zur Regel geht es also im Rechtsstreit nicht darum, was nach den entsprechenden Paradigmen rechtens ist, sondern darum, was im Fall zugrunde zu legendes Paradigma des Rechts ist. Es führt also kein Weg daran vorbei, dass sich auch „eine semantisch konzipierte Grenze zwischen dem Gehalt einer geltenden Norm und einer durch diesen ,ge43 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 272. 44 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung (Fn. 11), S. 270 f. Kritisch dazu Engländer, Diskurs (Fn. 11), S. 148 f. Auf die Differenzen zwischen Habermas und Günther braucht hier in der Grundsatzdiskussion der Angemessenheit des Konzepts der „Angemessenheit" nicht eingegangen zu werden. Siehe dazu Somek / Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 346 ff. 45 Siehe auch Christensen / Sokolowski, Krise (Fn. 9), S. 105 ff., 147 ff.
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deckten4 Anwendung in der Tat nicht ziehen lässt.4446 Von der Trennungsthese bleibt so nichts übrig. So gesehen hat auch Robert Alexy recht, wenn er gegen Günther die Unmöglichkeit einer Trennung von Begründungs- und Anwendungsdiskurs einwendet: „Die Idee des Anwendungsdiskurses ist zugleich richtig, leer und missverständlich. Sie ist insofern richtig, als sie die alte hermeneutische Forderung der Berücksichtigung aller Gesichtspunkte zum Ausdruck bringt. Diese Forderung ist ein elementares Rationalitätspostulat. Sie ist leer, weil sie nicht sagt, welche Gesichtspunkte wie zu berücksichtigen sind.44 Und „schließlich ist die Idee des Anwendungsdiskurses missverständlich, weil sie die Gefahr einer nicht-universalistischen Entscheidungspraxis birgt. 4 ' 47 Allerdings kritisiert Alexy die Trennungsthese ersichtlich aus den falschen Gründen. 48 Denn die Unterwerfung des juristischen unter den praktischen Diskurs verspricht, wie gesehen, ebenso wenig einen aussichtsreichen Weg rationaler Begründung rechtlicher Entscheidungen. Es bleibt dabei, dass kein höheres Wesen das Recht rettet, weder in Gestalt diskursiv moralischer Prinzipien noch in Gestalt eines Gefüges gültiger Normen. Recht kann nur performativ im Verfahren geschaffen werden. Damit muss man sich aber in jedem Verfahren auch dem Paradox stellen, jene Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht immer wieder zu schaffen, auf die man bauen will.
III. Paradox und Performanz 1. Die Trennungsthese ist mit ihrer Fokussierung auf die Praxis des Verfahrens durchaus auf dem richtigen Weg. 49 Denn sie bewegt sich mit der Betonung des Anwendungsdiskurses weg von den idealen Annahmen der Diskurstheorie und hin zur Pragmatik der tatsächlichen Rechtsanwendung. Günther räumt sogar den für das Recht produktiven Charakter des Verfahrens ein, weil die Anwendungen den „semantischen Gehalt" von Normen verändern und dadurch neue Begründungsfragen aufwerfen. 50 Die Trennungsthese scheitert allerdings daran, dass sie ein prozedurales Rechts Verständnis mit der Statik der Begründungsfragen verknüpfen will. Die übergeordnete Rationalität konterkariert die Pragmatik. 51 Wenn Günther den produktiven Charakter des Verfahrens benennt, lässt er gleich wieder den Nachsatz folgen, dass die Anwendungsdiskurse „ ( . . . ) unter dem Anspruch einer erschöpfenden Berücksichtigung aller relevanten Normen und 4
6 Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 341.
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Siehe Alexy, Normenbegründung (Fn. 16), S. 171. « Siehe Christensen/ Kudlich, Theorie (Fn. 4), Berlin 2001, S. 86 ff. 49 Vgl. Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 358. so Vgl. Günther, Sinn (Fn. 14), S. 95.
4
5i Siehe Somek/Forgö, Nachpositivistisches Rechtsdenken (Fn. 21), S. 361 f. Ansonsten dazu Ralph Christensen, Die Paradoxie richterlicher Gesetzesbindung, in: Kent Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts. Die Sprache des Rechts II, 2005, S. 1 ff., 7 ff.
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Situationsdeutungen (stehen). Unter diesem Anspruch lässt sich die Angemessenheit einer Normanwendung sowohl von den Zeitgenossen als auch von späteren Generationen rational kritisieren." 52 Seine Theorie bleibt damit einem legalistischen Rechtsverständnis verhaftet, wonach die Hauptlast der Legitimation vom Gesetz getragen wird, obwohl der Anspruch auf Legitimität performativ im Verfahren einzulösen wäre. 53 Das weitere Entgegenkommen, das die Theorie Günthers der performativen Seite zollt, lässt ihr Festhalten an den Idealen diskursiver Begründung dann ins Proklamative abgleiten, ganz so, wie auch schon die vielfältige Berufung auf das Konzept der Abwägung. Diese bleiben bloßes Programm. Sie sind nicht mehr als das Versprechen eines vagen Fluchtpunkts für die Arbeit an Recht. Die Einlösung bleibt zwangsläufig vertagt. Sie vermag nicht mehr praktisch zu werden. Davor steht dann eben doch die Einsicht in die Gegebenheiten und Nöte des rechtlichen Verfahrens. Zumal wenn Günther in Hinblick auf das Regelparadox selbst noch einmal betont, dass „die Regeln, auf die wir uns einmal eingelassen haben, ( . . . ) ihrer interpretativen Ergänzung in neuen Situationen (bedürfen) - es sei denn, wir hätten Anlass, eine bestehende Regel überhaupt zu verwerfen. Diese ergänzenden Anwendungsdiskurse sind nicht weniger vernünftig als die Überlegungen, die wir anstellen, wenn wir die Legitimität einer Norm überhaupt prüfen." 54 2. Es stellt sich die Frage, warum dann überhaupt noch an einem der Praxis vorgegebenen Rationalitätsideal festgehalten werden soll. Das Motiv benennt Günther deutlich. 55 Es ist die Furcht vor dem schon eingangs erwähnten Gespenst, das seit Luhmann in der Rechtstheorie umgeht: 56 dem Paradox. 57 „Es taucht in verschiedenen Varianten auf: Vor dem Hintergrund einer Theorie der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften wird das Recht autonom. Das Rechtssystem muss dann sich selbst reproduzieren, und das heißt vor allem, das Recht und die Unterscheidung von Recht und Unrecht selbst begründen. Auf eine Paradoxie führt dann die Frage nach dem Recht zur Einführung der Unterscheidung von Recht und Unrecht. Dahinter verberge sich bloß die Selbst-Ermächtigung des Rechts als ein performativer Akt, der selbst grundlos und deshalb gewalttätig (und das heißt: Unrecht) sei. Interne Begründungen erscheinen dann nur als Verschleierungen, ,Invi52 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 273. 53 Zu dessen Kritik Christensen, Paradoxie (Fn. 51), S. 1 ff., 3 ff. 54 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 272 f. 55 Siehe Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff. 56 Vgl. Klaus Lüderssen, Paradoxien im Strafrecht und Strafprozessrecht, in: Rainer Maria Kiesow / Regina Ogorek/Spiros Simitis (Hg), Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag, 2005, S. 367 ff. Siehe dann Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993; sowie des näheren ders., Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungsarchiv 84, 1993, S. 287 ff. Vgl. auch Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 262. 57 Siehe analog Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd. 6, 1984, Teil IV, § 56: „Der Widerspruch. Warum grad dieses eine Gespenst? Das ist doch sehr verdächtig."
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sibilisierungen' dieser Paradoxie; geschickte Manöver, mit denen die Beteiligten sich selbst täuschen, um sich nicht im Antlitz der Paradoxie selbst zu blockieren." 58 Dieses Gespenst gilt es Günther zu bannen. Denn mit ihm „erscheinen zentrale Elemente des Rechtsprojekts der Moderne als unauflösbare Paradoxien: die Paradoxie der Rechtsbegründung, die Paradoxie der Entscheidung und die Paradoxie der Regelanwendung. Diese Argumente zielen auf den Kern des Rechtsprojektes der Moderne, seinen Vernunftanspruch." 59 Hier sollen nur die beiden letzteren interessieren, das Entscheidungs- und das Anwendungsparadox. Die Rechtstheorie alteuropäischen Zuschnitts steht offenbar vor dem Paradox wie das Kaninchen vor der Schlange, zu keinem klaren Gedanken an die Realitäten des Rechts mehr fähig. Um der Furcht Herr zu werden, will sie das Paradox semantisch entsorgen: „Bei gehörigem Nachdenken und Berücksichtigung aller Tatsachen"60 verschwinden Paradoxien und sind die Widersprüche auf einer wenn auch entfernten höheren Ebene auflösbar. Auch unter rechtstheoretisch gut orientierten Juristen ist diese Meinung sehr verbreitet, man kann sie mit vielen Beispielen unterstützen. Man solle daher die Literatur über Paradoxien nicht so ernst nehmen, „wie sie das selbst tut." 61 Angesichts der Probleme, die sich die Rechtstheorie immer wieder damit einhandelt, dem Paradox aus dem Weg zu gehen, ist dies jedoch eher ein Pfeifen im Walde. Es ist daher nötig, sich der Semantik der Rede vom „Paradox" zu vergewissern. 62 Die Philosophie jedenfalls ist ganz gut damit gefahren, sich anhand ihrer Paradoxien immer wieder auf sich selbst zu besinnen. Dies könnte auch für das Recht gelten.63 Vielleicht ist es doch mehr als ein Ausbund der „versnobten Intellektualität". 64
58 Vgl. Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 262 f. 59 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 262. 60 Lüderssen, Paradoxien (Fn. 59), S. 367 ff., 367. 61 Lüderssen, Paradoxien (Fn. 59), S. 367 ff., 367. 62 Siehe knapp enzyklopädisch mit umfangreichen Weiterverweisen auf die klassischen Paradoxien im Einzelnen der Wikipedia-Artikel „Paradoxon" unter http: //de.wikipedia.org/ wiki / Paradoxon. Zu einem Überblick über die Problemgeschichte der Artikel „Paradox" in Joachim Ritter /Karlfried Gründer (Hrsg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 7: P - Q, 1989, Sp. 81 ff.; sowie zum Begriff Klaus Schäfer, Paradox, in: Hermann Klings/ Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Band II, Gesetz - Relation, 1973, S. 1051 ff. Des näheren dann auch Oren Perez, Law in the Air: A Prologue to the World of Legal Paradoxes, vervielf. 2004. 63 Dazu Gunther Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Christian Joerges/ders. (Hrsg.), Rechts verfassungsrecht: Recht-Fertigungen zwischen Sozialtheorie und Privatrechtsdogmatik, 2003, S. 249 ff. 64 Lüderssen, Paradoxien (Fn. 59), S. 367 ff., 367.
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IV. Semantisch lexikalische Analyse 1. Auf den ersten Blick allerdings scheint die sprachliche Gesellschaft, in der sich das Wort befindet, wenig Gutes zu verheißen. Das Wort findet sich im Wörterbuch auf dem Feld der „Unlogik", als Adjektiv paradox etwa in einer Reihe mit „sinnlos, trügerisch, ungereimt, ungültig, unhaltbar, unklar, unrichtig, unsinnig, unvernünftig, unwissenschaftlich". 65 So liest man es auch in den allgemeinen Wörterbüchern, allen voran im Wortfamilienwörterbuch, die durchweg das Lemma Paradox erklären durch „widersinnig, widersprüchlich". 66 Der Duden sekundiert mit der Bedeutungsangabe „merkwürdiger-, unsinnigerweise" ausdrücklich für den umgangssprachlichen Gebrauch. 67 Die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen, 68 gerade auch auf der Suche nach Synonymen. Gleichen Sinns mit der Verwendung von paradox wären demnach beispielsweise „abstrus, absurd, folgewidrig, unlogisch, unsinnig, unvereinbar, vernunftwidrig, widersinnig, widersprechend, widersprüchlich". 69 Die Lexikographen können sich insoweit scheinbar auch auf den Sprachgebrauch verlassen. Floskeln wie „aberwitzig und paradox" oder „mehrdeutig, verwirrend und paradox" erscheinen zunächst durchaus gängig und typisch. 70 Damit nicht genug. Das Paradoxe, als ohnehin schon abseitig genug, scheint sogar noch Steigerungen zu kennen. Etwa, wenn etwas „sehr paradox" ist, „besonders paradox", „doppelt paradox", „wahrlich paradox", „völlig paradox", „absolut paradox" oder gar auch noch „paradox und ungerecht". 2. Nun wäre es allerdings voreilig, wenn der Rechtstheoretiker meinte, er könnte für seine Warnungen vor dem Paradox die Semantik für sich einnehmen. Das Feld der Unlogik, oder auch der „Ungewissheit" und des „Misstrauens", in dem sich 65
Franz Dornseiff, Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. 8. Aufl., 2004, 11.17. Gerhard Äugst, Wortfamilien Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 1998. 67 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Band 6: Lein-Peko,3. Aufl., 1999, S. 2851. 68 Siehe etwa Gerhard Wahrig/ Hildegard Krämer/Harald Zimmermann (Hrsg.) Brockhaus-Wahrig. Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden. Fünfter Band P-STD, 1983; Günter Kempcke (Hrsg.), Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. In zwei Bänden. L Z, Berlin 1984, S. 852; Ruth Klappenbach/ Wolfgang Steinitz (Hrsg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 4. Band M - Schinken, Zehnte, bearbeitete Auflage, 1985; Lutz Mackensen, Deutsches Wörterbuch. Neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, 1991; Das Große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, 1994; Karl Peltzer / Reinhard von Normann, Das treffende Wort. Wörterbuch sinnverwandter Ausdrücke, o.J., S. 420. 69 Erich Bulitta / Hildegard Bulitta, Wörterbuch der Synonyme und Antonyme. Sinn- und sachverwandte Wörter und Begriffe sowie deren Gegenteil und BedeutungsVarianten, 2003, S. 607. Siehe auch Synonymwörterbuch. Der treffende Ausdruck - das passende Wort. Völlig neu bearbeitet und erweitert, 1995, S. 375. 70 Ausgewertet die Korpora des Institut für Deutschen Sprache unter COSMAS II, Version 3.6.0.2, siehe http: //cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/index.jsp. 66
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das Wort paradox findet, ist nicht die ganze lexikalische Wahrheit. 71 Schon der Sprachgebrauch weiß davon, dass etwas nur „auf den ersten Blick paradox erscheint", denn „bei näherem Hinsehen ist die Situation nur scheinbar paradox". Sicher, manches „mutet geradezu paradox an" und „klingt doch irgendwie paradox". Aber es „klingt" oder „tönt" eben nur so. Nicht jede „paradox wirkende Situation" ist auch eine solche, und bei näherem Hinsehen, mag sie sogar „scheinbar paradox, aber wahr", wenn nicht gar „paradox, aber logisch" sein, zumindest ist sie so „zwar,paradox', aber Realität". Das lässt natürlich aufhorchen und im Wörterbuch noch einmal nachfragen, wie es umgekehrt mit der Sicherheit in der Bedeutung bestellt ist. In seinen Belegen folgt es durchaus dem Sprachgebrauch. 72 Das Wortfamilienwörterbuch setzt unübersehbar in der Möglichkeit ein „(scheinbar)" vor die Erklärung als „widersinnig" 7 3 und steht damit wiederum nicht allein. 74 Einmal auf dieser Spur lässt auch der Dornseijf in der Verortung der Lemmata paradox noch andere Umgebungen erkennen. Er siedelt sie etwa auch im Feld der „Verwunderung" an, in dem es in einer Reihe steht mit „rätselhaft, seltsam, sensationell, sonderbar", zugleich auch mit Worten wie „überrascht, verblüfft" und „auffallend, außerordentlich, befremdend, erstaunlich". 75 Diese Spannbreite mag sprachlich etwas ahnen lassen von dem Schwanken zwischen Bestürzung und Innovation, die die Rolle prägten, die die Paradoxa seit je her in der Philosophie spielten. Das ist vielleicht gar nicht so verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in der Wurzel noch ein schlichtes antipodisches Verhältnis besagt ist. Das Paradox lässt sich in der Komposition „von jrapa-, para~" als „gegen" und „ööä;a, doxa-" als „eigentlich eher der Ruhm, hier im Sinne von die Meinung, Ansicht" zurückführen, in der Zusammensetzung etwa weiter zu „Paradoxie (jraQaöo^L)" zunächst als nicht mehr als „Widerspruch". 76 Die Kontraktion also zu dem einen Lemma paradox bzw. Paradox ist damit nachvollziehbar. So wird im Wörterbuch, „einen Widerspruch in sich enthaltend", an die erste, noch nicht in der Sprachlichkeit spezifizierte Stelle gesetzt. Schon an zweiter Stelle wird aber als umgangssprachlich „sehr merkwürdig; ganz u. gar abwegig, unsinnig" eingefügt. Für das Nomen Paradox dann die Bedeutung „das dem Geglaubten, Gemeinten, Erwarteten Zuwiderlaufende" vorrangig vor „das Widersinnige, der Widerspruch in sich". Aus Überraschung und Erstaunen speist 71 Dornseiff, Wortschatz (Fn. 65), 11.21. 72 Siehe etwa Wahrig/ Krämer/Zimmermann (Hrsg.) Brockhaus-Wahrig (Fn. 68); sowie vor allem auch Kempcke (Hrsg.), Handwörterbuch (Fn. 68). 73 Äugst, Wortfamilien (Fn. 66). 74 Vgl. Wahrig/ Krämer/Zimmermann (Hrsg.) Brockhaus-Wahrig (Fn. 68); Kempcke (Hrsg.), Handwörterbuch (Fn. 68), S. 852; Klappenbach / Steinitz (Hrsg.), Wörterbuch (Fn. 68). 7 5 Dornseiff, Wortschatz (Fn. 65), 10.29. 76
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Paradoxon; vgl. auch Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 2002, S. 732.
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sich oft Erkenntnis und Einsicht. Und so wundert es nicht, wenn das Wörterbuch gleich dazu belegt, eine „scheinbar falsche Aussage (oft in Form einer Sentenz oder eines Aphorismus), die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist". 77 3. Könnte es das nicht sein, was entgegen den Kassandrarufen der Diskurstheoretiker die Wahrheit der Rede vom „Paradox" in einer avancierten Rechtstheorie ausmacht? Lexik und Semantik bieten jedenfalls genug Stoff zu einem differenzierteren begrifflichen Nachdenken. Im Vorlauf lässt sich zunächst einmal der lexischen Spannbreite im Lemma der Schein des Paradoxen nehmen. Morphosyntaktisch fungiert es als Adjektiv entweder als Qualifizierung bzw. Prädizierung oder aber steht als Nomen für die Modalitäten einer Lage ein. Sie wäre demnach etwa einzuschätzen als „einen Widerspruch enthaltend", „an Widersinnigkeiten reich, aufgrund von Widersprüchen merkwürdig, eigentümlich".78 Das heißt immer „etwas ist paradox", „etwas ist ein Paradox". Der Duden macht dies explizit durch den Verweis auf das weiterhin mögliche Adverb paradoxerweise in der Bedeutungserklärung „1. (bildungsspr.) in paradoxer (1) Weise" und „2. (ugs.) merkwürdiger-, unsinnigerweise" 79, aber auch milder „merkwürdiger-, eigenartigerweise". 80 Was also bedeutet es in dieser Linie, etwas als paradox oder als ein Paradox zu bezeichnen? Schon für die Griechen hieß paradox „einen (scheinbaren) logischen Widerspruch enthaltend", wie es die Gegenwartssprache auch heute noch kennt. Aber eine ganze Historie und Tradition logischer und semantischer Paradoxien zeigt, dass das noch nicht alles sein kann. Geht man auf das als bildungssprachlich oder philosophisch ausgewiesene Lemma Paradoxon 81, so kommt im Ursprung hinzu „gr. paradoxia, Verwunderung über einen sinnwidrigen Sachverhalt". 82 Allerdings mag das gleich schon nicht mehr sein als ein „der herkömmlichen Meinung entgegenstehender, sonderbarer Lehrsatz". 83 Dies durchzieht, wie das Etymologische Wörterbuch belegt, dann auch die Wortgeschichte. 4. Die mit Blick auf das Recht entscheidende Frage wäre die nach dem Umgang damit. Gibt es Hinweise dafür, dass das Paradox - ähnlich wie es Wittgenstein gegen die Furcht vor der Zerstörungswucht des Widerspruchs überhaupt in der Logik und Mathematik sagte - bei Licht besehen gar keine „Katastrophe" ist? 84 Ohne 77 Duden, Wörterbuch (Fn. 67), S. 2851; Äugst, Wortfamilien (Fn. 66). 78 Wahrig/ Krämer/Zimmermann (Hrsg.) Brockhaus-Wahrig (Fn. 68), S. 54. 79 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden, Band 6: Lein-Peko, 3. Aufl., Mannheim 1999, S. 2851. 80
Wahrig/ Krämer/Zimmermann (Hrsg.) Brockhaus-Wahrig (Fn. 68), S. 54. Vgl. beispielsweise Wolfgang Pfeifer (Bearb.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. M-Z, 2. Auflage, Berlin 1993, S. 970. 82 Das Große Fremdwörterbuch (Fn. 68). 53 Paul, Wörterbuch (Fn. 76), S. 732. 54 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Zettel. Werkausgabe Bd. 8, Berlin 1984, § 687. 81
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weiter die Details des philosophischen Begriffs zu verfolgen, gibt es diese Hinweise sehr wohl. Denn „Paradoxien machen das Ganze, in dem sie auftreten, reicher, beweglicher und offener 4'. Das heißt, „das Paradox kann als Gefahr, als Randerscheinung oder als Chance gewertet und behandelt werden". Es kommt nur darauf an, wie man sich dem Paradox zu stellen gedenkt. Denn „zu einem Paradox gehören ein Zusammenhang und Menschen".85 Der optimistischere Weg ist jedenfalls, das Paradox, wenn es sich denn nun einmal, wie im Recht, unvermeidlich stellt, als eine „Chance" zu betrachten. „Das System bekommt durch das Paradox die Chance, sich zu kritisieren, zu verjüngen, zu überschreiten. Es kann sich erneuern. Paradoxien schaffen in dem Beziehungsgefüge, in das sie korrigierend-verneinend eingreifen, ein innovatorisches Potential." 86
V. Entparadoxierung als praktisches Problem 1. Für die Rechtstheorie jedenfalls sollte, ganz wie es Wittgenstein mit Blick auf den Widerspruch empfiehlt, das Paradox als „Wink der Götter aufgefasst werden, dass ich handeln soll und nicht überlegen." 87 Das zeigt sich gerade an den Überlegungen, mit denen Günther des Regel- und des Entscheidungsparadoxes Herr werden will. Das Regelparadox soll, wie gesehen, dadurch vermieden werden, dass die Regel als ein Rechtsparadigma unabhängig voraussetzbar sein soll. Wenn dies nicht in eine neuerliche Schleife der gegenseitigen Aufstörung von Regel und Anwendung führen soll, dann kann diese Setzung des Rechtsparadigmas eigentlich nur in der altbekannten positivistischen Manier geschehen. Bezogen auf die Entscheidungspraxis wäre dem Dilemma, das dem Paradox eigen ist, das eine Horn abgebrochen. Entsprechend will Günther dann mit dem Entscheidungsparadox verfahren. 88 Auch hier meint er, dass das Paradox auf einer ,Dekontextualisierung' beruht. Bezöge man das Moment des Entscheidens nur richtig, so verschwände es. Der entscheidende Punkt für Günther ist, dass Entscheidungen immer auf eine Person zu zentrieren sind, die sich entscheidet. „Nichts irgendwie Unentscheidbares wird entschieden, sondern ich entscheide mich oder wir entscheiden uns (für oder gegen etwas)." 89 Zwar sollen darin „Rechenschaft" und „Verantwortung" durchaus eingeschlossen sein. Das entparadoxierende Moment der Entschiedenheit speist sich jedoch einzig und allein aus seiner Zentrierung im Subjekt der Entscheidung. „Was zur Entscheidung für eine Person ansteht, ist die Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten, die sich jeweils als Konklusion aus einer Kette schlussfolgernder Gründe darstellen lassen. Unabhängig von der sich entscheidenden Person betrachtet, 85 86 87 88 89
Schäfer, Paradox (Fn. 62), S. 1052. Schäfer, Paradox (Fn. 62), S. 1055. Wittgenstein, Bemerkungen (Fn. 57), Teil IV, § 56. Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 267 ff. Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 270.
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ist die Sache insoweit also schon entschieden. Es geht nur darum, welche der Konklusionen eine Person sich zu eigen macht, so dass sie dafür einsteht und die sich daraus ergebenden weiteren Schlussfolgerungen, die z. B. weitere Verbindlichkeiten begründen, übernimmt/' 90 Damit ist dem Horn des im Paradox des Rechts liegenden Dilemma die zweite Spitze in der altbekannten dezisionistischen Manier abgebrochen.91 Das Recht zerfällt in eine positivierte Begründungsgrundlage und das subjektivierte Anwendungsmoment, ohne dass die beiden Königskinder einer Entscheidung von Recht noch zusammenkommen könnten.92 Denn jede Beziehung, die zwischen ihnen so gestiftet werden soll, dass sie unabweisbar intern verbunden sind, führt zurück auf den „Weg des Paradox". 93 2. Das Paradox ist also unvermeidlich und es hilft nichts, als sich ihm zu stellen. Es schwebt, wie es Wittgenstein noch einmal für den Widerspruch sagt, gleichsam als „Januskopf über dem Recht als Praxis. 94 Das Bemühen darum, dem eine unverzichtbare Grundlage oder Grundnorm als Wahrheit des Rechts vorzusetzen, ist zum Scheitern verurteilt. Folglich kann das Recht seine Aufgabe der Konfliktentscheidung nur so lange erfüllen, als es auf die Fixierung seiner Wahrheit verzichtet. Vor dem Fall darf nicht feststehen, dass Recht allein das ist, was die Lösung im Konflikt der Parteien bringt. Wenn das schon feststünde, wäre ein Ausgleich dieser Interessen nicht möglich. Wir wüssten schon, was die Idee der Gerechtigkeit sagt, brauchten dies nur zu erkennen und das Verfahren wäre eigentlich überflüssig. Die Aufgabe der Voraussetzung des alteuropäischen Rechtsdenkens bedeutet, dass man im Rechtsystem nicht wissen kann, ob die erarbeitete Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht selbst Recht oder Unrecht ist. Das Recht und seine Funktionäre müssen mit diesem Paradox leben. Davor können sie weder Abwägung noch praktischer Diskurs, noch überhaupt irgendeine absolute Rationalität des Verfahrens bewahren. Zugleich ist dies die Chance, sich ganz auf das Bemühen um die Geltung von Argumenten zu konzentrieren, die allein als eine relative Rationalität im Verfahren erreichbar ist. Dies hält das Recht der Kritik und Innovation offen und versteckt es nicht immunisierend hinter irgendwelchen philosophischen Fassaden. Nur wenn und solange eine Rechtsentscheidung alle gegen sie vor90 Günther, Kopf oder Füße (Fn. 15), S. 255 ff., 270 f. 91 Ansonsten zum Problem Andreas Fischer-Lescano / Ralph Christensen, Auctoritas interdispositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie, i. Vörb. 92 Zur daraus sich ergebenden heimlichen Komplizenschaft von Positivismus und Dezisionismus Ralph Christensen, Die leere Schatztruhe, oder: wenn die Sprache die Erwartungen der Juristen enttäuscht, in: Juridicum 3, 1997, S. 33 ff. 93 In Anspielung auf Willard Van Orman Quine, The Ways of Paradox and Other Essays, 1979. 94 Wittgenstein, Bemerkungen (Fn. 57), Teil IV, § 58. - Zu dem im Text Folgenden die grundsätzliche Ausarbeitung bei Müller/Christensen, Juristische Methodik Bd. I, 9. Aufl. 2004, z. B. Rn. 505 ff. (doppelter Diskurs), Rn. 536 ff.f., 579 ff. und durchgehend (Methodenehrlichkeit und relative Rationalität).
Gesetzesbindung oder die Entskandalisierung des Paradoxes?
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gebrachten Argumente integriert oder ausräumt, ist sie gültig. Aber eben nur „wenn". Und eben nur „solange". 3. Der Pflicht des Juristen, solche Geltung frei von Willkür auf die im Fegefeuer der Argumentation bewährten Maßstäbe zu gründen, bleibt das Recht auf Sprache als Widerpart erhalten. Denn Freiheit von Willkür muss wenigstens heißen, zuzuhören und nicht von Vornherein die Worte abzuschneiden. Jede Geltung ist nur so gut wie die Argumentation, die sie erreicht. Im unerschöpflichen Gespräch der Sprache mit sich kann sie jedoch nur Episode sein. Auch eine argumentativ gültige Begründung kann erschüttert werden, wenn - sei es in der Rechtsmittelinstanz, sei es in der wissenschaftlichen Begleitung einer Entscheidung oder sei es durch einen findigeren Anwalt in einem neuen Verfahren - ein neues Argument gegen die bisherige Begründung vorgebracht wird. Ist dieser Einwand wirklich neu und nicht nur eine Paraphrase eines bereits erfolgreich widerlegten Einwandes, so ist zu prüfen, ob er in die bisherige Argumentation integriert oder widerlegt werden kann. Ist dies nicht möglich und betrifft der Einwand tragende Elemente der Begründung, so verliert sie ihre argumentative Gültigkeit. Hat sie Bestand, so ist neuerlich der Stand der einen Überzeugung erreicht. Aber eben: „neuerlich". Denn es gibt keine letzten Gründe, nur vorletzte.
Einschränkung der nationalen Gestaltungsmöglichkeiten angesichts der wachsenden Globalisierung und die Rolle der Zivilgesellschaft für mögliche Gegenstrategien* Von Friedrich Müller I.
Der Term „national" im Thema meint nationalstaatlich. Der Nationalstaat ist heute in seiner Wirkung deutlich eingeschränkt, behält aber unverzichtbare Funktionen bei. Im Europa des 15. bis zum 19. Jahrhundert entstanden, stellt er sich als politisch und rechtlich souveräne Organisation auf einem bestimmten Territorium dar. Für die Entwicklung von Republik, Rechtsstaat und Demokratie, von Sozialstaat, Menschen- und Bürgerrechten bot er historisch und bietet er noch heute den Rahmen, den (verfassungs-)rechtlich gesicherten Raum. Der demokratische nationale Verfassungsstaat erscheint als das leistungsfähigste aller Systeme der bisherigen Politikgeschichte: gerade auch für Reformen, für eine Sozialpolitik, die auf den Abbau von Ungleichheit abzielt, auf gesellschaftliche und politische Inklusion aller l . Was den Nationalstaat seit einigen Jahrzehnten - und zunehmend - in Frage stellt, ist das Ende der nach außen abschließbaren Organisationsform. Die zentral wichtigen Entscheidungen sind auf sie nicht mehr beschränkbar: planetare Ökologie, weil das Ökosystem der Erde im Ganzen auf einen Kollaps zutreibt; weltweit spekulativ auf sich selbst „referierende" Finanzmärkte, die vom realen Wirtschaften abgekoppelt sind; Produktion, Distribution und Arbeitsmarkt, die dabei sind, die traditionellen Grenzen hinter sich zu lassen. Mit anderen Worten: das wirklich Wichtige ist nicht mehr territorial und auch immer weniger material begrenzbar. So verliert der Nationalstaat seine traditionellen Grundlagen: statt des Staatsgebiets ein globales Spielfeld, statt Staatsvolk und Staatsnation eine zunehmend individualistisch differenzierte Gesellschaft, die de facto auf eine Weltgesellschaft hinausläuft. Nicht nur alle Kommunikationen, sondern auch die Deutsche Version von: A Globaliza^äo e Possiveis Estrategias de Resistencia, in: Stephan Hollensteiner (Hrsg.), Estado e Sociedade Civil no Processo de Reformas no Brasil e na Alemanha, Rio de Janeiro 2004, S. 37 ff. 1
Vgl. Brunkhorst/Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Brunkhorst, Solidarität, 2002; Wehler, Nationalismus, 2001; Nguyen, Die Rolle des Staates im Zeitalter der Globalisierung, 2002; F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001; ders., Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, bes. S. 83 ff.
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Friedrich Müller
Grundfunktionen wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft werden weltweit „simultan" erfüllt. Eine unbegrenzt de-zentrierte Formation dieser Art ist von nationalen Machthierarchien nicht mehr einzufangen: Entmaterialisierung in der Produktion, Entterritorialisierung im Steuerungsapparat, Entnationalisierung in der Vorstellung von „Souveränität". So wird das zentrale Strukturierungsinstrument des Nationalstaats, die Rechtsordnung, nicht nur von formellem Völkerrecht und international geltenden Menschenrechten modifiziert sowie in Europa von supranationalen Normen überwältigt, sondern sogar von einem immer umfangreicheren Corpus von informellem de-facto-Weltrecht (wie: Codes des elektronischen Handels, Geschäftsbedingungen multinationaler Konzerne) ergänzt, vor allem aber umgangen, unterlaufen; durch eine ohne Staat, ohne zentrale Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit rein tatsächlich funktionierende, transnationale, privatnützige „Justiz des Stärkeren" 2.
II. Allein schon deswegen ist davor zu warnen, den Nationalstaat als Konzept und als Mittel praktischer Politik über Bord werfen zu wollen. Demokratie und Rechtsstaat benötigen sein Potenzial in der Résistance gegen die Zumutung vom „Recht" des Stärkeren. Und er wird als - wenn auch inzwischen relativierter - Rahmen für soziale Reformpolitik und für die Aktivität der Zivilgesellschaft immer dringender gebraucht. Der europäische Nationalstaat, geboren aus den Religionskriegen der beginnenden Neuzeit, hatte Formen entwickelt, den Zusammenprall von Ideologien und sogar den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit im Prinzip friedlich zu beantworten. Diese Widersprüche lösen sich jetzt, zusammen mit der herkömmlichen Dominanz des Nationalstaats, nicht etwa auf; sie bestehen, in nur teilweise veränderter Form, in der Weltgesellschaft fort. Sie verlangen inhaltliche Antworten - und auf dem Weg zu diesen vor allem auch politische Einrichtungen, normierte Verfahren und prozedurale Standards. Diese müssen transnational und global entwickelt, aber auch national weiter entwickelt werden3. 2
Dazu z. B. F. Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 84 f. u.ö. Dazu Brunkhorst/Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Brunkhorst, Solidarität, 2002; Lutz-Bachmann, „Weltstaatlichkeit" und Menschenrechte nach dem Ende des überlieferten „Nationalstaats", in: Brunkhorst/Köhler/Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, 1999, S. 199 ff.; Rosas, Globaler Konstitutionalismus, Menschenrechte und staatliche Souveränität, in Brunkhorst/Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000, S. 151 ff.; Thürer, „Citizenship" und Demokratieprinzip: „Föderative" Ausgestaltungen im innerstaatlichen, europäischen und globalen Rechtskreis; ebd., S. 177 ff.; Habermas, Jenseits des Nationalstaats?, in: Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 67 ff.; ders., Die postnationale Konstellation: politische Essays, 1998; ders., Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: Brunkhorst/Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 386 ff.; Schmalz-Bruns, Deliberativer Supranationalismus, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 1999, S. 185 ff.; F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, v.a. S. 84 ff.; ders., Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 72 ff., 76 ff., 83 ff., 122 ff. 3
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Das, was wir semantisch verniedlichend „Globalisierung" nennen, ist eben nicht nur eine gleichsam bloß technische wirtschaftliche Integration der Welt; eine komplexe weltweite Arbeitsteilung, ein rasantes betriebs- und volkswirtschaftliches Umstrukturieren und das Anwachsen gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeit. Es ist vor allem ein neuartiges Gewalt- und Machtspiel, eine aus dem Hintergrund steuernde nicht-demokratische planetare Exekutive aus IWF, Weltbank, WTO, OECD und den G 8-Gipfeln. Es ist ein ebenso abstraktes wie brutales Anwenden der ökonomischen Modelle und der wirtschaftspolitischen Ideologie der reichsten westlichen Industrieländer auf die Gesellschaften der so genannten Peripherie. Die Mondialisierung ist im Kern eine mondiale Monetarisierung; die Globalisierung eine solche der Gesetze des Kapitals: Profitmaximierung für wenige durch Angebotspolitik, „Flexibilisierung" der Lohnabhängigen, durch Sozialabbau und Privatisierung, niedrige Steuern, Steuerfreiheit für „Standortwahl, freie Wechselkurse, Liberalisierung der Finanztransfers - kurz durch Abbau des Systems von Bretton Woods. Nach diesem wurden Devisen getauscht, um damit Handel und reale Investitionen zu finanzieren - also auf einem Feld, das immer schon das der Politik und der demokratischen Verantwortung der einzelnen Staaten gewesen war. Die globale Deregulierung, das Markenzeichen des Turbokapitalismus, gab auch diesem System von 1944 den Todesstoß mit dem Ergebnis, dass um die Wende 1999/2000 bereits 98% der täglich floatenden Kapitalmenge von rund eineinhalb Billionen US $ spekulativ waren (1971 waren es nur 10% gewesen, 90% hatten sich im älteren Wirtschaftsmodell noch auf reales Investivkapital bezogen). Die sozio-ökonomischen Folgen dieser globalen Politik sind verheerend: die Einkommensschere klafft immer weiter auseinander, 20 Prozent der Menschheit genießen inzwischen 90 Prozent der Güter; die reichsten 200 Weltbürger verfügen über ein Vermögen, das dem jährlichen Einkommen der Hälfte der Menschheit entspricht (über eine Billion US $); eine Milliarde Personen lebt im Wohlstand, eine Milliarde in grausamem Elend, vier Milliarden vegetieren am Existenzminimum. All das ist inzwischen bekannt, und es ist hier nicht das Thema. Thema ist die Tatsache, dass die Gewählten nicht mehr (das Wichtige) entscheiden und dass die Entscheider nicht gewählt sind; Thema ist, dass Wirtschaftspolitik in Sozial- und Verteilungspolitik eingebettet und das Ganze demokratisch verantwortet werden muss, dass aber unter den heutigen Bedingungen sozialstaatliche Modelle und solche der gemischten Wirtschaft wie „Ordoliberalismus" und „soziale Marktwirtschaft", wie „New Deal" und „Great Society", die Normen und Regeln brauchen, selbst dereguliert und tendenziell zum Verschwinden gebracht werden 4 . Das Ganze ist so offenkundig, dass es auch außerhalb der wissenschaftlichen Kritik, außerhalb der Beteiligten am Porto-Alegre-Prozess und der „Alterglobalisierer" nicht mehr gut versteckt werden kann: schon bei einer Umfrage aus Anlass 4 F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, 84 ff., 86 ff.
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der WTO-Konferenz in Seattle glaubten, aller organisierten Meinungspolitik zum Trotz, nur noch 37% der US-Amerikaner in der unteren Hälfte der Einkommenspyramide an die Vorteile der Globalisierung; dagegen waren unter den Wohlhabenderen 63% zutreffend davon überzeugt, die globale Wirtschaft helfe gerade ihnen.
III. Die Frage richtet sich angesichts all dessen auch auf mögliche Gegenstrategien und auf die Rolle der Zivilgesellschaft in deren Rahmen. Daher soll an einigen Punkten noch näher angedeutet werden, worin die bisher gegebene Diagnose begründet ist. (1) Zur Entgegensetzung „Markt vs. Staat": Die Vertreter des „reinen Marktes" verherrlichen diesen und verteufeln die staatliche Steuerung. Das ist historisch sehr fragwürdig; stabil waren immer vor allen anderen die gemischten Systeme. Ferner gibt es Korruption und Überbürokratisierung nicht nur in Staatsapparaten, die Wirtschaft wimmelt geradezu davon. Korruption und Delinquenz sind „im Markt" gängige Münze, mit immer noch steigender Tendenz. Die Zahl der hierher zählenden Skandale in allen G-8-Staaten ist kaum mehr zu überblicken. Die Privatwirtschaft scheut demokratische Kontrolle, weil sie sehr viel Kriminelles zu verbergen hat; ihre konzertierte Polemik gegen den Staat ist ein durchsichtiges Manöver. Die Massenmedien, welche diese Polemik verbreiten, sind nicht mehr unabhängig; sie sind inzwischen das Eigentum großer Mischkonzerne, denen es nicht um faire Information geht, sondern um Macht. Das ,duale System ' von Radio und Fernsehen z. B. in Frankreich und Deutschland (hier ist es sogar pluralistisch) ist eine notwendige Antwort hierauf - eine der zentralen Mitwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft, von denen hier die Rede ist. Das öffentliche Interesse, das bonum commune, wird - zwischen Staat und Markt - nur von staatlicher Seite vertreten. Probleme der Verteilungspolitik brauchen den Staat. Der Anspruch der Demokratie erfordert es, wirtschaftliche Vorgänge in soziale einzubetten - inzwischen auf nationaler und auf internationaler Ebene. Sonst machen staatsfreie Marktvorgänge die demokratische Verantwortung der Verfassungsstaaten endgültig zur Farce. Die sogenannten Marktkräfte sind aber weder Naturgesetze noch höherrangige Regeln von Geschichte und Gesellschaft; sie sind Menschenwerk, parteiisch und interessengebunden, sind privatnützig und blind profitbesessen. Dass sie dem oberflächlichen Blick als funktionierend erscheinen können, liegt nur daran, dass realiter weithin Systeme der gemischten Wirtschaft bestehen; auch die neoliberalen Lautsprecher, die am hartnäckigsten jede staatliche Kontrolle denunzieren, haben deshalb noch nie staatliche Subventionen (aus Steuergeldern) verschmäht. Die Zivilgesellschaften müssen - inhaltlich gesehen - auf staatlicher Mitwirkung und demokratischer Kontrolle bestehen, auf viel konsequenterer Verfolgung von Wirtschaftsverbrechen, auf dem Beseitigen der Steuerparadiese, auf Schulden-
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erlass und gerechtem Handel, auf Besteuerung von Kapital- und Spekulationserträgen und auf einer pluralistischen Reorganisation der meinungsmachenden Massenmedien. Das geschieht über politischen Druck auf die nationalen Regierungen und auf - gleichfalls politisch veranlassten - Druck durch diese auf inter- und transnationale Entscheidungszentren. Die Zivilgesellschaft muss dabei Hand in Hand mit dem Nationalstaat arbeiten, den Druck allerdings aus eigener Initiative erzeugen 5 . (2) Zur Frage Globalisierung und Demokratie : In der Neuen Wirtschaft braucht der Unternehmer den Lohnabhängigen nicht mehr unbedingt. Zunehmend riesige Gruppen von Menschen werden überflüssig, werden de facto wirtschaftlich, dann sozial, dann kulturell und schließlich am Ende dieser Kettenreaktion sogar noch rechtlich/politisch exkludiert. Das gilt zunehmend auch für die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, und die Vierte Welt der Überzähligen ist schon eine globale Erscheinung. Die traditionelle Demokratie, d. h. das repräsentative Modell, unterliegt angesichts dessen selber einer systemischen Exklusion: wachsende Teile der Gesellschaft, also der kommunikativ zu integrierenden Einzelnen und Gruppen, kommen ihr abhanden - und damit ihre Grundlage. Für Länder in Prozessen demokratischer Transformation (wie Südafrika oder Brasilien und viele andere) kommen die dafür unentbehrlichen Potenziale der Zivilgesellschaft gar nicht erst ins Spiel. Schadet die Globalisierung schon den entwickelten Demokratien, so kann ihre bisherige Wirkung für Transitionsgesellschaften fatal werden. Politische Rechte (in the books) brauchen soziale Voraussetzungen, um (in action) ausgeübt werden zu können. Und auch globale Akteure wie der IWF üben sich darin, nationale Demokratien zu umgehen, auszutricksen, unter Druck zu setzen - Joseph Stiglitz, der es wissen muss, hat das erschreckend beschrieben. Der Fonds, demokratisch so wenig verantwortlich wie Weltbank, OECD oder WTO, handelt dementsprechend verantwortungslos, hat die Verhandlungsmacht monopolisiert, unterminiert den - soweit schon vorhanden - mühsam funktionierenden demokratischen Prozess. Den Rahmen für das Ineinander nationaler, regionaler, inter- und transnationaler Normierungen, Orientierungen, Markt- und Machtchancen bildet immer weniger der demokratische Nationalstaat mit seiner ,souveränen4 Rechtsordnung. Gegenkräfte können hier nur aus der Zivilgesellschaft kommen. Durch diese Vorgänge schrumpft aber zugleich die Entscheidungsmacht nationaler Parlamente und Regierungen in wichtigen Fragen. Die Folgen der Globalisierung verhindern in manchen Fällen das Entstehen vitaler Demokratien, bremsen in vielen Fällen Demokratisierung und schwächen bestehende demokratische Systeme - indem sie diesen wachsende Teile ihres demos entziehen und ferner den gewählten Instanzen zentrale Entscheidungen aus der Hand nehmen. Die Politikmüdigkeit, die seit langem alarmierenden Prozentsätze ständiger Wahlenthaltung in den G-8-Ländern werden inzwischen als chronisch resigniert hingenommen, statt als hochgradig
5 Ders., ebd., S. 68 ff., 86 ff.; Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 83 ff., 115 ff., jeweils m. w. Nw.
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alarmierend bearbeitet zu werden. Mobiles Kapital auf einem staat(en)losen Markt überspielt gewählte Parlamente und Regierungen, auch durch die übliche Erpressung mit „Standortwechsel", nicht zuletzt in vitalen Fragen des Umweltschutzes. All das beraubt die Zivilgesellschaft, so weit sie aktiv ist, vielfach des nationalen Partners. Es verweist sie darauf, mit ihren schwachen Mitteln - vernetzte Kommunikation, symbolische Aktion, Sachvorschläge, Protest - auf künftige transnational wirksame Mittel demokratischer Kontrolle hinzuarbeiten. Ein Weltstaat erscheint dabei nicht wünschenswert, schon gar nicht unter demokratischen Aspekten; und die Idee eines Weltparlaments sollte zugunsten engerer, dafür aber auch konkreterer Pläne zu den Akten gelegt werden: entscheidende Stärkung des Europäischen Parlaments und auch der UN-Vollversammlung in ihrer Stellung gegenüber dem Sicherheitsrat. Zumindest im Rahmen regionaler Wirtschaftsblöcke, die nicht auf Domination angelegt sind, sondern auf Kooperation (EU, Mercosul; nicht dagegen die von den USA fast schon obsessiv betriebene gesamtamerikanische Freihandelszone), sollte die traditionelle Kompetenz des Nationalstaats zu reformistischer Politik fortgeführt werden: ein ständiges Politikziel des sozialen Ausgleichs, eine hinreichend faire materielle Umverteilung und das Sichern der Gleichheit von Bildungschancen. Die neue brasilianische Präsidentschaft hat sich solche Ziele gesetzt - wenn auch auf einer (von neoliberalen Vorgängern geerbten) äußerst ungünstigen Ausgangslage. (3) Zur ökonomischen Grundlage der hier untersuchten Phänomene: Die Stichwörter heißen bekanntlich „Ende des Industriezeitalters", „Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft", „digitale Revolution", „New Economy". Das alte Modell bestand aus technisch-industrieller Produktion und demokratischer Regulierung über Rechtsvorschriften. Seine Hauptakteure waren Kapital, Arbeit und Staat; die Gewerkschaften hatten Einfluss und drängten auf eine als reformistisches Politikziel durchaus vorhandene Umverteilung. Die realen Stützen bildeten stetiges Wachstum von Wirtschaft und Arbeitsproduktivität auf der einen und zunehmende Massenkaufkraft auf der anderen Seite. Das änderte sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhundert im technischen, seit Mitte der 70er Jahre im politischen Bereich. Die technische Seite (tendenzielle Immaterialität der Wertschöpfung, Deterritorialisierung, Vernetzung) ist kaum zu beeinflussen, auch nicht durch die Zivilgesellschaft. Darüber ist aber die politische nicht zu vergessen: der Abschied von den traditionellen Parametern und die globale Deregulierung waren massive ideologische Entscheidungen (Flexibilisierung der Wechselkurse, Aufgabe der Kontrollen des Kapitalverkehrs, Sozialabbau, Privatisierung, Sturz des System von Bretton Woods, Unternehmenskonzentration, usw.). Sie können auch wieder z. T. modifiziert, z. T. durch neue Formen überholt werden: Kapitalkontrollen, Erträgnisbesteuerung, ein den heutigen Problemen angepasstes „Bretton Woods II", eine internationale Kartellbehörde im Rahmen der Weltarbeitsorganisation, usw. Indem die Nationalstaaten diese Aufgaben anpacken, füllen sie zum Teil wieder ihre frühere Rolle als steuernde Instanzen aus - jetzt allerdings zunehmend auf dem inter- und transnationalen Spielfeld, auf dem sie sich wieder energischer als
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Akteure zurückmelden sollten. Das erfordert allerdings den Mut zur politischen Résistance gegen den Hegemon, z. B. durch Beharren auf einer Demokratisierung im Rahmen des IWF oder der WTO. Der Übermacht dieser Zentralagenturen, zusammen mit Weltbank, OECD und G-8-Gipfeln, teilweise Außenstellen der Regierung in Washington, ist nur durch Politik zu begegnen; und diese bezieht Projekte und Energie nur aus der je nationalen und aus der sich bildenden globalen Zivilgesellschaft. Dass diese Vorgänge äußerst mühsam sind, ist kein Gegenargument: dieselbe Sequenz „zivilgesellschaftliche Anstöße - ihnen entsprechende Politik der Nationalstaaten - Ergebnisse in der internationalen Arena" prägte, nur als Beispiel, den Weg zu den neueren Menschenrechtspakten, zur Antifolter- und Antilandminenkonvention, zur Einrichtung des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs. IV. Der globale Markt und seine Agenten geraten bereits in Legitimationsnot. Die sozial und politisch aktiven Bürger kämpfen für eine verstärkt partizipative Demokratie sowie transnational für verzweigte, beweglich verbundene kollektive Handlungsformen. Diese Formen sind nicht mehr an „Nation" oder den Nationalstaat gebunden, sind Formen staatloser Demokratisierung 6 . Ohne sie wird es nicht möglich sein, gegen perverse Effekte dieser Art von Globalisierung wirksam einzutreten. Zu den überkommenen ungelösten Problemen (die sich verschärfende Ungleichheit, das ökologische Desaster, Gewalt und Militarismus, nichtstaatlicher und staatlicher Terrorismus) kommt die neuartige Aufgabe, transnationale und globale Mobiles aus Netzen, Institutionen und beginnenden Normierungen zu erarbeiten. Rahmenkompetenzen eines Weltrechts und globaler Konstitutionalismus sind dabei Stichworte für die im engeren Sinn juristischen Ziele. Träger all dieser Bewegungen - Protest, symbolische Aktion, konstruktive Vorschläge, geglückte Provokationen der Justiz (um diese in Gang zu setzen) - ist seit der Endphase des 20. Jahrhunderts die globale Galaxie demokratischer, menschenrechtlicher und altermondialistischer Nichtregierungsorganisationen geworden: soziales Weltgewissen, Störfaktor für die Routine der Unterdrückung und Ausbeutung, für die faktisch bestehende undemokratische Weltherrschaft, Generator intelligenter Alternativen; dezentrierte Globalisierung „von unten", ohne Herrschaft auszuüben, über Lobbying und Druck auf die öffentliche Meinung wirksam, kurz: in der sich konsolidierenden Rolle einer global civil society. Sie arbeitet, durch Staatsgewalt nicht gestützt, friedlich und meinungsbildend für Werte des Gemeinwohls {global public goods), die - von den gleichen Menschenrechten für Alle bis zur globalen Ökologie - auf Pluralität und Universalität abzielen. Ihre Aktivität stützt sich nicht zu6 Vgl. Brunkhorst/Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; Brunkhorst, Solidarität, 2002; ders., Globale Demokratie ohne Staat? Schwache Öffentlichkeit, starke Öffentlichkeit - globaler Konstitutionalismus, 2003 (unveröffentlicht); F. Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, bes. S. 115 ff. m.Nw.
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letzt selber auf nationale und internationale Menschen- und Bürgerrechte. Sie liefert hochqualifiziertes Expertenwissen, leistet nachhaltige Sacharbeit, hält die Konflikte bewusst und den lebenswichtigen politischen Widerstreit aufrecht Grundfunktionen pluralistischer Demokratie. Dieses sich abzeichnende transnationale Volk als Akteur einer politischen und direkt agierenden Kultur globalen Widerstands steht in seiner demokratischen Legitimation, verglichen mit den traditionellen politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und sonstigen pressure groups, entgegen aller neoliberalen Polemik sehr achtbar da. Sein Zentrum liegt nicht in der Institution, sondern in der Aktion, nicht in formalen Dispositiven, sondern in den verteidigten und angestrebten Inhalten; es ist nicht „repräsentativ" im ritualisierten Sinn der bürgerlichen Systeme, sondern graswurzeldemokratisch. Dabei geht es nicht darum, „die" Nichtregierungsorganisationen im allgemeinen hochgestimmt zu bejahen, gar emphatisch zu feiern. Unter ihnen finden sich alle Formen innerer Ordnung, von absolutistischer Hierarchie bis zu kaum regulierter Demokratie und spontaner Organisation. Bei Nichtregierungsorganisationen aus den G 7-Ländern sind, auf dem Terrain der Dritten und der Vierten Welt, ferner Erscheinungen wie übergroße Bürokratisierung oder Demonstration von Überlegenheit festzustellen, zum Teil nicht leicht vermeidbar. Die Tätigkeit von NGOs aus den reichen Ländern verschleiert nicht selten auch die wirklichen Macht- und Gewaltverhältnisse, ähnlich der kirchlichen Mission im historischen Kolonialismus. Das hier Gesagte stützt sich vielmehr auf die Rolle der autochthonen, der in den betroffenen Ländern selbst und typischerweise im Widerstand gegen politische und/oder wirtschaftliche Gängelung und Übermacht arbeitenden Organisationen. In Ländern mit diktatorischen oder sonst autoritären Machtzentren wird diese Art informeller Demokratisierung vielleicht noch einmal entscheidend werden. Auch intern (noch) nicht demokratische, sondern beispielsweise klientelistische Einzelgruppen tragen wenigstens zu einem gewissen Plualismus der civil society bei. Wenn ausreichend große Teile der Bevölkerung auf diese Weise organisierbar werden, können sich Machteliten, jedenfalls auf längere Sicht, nicht ohne Zusammenwirken mit ihnen halten. Auch kann bei allmählich höherem Grad der Konsolidierung dadurch zunächst in einzelnen Ländern etwas wirksam werden, was ich „Parallelverfassungen" nenne. Diese sich national, aber auch schon zunehmend außer- und transstaatlich organisierende Kultur sozialer und politischer Résistance wird durchaus wahrgenommen; der Gründer und Gastgeber der Davoser Wirtschaftsgipfel hat schon im Jahr 2000 einräumen müssen, „wir können nicht gegen die Gesellschaft wirtschaften". Die sich globalisierende Zivilgesellschaft hat, mit anderen Worten, schon den Umriss jenes globalen öffentlichen Raums (aus Kommunikation und Interaktion) geschaffen, der für demokratische Reformen unverzichtbar ist; den öffentlichen Raum, in dem sich die nationalen Grundrechtsgarantien und die der internationalen Menschenrechte politisch auswirken können - politisch im Sinn von Demokratie
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als der Staatsform der Inklusion - was wiederum die gesellschaftliche Realität gleichheitlich gewährter Menschen- und Bürgerrechte voraussetzt, also den legitimierenden Raum für rechts- und sozialstaatliche Reformpolitik angesichts einer exkludierenden Praxis der liberalen Zweidrittel- (im entwickelten Weltzentrum) bis Einzehntelgesellschaften (in der Peripherie). Fragt man, über das bisher Gesagte hinaus, nach weiteren spezifischen Formen, die das Handeln dieser neuartigen civil society annehmen kann, so stößt man auf avancierte Gestaltungen partizipativer Demokratie. Ich nenne hier nur zwei vielsagende Beispiele: Die nationale wie die bisherige globale Zivilgesellschaft, deren Handlungsformen ich beschrieben habe, sind jeweils eine „schwache Öffentlichkeit"; d. h. geeignet, auf formelle Entscheidungen zwar Einfluss zu nehmen, ohne aber solche selbst fällen zu können. Das ändert sich auch dann noch nicht, wenn die Betroffenen in der Selbstverwaltung gesetzliche Mitwirkungsrechte auf Information, Einspruch, gerichtliche Gegenwehr etwa im Planungs- oder im Umweltrecht eingeräumt erhalten. Es ändert sich dagegen, sobald entweder über solche Vorhaben verbindliche Sachplebiszite möglich sind; oder sobald der von Porto Alegre aus entwickelte und inzwischen weltweit als vorbildlich diskutierte Beteiligungshaushalt eingeführt wird. Dieser kann über Stadt- und Verkehrsplanung auf alle Fragen der Infrastruktur und der für den Alltag wichtigen öffentlichen Funktionen ausgedehnt werden - eine demokratisierende Verschiebung innerhalb der im engeren Sinn politischen Entscheidungsvorgänge aufgrund einer nunmehr starken Öffentlichkeit 1. Das zweite Beispiel betrifft die Sachplebiszite. So lange das Volk nur die Gesetzesinitiative hat und die politische Oligarchie mit dieser dann nach Belieben verfährt, oder das Volk lediglich über von der politischen Elite vorformulierte Vorlagen durch Referendum abstimmen darf, bleibt es in der Position einer schwachen Öffentlichkeit. Stark wird diese erst durch die rechtlich obligatorische Kombination von Volksbegehren und Volksentscheid - sei es in jedem Fall, sei es im Fall der Ablehnung einer populären Initiative durch das Parlament. Diese Volksgesetzgebung kann auch mit dezentraler Gesetzgebung verbunden werden; und zwar auf Gebieten, die den Alltag Aller betreffen, etwa im Tarif- und Arbeitsrecht, im Mietrecht, im Umwelt- und Verbraucherschutz 8 . 7 Zu den Begriffen, m.Nw., Brunkhorst,Solidarität, 2002; ders., Globale Demokratie ohne Staat?, 2003 (unveröffentlicht); zu den Erfahrungen mit dem von Porto Alegre ausgehenden Beteiligungshaushalt beispielsweise: Genro/De Souza, Quand les habitants gèrent vraiment leur ville. Le budget participatif: l'expérience de Porto Alegre au Brésil, Paris 1998; Fedozzi, Orcamento participativo, Porto Alegre, 2. Aufl. 1999; Abers, Inventing Local Democracy. Grassroots Politics in Brasil, London 2000; Gret/Sintomer, Porto Alegre. L'espoir d'une autre démocratie, Paris 2002; F. Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003, S. 110 ff. 8 Zu den einzelnen Formen: I. Maus, Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, in: Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 ff.
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V. Zur theoretischen Strukturierung der hier entwickelten Überlegungen deute ich noch zwei Punkte an: Einmal kann nur so die Polarisierung zwischen globalem Turbokapitalismus und dem überwunden werden, was Jean Baudrillard die „Singularitäten" nennt. Nur diese, schreibt er, könnten sich dem universal gewordenen System der Domination entgegensetzen, wobei namentlich der Terrorismus zu diesen Singularitäten zählt. Die weltweite Résistance einer sich gleichfalls globalisierenden Zivilgesellschaft entwickelt nun aber nach ihren Inhalten und Handlungsweisen einen verallgemeinerungsfähigen Gegenpol. Und zweitens: Dieser Widerstand der Zivilgesellschaft hat nur in einer doppelten Bewegung reale Erfolgsaussichten; wer will, kann darin eine Realdialektik erkennen. Zum einen ist der Nationalstaat als Form schon zu sehr geschwächt und ist die Zivilgesellschaft als globale noch nicht stark genug, um über die Rebellion als Ensemble von Singularitäten hinauszukommen. Die Zivilgesellschaft als jeweils nationale muss die Staaten zum Widerstand motivieren, sie im Widerstand orientieren; damit diese dann international, in Europa auch supranational und im ganzen global mit den Mitteln des internationalen Rechts (Abkommen, Pakten, Konventionen, Politik im Rahmen der UN und der anderen genannten Einrichtungen) agieren. Das wiederum wird die als solche informelle globale civil society auf ihrem Weg zu Gegenstrategien stärken, die dem globalen Gegendruck vielleicht noch einmal werden standhalten können.
Die Globalisierung Versuch der Darstellung des Bedeutungsspektrums der Bezeichnung* Von Fritz Hermanns I. Vorbemerkung Dieser Beitrag ist - wie es sein Untertitel sagt - als Versuch zu verstehen: als Versuch, sich trotz des Fehlens hinreichender Vorarbeiten einen Reim zu machen auf die widersprüchlichen Anmutungen der Bezeichnung die Globalisierung. Zweierlei betrachte ich als Manko dieses Beitrags. Erstens sind meine Belege eher Zufallsfunde 1 als Ergebnisse von systematischen Recherchen in den umfangreichen Korpora von Texten, insbesondere Zeitungstexten, wie sie uns als Linguistinnen jetzt zur Verfügung stehen, aber meine zeitlich sehr beschränkten Lesekräfte überfordert haben; insofern genügt mein Beitrag nicht dem Maßstab, der besonders durch die vorbildlichen Düsseldorfer Arbeiten 2 gesetzt ist. Zweitens muss ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich nicht als ökonomischer Experte schreibe, weshalb man das von mir Dargelegte bitte ganz besonders kritisch lesen sollte. Einiges ökonomisches Wissen habe ich mir zwar aneignen können - ohne solches versteht man das Lexem die Globalisierung nur höchst oberflächlich - aber trotzdem schreibe ich doch nur als ein interessierter Laie.3 - Und noch etwas. Das Kolloquium zu Ehren Georg Stötzels, für das dieser Beitrag - damals noch als Vortrag - konzipiert war, fand statt im September 2001, es begann acht Tage nach dem 11.9. („nine eleven"), also nach dem Anschlag auf das New York World Trade Center mit dreitausend Toten. Der hat in der Tat „die Welt verändert". Es begann * Zuerst in: Martin Wengeler (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte nach 1945. Diskursund kulturgeschichtliche Perspektiven. Festschrift Georg Stötzel. Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 409 ff. 1 Ich bedanke mich für ihre Hilfe bei der Sammlung der im Folgenden zitierten Texte und Belege und für nützliche Ratschläge bei Jochen A. Bär, Lutz Kuntzsch, Wolf-Andreas Liebert, Michael Schiffmann, Georg Stötzel, Wolfgang Teubert, Martin Wengeler und Rainer Wimmer. 2 U.a. Wengeler 1992, Jung 1994, Stötzel / Wengeler 1995, Boke/Liedtke/Wengeler 1996, Niehr/Böke 2000. 3 Sehr geholfen hat mir das Buch von Martin und Schumann (Martin / Schumann 1996). Als unbezweifelbar kompetente Kritik und Darlegung dessen, worin die Globalisierung - in der Kernbedeutung der Bezeichnung - heute besteht, ist das Buch von Stiglitz (2002) zu empfehlen, des Wirtschafts-Nobelpreisträgers 2001, dessen Sicht der Dinge ich weitgehend folge.
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nach ihm der „Krieg gegen den Terrorismus 4' der USA, ja gegen „das Böse" („evil"). Seitdem ist auch die Globalisierung nicht mehr wiederzuerkennen. Ich betrachte daher diesen Beitrag jetzt als eine Art von Nachruf. Das Wort hat zwar die Brisanz, die es zuvor gehabt hat, noch nicht ganz verloren, aber „die" Globalisierung ist inzwischen durch „den" Terrorismus auch für manche ihrer Befürworter fragwürdig geworden. Heute erscheint uns „der" Terrorismus immer mehr als die Kehrseite „der" Globalisierung, obwohl man ihn offenbar als solche noch nicht ernst genug nimmt. Heute (März 2002) ist daher die aktuelle Interpretationsvokabel unserer Epoche nicht mehr die Globalisierung, sondern, mit zunehmender Tendenz, der Terrorismus. Oder auch der Krieg gegen den Terrorismus, der den Kalten Krieg (vgl. dazu Wengeler 2003) fast schon perfekt ersetzt hat.
II. „Die" Globalisierung: Ein Erwartungsbegriff Was ist die Globalisierung? Das ist die Leitfrage dieses Beitrags, die ich hier als synonym verstanden wissen möchte mit den Fragen: Was versteht man unter die Globalisierung? Was sind die Bedeutungen von die Globalisierung? Denn so muss es heißen: die Globalisierung. Der Artikel die gehört konstitutiv zu der Bezeichnung. Deutsche Wörterbücher, die ich eingesehen habe, machen zur Morphologie des Wortes alle die Angaben: Genitiv Globalisierung, Plural Globalisierungen. Aber das ist ein bedauerlicher Fehler, nämlich die Verwechselung von morphologischem System und sprachwirklichem Usus. Richtig müsste hier vermerkt sein: „ohne Plural" oder „nur mit bestimmtem Artikel". Es wird in der Regel weder von Globalisierungen gesprochen noch auch von einer Globalisierung. Das zeigt: Die Globalisierung ist ein Eigenname wie der Mond, die Sonne und die Erde. 4 Damit will ich sagen, dass der Ausdruck einen und nur einen Gegenstand bezeichnet. Eben wie die Erde, aber ebenso auch die Geschichte, die Aufklärung und der Fortschritt, von dem man einmal geglaubt hat, dass er durch nichts aufzuhalten wäre - ebenso, wie heute oft geglaubt wird, dass man die Globalisierung nicht aufhalten könne, bis zu jenem Zeitpunkt - so wird man das weiterdenken müssen - wo die Welt total globalisiert ist. Weil wir im Zeitalter der Globalisierung lebten. Dies ist ebenfalls ein Ideologem in vielen Texten zur Globalisierung. (In nur drei Jahrgängen der Frankfurter Rundschau (1997-1999) ist diese Kollokation 121 mal zu finden. 5) Ähnlich meinte man im späten 18. Jahrhundert, dass man im Zeitalter der Aufklärung lebe, ähnlich ist im späten 19. und noch im 4
Oder, müsste man vielleicht korrekterweise sagen, eine definite description. - Wie bei anderen Eigennamen („die Jupiter-Monde", „ein russischer Byron" usw.) ist bei die Globalisierung die generische Verwendung möglich und kommt ab und zu vor (beispielsweise wird gelegentlich von „den Globalisierungen" gesprochen), aber diese metaphorische Verwendung ist so selten, dass wir sie nicht weiter zu beachten brauchen. 5
So belehrt eine COSMAS-Recherche in der Datenbank des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim (corpora.ids-mannheim.de). Die benutzerfreundliche Gestaltung der Rechercheprozeduren ist Cyril Belica zu danken.
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20. Jahrhundert von Marxisten geglaubt worden, dass man im Zeitalter des siegreichen Sozialismus lebe. Offenbar ist die Globalisierung, wie die Aufklärung und der Sozialismus, sowohl ein Begriff der Gegenwartsbeschreibung und -auslegung als auch ein Erwartungsbegriff. So wird, denken viele, sich die Welt entwickeln: hin zu immer größerer Globalisierung, weg von Parzelliertheit und von Regionalisiertheit und vor allem auch Protektionismus. Wobei sich jedoch die Einstellungen dazu diametral unterscheiden und damit auch die deontischen Bedeutungen des Ausdrucks die Globalisierung. Für die Einen ist diese Globalisierung zu erstreben, für die Anderen zu verhindern oder radikal zu ändern, so dass die Globalisierung ebenso ein Fahnenwort wie auch ein Stigmawort ist. Ein kontroverser Begriff, kann man nach Stötzel / Wengeler (1995) auch sagen. Und zwar einer, der für unser Selbstverständnis, für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft heute, im historischen Moment des Jahres Zweitausendundzwei, von ganz erheblichem Gewicht zu sein scheint. Er ist, obwohl noch jung, schon in ein Buch mit dem Titel „100 Wörter des [vergangenen] Jahrhunderts" (100 Wörter 1999)6 aufgenommen worden. Revitalisiert ist der Begriff europaweit durch die Ereignisse beim Gipfeltreffen der G 8 in Genua (Juli 2001) geworden. Weniger wohl durch Gewaltaktionen von Globalisierungsgegnern als durch die der Polizei, die durch brutales Schlagen diesen Gegnern unfreiwillig die erstrebte Medienaufmerksamkeit verschafft hat. Dadurch ist der Ausdruck die Globalisierung, wenn ich mich nicht irre, in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt erstmals brisant geworden. Auch das ist ja eine Düsseldorfer Einsicht, dass Brisanzen Konjunkturen haben (Stötzel 2001, 148 f.; 2002, 9). Zuvor war der Ausdruck, wenn ich richtig sehe, öffentlich fast nur als Fahnenwort verwendet worden, seitens der Globalisierungsfreunde. (Allerdings gab es gelegentlich Kritik an der Globalisierung auch schon vorher auch in Deutschland, insbesondere durch Martin / Schumann 1996). Außerdem wurde der Ausdruck reflektiert und kommentiert und angestaunt von Intellektuellen, die versuchten, abzuklären, was sie davon halten sollten. Was bedeutet die Globalisierung? Ist der Begriff treffend? Und wenn ja, inwiefern? Dies vor allem waren deren Fragen. Jetzt dagegen ist die Frage eher, welche Haltung man zu der Globalisierung einzunehmen habe. Plötzlich tritt die ontische Bedeutung - Was ist die Globalisierung? - zurück hinter die deontische Bedeutung und die Frage: Ist sie etwas Gutes oder Schlechtes? Diese Frage ist für uns als Intellektuelle nachgeordnet, da wir zuerst wissen wollen, was mit diesem Ausdruck überhaupt gemeint ist. Dann erst bilden wir uns vielleicht eine Meinung dazu, ob wir sie begrüßen oder sie bekämpfen sollen. Keineswegs nachrangig ist die Frage allerdings für uns als Linguistinnen und Linguisten. Denn die Antwort darauf ist entscheidend dafür, wie man die Bezeichnung die Globalisierung gebraucht. Als Appell für oder gegen. Soviel zur Einleitung. Rekapitulierend möchte ich das Folgende festhalten. Erstens, die Globalisierung ist ein Eigenname. Zweitens, dieser Eigenname fun6
Kommentiert von Georg Stötzel (1999).
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giert als Erwartungsbegriff, der ein gegenwärtiges historisches Geschehen deutet als Teil einer zielgerichteten Entwicklung, wie schon die Begriffe die Aufklärung und der Sozialismus. Er ermöglicht daher denen, die ihn sich zu eigen machen, ein teilweise neues Selbst- und Weltverständnis: Heute leben wir in der Epoche der Globalisierung. Er stiftet also Sinn, er gibt eine Orientierung. Drittens, öffentlich ist die Bezeichnung die Globalisierung vielleicht erst durch Genua brisant geworden. III. „Eine Welt", „der blaue Planet": Begriffsvorgeschichte Dahrendorf (1998, 41) meint: „Wenn einmal die Geschichte des Begriffs der Globalisierung geschrieben wird, könnte man sie mit dem 20. Juli 1969 beginnen lassen." Nicht, weil da als erster Mensch der Astronaut Neil Armstrong seine Füße auf den Mond gesetzt hat, sondern weil dabei zugleich zum ersten Male Fernsehbilder von der Erde weltweit zu betrachten waren, die wir, die wir auf ihr leben, direkt immer nur partiell und daher nur als eine ausgedehnte Fläche sehen können, obwohl wir natürlich wissen, dass sie eine Kugel sein muss, weil wir es so gelernt haben. 1969 konnten viele Menschen erstmals selber sehen, nicht bloß wissen, dass sie das ist. Und zum ersten Male sahen sie so auch die ganze Erde. Optisch eigentlich ja immer nur die Hälfte, aber per Gestaltergänzung doch die ganze. Das war zwar noch nicht der Anfang der Begriffsgeschichte der Bezeichnung die Globalisierung , aber doch ein wichtiger Moment in deren Vorgeschichte. Etwas später gab es auch Farbfotos von der Erde. Diese zeigten, dass die Erde blau gefärbt ist, offenbar im Unterschied zu anderen Planeten. Diese Blauheit kommt wohl von der Atmosphäre. Jedenfalls, der Name der blaue Planet ist wie der Ausdruck Eine Erde ( One Earth) zum Begriff und Fahnenwort der etwa 1970 einsetzenden ökologischen Bewegung, zuerst in den USA, geworden. 1970 wurde dort der erste Earth Day abgehalten. Das Bild des blauen Planeten wurde zur Ikone der beginnenden Um Weltbewegung. (Alles dieses nach Sachs 1993/94, 168.) Bereits 1962 war der Begriff Global Village (geprägt von McLuhan 1962) in Gebrauch gekommen. 1972 erschien dann das Buch The Limits to Growth - Die Grenzen des Wachstums - der berühmt gewordene Bericht des Club of Rome von Dennis Meadows - zugleich in den Sprachen Englisch, Deutsch, Französisch, Holländisch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch, Dänisch, Norwegisch und Schwedisch und Japanisch, mit einem public-relations-Aufwand, der das Seine dazu tat, das Buch (Meadows 1972) zu einer Sensation zu machen. Dieser Bericht „zur Lage der Menschheit" - so der Untertitel - bewies rechnerisch, dass unsere Welt tatsächlich eine Welt ist, in der nämlich die Zunahmen der Bevölkerung der Welt, der Industrieproduktion, der Ausbeutung der Rohstoffreserven, der Umweltzerstörung und die (vergleichweise kleine) mögliche Zunahme der Weltnahrungsmittelproduktion global interdependent sind und dem Wachstum absolute Grenzen setzen. „Eine Welt" hieß fortan: Es hängt alles dies zusammen, und zwar weltweit. Bücher wie The
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Limits to Growth haben wohl entscheidend dazu beigetragen, dass man anfing, sich die Erde sozusagen global vorzustellen. Nicht mehr nur als Kugel, sondern als Gesamtsystem, in dem ein Teil vom anderen abhängt. Seit wann gibt es die Globalisierung? - fragt man manchmal. Ganz genau weiß das Wolf Schneider: „Die Globalisierung begann im Jahre 1522 damit, dass die Victoria des Magallanes die erste Umrundung der Erde beendete'4 (Schneider 1996). Aber dem war welthistorisch Einiges vorausgegangen, das für diese Weltumrundung die Voraussetzungen schaffte. Vor zweieinhalbtausend Jahren wurde von Pythagoras die Kugelform der Erde postuliert, und Erathosthenes hat vor zweitausend Jahren den Versuch gemacht, sie durch Messungen nachzuweisen. 1492 wurde von Kolumbus, der an diese Kugelform geglaubt hat, bei dem Versuch, Indien paradoxerweise westwärts segelnd zu erreichen, Amerika entdeckt. Im selben Jahre, 1492, wurde aber auch der erste uns bekannte Globus, der von Martin Behaim, hergestellt, in Nürnberg (Sachs 1993/94, 169). Auch das gehört offensichtlich mit zur Vorgeschichte der Bezeichnung die Globalisierung. Ein Lexikon der „1000 Schlüsselwörter zum Verständnis der Welt von heute" meint dagegen: „Im weitesten Sinne setzte eine44 (also immerhin nicht die) „Globalisierung bereits vor hundert Jahren ein.44 Denn, so lautet die Begründung, „mit der Entwicklung moderner Verkehrs- und Transportmittel Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Welt ein bisschen kleiner 44 (Lexikon 1997, 186). Sehr viel näher an der prototypischen Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung waren bereits Marx und Engels, als sie 1848 u. a. schrieben: „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat ... den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.44 Und: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen." So heißt es im Manifest der Kommunistischen Partei (Marx/Engels 1848, 23). Treffender lässt sich wohl auch die heutige Globalisierung kaum darstellen, wenn auch in der Schilderung von Marx und Engels einige neuere Elemente fehlen, so vor allem das Zusammenwachsen der Geldmärkte. Ihre Darstellung macht zugleich deutlich, dass zumindest manche der Tatsachen, die wir die Globalisierung nennen, keineswegs vollkommen neu sind (Friedrichs 1997, 4), u. a. der weltweite Handel, die weltweite Arbeitsteilung bei der Produktion von Handelsgütern (mit Ausnutzung von auch früher schon z. T. enormen Unterschieden der Lohnkosten), der weltweite Abbau von Rohstoffen, auch die weltweite Umweltzerstörung. Insoweit ist offensichtlich die Globalisierung als Fortsetzung (mit anderen Mitteln) des Kolonialismus anzusehen, in Bezug auf manche der an ihr beteiligten Regionen auch als die Fortsetzung der bedenkenlos zerstörerischen kolonial-kapitalistischen Ausbeutung von Rohstoffreserven und von Menschen.
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IV. Die Bezeichnung die Globalisierung:
Ihre Kernbedeutung
Das Lexem Globalisierung ist im Deutschen schon im Jahre 1959 nachzuweisen, aber noch nicht in der hier interessierenden Bedeutung, 1996 ist es erstmals in einem gemeinsprachlichen Wörterbuch verzeichnet (Schnerrer 1998). Im DudenUniversalWörterbuch (1996/2001) wird als die Bedeutung von Globalisierung angegeben: „das Globalisieren, das Globalisiertwerden", als Bedeutung von globalisieren: „ai f die ganze Erde ausdehnen". Demnach wäre die Globalisierung „das Ausdehner oder das Ausgedehntwerden auf die ganze Erde", ohne jegliche Spezifizierung. Das sieht zunächst aus wie Etymologie an Stelle von Semantik, denn diese Bedeutungsparaphrase verfehlt die Zentralbedeutung der Bezeichnung. Es ist aber festzustellen, dass man die Globalisierung oft tatsächlich so verwendet findet, wie das Wörterbuch behauptet, nämlich per Verallgemeinerung der Kernbedeutung (Erweiterung ihres Begriffsumfanges). Die sich so ergebende Bedeutung nenne ich Pauschalbedeutung. Offenbai ist die Globalisierung eine an das Deutsche adaptierende Entlehnung der Bezeichnung the globalisation , deren heute übliche Bedeutung ihren Anfang nimmt (so Teubert 2002, 157) mit einem Aufsatz in der Harvard Business Review im Jahre 1983 mit dem Titel The globalization of markets (Levitt 1983). Hier ist die Bedeutung der Bezeichnung allerdings noch eingeschränkt durch die bloß betriebswirtschaftliche Perspektive des Aufsatzes. Dessen Vorspann lautet: „Companies must learn to operate as if the world were one large market - ignoring regional and national differences" (Liebert 2002). Bloß betriebswirtschaftlich war auch die Bedeutung „Anpassung lokaler Produkte an die Erfordernisse des Weltmarkts" (Teubert 2002, ebd.), die man ähnlich auch noch heute in Wirtschaftslexika findet: „die strategische Ausrichtung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen . . . " (Rittershofer 2000, 422). Die Geschichte der Bedeutung der Bezeichnung verlief also, scheint es, in drei Schritten: (1) betriebswirtschaftliche (mikroökonomische) Spezialbedeutung (oder -bedeutungen), (2) heutige (makroökonomische und politische) Hauptbedeutung (Kernbedeutung), (3) Pauschalbedeutung. Teubert (2002, 156) stellt fest, dass in dem Korpus der Zeitung die tageszeitung der Jahrgänge 1988-1999, das er untersucht hat, das Lexem Globalisierung in der Zeit von 1988 bis einschließlich 1995, also in acht Jahren, insgesamt 161 mal verwendet wurde, 1996 aber doppelt so oft wie in den acht Vorjahren zusammen; 1999 hat sich das Vorkommen noch einmal verdoppelt. Das wird wohl in etwa repräsentativ sein auch für andere Zeitungen. Dazu passt auch der jährliche Zuwachs des Erscheinens von deutschen Monographien mit dem „Titelstichwort" Globalisierung: bis 1994 höchstens 7 pro Jahr, 1999 aber 171 Publikationen (Liebert 2002). 1996 wird, weil die Bezeichnung die Globalisierung noch recht neu ist, die Bedeutung in der tageszeitung noch erläutert, u. a. mit folgenden Bedeutungsparaphrasen (Teubert 2002, 159 f.): „maximale Öffnung [aller Märkte] für Kapital, Güter und Dienstleistungen"; „die vollständige Liberalisierung aller Märkte der Welt";
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„die Ausweitung des Handels, die Liberalisierung der Finanzmärkte, der Sieg der Freihandelsideologie, die unkontrollierte Macht der multinationalen Unternehmen, die Internationalisierung des Arbeitsmarktes und die Umstrukturierung der Volkswirtschaften" (hier ist die Kritik - nicht am Begriff, sondern an dem, was er benennt - nicht zu übersehen). Einige weitere Worterläuterungen lauten: „die Entstehung weltumfassender Märkte, die Internationalisierung des Handels, der Kapitalmärkte, der Produkt- und Dienstleistungmärkte" (Sprachdienst 1999);7 „Prozess, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern immer stärker voneinander abhängig werden" (Lexikon 1997, 186). Die zuletzt zitierte Paraphrase ist insofern von besonderem Interesse, als es sich dabei nach Auskunft (leider ohne Nachweis) des zitierten Buches um eine Definition der OECD handelt. 8 Ulrich Beck beschreibt die gängige Bedeutung der Bezeichnung mit der Formulierung „Zuwachs an Interdependenzen und Verflechtungen zwischen nationalen Wirtschafts- und Gesellschaftsblöcken"; kritisch fügt er hinzu, die Globalisierung sei zugleich „ein neues Machtspiel zwischen territorital gebundenen und territorital entbundenden Akteuren, also eine selektive ,Enträumlichung' sozialen und politischen Handelns" (Beck 1999, 125). Eine ähnliche Erklärung (Friedrichs 1997, 3), die jedoch auf die Aktionen abhebt, die den feststellbaren „Interdependenzen und Verflechtungen" zu Grunde liegen, lautet: „weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten". Helmut Schmidt entwickelt folgende umfassende Idee von den, wie er wohl sehr zu Recht meint, „durchaus neuartigen Tatsachen . . . welche sich hinter dem Schlagwort der Globalisierung verbergen und die i m Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt entscheidend umprägen werden", nämlich: „die Explosion der Weltbevölkerung, dazu die schnelle Schrumpfung des pro Kopf verfügbaren Raumes; der Rückgang des europäischen Anteils von zu Beginn unseres 20. Jahrhunderts einem Viertel auf heute nicht einmal mehr ein Achtel; die Verdoppelung der an der Weltwirtschaft beteiligten Personen innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten, die unerhörte Beschleunigung des wissenschaftlichen und vor allen Dingen des technischen Fortschritts; die unerhörte Beschleunigung der Ausbreitung des technischen Fortschritts 7
Beigefügt ist der Erläuterung im Sprachdienst eine offensichtlich nicht ganz ernst gemeinte Vision des Endzustandes, auf den die Globalisierung zuläuft: „In einer globalisierten Wirtschaft kann jeder überall Kapital aufnehmen, sucht sich den günstigsten Standort für seine Produktion, verfügt per Internet schnell über alle notwendigen Informationen zur Produktvermarktung in der ganzen Welt". Es ist nicht wahrscheinlich, dass ein solcher Zustand jemals eintritt, aber es ist in der Tat bemerkenswert, dass die Bezeichnung die Globalisierung Anlass gibt solchen Phantasien. 8 Wortgleich - leider gleichfalls ohne Nachweis - als Definition der OECD ebenfalls zitiert in: Die Zeit, 5. 4. 1996, in einem Artikel von Nikolaus Piper.
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besonders auf dem Felde der Telekommunikation - über den allergrößten Teil des Erdballs; das vorher niemals erreichte Höchstmaß an internationaler Handelsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und Investitionsfreiheit; das nie zuvor erreichte Höchstmaß an Freiheit des Geldverkehrs und des Kapital Verkehrs; der alle nationalstaatlichen Grenzen überschreitende Spekulationismus - ich habe ihn ,Raubtierkapitalismus' genannt - der Aufstieg Chinas sowie anderer asiatischer Staaten; die neue Konstellation der Weltmächte im kommenden Jahrhundert; der zu erwartende Aufstieg Osteuropas; die Tendenz zur Angleichung des Lebensstandards zugunsten der neuen Teilnehmer der Weltwirtschaft und zu Lasten der alten Teilnehmer, darunter auch wir selbst - oder anders gesagt: die Auswanderung von Produktionen und damit von Arbeitsplätzen aus Westeuropa in Richtung auf die neu ur d modern sich industrialisierenden Länder mit niedrigen Löhnen und niedrigen Kosten" (Schmidt 1998, 99 f.). Hier ist, wie ersichtlich, die Bezeichnung die Globalisierung wirklich eine Epochenbezeichnung, die zusammenfassend alles das meint, was die neue Ökonomie und Weltlage - voraussichtlich die des 21. Jahrhunderts - ausmacht. Was noch fehlt, denkt man an das Szenario von Meadows (s. o.), ist nur die global wachsende Umweltproblematik wie auch der global voraussehbare Kampf um Nahrungsmittel und Rohstoffreserven, insbesondere Wasser, Erdöl und -gas, der vielleicht z. T. ein bloßer Konkurrenzkampf sein wird, nach bisheriger Menschheitserfahrung aber sehr wahrscheinlich auch Krieg. Alles dies als die Globalisierung zu verstehen, ist zwar nicht untypisch für die Gebrauchsweisen der Bezeichnung in speziellen gesellschaftlich-politischen Gruppen und bei manchen Autorinnen, die Bedingungen und Komponenten und auch Folgen der Globalisierung begrifflich zusammenfassen. 9 Es gehört jedoch nicht zur konsensuellen Kernbedeutung - wie ich sie hier nennen möchte - der Bezeichnung. Diese lässt sich vielmehr wohl in etwa so beschreiben, wie es Stiglitz (2002, 24) vorschlägt. Die Globalisierung ist danach die heute feststellbare „engere Ve rflechtung von Ländern und Völkern der Welt, die durch die enorme Senkung der Transport- und Kommunikationskosten herbeigeführt wurde, und die Beseitigung künstlicher Schranken für den ungehinderten grenzüberschreitenden Strom von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und (in geringerem Grad) Menschen". Die Akzente etwas anders setzend, könnte man sie wohl auch definieren als „weltweite Interdependenz der Märkte, insbesondere der Geld- und Waren-, aber auch der Arbeitsmärkte, insbesondere ermöglicht durch niedrige Transportkosten und weltweiten 9
Dass die Komponenten und die Folgen der Globalisierung begrifflich nur selten unterschieden werden, wird von Friedrichs (1997, 3) gerügt. Allerdings ist die begriffliche Nichtunterscheidung naheliegend und berechtigt, wenn ein Sprachteilhaber die Bezeichnung die Globalisierung nicht als Begriff (sensu stricto), sondern als den Eigennamen eines Zeitalters verwendet, der auf dessen auffälligste Eigenschaften hinweist. Die Erinnerung an diese wäre dann als Sinn (im Sinne Freges) dieses Eigennamens aufzufassen. Wenn man sie als Eigennamen verstellt, dann erklärt sich ohne Weiteres die Vielfalt der Bedeutungselemente, die in den Bedeutun^sparaphrasen der Bezeichnung genannt werden. Individuum est ineffabile. Daraus ergibt sich, dass man immer wieder neue Eigenschaften und Merkmale der Globalisierung schon en deckt hat und auch künftig wird entdecken können.
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Abbau nationalstaatlicher Handelshindernisse (wie vor allem staatliche Devisenbewirtschaftung und -kontrolle; Einfuhrzölle, Importkontingente; aber auch Ausfuhrverbote oder -steuern), also durch Deregulierung („Liberalisierung") wie auch durch Privatisierung, d. h. durch die weltweite Umsetzung neoliberaler Forderungen in Politik und Recht".
Darauf werde ich z. T. noch zurückkommen. - Nicht beachtet10 wird im Diskurs der Globalisierung in der Regel, ob es sich bei der Bezeichnung die Globalisierung handelt: a) um die Bezeichnung eines Zustands, der in diesem welthistorischen Moment, in diesem Augenblick, bereits erreicht ist; oder b) um die Bezeichnung eines Vorgangs, der schon seit geraumer Zeit und heute noch stattfindet; oder c) um die Bezeichnung einer Tendenz, d. h. der Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vorgang sich auch künftig fortsetzt. Wozu vielleicht in Erinnerung zu rufen wäre, dass eine Wahrscheinlichkeit immer nur eine Möglichkeit ist. Bei Globalisierungsfreunden ist jedoch vorherrschend das Wunschdenken: Bisher ist es so gewesen; also wird wird es auch so weitergehen, die Tendenz ist unaufhaltsam. Damit wird aus der Beschreibung eine Prophezeiung. Dieser schließen sich auch viele der Globalisierungsgegner an, wenn auch mit dem Proviso: Die Globalisierung ist zwar unaufhaltbar, sie muss aber wegen ihrer negativen Konsequenzen und Aspekte radikal verändert werden (s. u., Kap. VI.).
V. Elemente der Globalisierung: Zur Pauschalbedeutung der Bezeichnung Die Bezeichnung die Globalisierung lässt an einen (gleichförmigen) Vorgang oder Zustand denken und daher nur allzu leicht vergessen, dass es schlechterdings unüberschaubar viele einzelne Vorgänge und Zustände sind, die insgesamt, in ihrer Masse, das ausmachen, was wir die Globalisierung nennen. Die Globalisierung ist also eine zusammenfassende Bezeichnung, wie z. B. auch die Welt (als die Bezeichnung „alles (dessen), was der Fall ist", „die Gesamtheit der Tatsachen") oder auch die deutsche Sprache (als Gesamtheit aller in der deutschen Sprachgemeinschaft gebräuchlichen Wörter und grammatischen Strukturen): ein Totalitätsbegriff, eine Totalitätsbezeichnung (Hermanns 1999). Auch Erklärungswörter wie Verflechtung und Vernetzung in den o.a. Bedeutungsparaphrasen sind darin Totalitätsbezeichnungen, denn die „Verflechtung aller Märkte" usw. besteht konkret in (unüberschaubar vielen) Einzelbeziehungen von zahlreichen regionalen und sektoriellen Märkten. Diese Märkte wiederum - so kann man diese Art der begrifflichen Analyse noch ein bisschen weiter treiben - sind jeweils ein Marktgeschehen, denn auch ein Markt ist nur die zusammenfassende Bezeichnung für jeweils sämtliche Kauf- und Tauschgeschäfte, die sich, wie man sagt, „in" ihm abspielen, ihn jedoch in Wahrheit erst konstituieren. Recht besehen besteht also die Globalisierung in den insgesamt unüberschaubar vielen geschäftlichen Transaktionen, die aus Ein10 Eine Ausnahme ist Friedrichs (1997, 3). Beck (1997, 27) nennt den bereits erreichten Zustand Globalität.
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zelmärkten einen Markt, den Weltmarkt, machen, d. h. die Globalisierung ist der Weltmarkt (oder, als fortschreitender Prozess betrachtet, dessen Wachsen). Was wird in dem Markt, der die Globalisierung ist, gehandelt? Diese Frage kann ich kompetent nicht beantworten, muss sie aber trotzdem stellen und sogar, so gut mir möglich, beantworten, das verlangt mein Thema. Als den Versuch einer Antwort präsentiere ich hier eine Liste, die ich recht und schlecht zusammengestellt habe aufgrund von Erwähnungen und Nennungen in Texten zur Globalisierung. Manches darin wird nur selten genannt, manches nie (das habe ich geglaubt hinzufügen zu müssen), manches immer. In der Liste ebenfalls enthalten sind - außer den Handelsgütern, deren Handel die Globalisierung sensu stricto ausmacht - auch noch einige ganz andere Entitäten, die jedoch im Diskurs der Globalisierung gleichfalls z. T. sehr oft genannt werden, z. T. aber auch verschwiegen. Mit der nachfolgenden Liste 11 verlasse ich also die Kernbedeutung der Bezeichnung die Globalisierung und skizziere die Pauschalbedeutung. So entsteht vielleicht ein Eindruck davon, was man unter die Globalisierung außer der „Verflechtung aller Märkte" noch verstehen kann: die weltweite Verbreitung von allem und jedem. Zu den einzelnen Stichworten gebe ich anschließend (aus Platzgründen petit) einige Erläuterungen, die hier allerdings sehr knapp sein müssen. Was globalisiert wird, was weltweit bewegt wird oder sich weltweit ausbreitet Geld (und Geldäquivalente) - Waren - Eigentum (einschließlich Eigentum an Grund und Boden, Produktions- und Dienstleistungsbetrieben und -konzernen, inbesondere in Form von Aktien) - Dienstleistungen (inklusive u. a. Handel, Banken und Versicherungen, Management, Verwaltung, Forschung, Unterricht, Justiz und Polizei, Gesundheitswesen, Transport von Personen und von Waren, Unterhaltung) - Produktionen - Marketing und Werbung - Gewinne / Verluste - Firmen (insbesondere Konzerne) - Organisationen - Militärpräsenz und -potential (z. T. in Form von Allianzen) - politische Macht (von Staaten und von anderen Organisationen, in Form militärischer und ökonomischer, besonders finanzieller Handlungsmöglichkeiten) - Information (inklusive Bilder), Wissen (inklusive Desinformation und Irrtum) - Recht (auch in Form staatlicher und privater Verträge) Kultur - einschließlich Mentalitäten, Ideologien, Religionen, Sprachen - Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand - Armut, Kriminalität und Terrorismus - Krankheit (aber auch Gesundheit), Drogen und Umweltprobleme - Menschen.
Wie gesagt, sind Geld, Waren und Dienstleistungen die fast stets genannten Handelsgüter, deren Märkte, insofern weltweit verflochten, den Weltmarkt ausmachen, den wir die Globalisierung nennen. Dass auch Geld ein solches Gut ist, überrascht sogar den wirtschaftlichen Laien nicht mehr, denn er weiß, dass Währungen gehandelt werden. Eigentlich ist Geld ja ein Wertmaßstab, aber dieser unterliegt selbst einer heute täglich, ja minütlich wechselnder Bewertung, deshalb wird auch Geld gehandelt. Geld bewegt sich weltweit in Gestalt von Buchungen auf Konten, aber durchaus auch als Bargeld, das Kuriere u. a. in Pilotenkoffern, mit Handschellen 11
Zwei Versuche, die Globalisierungsphänomene zu sortieren - worauf ich verzichte - zitiert Beck (1997, 70 f., 97 f.).
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an das Handgelenk gekettet, transportieren, wie ich selbst einmal gesehen habe (Flug Istanbul - Zürich). Geld, das um die Erde wandert, dient hauptsächlich nicht mehr zur Bezahlung von entweder Waren oder Dienstleistungen oder von Investitionen, sondern hauptsächlich zum Kauf von anderem Geld und Geldäquivalenten. Es werden täglich über eineinhalb Billionen (englisch: trillion) Dollar weltweit bewegt. Eine Billion sind tausend Milliarden, also eine Million Millionen. Das entspricht in etwa dem, was jährlich Deutschland erwirtschaftet (Martin / Schumann 1996, 74). Davon sind 95 Prozent spekulatives Geld, so wird berichtet, das zu einem Großteil - 80 Prozent - schon nach einer Woche wieder rückbewegt ist. 12 Weltweit gehandelte Waren sind Rohstoffe wie z. B. Erdöl, Erze und Metalle, Holz, Baumwolle, Kautschuk; Nahrungsmittel (hauptsächlich Getreide, aber auch Fleisch usw.); Halbfertig- und Vorprodukte (wie Garne und Stoffe, aber auch Maschinenteile) und Fertigprodukte wie z. B. Kleidung, Schuhe, Spiel- und Sportzeug; Arzneimittel; Kommunikations- und Unterhaltungselektronik; Autos, Schiffe und Flugzeuge; aber auch Maschinen (inklusive ganze Fertigungsanlagen) und, nicht zu vergessen, Waffen - was ich hier aufzähle (und natürlich ist diese Aufzählung alles andere als vollständig), um zu illustrieren, was bei der Globalisierung alles materiell bewegt wird, und zwar in z. T. gigantischen Stückzahlen und Volumen. Waren können sich jedoch auch immateriell weltweit ausbreiten, nämlich in Gestalt von Warentypen (Marken). So gibt es „die selben" Zigaretten und Getränke weltweit, obwohl man sie in Fabriken an verschiedensten Standorten herstellt. Relativ nur wenig wird in der Globalisierungsliteratur, die ich eingesehen habe, darauf abgehoben, dass auch Eigentum weltweit gehandelt wird und daher bereits heute auch weltweit gestreut bzw. konzentriert ist. Das ist ganz und gar nicht selbstverständlich, denn das Eigentum war früher strengen nationalstaatlichen Einschränkungen unterworfen und es konnten von Ausländern etwa Grund und Boden, aber ebenso auch Firmen in zahlreichen Ländern nicht erworben werden; z. T. gelten solche Regelungen wohl bis heute. (Eine Zwischenform sind die joint ventures, die ausländisches Teileigentum sind.) Viele ihrem Namen nach noch scheinbar völlig nationale Firmen und Konzerne sind in Wahrheit heute bereits internationale, so bei uns die Firmen Bayer und Hoechst, bei denen ausländische Anleger eine Aktienmehrheit haben, auch die Deutsche Bank ist schon fast nur noch eine sogenannte deutsche, denn schon 43 Prozent ihrer Aktien sind im Eigentum nicht-deutscher Firmen und Personen (Martin / Schumann 1996, 180). Umgekehrt verteilt sich auch das Eigentum von Unternehmen global. 1999 gab es ca. 60 000 multinationale Unternehmen („Multis"), d. h. solche, die in anderen Staaten als dem Staat des Sitzes der Firmenzentrale Tochterunternehmen hatten (Rittershofer 2000, 658).
12 Noam Chomsky (www.zmag.org / crisescurevts /jubilee2000.htm, gesehen am 05.09.01) schreibt darüber (ohne Angabe von Quellen): „In 1970,90% of transactions were related to the real economy (trade and long-term investment), the rest speculative. By 1995 it was estimated that 95% is speculative, most of it very short term (80% with a return time of a week or less)."
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Das Dritte, was - nach Geld und Waren - im Globalisierungsdiskurs immer als Globalisierungsgegenstand genannt wird, sind die Dienstleistungen. Weil ich mir darunter zuerst kaum etwas vorstellen konnte, habe ich in meiner Liste einzelne Dienstleistungssparten angegeben. Das soll u. a. plausibel machen, wieso im Dienstleistungssektor 1998 in Deutschland schon 45 Prozent aller Arbeitsplätze waren, in den USA sogar schon 73 Prozent (Rittershofer 2000, 283). Manche Dienstleistungsbereiche sind besonders ortsgebunden - genannt wird hier immer die Verkäuferin im Supermarkt und der Friseur, auch das lokale Handwerk. Andere sind dagegen schon in hohem Maße internationalisiert, so der Bereich der Banken und Versicherungen. Nicht nur Waren wandern um den Globus, sondern auch die Produktion von Waren wird im Zuge einer zur Zeit zunehmend globalen Arbeitsteilung dorthin verlegt, wo die Produktion - trotz Transportkosten - am wenigsten kostet, dies vor allem wegen niedrigster Lohnkosten (Hungerlöhne) und Lohnnebenkosten (keinerlei Sozialversicherungen), fehlender Sicherheitsvorschriften und fehlender Umweltstandards. Firmen wie auch Konsumenten in den Produktionsempfängerländern profitieren davon, und sogar die ausgebeuteten Arbeiterinnen, die sonst gar keinen Lohn hätten. Die Kehrseite dieser Arbeitsteilung besteht nicht nur darin, dass dort, wo es Produktionen gab, die ausgelagert wurden, die früheren Arbeitsplätze fehlen, sondern auch in Risikozuwächsen, die das derzeit Vollstellbare, jedenfalls das derzeit mit Vorliebe Vorgestellte, überschreiten, trotz zahlreicher historischer Menetekel. Dafür nur ein Beispiel. Indien, das im frühen 19. Jahrhundert einen Exportüberschuss an Nahrungsmitteln gehabt hatte, wurde im Zuge der damaligen weltwirtschaftlich vorteilhaften Arbeitsteilung umgestellt auf Anbau von Baumwolle (sowie Jute, Indigo und Tee, aber auch Mohn zur Opiumherstellung), was mehr Gewinn brachte, für den auf dem Weltmarkt billigere Nahrungsmittel gekauft werden konnten, offenbar zum Nutzen aller Beteiligten. Dieses aber mit der Folge, dass im Lauf des 19. Jahrhunderts internationale Krisen Hungersnöte mit sich brachten, wie es sie zuvor in dem fruchtbaren Indien nicht gegeben hatte, als Preis für die ökonomisch vorteilhafte wirtschaftliche Spezialisierung (Arbeitsteilung) und Globalisierung (Cohen 1997, 64). Es spricht also Einiges dafür, die Landwirtschaft Europas durch geeignete Maßnahmen (den verpönten Protektionismus) nach wie vor zu schützen. Dass auch Marketing und Werbung weltweit funktionieren, ist das wohl Auffälligste an der Globalisierung. Beide manifestieren sich besonders in omnipräsenten Markennamen sowie Logos (dazu Klein 2000), prototypisch sind hier Coca Cola und McDonald's. - Dass Gewinne und Verluste weltweit bewegt werden, ist zwar eigentlich nur eine Sache der Buchhaltung, aber hat für die Steuereinnahmen vieler Staaten desaströse Konsequenzen. Beispielsweise hat die Firma BMW (in welchem Jahr, wird nicht gesagt) „in der belgischen Filiale angeblich ein Drittel des gesamten Konzerngewinns" erwirtschaftet, „ohne dass dort ein einziges Auto produziert worden wäre" (Martin / Schumann 1996, 274 f.). Offensichtlich war das steuerlich von Vorteil. - Dass auch Firmen und Konzerne weltweit nicht nur tätig,
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sondern daher auch präsent sind, wird - vermutlich, weil sich ohnehin von selbst verstehend - im Globalisierungsdiskurs nicht eigens hervorgehoben, sollte aber trotzdem gesagt werden. - Weltweit funktionierende Organisationen sind gleichfalls Faktoren und Agenten der Globalisierung, so diejenigen der UNO, aber auch die Weltbank, der Weltwährungsfonds und die Welthandelsorganisation als die wichtigsten der globalisierenden Instanzen. Nicht ganz zu vergessen sind daneben auch die nichtstaatlichen Organsitionen (NGOs: non-government organizations) wie amnesty international und Greenpeace. Militärpräsenz und -potenziale kommen im Globalisierungsdiskurs, jedenfalls so weit ich sehe, überhaupt nicht vor; von weltweiter Kriegführung ganz zu schweigen. Dabei ist weltweite Militärpräsenz ein Phänomen, wie es bemerkenswerter nicht sein könnte. Drei der US-Flotten sind in ständiger Präsenz im Einsatzbereich Naher Osten. Dass dies auch mit ökonomischer Globalisierung zu tun haben dürfte (Stichwort Rohöl) lässt sich eigentlich kaum übersehen. - Diese Militärpräsenz macht im Verein mit ökonomischen Lock- und Drohpotentialen (Zuckerbrot und Peitsche) auch die internationale politische Macht aus. Aber auch die internationale politische Macht - speziell der USA - und ihr Zusammenspiel mit anderen Globalisierungselementen wird, soweit ich sehe, im Globalisierungsdiskurs kaum beachtet. Vielleicht ist sie ein zu heißes Eisen. Andere Globalisierungsgegenstände kann ich nur noch kommentarlos nennen: Information, Wissen; Recht, Verträge; Kultur (hier im ethnologischen Verständnis dieses Wortes, wobei darauf hinzuweisen ist, dass immer nur bestimmte Elemente von Kulturen von den jeweils anderen Kulturen übernommen werden), einschließlich Mentalitäten, Ideologien, Religionen sowie Sprachen (zu den Ideologien und Mentalitäten sind zu zählen auch die Fundamentalismen und Rassismen - dazu Loch / Heitmeyer 2001 - die z. T. durch die Globalisierung direkt ausgebreitet werden, z. T. eine Reaktion auf sie darstellen); Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand (man erhofft sich, dass zusammen mit der ökonomischen Globalisierung auch sie weltweit an Terrain gewinnen, aber es ist eher festzustellen, dass die wirkliche Teilhabe daran weltweit abnimmt, da z. T. in Folge der Globalisierung zunehmend mehr Menschen rechtlos, machtlos und besitzlos, arbeitslos und bildungslos sind, d. h. ausgeschlossen aus der Solidargemeinschaft ihres jeweiligen Volkes und damit auch ausgeschlossen aus der Demokratie - als „Herrschaft des Volkes'4 ihres jeweiligen Staates: Müller 2001, 73 ff.); es wird, dazu passend, konstatiert, dass sich vor allem Armut, Kriminalität und Terrorismus und Krankheiten (Aids, aber auch andere), Drogen und Umweltprobleme (reichtums- und armutsbedingte: Beck 1997, 76) mit der ökonomischen Globalisierung ebenfalls weltweit ausbreiten. Die weltweite Wanderung von Menschen, ob als Wirtschaftsreisende, ob als Touristen, ob als Arbeitskräfte, ob als politisch Verfolgte oder Kriegsflüchtlinge, wird im Diskurs der Globalisierung trotz z. T. gewaltiger Migrantenzahlen bisher kaum beachtet (eine der Ausnahmen ist Pries 1998), dies wohl deshalb, weil der
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ökonomische Neoliberalismus als Fürsprecher der Globalisierung zwar die unbeschränkte Freiheit des Verkehrs von Waren, Geld und Dienstleistungen fordert, nicht jedoch die Öffnung aller Grenzen für alle Personen.
VI. Die Globalisierung im Diskurs der Neoliberalen „There is no alternative", soll Margaret Thatcher so oft gesagt haben, dass man daraus einen Spitznamen für sie gemacht hat: T y /, N, A, also Tina. 13 Früher nannte man so etwas Sachzwang. Es gibt keine andere Möglichkeit, das widerspricht der sprichwörtlichen Weisheit, dass es immer mindestens zwei Möglichkeiten gebe. Nicht jedoch, so wird gemeint, im Falle der Globalisierung. Sie sei unaufhaltsam. Das ist, als ein Hauptgedanke der Globalisierungsbefürworter, ein stereotypes Element in deren Denken und in deren Reden und daher auch eine Komponente der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung , übrigens auch im Diskurs der meisten Skeptiker des Segens der Globalisierung. Man fühlt sich dabei an Honecker erinnert, mit dem von ihm aufgesagten Vers: „Den Sozialismus in seinem Lauf/ Hält weder Ochs noch Esel auf." Dazu einige Belege. In dem Themenheft Globalisierung der Heftreihe Informationen zur politischen Bildung , also einem sehr auf Ausgewogenheit bedachten, quasi offiziösen Organ deutschen politischen main-stream-Denkens, heißt es schon einführend, es sei die Globalisierung „ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen" (Informationen 1999, 2). Eine Seite weiter wird behauptet, die „Gefühle" - also nicht das Denken, sondern etwas nur Emotionales - in Bezug auf die Globalisierung seien zwar verschieden, aber: „Nur in einer Hinsicht herrscht offenbar Einigkeit: Globalisierung ist nicht etwas, das wieder aufgehalten ... werden kann" (ebd., 3). Olaf Henkel sagt in einem Interview: „Globalisierung ist eine Tatsache. Es nützt ja auch nichts, sich über das Wetter zu beschweren." 14 (Ein nicht so ganz glücklicher Vergleich, denn daraus, dass es heute regnet, folgt ja nicht, dass es es auch morgen regnet.) Klaus Schwab, Präsident des World Economic Forum in Genf, sagt, die Globalisierung sei, „ein Prozess, der unvermeidbar ist". 15 Kerstin Müller (von den Grünen) ist der selben Meinung: „Die weitere Liberalisierung ist nicht aufzuhalten". 16 So auch schon Helmut Schmidt (1998, 135): „Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten". Und der deutsche Bundespräsident, Johannes Rau, meint: „Niemand kann das stoppen".17
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Daniel Singer: Whose Millenium? Theirs or Ours? (www.monthlyreview.org/millen.htm, gesehen am 05. 09. Ol). 14 Die Zeit 15/1998 (zitiert nach: www.ehrenamt.de/sec4/itemla.htm, gesehen am 07. 09.01.) 15 Süddeutsche Zeitung, 1. 9. 2001. 16 die tageszeitung, 25. 8. 2001. 17 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 9. 2001.
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Zu Recht, scheint mir, nennt Bourdieu in seiner Tietmeyer-Kritik im Jahre 1996 diese Art von Denken „Fatalismus".18 Dieser findet also nunmehr auch in der Bezeichnung die Globalisierung seinen Ausdruck. Dabei dürfte doch einleuchten, dass schon ein nicht ganz geringes Steigen der Ölpreise zu einer merklichen Deglobalisierung im Bereich des Warenverkehrs führen würde, weil dann Transportkosten nicht mehr eine Größe wären, die wie heute - bei der Kostenkalkulation z. T. nur wenig ins Gewicht fällt. Ganz zu schweigen davon, dass auch internationale Auseinandersetzungen, im Extremfall Kriege, den globalen freien Geld- und Warenverkehr unterbrechen können, wie schon oft geschehen. Und dass Regierungen jederzeit Re-Regulierungsmaßnahmen ergreifen können, wodurch die Globalisierung reduziert wird, und dies auch tatsächlich immer wieder tun (die USA und die EU nicht ausgenommen), nämlich durch Einrichtung von Schutzzöllen (gern als Strafzölle begründet) oder Kontingentierungen (oft in Form „freiwilliger Exportbeschränkung" seitens derjenigen Staaten, die einführen wollen) und durch Subventionen von Inlandsprodukten oder Produktionen. Das Studium der Geschichte kann uns zwar vielleicht über die Zukunft nicht belehren, aber eine Lehre kann man doch wohl daraus ziehen: dass die Zukunft nicht voraussehbar ist. Allerdings stützt sich die scheinbar unbegreifliche Zukunftsgewissheit der Globalisierungsbefürworter auch auf Kenntnis von Tatsachen. Weit entfernt, sich sozusagen naturwüchsig von selbst zu vollziehen, wird nämlich der Fortschritt der Globalisierung von mächtigen Agenturen und Akteuren bewusst und gezielt betrieben. Das sind einerseits die transnational tätigen Konzerne (Multis), andererseits die drei Institutionen, deren Ziel die internationale Liberalisierung des Geld-, Warenund Dienstleistungshandels ist: WTO (World Trade Organization, deutsch: Welthandelsorganisation), WMF (World Monetary Fund, deutsch: Weltwährungsfonds) und Weltbank (Stiglitz 2002, 24 ff.). 19 Das Globalisierungsinstrument der WTO ist insbesondere die Regel, dass in den Genuss niedriger Zölle bei Exporten in die anderen Mitgliedsstaaten nur ein Staat kommt, der selbst seine Grenzen für Importe aus diesen anderen Mitgliedsstaaten durch Zollsenkung oder Zollabschaffung öffnet (Rittershofer 2000, 378 ff. s.v. GATT, 636 f. s.v. Meistbegünstigung). Das heißt praktisch: Ein Staat, der sich dem verweigert, ist nicht exportfähig. (Sonderregeln gelten jedoch für Entwicklungsund für Schwellenländer.) Die Globalisierungsinstrumente des WMF, dem die Weltbank sich bei ihren eigenen Kreditvergaben sehr oft anschließt, sind vor allem die „Strukturanpassungsprogramme" (Structural Adjustment Programs: SAPs), mit den drei Hauptforderungen (Stiglitz 2002, 70 u.ö.): a) Austeritätsmaßnahmen, d. h. 18 Zitiert nach: Der Spiegel 50/1996, 174. 19 So auch Beck (1997, 204): Die „ökonomische Globalisierung ist kein Mechanismus, kein Selbstläufer, sondern durch und durch ein politisches Projekt, und zwar transnationaler Akteure, Institutionen und Diskurs-Koalitionen, ... , die eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben".
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u. a. Abbau der staatlichen Aufwendungen für Gesundheits- und Schulwesen, der staatlichen Subventionen für z. B. die Grundnahrungsmittel und Medikamente, insgesamt sämtlicher Staatsausgaben (mit der Konsequenz der Arbeitslosigkeit von vormals beim Staat Angestellten); b) Marktöffnung, d. h. Reduktion der Einfuhrzölle (u. a. für Überschussgetreide aus den USA und aus Europa, das zu Dumpingpreisen exportiert wird, mit teilweise ruinösen Folgen für die einheimischen Nahrungsmittelproduktionen) und Abschaffung aller Kapitalverkehrskontrollen (die zuvor z. T. erfolgreich Kapitalfluchten verhindert hatten); c) Privatisierung , d. h. Verkauf (oft an ausländische Eigentümer) von staatlichen Banken (die zuvor bei der Kreditvergabe gezielt einen volkswirtschaftlich segensvollen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung nehmen konnten) sowie anderer staatlicher Unternehmen, u. a. von Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsbetrieben (die zuvor - im Sinne des Gemeinwohls - einer flächendeckenden, preisgünstigen Versorgung aller Staatsbürger zu dienen hatten, wie bei uns Post und Bahn, aber auch die kommunalen Energieversorger) sowie der Verkauf staatlichen Grundbesitzes (dies zum Nachteil insbesondere der Bauern oder Landarbeiter, die den Besitz zuvor bewirtschaftet hatten), so vor allem in manchen der vormals sozialistischen Staaten. Dazu kann als vierter Forderungskomplex noch hinzukommen: d) Adaptation der Finanzpolitik eines Staates an die Konditionen des WMF, d. h. (oft) Währungsabwertung (mit der Folge einer Vervielfachung der Fremdwährungsschulden und -Zinslasten und sofortiger Erhöhung aller Importpreise, darunter auch überlebensnotwendiger Einfuhrgüter), Steuerreform (neoliberaler Ideologie entsprechend zu Gunsten von Firmen und privaten Großverdienern, inklusive Abschaffung von Luxussteuern) und erzwungene Einführung von Gebühren u. a. bei Schulen (mit der Konsequenz z. T. zunehmender Analphabetisierung) und bei Krankenhäusern (all dies auch nach Mies 2001, 73 f.). Immer dann, wenn ein Staat wirtschaftlich in eine Krise gerät, sind die Weltbank und der WMF bereit, mit Krediten zu helfen. Aber nur zu den WMF-Konditionen. Deshalb sind die großen wirtschaflichen Krisen die Schrittmacher der Globalisierung. 20 Hinter WMF und Weltbank stehen, deren Politik bestimmend, die Finanz-, Wirtschafts- und Handelsminister und Zentralbankpräsidenten der G 7 (Stiglitz 2002, 36), d. h. die wichtigsten Industrienationen Nordamerikas und Westeuropas sowie Japan, neuerdings gehört dazu auch Russland (G 8). Die derzeit hierbei von den G-7- / G-8-Staaten praktizierte Politik ist formuliert im „Washington Consensus" (in zehn Punkten; zitiert, ohne Angabe der Quelle, von Mies 2001, 82). Dieser ist die Umsetzung der Ideologie21 des Neoliberalismus, d. h. der zuerst von That20 Dafür sind Beispiele das Eingreifen des WMF bei der Ostasienkrise (ab 1997) mit deren Auswirkungen auf Russland und Lateinamerika (Stiglitz 2002, 109 ff.), wo der WMF gleichfalls massiv tätig wurde, im Fall Russlands mit dem Resultat der Herausbildung eines „Mafia-Kapitalismus" (ebd., 158 u.ö.). 21 So Stiglitz (2002, 27 u.ö.). Diese „Ideologie der Weltmarktherrschaft [d. h., dass der Weltmarkt allein herrschen müsse], die Ideologie des Neoliberalismus" nennt Beck (1997, 26) Globalismus.
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eher und von Reagan zum politischen Prinzip gemachten Lehre, dass allein der Markt das ökonomische Geschehen - wenn auch oft erst längerfristig - optimal bestimme und dass deshalb der Staat nicht in es eingreifen dürfe. 22 Vorerst ist daher die real existierende Globalisierung, wie von Weltbank sowie WMF betrieben, eine neoliberale. Was den WMF betrifft, so ist er dabei - gegen seinen ursprünglichen Auftrag - „auch Sachwalter der Interessen der Finanzwelt" (Stiglitz 2002, 238). Ein zweites Bedeutungselement von die Globalisierung ist bei Befürwortern der Globalisierung die Erwartung, dass sie letztlich der Menschheit zum Heil gereichen werde, wenn nicht gleich, dann später („längerfristig"). Sie beruht auf einer sogenannten Trickle-down-Theorie, wonach Gewinn- und Wachstumszuwächse zuerst zwar den Reichen einer jeweiligen Volkswirtschaft zu Gute kommen, dann jedoch unaufhaltsam „durchsickern", bis sie „eines Tages" auch die Ärmsten besser stellen (Stiglitz 2002, 99). Eine andere Metaphorik besagt: Wenn die Flut steigt, heben sich mit ihr nicht nur die Luxusjachten, sondern auch die kleinen Fischerboote (Mies 2001, 65), wobei unbeachtet bleibt, dass starke Fluten kleine Boote auch zerschellen lassen können (Stiglitz 2002, 100). Der in diesen zwei Metaphern ausgedrückte Optimismus gilt nicht nur bestimmten Ländern, sondern allen oder vielen: „Die Globalisierung verbessert für viele Entwicklungsländer die Chance, wirtschaftlich zu den Industrieländern aufzuschließen" (zitiert von Martin/Schumacher 1996, 192). Aus den beiden ontischen Bedeutungskomponenten der Bezeichnung die Globalisierung im Diskurs der Befürworter der Globalisierung - Unaufhaltsamkeit und (längerfristig) Nutzen - ergibt sich dann folgerichtig die deontische Bedeutung: Man muss sie nicht nur hinnehmen, nein, man muss sie sogar wollen. „Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit." Wer frei sein will, der setzt ihr also keinen Widerstand entgegen, zumal sie ja letztlich segensreich ist, wenn nicht gleich, dann längerfristig. Aus der Akzeptanz dieser Prämissen könnte sich vielleicht tatsächlich eine Art von Unaufhaltsamkeit der (vorerst) weiter wachsenden Globalisierung wie von selbst ergeben, nämlich in der Weise einer self-fulfilling prophesy: Wenn alle daran glauben und sich alle danach richten, kommt es auch so. Hätten einmal alle an den Sozialismus geglaubt, wäre auch der Sozialismus (jedenfalls vorerst) weltweit siegreich gewesen. Es ist daher mit dem fortschreitenden Siegeszug der wachsenden Globalisierung bis auf Weiteres durchaus zu rechnen. 22 Dies entgegen einem makroökonomischem Erkenntnisfortschritt, wie er u. a. durch Stiglitz erzielt werden konnte: dass das Modell eines freien Marktes, wie von Adam Smith entworfen, zwar tatsächlich ökonomisch optimal sei, aber immer nur mehr oder minder unvollkommen der tatsächlichen Ökonomie entspreche (u. a. wegen des stets in dem einen oder anderen Wirtschaftsbereich eingeschränkten Wettbewerbes: Stiglitz 2002, 94 f.), weshalb der Staat auf den Markt Einfluss zu nehmen habe (ebd., besonders 250 ff.). Stiglitz (ebd., 70 f.) hält die Grundsätze des Washington Consensus im Prinzip für nützlich, „sofern sie sachgerecht umgesetzt" und nicht „als Selbstzweck" angesehen und „blind" und „um jeden Preis und unter allen Umständen" verwirklicht werden, wie der WMF das oft durchgesetzt habe.
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Aber auch noch eine andere deontische Bedeutung hat - in Deutschland - die Bezeichnung die Globalisierung . Diese besagt: Alle Arbeitnehmer müssen ihren Gürtel enger schnallen. Denn sie konkurrieren nunmehr auf dem Weltmarkt, der jetzt auch der Arbeitsmarkt ist, mit den Schlechtestbezahlten der Welt um Arbeitsplätze. Wenn sie sich mit Einkommenseinbußen nicht zufriedengeben, wird VW mit seiner Produktion vielleicht nach Indien auswandern müssen, DaimlerChrysler nach Brasilien. Deshalb müssen gleichfalls die Lohnnebenkosten (Sozialversicherungsbeiträge) gesenkt werden. Dieses war auch die deontische Bedeutung der politisch höchst erfolgreichen Beschreibung Deutschlands durch den Begriff Standort Deutschland mit dem ebenfalls deontischen Bedeutungselement: „Wir sind zu teuer" (Martin/Schumacher 1996, 213). Das sei - so wurde weiterhin ausgeführt - an den horrenden deutschen Arbeitslosenzahlen zu erkennen, die also auf die Globalisierung zurückgehen sollten.23 Speziell Olaf Henkel hat dies argumentativ vertreten: „Arbeitsplätze sind der größte Exportschlager der Deutschen" (ebd., 218). Es ergibt sich daraus eine zusätzliche, von den Neoliberalen vielleicht nicht gewollte Komponente der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung: Die Globalisierung ist für Deutschland und Europa etwas Schlechtes.
VII. Die Globalisierung im Diskurs ihrer Verleugner, Kritiker und Gegner Die Globalisierungsleugner halten die Bezeichnung die Globalisierung einfach für falsch. Von einer Globalisierung des Welthandels könne keine Rede sein, es sei der Außenhandel der industriellen Länder, insbesondere der USA, der Europäischen Union und Japans nach wie vor hauptsächlich wechselseitig, mit einer Betei-
23 Das ist, scheint es, durchaus unzutreffend. Cohen (1998) führt in seinem Buch Fehldiagnose Globalisierung aus, dass die Globalisierung heute zeitgleich mit der dritten industriellen Revolution stattfindet (durch die sie auch weitgehend vorangetrieben wurde und wird), d. h. mit der Computerisierung und der dadurch möglich gewordenen Automatisierung vieler Fertigungs- und Verwaltungsvorgänge mit dem Resultat des Überflüssigwerdens vieler Arbeitskräfte (bei nicht mehr expandierbaren Märkten). Es sind demnach insbesondere die Produktivitätsfortschritte, durch die Arbeitslosigkeit bewirkt wird. Hinzu kam in Deutschland eine Politik unbedingter Privatisierung, insbesondere in Ostdeutschland durch die Treuhand - unbedingt in dem Sinn, dass sie ohne Rücksicht darauf vorgenommen wurde, ob alternative Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft zur Verfügung standen oder jedenfalls erkennbar bereits im Entstehen waren. Dieses ist (nach Stiglitz 2002, 75) die Voraussetzung für eine volkswirtschaftlich sinnvolle Privatisierung: „Die Privatisierung muss Teil eines umfassenderen Programms sein, das gleichzeitig mit der unvermeidlichen Arbeitsplatzvernichtung durch die Privatisierung die Schaffung neuer Arbeitsplätze vorsieht". Die - im Vergleich mit den USA - so hohen Arbeitlosenquoten Westeuropas sind banalerweise außerdem darauf zurückzuführen, dass verhältnismäßig hohe Sozialleistungen es den Arbeitslosen möglich machen, Niedrigstlohnjobs auszuschlagen (Krugman 1999, 21). Der Hinweis auf „die Globalisierung" - oder auf den „internationalen Wettbewerb" - erspart es den Politikern, die wirklichen Ursachen für die Arbeitslosigkeit zu nennen (ebd., 35 ff.) und für Abhilfe zu sorgen.
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ligung von dritten Staaten von nur circa 20 Prozent, und mit Ausschluss großer Teile der Welt. 24 Internationalisierung sei die richtige Bezeichnung, jedenfalls sei sie genauer, da man - je nach Marktsegmenten unterschiedlich - international vor allem Regionalisierungen feststellen könne (Dahrendorf 1998, 44). Die Globalisierungsgegner lassen die Bezeichnung die Globalisierung gelten, aber statten sie mit anderen Bedeutungskomponenten aus als die Globalisierungsfreunde. Erstens meinen manche der Globalisierungsgegner, die Globalisierung sei nichts Schicksalhaftes, das sich sozusagen automatisch durchsetzt: „Dieser ökonomische Fatalismus hat die Funktion, Widerstand dagegen zwecklos erscheinen zu lassen. Verschwiegen wird, dass Globalisierung ein politisch gewollter und initiierter Prozess ist". Dieser Prozess sei aber sehr wohl aufzuhalten und umkehrbar. 65 Prozent der deutschen Bevölkerung seien laut Spiegel-Umfrage 2001 für den friedlichen Protest der Globalisierungskritiker (was wohl zeigt, dass die Bezeichnung die Globalisierung in der deutschen Öffentlichkeit in der Tat vorwiegend negativ besetzt ist). Attac, die Vereinigung, von der diese Informationen stammen, stellt sich gegen eine weitere Liberalisierung des Welthandels, insbesondere in den Bereichen Agrar, Textil sowie Dienstleistungen und vor allem gegen die bereits erfolgte Liberalisierung der weltweiten Finanzmärkte: Attac „fordert, weltweit eine Devisenumsatzsteuer (,Tobin-Steuer') einzuführen". (Danach hat die Attac ihren Namen Association pour la Taxation des Transactions financières à l'Aide des Citoyens , „Assoziation für die Besteuerung von Finanztransaktionen ..." - dessen Akronym jedoch Aflgnjff bedeutet.) „Des weiteren fordert Attac die Wiedereinführung von Kapitalsverkehrskontrollen und eine Stabilisierung der Wechselkurse zwischen Dollar, Euro und Yen". 25 Zweitens gehört also zur Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung bei Globalisierungsgegnern die deontische Bedeutungskomponente, dass die Liberalisierung des Welthandels begrenzt und rückgängig gemacht werden solle. Drittens nämlich gehört zu dieser Bedeutung gleichfalls, dass die „neoliberale Politik der Globalisierung" hinausläuft auf „die Vorherrschaft der Finanzmärkte, die Zerstörung unserer Kulturen, die Monopolisierung des Wissens, der Massenmedien und der Kommunikation, die Beeinträchtigung der Natur durch die multinationalen Konzerne und anti-demokratische Politik", ferner u. a. Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne und Militarismus. 26 So ergibt sich die deontische Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung auch hier aus der ontischen Bedeutung. 24 So Hirst/Thompson (1998, 98), allerdings mit Zahlen für das Jahr 1989. Im Jahr 2000 machten in Deutschland Importe aus Industrieländern 72,9 Prozent, Exporte in Industrieländer 77 Prozent des Außenhandels aus, die Zahlen für Entwicklungsländer waren 15,2 bzw. 12,5 Prozent (BMWI2001, 67 f.). 25 Alles dies nach: Attac, Genua-Informationsdienst 17. Juli 2001, hier zitiert nach www.attac-netzwerk.de/genua/ghinter.html . Ein etwas anderer Katalog von Attac-Forderungen ist abgedruckt bei Mies (2001, 176 f.). 26 Porto Alegre Aufruf (unterzeichnet u. a. von Attac), zitiert nach www.attac-netzwerk.de / archiv/porto alegre_call.html, gesehen am 14.09.01.
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Außer den Globalisierungsgegnern gibt es auch Globalisierungskritiker, die nicht das Ende der Globalisierung fordern, sondern eine andere Politik ihrer Realisierung, mit dem Ziel einer „Globalisierung mit menschlichem Gesicht" (Stiglitz 2002, 283). Denn es habe die Globalisierung bisher außer vielen negativen auch sehr segensreiche Wirkungen gezeitigt, so vor allem große ökonomische Fortschritte in Ostasien (ebd., 246). Die deontische Bedeutung der Bezeichnung ist hier also: Die Globalisierung muss zum Besseren verändert werden. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass man die Bezeichnung die Globalisierung auch versteht als Euphemismus für „Weltherrschaft der westlichen Industrienationen" und für „US-Imperialismus". Dass dies - insbesondere in DrittweltLändern, sehr viel weniger in Deutschland, etwas mehr vielleicht in Frankreich so ist, dürfte ohne Weiteres einleuchten, und ich kann mich auch erinnern, dass ich solche Interpretationen der Bezeichnung schon gelesen oder gehört habe. Aber leider fehlen mir dafür Belege.27
VIII. Die Begriffsrückseite der Bezeichung die Globalisierung Ein Symbol der ökonomischen Globalisierung ist am 11. 9. 2001 zerstört worden, das New Yorker „World Trade Center", also das Welthandelszentrum, jahrelang das größte Bauwerk der Welt. Und damit auch, wie wir jetzt erkennen können, ein Symbol menschlicher Hybris. So etwas kann nicht passieren, das ist offenbar der katastrophenpolizeilich und versicherungskalkulatorisch ausschlaggebende Gedanke beim Bau von Hochhäusern wie von Kernkraftwerken, auch in Deutschland. Das kann nicht passieren, oder auch: Das wird schon nicht passieren, denkt man wohl auch oft bei weltwirtschaftlichen Expansionsmaßnahmen. Aber andererseits gibt es dabei ganz sicher auch ein hohes Risikobewusstsein. „Ökonomische Zusammenbrüche sind ein wesensinhärentes Merkmal des Kapitalismus", lese ich in einem Aufsatz, der des Weiteren u. a. berichtet, wie der Aktienwert für Tulpenzwiebeln in den Niederlanden kurz nach 1600 eine Höhe erreicht hatte, dass der Wert einer einzigen Zwiebel so groß wurde wie der eines Amsterdamer Hauses, bis er dann am nächsten Tag ins Bodenlose sackte.28 Bei uns allgemein bekannt, als Teil historischen Grundwissens, sind der große Krach der deutschen Gründerjahre und der Schwarze Freitag 1929, als der Anfang der Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland im Zusammenspiel mit anderen Faktoren u. a. Hitler an die Macht gebracht hat. Mit weltwirtschaftlichen Krisen muss man auch in Zukunft 27
Mit nur zwei Ausnahmen. Galbraith habe gesagt: „Wir Amerikaner haben dies Konzept erfunden, um unsere Politik der wirtschaftlichen Durchdringung anderer Länder zu verschleiern" (die tageszeitung, 2. 2. 2002, 4). Teubert (2002, 160) zitiert aus der taz vom 4. 9. 1996: „Globalisierung bedeutet auch Europäisierung des Globus, Kolonialismus, ökonomischer und ökologischer Imperialismus". 28 „Economic collapses are an instrinsic part of capitalism" (Thurow 1998, 22).
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rechnen. Nicht nur die Symbole der Weltwirtschaft sind zerstörbar, sondern auch die Weltwirtschaft selbst ist in hohem Grade störanfällig. Man wird wohl annehmen können, dass die Mächtigen der internationalen Wirtschaft das noch sehr viel besser wissen als wir. Öffentlich wird im Diskurs der Befürworter der Globalisierung in der Regel nur auf deren segensreichen Folgen hingewiesen, aber es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die ökonomisch zu entscheiden haben, sehr wohl wissen, dass sie auch riskant ist. Nicht nur wegen möglicher Weltwirtschaftskrisen, sondern auch bei jeder einzelnen Investitionsentscheidung, die zur wachsenden Globalisierung etwas beiträgt, wenn auch noch so wenig. Dieses Wissen, dieses Risikobewusstsein ist eine höchst effektive Bremse der Globalisierung. Es verhindert im Verein mit zusätzlichen ökonomischen und anderen Tatsachen bisher die Annäherung an die Völlendung der nur scheinbar ohne Hindernis fortschreitenden Globalisierung. Die globalisierungshemmenden Tatsachen sind, in vielen Ländern der Welt, u. a. politische Unwägbarkeiten, Rechtsunsicherheit, Inkompetenz von Arbeitskräften und Ineffizienz von staatlicher Verwaltung, Korruption und Nepotismus, nationale sowie internationale Kriminalität und erst recht Kriege, Bürgerkriege, Terrorismus wie schon die Gefahr von diesen. Kriege, Bürgerkriege und auch Terrorismus fördern zwar den internationalen Waffenhandel, aber hemmen alle übrige Globalisierung. Viele Teile der Welt, viele Länder bleiben denn auch von der wachsenden Globalisierung bislang fast ganz ausgenommen. Weite Teile Asiens, Afrikas und Südamerikas sind am Welthandel und an den weltweiten Produktionsprozessen kaum beteiligt. Es sei denn am Waffen- und am Drogenhandel, die vielleicht am weitesten globalisiert sind, denn für sie gibt es anscheinend kaum noch Grenzen. Insgesamt ist die Globalisierung aber offensichtlich durchaus noch nicht weltweit wirksam. Was hat das zu tun mit der Bedeutung der Bezeichnung die Globalisierung? Antwort: Es belehrt uns über einen, wie ich meine, wichtigen Aspekt dieser Bedeutung. Wörter haben generell die Eigenschaft, bestimmte Eigentümlichkeiten und Merkmale des durch sie Bezeichneten hervorzuheben, andere dagegen unbeachtet sein zu lassen.29 Wörter haben, wie der Mond, Rückseiten, und sie zeigen oft nur einen Teil der Wahrheit, und zwar auch dann, wenn es für uns wichtig wäre, auch den anderen Teil zu kennen. Augenfällig ist das bei den insbesondere in der Düsseldorfer Germanistik systematisch aufgespürten konkurrierenden Begriffen (Stötzel/Wengeler 1995, 3). Beispielsweise Klassenkampf / Sozialpartnerschaft, Nachrüstung I Aufrüstung, freie Marktwirtschaft / Kapitalismus - jede dieser sechs Vokabeln zeigt tatsächlich, scheint mir, etwas Wahres. Wenn es anders wäre, wenn die Wörter ganz falsch wären, hätten sie wohl kaum jemals Karriere machen können. 29 Also manche dieser Merkmale zu „fokussieren", andere „auszublenden" (Burkkardt 1996, 94). Unsere „Ideen", „Vorstellungen", „Schemata", „Stereotype" (Hermanns 2002) von den Dingen und Tatsachen sind nicht deren mentale Reproduktionen, sondern deren von sehr vielen Eigenschaften und Merkmalen abstrahierenden und deshalb simplifizierenden mentalen Modelle.
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Wie ein Spot beleuchten sie gewisse Eigenschaften und Aspekte dessen, was durch sie benannt wird. Anderes dagegen lassen sie im Dunkeln. Das gilt auch für die Bezeichnung die Globalisierung . Sie verbirgt uns - nicht nur dadurch, dass sie uns nicht eigens darauf hinweist, sondern auch durch ihre scheinbar offensichtliche Bedeutung - dass der Prozess der Globalisierung bisher weit davon entfernt ist, wirklich weltweit stattzufinden. Sie macht außerdem nicht deutlich, dass diese Globalisierung da, wo sie geschieht, oft nur partiell ist. (Manche Länder nehmen an ihr nur als Rohstofflieferanten teil, andere nur durch ZurVerfügung-Stellen arbeitsintensiver manueller Arbeitsleistung, nämlich die Billiglohnländer, insbesondere (Klein 2000, 202 ff.) in „Freihandelszonen" - EPZs, „Export Processing Zones".) Wie schon gesagt, verbirgt die Bezeichnung auch die Risiken, die mit Fortschritten der Globalisierung einhergehen, ebenso für jede einzelne der Firmen und Konzerne, die sie vorantreiben, wie auch insgesamt für die Weltwirtschaft. (Würden auch nur einige der wichtigsten Ölhähne der Welt durch Krieg oder Terrorismus zugesperrt, so wäre wegen der dann sprunghaft steigenden Ölpreise sowie u. a. der daraus folgenden Verteuerung der Nahrungsmittelproduktion in Nordamerika und Westeuropa eine Folge für Millionen Menschen voraussichtlich eine Katastrophe.) Auch verbirgt sie den staatlichen und im Falle der EU - den überstaatlichen Protektionismus, den die Industrienationen ganzen Wirtschaftszweigen angedeihen lassen. Sie verbirgt auch, dass es sich bei der Weltwirtschaft durchaus nicht nur um ein Spiel von freien Konkurrenten handelt, sondern oft auch um Oligopole, die natürlich ihren Vorteil dabei haben, wenn sie nicht versuchen, sich zu Tode zu konkurrenzieren, und daher den Kuchen der erzielbaren Profite lieber partnerschaftlich unter sich aufteilen. Ferner, dass die wirtschaftliche Internationalisierung nicht nur wirtschaftliches Wohlergehen, sondern ebenso auch wirtschaftliches Elend erzeugt. Bei den innerstaatlichen Tarifkonflikten zwischen den Gewerkschaften und Industrieverbänden wird durch sie verborgen, dass es dabei oft nicht um den internationalen Wettbewerb geht, sondern nach wie vor hauptsächlich um Verteilungskämpfe, also um die Frage, welchen Anteil am Gewinn der Unternehmen in Gestalt von Lohnerhöhungen die Arbeitnehmer haben sollen (Martin / Schumann 1996, 212). Vieles davon würde sich natürlich ändern, wenn im Diskurs der Globalisierung die Globalisierungskritiker die Meinungsführerschaft gewinnen würden. Aber umgekehrt verschweigt - nicht immer, aber oft - auch deren Diskurs und Gebrauch dieser Bezeichnung vieles, so vor allem die Tatsache, dass das Elend in der Welt natürlich auch noch viele andere Ursachen hat als allein die Globalisierung, außer den bereits erwähnten die exorbitanten Militärausgaben vieler Staaten und das Bevölkerungswachstum, das in manchen Regionen der Welt so enorm ist, dass kein noch so großes Wirtschaftswachstum je damit Schritt halten könnte, um nur noch zwei weitere zu nennen. Alles dieses also und wohl auch noch manches Andere verunsichtbart die Bezeichnung die Globalisierung. Mir scheint, dass auch das zu der Beschreibung der Bedeutung der Bezeichnung gehört.
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Von der Sprachkrise zur Bilderkrise Überlegungen zum Text-Bild-Verhältnis im Paradigma der pragma-semiotischen Textarbeit Von Ekkehard Felder
Im Grunde erzählt jedes Bild eine Geschichte von Liebe und Haß, wenn man es aus dem rechten Blickwinkel betrachtet. Leopoldo Salas-Nicanor (Espejo de las artes, 1731)
I. Einleitung Es scheint allgemein Konsens zu sein, dass unsere Erfahrungen und Erkenntnisse zunehmend durch Bilder geprägt werden. Wir leben in einer Zeit der Bilderflut - sagt der Medientheoretiker Hartmut Winkler (Winkler 19971; Pörksen 2000: 191) - , andere sprechen von der visuellen Zeitenwende („iconic turn" Boehm 3 2001: 13) oder Zeichenwende. Mit der letzten Jahrhundertwende ist - wesentlich durch die Verbreitung des Internet bedingt - der Einsatz von Bildern im kommunikativen Akt zu einer Selbstverständlichkeit geworden, so dass die Frage nach dem Selbststand des Wortes (wie Leibniz dies ausdrückt) gegenüber dem Bild immer dringlicher wird. Auch dieser Beitrag kann dazu keine Antworten bieten, wohl aber einige Überlegungen. Ein solch weites Feld bedarf freilich der Einschränkung, deswegen spreche ich im Folgenden von Sprach- und Bildzeichen in Kommunikationsprozessen, die sich in der politischen Öffentlichkeit vollziehen. Damit sind materielle Standbilder, also im Nachhinein nicht bearbeitete Pressephotographien, gemeint wie z. B. der Abriss 1
Hartmut Winkler (1997): Docuverse. München, S. 209. Mit Docuverse wird das Phänomen gefasst, dass im Datenuniversum die Dokumente in Relation stehen, miteinander verbunden sind (Nelson, Theodor (1987): Literary Machines. South Bend, S. 2/9, der Terminus findet sich auf S. 4/15). Die Bezeichnung wurde von Theodor Nelson entwickelt: „Literature is an ongoing system of interconnecting documents", (zitiert nach Winkler 1997: 10) Der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler übernimmt den Terminus „Docuverse" von Nelson, weil der Begriff dazu zwinge, das Datenuniversum als eine textbasierte, technisch/soziale Gesamtanordnung zu denken, und es gleichzeitig möglich mache, diese Idee als eine Theoriefiktion zu kritisieren.
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der „Saddam-Hussein"-Statue in Bagdad nach dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen im Frühjahr 2003. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht daher die Verwendung von Sprach- und Bildzeichen (Huth 1985, Fix/Wellmann 2000, Sachs-Hombach 2003, Stöckl 2004) in statischen Nachrichtenangeboten (Printmedien, Internet usw.). Damit haben wir es mit einem Begriff zu tun, den es zu präzisieren gilt, nämlich dem der „Öffentlichkeit" 2, des „als Gesamtheit gesehenen Bereichs von Menschen, in dem etwas allgemein bekannt [geworden] und allen zugänglich ist". 3 In Meyers Enzyklopädisches Lexikon wird „Öffentlichkeit" als eine Bezeichnung der Sozialwissenschaften für gesellschaftliche Kommunikations-, Informations- und Beteiligungsverhältnisse definiert, die die Entstehung und die fortwährende Dynamik einer öffentlichen Meinung möglich machen.4 Etwas vorsichtiger und weniger idealtypisch formuliert die Brockhaus Enzyklopädie: „Im Alltagsverständnis werden als Öffentlichkeit alle gesellschaftlichen Bereiche angesehen, die [ . . . ] prinzipiell allen an einer Gesellschaft beteiligten Personen offen stehen sollen, i.e.S. die Zugänglichkeit bzw. Durchschaubarkeit politischer und rechtlicher Entscheidungsräume für Kritik und Kontrolle auch derjenigen Bürger, die nicht direkt mit den jeweils anstehenden Entscheidungen verbunden sind."5
In diesem allgemeinen Verständnis wird hier die Bezeichnung als der Kommunikationsbereich der politisch interessierten Öffentlichkeit verstanden. Um es gleich vorweg zu sagen: Die folgenden Darlegungen beabsichtigen nicht, sich in die Menge der ikonoklastischen Polemiken einzureihen. Es geht vielmehr um das Wechselverhältnis von Bild- und Sprachzeichen sowie die Frage, welche Konsequenzen die Kritik an Bildern und ihrem Einsatz für das Verständnis von Sprache und ihrem Gebrauch hat. Oder wie W. J. T. Mitchell formuliert: „Es geht [ . . . ] darum, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie unser theoretisches' Verständnis der Bildlichkeit in sozialen und kulturellen Praktiken verankert ist und wie es in einer für unser Verstehen - nicht nur des Wesens der Bilder, sondern auch der jetzigen oder künftigen Natur des Menschen - grundlegenden Geschichte wurzelt." (Mitchell 1990:18)
Aus der Medienwissenschaft wissen wir, dass konkurrierende Medien im Auf und Ab der Bewertungsgunst sich stets zur Neupositionierung im Gesamtspektrum 2 Öffentlichkeit gilt in den Sozialwissenschaften als eigener Bereich, der von der privaten wie staatlichen Sphäre geschieden wird. 3 Duden. Deutsches Universalwörterbuch, hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 4 2001. Öffentlichkeit gilt als ein demokratisches Prinzip, dem gemäß staatliche bzw. die Allgemeinheit von Bürgern betreffende Fragen und Probleme so behandelt werden sollen, dass den Betroffenen zumindest eine passive Teilnahme an Beratungen und Entscheidungen gewährt wird (vgl. Kleinsteuber 1985: 627 f.). 4 Vgl. den Eintrag „Öffentlichkeit" in Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. Mannheim/Wien/Zürich u. a. 1976. 5 Brockhaus - Die Enzyklopädie in 24 Bänden. Bd. 16. Mannheim / Leipzig 20 1998, S. 156.
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gezwungen sehen. Gleiches kann übertragen für das konkurrierende Nebeneinander von Bildzeichen und Sprachzeichen festgestellt werden. Deshalb lauten die zu erörternden Fragen wie folgt: 1. Wie gestaltet sich grundsätzlich das problematische Verhältnis von Signifikant und Signifikat bei Bild- und Sprachzeichen im politisch öffentlichen Kommunikationsbereich? 2. Welche Auswirkungen hat dieses Verhältnis auf die Art und Weise, Erfahrungen zu machen und Erkenntnisse zu gewinnen (Genese von Erfahrungen und Erkenntnissen)? 3. Welche semiotischen Schlussfolgerungen lassen sich aus der Erörterung des Text-Bild-Verhältnisses für die jeweilige Leistungs- und Erkenntniskraft beider Zeichentypen ziehen? Bei der Beantwortung der Frage, was Bilder auszeichnet, scheint nicht eine bestimmte Eigenschaft von Bedeutung zu sein, sondern das komplizierte Zusammenspiel von Zeichenträger, Handlungskontext und Reflexionsmodus. In der philosophischen Diskussion haben sich zwei Stränge herausgebildet: Bilder werden entweder aus sprachwissenschaftlichem Blickwinkel als spezielle Zeichen verstanden oder aber unter Berücksichtigung perzeptueller Ansätze sehr eng an spezielle Wahrnehmungsphänomene gebunden (Steinbrenner/Winko 1997). Die zeichentheoretischen Ansätze versuchen, linguistische Termini auf Bilder zu übertragen und beschreiben sie als Zeichensystem, das einer Sprache mehr oder weniger entspricht (vgl. insbesondere Goodman 21976). Die perzeptuellen Theorien koppeln die Bildtheorie dagegen an psychologische Diskussionen und betonen anhand entsprechender Bildeffekte die Besonderheit des Visuellen (vgl. Gombrich 1984 als einen wichtigen Vertreter). Im Folgenden spreche ich von Bildzeichen im Kommunikationsprozess und meine damit das optische Bild (Photographie, Film, Video), wobei ich nachträgliche Bildbearbeitungen und Veränderungen des Dargestellten - also Fälschungen, Täuschungen und Manipulationen - ausdrücklich ausschließe.6 Die hier behandelten Bildinhalte sind also konkret, die Bilder beziehen sich ausschließlich auf Gegenstände oder Personen einer realen Welt. Fiktionale Bilder mit Bezügen auf vorstellbare Phantasiewelten sind hier ausgeschlossen ebenso wie abstrahierende, datenvermittelnde Schaubilder - so z. B. mathematische Kurven, Flussdiagramme, Stemmata, Histogramme, elektrokardiographische Verlaufskurven, algorithmische oder statische Graphiken. Sie zeichnen sich insgesamt durch ihre hohe Ikonizität, ihre vermeintlich nahe Realitätsbezogenheit aus, was in der Literatur als Mimesis, in der darstellenden Kunst wie Malerei oder Theater als Imitation gefasst wird (vgl. Kalverkämper 1993: 219). 6 Ich beschäftige mich also nicht mit dem in der Geschichte der modernen Massenkommunikation bekannten Phänomen der Fälschung von Bildern und Photographien zu Zwecken der politischen Propaganda (vgl. dazu Fabian 1976).
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Wenn im Folgenden die Verwendung von Bildzeichen (gemeint sind also materielle Bilder - nicht mentale Bilder (Mitchell 1990: 20)) im Vergleich zu Sprachzeichen genauer betrachtet werden soll, so untersuche ich damit veröffentlichte Meinungen und Berichterstattungen - also diejenigen, welche die Chance haben, „öffentlich" zu werden. Im Internet ist dies heutzutage keine allzu große Hürde mehr, dennoch muss graduell der Öffentlichkeitsaspekt im Hinblick auf die Anzahl der tatsächlich erreichten Rezipienten differenziert werden.
II. Problemaufriss: Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Bildbewertung Es hat Zeiten gegeben - nämlich die des byzantinischen Bilderstreites (731-841) - , in denen die Beantwortung der Frage Was ist ein Bild? eine brisante Angelegenheit war. Im Byzanz des 8. und 9. Jahrhunderts, das zerrissen war vom Streit zwischen Kaiser und Patriarch, hätte einen die Antwort sofort als Anhänger der einen oder anderen Partei ausgewiesen: entweder als radikalen Bilderstürmer (= Ikonoklasten), der die Kirche vom Götzendienst der Idolatrie (= Bilderanbetung als Götzendienst) zu reinigen bestrebt war, oder als konservativen Ikonodulen (= Bilderverehrer), dem daran gelegen war, traditionelle liturgische Bräuche zu bewahren (vgl. Mitchell 1990: 17). Die Bilderverehrer glaubten bei diesem legendären Bilderstreit, dass in Heiligenbildern die Heiligen selbst anwesend seien. Die Ikonoklasten bestritten dies vehement und kritisierten die Auffassung, ein Bild könne die göttliche Natur Christi verkörpern. Insofern nur die menschliche Natur Christi zur Darstellung komme, zerstöre das Bild unerlaubt die Einheit der Doppelnatur Christi und versage also nicht nur darin, das Wesentliche zu zeigen, sondern verfälsche dieses vielmehr (vgl. Sachs-Hombach / Schirra 1999: 31). Letztlich haben sich die Bilderstürmer mit ihren platonischen Grundansichten durchgesetzt, denn die „Vermittlung" beider Positionen bestand darin, dass die Bildverehrung lediglich eine didaktische Funktion einnehme, dass aber erkenntnistheoretisch das Bild dem Wort unterzuordnen sei. Bilder konnten und können jedoch auch andere Funktionen wie zum Beispiel politische oder ästhetische Aufgaben übernehmen. Dieser Aspekt ist hier insofern besonders relevant, als im Folgenden der weite Bogen zur Jahrhundertwende des 19./20. Jahrhunderts geschlagen werden soll. Damals nämlich brach der bisher schärfste Streit über das andere Medium des Erkenntnis- und Erfahrungsgewinns aus, nämlich die Sprache. Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos kann dabei als kanonisiertes Beispiel angeführt werden (Hofmannsthal 1902). Mit der durch den Lord verkündeten Sprach-, Kultur- und Identitätskrise7 ging eine Überhöhung von Bildern ein7 „Das Unbehagen an der Kultur und das Unbehagen an ihren Sprachordnungen sind zwei Seiten derselben Medaille. Sprachkritik ist Kulturkritik von Beginn der Moderne an gewesen, und sie wird bis heute in dieser Verbindung fortgeführt. Die menschliche Sprache steht im
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her. Im Folgenden möchte ich kurz das Unbehagen an der Sprache und die auf Bilder ausgerichteten Hoffnungen bei der sog. Wahrheitsfindung skizzieren. III. Sprachkrise der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert Ende des 19. Jahrhunderts erfasste viele Intellektuelle eine Krise im Verhältnis zu ihrer Sprache und zu den tradierten Ausdrucksformen als den Fundamenten des kulturellen Selbstverständnisses. Im kulturgeschichtlichen Reden über diese vielschichtigen Ereignisse und Phänomene wird häufig das Etikett der „Sprachund Kulturkrise der Jahrhundertwende" benützt (Grimminger 1993: 7/7). Diese philosophische und literarische Sprachkritik muss in den Zusammenhang einer Erkenntniskritik der Sprache gestellt werden, weil hier die grundsätzliche Leistungsfähigkeit von sprachlichen Zeichen überhaupt in Frage gestellt wurde. In die bisherige Vertrautheit mit der Muttersprache mischten sich nicht nur bei den Zeitzeugen und Sprachkritikern wie Fritz Mauthner (1849-1923) 8 , Karl Kraus (1874-1936) 9 , Arthur Schnitzler (1862-1931 Jedes Wort hat fließende Grenzen. Diese Tatsache zu ästhetischer Wirkung auszunützen ist das Geheimnis des Stils" 10), Friedrich Nietzsche (1844-1900) 11 und Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) 12 erhebliche Zweifel hinsichtlich des Sinnstiftungspotentials von Sprache - gemeint ist ihre Zuverlässigkeit beim Sprechen, Denken und Kommunizieren über Welt und beim Sich-Beziehen auf Sachverhalte und Gegenstände mittels Benennungen.13 Solche Verwandlungen zur Fremdheit („Sprachmetamorphosen") haben sich von der ausgehenden Moderne des späten 19. Jahrhunderts bis zur sogenannten Postmoderne in zahlreichen Variationen fortgesponnen. In der Konsequenz sehen sich viele Kulturschaffende ihres Werkzeugs beraubt, es entsteht Verunsicherung durch erfahrene Fremdheit auf Grund erschütterter sprachlicher Ordnung, die nun eben nicht mehr in dem ersehnten Maße zur Ordnung der Dinge 14 beitragen kann. Solche Verunsicherung hat ihren Kern in der Zentrum der Kulturleistungen, wer eine von beiden Seiten angreift, attackiert deshalb die andere immer schon mit." (Grimminger 1993: 7/7) 8 Vgl. Fritz Mauthners dreibändiges Werk Beiträge zu einer Kritik der Sprache aus dem Jahre 1901/1902. 9 Kraus, Herausgeber der Zeitschrift Die Fackel und Verfasser des Anti-Kriegs-Dramas Die letzten Tage der Menschheit, hält Öffentlichkeit und freie Presse für korrumpiert. 10 Schnitzler Arthur (1987): Beziehungen und Einsamkeiten: Aphorismen. Frankfurt. 11 Einschlägig ist Nietzsches Abhandlung über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873). 12 Sein berühmt gewordener Chandos-Brief von 1902 hat die schlichte Überschrift „Ein Brief 4 . 13 Bei Nietzsche und von Hofmannsthal entsteht eine neue Form der poetischen Rede, die sich in dem poetischen Bild um die Leiblichkeit der Metapher verfestigt (Grimminger 1993: 7/4). 14 Vgl. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main (OA., frz.: 1966).
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konventionellen Beliebigkeit der Sprachzeichen überhaupt. Der Weg von den Sprachzeichen zu einem Dasein der Dinge (ich spreche bewusst nicht von dem Dasein der Dinge) ist weit, der Weg zu ihrem Wesen erscheint endlos und verliert sich im Gewirr der Sprachspiele und deren babylonischer Willkür. Infolge dessen ist es bis heute in einer kritikfreudigen Meinungsbildungselite Gemeingut, dass sprachliche Zeichen auf diese oder jene Weise oft als unauthentisch oder uneigentlich charakterisiert werden: Und die Ursache dafür soll eben in der Arbitrarität und Konventionalität sprachlicher Zeichen liegen. 15 Ein unseliges Beispiel dieser verkürzten Denkweise erfahren wir in der alljährlichen „Unwort-Wahl", bei der Sprachwissenschaftler und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in unzulässiger Durchmischung von Signifikat und Signifikant das sog. Unwort des Jahres „küren" (im Jahre 2005 das Wort Entlassungsproduktivät) und inhaltliche Kritik am Sachverhalt - also dem Referenzobjekt (die ja berechtigt sein mag, je nach politischem Standpunkt) - auf die Ausdrucksseite projizieren. Linguistisch begründete Sprachkritik tut aber gut daran, strikt zwischen Beschreibungs- und Bewertungsebene zu trennen, linguistische Kriterien nicht mit politisch inhaltlichen Aspekten synkretistisch zu vermischen (Felder 1995: 52) und schließlich dem nicht linguistisch vorgebildeten Staatsbürger möglichst vielschichtige und multiperspektivierte Beschreibungen des Sprachgebrauchs zu liefern, so dass dem zoon politikon die inhaltliche Bewertung des durch ein Lexem bezeichneten Inhalts und der Angemessenheit des Sprachgebrauchs selbst anheim gestellt werden kann. Die radikalsten Konsequenzen aus der erfahrenen Verunsicherung gegenüber der sprachlichen Ordnung zogen Nietzsche und von Hofmannsthal. 16 Aus Platz-
15 Der Literaturwissenschaftler Rolf Grimminger resümiert die Kritik an der von ihm vereinfachend als „Bildungssprache des 19. Jahrhunderts" etikettierten Phänomene sprachlicher Erscheinungsformen wie folgt: „In ihr herrschte eine verkappte Zensur. Sie war von Tabus überwacht, die auszugrenzen hatten, was nicht in den Schematismus der Konventionen hineinpaßte. Die literarische Kritik daran setzt verschiedene Akzente in einer Richtung: Man attackiert die Enge des erstarrten Sprachgehäuses, man bezweifelt die Wahrheit der in ihm eingesperrten Bildung, und man entwirft Alternativen für einen anderen Sprachgebrauch, der - bei allen Unterschieden - die Natur des Lebens und der Sinne gegen die Bildung zurückfordert." (Grimminger 1993: 7/4) 16 Ihrer Enttäuschung über konventionelle Sprachformen setzten sie die Kraft des poetischen Bildes entgegen. Nietzsches poetische Gegensprache soll all jene Bilder, Träume und Affekte wieder in sich aufnehmen, die auf den abgegriffenen Wortmünzen der Konventionen verschwunden sind. Sie soll wieder der Natur folgen, er setzt hinzu: unserer „Nervenreize". Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang vom Fundamentaltrieb des Menschen zur Metaphernbildung, zur sinnlichen Energie der Bilder: „Fortwährend verwirrt jener Fundamentaltrieb des Menschen [ . . . ] die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch, daß er neue Übertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt unregelmäßig, folgenlos zusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten, wie es die Welt des Traums ist." (Nietzsche (1873): 319)
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gründen kann hier nur kurz resümiert werden, worin Nietzsches und Hofmannsthals Unbehagen besteht. Der flüssige Traum findet für Nietzsche seinen Ausdruck i m Mythos und in der literarischen Kunst. (Grimminger 1993: 7 / 2 0 ) Obwohl oder gerade weil die Metapher traditionell i m Kontext rhetorischer Figurenlehre als unwahr betrachtet und desavouiert wird, feiert Nietzsche in ihr die wahre Natur - nicht nur der Sprache, sondern auch des menschlichen Daseins, das entsprechend zu sich selbst finden soll: in den Sprachformen des Traums, des Mythos und der Kunst. Nietzsche setzt offensichtlich der von ihm empfundenen Künstlichkeit der Sprachformen die Natürlichkeit der Bilder entgegen. 17 Grimminger (1993: 7 / 2 1 ) zieht folgendes Fazit: Nietzsche „stellt der stumm gewordenen Anwesenheit unserer Natur eine Sprache zur Verfügung, die nicht mehr nur »lügenhaft' willkürlich und konventionell gesteuert sein soll, sondern durch die Natur der »Nervenreize' motiviert. Sie verbinden den sinnlich gewordenen Sprachköper mit dem leib-seelischen Organismus des Menschen. Bei aller Zeichenhaftigkeit, die sie nicht abstreifen kann, ist Nietzsches Gegensprache also sekundär motiviert durch den Leib. In der Tat ist das ein semiotisch wie existentiell grundlegender Unterschied: Nietzsche trennt eine nur kommunikative Sprache, die gar noch im »Wahnsinn der allgemeinen Begriffe' befangen ist, von der literarischen Sprache der Sinne strikt ab." (Grimminger 1993:7/21) Hugo von Hofmannsthal konstatiert in seinem berühmt gewordenen ChandosBrief aus dem Jahre 1902 den endgültigen Vertrauens Verlust in die überlieferte „Bildungs-" und Literatursprache. Stattdessen betont er das Sehen: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt." (Hofmannsthal 1902: 49) 1 8 Hofmannsthal lässt des weiteren über Chandos mitteilen, dass von all dem, was die Kunst zum Leben braucht, nämlich die visuelle Anwesenheit der Bilder in der
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„Der Mensch ist in seinem Erkennen stets auf die Sprache angewiesen, auf sie zurückgeworfen. Akzeptiert er den prinzipiell metaphorischen Charakter der Sprache nicht und versucht er, mittels Sprache eine allgemeingültige, objektive, d. h. die Dinge selbst vermeintlich erfassende Wahrheit zu formulieren, dann unterliegt er einem Fehlschluß. Dem Menschen ist es nicht möglich, objektive Wahrheiten zu erkennen, er selbst ist stets das Maß aller Dinge. Nietzsche löst den Begriff der Wahrheit von den Dingen los und verlagert ihn in den Menschen." (Schiewe 1998: 189) 18 Hofmannsthal schafft expressive Sprachbilder, mit deren Hilfe sein Lord Chandos sich in sein Gegenüber zu versenken versucht - zum Zwecke der Selbstreflexion. Hofmannsthal „geht es um die Grenzen des Mediums Sprache, deren Wörter stets Zeichen für etwas sind, nie aber dieses Etwas selbst in seinem körperlichen, sinnlich wahrnehmbaren Dasein. Dort hinein rettet sich Chandos und verweigert jede weitere Auskunft außer der beschwörenden Metaphorik des Sehens." (Grimminger 1993: 7/27)
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Malerei oder die akustische Macht der Töne in der Musik, die Sprache nur einen Schatten zu liefern vermag. 1 9 Das Unbehagen an der Zeichenhaftigkeit der Sprache äußert sich auch darin, dass die Bilder nicht selbst erscheinen, sondern nur die Sprachzeichen für sie. Hofmannsthal hält diese Stellvertreterfunktion nur für einen unbefriedigenden Abklatsch (ein Surrogat) des Originals (man erinnere sich an die Argumentation i m byzantinischen Bilderstreit). In dem Aufsatz „Der Ersatz für die Träume" aus dem Jahre 1921 huldigt Hofmannsthal der Wirkung und den Leistungen von Bildern geradezu euphorisch und kritisiert die Erkenntniskraft sprachlicher Zeichen nochmals grundsätzlich: „Und im Tiefsten, ohne es zu wissen, fürchten diese Leute die Sprache; sie fürchten in der Sprache das Werkzeug der Gesellschaft. [ . . . ] Diese Sprache der Gebildeten und Halbgebildeten, ob gesprochen oder geschrieben, sie ist etwas Fremdes. Sie kräuselt die Oberfläche, aber sie weckt nicht, was in der Tiefe schlummert. Es ist zuviel von der Algebra in dieser Sprache, jeder Buchstabe bedeckt wieder eine Ziffer, die Ziffer ist die Verkürzung für eine Wirklichkeit, all dies deutet von fern auf irgend etwas hin, auch auf Macht, auf Macht sogar, an der man irgendwelchen Anteil hat." (Hofmannsthal 1921: 150) So sehr er mit dem letzten Satz Recht hat, dass Sprache eine verkürzte Darstellungsform für eine Wirklichkeit ist (notabene eine) („Das B i l d ist ein Modell der Wirklichkeit" schreibt Ludwig Wittgenstein ( 1 9 5 8 / n 1 9 9 7 ) etwas früher i m Tractatus 2.12), so grundlegend täuscht er sich in der illusionären Glorifizierung von Bildern. 2 0 Was der Lord stellvertretend für Hofmannsthal in Bezug auf Bilder nur andeutet, das lässt Hofmannsthal nun in dem Essay von 1921 seinen namenlosen „Freund" konkret ausdrücken: „das sinnliche B i l d [steht] für geistige Wahrheit, die der ratio unerreichbar ist." (Hofmannsthal 1921: 152). Das Unbehagen gegenüber dem Medium Sprache hält sich auch i m späten 20. Jahrhundert hartnäckig. Derrida formulierte 1967: „Was es heute zu denken gilt, 19 „Der Brief des Lord Chandos steht in einer Tradition des Gesamtkunstwerks, die Literatur längst vor dem Zeitalter des Films - den Hofmannsthal schätzte - und der elektronischen Medien ein Höchstmaß an sinnlicher Suggestion abgewinnen wollte." (Grimminger 1993: 7/28) 20 Dieses Sehen - oder wie Mattenklott 1970/1985 formuliert - dieser Wille zum Bild begnügt sich nicht mit dem bloß Sichtbaren, das gleichgültig lässt: Die Intensität des erfüllten Augenblicks aus der Anschauung heraus kann nicht in die Zeichen der Sprache übertragen werden, Fixierungsversuche mittels Begriffe und Benennungen sind nach Hofmannsthals Auffassung zum Scheitern verurteilt. Überhaupt hält er es für eine Zumutung und Anmaßung, Zeichen für etwas anderes zu sein als es selbst. „Alles Sehen und aller Wille zur Synästhesie der Sprache verharren gegenüber der körperlichen Natur in der kulturellen Distanz des nachdenklichen Beobachters. Der verwandelt die Natur in ein Bild, er kommuniziert mit ihr aus der Entfernung, er ist sie nicht selbst." (Grimminger 1993: 7/29) Und weiter führt er aus: „Sprachkritik, Sprachkrise und Körper-Sprache waren um die Jahrhundertwende also punktuell auf einem überschaubaren Zeitraum versammelt. [ . . . ] Die Kritik an den Konventionen zertrümmerte nun auch ihren formalen Zusammenhang: die Grammatik. Der Entwurf einer Körper-Sprache zerstörte die Bedeutung sprachlicher Zeichen, die Wörter. Übrig blieb etwas in der Lautpoesie - der akustische Ton." (Grimminger 1993: 7/29)
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kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden." 21 Daraus spricht doch ein sehr grundsätzlicher Zweifel gegenüber der Schrift als dem Medium des sog. Aufschreibesystems, wie Kittler die Speichermedien bezeichnet. Der Computer mit seinen multimedialen Fähigkeiten stellt für die Schrift mit Sicherheit eine besondere Herausforderung dar. Marshall McLuhan sah das Ende des Buchzeitalters und wähnte Schrift und Druck im Rahmen der „Gutenberggalaxis" im Übergang zu einem neuen Zeitalter der Elektronik. Und gegenwärtig verkündet Norbert Bolz das Ende der Gutenberg-Galaxis. Doch tot Gesagte leben länger - das weiß schon der Volksmund zu berichten und behält meines Erachtens gegenüber den in galaktischen Abstraktionshöhen umhertaumelnden Medientheoretikern Recht, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche. Fazit: Mit der Enttäuschung über das Medium Sprache, das in der Sprachkrise zum Ausdruck gebracht wurde, bleibt der Wunsch nach Authentizität und Integrität ungebrochen bestehen,22 und es entsteht gleichzeitig aus dem Verlangen nach Orientierung eine enorme Erwartungshaltung gegenüber Bildern, die begünstigt wird durch ihre technische Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin 1936) im Geflecht neuer und alter Medien. Wenn Worte demnach nichts mehr zu sagen vermögen, dann sollen die Dinge für sich sprechen. Wahrnehmungspsychologisch ist dies nichts anderes als sich ein Bild von etwas machen - also der Weg vom materiellen Bild zum mentalen Bild. IV. Das Versprechen der Bilder Der folgende Gedankengang soll anhand des Bildes la (siehe nächste Seite) erläutert werden. Bei Bildern wird unterschieden zwischen der Abbildfunktion (Inhalt des Bildes) einerseits, die der Gegenstandsdarstellung dient, und der Bildpräsentation, der Form des Bildes (Gerhardus 1999) andererseits. Aus den Unannehmlichkeiten, die aus der erwähnten Arbitrarität und Konventionalität erwachsen, soll das Bild befreien. Bei solchen Vorstellungen wird bezeichnenderweise das nicht minder große Problem der Repräsentativität sprachlicher Zeichen unterschlagen, das sich in Bildzeichen ebenfalls fortsetzt und das noch zu thematisieren ist. Angeblich ist das Bild in der Lage, die Defizite des Mediums Sprache (also Arbitrarität, Konventionalität, Repräsentativität) zu annullieren und Wirklichkeitskonstitution und -Verarbeitung transparenter zu gestalten. Gegen die Willkür des Bezugs scheint das Bild unübersehbar die Spur jenes Realen in seinem Material mit sich zu tragen, das es präsentiert: 21 Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt/Main, S. 155 (OA., frz.: 1967). 22 Um mit Lord Chandos zu sprechen, der die einzige Hoffnung gegen die Willkür und Leere der Begriffe und die Verlogenheit der Konventionen in der unvermittelten [sie!] Zuwendung zur Fülle der Dinge selbst sieht: Über den Verlust an Bedeutung vermag nur der „ungeblendete Blick" hinwegzutrösten. Er sucht das Unmögliche, nämlich eine Sprache, in welcher die „stummen Dinge zu mir sprechen". (Hofmannsthal 1902: 54)
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Bild la „Das optische Bild zeigt uns immer ein völlig momentanes, abgeschlossenes und buchstäblich im Granulat des Films oder in der Ausrichtung des magnetischen Teilchen der elektromagnetischen Bänder kristallisierendes Reales. Der Begriff der Repräsentation, die ein Anwesendes durch das Bild wieder vergegenwärtigt, drückt genau die dieser Technologie eigene Darstellungsweise aus." (Couchot 1991: 347)
Mit solch einer Formulierung könnte der Eindruck entstehen, das oben dargelegte Problem der Arbitrarität oder Konventionalität sprachlicher Zeichen sei damit tatsächlich entschärft oder gar aufgehoben. Oder anders formuliert: Der Signifikant scheint sich nicht - wie bei der Sprache - stets vor das Signifikat zu schieben und die Sichtweise zu verzerren. Bei Bildern stellen sich angeblich (im Gegensatz zur Sprache) die Signifikanten (und ihre Bezüge zueinander) nicht vor das prinzipiell abwesende Signifikat. Es geht um die bildsemiotische Grundfrage, inwiefern optische Bilder (Photographie und Film) dem versprochenen, in Aussicht gestellten oder implizierten Wirklichkeitsbezug und den daraus entstehenden Verpflichtungen gerecht zu werden vermögen. Bilder suggerieren im Unterschied zur Sprache
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die manipulationsfreie Handhabbarkeit von Realität, weil die Arbitrarität wegzufallen scheint. Dieser illusorischen Annahme, das Signifikat sei bei Bildern direkt zugänglich und dem Betrachter unmittelbar gegenwärtig, wird hier entschieden widersprochen. 1. Der Aspekt der Arbitrarität
Bild lb
Zur Illustrierung wird nun mit Bild lb der ganze Bildausschnitt gezeigt. Umberto Eco vertritt wohl aus den (mit dieser Bildpräsentation) angedeuteten Aspekten die folgende recht radikale Position: „Die Natürlichkeit des ikonischen Zeichens, die uns unanfechtbar erschien im Gegensatz zur Willkür des sprachlichen Zeichens, bricht zusammen und lässt in uns den Verdacht zurück, dass auch das ikonische Zeichen gänzlich willkürlich, konventionell und unbegründet ist." (Eco 1971: 26 ff.) Das Verhältnis von Bild und Bildinhalt ist mit Sicherheit nicht in dem Sinne willkürlich, wie in der Sprachwissenschaft das Verhältnis von Ausdrucks- und Inhaltsseite seit de Saussure als arbiträr bezeichnet wird. Da schießt Eco meines Erachtens über das Ziel hinaus. Allenfalls in bestimmten Verwendungssituationen kann das ikonische Zeichen willkürlich eingesetzt werden, es ist es aber nicht von sich aus. Ich würde vielmehr von Bildern als einem perspektivierten Ausschnitt von Welt zur interessengeleiteten Konstitution von Wirklichkeit sprechen. 23 Bilder vermögen die 23
Vgl. Felder (2007) und Felder (in Vorb.) sowie auch in diesem Kontext Siegfried J. Schmidts Wirklichkeitsbegriff in Konstruktivismus in der Medienforschung (1994) und in Die Welten der Medien.
Grundlagen
und Perspektiven
der Medienbeobachtung
(1996). Unter
Wirklichkeit wird dort die mit den originären Sinnen erfahrbare und begreifliche Welt verstanden, Realität ist das medial konstituierte und also zwangsläufig gestaltete Szenario davon.
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Zugriffsweisen auf das Dargestellte nicht von sich aus zu problematisieren, die Ausschnitthaftigkeit kann nicht dargestellt werden, weil ein blickwinkelunabhängiges Ganzes wegen der grundsätzlichen Perspektivengebundenheit des Betrachters (Koller 1993) und Bildautors („Zwang zur Perspektivierung") nicht bildlich darzustellen ist und darüber hinaus auch anderweitig kaum denkbar erscheint. Die Differenzierung des Philosophen Oliver Scholz scheint mir sehr plausibel, wenn er schreibt: „Zu einfach ist die Vorstellung, sprachliche Zeichen seien vollkommen arbiträr, während Bilder überhaupt nichts Arbiträres bei sich führten. Arbitrarität ist eine graduelle Angelegenheit." (Scholz 1991: 61) Daher unterscheidet Scholz zwischen singulär denotierenden und generell oder multipel denotierenden Bildern (Scholz 1998: 113). Bilder fungieren als generelles Bildzeichen, wenn das Dargestellte nicht im Sinne einer singulären Personen- oder Gegenstandsdarstellung (also auf eine bestimmte Person oder Gegenstand verweist), sondern als Genre (Gattung, Typus) aufgefasst wird. Singuläre Bilder sind in dieser Hinsicht mit den Eigennamen und den übrigen singulären Termini der natürlichen Sprachen vergleichbar. Foucault resümiert als Spezifikum sprachlicher Zeichen: „Was die Sprache von allen anderen Zeichen trennt und ihr gestattet, in der Repräsentation eine entscheidende Rolle zu spielen, ist also nicht so sehr ihr individueller oder kollektiver, natürlicher oder arbiträrer Charakter, sondern die Tatsache, dass sie die Repräsentation nach einer notwendig sukzessiven Ordnung analysiert: die Laute sind in der Tat nur jeder für sich artikulierbar. Die Sprache kann den Gedanken nicht mit einem Schlag in seiner Totalität darstellen. Sie muß ihn Teil für Teil nach einer linearen Ordnung anlegen." (Foucault 1974: 119)
Ich vertrete daher die folgende These: Bei ikonischen Beziehungen (also konventionalisierten oder gar stereotypisierten Bildzeichen) verschärft sich das problematische Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat in Bezug auf Arbitrarität, Konventionalität und Repräsentativität um ein Vielfaches im Unterschied zu sprachlichen Zeichen, weil die Unbestimmtheit bzw. Unschärferelationen beider Relata bei Bildzeichen den Kommunikanten bzw. besonders den Rezipienten nicht bewusst ist und - was noch viel gravierender ist - auch theoretisch darüber überhaupt nicht kommuniziert werden kann. Man denke zur Veranschaulichung nur daran, dass wir bei der Perspektivierung der Erde bzw. des Globus gezwungenermaßen eine Position einnehmen müssen und dabei automatisch bestimmte Kontinente ins Zentrum stellen und andere folglich in der Peripherie ansiedeln. Wir können nur die Gefangenheit in Betrachterpositionen konstatieren, wir sind aber nicht zu einer betrachterunabhängigen Sichtweise fähig (Koller 2004). Diese bekannte Einsicht führt in Bezug auf das sprachliche und bildliche kommunikative Handeln zu der Schlussfolgerung, dass Bildzeichen uns als Rezipienten entmündigen, während Sprachzeichen - relativ gesehen - uns Freiheit im Wahrnehmen, Denken und Erkennen gewähren. Und wie ist das möglich? Dadurch, dass wir über Arbitrarität, Konventionalität und Repräsentativität von Signifikant und Signifikat einen Diskurs im Medium Sprache selbst zu führen vermögen, während dem Aspekt der Per-
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spektivierung von Bildzeichen nur mittels unzähliger neuer Bilder begegnet werden kann. Das Nie-Gesehene wird zunehmend selten, und es kommt die Ahnung in uns auf, dass die fotografierbare Oberfläche der Welt sich eben doch als endlich erweisen könnte (Winkler 1997), ohne dass wir von einem echten Erkenntnisfortschritt sprechen können. 2. Aspekt der Konventionalisierung
Mitunter wird angenommen, bei Bildern sei das Signifikat zum Exempel mit besonders durchschlagender weil authentischer Kraft stilisiert. Bilder scheinen dabei das Signifikat als Exempel zu präsentieren, an welchem anknüpfend man sich, wie es in der Redewendung heißt, jeweils eben „ein Bild" der Dinge und der Lage „machen" kann und auch immer wieder erst zu machen hat. Dadurch erwecken die Bilder den Eindruck, sie vermögen die Fessel des konventionalisierten Regelwerks des Mediums Sprache zu sprengen. Als Exempel seien sie nicht in der Form wie Worte der Geschichtlichkeit ausgesetzt - sie wirkten entzeitlicht und zugleich semantisch verdichtet. Einem bestimmten Verständnis zufolge gelten die Bilder als „in radikaler Weise konkret" (Winkler 1997: 209). Sie bieten sich als der wiederkehrende Moment des Signifikats an. Sie scheinen unmittelbares Ereignis zu sein. Damit sind wir beim schwierigen Verhältnis zwischen Allgemeinem und Konkretem angelangt. Wurde sprachlichen Begriffen gerade in der Sprachkrise das nicht greifbare Allgemeine unterstellt, so gelten Bilder in der ihnen zugeschriebenen Eigenschaft, Exemplare des Einzelnen und Besonderen zu sein, als unvermittelt. „Fotografie und Film sind tatsächlich der radikale Typus einer Sprache, die ausschließlich in Konkreta sich artikuliert. Gegen das zunehmend falsche Allgemeine spielen sie das jeweils Einzelne aus und gegen die Einheit des Begriffs die Vielfalt der Exemplare." (Winkler 1997: 207)
Bild 2: Stalingrad-Photo
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Auch diese euphemistische Sichtweise hinsichtlich des Aspekts der Konventionalisierung bedarf der Relativierung - ebenso wie weiter oben der Aspekt der Arbitrarität differenziert wurde. Gerade der Bildgebrauch beim Referieren auf historische Singularitäten wie z. B. das historisch gewordene Bild der gefangenen Wehrmachtsoldaten in Stalingrad macht deutlich, dass es durch die Verdichtung (auf Grund des häufigen Gebrauchs) zu Schematisierungen kommen kann, die sich aufgrund von Gebrauchsroutinen in kommunikativen Strukturen niederschlagen (Pörksen 1997, Stöckl 2004: 282 ff.). Der Weg vom Entstehen eines Bildzeichens über den Gebrauch, die Habitualisierung und die Konventionalisierung hin zur Stereotypisierung gleicht dem Verkrustungsweg sprachlicher Zeichen zu Stereotypen. Damit ähnelt das Bildzeichen dem Sprachzeichen immer mehr, der vermeintliche Vorteil von Bildzeichen (nämlich konventionell nicht geprägt zu sein) wird dadurch in Frage gestellt. Der eben beschriebene Weg von der Entstehung bis zur Stereotypisierung eines Bildes im Rahmen seines Gebrauchs kann versinnbildlicht werden an einem Bericht vom 16. Januar 2003 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung: dort wurde das „berühmte Kriegsgefangenen-Foto aus Stalingrad'4 mit dem Hinweis publiziert, dass in diesem Genre-Bild ein heute noch lebender Soldat identifiziert wurde. Auf einen Schlag denotierte das Genre-Bild singulär - zumindest vorübergehend - , weil neben der bekannten Genre-Photographie ein Portrait dieses älteren, in Essen lebenden Menschen namens Siegfried Lessey gezeigt wurde. Hölderlin hat bezüglich des Erinnerns sehr trefflich formuliert: „So wie die Erkenntnis die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntnis." 24 Hölderlins Sinnspruch verweist auf den engen Zusammenhang von Sprache, Erkennen und Erinnern (Felder 2006: 1). In Sprache manifestiert sich der Erlebnisinhalt, an den erinnert wird. Somit ist Sprache Medium des Erinnerns. Gleichzeitig ist Sprache - genauer der Sprachgebrauch - durch das zurückliegende und aktuelle Sprechen über jene Erlebnisinhalte und Ereignisse, an die erinnert wird, mitgeprägt. Sprache der erinnerten Zeit und Sprache des Erinnerns sind ineinander verschachtelt (Felder 2000). Ähnlich verhält es sich meines Erachtens bei Erinnerungshandlungen mittels Bildern. Kopperschmidt unterscheidet das „kollektive Erinnern" vom persönlichen, privaten Sich-Erinnern (Kopperschmidt 1999: 159). In der Form des gemeinsamen Erinnerns an ein kollektiv relevantes geschichtliches Ereignis kann sich für eine Gesellschaft die Chance eröffnen, ihrer eigenen kollektiven Identität gewiss zu werden (Assmann 1992: 130 ff.). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der „Politik des Erinnerns" (so der Titel von Rudolf Augsteins Beitrag in Der Spiegel 19/1995: 40 ff.) oder nach „der Psychologik der Erinnerung" (Kopperschmidt 1996: 76). 24
Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes. In: Hölderlin. Sämtliche Werke, hrsg. von F. Beissner. Vierter Band. Stuttgart 1962, S. 272 {ahnden im Sinne von voraussehen, unmittelbar empfinden, vermuten' oder,etwas Unbestimmtes rührt mich von außen an').
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„Sie läßt Vergangenes nicht vergangen sein und werden, sondern entgrenzt die Gegenwart durch dauernde Interpretations-, Rekonstruktions- bzw. Deutungsarbeit an dem Vergangenen. Was für das individuelle Gedächtnis gilt, trifft erst recht für das »soziale Gedächtnis' zu [ . . . ] . Denn allein das ,soziale Gedächtnis' verlangt, um seine identitätsstiftende bzw. -stabilisierende Funktion in einem Kollektiv erfolgreich einlösen zu können, nach öffentlichen Kommemorationsriten (Feste, Denkmäler [Bilder/Anm. E.F.] usw.); entsprechend stellt sich auch nur beim ,sozialen Gedächtnis' die Frage nach den »rechten Formen des Erinnerns' als öffentlich-politische." (Kopperschmidt 1996: 76)
Bezüglich der Konventionalisierung von Bildzeichen komme ich zu folgendem Schluss: Hatte die Gegenüberstellung von ikonischen Zeichen einerseits und der arbiträren Sprachzeichen andererseits impliziert, dass primär die sprachlichen Zeichen vom gesellschaftlichen Prozess, seinen Irrtümern, interessengebundenen Verzerrungen und Ideologemen abhängig seien, so zeigt sich nun, dass mit dem „Schwinden der Ikonizität" auch diese Differenz zwischen Bild- und Sprachzeichen verschwindet. „Einmal ihrer inneren Geschichtlichkeit,überführt', werden die Bilder als Spiegel getrübt und treten selbst in den Prozess der Geschichte ein." (Winkler 1997 und Christensen / Sokolowski in Vorb.) Ein besonders eindrückliches Beispiel stellt in diesem Zusammenhang die Diskussion um die sog. Wehrmachtsausstellung dar, bei der die Initiatoren auf die argumentative Macht der Bilder zu setzen versuchten - also mit Bildern Überzeugungshandlungen vollziehen wollten. Wir müssen demnach als grundlegendes Problem festhalten, dass sprachliche Ambiguitäten (z. B. in der Politik) paradoxerweise viel deutlicher als eine Bedrohung des Sinnverstehens erscheinen als die Unbestimmtheit von Bildzeichen, obwohl es sich unter semiotischem Blickwinkel doch gerade umgekehrt verhält! Mittels Explizierung von Teilbedeutungen lassen sich Wahrnehmungsunterschiede im Medium Sprache diskursiv bearbeiten und damit Unbestimmtheit relativieren (vgl. dazu „Semantische Kämpfe" in einzelnen Wissensgebieten in Felder (Hrsg.) 2006). Dies ist bei Bildern in der Form nicht möglich, die Vielzahl der Wahrnehmungsmöglichkeiten ist nicht zu erfassen und kann kaum - wie dies bei sprachlichen Zeichen der Fall ist - eingegrenzt werden. Man hat also noch keine Klarheit darüber, wie die Konventionalisierungen in dem politisch öffentlichen Kommunikationsbereich tatsächlich ausfallen, da dies auf einer Metaebene mangels Kriterien kaum reflektiert werden kann. Sprachliche Ambiguitäten lassen sich im selben Medium auf Metaebene zum Gegenstand des Diskurses machen, bildliche Mehrdeutigkeiten bedürfen eines anderen Mediums, weil sie innerhalb der bildlichen Repräsentation nicht selbst theoretisiert und problematisiert werden können.
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V. Das Scheitern der Bilder oder die Bild(er)krise der Jahrhundertwende Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Auch bei Bildzeichen gesellt sich zum Schauder vor der Arbitrarität im Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat nun das Unbehagen gegenüber der Konventionalität! Wie aber sollen solche Konflikte der Bildkommunikation ausgetragen werden, wenn dies auf der Ebene des Bildsemiotischen selbst nicht geschehen kann? Dem folgenden Gedankengang wird ein letztes Bild 3 zugrunde gelegt. Die Bilder ereilt schließlich dasselbe Schicksal wie die Sprache und deren Stereotype bzw. Schemata: Auf Grund ihrer vermeintlich endlosen Reproduzierbarkeit werden die technischen Bilder zu so hoch frequenten Erscheinungen, dass ihre quantitative Zunahme Spuren insofern in der Qualität hinterlässt, als Bilder substantiell nicht mehr als Singularitäten gelten können. Die scheinbar unendliche Vervielfältigung, die sich in Form von Bilderfluten über uns ergießt, schwächt ihre Aussagekraft und erst recht ihre Beweiskraft und ist gleichsam auch den abgebildeten oder fotografierten Ereignissen abträglich, sie werden regelrecht von ihrer „medialen Darstellungspenetration" (Winkler 1997) unter sich begraben. Die Häufung der Rezeptionsakte schlägt negativ um, erschwert Konkretion und Singularität der wahrgenommenen Bilder erheblich und macht sie letztlich quasi unmöglich. Von der Entstehung sprachlicher Zeichen und ihres Gebrauchs wissen wir: Nach der Entstehung folgt aus dem mehr oder weniger regelmäßigen Gebrauch eine Phase der Habitualisierung, die nahezu zwangsläufig die Konventionalisierung zur Folge hat und mitunter auch die Stereotypisierung zur Folge haben kann: Die hochfrequent gebrauchten Bilder sind demnach dem gleichen Schicksal der Schematisierung ausgesetzt. Hofmannsthals Hoffnungsmedium ist damit seiner Singularität beraubt, seiner Unschuld verlustig. Gleich und gleich gesellt sich gern. Man könnte sagen: Die gefallene Sprache ist nun nicht mehr allein - das Bild ist an ihrer Seite. Ähnlich wie in der Sprache lassen sich diese Erscheinungen mit dem Phänomen der Verdichtung verdeutlichen - allerdings in potenziertem Ausmaß. Verdichtung in sprachlichen Zeichen hat ungeachtet der Kritik des Lord Chandos neben dem Effekt der Sprach- und Kommunikationsökonomie noch den - oft vergessenen Vorteil der Randunschärfe bzw. der potentiellen Unbestimmtheit: Darin liegt nämlich ein ungeheuer kreatives Potential beim Konstituieren von Wirklichkeit, wenn wir mit Hilfe der im Sprachgebrauch festgeschriebenen Selektion und Kombination der Ausdrücke auf Dinge in der Welt explizit oder implizit Bezug nehmen, also referieren und prädizieren (Felder 2003: 97). Sprecher nutzen demnach sprachlich benannte Unterscheidungen, um Erfahrungen und Vorstellungen (z. B. über Begriffe) zu artikulieren; und umgekehrt werden solche Nutzungserfahrungen zum Bestandteil sprachlichen Verwendungswissens, und der Gebrauch von Sprache orientiert sich in jedem Einzelfall an solchen Erfahrungen. Normwissen (fachlicher und sprachlicher Art) über Konventionen und Common sense - wie Feilke (1994) darlegt - ist kommunikativ eingeübtes und erfahrenes soziales Wissen, das in Kom-
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Bild 3: World-Trade-Center
munikation immer wieder sowohl erprobt als auch bestätigt oder modifiziert wird. Der Gebrauch der Sprache orientiert sich an solchen Spracherfahrungen und den Wirkungen auf andere, Spracherfahrung wird „ein intersubjektives Wissen der Sprecher/innen und ein zur wechselseitigen Orientierung einsetzbares Steuerungsmittel im Meinen und Verstehen." (Feilke 1994: 23.) Die vorstrukturierende Kraft sprachlicher Objektivierungsprozesse hat Humboldt in einer befremdlichen wie auch plausiblen Definition des Formbegriffs zum Ausdruck gebracht, als er die
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geistigen Kräfte, die aus dem Sprachvermögen erwachsen, näher kennzeichnen wollte (im Kontext des Energeia-Be griffs): „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen." (Humboldt 1968: 455) Humboldt verweist mit seinem Verständnis von Form als „Gesetz, Richtung, Verfahrensweise" auf sprachlich konstituierte Spezifika. Über genau dieses dynamische und anpassungsfähige Potential (auf Grund der Unbestimmtheit sprachlicher Zeichen) verfügt die Bilderwelt nicht, bildsemiotisch ist der Weg vom dargestellten Signifikat zu dem wahrgenommen Signifikat im Rezipientenkopf kaum nachzuzeichnen. Verdichtung bei sprachlichen Zeichen stellt eine elementare Voraussetzung für ihre Leistungsfähigkeit bei Erkenntnisprozessen dar: Bei Bildern verhält es sich gerade umgekehrt: Ein hohes Maß an semantischer Fülle (was gemeinhin als Stärke bildlicher Darstellungen angesehen wird) geht gleichzeitig auf Kosten der semantischen Bestimmtheit, ohne dass das Medium auf diese Schwäche zu reagieren in der Lage wäre. Die sprachlichen Zeichen entfalten sozusagen aus der vermeintlichen Schwäche ihrer Unbestimmtheit ihre Stärken, während die vorgebliche Stärke der Bildzeichen - nämlich Bestimmtheit - in Wahrheit gar nicht gegeben ist - geschweige denn, dass bildliche Zeichen darauf reagieren könnten. Problematischerweise kann eben im Bild-Medium selbst kein Diskurs über die Unschärferelation zwischen dargestelltem und wahrgenommenem Signifikat geführt werden - dazu bedarf es eines anderen Mediums, nämlich der Sprache und ihrer „Übersetzungsleistung". Der Prozess der Verdichtung korrespondiert mit dem Prozess der Konventionalisierung. Aus Einzelbildern in singulären Bild-Diskursen wird Massen- oder Meterware, aus spezifischen Diskursereignissen werden stereotypisierte Diskursschemata, Diskurse verlieren ihre Autonomie, aus Diskursen werden Strukturen. Der Anspruch der Einzigartigkeit und Konkretion technischer Bilder ist nicht mehr haltbar. Wiederholungen und Klischees führen zu Bild-Stereotypen (Pörksen 2000 spricht von Visiotypen), die ihre Authentizität, ihre Originalität eingebüßt haben. Das Beharren auf Konkreta wurde Bildzeichen zum Verhängnis, zwischenzeitlich hat die Bildkommunikation ebenfalls das Gespenst der Strukturen eingeholt. Darin kommt die prinzipielle Aporie des Bilderuniversums zum Ausdruck. Die Rezeptionskrise bezüglich technischer Bilder hat nach Ansicht Winklers zwischenzeitlich in Ansätzen auch das Alltagsbewusstsein erreicht. (Winkler 1992: 228 ff.) Die Krise der Bilder lässt sich an vielfältigen Symptomen ablesen und am augenfälligsten wohl daran, „daß die Quantität der zirkulierenden Bilder über jedes vorstellbare Maß hinaus gewachsen ist." (Winkler 1997: 210) Das Bilderuniversum und seine Wucherungen zerfielen „in eine unübersehbare Räche zunehmend insignifikanter Einzelereignisse, und insbesondere die Vervielfältigung der Fernsehkanäle" und die Reproduktionsmöglichkeiten mit Hilfe der neuen Medien hüllten die Rezipienten in einen „wahren Bildernebel ein." (Winkler 1997: 210)
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„Für die Bildmedien scheint insofern die Spannung zweier Momente konstitutiv: einerseits in radikaler Weise konkret, haben sie andererseits gerade nicht die Konkreta der Sprache ersetzt, sondern die Allgemeinbegriffe, von denen sie doch am weitesten entfernt schienen. Daß auf diese Weise Augenschein und funktionale Bestimmung weit auseinanderfallen, ist nicht ein Defekt, sondern macht im Gegenteil gerade die Pointe der Bildmedien aus: Die Konkretion dementiert das Problem, das die Allgemeinbegriffe unübersehbar hatten, und nur so konnten die technischen Bilder zur ,Lösung' der Sprachkrise werden." (Winkler 1997: 209)
VI. Die Rehabilitierung der Schrift und die Zuweisung eines adäquaten Bildstatus Fern davon, einen neuen Bildersturm provozieren zu wollen, geht es bei der hier vorgeschlagenen Bildkritik analog zur linguistisch begründeten Sprachkritik nicht um eine Kritik an den Bildern an und für sich, sondern an ihrem Gebrauch, wenn der Bildzeichen Verwender sie unter intransparenten, für die Kommunikationsteilnehmer nicht nachvollziehbaren Vorzeichen oder Kriterien benutzt. Mit Hilfe welcher Kriterien lassen sich diese Phänomene in der Theorie beschreiben? Im Folgenden wird anhand von sieben Punkten aufgezeigt, welche Kriterien zur Beschreibung eines reflektierten Verhältnisses zwischen Sprach- und Bildzeichen relevant sein können: 1. Verhältnis Signifikant und Signifikat bei Bild- und bei Sprachzeichen (Bildsemantik). Wo das Verhältnis arbiträr ist (also bei Sprachzeichen und graduell auch bei Bildzeichen), bedarf es metasprachlich der Konkretion, muss die Unschärferelation zwischen beiden Relata mittels Explizierung von Teilaspekten präzisiert werden. Wo das Verhältnis konventionell geprägt ist, da muss es ebenfalls zum Gegenstand der Diskurse werden. Bilder sind nach Ansicht von Stöckl (2004: 87 ff.) nicht mit Worten oder Sätzen vergleichbar, sondern mit Texten, weil Bilder und Texte eine hohe strukturelle semantische Komplexität aufweisen. Wenn beispielsweise in Wort und Bild berichtet werde, dann lasse sich aus einem Bild eine Fülle vernetzter Aussagen ableiten mit allen Folgen der Mehrdeutigkeit, Polyfunktionalität (derselben Äußerung können - bezogen auf eine kommunikative Handlung - verschiedene Funktionen und Wirkungsabsichten zugrunde liegen) und Polyvalenz. Denn sowohl Bildzeichen als auch Sprachzeichen sind stets pragmatisch situiert. Wodurch wird nun der Sachbezug von Bildern festgelegt? In der Forschungsliteratur trifft man (trotz einer Fülle konkurrierender Vorschläge) immer wieder eine Antwort an, nämlich die der Ähnlichkeit: Es müsse genau einen Typ von Merkmal geben, sei es des Bildes, sei es der Bildumgebung, das bei jedem Bild für die Festlegung des Sachbezugs ausschlaggebend sei. Dieser Erklärungsansatz gehört zu den Ähnlichkeitstheorien, die behaupten, dass „ein Bild, um als Bild eines bestimmten Gegenstandes gelten zu können, Eigenschaften besitzen muss,
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die ohne weitere Regelkenntnisse einen Rückschluss auf den abgebildeten Gegenstand (im Sinne des Bildinhalts) zulassen." (Sachs-Hombach 2003: 127) Die Vorschläge unterscheiden des weiteren im Hinblick auf die Angabe des Merkmals, das sie für bezugsbestimmend halten. Scholz (1991: Kapitel 2) vertritt die Ansicht, dass nicht Ähnlichkeitsbeziehungen den Gegenstandsbezug von Bildern festlegen. Die Bildbeziehung wäre dann nämlich eine natürliche, subjektunabhängige Beziehung. Darüber hinaus vernachlässigten Ähnlichkeitstheorien mit der problematischen Annahme eines symmetrischen Verhältnisses zwischen zwischen Abgebildetem und Bild den Zeichencharakter von Bildern. Auch kausale Kriterien (mit der Annahme, dass das Abgebildete auf der Ursachenseite, das Bild auf der Wirkungsseite angesiedelt sei, und der sinnvollen Unterstellung eines asymmetrischen Charakters im Hinblick auf die Bildrelation beider Relata) brauchten nicht in jedem Falle den Ausschlag zu geben (Scholz 1991: Kapitel 3). Kausale Ansätze sehen also die Relation zwischen zwei einzelnen Entitäten als eine ursächliche an, woraus die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass Kausaltheorien als Theorien des Gegenstandsbezugs singulärer Bilder fungieren können, d. h. solcher Bilder, mit denen auf genau ein Ding Bezug genommen wird. Aber genau diese sind im politisch öffentlichen Kommunikationsbereich oft zweitrangig, dort sind eher Allgemeinbilder relevant. Kausaltheorien sind keine Repräsentationstheorien. Daher kann eine Kausaltheorie nur behaupten, dass der Bildinhalt oder aber auch der Bildreferent kausal festgelegt wird, nicht aber die Eigenschaft, ein Bild zu sein. Fiktionale Bilder und Allgemeinbilder vermag sie nicht zu erklären (Sachs-Hombach 2003, S. 123 ff.). Scholz fasst zusammen: „Obwohl sich kausale Ansätze durch eine Reihe von Vorteilen gegenüber der Ähnlichkeitsauffassung empfahlen, zeigte sich zunehmend, daß sie auf einen zu kleinen Bereich von Bildern zugeschnitten sind: auf natürliche Bildzeichen wie Spiegelungen, Schatten, Photographien und ähnliches [ . . . ] , überhaupt auf nicht-leere singuläre Bilder. [ . . . ] Wie hingegen im Rahmen einer rein kausalen Theorie Allgemeinbilder, im Sachbezug leere Bilder, Genrebilder, unbestimmt bezugnehmende Bilder, überhaupt F-Darstellung (im Unterschied zu Darstellung von F) und Darstellung-Als sowie Bilder mit Welt-auf-Repräsentationsausrichtung, etwa Bilder von Zukünftigem, behandelt werden sollen, ist bislang nicht dargelegt worden, und so ein Unterfangen erscheint auch aussichtslos." (Scholz 1991:81)
Und die Absichten des Bildherstellers bestimmen aus eigener Kraft ebenfalls nicht, was das Bild darstellt (Scholz 1991, 115 ff.). Für Scholz ist die Festlegung des Sachbezugs von Bildern grundsätzlich gebrauchs-, umgebungs- und interessenabhängig. Bei den entsprechenden Zuschreibungen kann eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle spielen. Neben den im engeren Sinne bildhaften Eigenschaften (grob gesprochen, welche farbigen Punkte und Flächen sich an welchen Stellen befinden), neben dem Typ des Bildes und gewissen kausalen Antezedenzien können weitere Merkmale der räumlichen, zeitlichen und semiotischen Umgebung des Bildes für die Bestimmung des Bezugs relevant werden. Es gilt - wie erwähnt - zu unterscheiden zwischen singulär und generell denotierenden
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Bildern. Betrachten wir zunächst Allgemeinbilder: Die Beliebigkeit und die Austauschbarkeit mit ähnlichen Bildern (d. h. mit Bildern, die ein oder mehrere für den Rezeptionsakt als dominant eingeschätzte Merkmale aufweisen) ist meines Erachtens ein Indiz dafür, dass bestimmte Genre-Bilder in politischen Kommunikationsakten nicht überschätzt werden sollten. Sie sind in erster Linie Beiwerk, das zwar in Einzelfällen wichtige Funktionen übernehmen kann, aber nicht entsprechende Pendants im Text aufweisen muss, so dass tatsächlich von einer strukturellen, aber schwer zu erfassenden und zu benennenden Verwobenheit gesprochen werden kann. Für singuläre Bilder, die beispielsweise in politischen Kontexten argumentative Funktionen übernehmen (z. B. zur Rechtfertigung von Kriegshandlungen z. B. im Golf- oder im Kosovo-Krieg), gilt dies in dieser Form nicht. Sie haben einen besonderen Status. 2. Verknüpßarkeit (syntagmatische Ebene) von Bildern (ohne sprachlichen Text) und Bildern mit Texten (Anschließbarkeit), kurz die Syntax bildlicher Darstellungen. Mit der Frage, wie die Relationen zwischen einzelnen Bildzeichen hergestellt werden, sind wir bei dem grundlegenden Problem der Bildsyntax (SachsHombach 2003: 100 ff.) angelangt, denn es scheint bei Bildzeichen ausschließlich implizite Verknüpfungen zu geben. Es fehlen die Konnektoren, die uns die Sprache zur Verfügung stellt (z. B. Konjunktionen, Adverbien, Präpositionen). „Eine Bildsyntax im formalen Sinne untersucht die für Bildsysteme notwendigen Eigenschaften, die Bilder unabhängig von ihrer Bedeutung und Verwendung besitzen. Eine Bildsyntax im morphologischen Sinn untersucht die Beziehungen innerhalb komplexer Bilder und zwischen den Zeichen eines Zeichensystems. Eine Bildsyntax im kombinatorischen Sinn untersucht das Regelsystem (bzw. die Grammatik), nach dem elementare Einheiten des Bildalphabets zu komplexen Bildern kombiniert werden können." (Sachs-Hombach 2003: 105)
Darüber hinaus beschäftigen sich Bildwissenschaftler mit der Frage, ob Bilder an und für sich bedeutungsunfähig sind. Da sie für sich alleine so gut wie nie vorkommen, muss die Frage anders gestellt werden. Wie ist das Wechselspiel zwischen Bildern und den mit ihnen korrelierenden meist sprachlichen Kontexten zu beschreiben? Prinzipiell unterscheidet Scholz (1998: 112) semiotisch selbstständige von semiotisch unselbstständigen Bildern. Plümacher (1998, 1999) nimmt genau die umgekehrte Perspektive zur Grundlage und differenziert zwischen sprachunabhängigen und sprachabhängigen Bildern. Man müsste genauer formulieren: zwischen sprachabhängigem und sprachunabhängigem Bildgebrauch. Für das Zeitungs- bzw. Pressebild und das Fernsehbild wird eine hohe Sprachabhängigkeit im kommunikativen Mitteilungsakt behauptet (Stöckl 2000: 333). Bildunterschriften weisen oft auf Einzelaspekte des Bildinhalts mit sprachlichen Zeichen hin (Fokussierungs-Funktion), paraphrasieren das Abgebildete und sind damit eigentlich größtenteils redundant oder bieten eine Art Hilfestellung bei der Bildrezeption bzw. beim Bild verstehen. Dass Bilder in Bild-TextKombinationen wirklich strukturell miteinander verbunden sind, steht außer Frage - schwieriger fällt da schon die nähere Bestimmung des Verhältnisses aus.
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„Unter der Annahme, dass Bilder wahrnehmungsnahe Zeichen sind, die sich hierdurch ganz wesentlich von sprachlichen Zeichen unterscheiden, ist es nicht zu erwarten, dass eine allzu starke Ausrichtung am linguistischen Syntaxbegriff zu adäquaten Ergebnissen bei der Charakterisierung pikturaler Grundelemente führt." (Sachs-Hombach 2003: 119)
3. Texte sind autonom - Bilder der hier betrachteten Art nicht! Der Gedanke des autonomen Textes wird zwar durch die bekannten Überlegungen zur Intertextualität relativiert, ist aber dennoch im Vergleich zum Abhängigkeitscharakter von Bildern zweifelsohne gegeben. Bei der Rezeption von Bildern (ebenso wie bei Texten) ist das Wahrnehmungsverfahren des Wiedererkennens und Einordnens in das Vorwissen von zentraler Bedeutung - ein Aspekt, der im Bewusstsein von Rezipienten im Alltag politisch öffentlicher Kommunikation kaum verankert ist. 4. Des Zeichenemittenten Subjektivität ist für jeden Rezipienten bei sprachlichen Mitteilungen relativ evident. Ganz anders bei Bildern: der Bildzeichen-Verwender scheint ohne Rechenschaftszwang in einer objektiven Sphäre zu verweilen. Bildautor und Bildverwender sind zumeist unterschiedliche Personen, während Textautor und Text-Verwender - abgesehen von der Weiterverarbeitung von Agenturmeldungen - zumeist identisch sind. Denn es ist schon augenfällig, dass gerade in politischen Kontexten selten der Bildeinsatz im kommunikativen Akt auf einer Metaebene hinsichtlich der Bildautorschaft oder der Perspektivierungsumstände reflektiert wird oder gar einzelne Aspekte als erwähnenswert mitgeteilt werden. Diese kritische Diskussion ist den wissenschaftlichen Elfenbeintürmen vorbehalten, obwohl gerade Bildmaterial für die Rechtfertigung des Kosovo-Krieges im Jahre 1999 von ausschlaggebender Bedeutung war (mit allen Irritationen, die sich im Nachhinein herausgestellt haben). Aus diesem Grunde ist bei TextBild-Kommunikationen ein kritisches Hinterfragen und eine Offenlegung der Bildautorschaft zu fordern, wenn man Roland Barthes' (1982) Befürchtungen berücksichtigt: „Besonders die Fotografie verdecke also gerade durch den Schein des Objektiven ihre manipulativen Aspekte." (zitiert nach Sachs-Hombach/Schirra 1999: 33) 5. Der Bildzeichenrezipient und -adressat ist oft ohne entscheidende Informationen über Bild-Autor und Zeichenentstehungsprozess auf sich selbst gestellt, er ist es, der den Zeichenkontext und -kotext herstellt. Beim Bildverstehen zieht der Rezipient Schlüsse über Bezüge zwischen Bild und Welt auf der Grundlage von dem im Bild Sichtbaren und der Art der Darstellung im Rezeptionsakt des Wiedererkennens und Einordnens in vorhandene Wissensstrukturen und Erfahrungen. Es handelt sich dabei um eine Interaktion von Bildzeichen Verwender Bildzeichen - Rezipient. Es ist durchaus denkbar, dass wir einen mit Farben und Formen geprägten sichtbaren physischen Gegenstand unter bestimmten Bedingungen gar nicht als bildhaftes Zeichen wahrnehmen. Was sagt dieser Umstand über das Bild verstehen
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aus? Nichtverstehen von Bildern kann sich Scholz (1998: 109) zufolge auf zweierlei Weise ereignen. (Hierbei sei Bild definiert in dem Sinne, dass „F" für ein Prädikat beliebiger Komplexität stehe). Einerseits kann es für einen vollkommen gehalt- und bedeutungslosen, gar nicht zeichenhaften Gegenstand gehalten werden. Man sieht beispielsweise eine farbige Fläche, die man aber nicht als Zeichen auffasst, weil man die Fläche keinem Symbolsystem zuordnet und ihr keine Bedeutungseigenschaften zuschreibt. Auf der anderen Seite kann es vorkommen, dass ein F-Bild oder Bild von F für (ein) F selbst gehalten wird. So etwas kann vorkommen, wenngleich es viel seltener geschieht, als weithin angenommen wurde. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, welche Bedeutung dem Mit-Gemeinten bei der Bildverwendung zukommt (Scholz 1998: 116 spricht von „indirekt Mitgeteiltem"). Es kann davon ausgegangen werden, dass Bilder beim Rezeptionsprozess gemäß unseren Vorerfahrungen in schon vorhandene kognitive Strukturen eingeordnet werden - also beim Rezipienten auf keine tabula rasa stoßen. Bütow unterscheidet zwischen bildlichem Wissen, begrifflichem Wissen und Handlungswissen. Bildliches Wissen erscheint in dreifacher Form, als Anschauungswissen, als Erinnerungswissen und als Vorstellungswissen (Bütow 2002: 4). 6. Bildsorten bzw. Bildtypen und Bildsorten- bzw. Bildtypenwissen analog zu Textklassifikationsversuchen (Adamzik 1995, 2000) und Textmusterwissen (vgl. den Klassifikationsversuch von Stöckl 2000: 326). Bildverwender - damit sind Emittenten und Rezipienten von Bildzeichen im Rahmen der Kommunikation gemeint - verfügen über Schemata und eine Bildtypisierungskompetenz. Es bleibt fraglich, ob sich aus Versuchen der Systematisierung von Bildern wirklich ein „geordnetes Verzeichnis kultureller und subkultureller Bildstile" (Schelske 1999: 146) oder „präzis umrissener Bildtypen" (Plümacher 1999: 47) ergeben kann. Wenn Bilder mit Hilfe von typologisierenden Merkmalen beschrieben werden können, dann vermag damit die klassifizierende Potenz im kommunikativen Umgang mit Bildern (hinsichtlich Produktion und Rezeption) ein Stück weit offen gelegt werden. Welche Teile dieser Kompetenz jeweils dominant aktiviert werden, hängt unter anderem von den perzeptuell hervorstechenden Eigenschaften des jeweiligen Bildes und den Vorerfahrungen des Rezipienten ab. Sachs-Hombach unterscheidet „darstellende Bilder" von „Strukturbildern" und „reflexiven Bildern" (Sachs-Hombach 2003 191 ff.). Bei den darstellenden Bildern entsteht ein Entsprechungsverhältnis zwischen den visuellen Eigenschaften des Zeichens und entsprechenden visuellen Eigenschaften eines Gegenstandes. Bei Strukturbildern liegen dahingegen Eigenschaftsrelationen vor und hierbei können auch nicht-visuelle Eigenschaften in visuelle übersetzt werden. Mit „reflexiven Bildern" meint Sachs-Hombach eine Klasse von Bildern, die bildhafte Darstellungsverfahren in bildhafter Weise thematisiert (vor allem Werke der Bildenden Kunst). Eine solche relativ abstrakte Klassifikation unterstützt vor allem bildpragmatische Interpretationsverfahren, weil auf dieser Grundlage der Bild-
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typ-Kategorie die Wahrnehmungskompetenzen nach relevanten Prinzipien oder Konventionen ausgerichtet werden können. 7. Zentral sind die jeweiligen Funktionen bzw. Interpretationshypothesen zu Wirkungen des eingesetzten Bildzeichens (Bildhandlungsebene bzw. Bildpragmatik bei Sachs-Hombach 2001). Scholz (1998: 115) spricht von kommunikativen Rollen, ich würde vorzugsweise von Handlungen sprechen, weil mit Bildern die klassischen aus der Sprachhandlungstheorie bekannten Illokutionen - also gewissermaßen Bildhandlungen - vollzogen werden (mit Bildern wird gewarnt, geworben, hingewiesen, verboten, argumentiert, belegt, bewiesen usw.). Dabei gilt es genauer zu beleuchten, in welche Handlungsmuster, Zeichenspiele im Sinne von Sprachspielen, Institutionen und Rituale Bilder zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen eingebettet sind. 25 In Anlehnung an Wittgensteins Ansatz (1958/ 11 1997) geht somit ein solcher gebrauchstheoretischer Ansatz des Bildes in eine Gebrauchstheorie der Bildbedeutung über (Sachs-Hombach 2003: 162). Aus diesem Grunde arbeite ich zur Zeit an einer Monographie mit dem Titel „Mediendiskursanalyse - Theorie und Praxis eines linguistischen Untersuchungsprogramms 4' (Felder in Vorb.), in der die mediale Sachverhaltskonstitution und Sinnherstellung in Diskursen nicht nur über sprachliche Formen und die Bestimmung von Funktionen nachgezeichnet werden soll, sondern darüber hinaus auch über die Beschreibung von Bildzeichen in Text-Bild-Äußerungen. Die Ausgangsfrage und das erkenntnisleitende Interesse kann wie folgt beschrieben werden: Worin besteht das besondere Erkenntnispotenzial linguistischer Medienanalyse bei den spezifischen Konstitutionsbedingungen von Sachverhalten in der institutionellen Medienkommunikation?
VII. Schluss Betrachtet man Hugo von Hofmannsthals Ein Brief des Lord Chandos aus dem Jahre 1902 als Zeugnis der Sprachkrise zur Zeit des Fin de siècle, das als Ausdruck der erheblichen Erschütterungen und Verunsicherungen in Bezug auf das Medium Sprache gewertet werden kann, so können für die letzte Jahrhundertwende diverse Symptome einer „Krise der Bilder" (Winkler 1997: 210) diagnostiziert werden. Das Medium technisches Bild (Photographie, Film usw.), das gerade im Zuge der Sprachkrise mit den Kategorien des Realismus, der Wahrheit und des Weltbezugs überfrachtet wurde, schien auf Grund der Konkretion der technischen Bilder den Unschärfeproblemen sprachlicher Allgemeinbegriffe (Arbitrarität, Konventionali25
In Anlehnung an die Funktionalstilistik der Prager Schule kann man von Stilarten sprechen, die sich aus den Funktionen der Sprache wie Verständigung, Mitteilung, Wirkung als Verwendungsweisen ergeben. Dabei wird zwischen dem Stil der privaten Alltagssprache, der institutionellen Kommunikation, der Wissenschaft, der Publizistik, der literarischen Kommunikation unterschieden.
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tät, Repräsentativität) enthoben zu sein. Nur so konnten sie zur „Lösung" der Sprachkrise (z. B. bei Hugo v. Hofmannsthal) avancieren. Obwohl technische Bilder trotz der prinzipiellen Möglichkeit, sie zu gestalten, auszuwählen, zu inszenieren etc., weniger zu Täuschungszwecken für fähig oder tauglich erachtet wurden (abgesehen von Fälschungen), weil ihr Referentenbezug als unmittelbarer galt und ohne gesellschaftliche Vermittlung (also ein Sprechen ohne Sprache) möglich schien (Winkler 1997: 209), so ist dennoch im Verlauf der aktuellen Jahrhundertwende aus der Bilderflut bzw. aus der Summe der bildhaften Einzeldiskurse (die über jedes vorstellbare Maß hinaus gewachsen ist) ein System entstanden, das von seiner Struktur her die Bilder auf exakt das Problem zusteuern lässt, das in der Sprachkrise in Bezug auf das Medium Sprache aufgebrochen ist. Entstehung, Gebrauch, Habitualisierung, Konventionalisierung von Bildzeichen und ihre Stereotypisierung im Kommunikationsprozess werfen bildsemiotisch noch größere Probleme auf als dies bei Sprachzeichen der Fall ist, weil beispielsweise das Problem der Perspektivierung nicht auf einer Metaebene im selben Medium geklärt werden kann. Aus diesem Grund kann festgestellt werden, dass sich bereits eine Enttarnung und Entlarvung des Mediums technisches Bild und der an es geknüpften Hoffnungen und Versprechen vollzogen hat. Eine Konsequenz daraus ist die Rehabilitierung des Mediums Sprache. Die Reputation der Sprache ist wieder hergestellt, weil die Bilder ein ähnliches Schicksal wie die Sprache in ihrer Krise ereilt hat. Die Linguistik kann zu einem - unter semiotischen Gesichtspunkten - reflektierten Text-Bild-Verhältnis wesentliche Kriterien und Beschreibungshilfen beisteuern eine linguistisch begründete Bildkritik im Paradigma der Text-Bild-Hermeneutik (Felder 2007) als Pendant zur linguistisch begründeten Sprachkritik (Wimmer 2000, Schiewe 1998). Sprache ist das Medium, dessen Erkenntnispotential und Kategorisierungskraft genau die Spielräume offen lässt, die wir bei der Deutung von Welt und der interessengeleiteten Wirklichkeitskonstitution benötigen. Im Medium Sprache besteht die Möglichkeit, den Zwang zur Perspektivierung beim Versprachlichen auf der Metaebene zu diskutieren. Bilder mit ihrem perspektivierten Ausschnitt von Welt vermögen hingegen die Zugriffsweisen auf das Dargestellte in aller Regel nicht zu problematisieren. Was in der anthropologisch beharrlichen Voreinstellung als objektiv erscheint und dies Versprechen doch nicht einzulösen vermag, wird immer auf ein Medium angewiesen sein, welches das Verhältnis von Signifikat und Signifikant zu problematisieren in der Lage ist. Die vermeintliche Aussage- und Anziehungskraft von Bildern auf Grund ihrer Originalität, Authentizität und Integrität wird - so meine Prognose - im Bewusstsein der Rezipienten wegen der herausgearbeiteten strukturellen Verwobenheit sukzessive nachlassen. Sprichwörtlich heißt es nicht umsonst Wie sich die Bildergleichen! Deshalb gilt: Das Wort wird das letzte Wort behalten!
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Ein Urteil, wie es im Buche steht Vom Aufstieg und Niedergang des Gesetzbuchs Von Ralph Christensen und Kent D. Lerch Wie urteilen? Die Frage duldet keinen Aufschub. Streitigkeiten bringt man vor ein Gericht, damit sie entschieden werden. Eine Entscheidung zu verweigern, ist dem Richter verboten. Er muss urteilen. Aber wie soll er dabei vorgehen? Nach dem Selbstverständnis der Jurisprudenz bestimmt sich das Wie des Urteils durch das Was. Wenn man weiß, was ein Urteil ist, kann man daraus ableiten, was man tun muss und wann man dazu berechtigt ist. Mit dieser Ordnung der Fragen wird das klassische Vorrecht des Urteilens selbst bestätigt;1 es ist ein ontologisches Vorrecht, welches fordert, dass man zunächst das Wesen eines Gegenstands bestimmt und daraus die Verfahrensweise ableitet. Urteilen kann man nur, wenn man über das präsente Wesen des jeweiligen Gegenstands verfügt. Die Wesenserkenntnis liefert die Kriterien, welche im Urteil nur noch vollzogen werden: „Dies bedeutet auch ein Vorrecht des Theoretischen und des Konstativen über das Performative oder das Pragmatische, und dieses Vorrecht präjudiziert ( . . . ) das Wesen selbst des Urteils, und man könnte sogar sagen, das Wesen des Wesens, indem es dieses der Frage was ist? unterwirft." 2 Wenn man in diesem klassischen Schema bleibt, ist juristisches Urteilen die Suche nach Kriterien im Gesetz mit anschließender Subsumtion des Falles. Die Subsumtion ist einfach. Die Suche nach Kriterien kann schwierig sein, denn sie überschreitet regelmäßig den Wortlaut einzelner Gesetze. Es bedarf einer systematischen Erfassung des Zusammenhangs von Gesetzen. Die Schwierigkeiten im Auffinden des Obersatzes dürfen den Richter aber nicht von der Suche nach den Kriterien des Urteils abhalten, denn ohne vorgeordnete Kriterien kann Urteilen nicht funktionieren. Deswegen wird der Zusammenhang der Gesetze als ein sinnvolles Ganzes begriffen, welches dem einzelnen Paragraphen seinen Platz zuweist und damit das für die Entscheidung gesuchte Kriterium liefert. Die Vielzahl der Gesetze wird zur Totalität des Gesetzbuchs. Der Richter muss dann nur aussprechen, was darin enthalten ist: ein Urteil, wie es im Buche steht.
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Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992, 21 f. Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992, 22
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I. Die Metaphysik des Buches Die Vorstellung, Recht aus dem Gesetzestext herauslesen zu können, setzt eine Metaphysik des Buches voraus. Wissen wird zentriert und beherrschbar durch seine Abgeschlossenheit im Buch. Dieses verschließt Zeichenketten zwischen zwei Einbanddeckeln. Damit wird das Wissen in seiner jeweiligen Konsistenz gesichert, „bewahrt", so dass es möglich wird, Texte zu ganzen Bibliotheken zusammenzuführen. Außerdem bietet sich das Buch einem Zugriff an, der das Wissen unversehrt lässt. So kann der Jurist zum Gesetzbuch greifen und ihm Recht „entnehmen". Er kann das Gesetz lesen und im Urteil anwenden. Stellt er das Gesetzbuch zurück in das Regal, so ist dem darin buchstäblich „aufgehobenen" Recht nichts geschehen. Der Sinn bleibt in seiner selbstidentischen Gegenwart unangetastet, für einen erneuten Zugriff erhalten und bereit. Recht wird also nicht im kommunikativen Zusammenhang des Verfahrens erzeugt, sondern in Quellen gefunden. Diese Quellen sind Bücher. Dort findet man das Recht. Und daraus bezieht es seine Legitimität. Der große Aufwand an diskursiven Ordnungsmaßnahmen lässt die Fragilität dieser Figur erahnen. Ständig wird der angeblich objektive Sinn zwischen Autor und Text hin und her geschoben: Autorität hat das Buch, weil der Autor sich in ihm offenbart hat; der Autor zählt, weil sein Gedanke im Buch beschlossen ist. Das vermag nur so lange zu tragen, wie das Moment des Lesens auf bloße Empfängnis reduziert werden kann, so wie es die zunächst bezeichnenderweise sakrale Bedeutung von „Lesung" und „Lektion" will. Der Grimm umschreibt diese Variante so: „lesen schlieszt zunächst dem sinne nach nicht nur das überblicken einer schrift, sondern auch das laute verkünden des gesehenen (das vorlesen) in sich".3 In Zedlers Universallexikon heißt es dazu: „Lection wurde die Lesung der heiligen Schrift genennet, welche erst nach der Babylonischen Gefängniß zu einem ordentlich Stande der Gestallt gekommen ist, dass man alle Jahr die da Mahls vorhandenen Bücher Mosis zuende gebracht". Aber auch die weltliche Bestimmung der „Lektion" deutet den Leser als bloßen Spiegel des Buches an: „Lection ist eine Unterweisung, die ein Meister seinem Discipel in Künsten und Wissenschafften giebet, und wird dieses Wort sonderlich in Schulen, auf Fecht- und Tanzböden, in dergleichen auf Reitschulen gebrauchet. Einem eine Lection geben oder lesen, ist eben so viel, als ihm einen Ausputzer, Filß, Verweis geben."4 Der Leser wird also durch das Buch in seine Schranken gewiesen, „diszipliniert". Hier wird deutlich, dass in der Trinität von Autor, Buch und Leser gerade letzterer das unsichere und zu disziplinierende Moment ist. Lesen kann man einen Text nur, wenn man schon begonnen hat, ihn zu verstehen. Der Leser braucht eine Verständnishypothese. In der juristischen Methoden3 Jakob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Nachdruck der Erstausgabe 1885, Bd. 12: L - Mythisch. München 1991, Sp. 777. 4 Johann Heinrich Zedier (Hrsg.), Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Halle 1737.
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lehre wird diese Hypothese mit dem medialen Paradigma des Buches aufgeladen. Aus dem Wirtschaftsgut wird eine metaphysische Figur, deren Aufgabe darin besteht, das Gleiten der Schrift in definierten Grenzen ruhig zu stellen. Das Buch mit all seinen Enden aus Anmerkungen, Fußnoten und Schlussbemerkungen wird zur Sinntotalität gerundet.5 Diese wiederum soll dann dem Verstehen des Lesers Form und Maß geben. Vor allem die klassische Hermeneutik hat diese Form des Buches zum ontologischen Strukturmoment des Verstehens gemacht: „Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eine weitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ,Vorgriff der Vollkommenheit' nennen möchte. Auch das ist eine offenbar formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, dass nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt." 6 Mit dem Vorgriff auf Vollkommenheit soll nahe gelegt werden, dass im Text eine objektive Sinneinheit vorhanden ist, die den Leser zu führen vermag. Dieser Sinn ist der für den Leser objektiv vorgegebene Bezugspunkt. Aus der Sicht der Leser mag sich der Sinn eines Textes wandeln.7 Aus der Sicht des Textes ist die jeweilige Lesart nur eine unter vielen, welche die Sinnfülle des Textes im Prinzip nie erschöpfen können. Deswegen lässt sich vom Standpunkt der klassischen Hermeneutik aus sagen, dass das Werk gerade im Wandel identisch bleibt. Die klassische Hermeneutik kommt damit dem Anliegen der juristischen Methodenlehre stark entgegen. Mit ihrem autoritären Begriff von Tradition und ihrem Konzept von Interpretation als Teilhabe an der hermeneutischen Wahrheit wendet sie sich gegen einen drohenden Subjektivismus des Lesens. Die Bindung des Richters an das Gesetz könnte mit diesem objektivistischen Konzept eines Überlieferungsgeschehens einlösbar werden. Wenn Gadamer „methodos" mit „Weg des Nachgehens" übersetzt und als Möglichkeit eines „Immer-Wieder-NachgehenKönnens" bestimmt, wird eine Methode zur Strukturierung dieses Vorgangs sichtbar. Der Vorgriff auf Vollkommenheit besagt methodisch, dass man den Text als Buch nehmen muss, welches eine klar abgegrenzte und vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Dabei wird dem Leser eine „transzendente Sinnerwartung" 8 als Bucherwartung unterstellt, welche dann im hermeneutischen Zirkel mit der geschlossenen Sinntotalität des vorliegenden Buches zunehmend verschmilzt. Der Spielraum möglicher Lektüren ist damit klar fixiert. Es gibt keinen Raum zwischen Leser und Text, sondern der Leser muss in der Sinntotalität des Textes verschwinden. Allein der Text spricht. Er führt in der Interpretation ein Selbstgespräch.
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Siehe dazu Michael Wetzel, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Weinheim 1991, XII. 6 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. 6. Aufl., Tübingen 1990, 299. 7 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. 6. Aufl., Tübingen 1990, 379. 8 Hans-Georg Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen 1990, 57 ff., 61 f.
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II. Der Mythos vom Gesetzbuch Der Mythos, dessen Untergang wir begleiten, ist sehr alt und mächtig; er hat über lange Jahrhunderte die soziale Form des alphabetisierten Charakters geprägt. Begründet wurde er durch die justinianische Kodifikation des römischen Rechts und deren Wiederentdeckung durch die Rechtsschule von Bologna mehr als 500 Jahre danach, auf welche alle europäischen Rechtsordnungen auf dem Kontinent zurückgehen. Auch wenn die Auseinandersetzung der mittelalterlichen Juristen mit dem wie eine Offenbarung auf sie gekommenen Rechtsbuch Justinians für gewöhnlich als ein Anknüpfen an eine in den dunklen Jahrhunderten des Mittelalters verloren gegangene römische Rechtstradition gedeutet wird, ist es doch nicht so sehr das von den mittelalterlichen Juristen und ihren Nachfolgern immer wieder hervorgehobene Moment der Kontinuität, das prägend für die europäische Rechtswissenschaft werden sollte, sondern vielmehr die Zäsur, welche die gelehrte Beschäftigung mit der Kodifikation Justinians darstellt: An die Stelle des induktivtopischen Vorgehens der römischen Juristen wurde nun ein deduktiv-exegetisches Denken gesetzt, der kontroverse Diskurs getauscht mit der monologischen Interpretation. 9 Als ihre wichtigste Aufgabe erachteten es die Glossatoren von Bologna und die ihnen folgenden Generationen von Juristen, den in dem justinianischen Gesetzbuch verborgenen Sinn zu enthüllen, das römische Recht so, wie es der kaiserliche Gesetzgeber gewollt hatte, zu interpretieren: richtig auszulegen eben. Diese Vorstellung von rechter juristischer Methode ist die bis heute vorherrschende geblieben. Sichtbar wird sie, wenn vom Gegenstand der Rechtserkenntnis die Rede ist, 10 oder davon, dass es bei der Rechtsanwendung darum gehe, das durch die Rechtsquellenlehre definierte, geltende Recht zu finden und für den vorgelegten Streitfall umzusetzen.11 Gerade dies ist aber eine Vorstellung, wie sie fremder den römischen Juristen nicht hätte sein können. Am Anfang wie am Ende des römischen Rechts stehen Gesetze: das Zwölftafelgesetz und die Kodifikation Justinians. Doch der Eindruck, der dadurch erweckt wird, täuscht, denn das römische Recht war kein Gesetzesrecht, sondern ein Juristenrecht. 12 Nachdem eine Kommission von zehn Männern das mündlich von einer 9 Zur Methode der römischen Juristen siehe Franz Wieacker, Vom römischen Recht. 2. Aufl., Stuttgart 1961, 148 ff., ders., Römische Rechtsgeschichte I: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik. München 1988 ff., 576 ff., ders., Römische Rechtsgeschichte II: Die Jurisprudenz vom frühen Prinzipat bis zum Ausgang der Antike. München 2006, 44 ff., Tomasz Giaro, Das romanistische Induktionsproblem, in: RJ 10 (1991), 369 ff., 374 f., zur Methode der Glossatoren siehe Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl., Göttingen 1967, 45 ff., Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter I: Die Glossatoren. München 1997, 111 ff. Kritisch zu der Vorstellung einer von den Römern bis zur heutigen Rechtswissenschaft führenden Kontinuitätslinie jüngst auch Kaius Tuori, Ancient Roman Lawyers and Modern Legal Ideals. Helsinki 2006, 76 ff. 10 Siehe dazu Alexander Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis. Epitaph eines juristischen Problems. Baden-Baden 1996. 11 Statt vieler siehe nur Bernd Rüthers, Rechtstheorie. München 1999, Rn. 65, und Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Aufl., Berlin 1991.
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Generation an die nächste weitergegebene Gewohnheitsrecht gesammelt und 449 v. Chr. auf den Zwölf Tafeln niedergelegt hatte, stellte man schnell fest, dass die Zwölftafelgesetzgebung zwar festsetzte, was das Recht sei, die Rechtskunde damit aber noch lange nicht gewährte: „Nachdem diese Gesetze erlassen worden waren, wurde ihre Erörterung vor Gericht notwendig - wie es ja naturgemäß dahin zu kommen pflegt, dass Auslegung die Autorität von Rechtsgelehrten verlangt." 13 Die Gesetzessammlung der Zwölf Tafeln wurde daher durch das von jedem Prätor zu Beginn seiner Amtszeit neu erlassene Jahresedikt korrigiert und ergänzt; hinzu kamen die Gutachten bekannter Juristen, oft von ihnen selbst gesammelt und herausgegeben, die sogenannten responsa, Antworten auf Anfragen, weiterhin Kommentare zum prätorischen Edikt und seit der Prinzipatszeit kaiserliche Erlasse und Senatsbeschlüsse, die auf Anregung des Kaisers gefasst wurden - eine unübersehbare, ungegliederte Masse, in die auch die von privater Seite mehrmals unternommenen Versuche, wenigstens die kaiserlichen Erlasse zu sammeln, nicht viel Ordnung bringen konnte. Kaum ein Jurist konnte die Vielzahl von gültigen Bestimmungen, die sich zudem oft widersprachen, schließlich noch überblicken, geschweige denn ein Beamter, der in einer Provinzstadt Recht zu sprechen hatte. 14 Die zahlreichen Kontroversen der klassischen Juristen erzeugten in der Spätantike nur mehr Ungeduld und verunsicherten die Richterschaft, die wiederholt nach allerhöchsten Richtlinien verlangte, wie sie verfahren solle. Es häuften sich daher die Anfragen an den Kaiser selbst, was in bestimmten Fällen zu tun und wie zu entscheiden sei, was wiederum eine Flut von Reskripten aus der kaiserliche Kanzlei hervorrief. Die Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. versuchten, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen, indem sie 426 n. Chr. das „Zitiergesetz" erließen: Sie bestimmten, dass fortan nur die Schriften der Juristen Ulpian, Papinian, Paulus, Gaius und Modestin bei der Entscheidung von Rechtsfragen herangezogen werden sollten; falls diese Juristen unterschiedliche Ansichten vertreten haben sollten, so sollte Stimmenmehrheit, und bei Stimmengleichheit dann die Stimme Papinians entscheiden. Nur wenn dies letzte Auskunftsmittel versagte und Papinian keine Ansicht geäußert habe, dürfe der Richter der Ansicht folgen, die er für richtig hielt. 15 Die Autorität berühmter Vorgänger trat so an die Stelle der bis dahin das römische Recht prägenden Kontroversen unter den Juristen. 16 Eine ähnliche Zielsetzung wie das Zitierge12
Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte. 10. Aufl., Köln 1983, 115 ff. Die römische Jurisprudenz war dem Gesetz gegenüber mehr als misstrauisch, siehe dazu Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 124 ff. 13 Sextus Pomponius, D. 1,2,2,5 14 Der altrömische Formularprozess wurde in der Kaiserzeit von dem sogenannten Kognitionsverfahren verdrängt, in welchem ein Beamter die Untersuchung führte und das Urteil sprach, vgl. Detlef Liebs, Römisches Recht. 5. Aufl., Göttingen 1999, 73 ff. 15
Codex Theodosianus, 1,4,3. Vgl. Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 244.
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setz verfolgte die Kodifikationsbewegung, die aus dem Bedürfnis entstand, ein Heilmittel gegen das Durcheinander der Reskripte und Erlasse zu finden; dieses wiederum hatte seine Ursachen in der bruchstückhaften und unsicheren Kenntnis der kaiserlichen Konstitutionen, deren Publikation und Verbreitung nicht ausreichend sichergestellt war - was die ohnehin schon nicht leichte Aufgabe, die Justiz handzuhaben, noch schwieriger machte. Die Meinungen der Juristen waren in einer riesigen Zahl von Büchern verstreut. Diese vielen Bücher sollten nun in einem Buch zusammengeführt werden: dem Codex. Der Codex tritt uns anfangs noch nicht als Rechtstext gegenüber, sondern als eine neue Buchform: er ist das Buch in dem heute gebräuchlichen Sinn, hergestellt aus Lagen von Pergament, die zusammengebunden wurden. Seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. ersetzte der Codex nach und nach das Buch in Rollenform, die Schriftrolle aus Papyrus, welche in der antiken Welt seit Jahrtausenden verbreitet war. 17 Seine Einführung und Verbreitung verdankte der Codex dabei vor allem seiner Funktionalität und Widerstandskraft, welche ihm gegenüber der vergänglichen und für das Nachschauen unbequemen Papyrusrolle einen eindeutigen Vorzug gab; darüber hinaus war er relativ preiswert, was ihn zu einem für die weniger wohlhabenden Schichten geeigneten Mittel der Kommunikation und der kulturellen Bildung machte.18 Gesichert wurde der Erfolg des Codex gleichermaßen durch sein Fassungsvermögen wie durch seine Gliederung in Seiten, da er eine weitaus größere Textmenge als eine Schriftrolle aufnehmen konnte. Die kanonisch gewordenen Schriften der neuen Religion erhielten auf diese Weise eine einheitliche Ordnung, während es zugleich leichter wurde, einzelne Abschnitte oder Stellen aufzufinden oder sich darauf zu beziehen.19 Der Codex wurde daher zum bevorzugten Träger der christlichen, vor allem der biblischen Literatur. 20 Der endgültige Übergang von der Schriftrolle zum Codex ist aber nicht nur das Anzeichen für einen technischen, sondern auch für einen psychologischen Wandel, 21 hatte die antike Welt doch bei der Überlieferung des Wissens noch der 17 Martial spricht bereits Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. von Codices literarischen Inhalts, während die endgültige Durchsetzung des Codex in der Buchproduktion des Westreiches nicht später als Ende des 3. Jahrhunderts anzusetzen ist, vgl. Guglielmo Cavallo, Vom Volumen zum Kodex: Lesen in der römischen Welt, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt am Main 1999, 97 ff., 125 f. 18 Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 96 f., Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 245. Siehe auch Colin H. Roberts/Theodore C. Skeat, The Birth of the Codex. London 1983. 19 Siehe Guglielmo Cavallo, Vom Volumen zum Kodex: Lesen in der römischen Welt, in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Frankfurt am Main 1999, 97 ff., 126 f. Es ist kennzeichnend, dass der Codex - im entscheidenden Gegensatz zur Rolle - nahezu ausnahmslos paginiert ist, Colin H. Roberts/Theodore C. Skeat, The Birth of the Codex. London 1983,49 f. 20 Vgl. dazu Colin H. Roberts/Theodore C. Skeat, The Birth of the Codex. London 1983, 45 ff.
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Mündlichkeit den Vorzug gegeben.22 Auch für diejenigen, die dazu Zugang hatten, war die Literatur eher die Fortsetzung als die Negation des Mündlichen: man lehrte „mit Rat, mit Ermahnungen, mit Fragen, mit dem Austausch von Ideen, manchmal auch, indem man gemeinsam las und zuhörte." 23 Man pflegte auch allein mit lauter Stimme zu lesen, und ließ die Augen bisweilen den Lippen vorauseilen; 24 noch am Ende des 4. Jahrhunderts war es für Augustin ein ungewohnter Anblick, dass Ambrosius leise las: „Die Augen eilten über die Seiten und der Geist suchte nach der Bedeutung, während Zunge und Sinne stumm blieben." 25 Die Kultur des gesprochenen Wortes hatte in der Schriftrolle ihren Ausdruck gefunden; das Buch in Codexform dagegen, „der schwere, verschließbare, nachschlagbare, aber auch schwerem Zierrat zugängliche Codexband ist Ausdruckssymbol einer Kultur des schriftgewordenen Wortes und eines autoritativen Textverständnisses".26 Zwischen dem Codex und der Autorität, zwischen dem Buch und dem Gebot, stellt sich eine unterschwellige Verbindung her. Wenn das Recht nach einer feierlichen Ausdrucksform sucht, dann ist der Codex dafür wie geschaffen. 27 Im Codex werden daher vor allem kaiserliche Konstitutionen gesammelt, aber auch die literarischen Werke der klassischen Juristen sollten schließlich in einen Codex als juristischer Text eingehen und dadurch eine neue Bedeutung gewinnen: sie erscheinen damit als Instrument und Vehikel des kaiserlichen Willens. 28 Die Autonomie, die sie einst beanspruchten, wird nun sinnlos. Bereits im letzten Jahrzehnt des 3. Jahrhunderts erschienen mit den Codices Gregorianus und Hermogenianus erste Sammlungen der kaiserlichen Erlasse, wahrscheinlich als Höhe- und Endpunkt einer intensiven schulmäßigen Arbeit über die Quellen des kaiserzeitlichen Rechts.29 Auch wenn sich die beiden Codices mit der Gesetzgebungspolitik der Regierung auf einer Linie befanden, so folgten sie 21 Siehe Colin H. Roberts, The Codex. Proceedings of the British Academy 40 (1954), 169 ff., 203. 22
Die neuere Mediengeschichte wertet den Übergang vom Volumen zum Codex daher als eine dem Buchdruck mit beweglichen Lettern vergleichbare Revolution, siehe Erich Schön, Geschichte des Lesens, in: Bodo Franzmann / Klaus Hasemann / Dietrich Löffler/Erich Schön (Hrsg.), Handbuch Lesen. München 1999, 1 ff., 8. 23 Cicero, Orator ad M. Brutum 42, 144. 24
Lucian, Adversus indoctum 2. Augustinus, Confessiones, 6.3.3; „ . . . sed cum legebat, oculi ducebantur per paginas et cor intellectum rimabatur, vox autem et lingua quiescebant". 2 6 Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 95. 25
27 Nach den heiligen Schriften stellten daher die Konstitutionensammlungen bezeichnenderweise die frühesten Codices, siehe dazu Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 94, der darauf verweist, dass eben zu dieser Zeit der kaiserliche Gesetzgebungsbefehl sakrale Weihe anzustreben beginnt. 28 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 245. 29 Hans Julius Wolff, Vorgregorianische Reskriptensammlungen, in: ZRG RA 69 (1952), 128 ff., 149 f.
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doch nicht einem offiziell festgeschriebenen Programm. 30 Erst unter Kaiser Theodosius II., der in der Kodifizierung des Rechts die „wahre Aufgabe" sah, die seinem Zeitalter zugewiesen war, kam es zu einer offiziellen Sammlung der kaiserlichen Konstitutionen.31 Die vom Kaiser im Dezember 435 eingesetzte Kommission hatte die Aufgabe, alle von Konstantin und den nachfolgenden Kaisern erlassenen Konstitutionen von allgemeiner Bedeutung in einem einzigen Codex zu vereinen und unter Weglassung oder Änderung aller überflüssigen Texte eine neue Ordnung zu finden. 32 Am 15. Februar 438 wurde der 3.400 kaiserliche Konstitutionen enthaltende Codex Theodosianus verkündet, am 1. Januar 439 trat er im ganzen Reich in Kraft und galt ein ganzes Jahrhundert lang. Als Gesetzbuch sollte der Codex des oströmischen Kaisers für nachfolgende Unternehmen wegweisend sein. Der Codex Theodosianus war nicht nur eines der ersten Gesetze in Buchform, verbunden mit dem Wechsel von der Rolle zum Codex war auch der Material Wechsel von Papyrus zu Pergament.33 Wenn nicht mehr Papyrus gerollt, sondern Pergament geschichtet wird, hat dies nicht nur den Vorteil größerer Haltbarkeit des Beschreibmaterials, auch der Gesetzestext selbst, der eine neue, verbindliche Struktur bekommt, wird nun haltbar gemacht. Der Einband gibt dem Gesetzbuch den Anschein von Abgeschlossenheit, die Eigenschaften werden von dem neuen Medium auf seinen Inhalt übertragen. Das Gesetzbuch und die Techniken, die aus dem Codex eine Kodifikation machten, sollten fortan die Vorstellung von Recht prägen. 34 Die Praxis fand im Codex Theodosianus das Recht, das sie anwenden konnten; man konnte sich sogar der Illusion hingeben, keine Rechtsexperten mehr zu benötigen, da es nun ja evident war, „wie man eine Schenkung macht, mit welcher Klage man Anspruch auf eine Erbschaft erhebt, mit welchen Worten man eine Stipulation kontrahiert und wie man eine Schuld einfordert." 35 Nachhaltiger Er30 Siehe dazu Detlef Liebs, Hermogenians iuris epitome. Zum Stand der römischen Jurisprudenz im Zeitalter Diokletians. Göttingen 1964, und Theodor Mommsen, Die Heimat des Gregorianus, in: ZRG RA 22 (1901), 140. Mommsen sah im Codex Gregorianus einen Meilenstein „am Übergang der juristischen Schriftstellerei aus dem lateinischen Occident in den griechischen Osten", ebd. 31 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 244 ff., Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte II. München 2006, 196 ff. 3 2 C.Th. 1,1,6. 33
Die Papyrusrolle ist in zweifacher Hinsicht sehr empfindlich: sie nutzt sich beim Aufund Abrollen, besonders an den Rändern, rasch ab und bricht beim Falten und bei zu häufigem Rollen, während die zarte Pflanzenfaser dem Insektenfraß und anderen Schädlingen leichter ausgesetzt ist und durch langes Lagern ohnedies verdirbt. Das durchschnittliche Lebensalter einer Papyrusrolle belief sich Plinius zufolge auf circa einhundert Jahre, vgl. Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 96 f., 126. 34 Vgl. Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main 2000, 67 ff. 3 5 Nov. Theod. 1.1 und 3.
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folg war dem Gesetzbuch trotzdem nicht beschieden, denn der Anspruch der Kodifikation auf universelle Gültigkeit blieb Illusion. Alleinige Geltung kann nur für sich beanspruchen, was inhaltlich umfassend scheint - und genau daran fehlte es. Weder der Codex Gregorianus noch der Hermogenianus waren abgeschafft worden, wie auch das Recht der klassischen Juristen weiterhin tradiert und im Rahmen des Zitiergesetzes in der Gerichtspraxis angewendet wurde. Kodifikatorische Verbindlichkeit konnte der Codex Theodosianus unter diesen Bedingungen nicht entfalten. 36 Der Traum vom Gesetzbuch war indes noch lange nicht ausgeträumt. Aufgegriffen wurde das Anliegen des Theodosius von Kaiser Justinian, der den Glanz des römischen Weltreichs wiederherstellen und den alten Ruhm des römischen Rechts erneuern wollte, weshalb er eine Kommission einsetzte, um eine neue Sammlung der kaiserlichen Erlasse herzustellen, in der veraltete Konstitutionen ausgeschieden, Widersprüche beseitigt und die Gesetzestexte auf das sachlich Erhebliche beschränkt werden sollten. Nachdem dieser neue Codex lustinianus erstellt worden war, wollte sich Justinian damit indes nicht zufrieden geben und verfügte mit der Constitutio Deo Auetore vom 15. Dezember 530: „Nachdem dieses Werk vollendet und in einem Band, auf dem unser Name erglänzt, vereinigt war, und wir, die wir damit von einer kleinen und noch bescheidenen Aufgabe befreit waren, uns sogleich anschickten, zur größten und vollständigsten Verbesserung des Rechts zu gelangen und alle römischen Rechtsvorschriften zu sammeln und zu berichtigen und die verstreuten Werke so zahlreicher Rechtsgelehrter in einem einzigen Buch vereinigt darzustellen - etwas, was bisher noch niemand zu hoffen noch zu wünschen gewagt hatte - , da erschien uns die Aufgabe überaus schwierig, ja sogar unmöglich. Aber nachdem wir die Hände zum Himmel erhoben und göttlichen Beistand angerufen hatten, haben wir auch zu dieser Aufgabe Mut gefaßt, im Vertrauen auf Gott, der durch die Größe seiner Kraft auch die Vollendung einer völlig aussichtslosen Sache gewähren kann ... Wir gebieten euch also, die das römische Recht betreffenden Bücher der alten Rechtsgelehrten, denen die allerheiligsten Kaiser die Befugnis gewährt haben, Rechtsnormen zu setzen und auszulegen, sowohl zu lesen als auch zu reinigen, damit aus diesen der gesamte Stoff gesammelt wird, und zwar ohne daß (soweit das möglich ist) irgendeine Wiederholung oder irgendein Widerspruch übrigbleibt, vielmehr so, daß aus diesen Büchern jeweils das ausgewählt wird, was allein für alles übrige stehen kann." 37
Da durch die widersprechenden Aussagen der Juristen fast das ganze Recht in Verwirrung geraten sei, wurde der Quaestor sacrii palatii Tribonian von Justinian angewiesen, eine neue Kommission aus Anwälten und Rechtslehrern einzusetzen und mit ihrer Hilfe die kaum noch überschaubare Zahl der Juristenschriften zu 36
Siehe Inge Kroppenberg, Der gescheiterte Codex. Überlegungen zur Kodifikationsgeschichte des Codex Theodosianus, in: Rg 10 (2007), 112 ff. 37 Constitutio Deo Auetore § 2 und § 4. Alle Stellen der justinianischen Kodifikation werden zitiert in der Übersetzung der von Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans Hermann Seiler herausgegebenen Ausgabe des Corpus Iuris Civilis, Band II: Digesten 1-10. Heidelberg 1995.
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sammeln, zu sichten und in einem Werk zusammenzufassen; er erhielt freie Hand, aus den vorhandenen Schriften auszuwählen, zu kürzen und auch zu verändern. Die siebzehnköpfige Kommission bearbeitete nach Aussage Tribonians 2.000 Schriftrollen mit mehr als drei Millionen Zeilen 38 und stellte aus der klassischen Rechtsliteratur der vergangenen Jahrhunderte eine Sammlung von Auszügen aus den Werken von etwa vierzig Juristen zusammen, vorwiegend aus der klassischen Zeit des römischen Rechts.39 Ursprünglich auf zehn Jahre veranschlagt, wurde das Riesenunternehmen durch den Eifer Tribonians und die ständige Anteilnahme des Kaisers so schnell vorangetrieben, dass das Ergebnis schon nach drei Jahren, am 16. Dezember 533 durch die Constitutio Tanta publiziert werden konnte. Das Werk war in 50 Bücher eingeteilt, die wiederum in 432 Titel zerfielen, welche 9.142 Exzerpte mit 150.000 Zeilen enthielten, ein Zwanzigstel der 3 Millionen Zeilen, mit denen die Redakteure begonnen hatten. Nach dem Muster der großen kasuistischen Werke der klassischen Zeit erhielt das Sammelwerk den Namen Digesta, wurde ergänzt durch ein amtliches Anfängerlehrbuch für den Rechtsunterricht, die Institutiones, und erhielt dann gemeinsam mit diesem am 30. Dezember 533 Gesetzeskraft. Die Rechtsreform wurde aber nicht nur durch die Kompilation der Digesten, sondern auch durch zahlreiche Gesetze vorangetrieben, sodass der Codex von 529 schon bald nicht mehr dem geltenden Recht entsprach und überarbeitet werden musste; am 30. Dezember 534 wurde er als Codex Iustinianus repetitae praelectionis publiziert. Nachdem das Zitiergesetz dazu geführt hatte, dass der größte Teil der juristischen Schriften mehr und mehr ignoriert wurde, ließen die Digesten die „unzählbare Menge" der klassischen Jurisprudenz wieder aufleben. Selbstverständlich konnten die Kompilatoren die Werke der großen Juristen nur in dem Zustand und in der Form benutzen, in der sie ihnen vorlag, also mit all den willentlichen und unbeabsichtigten Veränderungen, die sie in einer langen und bisweilen wechselvollen Textgeschichte erlebt hatten.40 Die Kodifikation Justinians war indes nicht nur eine lediglich antiquarische Aufzeichnung: man untersuchte und verbesserte, und man merzte Wiederholungen und Unstimmigkeiten aus. Darin sah man keinerlei Vorwurf an die Vergangenheit, weil nicht die Stimme des einzelnen zählte, sondern die klassische juristische Welt als ganze: 38
Constitutio Omnem § 1 und Constitutio Tanta § 1. Etwa zwei Drittel der Digesten stammen aus den Werken der Klassiker Papinian, Paulus, Ulpian, Gaius und Modestinus. 40 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 253 f., Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte II. München 2006, 301 ff. Eine einschneidende Selektion der Gesamtüberlieferung war dabei durch die Umschrift der Rollen in Codices erfolgt, da man für alle weiteren Abschriften und Editionen nicht mehr auf die Rollen, sondern auf das erste Codexexemplar zurückgriff, so dass die Überlieferung aller einmal umgeschriebenen Schriften erst einmal durch den Flaschenhals des einen Codexexemplars gehen musste: „Die Umschrift konstituierte also einen Archetypus und sperrte in der Regel alle anderen Rückgänge auf den Textstand der Rollenzeit", Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 117. 39
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„So groß aber ist die Verehrung, die wir gegenüber der Vergangenheit empfinden, daß wir keinesfalls zulassen wollen, daß die Namen der Rechtsgelehrten der Vergessenheit anheimfallen. Vielmehr ist ein jeder von ihnen, der Schöpfer eines Rechtssatzes war, in unseren Digesten verzeichnet. Lediglich eines ist von uns bewirkt worden: erschien in ihren Rechtssätzen etwas überflüssig oder unvollkommen oder weniger brauchbar, so wurden diese in der erforderlichen Weise ergänzt oder gekürzt und in die sachgerechteste Form gebracht. Und unter den vielen inhaltlich gleichen oder einander widersprechenden Rechtstexten wurde das, was offensichtlich das Richtigere enthielt, an die Stelle alles Übrigen gesetzt und dabei allen aufgenommenen Rechtssätzen eine einheitliche Geltungskraft [als Gesetz] verliehen, damit, was immer sich dort [in unseren Digesten] geschrieben findet, als unser Werk und kraft unseres Willens so zusammengestellt erscheine. Und niemand wage es, das, was die alten Texte enthielten, mit dem zu vergleichen, was unsere Gesetzgebungshoheit eingeführt hat, da es viele und bedeutende Dinge sind, die wir den Bedürfnissen der Praxis folgend verändert haben. Dies geht so weit, daß wir selbst dort, wo eine kaiserliche Konstitution in den alten Schriften zitiert wurde, sie nicht geschont, vielmehr gemeint haben, auch ihren Text berichtigen und in einen besseren Zustand versetzen zu müssen. Denn wenn auch die alten Namen belassen worden sind, haben wir doch alles, was für die innere Wahrheit der Rechtssätze angemessen oder notwendig war, unseren Verbesserungen vorbehalten. Und aus diesem Grunde wurde auch, wenn unter den Juristen etwas umstritten war, dies nunmehr in der sichersten Weise befriedet, ohne daß etwas Schwankendes zurückgeblieben wäre." 41 Dies sind die Worte, die man in der Constitutio Tanta liest, die das gerade vollendete und „schwierigste" Unternehmen bestätigt. 42 A n die Stelle der offenen Kontroversen unter den Juristen ist das geschlossene Buch des Gesetzes getreten. So wie auch das Gemälde als Darstellung der Physiognomie mit der mittelalterlichen Mentalität unvereinbar ist, löst sich die historische Gestalt eines Ulpian, Celsus oder Papinian auf. 4 3 Sie gewinnen für ihre weit entfernten Nachahmer nun die Unveränderlichkeit und Kraft von Symbolen, und ihre Schriften fließen ein in eine einzige consonantia oder symphönia: „Es war nämlich eine staunenswerte Tat, die römische Rechtsordnung, die von der Gründung der Stadt Rom bis zu den Tagen unserer Herrschaft, also in einem Zeitraum von fast 1400 Jahren, unter schweren inneren Auseinandersetzungen schwankte und dies auch auf die kaiserlichen Konstitutionen übertrug, in volle Harmonie zu überführen, so daß in ihr nichts mehr zu finden ist, was sich widerspricht, nichts, was dasselbe oder inhaltlich das Gleiche ist, und auch rechtliche Bestimmungen, die für einzelne Fälle getroffen sind, nirgendwo zweimal auftauchen." 44 Codex, Digesten und Institutionen bildeten nach dem Willen Justinians ein einheitliches Gesetzgebungswerk. 45 Widersprüche und Unklarheiten sollte es darin 41
Constitutio Tanta § 10. „Difficillima, immo magis impossibilis", heißt es in der Constitutio Deo Auetore § 2. 43 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 254. 44 Constitutio Tanta pr.; Zu ¡iv cdvia heißt es in dem entsprechenden Text der Constitutio Dedöken. 42
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nicht geben. Jeder Gesetzgeber pflegt in diesem Glauben befangen zu sein, kaum einer aber hat sich über die Vollkommenheit seines Werks so sehr getäuscht wie Justinian und seine Kompilatoren. 46 Bei der kasuistischen Natur und der ungeheuren Fülle des verarbeiteten Stoffs und bei der Geschwindigkeit, mit der das Riesenunternehmen vollendet wurde, konnten zahlreiche Mängel gar nicht ausbleiben, aber auch dort, wo Justinian planmäßig reformiert hat, sind oft an mehr oder weniger versteckter Stelle Spuren des älteren Rechtszustands stehen geblieben.47 Wenngleich die normativen Texte mehr oder weniger zusammenhängend angeordnet sind, so handelt es sich dabei doch lediglich um einen äußerlichen Zusammenhang: mit unseren vom 19. Jahrhundert geprägten Vorstellungen, was eine Kodifikation auszeichnet, sind die Charakteristika der justinianischen Kompilation unvereinbar. Sie ist eben kein „Gesamt von Verfügungen", das eine Materie der positiven Gesetzgebung betrifft und von einer allgemeinen Idee bestimmt ist. 48 Man könnte zwar sagen, das in den alten Codices gesammelte Recht sei eine rational erfassbare Einheit, doch es bildet kein „Rechtskorpus" im Sinne Benthams, kein einheitliches normatives Ganzes, zusammenhängend und lückenlos, einen Mechanismus, der nicht anders ist als eine Uhr, bei der sich jedes Teil nur im Verhältnis zu den andern erklärt. 49 Die gesamte Rechtsordnung, mit der die Codices zu tun haben, erscheint aus moderner Perspektive lückenhaft und widersprüchlich, die byzantinische Jurisprudenz weit entfernt von einer vollständigen Dogmatik in einem axiomatisch-deduktiven System und vielmehr „ein Recht der totalen Kasuistik". 50 Soweit man „Rechtsfindung" als Aufgabe der Juristen erachtet, wird man nichts anderes als totale Konfusion sehen können. Die byzantinischen Juristen stellten indes nicht auf das Erkennen von Recht, sondern auf praktisches öffentliches Handeln ab. Anstatt durch Dogmatik rationale Begründungsakte zu ermöglichen, bedienten sie sich der Rhetorik, um ihre juristischen Entscheidungen plausibel zu machen. Während sich die hermeneutisehen Maximen gegenwärtiger Jurisprudenz als eine spezifisch juristische Verstehenslehre ausgeben, die notwendig sei, um die Entscheidung aus dem Gesetz ableiten zu können, erhob Byzanz diesen Anspruch nicht: es argumentierte nicht aus, sondern mit dem Gesetz.51 Die Begründungsstrategien der byzanti45 Dem Gesamtwerk fehlte allerdings ein gemeinsamer Name, denn die Bezeichnung als Corpus iuris civilis gehört erst der Neuzeit an; als Titel einer Gesamtausgabe der justinianischen Kodifikation begegnet sie zuerst in der Ausgabe des Dionysius Godofredus von 1583. 4 6 Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte. 10. Aufl., Köln 1983, 150. 47
Franz Wieacker, Vom römischen Recht. 2. Aufl., Stuttgart 1961, 242 ff. So François Geny, Méthode d'interprétation et sources en droit privé positif I. 2. Aufl., Paris 1919, 108. 49 Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780, hrsg. von J. H. Burns und H. L. A. Hart. London 1970, 299. 50 Dieter Simon, Rechtsfindung am byzantinischen Reichsgericht. Frankfurt am Main 1973, 17. 48
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nischen Richter und Juristen verwendeten das Gesetz als ein Argument unter anderen. Da das Gesetz an der Autorität des Herrschers partizipierte, war es zwar das stärkste aller denkbaren Argumente, gleichwohl konnte das Gesetzesargument auch verworfen werden. Die sich nicht selten widersprechenden Gesetze haben eine topische Funktion für ein im Grunde rhetorisches Ziel. 5 2 Stets steht das Urteil über den Einzelfall im Mittelpunkt, nicht das Recht als Ganzes.53 Gerade auf das Ganze des Rechts aber hatte es Justinian abgesehen. Die Idee einer Sammlung des ganzen Rechts wird in den Einführungskonstitutionen Justinians immer wieder hervorgehoben. So heißt es in der Constitutio Dedöken, die in griechischer Sprache die Inkraftsetzung der Digesten erklärt: „Dieses Gesetzbuch haben wir Digesten oder Pandekten genannt, und wir gaben ihm diese Bezeichnung, weil es die begriffliche Ordnung und lebendige Veranschaulichung des Rechts enthält und weil es das Ganze zu Einem versammelt aufnimmt." 54 Auch wenn die Schriften und Erlasse, aus denen sich seine Gesetzgebung zusammensetzte, von noch so unterschiedlicher Natur sein mochten - Justinian verkündete das Ganze als Gesetz und machte es so zu seinem eigenen Werk. Seinem Willen nach sollte das Recht seine einzige Quelle im Kaisergesetz haben: „Sobald dieser Stoff dank höchster göttlicher Güte gesammelt ist, gilt es, daraus ein herrliches Werk zu errichten und ihn gleichsam zu einem eigenen und allerheiligsten Tempel der Gerechtigkeit zu weihen und das ganze Recht in fünfzig Büchern und in bestimmte Titeln zu ordnen, ... auf daß nichts außerhalb des erwähnten Werkes bleibe, vielmehr in diesen fünfzig Büchern das ganze alte Recht, das im Verlauf von fast vierzehnhundert Jahren in Ordnung geraten war und von uns dann gereinigt worden ist, gleichsam durch eine Mauer geschützt nichts außerhalb seiner selbst lasse."55
Auf seine Kodifikation war der Kaiser mehr als stolz und verbot daher in der Constitutio Tanta unter Androhung von Kapitalstrafen, das von ihm verkündete Gesetzbuch mit den ursprünglichen Werken zu vergleichen oder auch nur nach diesen zu forschen. Da der Rechtsstoff nunmehr klar und durchsichtig bereitstehe, seien die alten Schriften und Erlasse nicht länger vonnöten: „Diese Gesetze also sollt ihr verehren und befolgen, während alles ältere Recht zu verstummen hat. Und niemand von euch wage es, die neuen Gesetze mit dem älteren Recht zu vergleichen, oder, wenn zwischen beiden ein Widerspruch besteht, dies näher zu untersuchen! Denn wir verfügen, daß einzig und allein das befolgt werden soll, was wir hiermit als Recht gesetzt haben."56 51 Dieter Simon, Rechtsfindung am byzantinischen Reichsgericht. Frankfurt am Main 1973, 20. 52 Gerade die große Zahl von Rechtsbüchern, die in Byzanz existierte, bedeutete nichts anderes als die Herstellung von leicht handhabbaren Vorräten gesetzlicher Argumente. 53 Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 261. 54 Constitutio Dedöken § 1. 55 Constitutio Deo auctore § 5. 56 Constitutio Tanta $ 19.
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In Zukunft, bestimmte Justinian, sollten Zitate aus den Schriften der Juristen allein Gültigkeit haben, wenn sie von seiner Kommission niedergelegt worden seien; alles, was von ihr nicht aufgenommen worden war, verlor im weiteren jede Geltung. Damit war das Urteil über die Originalwerke gesprochen: Sie waren aus Unterricht und Praxis verbannt und wurden, wenn nicht vernichtet oder ausradiert und überschrieben, so doch nicht mehr abgeschrieben und gerieten bald in Vergessenheit. Was die Mitglieder der Kommission nicht aus den Schriften der Juristen exzerpiert hatten, ging daher fast vollständig verloren. 57 Nun zeigte sich, dass mit dem gesetzgeberischen Werk keineswegs eine konservierende Absicht verfolgt wurde, vielmehr sollte „die Kompilation selbst zum Mörder ihrer gesamten Mutterliteratur werden." 58 Die Kodifikation oder Umschrift in den Codex erwies sich als vorsätzliche Streichung überlieferter Rechtstexte, als Mord an dem lebendig sich fortschreibenden Recht. Das sichere Wissen, dass das, was keine Aufnahme in einen Codex fand, was also nicht umgeschrieben wurde, auf Dauer endgültig zugrunde gegangen ist, macht aufmerksam auf das unwiederbringlich Verlorene; es schärft die Aufmerksamkeit für den Verlust, das Unlesbare und Verstümmelte hinter dem lesbaren und kodifizierten Text. Durch die Operation des Kompilierens und Kodifizierens wird der Strom der Überlieferung absichtlich und irreversibel unterbrochen und eine Zäsur gesetzt. Das Gesetzbuch wird dadurch zum Sperrwerk gegen irreguläre und nicht autorisierte Überlieferungsströme. 5 9 Mit seiner Kodifikation hatte Justinian einen wichtigen Schritt für die Herrschaft des Gesetzbuches als der Quelle allen Rechts gesetzt, einen Schritt allerdings, dessen Auswirkungen sich erst fünf Jahrhunderte später zeigen sollten. Allen seinen Bemühungen zum Trotz und aller offiziellen Rhetorik zum Hohn stieß die justinianische Gesetzgebung nämlich auf Gleichgültigkeit und ein fast vollständiges Schweigen der Zeitgenossen, was vor allem daran lag, dass die Kompilatoren aus didaktischen Gründen die lateinische Sprache und anspruchsvolle Kasuistik der klassischen Jurisprudenz bewahrt hatten: Umstände, die den griechischsprachigen Richtern in den Provinzen die Stoffdurchdringung und -aneignung erschwerten 57
Einzelne Fragmente sind durch Zitate bei anderen antiken Autoren überliefert, Pergamenthandschriften und Papyri haben hier und dort etwas erhalten. Erst 1816 entdeckte Niebuhr in Verona ein Palimpsest, eine zweifach beschriebene Handschrift, die als oberen Text die Briefe des Kirchenvaters Hieronymus enthielt, darunter aber eine Abschrift der längst verloren geglaubten Institutionen des Gaius, eines Anfängerlehrbuchs des klassischen römischen Rechts. Mit Hilfe von Chemikalien gelang es ihm den größten Teil des schwer lesbaren Textes zu entziffern, was diesen allerdings weitgehend zerstörte; nahezu alles, was wir von dem nicht in der justinianischen Kompilation überlieferten klassischen römischen Recht wissen, stammt aus dieser Abschrift der Institutionen des Gaius. Siehe dazu auch Cristina Vano, „II nostro autentico Gaio": Strategie della scuola storica alle origni della romanistica moderna. Neapel 2000, 51 ff. 58
Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen. Göttingen 1960, 111. Eingehend dazu Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt am Main 2000, 73 ff. 59
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oder geradezu unmöglich machten. Nichts legt den Gedanken nahe, die Kodifikation habe in Byzanz eine Revolution der juristischen Methode bewirkt. 60 Aber auch im lateinischsprachigen Westen schien dem Gesetzbuch nur wenig Erfolg beschieden: während die justinianischen Gesetze im oströmischen Reich immerhin noch bis etwa 900 galten, blieben sie im Westen nur kurze Zeit in Geltung. Als die byzantinische Armee 554 nach zwanzig Jahren verheerender Schlachten die italienische Halbinsel zurückeroberte und erneut mit dem östlichen Reich vereinigte, wurde die justinianische Kodifikation auch in Italien eingeführt, 61 doch es war nur wenigen möglich, damit vertraut zu werden: schon 568 wurden Nord- und Mittelitalien von den Langobarden erobert und besetzt, während in den Gebieten, die weiterhin Ostrom unterstanden - in Ravenna, Neapel, Süditalien und Sizilien - eher Griechisch denn Latein gesprochen wurde. Die justinianische Gesetzgebung wurde daher nie vollständig angenommen. Allein Codex, Institutionen und Novellen wurden in Italien weiterhin abgeschrieben, vom Codex aber lediglich die ersten neun Bücher und auch diese nur in einer verkürzten Ausgabe, der Epitome Codicis; die Digesten dagegen gerieten während des frühen Mittelalters weitgehend in Vergessenheit.62 Erst Mitte des 11. Jahrhunderts kam es zu einem erneuten Interesse an der justinianischen Gesetzgebung, als eine vollständige Handschrift der Digesten in Pisa auftauchte, die später als Codex Florentinus bekannt gewordene Littera Pisana. 63 Als eine von dieser Handschrift angefertigte Abschrift um 1070 nach Bologna gelangte,64 erkannte Irnerius, ein Lehrer der artes liberales, den Wert dieses Thesaurus an juristischer Erfahrung. Ermutigt durch die Markgräfin Mathilde „erneuerte" Irnerius auf der Grundlage dieser Abschrift „die Gesetzbücher und, indem er die 60
Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. München 1992, 258 f. 61 Papst Vigilius bat den Kaiser inständig, seine Kompilation durch ein Gesetz auch in Italien in Kraft zu setzen; dieser Bitte entsprach Justinian durch den Erlass der Pragmatica Sandio pro petitione Vegilii. 62 Max Conrat, Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts im früheren Mittelalter. Leipzig 1891, 65 ff., Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti del Congresso internazionale di diritto romano, Bologna, Pavia 1934, 345 ff., 356 ff. 63 Die Handschrift wurde von den Glossatoren von Bologna als Littera Pisana bezeichnet; ihre heute gebräuchliche Bezeichnung als Codex Florentinus hat sie erst nach 1406 erfahren, als sie nach Florenz verbracht wurde; dort wird sie seit 1782 in der Bibliotheca Laurentiana verwahrt. 64 Die Überlieferungsgeschichte der Littera Pisana und der von ihr angefertigten, als Codex Secundus bezeichneten Abschrift ist höchst umstritten, statt vieler siehe hierzu nur Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter I: Die Glossatoren. München 1997, 61 ff. und Horst Heinrich Jakobs, Die große Zeit der Glossatoren, in: ZRG RA 116 (1999), 222 ff. Auf eingehende paläographische Studien stützt sich die von allen früheren Arbeiten erheblich abweichende Darstellung von Charles M. Radding / Antonio Ciaralli, The Corpus Iuris Civilis in the Middle Ages. Manuscripts and transmission from the sixth Century to the juristic revival. Leiden 2007.
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Ordnung wiederherstellte, in der sie von Kaiser Justinian kompiliert worden waren, fügte er möglicherweise hier und da einige Worte an [und] teilte sie auf 4 6 5 Die von ihm auf diese Weise geschaffene Littera Bononiensis oder Digestenvulgata 66 wurde dann zur Grundlage des Rechtsunterrichts, welchen er künftig anstelle des Unterrichts der Grammatik anbot. 6 7 Da der Digestentext schwierig war und die Abschrift lückenhaft und ergänzungsbedürftig erschien, las Irnerius die Digesten Titel für Titel und Satz für Satz vor und brachte hier und da Ergänzungen an, die die Studenten mitschrieben. 68 Charakteristisch für seine Arbeitsweise war die Glossierung, eine Erläuterung durch knapp gefasste Anmerkungen, die sich an einzelne Worte des Textes anschlossen. 69 Anfangs wurde nur die Bedeutung der erklärungsbedürftigen Worte zwischen den Zeilen (Interlinearglosse) oder am Rand (Marginalglosse) festgehalten, doch bald flössen auch juristische Erklärungen ein, wurden andere Quellenstellen vermerkt, die dasselbe oder Abweichendes besagten, wurde der Versuch unternommen, die Abweichungen zu begründen und überhaupt die begrifflichen und logischen Hintergründe der Texte bloßzulegen. 70 Durch fortlaufende Glossierung der einzelnen Teile der justinianischen Gesetzgebung entstanden ganze Glossenapparate, und das Gewebe dieser Anmerkungen, die den Rand der mittelalterlichen Handschriften des Corpus iuris bedeckten, schuf überall die Querverbindungen, die zur Übersicht und zum Verständnis der riesigen Stoff65 Burchard von Ursperg, Chronicon, hrsg. von Oswald Holder-Egger und Bernhard von Simson. 2. Aufl., Hannover 1916, 16: „ . . . dominus Wernerius libros legum ... renovavit, et, secundum quod olim a dive recordationis imperatore Iustititiano compilati fuerant, paucis forte verbis alicubi interpositis eos distinxit." 66 Siehe dazu Hermann Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata. Ergänzungen zu Mommsen. Weimar 1910, 41 ff. 67 Über das Leben des Irnerius, des legendären Begründers der Glossatorenschule von Bologna, ist nur wenig bekannt; seine Spur verliert sich in Bologna nach dem Jahre 1118. Angeblich soll er Kaiser Heinrich V. vor Abschluss des Wormser Konkordates nach Rom begleitet haben. Wohl auf seine Arbeiten ist die Bezeichnung Bolognas als „nutrix legem", die Geburtsstätte des Rechts, zurückzuführen. Irnerius selbst wurde später mit dem Ehrennahmen „Lucerna iuris", Leuchte des Rechts, versehen. 68 Manlio Bellomo, Europäische Rechtseinheit. Grundlagen und System des Ius Commune. München 2005, 62 ff. 69 Urfall der Glosse ist die reine Worterklärung; daher auch die Bezeichnung y\(booa, das dem allgemeinen Sprachgebrauch fremde und deshalb erklärungsbedürftige Wort. Spätestens bei Isidor von Sevilla wird der Begriff für eine Erklärung schlechthin gebraucht, auch wenn sie sich nicht auf einzelne Worte des Textes, sondern auf dessen Gegenstand bezog; in diesem weiteren Sinn wird der Begriff dann auch in Bologna verwendet. Savigny definierte die Glossen als „diejenigen Erklärungen, welche ein Jurist seinem Exemplar des Textes beygeschrieben hatte, daß sie wie andere Bücher erhalten, abgeschrieben und verbreitet werden sollten", Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III. 2. Aufl., Heidelberg 1834, 558. 70
Peter Weimar, Die legistische Literatur der Glossatorenzeit, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte I: Mittelalter (1100-1500). München 1973, 129 ff., 168 ff., Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte. 10. Aufl., Köln 1983, 162, Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter I: Die Glossatoren. München 1997, 118 ff.
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masse erforderlich waren, klärte die begrifflichen Zusammenhänge und deckte die Widersprüche auf - allerdings nur, um sie sofort wieder hinwegzudeuten, denn wie den Theologen die Bibel, so war den nach ihrer Arbeitsweise als Glossatoren bezeichneten Juristen des Mittelalters das justinianische Gesetzbuch der Weisheit letzter Schluss.71 Alle Widersprüche konnten nur scheinbar sein, und es musste irgendeine Möglichkeit geben, sie aufzulösen. Mit dem Corpus iuris hatten die Glossatoren indes einen denkbar ungeeigneten Gegenstand für ihre Mühen erwählt: eine Sammlung, die mit ihren 150.000 Zeilen viel zu stoffreich und mit ihrem traditionellen Aufbau viel zu unübersichtlich war, um überhaupt zugänglich zu sein. 72 Seine Benutzung wurde erschwert nicht nur durch seine Kasuistik, sondern auch durch den komplexen Inhalt. Die ältesten und die jüngsten Bestandteile des Corpus iuris liegen etwa 600 Jahre auseinander, während welcher Zeit sich das Recht tiefgehend verändert hatte. Aus diesem Grund wie auch wegen der Kontroversen unter den römischen Juristen ist das Corpus iuris insgesamt als auch innerhalb seiner einzelnen Teile so voll von Widersprüchen, dass man in vielen Einzelfragen ohne große Schwierigkeiten Belege für entgegengesetzte Standpunkte anführen kann. 73 Vermindert wurden diese Widersprüche zwar durch die Kontroversenentscheidungen Justinians ebenso wie durch die Interpolationen, von den Redaktoren eingefügte, aber äußerlich nicht gekennzeichnete Veränderungen der aufgenommenen Exzerpte; da diese Interpolationen aber in der Eile der Kompilationsarbeit nicht immer mit voller Konsequenz durchgefühlt werden konnten, sind trotzdem viele durch die historische Entwicklung des Rechts bedingte Widersprüche stehen geblieben.74 Schon vor Justinian waren aber bei der Behandlung von kaiserlichen Erlassen und juristischen Werken der klassischen Zeit durch die nachklassischen Rechtsschulen Erläuterungen der Rechtslehrer in Gestalt äußerlich nicht gekennzeichneter Glosseme in den Originaltext eingedrungen. Diese Glosseme suchten die ältere Entscheidung teils dem geltenden Recht anzupassen, teils sie mit den Denkformen ihrer Zeit zu begründen, aber auch zu modifizieren. Die Kompilatoren legten bei der Zusammenstellung der Digesten und des Codex wahrscheinlich solche glossierten Ausgaben zugrunde, wodurch die Glossen, die im Gegensatz zu den einen gesetzgeberischen Akt darstellenden Interpolationen an sich nur die Meinung eines Rechtslehrers enthielten, Gesetzeskraft gewannen.75 Da diese Glossierung aber keineswegs überall gleichmäßig geschah, entstanden neue Quellen von Widersprüchen, ja sie schuf solche für die glossierte Entscheidung selbst, denn es konnte auf ihren wie ihrer Begründung logischen Aufbau nicht ohne Einfluss sein, wenn die originäre Fassung von Ausführungen durchsetzt wurde, die vielfach andere Begriffe und Denkformen verwendeten. Diese Erkenntnis musste aber den Exe71 Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte. 10. Aufl., Köln 1983, 162 f. 72 Vgl. Franz Wieacker, Vom Römischen Recht. 2. Aufl., Stuttgart 1961, 282. 73 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl., München 1966, 63. 74
Zu den justinianischen Interpolationen und der echtheitskritischen Forschung siehe Wolfgang Kunkel, Römische Rechtsgeschichte. 10. Aufl., Köln 1983, 153 ff. m. w. N. 75 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl., München 1966, 63 f.
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geten des Corpus iuris verschlossen bleiben, die von Interpolationen und Glossemen nichts wussten - und das war jahrhundertelang der Fall. Dass es Interpolationen im Corpus iuris gibt, sagt zwar Justinian selbst,76 gleichwohl hat ihnen erst die im 16. Jahrhundert unter dem Einfluss des Humanismus aufkommende historische Richtung der Romanistik Beachtung geschenkt, wohingegen die Glosseme überhaupt erst eine Entdeckung der Romanistik des 20. Jahrhunderts sind. 77 Während die neuere Forschung vorhandene Widersprüche innerhalb des Corpus iuris vielfach dadurch auflösen kann, dass sie diese als zeitlich verschiedenen Perioden angehörige Behandlungen desselben Falles erklärt, war dieser Weg ungangbar für die älteren Exegeten, die von Interpolationen und Glossemen nichts wussten, ja selbst wenn sie davon gewusst hätten, sie nicht anerkennen konnten, weil ihnen das Corpus iuris ein geltendes Gesetzbuch war, an dessen Text nicht gerüttelt werden durfte. 78 Mochte man auch die Genauigkeit der überlieferten Handschriften anzweifeln, so stand die Widerspruchsfreiheit des justinianischen Gesetzbuches selbst außer Frage, hatte der Kaiser doch in der Constitutio Tanta verkünden lassen, dass sich in seinem Buch keinerlei Widersprüche finden ließen, wenn man nur scharfsinnig genug sei: „Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft. Es gibt demgegenüber nämlich immer irgend etwas, sei es neu eingefühlt oder an versteckter Stelle stehend, das den beklagten Mißklang auflöst, der Sache ein anderes Aussehen gibt und den Eindruck eines Widerspruches beseitigt."79
Nachdem kein Anlass bestand, an den Worten des erhabenen Kaisers Justinian, des allerchristlichsten Herrschers, zu zweifeln, sich aber auch niemand mangelnden Scharfsinn vorwerfen lassen wollte, bemühten sich die Glossatoren nach Kräften die scheinbaren Widersprüche aufzulösen. Als methodische Grundlage ihrer Bemühungen dienten die artes liberales, die ihrerseits der spätantiken Schultradition entstammten. Die Erläuterungstechnik der Schule von Bologna konnte an diese Tradition des Unterrichts in Grammatik, Dialektik und Rhetorik anknüpfen: es sind immer noch die von der griechischen Logik geschaffenen, zuerst von den alexandrinischen Gelehrten auf die Exegese philologischer Texte angewandten Erklärungs- und Schlussfiguren, die grammatische und sachphilologische Glossierung, die Exegese oder Sinnerklärung des Textes, die Konkordanz und die Distinktion. 80 76 Constituto Tanta § 10. 77 Vgl. Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl., München 1966, 63 f. m. w. N. 78 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht. 4. Aufl., München 1966, 65. 79 Constitutio Tanta § 15. 80 Eingehend dazu Helmut Coing, Zum Einfluß der Philosophie des Aristoteles auf die Entwicklung des römischen Rechts, in: ZRG RA 69 (1952), 24 ff., Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter I: Die Glossatoren. München 1997, 118 ff.
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Die Neuplatoniker übertrugen diese Methode auf die philosophischen Texte, die Kirchenväter auf die Schriftquellen und die byzantinischen Rechtslehrer des 4.-6. Jahrhunderts auf die klassischen Juristenschriften; 81 dem frühen Mittelalter und noch den Juristen von Bologna wurden sie durch den Unterricht an den Artistenschulen bekannt.82 Die Absichten dieser Textexegese, die auf den ersten Blick die gleichen zu sein scheinen wie die der theologischen, philologischen und juristischen Hermeneutik, sind allerdings schon in ihren Prämissen verschieden. Wenn die Glossatoren die römischen Texte erklärten und zu einem widerspruchsfreien Lehrgebäude zu ordnen suchten, so teilen sie zwar mit der modernen Theologie und Jurisprudenz die Absicht auf eine Dogmatik, also ein Erkenntnisverfahren, dessen Bedingungen und Grundsätze durch eine Autorität vorbestimmt sind, 83 im übrigen aber wollen sie wenig von dem was die moderne Wissenschaft will: weder die Richtigkeit der Textaussage vor dem Forum einer voraussetzungslosen Vernunft erweisen, noch sie historisch begründen oder verstehen, noch auch sie für die Praxis nutzbar machen, sondern vielmehr sich mit dem Organ der Vernunft, der scholastischen Logik, der unumstößlichen Wahrheit der Autorität ver84
gewissem. Dieses Verhältnis von Autorität und Vernunft, das die mittelalterlichen Intellektuellen unablässig beschäftigte, beruht vor allem auf dem griechischen Idealismus, der platonischen, auf die eleatische Philosophie zurückgehenden Erwartung, allem Gedachten müsse ein metaphysisch Seiendes entsprechen.85 Das scholastische Denken verbindet dabei die Reverenz vor dem geoffenbarten Wort mit dem logischen Formalismus, den die mittelalterliche Schule von der spätantiken geerbt hatte. Die Wahrheit geoffenbarter oder verbindlich überlieferter Texte soll nicht überprüft, sondern mit logischen Mitteln beglaubigt werden, während das moderne, aus dem Nominalismus hervorgegangene Denken die Begründung von Wahrheiten, die „über alle Vernunft" sind, mit den Mitteln der Vernunft als Widerspruch empfindet; dementsprechend kann auch die Überzeugung der mittelalterlichen Juristen, dass im Corpus iuris die Vernunft selbst Wort, ratio scripta geworden sei, nicht mehr nachvollzogen werden. 86 Auch der Erläuterungsstil der Glossatoren ist bestimmt von dem Verhältnis von Autorität und Logos. Als ratio scripta ist schon der einzelne Juristentext (locus) ohne Rücksicht auf seinen Zusammenhang mit der Gesamtheit aller Texte eine Wahrheit für sich selbst. Da man sich zunächst dieses Textsinnes zu versichern 81 Fritz Pringsheim, Beryt und Bologna, in: Festschrift für Otto Lenel zum fünfzigjährigen Doctorjubiläum. Leipzig 1921, 194 ff. 82 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl., Göttingen 1967, 53. 83 Die Herkunft der dogmatischen Methodenlehre aus der Medizin und nicht der Theologie wird nachgewiesen durch Maximilian Herberger, Dogmatik. Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz. Frankfurt am Main 1981. 84 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl., Göttingen 1967, 54. 85 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl., Göttingen 1967, 54 f. 86 Franz Wieacker, Vom römischen Recht. 1. Aufl., Leipzig 1945, 195 ff.
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hat, ist die Grundform die fortlaufende Erklärung einzelner Texte: die Glossierung. Die Mittel der Erläuterung sind die grammatischen Begriffe und dialektischen Figuren des Triviums. 87 Sie werden von den Glossatoren in der einfacheren Form angewandt, die sie vor der Rezeption des arabischen und byzantinischen Aristoteles durch die Hochscholastik im 13. Jahrhundert hatten. Dieser Zusammenhang tritt besonders deutlich in den Glossen des Irnerius hervor, der ausdrücklich als Grammatiker und Dialektiker der Artistenfakultät bezeugt wird. Seine Glossen, die ältesten benannten der Schule von Bologna, zeigen sofort die bekannten dialektischen Figuren des Triviums, so dass man von einem „Einfluß der Scholastik" auf die Glossatoren sprechen kann. 88 Art und Ausmaß dieses Einflusses sind dagegen nach wie vor umstritten: einerseits ist die Vorgeschichte und die Art der Vermittlung an die frühen Glossatoren noch weitgehend unerforscht, andererseits führte der besondere Gehalt ihrer Texte die Glossatoren schnell in eine Richtung, der gegenüber die fortdauernde Verwendung der formalen scholastischen Figuren wenigstens für den rechtshistorischen Betrachter an Interesse verliert. 89 Vor allem aber gestaltete sich das Verhältnis zur Scholastik nach der Begründung des Studium civile, dessen geistiges und kulturelles Prestige auf die
Nachbardisziplinen zurückstrahlte, mehr als Wechselwirkung denn als einseitige Abhängigkeit der Glosse. Diese Wechselwirkung geht schon in die Anfänge der mittelalterlichen Jurisprudenz zurück; sie beruht auf der Einheit der Geisteshaltung der mittelalterlichen Gelehrten. 90 Schon bald beschränkten sich die Glossatoren nicht mehr auf die fortlaufende Exegese einzelner Stellen. Die Überzeugung vom Walten einer Ratio im gesamten Überlieferungszusammenhang forderte, den vernünftigen Gesamtsinn aller Texte zu ergründen und in schlüssigen Syllogismen darzustellen: wenn jeder Text die Wahrheit der unbedingten Autorität hat, kann ein Text nicht einem anderen, ebenso 87 Siehe Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti del Congresso internazionale di diritto romano, I Bologna, Pavia 1934, 345 ff., 387 f. über den Einfluss des Trivium und Quadrivium in der Glosse grammaticos zu Inst. 1, 25 § 14. 88 Vgl. Ernst Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigenthum. Leipzig 1883, 34 ff. 89 Hermann Fitting, Juristische Schriften des frühen Mittelalters. Halle 1876, 98 f., 101; Ernst Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigenthum. Leipzig 1883, 34 ff., 50 ff.; Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti del Congresso internazionale di diritto romano, I Bologna, Pavia 1934, 345 ff., 381 ff. 90 Die Glossatoren verwendeten durchweg die allgemein bekannten logischen Schlussfiguren und die aristotelischen Kategorien: die vier causae materialis, formalis, efficiens und finalis ebenso wie die spezifisch scholastischen causae proximae und remota, propria und impropria, ferner die Bestimmung des Allgemeinen (genera) und des Besonderen (species) und die Verfahren der distinctio, divisio und subdivisio. Bei den ihnen nachfolgenden Konsiliatoren sollten sich diese Figuren unter dem Einfluss der Wirkungen der arabischen und byzantinischen Aristoteles-Kommentare auf die Hochscholastik bereichern; gleichzeitig aber konnte ihre Methode durch das zunehmende Eigengewicht der Rechtswissenschaft gegenüber der theologischen und philosophischen Dialektik anscheinend größere Selbstständigkeit wahren.
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wahren widersprechen. 91 Da den mittelalterlichen Juristen offenbare Widersprüche innerhalb der Gesamtüberlieferung nicht verborgen blieben, galt es, sie durch logische Kunstgriffe, vor allem durch distinctiones oder subdistinctiones zu harmonisieren. 92 So treten zur Exegese synthetische Operationen, welche die Vereinbarkeit scheinbar widersprechender Texte erweisen sollen oder eine mehreren Texten gemeinsame Regel bilden. Mit Hilfe von Exegese, Harmonisierung und Regelbildung entstand so ein Lehrgebäude von formal widerspruchsfreien Sätzen und damit die erste autonome juristische Dogmatik überhaupt - zielte die klassische römische Jurisprudenz doch nie auf ein harmonisiertes Lehrgebäude, das schon die persönliche Autorität der Juristen nicht zugelassen hätte,93 während der justinianischen Kodifikation der Ausbau eines zusammenhängenden und widerspruchsfreien Lehrgebäudes durch den Rückgriff auf die Originalfragmente der Klassiker verwehrt wurde. Dieses Lehrgebäude wurde zur Matrix aller modernen kontinentaleuropäischen Rechtsdogmatik, denn bis zur Gegenwart ist die Jurisprudenz wie außer ihr nur noch die Theologie Dogmatik geblieben, die eine vorgegebene unbedingte Autorität der Aussagen über Geltung voraussetzt. Durch die Anwendung der scholastischen Methode auf das justinianische Gesetzbuch verhalfen die Glossatoren einer neuen „Rechtswissenschaft" zur Geburt. Mit der Applikation der trivialen Argumentationsmuster auf die Digestentexte bildeten sich die heute jedem Juristen vertrauten Auslegungsmethoden heraus. Möglich gemacht wurde dieser Methodenwandel nicht zuletzt durch einen Wandel des Mediums. So, wie im 2. Jahrhundert n. Chr. der Codex an die Stelle der in der Antike verbreiteten Schriftrolle getreten war und dadurch die spätantiken Kodifikationen ermöglicht hatte, erfolgte im 12. Jahrhundert eine grundlegende Änderung der Buchgestaltung, welche die Arbeit der Glossatoren entscheidend beförderte: konnte sich das heutige Schriftbild doch erst durch die Unterteilung des Textes in einzelne, in sich gegliederte Seiten ausbilden, wie sie erstmals in der scholastischen Buchkultur des Hochmittelalters vollzogen wird. 94 Hier differenziert sich die Buchseite typographisch aus und ordnet den bis dahin weitestgehend nur durch Cola und Commata strukturierten Fließtext als ein hierarchisches Gefüge. Damit sind die Grundlagen für das biblionome, von der Einheit des Buches her gedachte Layout gegeben. Durch Absatzbildungen, Nummerierung von Zeilen und 91 Zur Ausbildung des Prinzips der geistigen Einheit des Ius commune unter dem Einfluss der reductio ad unum siehe Francesco Calasso, Medio evo del diritto. Mailand 1954, 371 ff. 92 Die distinctio wird daher eine der grundlegenden Schriftgattungen der Glossatoren, vgl. Erich Genzmer, Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren, in: Atti del Congresso internazionale di diritto romano, I Bologna, Pavia 1934, 345 ff., 397 ff. 93 Vgl. Franz Wieacker, Vom römischen Recht. 2. Aufl., Stuttgart 1961, 130 ff., 149 f., 169 f.; Max Käser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung. Göttingen 1962, 55 ff. 94 Siehe dazu Ivan Illich / Barry Sanders, Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität. Hamburg 1988; Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991; Wolfgang Raible, Die Semiotik der Textgestalt: Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg 1991.
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Argumenten, durch farbliche Markierung von Zitaten sowie Hinzufügung von Inhaltsverzeichnissen, Begriffskonkordanzen und Kapitelüberschriften wird der Haupttext nun von Glossen, Kommentaren und Marginalien unterschieden. Der Text gewinnt eine distinkte, einen Anfang und ein Ende umspannende Gestalt, die im Wesentlichen von der Differenz zwischen Haupt- und Paratext getragen wird, 95 eine Gestalt, die dem nur noch mit dem Auge wahrnehmenden Leser eine Orientierung darüber bietet, in welchem Teil des gegliederten Textganzen er sich jeweils befindet. 96 Hatte der ungegliederte Fließtext noch psychomotorische Techniken erforderlich gemacht, mit deren Hilfe die inhaltliche Bedeutung erst durch ein murmelndes Vokalisieren der einzelnen Wörter erschlossen werden konnte,97 so perfektioniert und standardisiert die typographische Differenzierung des Textes den Modus der stillen, individuellen Lektüre. 98 Die Gliederung des Layouts ermöglicht einen selektiven und alinearen Zugriff auf ausgewählte Textstellen. Soweit alle modernen Lektüretechniken die Handhabung, Vermittlung und Koordination zwischen Textganzem und Einzelstellen organisieren, 99 verweist die typographisch begünstigte Selektivität und Alinearität auf eine grundlegendes Problem der Hermeneutik: sie macht ein Lesen möglich, das nicht mehr nur auf das bloße Verstehen des buchstäblichen Wortsinns gerichtet ist, sondern auf die Bedeutung des Textes und dessen Sinngehalt.100 Gegen Ende des 12. Jahrhunderts nimmt das Buch daher einen Symbolcharakter an, den es bis in unsere Zeit hinein behält. Es wird zum Symbol für einen bis dahin beispiellosen Gegenstand, der sichtbar, aber nicht greifbar ist: den buchbezogenen Text. 101 Mit Hilfe einer Reihe von manuellen Techniken wurde um 1150 der Text als Gegenstand geschaffen, bevor er durch eine Reihe mechanischer Techniken um 1450 zu einem Prägestock verdinglicht wurde. Die Seite wurde zu einem buchgebundenen Text, der den scholastischen Verstand entstehen ließ. 1 0 2 Der Text kann seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntes gesehen werden. Er wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenen Augen visualisiert werden kann. 95
Gérard Gennette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. München 1992. Natalie Binczek/ Nicolas Pethes, Mediengeschichte der Literatur, in: Helmut Schanze (Hrsg.), Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001, 248 ff., 288. 97 Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991,62. 98 Paul Henry Saenger, Silent Reading: Its Impact on Late Médiéval Script and Society, in: Viator. Médiéval and Renaissance Studies 13 (1982), 367-414. 99 Matthias Bickenbach, Von den Möglichkeiten einer „inneren" Geschichte des Lesens. Tübingen 1999. 100 Robert Chartier/Guglielmo Cavallo (Hrsg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt am Main 1999, 34. 101 So Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991, 7 ff. 102 Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991, 121 f. 96
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Der Text schwebt über der Seite. Er ist auf dem Wege dazu, eine Art Lastschiff zu werden, das die bedeutungstragenden Zeichen durch den Raum befördert, der die Kopie vom Original trennt. Aber trotz dieser Dissoziation des Textes von der Seite bleibt er seinem Hafen im Buch verbunden, in dem er seinen Sinn entlädt und seine Schätze offenbart. 103 Der Glaube an die Sinntotalität des Gesetzbuches, des Anspruches, alles Recht in einem Buch zu vereinen, war auch den Glossatoren zu Eigen. Nichts zeigt dies besser als das abschließende Sammelwerk, mit dem die Schule der Glossatoren zu ihrem End- und Höhepunkt gelangte: die von Accursius erstellte Glossa ordinaria , die in ihren 96.940 Anmerkungen alle früheren Erläuterungen der Glossatoren zu dem Gesetzbuch Justinians aufnimmt und zu einem Ganzen zu runden versucht. Als erster und einziger stellte Accursius einen vollständigen Apparat zu sämtlichen libri legales her: Omnia in corpore iuris invenientur. 104 Dabei verfolgte auch er das für Theorie wie Praxis gleichermaßen bedeutsame Ziel, das Gesetzeswerk Justinians als Einheit zu interpretieren. Er vergleicht in einer Glosse die einzelnen Teile des Corpus iuris anschaulich mit den einzelnen Gliedern des menschlichen Körpers, 105 davon ausgehend, dass das Corpus iuris ein völlig widerspruchsfreies Werk sei - wie es Justinian ja behauptet hat. Daher heißt es in der Glossa ordinaria auch: Omnia contraria possunt solvi. 106 Die accursische Glosse ist daher stets als Einheit zitiert worden, errang das Ansehen eines Standardkommentars, wurde Glosse schlechthin und erhielt bei den Gerichten ihrerseits den Rang einer Rechtsquelle („Was die Glosse nicht kennt, wird vom Gericht nicht erkannt"). Mitte des 13. Jahrhunderts war die Glossa ordinaria als unerlässliches Begleitwerk des justinianischen Gesetzbuches anerkannt. Bei der Herstellung neuer Codices wurde den Gesetzen Justinians stets die Glossa ordinaria angefügt, so dass sich die Heiligkeit der Gesetze auf den Apparatus übertrug. 107 An die Stelle des Corpus iuris als Quelle des Rechts tritt so die Glossa ordinaria; der Kommentar wird selbst zur Rechtsquelle, zum auszulegenden Text. Was an Widersprüchen im Corpus iuris enthalten war, spiegelt sich in der Glossa ordinaria wieder, vermehrt um neue Widersprüchlichkeiten eigener Natur; der Glaube an ein einheitliches, widerspruchsfreies, geschlossen im Gesetzbuch aufgehobenes Recht aber war in die Welt der Juristen entlassen und nicht mehr auszulöschen. Von diesem Glauben geleitet haben seither Generationen von Juristen immer wieder neue Lehrgebäude und Systeme errichtet, die die Einheit der Rechtsordnung, ihre Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit wiedergeben sollen. Die Rationali103
Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt am Main 1991, 124. 104 Gl. Notitia zu D.1,1,10,2. 105 Gl. Corpore zu C.5,13. 106 Gl. Fuisse zu D.37,14,17. i° 7 Manlio Bellomo, Europäische Rechtseinheit. Grundlagen und System des Ius Commune. München 2005, 178 f.
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tät des Rechts, die immer wieder gepriesen wird, erweist sich so als gegründet auf einen irrationalen Kern. III. Die Medien des Rechts Der Mythos des Gesetzbuchs hat sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten. Erst seit kurzem beginnt man, die Medien des Rechts genauer in den Blick zu nehmen. Dies liegt daran, dass sich die mediale Infrastruktur des Rechts grundlegend geändert hat: Ein Jurist sitzt heute nicht mehr vor Büchern, sondern vor dem Computer. Die Grenzen des Buches wurden schon sichtbar, als mit Telegraphie, Rundfunk, Film und Fernsehen andere Medien zum Buch in Konkurrenz traten, 108 doch die Massenmedien konnten die Welt des Buches und seine stille Hermeneutik noch nicht gefährden. Erst mit den digitalen Medien hat der Text die Grenzen des Buches als Sinntotalität verlassen. 109 Es werden nun Probleme sichtbar, die bisher im Schatten der hermeneutischen Selbstverständlichkeiten lagen. Die Triangulierung des Verstehens in Text, Autor und Leser mit vorgeprägten Rollen verliert mit dem Übergang zum Hypertext ihren Halt im Buch. Der Autor wird anonym, der Leser übernimmt seine Funktion, und dem Text fehlen objektiv vorgegebene Grenzen. Es gilt also, das Verstehen neu zu denken. Solange man nur in Büchern las, konnte man an die einzige Bedeutung des Textes als Sinntotalität glauben, denn der Leser muss seine eigene Auslegungskultur und den Wissensschatz, den er dem Text zuführt, nicht bemerken. Er kann alles, was er schafft objektiv attribuieren, und so glauben, dass allein der Text spricht. Der Hypertext macht aber die Vielzahl der Verknüpfungen von Zeichenkette und Bedeutung im Außen sichtbar. Im alteuropäischen Einheitsdenken löst dies eine Krise aus. Wenn sich der Richter aus dem Streit der Parteien in den Text des Rechts zurückziehen will, findet er statt der Einheit des Rechts den Konflikt der Verknüpfungsmöglichkeiten. Es handelt sich aber um nichts grundlegend Neues: Das Medium Computer macht nur sichtbar, dass das Gesetz schon immer ein Hypertext war und nie ein Buch im Sinne einer geschlossenen Totalität. Es war stets nur eine Kollektion stark modularisierter Segmente, eine Paragraphensammlung eben. In den Normtexten sind die einzelnen Gliederungsteile bis auf die Satzebene herunter immer für sich allein verständlich, da keine Kohäsion zu benachbarten Abschnitten besteht.110 Ihre Produktion unterliegt permanenten Verschiebungen, Novellierungen, Ergänzungen und Tilgungen, ohne dass dem Gesetz als solchen etwas Ein108 Vgl. dazu Helmut Schanze, Integrale Mediengeschichte, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Mediengeschichte. Stuttgart 2001, 252 ff., 263 ff. 109 Vgl. dazu George P. Landow, Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology. Baltimore 1997, 57; sowie Jay David Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext and the History of Writing. Hillsdale 1991, 240. no Frank Krüger, Nicht-lineares Information Retrieval in der juristischen Informationssuche, Abschn. 511a Modularisierung, http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/ diss-511a.html.
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schneidendes geschieht. Das erfährt bereits der Jurastudent leidvoll jedes Mal, wenn die neue Lieferung zur Ergänzung seines Schönfelder eingetroffen ist und er sich der Mühe einer Reorganisation unterziehen muss. Gesetzbücher, Verordnungen und Richtlinien sind letztlich nur Ansammlungen von durch Paragraphen-, sowie Abschnittsbezifferung und Betitelung etikettierten Knoten im Gewebe der Gesetzestexte, welche fallweise miteinander verknüpft werden. Die Nennung von Normtexten anhand ihrer Ortskürzel und Kennziffer in Kommentaren, Schriftsätzen, Entscheidungen und Abhandlungen löst geradezu einen Reflex des Nachschlagens aus, sofern man das Textern nicht schon abrufbereit im Kopf hat. Doch das ist erst der Anfang. Die Oberfläche des rechtlichen Textwerks ist durchzogen von einem Geflecht von Querverweisen und Bezügen, wie etwa Fundstellen von Rechtssätzen, Zitierungsketten über Aktenzeichen, Fundstellen in der Literatur und bibliographischen Angaben von Einzelnormen. „Unabhängig von den spezifischen Verweisarten treten folgende Möglichkeiten von Querverweisen innerhalb und zwischen den Gruppen juristischer Informationsquellen auf, nämlich Verweise von Normen auf Normen; von Urteilen auf Urteile, Normen und Literatur; von Literatur auf Literatur, Normen und Urteile"; dabei kann man „bei Normen und Urteilen von intra- bzw. interhypertextuellen Verknüpfungen sprechen, bei Verweisen auf die Literatur dagegen von extrahypertextuellen Verweisen." 111 Wenn man also „die Modularisierung in Knoten und deren Vernetzung" 112 als die wesentlichen Bestandteile von Hypertext ansieht, dann ist Recht zweifellos Hypertext par excellence. In den Hypertext des Rechts aber muss der Jurist eintauchen, wenn er den Text kompilieren will, der ihm als Entscheidung eines Rechtsfalls oder auch nur als eine qualifizierte Rechtsmeinung dazu abverlangt wird. Dabei gerät das Orientierungsproblem zu einem Problem der gebändigten Produktion von Text. Aufgrund der Bindungen und Verpflichtungen, denen der Jurist unterworfen ist, ist er für sein Prozessieren von Text im Raum des Hypertextes zwangsläufig Leser und Autor zugleich. Er ist einerseits gehalten, seinen Text zu „finden". Zugleich kann er aber nicht zu diesem finden, ohne ihn durch die Auswahl der Knoten und durch deren Verknüpfung gemäß den Anforderungen des Falls zu „erfinden". Letztlich hat er genau jenen Text zu erstellen, auf dem seine Entscheidung von Recht beruhen soll. Er befindet sich in dem Dilemma, sich erst die Regel schaffen zu müssen, der er für seine Anordnung und Strukturierung von Text zu folgen hat. 113 111 Was Krüger hier schon für das System „Juris" beschreibt, kann getrost auf Rechtstexte im Ganzen übertragen werden. Siehe Frank Krüger, Nicht-lineares Information Retrieval in der juristischen Informationssuche, http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/ diss.html, im Print Marburg 1997, hier http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/ diss-511 a.html sowie http: / / www.jura.uni-sb.de / dissertationen / krueger / diss-51 lb.html. 112 Dazu hier nur Frank Krüger, Hypertext fuer Juristen - Grundlagen und Probleme, http: / / www.fask.uni-mainz.de / user / krueger / publ / jurht-einf.html. 113 Vgl. allgemein Ralph Christensen / Michael Sokolowski, Theorie und Praxis aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Rechtstheorie 2002, 327 ff.
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Der Jurist ist für sein Navigieren im Hypertext Recht Steuermann und Kartograph zugleich, indem er Texteme aufhäuft und ihnen eine Ordnung einzieht. Damit er dem Kurs vom Normtext zum Fall folgen kann, muss er ihn selbst erst abstecken, indem er ihm in seinen Verweisen die Marken und Zeichen setzt. Aufgrund der Gesetzesbindung hat er für seinen Text von Recht auf der einen Seite die entsprechenden Knoten aufzusuchen. So weit mag er zwar Rezipient sein. Allein durch die Frage aber, welches die für eine Entscheidung des Falls einschlägigen sind, wird er zugleich Produzent. Die Antwort auf diese Frage, die sich im Text der Entscheidungsnorm jeweils niederschlagen soll, verlangt von ihm, jene Knoten in eine für den Fall bestimmte Konstellation zu bringen. Er hat für seine Navigation also vom Fall her ein System von Verweisen zu entwickeln, sie in einer den Fall betreffenden Weise zu verweben. Bei dieser Arbeit ist er aber auch schon wieder Rezipient, denn die Verpflichtung darauf, dem Fall auch gerecht zu werden, so, wie sie sich etwa im Recht auf rechtliches Gehör niederschlägt, zwingt den Juristen, sich auf die Fülle von Text einzulassen, mit der ihn die Beteiligten am Verfahren konfrontieren; auf all die Vorträge, Einlassungen und Schriftsätze, die vorgebracht werden und die ihrerseits die Vernetzung zum Text der Rechtsfrage beanspruchen. Die alteuropäische Vorstellung von einer beschützenden Werkstatt des Rechts, worin der Richter gehalten durch Rechtsbegriffe, Prinzipien und Gerechtigkeit die stille Rechtserkenntnis vollzieht, war immer schon in dem Moment brüchig, in dem der Jurist in den Institutionen nachlesen, die Glosse konsultieren oder einen Kommentar zur Hand nehmen musste, um für seine Entscheidung auf das Recht zu kommen. Dadurch, dass das Recht in den neuen digitalen Medien zum offenen Hypertext wird, beginnt die alte Metapher vom Gesetzbuch als beschützender Werkstatt des Rechts zu verblassen. Heute sieht man, dass der über das Gesetzbuch gebeugte Leser einen Schatten wirft. Genau in diesem Schatten liegen die für die Legitimität des Rechts entscheidenden Faktoren. Der Richter muss die Entscheidung nämlich nicht nur treffen - eine Entscheidung könnte ja auch anders getroffen werden. Er muss die Entscheidung vielmehr begründen. Aus dem Leser wird damit der Autor eines Textes. Die Souveränität des Richters als Autor ist aber eingeschränkt. Er muss in seiner Begründung den Bezug zum Gesetzestext wahren und die im Verfahren vorgebrachten Argumente verarbeiten. Im Medium des Gesetzbuches findet sich also nicht der von der Hermeneutik gesuchte objektive Sinn, sondern ein anderes Medium: die im Verfahren gesprochene Sprache. Auch dieses Medium findet seinen Sinn aber nicht in der aktuellen Äußerung, sondern im Hinblick auf ein anderes Medium: die Begründungsschrift. Der Richter liest also nicht nur im Gesetz, sondern er leitet ein Verfahren und schreibt am Ende eine Begründung. Dies alles verschwindet, wenn man das Recht ausschließlich unter dem medialen Paradigma des Buches begreift. Das Recht ist mehr als das Gesetzbuch - es ist eine Medienkonstellation. Das Buch wird von gesprochener und geschriebener Sprache ergänzt. Das Problem der Legitimation des Rechts liegt gerade im Zusammenspiel dieser Medien. Dabei sind Medien in
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einem ersten Zugriff als dynamischer Vermittlungszusammenhang zu begreifen, in dem sich nicht nur etwas abspielt, sondern auch bestimmte Weichen gestellt werden. Wenn man eine Konstellation von Medien auf ein einziges Medium reduziert, droht man wichtige Weichenstellungen zu übersehen. Gerade beim Wechsel von einem Medium zum anderen entstehen Engstellen für den Sinn, die der medientheoretische Begriff der Transkription thematisiert. 114 Das lateinische transcribere steht für Abschreiben oder Umschreiben. Zwischen Abschrift und Umschrift ist der Spielraum des Ereignisses zu erkennen und damit das mögliche Moment der Transgression. Dieses Bedeutungspotential ist auch im Recht nützlich, denn der Sinn der Rechtsquelle wird auf dem Weg vom Gesetzbuch ins Verfahren zur Begründung langsam aber beständig umgeschrieben. Vor seiner medientheoretischen Generalisierung wurde der Begriff der Transkription schon in anderen Wissenschaften verwendet und entwickelt, etwa in der Soziologie, wo man damit das Übertragen eines qualitativen Interviews in eine quantitative und auswertbare Form bezeichnet, und der Musikwissenschaft, in der man neben der Umschreibung von einer Notenschrift in die andere auch die Übertragung eines klingenden Werkes in eine Notenschrift als Transkription begreift. 115 Grundlegende Bedeutung hat der Begriff aber vor allem in der Linguistik gewonnen: Während in der Phonetik damit die Übertragung einer Schreibung oder eines Phonems in eine andere als die ursprüngliche bzw. der jeweiligen Sprache entsprechende Schrift bezeichnet wird, steht Transkription in der Konversationsanalyse für das Übertragen von gesprochener Sprache, Gesprächen oder auch Gebärden in eine schriftlich fixierte Form. Die deutschsprachige Gesprächsanalyse hat für diesen „Transfer von Mündlichkeit in Schriftlichkeit zu Zwecken empirischer Sprachanalyse" 1 1 6 das Verfahren der „halbinterpretativen Arbeitstranskription" (HIAT) entwickelt. 117 Bei diesem Verfahren zur Verschriftlichung mündlicher Dialoge wird Sinn aus nicht-wissenschaftlichen Kontexten zu wissenschaftlichen Zwecken um114
Dazu Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, 7 ff.; Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, 19 ff. 115 Sybille Krämer, Was haben ,Performativität' und ,Medialität' miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ,Aisthetisierung' gründende Konzeption des Performativen, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004, 13 ff. 25. Dazu Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, 7 ff.; Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, München 2002, 19 ff. Als Quelle zum Nachstehenden siehe http: / / de.wikipedia.org / wiki / Transkription, samt Weiterverweisen. 116 Angelika Redder, Professionelles Transkribieren, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 115 ff., 115. 117 Siehe Konrad Ehlich/Jochen Rehbein, Halbinterpretative Arbeitstranskription (HIAT), in: Linguistische Berichte 45 (1976), 21 ff. Dazu Angelika Redder, Professionelles Transkribieren, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 115 ff., 129 ff.
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geschrieben, wobei aber der Bezug zum Ausgangsmaterial trotz Verschiebung erhalten bleiben soll. 1 1 8 Die Idee der Transkriptivität wird in der Medientheorie gegenüber der linguistischen Gesprächsanalyse generalisiert. Transkriptionen sollen nicht einfache Umsetzung in der Form sein, sondern produktiv den Text reformulieren. 119 Dabei ist aber die Transkription als die Inszenierung von Sinn nicht vollkommen autonom; vielmehr wird sie an dem Anspruch gemessen, gerade diesen Ausgangspunkt zu artikulieren. Vorderhand scheint es sich beim Transkribieren erst einmal um eine Angelegenheit zwischen Medien zu handeln, um einen Transfer von Medium zu Medium. Möglich ist dies dadurch, „dass Medien vor allem andere Medien enthalten". 1 2 0 Dadurch verweist ein Medium aus sich heraus. Transkribieren vermag dann diesen Verweis aufzunehmen und zu vollziehen. Diese Prozesse haben den Charakter einer Transponierung oder einer Übersetzung. 121 Wenn man mit Davidson davon ausgeht, dass „Übersetzen" bereits in der eigenen Sprache beginnt, wird deutlich, dass Transkribieren auch schon ein inframedialer Vorgang ist. 1 2 2 Transkribieren ist also eine Transformation, die den Ausdruck als Verkörperung von Sinn in Szene setzt und so auf diesen rückbezogen bleibt, ohne von ihm vollkommen festgelegt zu sein. Dies ist genau die Spannung zwischen der Bedeutsamkeit eines Normtextes dank seiner Geltung und seiner Bedeutung an Recht, die er im Urteil als Ergebnis des Verfahrens findet. Bedeutungserschließung ist daher auf transkriptive Verfahren angewiesen, die es erlauben, „Projektionen aus dem Modus der Unbestimmtheit beziehungsweise Unlesbarkeit in den der Lesbarkeit zu versetzen." 123 Dieser Vorgang wird durch die Reflexivität von Sprache ermöglicht. 124 Durch die Annahme der Lesbarkeit wird etwas zum Zeichen gemacht und dadurch weiteren Lesarten ausgesetzt. Dies ist auch die Situation des juristischen Verfahrens, in dem der Normtext den widerstrei118
Zu diesen Momenten des sprachwissenschaftlichen Transkriptionsbegriffs Angelika Redder, Professionelles Transkribieren, in: Ludwig Jäger /Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 115 ff., 115. 119 Vgl. dazu Christian Stetter, Schrift und Sprache. Frankfurt am Main 1997, 126. Grundbedingung jeder Transkription ist eine Abstraktion von Zeit, Ort und Person. 1 20 Claudia Liebrand/Irmela Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 9 ff., 9. 121 Dazu ausführlich Michael Wetzel, Unter Sprache - Unter Kulturen. Walter Benjamins „Interlinearversion" des Übersetzens als Inframedialität, in: Claudia Liebrand / Irmela Schneider (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 154 ff. 1 22 Dazu Ludwig Jäger, Transkriptionen: inframedial, in: Claudia Liebrand/Irmela Schneider (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 123 ff.; sowie ausführlich Samuel Weber, Transkribieren und „Einsprachigkeit", in: Claudia Liebrand / Irmela Schneider (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 129 ff. 1 23 Claudia Liebrand / Irmela Schneider, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Medien in Medien. Köln 2002, 9 ff., 10. 1 24 Zur Rolle der Sprache als grundlegendem Medium vgl. Oliver Jahraus, Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie. Wien 2001, 112 f.
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tenden Lesarten der Parteien ausgeliefert ist. Zur Auswahl einer verbindlichen Lesart bedarf es der Arbeit des Verfahrens, die aber insofern an den Normtext rückverpflichtet bleibt, als sie beansprucht, ihn in Szene zu setzen. Das Transkribieren folgt dabei der medialen Logik einer Sinnerzeugung aus der Ausdrucks Wahrnehmung, die dadurch erst vollzogen wird. Dieser Vorgang des Transkribierens geht vom Präskript aus; dieses ist „das zugrundeliegende symbolische System selbst, das fokussiert und in ein Skript verwandelt wird". 1 2 5 Im Aspekt der Wahrnehmung wird durch die Transkription der Text als Ausdruck buchstäblich vor-gestellt. 126 Text ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen, „der auch Bilder, Stimmen, Architektur usw. als Gegenstände von Lektüre zu konzipieren gestattet."127 Ausdruck werden solche „Gegenstände" dabei überhaupt erst durch die Annahme einer Lesbarkeit, 128 nicht durch irgendeine Eigenleistung, die bloß aufzunehmen wäre. Es ist der Verdacht von Sinn, der das Objekt damit zu einer der Gestaltung sich öffnenden Verkörperung macht. Diese Gestaltung vollstreckt die Transkription in Skripten als den „durch das Verfahren lesbar gemachten, das heißt transkribierten Ausschnitte[n] des zugrundeliegenden symbolischen Systems".129 Man schreibt sich gewissermaßen den Text als Gestalt in einen Sinn um. 1 3 0 Dadurch verschwindet der Text im Verstehen. Den Status von Skripten erhalten Symbolsysteme nur dadurch, dass sie transkribiert werden, also aus Präskripten in semantisch auf neue Weise erschlossene Skripte verwandelt werden: „Tatsächlich stellt also jede Transkription die Konstitution eines Skripts dar, wiewohl das Verfahren zunächst auf ein schon vor seiner transkriptiven Behandlung existierendes symbolisches System trifft." 1 3 1 Es offenbart sich damit eine eigentümliche Beziehungslogik von Präskript, Skript und Postskript: Obgleich das Präskript der Transkription vorausgeht, ist es 125 Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger /Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 19 ff., 30. 126 Vgl. als praktisches Beispiel für Transkription als grundlegendem kulturellen Verfahren: Matthias Krings, Osama Bin Laden vs. George W. Bush in Nigeria. Zur lokalen Transkription globaler Ereignisse, in: Cornelia Epping-Jäger/Torsten Hahn / Eberhard Schüttpelz (Hrsg.), Freund, Feind & Verrat. Köln 2004, 252 ff. 127
Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff.; 8. 128 Sonst werden sie als Unsinn abgetan. Vgl. dazu Oliver Jahraus, Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie, Wien 2001, 113. 12 9 Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 19 ff., 30. 130 Transkription ist ein hermeneutisches Geschäft: Christian Stetter, Schrift und Sprache. Frankfurt am Main 1997, 127. 131 Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 19 ff., 30.
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als Skript doch erst das Ergebnis der Transkription. Man darf deshalb nicht davon ausgehen, dass zwischen Präskript/Skript und Transkript ein einfaches Verhältnis der Abbildung besteht. So stellt die narrative Darstellung eines geschichtlichen Ereignisses als Transkript der in den Quellen dokumentierten, aber erst durch die Transkription narrativ selegierten und verbundenen Sachverhalte keine Abbildung dieser Sachverhalte dar, sondern konstituiert sie erst als historisches Ereignis. Die Aussage, dass sich die Geschichte erst im transzendentalen Rahmen des Wissens von ihr konstituiert, 132 expliziert deshalb nichts anderes als die transkriptive Logik der Geschichtsschreibung: Erst aus der Perspektive der darstellenden Transkriptionen der Quellen erhalten diese einen Status als Skript und damit eine Semantik. Die Quellen werden erst durch ihre narrativen Transkriptionen konstituiert und in einer bestimmten Hinsicht lesbar gemacht. Die Transkription überschreibt den Text in einen geäußerten Sinn oder Gehalt. Sofern dieser als „geäußert" erzeugt wird, wird der Text auch schon wieder vernehmlich. Er steht wiederum als Ausdruck vor dem Sinn, dessen Vollzug somit jene Differenz aufreißt, die Generationen von Sprachtheoretikern das Kopfzerbrechen einer Bestimmung des Verhältnisses von Signifikant zu Signifikat bereitete. 1 3 3 Als Moment von Transkription betrachtet, wird die Sache an den ihr zustehenden Ort praktischer Verantwortlichkeit überwiesen. „Transkripte sind also nicht nur keine Abbildungen von Skripten, sondern diese sind ihrerseits auch nicht einfach Derivationen des Transkriptions Verfahrens. Tatsächlich kann man die Relation von Transkript und Skript nach dem Zeichen-Muster der Relation von signifiant und signifié verstehen: Beide lassen sich erst ex post actu - nach dem Verfahren der Transkription - als konstituierte Momente eines synthetischen Ganzen verstehen. Die Transkription konstituiert ein Skript und macht es lesbar, versetzt dieses jedoch zugleich in einen Status, aus dem sich Angemessenheitskriterien für den Lektürevorschlag ableiten lassen, den das Transkript unterbreitet." 134 Das Skript, welches jede Transkription erzeugt und durch das der Text als Verkörperung von Sinn vollzogen wird, geht in seiner Abhängigkeit von jener Transkription, der es seine Existenz verdankt, keineswegs auf. Vielmehr sind Skript und Transkript immer schon auf Postskripte hin geöffnet, welche diese Differenz 132 So Manfred Riedel, Positivismuskritik und Historismus. Über den Ursprung des Gegensatzes von Erklären und Verstehen im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Blühdorn / Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung. Frankfurt am Main 1971, 81 ff. im Anschluss an Johann Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857, hrsg. von Peter Leyh, Stuttgart 1977, 218, 236. 133 Vgl. Christian Stetter, Schrift und Sprache, Frankfurt am Main 1997, 126. Zur ausführlichen Kritik Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 19 ff., 19 ff. 134 Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 19 ff., 33 f.
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auf transkriptive Angemessenheit hin beobachten. Damit sind die Rahmenbedingungen eines rekursiven Spiels gesetzt, innerhalb dessen das erzeugte Skript eine Art Eigenrecht erlangt. 135 Skripte sind in ihrer Behauptung als Lesart des Präskripts immer Postskripten geöffnet, die genau diese Behauptung thematisieren und konterkarieren, indem sie durch einen solchen Anspruch die Stelle des Skripts für sich einzunehmen gedenken. Das ist der Streit der Lesarten im Verfahren. Wenn der Normtext durch den Leser vom Status einer Zeichenkette in Bedeutung überführt wird, entsteht ein Skript. Die Argumentation um die Vertretbarkeit von Lesarten eröffnet dann den Raum von Postskripten. 136 Der Streit der Lesarten etabliert dabei das Skript als Rechtsquelle, wenn sich beide Parteien auf denselben Normtext beziehen. Da aber jede Partei den Bezug der anderen bestreitet, ist der Inhalt der Quelle noch nicht definiert. Die Quelle gibt nicht den Ausschlag, weil sie ein Maß für die streitigen Lesarten enthielte, sondern allein, weil sie gleichermaßen in den Transkriptionen als Skript enthalten ist. Die „Tatsachen" liegen nicht als solche vor, sie sprechen nicht, „sondern wir lassen sie sprechen"; dies geschieht im Rahmen einer Transkription, die dem Präskript den Status eines Skripts zuweist, so wie eine historische Überlieferung „erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandelt" wird. 1 3 7 Dieser Vorgang geschieht allerdings nicht auf beliebige Art und Weise. „Weil es Postskripte gibt, die den Rekurs auf die Differenz von Skript und Transkript leisten, gilt vielmehr umgekehrt: ,Die Quellen haben ein Vetorecht 4 ." 138 Dabei ist für die Logik von Transkriptionsprozessen von konstitutiver Bedeutung, dass sie einen Prozess des rekursiven Bezugs eröffnen, 139 in dem Transkripte auf ihr Recht, ihre Korrektheit, auf andere Möglichkeiten hin zu befragen sind. Zwischen Trans- und Postskript erweist sich die Kontingenz des Skripts. 140 Transkription stellt also „ein grundlegendes Verfahren des Lesbarmachens kultureller Semantik dar, wobei die intramediale reflexive Doppeltheit der Sprache bzw. die intermediale Dualität der ins Spiel gebrachten symbolischen Systeme oder Teilsysteme von entscheidender Bedeutung ist." 1 4 1 Sinn ist nur in Transkripten zu haben und verdankt sich allein der Performanz von Verständigungsprozessen. 135
Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien /Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger /Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 7 ff., 10. 136 Ohne Postskripte ließe sich das Moment von Gewalt nicht thematisieren, das in jeder Transkription liegt. Vgl. dazu Christian Stetter, Schrift und Sprache, Frankfurt am Main 1997, 127. 137 Johann Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857, hrsg. von Peter Leyh, Stuttgart 1977, 218, 236. 138 Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien /Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 7 ff., 10. 139 Vgl. zu diesem Begriff Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Frankfurt am Main 2004, 170. Im Unterschied zur Informatik bildet dieser Begriff hier keinen Gegensatz zur Iteration. 140 Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff., 10.
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IV. Die Logik des Verfahrens Mit dem Übergang von der Auslegung der Texte zur Verknüpfung von Texten im Hypertext ändert sich im juristischen Handeln nicht nur ein äußerer Rahmen, sondern dieses Handeln selbst. Die grundlegenden Probleme müssen neu diskutiert werden. Das gilt vor allem für die wichtige Frage der Legitimität. Der Richter kann Legitimität nicht aus dem Gesetzbuch ableiten, sondern er muss sie sich in seinem Tun verdienen. Die Entscheidung kann daher nicht mehr als Performanz einer vorgeordneten Struktur ausgegeben werden: das wäre die alte Zwei-Welten-Lehre, wonach hinter den Wechselfällen des Verfahrens die ewige Struktur des Gesetzbuches regiert. Sie kann aber auch nicht einfach als Performance hingenommen werden, sonst liefert man sich mit diesem Begriff den Zwängen funktionierender Systeme aus. 142 Jede Performance kann gut oder schlecht sein. Dies ist an ihren immanenten normativen Maßstäben zu überprüfen. Genau wie der Regisseur nicht einfach einen bunten Abend, sondern ein Stück inszeniert, muss der Richter nicht irgendein Verfahren inszenieren, sondern ein Verfahren, das zu einer legitimen Entscheidung führt. Wenn man davon ausgeht, dass im Verfahren Recht nicht angewendet, sondern erzeugt wird, scheint der Faden zwischen Volk und Gesetz, zwischen Rechtsstaat und Demokratie zu reißen. Diese Verbindung ist unter realistischer Einschätzung der tatsächlichen und sprachlichen Bedingungen neu zu knüpfen. Um das Postulat rechtsstaatlicher Demokratie einzulösen, muss man den Prozess der Herstellung von Rechtsnormen im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion zu überprüfbaren Strukturen entwickeln. Ansatzpunkt sind dabei die in der Begründung von Gerichtsentscheidungen erkennbaren Standards der Praxis, welche im Rahmen einer Theorie der Praxis 143 zu verallgemeinerungsfähigen Strukturen fortentwickelt werden. Die Lösung dieses Problems verlangt einen Neuansatz, für den verschiedene Bezeichnungen vorgeschlagen werden: prozedurales Recht, 144 mediales Recht, 145 re141 Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 19 ff., 35. 142 Davor warnt nachdrücklich Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Frankfurt am Main 2004, 222 ff. 143 Dazu schon Friedrich Müller, Fragen einer Theorie der Praxis, in: AöR 95 (1970), 154 ff., sowie ders., Juristische Methodik und politisches System. Berlin 1976, 33 ff. zum Stichwort Explikation; ders./Ralph Christensen, Juristische Methodik. 9. Aufl., Berlin 2004, Rn. 536 ff. 144 Vgl. d a z u Rudolf Wiethölter, Entwicklung des Rechtsbegriffs, in: Volker Gessner/Gerhard Winter (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Opladen 1982, 38 ff.; ders., Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, in: KritV 1988, 1 ff., prozeduralistisches Rechtsparadigma; vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, Kapitel IX.
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flexives Recht 146 usw. 147 Die Rechtsprechung wird danach nicht mehr als Rechtsanwendung begriffen, sondern als Rechtsproduktion. 148 Das Rechtssystem erscheint dann nicht mehr als Gesamtheit der Normen, sondern als Gesamtheit der Handlungen, die Normen erzeugen, das heißt als Kommunikationssystem.149 Von dieser Voraussetzung aus kann man die Rechtsprechung als Rechtserzeugung in Zusammenarbeit mit dem Gesetzgeber und eben nicht mehr als bloße Rechtserkenntnis aus dem Gesetzestext begreifen. Dann stellt sich für den Rechtsstaatsgedanken ein neues Problem: das Normieren des Normierens. 150 Der Rechtsstaat greift zu kurz, wenn er die Anwendung des Rechts fordert, denn dieses wird vom Richter und dem Verfahren mit geschaffen. Weder das Gesetzbuch noch die Methodik kann das Recht vorgeben. Erst im Prozess gewinnt es seine Bestimmtheit. Kann dieser Vorgang der Rechtserzeugung von den verfassungsrechtlichen Vorgaben her überformt werden? Dann müsste im Verfahren die Widerständigkeit des materiellen Rechts als Argumentationsinstanz erhalten bleiben. Bezogen auf die Transkriptivität von Recht siedelt die Frage nach der Legitimität in der Differenz von Präskript und Skript. Das Skript behauptet, das Präskript zu artikulieren und ruft damit die Postskripte auf, welche diese Behauptung thematisieren. Wenn mit dem Postskript eine Position zum Transkribieren eingenommen wird und dieses befragt wird, kann man von einer parasitären Beziehung sprechen. 151 Das Postskript nistet sich in die Transkription ein und zehrt von ihr. Sie muss sich nun beweisen, indem sie sich an das mit ihr vorgestellte Präskript rückwendet und sich als dessen Umschreibung legitimiert. Damit stellt sich die Frage der Legitimierung, die zu einem Teil des fortschreitenden Vorgangs des Transkribierens wird. Wenn man das herkömmliche Abbildmodell mediologisch reformuliert, wird deutlich, dass dabei starke Anforderungen an die Sprache als Medium gestellt werden müssen. Ausgangspunkt der Abbildrelation sind die Normtexte, welche im Ge145
Axel Görlitz, Mediales Recht als politisches Steuerungskonzept, in: ders. (Hrsg.), Politische Steuerung sozialer Systeme. Pfaffenweiler 1989, 13 ff. 146 Gunther Teubner, Reflexives Recht, in: ARSP 1982, 13 ff.; ders., Recht als autopoietisches System. Frankfurt am Main 1989, Kapitel 5; Gunther Teubner/Helmut Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: ZfRSoz 1984, 4 ff.; Helmut Willke, Ironie des Staates, Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt am Main 1992. 147
Vgl. zu einem Überblick von weiteren Begriffen Axel Görlitz (Hrsg.), Postinterventionistisches Recht, in: Jahrbuch für Rechtspolitologie 1. Pfaffenweiler 1989. 148 Vgl. Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht. Baden-Baden 1999, 136. 1 49 Vgl. dazu übereinstimmend für die Diskurstheorie Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main 1981; ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992 und zum anderen aus der Sicht der Systemtheorie: Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984; ders., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1993 und Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System. Frankfurt am Main 1989. 150 Vgl. dazu Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht. Baden-Baden 1999, 149. 151
Dazu Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff.; 18.
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setzbuch enthalten sind. So stellt der Nötigungstatbestand des § 240 StGB das Präskript dar, die Bestimmung des Inhalts des Gewaltbegriffs durch die Anträge der Staatsanwaltschaft die Transkription (Gewalt bedarf keiner körperlichen Zwangswirkung). Der Abstand zwischen Präskript und Transkript wird nicht durch eine schon im Normtext als Rechtsquelle enthaltene Bedeutung überbrückt. Allerdings kann man die Beziehung zwischen Präskript und Transkript einer weiteren Thematisierung unterziehen: Von Gewalt lässt sich nur reden, wenn eine körperliche Zwangswirkung beim Opfer vorhanden ist. So entsteht ein Postskript als weitere Lesart des Normtextes. Dieses Postskript nutzt die schon etablierte Beziehung zwischen Präskript und Transkript parasitär aus. Für die juristische Methodenlehre stellt sich das Problem, die ständige Parasitierung der Beziehung zwischen Quelle und Lesart einzudämmen, denn auch der Richter muss als Voraussetzung eines Urteils einen Leitsatz entwickeln, der sich zwischen den konkurrierenden Lesarten des Gewaltbegriffs entscheidet. Die herkömmliche Methodenlehre will dem Richter dadurch helfen, dass sie ihm ein Mittel an die Hand gibt, um das parasitäre Wuchern einer Vielzahl von Lesarten zu reduzieren. Dieses Mittel ist die wahre Bedeutung des Textes. Sie erlaubt es, eine Grenze zu formulieren, jenseits derer das vorgeschlagene Postskript illegitim ist. Die Ersetzung des Präskripts durch Skripte ist nur legitim, wenn sie die wahre Bedeutung des Präskripts widerspiegelt. Um den Parasit abweichender Postskripte auszumerzen, sucht man Zuflucht bei der wahren Bedeutung des Textes als propositionaler Struktur. Das ist die Strategie einer Wortlautgrenze als semantischer Grenze des Gesetzesverstehens. Die Verschiedenheit der Postskripte soll einen Maßstab finden in einem gemeinsamen gedanklichen Gehalt, der eine technische Lösung des Transkriptionsproblems erlaubt. Nach dieser Auffassung ließe sich immer ein Bedeutungsgehalt erkennen, der in Form von Propositionen dem Präskript und seiner Umschreibung gemeinsam wäre. Kontrolliert und sicher bei der Hand genommen wäre diese Transkription durch die von ihr unberührt bleibende gemeinsame Proposition. Dies mag als einfache Erklärung einleuchten. Allerdings löst sich diese Plausibilität in Luft auf, sobald die ebenso bescheidende wie nahe liegende Frage gestellt wird, was denn nun diese Propositionen sind. Sind sie geistige, intentionale Entitäten, logische Konstrukte, mentale Bilder? Blitzschnell füllen sich die Regale der Bibliotheken. Um der gemeinsamen Proposition habhaft zu werden, muss sie jedenfalls formulierbar sein. Dies kann nur in einer Sprache geschehen. Die Annahme einer gemeinsamen Bedeutung geleitet also die Transkription keineswegs auf sicheren Bahnen zur wahren Bedeutung. Sie vermehrt die Bedeutungen, denn auch die Sprache der Propositionen will transkribiert und damit verstanden sein. „Somit müsste ich eine dritte Sprache einführen, um die Wahrheit der Proposition, die von der ersten und zweiten transportiert wird, zu bestätigen. Doch diese Operation könnte nur mit der Einführung einer vierten zu den ersten dreien gewährleistet werden und so weiter." 1 5 2 Die magische Sprache der Propositionen liefert also dem Beurteilen von Postskripten kein sicheres Gerüst. Der Parasit wird lediglich unsichtbar gemacht.
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Wenn man den Parasiten ausrotten will, führt dies dazu, dass die Transkription nicht mehr problematisiert werden kann. Juristen kennen das als die Prätention einer Rechtserkenntnis aus dem Gesetz, die jede sie thematisierende Einrede als unangebracht abweist. Es ist dies der Duktus einer juristischen Semantik, die sich mit dem Normtext allein schon im Besitz seiner Bedeutung glaubt und von daher meint, andere Sinngebungen als Abweichung oder Fehler zurückweisen zu können. Nimmt man das Verfahren als Übergang vom Präskript des Gesetzes in das Skript der Rechtsnorm ernst, so ist dem Postskript in Gestalt der widerstreitenden Rechtsmeinungen ein ganz anderer Sinn von Kritik zuzubilligen, nämlich als reflexive Position: als Relation auf die Relation, wie sie in den Verhältnissen von Skript und Postskript impliziert ist. 1 5 3 Das im Postskript praktizierte parasitäre Moment anzuerkennen, heißt aber nicht, es einfach zu affirmieren; vielmehr kommt es darauf an, „Störungen in ihrer spezifischen Ambivalenz, prozessual: ihrer Umschlägigkeit zu beobachten."154 Auf diesem Wege muss das Kunststück gelingen, dem notwendig in Pluralität zerstiebenden Recht auf rechtliches Gehör in einer Weise Rechnung zu tragen, dass zugleich der Gesetzesbindung Genüge getan ist. Das Gesetz löst sich zunächst in die Vielfalt und mehr noch den Widerstreit der Lesarten auf. 155 Jede der Parteien stört die andere auf. Damit erfolgt eine gegenseitige Parasitierung. 156 Um die Anforderungen an ein legitimes Verfahren zu gewinnen, ist dieses Verhältnis in seiner „performativen Logik" 1 5 7 zu beleuchten. Die neuere Medientheorie entfaltet dafür ein Verhältnis von Störung und Transparenz, das diese zueinander in Beziehung setzt und das sich dann auch in die Performanz von Legitimität durch die Argumentation im juristischen Verfahren eintragen lässt. 158 Beides, Störung und Transparenz sind danach zwei polare Zustände der Verständigung, die auf zwei entsprechende Modi der Sichtbarkeit verweisen. „In der Störung zeigt sich das Medium 152
David B. Allison, Die Differance der Übersetzung, in: Alfred Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt am Main 1997, 375 ff., 382. 153 Dazu Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff., 18. 154 Dazu Georg Stanitzek, Transkribieren. Medien/Lektüre: Einführung, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, 7 ff., 18. 155 Vgl. zu den Anforderungen, die das Recht für die Entscheidung des Widerstreits stellt: Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. 8. Aufl., Berlin 2003, 359. 156 Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 2004, 37 ff., 27 ff. Dies im Anschluss an den Begriff der „strukturellen Parasitierung" bei Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Limited Inc. Wien 2001, 15 ff., 21. 157 Vgl. Sybille Krämer, Was haben ,Performativität' und ,Medialität' miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ,Aisthetisierung' gründende Konzeption des Performativen, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 20.4, 13 ff., 14. 158 Siehe Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004, 37 ff., v. a. 41 ff.
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selbst, in der Transparenz ist es umgekehrt das Mediatisierte, welches wahrnehmbar wird." 1 5 9 Entscheidend ist nun, dass sich Verständigung in einem beständigen Wechselspiel von Störung und Transparenz vollzieht. Das Umschreiben des Präskripts stellt Sinn und damit Transparenz her. Mit der Wahrnehmung des Ausdrucks kann diese Transparenz durch Problematisierung aufgestört werden. Diese Störung muss dann durch eine erneute Überführung in Transparenz beseitigt werden. Wenn das Postskript dann das entsprechende Skript ausdrücklich macht, indem es die erfolgten Transkriptionen zur Disposition stellt, kann man auch sagen, dass in einem beständigen Übergang von Transparenz in Störung und von Störung in Transparenz Implizites explizit gemacht wird und umgekehrt. 160 Daraus ergibt sich, dass Störungen und ihre transkriptive Bearbeitung ein zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion darstellen. Störung wird so zu einem „ProduktivitätsPrinzip sprachlicher Sinngenese".161 Das Eintreten von Störungen und ihre Überführung in Transparenz können dabei nicht mehr schlicht in das Verhältnis von Fehler und Korrektur eingezwängt werden, denn das Präskript verdankt seine Stellung der Transkription, und es fehlt ein von der Transkription unabhängiger Bezugspunkt. Im Übrigen macht sich auch noch einmal die im Konzept von Performanz und Transkriptivität vollzogene Abkehr vom Paradigma des Referentiellen und Repräsentativen bemerkbar. 162 Für das Wechselspiel von Störung und Transparenz ist es jedenfalls erst einmal offen, wohin es führt. Und so heben sie gleichsam den Vorhang für „eine semantische Aushandlungsbühne für die sprachliche Sinnkonstitution sowohl für die metaleptische Konstruktion der eigenen Redeintention, als auch für die interaktive Verständnissicherung im performativen Vollzug der Redeentfaltung. Sprechen und Schreiben verfahren also insofern transkriptiv, als bei beiden Arten symbolischer Performanz in den produktiven Prozess der Zeichenhervorbringung konstitutiv rezeptive Momente der Selbstlektüre eingebaut sind, die sich als Formen der Selbsttranskription beschreiben lassen." 163 Das Postskript parasitiert die Beziehung zwischen Präskript und Transkript. Aber wir können den Parasiten nicht ausmerzen, weil wir ohne ihn gar nicht kom159 Vgl. Sybille Krämer, Was haben »Performativität' und ,Medialität' miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ,Aisthetisierung' gründende Konzeption des Performativen, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004, 13 ff., 25. 160 Sybille Krämer, Was haben ,Performativität' und ,Medialität' miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ,Aisthetisierung' gründende Konzeption des Performativen, in: dies. (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004, 13 ff., 25. 161 Siehe Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004, 37 ff., 41. 162 Ausführlich dazu Ludwig Jäger, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger /Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. München 2002, 19 ff., 19 ff. 163 Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 2004. 37 ff., 46 f.
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munizieren könnten. Deswegen stellt sich die Frage, wie man sich mit ihm arrangieren kann. Der Parasit unterbricht durch Störung die Sinnproduktion. 164 Diese Unterbrechung durch Störung ist ambivalent, weil sie sowohl zur Zerstörung als auch zur Entwicklung des Systems beitragen kann. Wenn sich ein System an einen Parasiten gewöhnt, verwandelt sich der störende Lärm in sinnhaftes Rauschen.165 Allerdings produziert der Parasit keine Bedeutung, sondern zwei entgegengesetzte Bedeutungen.166 Er ist gerade die Differenz der Entgegensetzung als thermischer Erreger des Konflikts. 167 Das Parasitäre 168 im Postskript kann daher nicht nur Bremse, sondern zugleich ein Motor des Verfahrens sein. Es signalisiert keinen Defekt der Äußerung und keine performative Aberration von einer präverbalen Redeintention; vielmehr fungiert es „als Fingerzeig für die Notwendigkeit der transkriptiven Weiterbearbeitung der Äußerung". 169 Im juristischen Verfahren ist der Konflikt gegenläufiger Lesarten geradezu das Movens des Verfahrens einer Rechtserzeugung aus dem Normtext. 170 Die auf den Normtext bezogenen Argumente der Parteien entfalten ein kompliziertes Spiel der Differenz- und Identitätsbildung. Man kann dies als Vorgang „der Irritation und Wiedereinpendelung des parasemischen Gleichgewichts" begreifen. 171 Unter der Notwendigkeit von Entscheidung gewinnt dies seinen besonderen Charakter, der dann auch auf den Vollzug von Legitimierung verweist. Das Besondere besteht darin, dass die divergierenden Lesarten der Parteien jeweils nur einseitig als „Störung" gesehen werden. Entsprechend sind die Postskripte in einem zwischen ihnen oszillierenden Prozess abzuarbeiten, indem sie entweder durch ihren Bestand in Transparenz gewendet oder aber durch Abstoßung ungeschehen gemacht werden. Die beiden der Argumentation vor Gericht einschlägigen Praktiken für diese „Aufzehrung" von Postskripten als Störung entweder durch Absorbierung oder Elimination sind die Integration und die Widerlegung von Argumenten. Mit ihnen wird Geltung 172 hergestellt, gewissermaßen als eine Einkehr der Umschreibung von
164 Vgl. d a z u u n d Z U m Folgenden Matthias Kronenberger, Der Parasit der Überzeugungsbildung. Diss. iur., Frankfurt am Main 2005. 165
Vgl. dazu Michel Serres, Der Parasit. Frankfurt am Main 1981, 284. 166 Michel Serres, Der Parasit. Frankfurt am Main 1981, 288. 167 Michel Serres, Der Parasit. Frankfurt am Main 1981, 299. 168 Parasit ist also nicht das Subjekt, sondern das, was diesem zu denken gibt. Vgl. dazu Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen. Berlin 1993, 80. 169 Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität. München 2004. 37 ff., 47. 170 Vgl. Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I. 9. Aufl., Berlin 2004, Rn. 180, 190, 351, 506, 535. 17 1 Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München 2004. 37 ff., 48. 172 Vgl. zu dem dabei vorausgesetzten Begriff argumentativer Geltung grundlegend Harald Wohlrapp, Argumentative Geltung, in: Harald Wohlrapp (Hrsg.), Wege der Argumentationsforschung, Stuttgart 1995, 280 ff.
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Normtext zu Recht zu sich selbst zurück, die aufgrund ihres argumentativen Erfolges als legitim beansprucht werden kann. Die Logik des Verfahrens fordert, den Text von Recht durch den Widerstreit der Lesarten als dessen Transkription in Arbeit zu nehmen. Praktisch lässt sich der Gang dieser Arbeit am Text von Recht als semantischer Aushandlungsprozess entlang der Grundzüge der Argumentationssituation beschreiben. Die von den Parteien vorgetragenen Umschreibungen des Normtextes in Recht schließen sich gegenseitig aus. Dies macht den Streit aus. Die Stellungnahme einer Partei ist jeweils Postskript zur Stellungnahme der anderen. Keine der beiden Lesarten ist damit evident, denn ihre Transparenz wird von der gegnerischen Lesart gestört. Beide machen aber mit ihren widerstreitenden Lesarten deutlich, dass es um denselben Gesetzestext als Präskript geht. Wenn das Gericht entscheiden will, muss es den argumentativen Streit der Parteien nutzen. Am Ende des Verfahrens kann dann eine Lesart evident sein. Aber diese Evidenz ist keine, die an das Bewusstsein der beteiligten Personen gebunden ist, sondern es ist eine Evidenz, die im Verfahren erst erzeugt wurde. Wenn alle gegnerischen Argumente integriert oder widerlegt sind, wird die verbleibende Lesart evident. Integrieren erfolgt, wenn Störung durch gelungene Absorbierung in Transparenz umgemünzt wird. Widerlegen gelingt, wenn das gegnerische Postskript durch Verdrängung getilgt wird, indem der von ihm behauptete Bezug zum Gesetzestext zerrissen wird. Alle Störung ist dann beseitigt und es bleibt nur noch die geltende Lesart in vollkommener Transparenz.
V. Der Aufschub des Rechts Wenn Juristen urteilen, ist die Abwesenheit eines Kriteriums ihr Gesetz. Deswegen urteilen sie nicht allein, sondern führen ein ganzes Verfahren durch und binden den Richter über eine komplexe Medienkonstellation an die vorgebrachten Argumente. Stilisiert man diesen komplexen Vorgang als Erkenntnis, werden alle relevanten Faktoren invisibilisiert. Die traditionelle Methodenlehre begrenzt und verendlicht das, was ein Richter leisten muss, auf eine einzige Aufgabe: die korrekte Erkenntnis des Gesetzesinhalts. Das Skript liegt schon fest, er muss die Rolle nur ausfüllen. Der Bereich seiner Verantwortung ist zwar genau umrissen, bleibt aber endlich und überschaubar. Wenn das Recht aber nicht erkannt, sondern erst erzeugt werden muss, ist Verantwortung unendlich weit entfernt und gleicht einem Gespenst. Aber in diesem scheinbaren Mangel der neuen Sichtweise liegt ein Gewinn: „Ich muss also einem Gespenst gehorchen, und die Entscheidung findet statt, während ich unter dem Gesetz oder vor dem Gesetz des anderen stehe, leidenschaftlich aktiv und passiv. ( . . . ) Und selbstverständlich ist eine begrenzte oder endliche Verantwortung eine Unverantwortlichkeit. Sobald man durch ein bestimmendes Urteil weiß oder zu wissen glaubt, was die eigene Verantwortung ist, gibt es keine Verantwortung. Damit eine Verantwortung eine Verantwortung ist, muss man, sollte man wissen, was immer man wissen kann. Man muss versuchen, das Maximum zu wis-
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sen, doch der Moment von Verantwortung oder Entscheidung ist ein Moment des Nicht-Wissens, ein Moment jenseits des Programms. Eine Verantwortung muss unendlich sein und jenseits jeder theoretischen Gewissheit und Bestimmung." 173 Eine realistische Sicht auf die Komplexität des Verfahrens kann dem Richter seine Verantwortung nicht abnehmen, doch kann sie helfen, das erreichbare Maximum zu wissen. Die Entscheidung verschwindet nicht in diesem Wissen; aber ohne dieses Wissen ist es keine verantwortliche Entscheidung. Jede Umsetzung des geltenden Rechts ist unvermeidbar auch dessen Verschiebung, Anreicherung, Komplizierung. Trennt man Erkenntnis von Verantwortung, entfällt das gewohnte Kriterium für die richtige Entscheidung. Worin liegt dann der Unterschied zwischen der Performanz des Rechts und der Performanz der Macht? Der Macht geht es um Dezision, die mit Verfahren und Argumentation nichts zu tun hat. Nur das Ergebnis zählt. Doch der Traum des Dezisionismus von der Aufhebung des Konflikts in der Entscheidung ist nicht einlösbar. Der Konflikt bleibt, denn es hätte ja auch anders entschieden werden können. Deswegen braucht man die Begründung. Aber natürlich reicht auch das nicht, denn die Entscheidung hat etwas entschieden, was durch Erkenntnis nicht entschieden werden kann. Deswegen gibt es das Verfahren und die Argumentation. Sie ziehen die Streitparteien in die Entscheidung hinein. Auch dadurch wird der Konflikt nicht gelöst, aber er hat im Durchlauf durch die Kühlsysteme des Verfahrens seine Temperatur geändert. Die abgegebene Hitze verändert natürlich auch das Kühlsystem, das durch Rückkopplung neu justiert werden muss. Allein durch laufende Änderung bleibt es stabil. Dem Recht geht es um Aufschub durch Supplemente. Nur so gerät es in Metamorphosen und bleibt lernfähig. 174 Recht ist damit die Verzögerung und Erschwerung des Machtspruchs durch Verfahren, Argumentation und Begründung. Der Entzug des Rechts aus dem Gesetz in das Verfahren, von dort in das Urteil, seine Begründung und die daran anschließende Kritik kann begriffen werden als ein von den Regeln der Kunst geordneter Versuch, die Verdinglichung der Gerechtigkeit zu verhindern. Recht ist aus dem Streit der Parteien erst zu erzeugen. Erzeugen heißt aber nicht etwas zu machen, das gerade fehlt, etwas, das abwesend ist, anwesend zu machen - das wäre nur eine Verlängerung der Präsenzmetaphysik. Recht ist weder im Gesetzestext anwesend, noch im Vortrag der Parteien oder in der richterlichen Begründung. Recht existiert als Aufschub. Weil wir es im Text nicht finden können, sprechen wir. Da wir uns im Sprechen aber nicht einigen können, muss entschieden werden. Nachdem auch anders entschieden werden könnte, braucht man eine Begründung. Diese überzeugt nicht immer, deswegen gibt es Rechtsmittel. Auch die Rechtsmittel können den Streit nicht beenden, aber es bleibt die Verfassungs173
Jacques Derrida, Als ob ich tot wäre. Wien 2000, 41 f. Vgl. dazu Niels Werber, Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht, in: Uwe Wirth (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, 366 ff., 381. 174
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beschwerde. Selbst diese überzeugt nicht alle, so dass in der Literatur weiter gestritten wird. Der Aufschub des Rechts lässt sich nicht beenden. Trotzdem ist etwas erreicht: Das Gefühl des Unrechts ist ein Stück weit artikuliert und der semantische Kampf zur Argumentation kultiviert. Das Ergebnis ist bestimmt kein Urteil, wie es im Buche steht, aber sicher wird es noch häufig zitiert.
Grenzüberschreitungen vom Wörterbuch zum Informationssystem Das Deutsche Rechtswörterbuch im Medienwandel* Von Heino Speer I. Wörterbuch und Medienwechsel Das Deutsche Rechtswörterbuch 1, um das es hier gehen wird, ist eines der großen Projekte der deutschen Wortforschung und erfasst den Wortschatz des Rechtslebens vom Beginn der schriftlichen Überlieferung (in merowingischen Urkunden des 5. Jahrhunderts) bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Zwar nennt es sich deutsches Rechtswörterbuch, aber in dem Sinn, in dem Jacob Grimm diesen Begriff als Synonym für das Westgermanische benutzte. Bislang sind fast elf Bände erschienen - 16 Bände sollen es werden und die Fertigstellung wird noch etwa 25 Jahre in Anspruch nehmen. Die Konzeption des Wörterbuchs stammt aus der Zeit der Hochblüte der deutschen historischen Lexikographie; auf die damit verbundenen Probleme wird noch einzugehen sein. In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Wörterbuch konsequent den Weg zum Einsatz der neuen Technologien in der Lexikographie beschritten und damit eine Medienerweiterung vom Druckwerk zum Internetwörterbuch vorgenommen.2 Medienwandel ist zunächst ganz banal ein Wandel des Produktions-, des Speicher- und des Präsentationsmediums. Die jedem Lexikographen, jeder Lexikographin vertraute Aporie zwischen möglichst ausführlicher Ausbreitung des lexikographischen Materials und Wissens auf der einen Seite und dem notwendigen Zwang, in jeder Lieferung des Druckwerks eine bestimmte Anzahl von Wortartikeln und - als deren Grundlage - soundsoviel tausend Archivzettel verarbeiten zu müssen, könnte im digitalen Medium aufgehoben sein. Gerade hier aber bewährt Dieser Aufsatz führt Überlegungen fort, die ich in einem Beitrag zur Festschrift für Oskar Reichmann begonnen habe: Heino Speer, Rechtssprachlexikographie und neue Medien. In: Das Wort: Seine strukturelle und kulturelle Dimension; Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Vilmos Agel... (Tübingen 2002) 89-110. 1
Deutsches Rechts Wörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, Band I X I (Weimar 1914 - 2007), zitiert als: DRW. 2 „Mit der kostenfreien Internetpräsentation der gedruckten Bände und weiterer Materialien einschließlich digitalisierter Quellen (seit 1999) ist das DRW auf dem Feld der historischen Wörterbücher ein Pionier bei der Nutzung der neuen Medien." So heißt es in einem Artikel über das DRW in Wikipedia.
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sich die wechselseitige Rückbindung beider Medien. Publikationsnorm ist der sorgfältig berechnete Umfang des Druckwerks. 3 Wenn aber auf die absolute Identität zwischen beiden Publikationsformen verzichtet wird, öffnen sich in der digitalen Publikation eben jene Möglichkeiten, die es im Druckwerk nicht geben konnte. Der digital nahezu grenzenlos zur Verfügung stehende Publikationsraum will zwar wissenschaftlich verantwortlich genutzt werden, aber eine Vielzahl von bislang nur werkstattintern 4 oder gar nur in der lexikographischen Phantasie vorhandenen Möglichkeiten könnte hier realisiert werden. Dazu gehört die partielle Abbildung des Wörterbucharchivs, die etwa ab dem Buchstaben „ M " im DRW verwirklicht worden ist. Da ein erheblicher Teil der im Archiv belegten Wörter aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in einem Wortartikel bearbeitet werden kann, werden diese Wörter in einer Minimalversion Online dokumentiert, so dass Lemma, Wortart, früheste Belegung mit Fundstelle und die Anzahl der im Archiv vorhandenen Zettel, aber ohne Bedeutungserklärung, präsentiert werden. Damit wird das Archiv des DRW für alle Untersuchungen verfügbar gemacht, die nicht im zentralen Interesse des Wörterbuchs selbst liegen wie etwa Wortschatzuntersuchungen. 5 Belegwörterbücher sind geprägt durch Belegzitate, die ihre Funktion, die Bedeutungserklärung zu illustrieren und verifizieren, unter der einschränkenden Bedingung des knappen Druckraumes erfüllen müssen. Die Kunst des Belegschnittes, die ein Höchstmaß an Information mit dem geringstmöglichen Platzverbrauch kombinieren muss, führt in der lexikographischen Praxis zu Blüten, die sich naturgemäß nur jenen seltenen Lesern der Wörterbücher erschließen, die genötigt sind, auf die Quelle selbst zurückzugehen. Der Vergleich zwischen der scheinbar quellennahen Syntax des Belegzitates und dem Originaltext vermag den Leser manchmal zu verblüffen, wenn etwa das Stichwort durch Auslassungszeichen syntaktisch mit einem Textteil verbunden wird, der sich erst einige Seiten später findet. Aus diesem Grund ist die Rekontextualisierung des Belegtextes ein unschätzbarer Vorteil des Medienwandels: Durch die Rückkopplung der Belege entweder an Faksimiles oder an Volltexte der jeweiligen Edition erhält der Benutzer die Möglichkeit, den Belegschnitt im Gesamtkontext zu überprüfen, ohne eine Bibliothek aufsuchen zu müssen.6 3 Im DRW sind es 16 Bände mit je 1.600 Spalten in fünf Doppellieferungen und einem Publikationsrhythmus von einem Jahr je Doppellieferung. Je Doppelheft sollen 16 Archivkästen mit jeweils ca. 1.500 Archivzetteln verarbeitet werden. 4
Schweizerisches Idiotikon I (Frauenfeld 1881) Sp. VIII: „Uebrigens ist, wohlverstanden, was nicht zum Drucke gelangen konnte, darum doch nicht verloren; wir machten es uns vielmehr zur Gewissenssache, dies alles sorgfältig zurückzulegen mit der Absicht, das ganze ungedruckte oder nicht vollständig abgedruckte Material zusammen mit allen irgendwie aufhebenswerten Originalbeiträgen, der Correspondenz und den erst je weilen nach dem Drucke einlaufenden Beiträgen dereinst auf einer öffentlichen Bibliothek niederzulegen und so der Benutzung zugänglich zu machen bis auf Weiteres." 5 Hierbei sei angemerkt, dass der Zeitaufwand hierfür sich in Grenzen hält und jedenfalls die Gesamtlaufzeit des Wörterbuchs nicht verlängert.
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II. Cross-Media-Publishing als lexikographische Chance An einem Beispiel soll verdeutlich werden, wie die Möglichkeiten einer digitalen Version des Deutschen Rechtswörterbuchs genutzt wurden, um ein mit der Stichwortauswahl verbundenes besonderes Problem des DRW zu lösen. Die Unterscheidung von Allgemein- und Rechtssprache ist erforderlich, um den Gegenstandsbereich eines Wörterbuchs der deutschen Rechtssprache nach halbwegs handhabbaren Kriterien festlegen zu können. In der Einleitung zu Band I des Deutschen Rechtswörterbuchs 7 wird demnach auch der Gegenstandsbereich des Wörterbuchs bestimmt und es werden Trennungskriterien für Rechtswörter und Nichtrechtswörter mit Beispielen vorgelegt. An derselben Stelle findet sich aber auch eine Entscheidung über die Nichtbehandlung von Fremdwörtern: Diese gravierende Einschränkung des Objektbereichs beruhte nicht auf sachlich orientierten Argumenten wie den Kriterien für die Auswahl des Rechtswortbestandes, sondern hier kam ein besonderer Fall der Ideologie ins Spiel: Der Sprachpurismus. 8 Als im Jahr 1893 der Berliner Rechtshistoriker Heinrich Brunner in einer Rezension englischer Publikationen in der Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte die Forderung nach einem Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache erhob, war sein Anliegen eindeutig von einem sprachpuristischen Impetus getragen: „Durch die Vernachlässigung des heimischen Sprachschatzes ist unsere heutige Rechtssprache entsetzlich blutleer geworden; sie kann nicht durch gekünstelte Übersetzungen lateinischer Rechtsausdrücke nach dem Muster Windscheids oder des in erster Lesung zu Stande gekommenen Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches, sondern nur aus dem Borne der älteren deutschen Rechtssprache wieder aufgefrischt werden." 9 Für die Konzeption des 1896 / 97 dann tatsächlich ins Leben gerufenen Deutschen Rechtswörterbuchs wurden die Folgen dieser Haltung im Vorwort zu Band I 1 0 beschrieben: „Fremdwörter sollen ausgeschlossen bleiben, war doch von vornherein die Aufzeichnung und Festhaltung des deutschen Wortschatzes der Rechtssprache der 6 Diese Unabhängigkeit von lokal gebundenen Ressourcen stellt einen der größten Vorteile von Internetpublikationen dar. Die Aufhebung der Bindung von Information an körperlich greifbare Druckwerke ruft allerdings auch bei Verlagen Besorgnisse hervor, die im Rahmen der Debatte über eine Reform des Urheberrechts zu merkwürdigen Hilfskonstruktionen führt. 7 DRW I p. 10f. 8 Literatur hierzu: Alan Kirkness, Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789-1871. Eine historische Dokumentation. 2 Teile. Tübingen 1975. 9 Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 14 (1893) 165. Dass diese Haltung sich weitervererbte, wundert nicht. So schreibt Walther Merk in seiner 1933 gehaltenen Marburger Universitätsrede über „Werdegang und Wandlungen der deutschen Rechtssprache" (Marburg 1933) S. 20f.: „Überfremdet wurde zunächst der Wortschatz der deutschen Rechtssprache. Der erste Schrittmacher der fremden Rechtswörter war im 15. Jahrhundert ein an Halbwissende und Halbgebildete sich wendendes flaches Rechtsschrifttum, welches das römische Recht den Schreibern der Amtsstuben mundgerecht zu machen suchte ..." 10 p. 8f.
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eigentliche Zweck der Arbeit. Die Entscheidung ist jedoch nicht immer sicher. Schon nach den ersten Beschlüssen sollten Berücksichtigung finden die Lehnwörter im Deutschen ... Wir haben bei der praktischen Arbeit es für zweckmäßig befunden ... auch gewisse Mischwörter . . . ; ferner Zusammensetzungen aus einem Fremdwort und einem deutschen Wort 11 : wie ,Amtsdeputat4, ,Waldregister 4 usw. [aufzunehmen]." So begann die Geschichte der Behandlung von Fremdwörtern im Deutschen Rechtswörterbuch, eine leidige und in sich niemals stimmige Gratwanderung zwischen sprachpuristischem Anliegen einerseits und dem praktischen Bedürfnis der Darstellung des im deutschen Recht üblichen Sprachgebrauchs andererseits. Seit 1989 werden nach einem Beschluss der Kommission der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Deutsche Rechts Wörterbuch Fremdwörter wie alle anderen Wörter im Deutschen auch behandelt. Entscheidend sind allein die üblichen Kriterien: Ist es ein Rechts wort, ist es - als Simplex - vor 1800 oder als Kompositum - vor 1700 erstmals belegt? Viele Wörter, die heute im Deutschen Rechtswörterbuch behandelt werden, wären in früheren Zeiten ausgeschieden worden. 12 Es ist erfreulich, dass der Erlanger Germanist Horst-Haider Munske daher schon 1988 in einer Rezension des siebten Bandes13 feststellen konnte: „Für den Sprachhistoriker ergibt sich der überraschende Befund, dass das RWb, zumindest in seinen jüngeren Teilen, ein ausgezeichnetes historisches Fremdwörterbuch des Deutschen ist." Dies ist insofern überraschend, als das Archiv des Deutschen Rechtswörterbuchs für die einzelnen Fremdwörter naturgemäß eine höchst unterschiedliche Exzerptionsdichte aufweist. Behandeln wir heute ein Fremdwort, so kann es sein, dass wir den größten Teil der Belege aus anderen Quellen als dem Zettelarchiv des Wörterbuchs schöpfen müssen. Zwar gibt es auch Hilfsmittel, insbesondere Wörterbücher wie das Deutsche Fremdwörterbuch oder das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch, Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts, Glossare und Register aller Art. Aber all dies kann die Auswertung der etwa 7.800 Quellensiglen umfassenden Quellenbasis des Deutschen Rechtswörterbuchs nicht ersetzen. Freilich nicht in der Form einer Nachexzerption, die schon aus Kostengründen nicht hätte geleistet werden können. Entscheidend ist hier der Wechsel der Produktionswerkzeuge, den das DRW Ende der 80er Jahre erfolgreich vollzogen hat und der unversehens zu einem Medienwandel mit auch heute noch nicht ganz absehbaren Konsequenzen geworden ist. 14 Hierdurch ist das gedruckte Wörterbuch mit inzwischen rund 8.500 Druckseiten im Lexikonformat selbst zu einer maschinenlesbaren Quellenbasis des DRW geworden.
H. H. Munske (Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 99 (1988) 5-17.) nannte sie mit berechtigtem Sarkasmus Halbarier. 12 Andererseits sind früher Wortartikel verfasst worden, die den heutigen strengeren Anforderungen an ihre Rechtlichkeit nicht standhalten würden, man vergleiche z.B. die Wortstrecken am Ende von Band VI. 13 Vgl. Fn. 7. 14 Über ihn berichtet: Heino Speer, DRW to FAUST Ein Wörterbuch zwischen Tradition und Fortschritt, in: Lexicographica 10 (1994) 171-213.
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Die Fremdwortfeindlichkeit des längst überholten Sprachpurismus im DRW zeigte sich unter anderem darin, dass ein Wort wie Jurisdiktion nach den Kriterien des Deutschen Rechtswörterbuchs als ein reines Rechtswort hätte behandelt werden müssen - wenn es eben kein „Fremdwort" wäre. Und so findet man im Druck 15 nach dem Wortartikel juridischunbedingt und vor dem Artikel Jurisdiktionalamt ein merkwürdiges Zwittergebilde: „(Jurisdiktion) s. Ämter-(N), Amts-, Bergamts-, Brunnen-(N), Forst-(N), Geleits-(N), Grund-, Hardes-, Hof(gerichts)-, HofratsKammer(gerichts-), Kapellen-, Kirchen-, Landes-, Landgerichts-, Lehn-, Oberalten-, ObergerichtsRats-, Reichs(gerichts-), Samt-, Stadt-, Untergerichtsjurisdiktion. " Dies soll besagen, dass es Komposita mit Jurisdiktion als Grundwort gibt, die erst nach dem Druck der entsprechenden Wortstrecke als Nachtrag in das Archiv gelangt sind (dies kennzeichnet das „N") oder aber bereits gedruckt sind oder noch gedruckt werden sollen. Zu dem Wort Jurisdiktion selbst aber erfährt der Leser nichts. Die Überprüfung des gedruckten Werkes ergab, dass von den aufgezählten Wörtern nur Bergamts-, Grund-, Hardes-, Hof-, Hofgerichts-, Hofrats-, Kammer-, Kammergerichts-, Land-, Landgerichts- und Obergerichtsjurisdiktion gedruckt sind. Teils in der Datenbank, teils im Druckwerk finden sich weiterhin: Kapitel-, Krieg-, Ober-, Oberamt- und Ortjurisdiktion. Wie steht es aber mit dem Wort Jurisdiktion selbst? Wie häufig kommt es in unseren Texten vor? Dazu müssen wir erst einmal die Quellenbasis einer solchen Textrecherche benennen: In der Datenbank des DRW lagen Mitte der neunziger Jahre, als der (fast) virtuelle Wortartikel Jurisdiktion zusammengestellt wurde, die Bände VII bis IX von Kanzlei bis Notrust mit etwa 20.000 Wortartikel vor, eine Materialbasis, die eine gewisse Repräsentativität gewährleistete. Und so ergab eine Recherche in der Datenbank damals nahezu hundert Belegtexte, aus denen der Wortartikel Jurisdiktion zusammengestellt wurde. Schlägt man den Artikel heute im Internet auf, so wird man ganz am Ende mit den neuesten Suchmöglichkeiten im DRW konfrontiert: es gibt zusätzlich 292 potentielle 16 Funde im Wörterbuch und 63 potentielle Funde im Textarchiv. An den obigen Beispielen sollte deutlich geworden sein, dass der Medienwandel der letzten zwei Jahrzehnte erhebliche Auswirkungen auf Arbeitsweise und Publikationsverhalten der Lexikographen haben musste. Die jedem Druckwerk innewohnende Endgültigkeit des Gedruckten, aufhebbar höchstens durch letztlich ebenso endgültige Corrigenda am Schluss des Werkes, ist ergänzt worden durch die grundsätzliche Veränderbarkeit der digital gespeicherten Inhalte, die eines der Ziele der Konvertierung vom gedruckten Wörterbuch zur Online-Datenbank war. 15 Band VI [1961/1972] Spalte 621. 16 „Potentiell" deswegen, weil lediglich ein Vergleich der im Wortartikel als Stichwörter gekennzeichneten Zeichenketten mit identischen Zeichenketten in allen Belegtexten vorgenommen wird. Eine Unterscheidung von Homonymen oder ein Vergleich von identischen Substantiv- und Verbformen ist auf dieser Ebene nicht möglich. 17 Dazu gehört der - gegenüber dem Wortartikel - früheste Beleg von 1298, also etwa sechzig Jahre vor der bisherigen Erstbelegung.
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Im Rahmen der Retrodigitalisierung des Rechtswörterbuchs war es von Anfang an nicht um eine hl-Abbildung des Druckwerkes gegangen, sollte doch der maschinenlesbare Text ein verlässliches, möglichst fehlerfreies Referenzwerk für künftig zu schreibende Wörterbuchstrecken werden. Fehlerquellen gab es vor der Einführung eines digitalen Redaktionssystems wesentlich mehr als heute. Beispielsweise hatte der Zeitdruck bei der lexikographischen Arbeit die Lexikographen häufig dazu verführt, Quellensiglen aus dem trügerischen Gedächtnis und nicht aus dem zuverlässigen Katalog der Siglen abzurufen. Was der menschliche Geist oft problemlos leistet: aus einer individuellen Schreibvariante die korrekte Sigle zu extrapolieren, ist für ein Computerprogramm (zunächst) eine Unmöglichkeit. Ein anderer Buchstabe macht die Zeichenfolge zu einer völlig anderen Informationseinheit. Und so war es unabdingbar, bei der Überprüfung aller Quellensiglen und Fundstellen anzusetzen, um auch einen fehlerhaft zitierten Beleg mit den richtigen Angaben in der Quellendokumentation verbinden zu können. Dass bei dieser Gelegenheit häufig auch das Buch selbst noch einmal zur Hand genommen werden musste, um unsichere Zitierweisen und Ähnliches zu überprüfen, führte in vielen Fällen zu einer Korrektur des Belegtextes selbst, so dass nach und nach - legitimiert durch den Einsatz von Drittmitteln und also ohne Verzögerung des Gesamtprojekts - eine korrigierte Version des Druckwerks entstand. Damit aber driften unaufhaltsam die beiden lexikograpisehen Kontinente Druckwerk und Onlineversion auseinander. Die Konsequenz hieraus kann nur sein, jede Version jeweils eindeutig zitierfähig zu machen. Da jedoch die vielen kleinen Veränderungen in der Onlineversion nicht dokumentiert werden konnten - dies hätte die Retrodigitalisierungskosten gravierend erhöht - , bleibt kein anderer Weg, als beide Versionen nebeneinander zu stellen. Daher hat die Heidelberger Akademie der Wissenschaften Mittel bereitgestellt, um eine Faksimileausgabe des Druckwerks ins Netz zu stellen, so dass für jeden Wortartikel die Druckversion zugleich mit der partiell aktualisierten Onlineversion verglichen werden kann. Darüberhinaus aber muss auch die jeweilige Onlineversion zitierbar bleiben. Dies kann nur dann gelingen, wenn zu festgelegten Zeitpunkten eine Version eingefroren wird und als archivierte Version verfügbar bleibt. 18 Die Grenzüberschreitung, die ein Medienwechsel immer darstellt, führt einerseits zu benennbaren Problemen, in diesem Fall vor allem aber zu lexikographischen Mehrwerten über die ursprünglichen Intentionen des Medienwechsels hinaus. Wie über die Ergänzung und Korrektur des Druckwerkes hinaus ein solcher Mehrwert aussehen könnte, soll im Folgenden an Beispielen desjenigen Wortfeldes angedeutet werden, das den sogenannten artikulierten Prozess und seine Teile bezeichnet.
18 Etwa als DRW-()nline[Version2006].
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I I I . Rechtsinstitut und Wortschatz: Der artikulierte Prozess I m Jahr 1496 wurde durch den Lindauer Reichstag in Artikel 12 des Entwurfs der Reichskammergerichtsordnung 19 für die Reichsgerichtsbarkeit der sogenannte artikulierte Prozess eingerichtet, der nach dem römisch-kanonistischen Vorbild das Vorbringen der Parteien in Einzelartikel oder Positionen aufgliederte. Nach der geltenden Eventualmaxime hatten die Parteien das potentiell prozessrelevante Vorbringen zu Beginn des Verfahrens 20 libellweise, dh. schriftlich und in Artikelform, vorzulegen. Die einzelnen Positionen wurden der Reihe nach behandelt, entweder zugestanden oder geleugnet. 21 1654 wurde der artikulierte Prozess in Paragraph 3 4 2 2 des Jüngsten Reichsabschieds wieder aufgehoben, weil er in der Regel zu ei19
Heinz Gollwitzer (1979): Reichstage von Lindau, Worms und Freiburg 1496-1498. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht (Reihe Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe, Band 6) 320: Wo aber ain antwurter nach obgemelter einlegung der clag nit gleich antwurt geben woelt, sonder dilatorias exceptiones fürzuowenden hete, die solt er all auf die nechsten termin, so in die Ordnung nach einlegung des libéis betreffen würde, mit ainander geschriftlich und artikuliert fürbringen und darauf der cläger wider soelich excepción auch ad primam, so die Ordnung an in käme, repliciern. 20 Voraussetzung und Beginn des artikulierten Verfahrens war die Litiskontestation oder als Übersetzung dieses lateinischen Terminus technicus - die Kriegsbefestigung, also die Einlassung des Beklagten auf die Klage. Zu der wechselhaften Geschichte dieses Rechtsinstituts vgl. R. Sohm jr., Die litis contestado in ihrer Entwicklung vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1914 (Nachdruck Aalen 1970), der den Wandel eines Rechtsinstituts bei gleichbleibender Bezeichnung über die Jahrhunderte hin nachzeichnet. 21 Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, III, XV § 4 formuliert dies so: das fürhin ein jede parthey oder jhr Procurator/vff alle Articul die nit iuris sonder facti /durch das wort/glaub oder nit glaub war sein/on anhang/vnd sonderlich one die wort/wie gesetzt/ vnderschiedlich vnd vff ein jeden insonderheyt/inn schrifften/doch saluo iure impertinentium &c. antwurten sol. Vgl. den für das DRW digitalisierten Originaldruck des Augsburger Reichsabschieds von 1555: http://mdzl.bib-bvb.derdb/bsb00001441 /images/index.html? id=00001441 &seite=390). 22 Es scheint sinnvoll, in einem Sammelwerk über die Sprache des Rechts und damit auch über den Stil der Rechtssprache einmal das höchste Gremium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mit einem einzigen Satz aus der Formulierung eines Gesetzes zu Wort kommen zu lassen: „Daß nämlich und fürs erste solle der bisher in mehr Weg mißbrauchte Modus zu artikulieren und ad artículos zu respondieren, samt allen denen bishero nach sich gezogenen Terminen und Anhängen, dabei und darüber auch beflissentlich vorgangenen unnötigen Disputationen und Uffzüglichkeiten, nur allein die Probatorialn, da die Parteien wollen und wann es die Notdurft erfordert, wie auch die responsiones und Antworten auf dieselbe ausgenommen, hinfüro gänzlich kassiert und aufgehoben und hingegen in Sachen simplicis querelae ein jeder Kläger vor Gericht mit seiner Notdurft bereit erscheinen und bei Ausziehung der Prozeß oder Ladung seine Klag oder Libell nicht articuls-, sondern allein summarischerweis, darinnen das Faktum kurz und nervöse, jedoch deutlich und distincte, klar, auch de ihme beliebt oder der Sachen Weitläuftigkeit und Umständen es erforderten, punktenweis verfaßt und ausgeführt seie, mit angehängter Konklusion und Bitt, nicht allein den Gegenteil zu zitieren, sondern auch zu kondemnieren, oder aber neben der Supplikation um die Ladung abgesondert, gleich wie solches iudicialiter zu beschehen, extraiudicialiter übergeben und nach erhaltener Zitation sowohl dieselbige, als auch besagten libellum in so vielen von Unsers Kaiserlichen und des Reichs Kammergerichts Lesern oder durch die expedierende
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ner erheblichen Verlängerung der Prozessdauer geführt hatte. Nur im Beweisverfahren galt dieses Procedere bis zum Ende des Alten Reiches weiter. Man kann sich einem solchen Rechtsinstitut beispielsweise mit Hilfe eines historischen Bedeutungswörterbuchs nähern. Dies ist etwas ganz anderes als der Zugang über ein Lexikon wie dem Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 3 , das jeweils mehr oder weniger eingehend über das Institut informiert und weiterführende Literatur anführt. Ein Wörterbuch - dies gilt freilich nur für ein Belegwörterbuch, wie es allerdings die meisten historischen Wörterbücher sind - erlaubt zunächst nur einen ersten Zugang über den alphabetisch geordneten Lemmabestand und, sekundär, über die - modern gesprochen - Hypertextualisierungen des Wörterbuchs, d.h. die in den entsprechenden Wortartikeln vorhandenen Verweise auf irgendwie verwandte Wörter. Dieser Weg führt relativ nahe zu den Originalquellen hin, jedenfalls zu den lexikographisch bearbeiteten Belegzitaten aus Texteditionen und Originaldrucken. 24 Im gedruckten Wörterbuch ist der Weg durch ein mit einem Rechtsinstitut verbundenes Wortfeld relativ mühsam, da er sich ständig wiederholende Nachschlagehandlungen voraussetzt. Und im DRW sind es inzwischen fast elf Bände, die hierfür hin und her, kreuz und quer durchforstet werden müssten. Daher ist es kaum verwunderlich, dass es schon ein besonderes - also oft monographisches oder lexikophiles - Interesse voraussetzt, wenn ein solcher Weg gegangen wird. Ist es in einem Online Wörterbuch grundlegend anders? Das Wesen des artikulierten Prozesses wird recht gut in einer kurzen Prozessanleitung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts beschrieben, die ein lateinisches Büchlein des Johannes Andreae (um 1300) übersetzt: 25 Protonotarien vidimierten Kopien, so viel der Zitierten sein werden, durch den Kammerboten, wie üblich und Herkommens, insinuieren lassen solle, damit der Zitierte in diesem allen sich wohl ersehen und reiflich bedenken könne, ob er diesfalls weichen oder in dem Prozeß verfahren wollte, mit der rechtlichen Bedrohung und Anhang, da er - Kläger - solches nicht beilegen würde, dass ihme auch ehender keine Prozeß erkennt oder, so sie nicht mit überschickt, der Beklagte zu erscheinen und zu antworten nicht schuldig sein, weniger wider denselben in contumaciam prozediert werden solle oder könne." (Adolf Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654 (Bern 1975)§ 34) 23
Vgl. Peter Oestmann, Artikelprozess, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG.), 2. Aufl. Berlin 2005, Lfg. 2 Sp. 313-314; G. Buchda, Artikelprozess, in: HRG. I (1. Auflage Berlin 1971) 233-235. 24 Es kommt nicht selten vor, dass monographisch orientierte Arbeiten sich zunächst an den Belegstellen der Wörterbücher entlanghangeln, allerdings häufig ohne Nennung der Wörterbücher selbst. Der kundige Wörterbuchbenutzer merkt allerdings relativ schnell, welches Wörterbuch hier als Steinbruch gedient hat. Und in dem Maße, in dem Wörterbücher online verfügbar sind und von Suchmaschinen ausgeweitet werden, können dies auch andere tun. Ich plädiere daher für eine neue Zitationskultur auch im Hinblick auf Wörterbücher. Nicht zuletzt deswegen, weil ihr Gebrauchswert dadurch natürlich sehr viel deutlicher würde, als wenn sie zwar benutzt, aber nie zitiert würden. 25 Johannes Andreae, Senckenberg's Gerichtsbüchlein, schon 1473, dann 1490 und öfter gedruckt als: Ordnung ... zu Rechten, zugleich Übersetzungen des Proc. judiciarius Joannis Andreae. alle drey Werke in dieser Verbindung zuerst übersichtlich zsgest. von Hubert Horn.
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Der Richter sol dem antwurter für bieten vff eynen genanten tag vnnd zeit. Vnnd als er kumbt. im des klagers begerunge (das ist libell) schrijftlich geben. Daruff im der antwurter ein bedencken nimpt sich mit dem klager gutlich zuuertragen, oder rechtlich mit im zekriegen: Vnd als dz bedencken geendet vnnd die sach gutlich nit vertragen ist. kommen beid teil wider für gericht. Vnn hat der antwurter nit außzug, da mit er dem gericht entweichen mog, so sol er dem klager antwurten. das ist sein bekennen oder leugnen. Vnd solich bekennen oder laugnen heißt Litis contestatio. Des kriegens oder rechtens andingung. Vnd sie sich also gegen einander angedingt haben, so sol der richter von yn nemen den eyd Calumnie, das ist vermeyden alle falscheit. Darnach vff den eydt sie fragen vnd verhören nach noturfft vmb die haubtsach. Nach dem articulierent beyd teil, vnd machen Replicationes. widerred. Exceptiones. außzug. Dupliciren. Tripliciren. Quadrupliciren. Das sint schrifften oder red da mit einer dem andern sein allegation, vrsach, einred, oder anders brechen wil, nach dem vnd dy sach groß oder klein ist, vnn ydes teils noturfft heischet. Es scheint reizvoll, an diesem - relativ beliebig ausgewählten - Text die Leistungsfähigkeit eines Wörterbuchs in seinen verschiedenen Erscheinungs- und Verknüpfungsformen, also dem Druckwerk, der Onlineversion und der Onlineversion mit Rückgriff auf Textcorpora, 26 zu überprüfen. Die konkrete Fragestellung richtet sich hierbei auf die Termini für die Teile des artikulierten Prozesses in historischen Texten. Vorausgesetzt wird hierbei, dass ein Wörterbuch zu mehr dienen kann, als für ein bestimmtes Wort Verständnishilfen in Form von Bedeutungserläuterungen zu bieten, wenn auch diese Funktion zentral bleibt und die lexikographische Arbeit weiterhin bestimmen wird. Es gibt allerdings meines Wissens kaum Untersuchungen darüber, in welche Richtungen zukünftig die Funktionalität eines digitalen Wörterbuchs von der „scientific Community" ausgewertet wird und welche Forschungsinteressen hierdurch besser als durch das gedruckte Werk befriedigt werden können 2 7 . Hier soll an Hand eines begrenzten inhaltlichen Bereichs ein erster Überblick über diese neuen Nutzungsmöglichkeiten gegeben werden - sehr vorläufig und mit zunächst rein pragmatischem Ziel.
Mit einem Vörw. von Hieronymus Bayer (Nachdr. d. Ausg. München, Bayer, 1837; München: Sauer & Auvermann.). Das Zitat findet sich S. 13. 26 Hierzu gehört zunächst das nach und nach aufgebaute Textarchiv des DRW selbst. Dieses wird ergänzt durch ein Projekt, das der Verfasser mit dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte und Manfred Thaller (Universität Köln: Lehrstuhl für HistorischKulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung) bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragt (und inzwischen bewilligt bekommen) hat: Image- und Völltextdigitalisierung der deutschsprachigen juristischen Originaldrucke bis 1600 - DRQEdit. 27 Vgl. hierzu Ingrid Lemberg/B. Schröder/A. Storrer (Hrsg.), Chancen und Perspektiven computergestützter Lexikographie (Tübingen 2001 = Lexicographica. Series Maior 107), und hierin die Beiträge von Thomas Gloning, R. Welter, Wortschatzarchitektur und elektronische Wörterbücher. Goethes Wortschatz und das Goethe-Wörterbuch, S. 117 - 132, und Gerd Richter, Das elektronische Flurnamenbuch - Innovationen in der Flurnamenforschung durch den Einsatz neuer Medien, S. 179 - 197.
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Die zentralen Wörter, die aus diesem Text zur Beschreibung des artikulierten Prozesses herausgezogen werden und solchermaßen als Einstieg für das quellennahe Verständnis eines zentralen Rechtsinstituts des gemeinen Prozessrechts dienen können und im gedruckten DRW nachgeschlagen werden sollten, sind: Allegation (kein Artikel), artikulieren (kein Artikel), Auszug (Bed. III: Einwand, Einrede (exceptio)), duplizieren (kein Artikel), Einrede (s. unten), Exzeption (kein Artikel), quadruplizieren (eine Quadruplik im Prozess erheben), Replikation (schriftliche Replik), triplizieren (noch nicht bearbeitet), Widerrede (noch nicht bearbeitet). 28
Im Medium des Druckwerks kommt man nur bei vier von zehn Wörtern wirklich weiter, ansonsten ist schnell eine Sackgasse erreicht, die sich nur durch die Überschreitung der Grenzen des Mediums öffnet. 29 Welche Möglichkeiten, welche Mehrwerte sind durch die digitale Version und hier insbesondere die Onlinefassung zu erwarten und zu erreichen?
1. Belegergänzungen
Diese Möglichkeiten gilt es nun paradigmatisch für diejenigen Wörter abzuklären, die nicht als Wortartikel behandelt worden sind. 30 In den Rechercheangeboten des DRW-Online gibt es zum einen die Suche über die Bedeutungserklärungen, zum anderen diejenige über die Wörter, die in Belegtexten vorkommen. Hinzu kommen Funde aus den Texten des Forschungsprojektes DRQEdit. 31
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Suchwort
in Belegtext
Allegation
1490 allegation, vrsach, einred 1570 allegationes 1592 rechts allegationen und an Weisung 1607 allegationes und anzeig der rechts-stellen 1616 allegaten der rechtsgründe 1631 allegatio, anzug, vertheydigung
Hier zeigt sich in aller Schärfe, wie verheerend sich der Sprachpurismus in der Rechtssprachlexikographie auswirkt, wenn diese von ihrer dokumentierenden Aufgabe abweicht und normierend und indoktrinierend tätig werden will. 29 Es geht hier aber nicht um die - zugebenermaßen unterschiedliche - Qualität des Rechtswörterbuchs, sondern, wie sich zeigen wird, um die Grenzen der Lexikographie einerseits und den Wert der Lexikographie andererseits. 30 Allegation und artikulieren dürften hierfür schon genügen. 31 Dazu vgl. oben Anm. 26 und unten S. 277.
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Suchwort
in DRQEdit
Allegation
Frankfurter Reformation 1509 Ich .N. schwere/dz ich solche exception oder allegation nit zuuerhinderung oder verlengerung des kriegs freuenlich oder geferlich fürbreng Schenck, Gerichtsordnung 1530 on eynich rechtlich allegation oder anziehen
Suchwort
in Belegtext
artikulieren
Suchwort artikulieren
1531 / 61: de rechter articuleert 1555: soll der kläger ... sein articulirte klag an statt der articuln repetiren 1564: sein clag in Schriften articulirt und gezwifacht ubergeben 1567: soll dem cleger ... sein clag zu articulirn vergünstigt ... werden 1600: articulieren in civil- und criminal Sachen articulierent beijd teil vnd machen replicationes, widerred, exceptiones, außzug, dupliciren, tripliciren, quadrupliciren 1623: articulierte instruction 1654: der... mißbrauchte modus zu articuliren 1799: man articulire nicht auf rechtsätze in DRQEdit Hochstift Augsburg Gerichtsordnung 1539 Wann nun der antwurter die clag vernaint hat, so mag der clägei sein clag, ob sie vor nit articuliert were, nochmaln articulieren und sollich articul mittel seins aids eingeben Mainz Untergerichtsordnung 1534 Vnd mag der Kläger alsdann sein Klag articulieren /darzu jm auch zimlicher Schub gegeben werden soll. Ob aber die Klag fürhin Artickeis weiß eynbracht wer/so mag der Kläger dieselbige artickulierte Klage / an statt Position / das ist Satzstück vnd Artickel / widerholen
Damit ist selbstverständlich noch kein Ersatz für eine lexikographische Bearbeitung dieser Wörter gegeben. Angesichts des Fehlens der Artikel i m gedruckten Wörterbuch wird hierdurch aber doch genügend aussagekräftiges Belegmaterial angeboten, dass der fachkundige Nutzer des Rechtswörterbuchs hieran vieles wird ablesen können.
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Heino Speer 2. Kollokationsergänzungen als Basis onomasiologischer Texterschließung
In welchen Kollokationen 32 Wörter stehen, gibt Aufschluss über ihre Semantik, wobei idealerweise die inhaltliche Relation der Kollokatoren zueinander ausgewertet werden sollte. Auf hohem lexikographischem Niveau haben dies U. Goebel, I. Lemberg und O. Reichmann dargestellt 33, die hierzu die sehr differenzierten Strukturen des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (FWB) verwerten konnten. Die dadurch exemplarisch dargestellte onomasiologische Vernetzung erreichte allerdings bald eine derartige Komplexität, dass deren Rezeption im Medium des Druckwerks kaum praktikabel erschien - jedenfalls nicht in der Form einer Ergänzung zum alphabetisch geordneten semasiologischen FWB. Die Darstellungsmöglichkeiten der neuen Informationstechnologie bestanden damals noch nicht und auch heute ist noch ungeklärt, wie weit die Wissenschaft sich dieser Möglichkeiten bedienen will. Es geht hierbei letztlich um die Frage, ob es denkbar ist und der Mühe wert scheint, für historische Sprachstufen so etwas wie Topic Maps bzw. Ontologien im informationstechnologischen Sinn zu formulieren. Denn der dafür erforderliche intellektuelle Aufwand ist hoch, und die technologischen Anforderungen sind ebenfalls nicht gering einzuschätzen, so dass die Kombination beider Voraussetzungen in einer Person kaum anzutreffen sein wird. Überdies setzt dies genaue Bedeutungsanalysen voraus, die in der Regel nicht als Selbstzweck geleistet werden können. Ist dies aus irgendeinem Grunde nicht möglich, so können bei genügend großen Textmengen - statistische Auswertungen weiterhelfen. 34 Der potentielle Weg einer solchen maschinellen Kollokationsanalyse soll hier sozusagen „händisch" vorgezeichnet werden und es soll hierfür eines der Wörter als Grundlage genommen werden, die in dem oben zitierten Text vorkommen: Einrede. Den ersten Zugang bietet der entsprechende Wortartikel und seine Belegtexte, der im Artikel Einrede (II) bereits so ergiebig ist, dass dies als erster Zugang genügt. Die Bedeutungserklärung lautet: Widerspruch, Einspruch, besonders im Rechtsgang und in den Belegtexten finden sich folgende Substantive, die in einer 32 „Kollokationen können zum einen verstanden werden als beliebige sprachliche Einheiten, die in konkreten Texten miteinander vorkommen; Kollokationsanalyseverfahren, die sich diese Auffassung zu eigen machen, sind in der Regel mit lexikalischen Beschreibungen sprachlicher Einheiten im allgemeinen befaßt. Zum anderen können Kollokationen als Einheiten des Sprachsystems verstanden werden . . A n d r e a Lehr, Kollokationen und maschinenlesbare Korpora. Ein operationales Analysemodell zum Aufbau lexikalischer Netze (Tübingen 1996) 1. Hier wird die erste der beiden Auffassungen verwendet. 33
Ulrich Goebel / Ingrid Lemberg / Oskar Reichmann (1995): Versteckte lexikographische Information. Möglichkeiten ihrer Erschließung, dargestellt am Beispiel des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs. Tübingen. Niemeyer (Reihe Lexicographica; Series maior; Teil 65). 34 Es gibt mehrere Projekte, die auf diesem Gebiet mit unterschiedlichen Textcorpora gute Ergebnisse erzielen. So das Institut für deutsche Sprache, das Projekt „Wortschatz deutsch" und das im Wörterbuchportal der Berlin-brandenburgischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften präsente Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache.
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Ausgangswort
Kollokationen [kursiv: neue Wörter]
Auszug
Einsprache / Forderung / Widerrede
Duplikation kein Wortartikel
kein weiteres Vorkommen
Einrede
Auszug / Duplikation / Eintrag / Exzeption / Gegenrede / Hinderung / Kontradiktion / Nachrede / Weigerung / Widerrede
Eintrag
Ansprache/Auszug / Widerrede
Exzeption kein Wortartikel
Abzug / Arglist / Ausbeding/Ausflucht/Behelfrede/Behülfe / Duplik/Einrede / Gegenrede / Gegenrechnung / Gegenwehr / Kompensation / Litispendention Nachrede / Position
Gegenrede
Antwort / Einrede / Einsage/Nachrede / Replik/Satz/Schuld/ Widerrede
Hinderung
Ansprache / Einrede / Eintrag / Krieg
Kontradiktion
Widersage
Nachrede
Ansprache / Antwort / duplizieren / Einrede / Einsage / Einsprache / Entschuldigung / Exzeption / Gegenrede / Nachschrift / quadruplizieren/ Rechtsatz/replizieren/Replizierung / Schuld / Triplik/triplizieren / Widerrede / Widersage
Weigerung noch kein Wortartikel
Ausflucht/Vorzug
Widerrede noch kein Wortartikel
Rechtfertigung ua.
/
irgendwie gearteten semantischen Relation zu Einrede stehen: Auszug, Duplikation,, Eintrag, Exzeption, Gegenrede, Hinderung, Kontradiktion, Nachrede, Weigerung, Widerrede. Wertet man in einem zweiten Schritt die in den Belegtexten der entsprechenden Wortartikel des DRW - soweit trotz der Fremdwortregelung vorhanden - vorkommenden Kollokationen aus, so erhält man die folgende Tabelle, in der die neu hinzugekommenen Wörter kursiv gedruckt sind. Würde man wiederum die bei den neuen Wörtern hinzukommenden Kollokationen auswerten wollen, so würde sich die Zahl der Wörter dieses Wortfeldes exponentiell erhöhen, andererseits aber würde auch die Häufigkeit, in der bestimmte Wörter gemeinsam auftreten, signifikanter werden. Ein solches Vorgehen kann vielleicht einmal exemplarisch geleistet werden, um die damit gegebenen Möglichkeiten einschätzen zu können. Ein brauchbares Werkzeug für die Erfassung eines Wortfeldes und den quellennahen Zugang zu dem damit bezeichneten Rechtsinstitut ist dies allerdings
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nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn all diese Nachschlagehandlungen von einer Person vorgenommen und die Ergebnisse schriftlich fixiert werden sollten. Bereits ein oberflächlicher Blick auf dieses tabellarisch aufbereitete, aber eben doch ungeordnete Wortfeld zeigt, dass es sich hauptsächlich um Bezeichnungen für ein mündliches oder schriftliches Entgegnen auf ein vorheriges Vorbringen einer Person handelt. Eine Analyse der semantischen Beziehungen dieser Kollokationen erster oder zweiter Stufe wäre erst noch zu leisten, wobei es in der frühneuhochdeutschen Rechtssprache mit ihrer verstärkten Neigung zu Mehrfachformeln jeweils schwierig ist, die semantische Funktion 35 dieser Formeln und damit das Beziehungsgefüge dieser Wörter näher zu bestimmen.
3. Wohlbestimmtheit versus Intuition
Bei der Vielfalt dieser Wörter fragt sich der Rechtshistoriker allerdings, wie es denn nun angesichts dieses Ergebnisses aus dem eng umgrenzten Teilbereich des artikulierten Prozesses um die Wohlbestimmtheit der rechtlichen Terminologie im Allgemeinen steht. Das eigentliche Verfahren des artikulierten Prozesses erfolgt also in der Form von Wechselreden oder -Schriften: Der Klage folgt die Antwort, der Antwort die Rede oder Widerrede, dieser die Nachrede usw. In der gemeinrechtlichen Fachterminologie beruhen die Bezeichnungen auf Wortbildungsmustern mit lateinischen Zahlwörtern, so dass eine Wohlbestimmheit36 suggeriert wird: Nach der Klageschrift des Klägers kommt die Exzeptionsschrift des Beklagten, und ab jetzt geht es numerisch voran. Der Kläger erhebt die Replik, auf die der Beklagte mit der Duplik antwortet, der Kläger folgt mit der Triplik, der Beklagte mit der Quadruplik, worauf der Kläger mit der Quintuplik und der Beklagte hierauf mit der Sextuplik antworten kann. Danach kommt die Septuplik des Klägers und die Optuplik des Beklagten, die Novemplik des Klägers und die Dezemplik des Beklagten.37 Diese scheinbare Wohlgeordnetheit fällt allerdings in sich zusammen, wenn man auf das Wortfeld zurückschaut, das sich um diese Wörter eröffnet hat. Daher 35 Vgl. die Typologie hierzu bei Oskar Reichmann, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (hrsg. Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann) Band I Berlin, New York: Walter de Gruyter (1989) Einleitung 127f. 36 Diese ist aber auch schon im römischen Recht nicht immer gegeben: G.W. Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Aufl. Leipzig 1878, 170 Anm. 10: „In dieser letzten Stelle [seil.: D. 27, 10, 7, 1 IUL. 21 DIG.] wird übrigens die der replicatio folgende Vertheidigung nicht duplicatio, sondern triplicatio genannt..." 37 „Nicht selten kömmt es aber auch zu weiteren Schriftsätzen, nämlich zur Triplick des Klägers, und zur Quadruplick des Beklagten, allenfalls auch zur Quintuplick des Klägers, und zur Sextuplick des Beklagten, wie nicht minder zur Septuplick des Klägers, und zur Optuplick des Beklagten, ja es giebt Beyspiele, daß die Sachen sogar bis zur Novemplick des Klägers, und Decemplick des Beklagten gekommen sind." Vincenz Hanzely, Anleitung zur neuesten Reichshofrathspraxis, Bd. II (Frankfurt 1784) 303.
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kann auch in diesem Rahmen und gerade in diesem Medium, das keine mehrdimensionale Darstellung zulässt, nicht ernsthaft der Versuch unternommen werden, ein onomasiologisches Feld zu dem Rechtsinstitut der Entgegnungsmöglichkeiten auf das Vorbringen der Parteien aufzubauen. 38 Entscheidend dürfte in diesem Zusammenhang Folgendes sein: Das hierauf bezügliche Wortfeld im Deutschen zeigt keine eindeutigen Zuordnungen zu bestimmten Verfahrensstufen, wie dies bei den - allerdings auch nur relativ spät belegten - lateinischen Bezeichnungen gegeben ist. Vielmehr müssen die unterschiedlichen Benennungen, die in der Regel Relationsbegriffe sind (Widerrede gegenüber einer vorher geäußerten Rede ohne Berücksichtigung der jeweiligen Verfahrensstufe), mit relativ abstrakten Bedeutungserläuterungen versehen werden 39, deren Konkretisierung sich erst aus dem jeweiligen Kontext der Belege ergibt. Der Abstraktionsgrad solcher Bedeutungserläuterungen beruht also nicht auf dem Unvermögen der Lexikographen, hinreichende Unterscheidungen zu formulieren, sondern auf dem mangelnden Bedürfnis der seinerzeitigen Sprecher/Schreiber, eine entsprechende Präzisierung vorzunehmen. 40 Dies hat Folgerungen für die Lexikographie der Rechtssprache ebenso wie für die Möglichkeiten einer auf einem Wörterbuch und seinem Corpus aufbauenden und sie zugleich transzendierenden Informationserschließung. Es kann hierbei nicht darum gehen, dem Benutzer wohldefinierte Informationen anzubieten und ihm damit eine Terminologisierung der Rechtssprache vorzuspiegeln, die nur unserem gegenwärtigen Bedürfnis entspricht, sondern ihm die Vielfalt der historischen deutschen Rechtssprache gerade in ihrer Unschärfe und Unbestimmtheit zu präsentieren. Der Weg hierzu übersteigt die Möglichkeiten eines Druckwerks und ist auf die Techniken der InformationsVernetzung, sprich: Hypertextualisierung, angewiesen. Erst die texttechnologische Erschließung eines Corpus mit Methoden des Informationretrieval, des Text- oder Datamining, kann entsprechende Ergebnisse her38 Vgl. hierzu: Fritz Mezger, Zur rechtlichen Gegenrede, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 18 (1962) 81ff., der allerdings von Wortfamilien ausgeht und diese bis in das Indogermanische zurückverfolgt. 39 So bei Gegenrede (I): „Entgegnung im Prozeß". 40 Vgl. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (Köln-Wien 1981) 153: „Die RKGO verwendet die Begriffe „Einrede" oder „exzeption" noch nicht so gefestigt für den Vortrag bestimmter Gegenpositionen, wie die römischrechtliche und später die gemeinrechtliche Doktrin." Für Einrede bestätigt dies auch Schlosser, a.a.O. 334: „Der Befund erweist ferner, daß es bei einer rein wörtlichen und inhaltslosen Übernahme [des Rechtsbegriffs Einrede] geblieben war." Gleiches gilt für Widerrede, wobei die Bemerkung Schlossers über die Bedeutung dieses Wortes vermutlich erweitert werden müsste: „Das laugen sowohl als schlichtes wie auch als qualifiziertes, durch selbständige Rechtsbehauptungen motiviertes Bestreiten der clag, anclag, rede vnd fürgab wird von den Quellen einheitlich unter dem Begriff der Widerrede zusammengefaßt. Schon die Verwendung dieses Rechtsterminus für den gesamten Komplex der negierenden Sacheinlassung des Beklagten charakterisiert anschaulich den Ablauf einer spätmittelalterlichen Gerichtsverhandlung." Hans Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozess nach bayerischen Quellen (Köln-Wien 1971) 327.
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vorbringen. Dazu ist allerdings das Wörterbuch eine unabdingbare Voraussetzung, auch wenn die begriffsbezogene Nutzeranfrage im Druckwerk an die Grenzen des Mediums stößt. Das Beispiel des artikulierten Prozesses hat vielleicht deutlich gemacht, dass es Grenzen für ein Wörterbuch gibt, die mit den Strukturen wissenschaftlichen Arbeitens in bestimmten Zeiten vorgegeben sind. Exzerption von Quellen durch Fachwissenschaftler ist etwas grundlegend anderes als die maschinelle Auswertung von Quellencorpora durch zunehmend intelligenter werdende Suchmechanismen. Und es ist so anders, dass nicht von Qualitätsunterschieden gesprochen werden kann. Es sollte allerdings auch deutlich geworden sein, dass die Möglichkeiten, die sich heute mit modernen Techniken des Informationretrieval ergeben, die mühselige und wissenschaftlich verantwortete Vorarbeit vieler Lexikographengenerationen voraussetzen. Wenn es heute möglich ist, von jedem beliebigen Wort einer Textedition durch einen Mausklick auf die entsprechenden Zeichenketten in einem bestimmten Wörterbuch 41 mit den dort vorhandenen Zusatzinformationen zu gelangen, so zeigt dies eines sehr deutlich: Wir haben die kritische Masse überschritten, die die Voraussetzung für eine exponentielle Steigerung des Informationsgewinns ist. Erst mit der Digitalisierung des Wörterbuchs können Retrievaltechniken eingesetzt werden, die gegenüber den lexikographischen Informationen des Druckwerkes einen nicht abschätzbar hohen Mehrwert an corpusbasierten und zugleich lexikongestützten Informationen bieten können. Dies ergibt sich schon allein aus der erst in diesem Medium aufhebbaren Dekontextualisierung von Beleg Wörterbüchern, die den Belegschnitt aus der notwendigen Verkürzung durch den Lexikographen wieder in den gesamten Kontext der Quelle einbettet und damit dem Leser ein erheblich größeres Verstehensumfeld bieten kann, als dies im Druck denkbar ist. Die Existenzberechtigung von Wörterbüchern wird durch diese modernen Techniken keineswegs aufgehoben. Im Gegenteil: Erst die Rückkopplung an Wörterbücher und ihre strukturierten Informationen lässt die Techniken der Informationsgewinnung zu brauchbaren und nicht nur statistisch orientierten Ergebnissen gelangen. Andererseits aber: Sie setzen nicht unerhebliche Textmengen voraus, die maschinell erschlossen sind. Statistische Methoden wie Kollokationsanalysen beruhen auf Corpora, deren Größe die Zufälligkeiten von Kollokationen und Kookkurrenzen ausgleichen. Derartige Corpora gibt es bislang weder für historische Sprachstadien 42 noch für historische Fachsprachen. Dies wird sich vielleicht mit dem Aufbau 41
Realisiert haben wir dies allerdings verständlicherweise nur im und für das DRW. Das berühmte Bonner Corpus zum Frühneuhochdeutschen beschränkt sich auf Textausschnitte aus den einzelnen Quellen und hat auch Textsorten mehr oder minder paradigmatisch herangezogen. Vgl. hierzu: Hans-Joachim Solms, Klaus-Peter Wegera, Das Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus. Rückblick und Perspektiven. In: Rolf Bergmann (Hrsg.), Probleme der Textaus wähl für einen elektronischen Thesaurus. Beitr. zum ersten Göttinger Arbeitsgespräch zur historischen deutschen Wortforschung 1. und 2. November 1996 (Stuttgart 1998) 22 - 39. Auch Corpora wie dasjenige der Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs haben frühzei42
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der virtuellen Forschungsbibliothek zum deutschsprachigen Recht im 15. und 16. Jahrhundert in DRQEdit ändern. Erstmals entsteht hier eine nur virtuell vorhandene - und so auch in keiner Bibliothek früher oder heute anzutreffende - Fachbibliothek, in der alle deutschsprachigen juristischen Originaldrucke vom Beginn des Buchdrucks bis 1600 versammelt sein werden. Es wäre schon ein Wert an sich, wenn nur die Faksimiles der Buchseiten auf diese Weise zusammengeführt und von jedem Computer aus gelesen werden könnten.43 Die Erschließung als maschinenlesbarer Volltext hingegen eröffnet Forschungsmöglichkeiten, deren Ausrichtung und Erschließungstiefe heute noch nicht überschaubar sein dürften. In diesem Zusammenhang genügt es, dass damit ein Corpus an fachsprachlichen Texten einer bestimmten Epoche und eines zentralen Lebensbereiches zustandekommt, das einen völlig neuen sprach- und rechtsgeschichtlichen Zugang zu den jeweiligen sprachlichen und rechtlichen Einheiten wie Dialekten oder juristischen Subsystemen bietet. Die Verbindung dieses Corpus mit den Möglichkeiten des wörterbuchgestützten Informationretrievals ist eine höchst spannende und gegenwärtig noch kaum auslotbare Erweiterung potentieller Forschungsansätze. Einer davon ist die Möglichkeit, aus dem Corpus durch ständige Rückkopplung zu Wörterbüchern und umgekehrt Semantik erschließen zu können. Semantik in dem Sinne, dass der Benutzer eines darauf aufbauenden Informationssystems nicht wissen muss, mit welchen Worten die ihn interessierende Information in den Quellentexten formuliert worden ist. Die Suche nach der „Ladung vor Gericht" wird alles zutage fördern, was mit Wörtern wie „Aufgebot", „Heischung", „Ladung" und vielem anderen mehr in den Quellen auf sehr unterschiedliche Weise beschrieben ist. Und dies ist auch deshalb von erheblicher Relevanz, weil die juristische Fachsprache in diesem Zeitraum noch weit entfernt davon ist, zu einer einheitlichen Terminologisierung zu tendieren. 44 tig der kompletten Erschließung von Texten - aus durchaus verständlichen pragmatischen Gründen - eine Absage erteilt. Die Grundvoraussetzung, die diesen Einschränkungen zugrundelag, war die Überlegung, dass nach einer bestimmten Textmenge der Wortschatz des Autors vollständig erfasst sei. Joachim Bahr (Zur Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs. In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 18 (1962) 145) schrieb seinerzeit: „Es läßt sich experimentell feststellen, daß der Wortschatz einer Quelle von durchschnittlicher Ergiebigkeit nach 200 bis höchstens 300 Seiten im wesentlichen erschöpft ist." Mag dies auch für allgemeinsprachliche Texte gelten - die Fachtexte werden damit nicht hinreichend erschlossen: In einem Lehrbuch des geltenden bürgerlichen Rechts werden in den Abschnitten über den Allgemeinen Teil des BGB andere Wörter gebraucht als in den Teilen über Familien- und Erbrecht, die aber traditionell (gemäß der vom BGB übernommenen pandektistischen Fünfbücherordnung) erst am Schluss eines solchen Lehrbuches stehen. 43
Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man der einzige Mensch in Vergangenheit und Gegenwart ist, der jedes dieser Buchwerke einmal in der Hand gehabt hat. 44 Arend Mihm hat (Vom Dingprotokoll zum Zwölftafelgesetz. Verschriftlichungsstufen städtischer Rechtstraditionen. In: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern; Akten des Internationalen Kolloquiums 8. - 10. Juni 1995, hrsg. von Hagen Keller (München 1999) 43 - 67) sehr deutlich gezeigt, dass in demselben Rechtskreis identische Rechtsregelungen innerhalb von etwa einhundert Jahren auf sehr unterschiedliche Weise immer erneut umformuliert worden sind.
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Hier berühren sich Überlegungen, Ideen, Techniken aus sehr unterschiedlichen Wissensbereichen, deren Zusammentreffen aber dazu führt, dass jeder dieser Bereiche eine erhebliche Leistungssteigerung erfährt und Mehrwerte sozusagen on thefly erzeugt werden können. Techniken hierzu sind im Rahmen von Statistikverfahren entwickelt worden. 45 Die Schaffung des WordNet in Princeton beruht auf der Anwendung derartiger Techniken auf große Textcorpora. 46 Einen etwas anderen Weg gehen die Verfahren, die zu dem Projekt Wortschatz deutsch in Leipzig 47 geführt haben - Vergleichbares gibt es bei DWDS, 48 im Institut für deutsche Sprache 49 in Mannheim und im Wörterbuchnetz des Trierer Kompetenzzentrums.50 Besonders interessant scheint mir die Entwicklung zu sein, die auf einem völlig anderen Wissensbereich und mit anderen Zielen (Lesehilfen für schnelle Leser) im Projekt HyTex 51 von Angelika Storrer an der Universität Dortmund-Essen entstanden ist. Eine nicht nur denkbare, sondern konkret geplante Kooperation zwischen den Projekten HyTex und DRQEdit sowie dem Deutschen Rechtswörterbuch 52 könnte zu Ergebnissen führen, die illustrieren, warum die Forschungspolitik in Gestalt des Wissenschaftsrats den Geisteswissenschaften dringend eine stärkere Berücksichtigung der neuen technischen Möglichkeiten anrät. Aus der - vielfältigen Restriktionen unterliegenden - Suche im Wörterbuch wird dadurch eine auf dem Wörterbuch und statistischen Methoden beruhende Suche, die dem Benutzer ein onomasiologisches Gesamtfeld zur Information anbietet, das er aus eigenem Verständnis aus dem Wörterbuch nur schwer oder garnicht hätte gewinnen können. Diese Perspektiven lassen sich zwar auf ein Wörterbuch beschränken - sinnvoll ist dies aber nicht. Die beschriebenen Techniken werden über kurz oder lang Allgemeingut sein und zu Ergebnissen führen, die wiederum - und das führt zurück zu der Bedingung einer soliden wissenschaftlichen Ausbildung den Gebildeten unter den Verächtern der Informationsflut voraussetzt, der damit etwas anfangen kann. Es bleibt, was im Deutschen Rechtswörterbuch immer gegenwärtig war: Informationstechniken wie Wörterbücher und ihre (händische oder elektronische) Benutzung sind immer nur Hilfsmittel für denjenigen, der sie zu nutzen weiß. Weiß er sie aber zu nutzen, so haben alle den Nutzen davon. 45 Vgl. hierzu Reginald Ferber, Information Retrieval. Suchmodelle und Data-Mining-Verfahren für Textsammlungen und das Web (Heidelberg 2003). 46 Vgl. Christiane Fellbaum, WordNet. An electronic lexicographical Database (1998). http: / / mitpress.mit.edu / catalog / item / default.asp?ttype=2tid=8106 (17.01.2007). 4 ? http: / / wortschatz.uni-leipzig.de/(17.01.2007). 48 http: / / www.dwds.de/(17.01.2007). 49 http: / / www.ids-mannheim.de/(17.01.2007). 50 http: / / germazope.uni-trier.de / Projects / WBB / woerterbuecher/ (17.01.2007). Der Kuriosität halber sei erwähnt, dass alle vier Wortschatzsammlungen die Wörter „Eremodizialverfahren", „Kontumazialverfahren" und „Quadruplik" nicht kannten.
51 http: / / www.hytex.info/(17.01.2007). 52 Und der Hoffnung, dass das Datenmaterial des FWB für die scientific community auch auf diesem Bereich verfügbar würde.
Medium Wörterbuch Von Anja Lobenstein-Reichmann I. Einführende Bemerkungen „Wir dürfen nicht vergessen, dass ,informieren' von ,in Form setzen' hergeleitet ist. Wenn ich mich selbst informiere, versuche ich, mir Nachrichten zu verschaffen, die mir ein möglichst genaues Bild von meiner Umwelt geben. Wird aber A von B informiert, so kann B dabei die Absicht haben, A in bestimmter Weise ,in Form zu setzen'; zum Beispiel kann B als Regierung die Tendenz verfolgen, dem Volk A solche Nachrichten zukommen zu lassen, dass es bereit ist, einen Krieg zu führen." 1 (Konrad Zuse).
Der hier zitierte Konrad Zuse gilt als der Erfinder und Konstrukteur des ersten funktionsfähigen und frei programmierbaren Rechners der Welt. Mit seinem Z3 begann 1941 das Zeitalter des Computers und damit der modernen Informationstechnologie. Bereits das Wort Informationstechnologie führt die Brisanz vor, die unter sprachtheoretischen Aspekten damit verbunden ist. Informieren ist eine sprachliche Handlung, die von Menschen individuell sachverhaltsbezogen und/ oder gegenüber anderen Menschen vollzogen wird. Auch wenn man sich selbst informiert, nutzt man dasjenige, was andere sprachlich vorgegeben haben. Diese Handlung setzt sich aus besonders gefassten oder, um mit Zuse im Bild zu bleiben, geformten Inhalten zusammen, mit denen je nach Bedingtheit dieser Menschen vollkommen unterschiedliche Absichten und entsprechend auch unterschiedliche Zwecke verfolgt werden. Zuses Nachrichten sind eben geformte Bilder von der Umwelt und nicht die Umwelt selbst. Sie sind in Form gebrachte Projektionen. Nicht mehr und auch nicht weniger. Dies muss deswegen von Anfang an betont werden, da das Wort informieren in seiner heutigen Bedeutung feststehende und objektiv berichtete Inhalte suggeriert, die nur von einer Person zur anderen transportiert werden, was tatsächlich ein rein technischer Vorgang wäre. Das Wort Informationstechnologie unterstützt diese positivistische Vorstellung zusätzlich, da es schon rein wortbildungsmorphologisch bedingt die Betonung auf Technologie legt, was laut Duden soviel bedeutet wie: „technisches Wissen; Gesamtheit der technischen Kenntnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten". Als Kompositum Informationstechnologie bedeutet dies dann: „Technologie der Gewinnung, Speicherung u. Verarbeitung von Informationen" 2. Sprache wird auf diese Weise zu einem 1
Konrad Zuse, Der Computer. Mein Lebenswerk. Berlin 1984, 160. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Bd. 5, S. 1936. 3. völlig neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim etc. 1999. 2
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technisch handhabbaren, beinahe naturwissenschaftlich objektivierbaren Gegenstand. Wir haben aber auf der einen Seite die Informationen, die aufgrund ihrer Sprachlichkeit soziale und kulturelle Größen darstellen, und auf der anderen Seite die Technik, die dazu dienen soll, das Sprachliche zu gewinnen, zu speichern und zu verarbeiten. Es geht also einerseits um einen dynamischen Gegenstand, auf den ein stabilisierender ordnender Zugriff gerichtet werden soll, und andererseits um die mehr oder minder technische Art des Zugriffs. Lexikographie ist nach dieser Betrachtung nicht nur einfach Informationstechnologie, sondern gehört geradezu zu den Prototypen derselben, und dies mit allen schon angesprochenen Konsequenzen und schon sehr viel länger als Zuses Computer. Lexikographen verstehen sich jedoch keineswegs als Technologen, die Informationen rein technisch aufbereiten, sondern als Text-, Sprach- und Kulturwissenschafter. Und dies mit gutem Grund, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Ein wichtiger Teilbereich der immer weiter expandierenden IT-Branche sind die Neuen Medien. In ihnen wird die viel beschworene Informationsgesellschaft zur virtuellen Realität. Mit ihnen kann man tatsächlich Informationen gewinnen, speichern und weiterverarbeiten. In welchem Verhältnis die Neuen Medien mit ihren neuen medialen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung und -speicherung zur traditionellen Lexikographie als alter Form der Informationstechnologie stehen, soll hier betrachtet werden. Das Phrasem „Neue Medien" monosemiert den Medienbegriff auf die Bezugsgrößen Computer und Internet als spezielle informationstechnologische Subkategorien in einem übergreifenden Mediensystem. Die Folgen, die der Medienwechsel vom Printmedium zum elektronischen Medium für die Lexikographie als praktische Wissenschaft bzw. als „Medium" hat, ist ein weiteres hier zu diskutierendes Thema. Dabei ist es sinnvoll, zunächst einmal die Frage nach der Medialität von Wörterbüchern zu stellen. Wenn man als Wörterbuchbenutzer das Lemma/Stichwort Wörterbuch nachschlägt, differenziert man in der Regel nicht zwischen der Sache Wörterbuch und dem Wort Wörterbuch. Man macht sich nicht bewusst, dass die Information, die man aus einem Wörterbuch erhält, den Wortgebrauch spiegelt, nicht jedoch auch gleichzeitig eine Sacherklärung sein muss, selbst wenn beide Informationstypen in der Regel nur theoretisch voneinander unterscheidbar sind. Die Erklärung zum Wort Wörterbuch im Duden (4556) lautet: „Nachschlagewerk, in dem die Wörter einer Sprache nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, angeordnet und erklärt sind". Ein kritischer Benutzer wird sich nun durchaus informiert' fühlen; vor allem könnte er sich nun fragen, welche Folgen die vom Lexikographen vorgenommenen Handlungen „Nach bestimmten Gesichtspunkten auswählen, anordnen u. erklären" für das vor ihm liegende Ergebnis dieser Handlungen und vor allem für den Wert des neu gewonnenen Wissens haben. Es wird ihm vielleicht auch auffallen, dass die Erläuterung von Wörterbuch durch den Duden-Lexikographen die Perspektive des lexikographischen Arbeitens beleuchtet und nur bedingt den Nutzen des Produktes für den Wörterbuchbenutzer als Nachschlagewerk an-
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zeigt; der Lexikograph beschreibt auch nicht den Gegenstand, den der Benutzer in den Händen hält, nach seinen äußerlichen Kriterien, d. h. als ein Buch, bestehend aus einem Leinen- oder Pappdeckel, Papier und Druckertinte. Es geht ihm bei seiner Erklärung also mehr um die eigenen Handlungen als um das Mittel, mit dem diese Botschaft übertragen wird, mehr um die Informationskonzeption als um die materielle Informationsdarbietung. Es scheint, als ob der Informationsträger dieses Nachschlagewerkes von untergeordneter Bedeutung ist bzw. als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Diese Beobachtung gilt auch schon für das Wörterbuch der Brüder Grimm [DWB], wo s. v. Wörterbuch 3 zu lesen ist: „Wörterbuch [Lfg. 30, 10], n., ,lexikon, dictionarium, wortsammlung, Wortverzeichnis'. [ . . . ] 1) auf dem gebiet der eigentlichen spräche, das ganze oder teile des Wortschatzes einer spräche betreffend. [ . . . ] 2) als erklärende Sammlung der zu einem bestimmten Sachgebiet und Wissensbereich gehörigen begriffe, stichworte und kunstwörter, von alphabetisch geordneten, einzelbeiträge enthaltenden werken enzyklopädischen Charakters. [ . . . ] 3) in übertragenem gebrauch, a) für den wortvorrat, der innerhalb eines bestimmten lebens- oder Sachgebietes bezeichnend zur Verfügung steht."
Es ist von Sammlung die Rede, von Verzeichnis, sogar von Vorrat, aber nicht von Buch oder gar von Medium oder Medien. Auch im Grimm scheint der Informationsträger also nicht erklärungsbedürftig bzw. mit dem Zweitglied des Kompositums Wörterbuch vorgängig so geklärt zu sein, dass der Lexikograph darauf nicht näher eingehen muss. Ich erwähne dies nur, damit verständlich wird, warum man gegenwärtig von Wörterbüchern sprechen kann, ohne dass damit die bereits genannten Artefakte Papier, Tinte, Leim, kurz echte anfassbare Bücher verbunden werden müssen. Das zweite zu diskutierende Wort, Medium, ist aufgrund seines Fremdwortcharakters nicht im Grimm zu finden. Im Duden4 (2548) wurde es als fünffach polysem angesetzt, das heißt mit 5 Einzelbedeutungen, die teilweise durch Binnendifferenzierung noch weiter untergliedert werden können. Der Vollständigkeit wegen liste ich die Erläuterungen hier auf: 1. ^ermittelndes Element'; 2. a. »Einrichtung, organisatorischer u. technischer Apparat für die Vermittlung von Meinungen, Informationen, Kulturgütern; eines der Massenmedien Film, Funk, Fernsehen, Presse'; b. »Hilfsmittel, das der Vermittlung von Information u. Bildung dient (z. B. Buch, Tonband)'; c. ,für die Werbung benutztes Kommunikationsmittel; Werbeträger'; 3. ,(bes. Physik, Chemie) Träger bestimmter physikalischer, chemischer Vorgänge; Substanz, Stoff'; 4. a. ,(Parapsych.) jmd., der für Verbindungen zum übersinnlichen Bereich besonders befähigt ist'; b. ,(Med. Psych.) jmd., an dem sich aufgrund seiner körperlichen, seelischen Beschaffenheit Experimente, bes. Hypnoseversuche, durchführen lassen'; 5. ,(Sprachw.) Mittelform zwischen Aktiv und Passiv (bes. im Griechischen), der in anderen Sprachen die reflexive Form entspricht'. 3
DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm / Wilhelm Grimm. 16 [in 32] Bde. und Quellen Verzeichnis. Leipzig 1854-1971. Nachdr. München 1984. 4 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3. Aufl. Bd. 6. Mannheim 1999.
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Das am häufigsten auftauchende Wort im Erklärungswortschatz des Lexikographen ist Mittel, was etymologisch und semantisch auf das lat. medium zurückzuführen ist. Man könnte das Wort Medium nach dem oben vorgeführten semasiologischen Feld verkürzt verstehen als „ein Mittel, das der Mensch zu ganz unterschiedlichen Zwecken benutzen kann, mit dem er handelt und mit dem er etwas zu erreichen sucht, gleichgültig ob dieser Zweck physischer oder intentionaler bzw. funktionaler Natur ist". Projiziert man beide Duden-Erläuterungen aufeinander, so könnte man zu der Feststellung gelangen, dass Wörterbücher Medien sind, nämlich Mittel, mit denen Menschen sich Informationen über sprachliche Einheiten, konkret: über Wörter, die sie entweder nicht kennen oder nicht hinreichend zu verstehen glauben, einholen können. Wörterbücher wären dann vermittelnde Elemente zwischen dem informierenden Lexikographen und seinem Benutzer im Sinne von Bedeutung 1; sie dienten darüber hinaus der Vermittlung von Informationen, Meinungen und Kulturgütern im Sinne von Bed. 2a und da sie materielle Datenträger desjenigen Gegenstandes darstellen, der Kultur und Bildung ausmacht und in dem Informationen gebildet, entwickelt und transportiert werden, nämlich der Sprache, auch im Sinne von 2b. Was ich in dieser Auflistung unterschlagen habe, waren die Hinweise des Duden-Lexikographen auf die bedeutungsspezifische Numerusaufteilung, denn während Bedeutung 1 in beiden Numeri gebraucht werden kann, ist Bedeutung 2 tendenziell ein Pluraletantum, eine Eigenschaft, die eine Eigenlemmatisierung nicht ausschließt, was aber von der Konzeption des jeweiligen Wörterbuchs und den Interessen des Lexikographen abhängt. Auffällig ist jedenfalls, dass wir fast immer von den Medien 5 sprechen und schreiben und dass uns das Singularwort Medium, unter dem auch die Medien lemmatisiert wurden, kaum oder nur fachsprachlich begegnet. Bedeutet diese Gebrauchsdifferenzierung nun, dass Medien immer in der Mehrzahl auftauchen bzw. dass ein Einzelmedium nur im Zusammenhang mit anderen betrachtet werden kann6, oder ist es ein Indiz für eine Präzisierung und damit eine typische Bedeutungsverengung vom Allgemeinen hin zum Spezifischen? Tatsächlich sind mit den Medien in der Regel die Massenmedien Film, Funk, Fernsehen und Presse gemeint; selbst das traditionelle Medium Buch wird kaum mehr mit den Medien assoziiert, schon gar nicht das Wörterbuch. Mit diesem engeren Sinne könnte ich meine Argumentation an dieser Stelle schließen, zusammenfassend feststellen, dass Wörterbücher nicht in die Kategorie ,Medien' passen, 5 Entsprechend heißt die dazu wichtige Disziplin nicht Mediumswissenschaft, sondern Medienwissenschaft oder Medientheorie, bei Hartmann und Depray Mediologie, im Anschluss an das zugrunde liegende lateinische Etymon. Vgl. Régis Debray, Einführung in die Mediologie. Bern 2003. Frank Hartmann, Mediologie. Ansätze einer Medientheorie der Kulturwissenschaften. Wien 2003. 6 Rainer Leschke, Einführung in die Medientheorie. München 2003, 232: „dass Medien nur als Plural, also als ein Zusammenhang unterschiedlicher Einzelmedien überhaupt erfasst werden können."
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und damit den Titel des Aufsatzes als irrelevant ablehnen. Das möchte ich jedoch nicht tun. Stattdessen füge ich nun ein argumentativ wichtiges Fragezeichen ein: Medium Wörterbuch? II. Medium Wörterbuch? Der Medienbegriff und seine Anwendbarkeit auf Wörterbücher Marshalls McLuhans Medienbegriff oder: „All media are extensions of some human faculty" und „The Medium is the Message". Sicher eine der interessantesten Gestalten in der Medienwissenschaft ist Marshall McLuhan. Sein Medienbegriff ist zwar sehr umfassend, kommt aber der von mir oben formulierten Abstraktion der Dudenbedeutung am nächsten. McLuhans Ansatz bietet gerade aufgrund seiner provokativen Übersteigerungen vielfältige Anknüpfungs- und Reibungspunkte für die Diskussion. Gerade im lexikographieorientierten Zusammenhang bietet es sich an, die zwei Hauptthesen McLuhans in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken und sie konsequent mit der Frage nach der Medialität von Wörterbüchern zu verbinden. Es ist dies zum einen McLuhans vieldiskutierte Provokation: „The Medium is the Message" und zum anderen die These, dass man sich die Medien als menschliche Organerweiterungen vorstellen muss. „All media work us over completely. They are so pervasive in their personal, political, economic, aesthetic, psychological, moral, ethical, and social consequences, that they leave no part of us untouched, unaffected, unaltered. The medium is the message. Any understanding of social and cultural change is impossible without a knowledge of the way media work as environments. All media are extensions of some human faculty - psychic or physical."7
Beginnen wir mit dem Letzteren: Für McLuhan sind Medien Exteriorisierungen des Menschen, ganz in der Tradition von Freuds Prothesen8. Mit ihnen hilft sich der von der Natur hilflos gelassene Mensch aus seiner natürlichen Defizienz heraus und macht sich zum Herrn über seine Umwelt, die er mit diesen selbst gemachten Prothesen ganz in seinem Sinne verändern kann. Er bedient sich ihrer in derselben Weise, wie er es mit allen seinen Organen vermag. Oder wie Sybille Krämer (Krämer 1998c, 75) es formuliert: „McLuhan konzipiert, was ein Medium ist, auf der Folie technik-theoretischer Überlegungen. Techniken wie die Medien haben für ihn den Status eines Mittels; doch die Ei7 McLuhan/Fiore 26. Vgl. dazu auch: McLuhan 1964/2001, 7 f.; 23. 8 Sigmund Freud, Vom Unbehagen in der Kultur (1930), 222: „Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich in der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen." In: Sigmund Freud, Studienausgabe. Band IX. Fragen der Gesellschaft Ursprünge der Religion. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. 8. Aufl. Frankfurt 1997.
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genstruktur und Eigendynamik dieser Mittel lässt sich den ihnen jeweils gesetzten Zwecken keineswegs subsumieren. Eine Vorstellung über die Eigensinnigkeit der Mittel gewinnt McLuhan durch die Orientierung an einem gängigen Topos: Technik gilt ihm als Organerweiterung und Organ Verstärkung; sie wird zur künstlichen Ausweitung des menschlichen Körpers."
Wenn Medien eine Art Organerweiterung und Organverstärkung des Menschen darstellen, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes technische Hilfsmittel, Verlängerungen der menschlichen Hand, zu all denjenigen Zwecken, die mit der Hand allein nicht erreicht werden können, weil diese zu weich, zu kurz, zu schwach oder zu schmerzempfindlich usw. ist. Auch wenn dieser Medienbegriff sehr generisch zu sein scheint, ist er doch in seinem prinzipiellen Grundgedanken bedeutsam. Medien sind auf jeden Fall Instrumente des Menschen, mit denen er auf seine Umwelt reagiert und auf sie einwirkt. Dieser Aspekt des Mediums trifft auch auf die Lexikographie zu, in der der Lexikograph mit Hilfe seiner Textcorpora Wörterbuchartikel schafft, mit denen er selbst wiederum auf seine Umwelt, konkret auf den einzelnen Benutzer oder insgesamt auf das Kollektiv einwirkt, das sich mit der darin bearbeiteten Sprache identifiziert. Inwiefern dies zugleich auch der zweiten These McLuhans entgegenkommt: „The Medium is the Message", soll zunächst einmal offen bleiben. Ist doch gerade dieser Gedanke von außerordentlicher gesellschaftspolitischer Tragweite. Denn versteht man die darin enthaltene Aussage in ihrer ganzen Radikalität, dann bedeutet sie erstens, dass es jedwede Art von Inhalt immer nur in einer jeweils bestimmten medialen Gestaltung gibt und sonst gar nicht. Und sie bedeutet zweitens, dass ein Inhalt, der zum Beispiel in einem Roman publiziert wird, in seiner Verfilmung nicht nur anders aussieht, sondern auch ein anderer ist. Oder, um beim Thema zu bleiben, dass der Inhalt des alten Mediums Printwörterbuch ein anderer ist als derjenige, der im neuen Medium Internet publiziert wird. Dies bedeutet schließlich in letzter Konsequenz, dass die übliche Voraussetzung eines vormedial gegebenen Inhaltes aufgegeben werden muss. Man kann dann nicht einfach ,in Form setzen4, was vorher schon da ist, sondern formt immer wieder vollständig Neues. Im Grunde genommen gibt es dann nur die Einheit von Medium und Inhalt, für die wir aber weder normal- noch fachsprachlich einen griffigen Terminus haben. Im Sinne McLuhans ist das Medium dann eben nicht mehr nur äußerer, sinnfälliger Träger von Informationen, sondern fällt mit diesen zu einer nicht trennbaren Einheit zusammen, ist die Botschaft selbst. Die hiermit angedeutete zweifache Funktion von Medien, nämlich a) Verstärker und b) Konstituens von Information zu sein, findet sich auch bei anderen Autoren. Während Hartmann davon spricht, dass Medien „Speicher, Vermittler und Verstärker" 9 (Hartmann, Mediologie 17) sind, das sei jedenfalls ihre „Basisfunktion", finden sich bei anderen die beiden Funktionen mit graduellem Übergang in geradezu 9 Hartmann, Mediologie 17: „Medien sind Speicher, Vermittler und Verstärker - das ist ihre Basisfunktion". Vgl. dazu S. Krämer 1998b, 10 f.
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toposartiger Weise wieder. Ich zitiere stellvertretend Kloock/Spahr 10 und Sybille Krämer: Kloock/Spahr 8: „Nicht bestimmte Medien oder bestimmte Medienwirkungen stehen in Frage, sondern Effekte der Medien schlechthin. Charakteristisch ist dabei, daß Medien nicht als neutrale Träger oder Überträger von Informationen gelten, sondern als Techniken, welche die Möglichkeiten der Kommunizierbarkeit von Informationen konstituieren. Diese Möglichkeiten bedingen zugleich die Information selbst, denn zum einen erhält nur, was kommuniziert, mitgeteilt und überliefert werden kann, eine Bedeutung, und zum anderen formt die Gestalt der Mitteilung (eine Handschrift, ein gedrucktes Buch, ein technisches Bild) auch ihren Inhalt. Wissen ist demnach in Abhängigkeit von den medialen Formen seiner Speicherung und Übertragung zu sehen. So ergibt sich die These, daß die in einer Epoche dominierenden Kommunikations- bzw. Informationsmedien mit den Kommunikationsverhältnissen auch das Weltbild und die Wahrnehmungsmuster prägen. Der damit hergestellte Zusammenhang zwischen Medien und Strukturen der Erkenntnis nimmt Kultur als solche in den Blick: „Medientheorie" in diesem Sinne untersucht Medien als konstitutive Faktoren von Kultur." Krämer 1998c, 73: „In der Vielfalt medienbezogenen Forschens kristallisiert sich ein gemeinsamer Nenner heraus: Es ist dies die Überzeugung, daß Medien nicht nur der Übermittlung von Botschaften dienen, vielmehr am Gehalt der Botschaften - irgendwie - selbst beteiligt sein müssen. Denn nur soweit Medien überhaupt eine sinnmiterzeugende und nicht bloß eine sinntransportierende Kraft zugesprochen wird, entpuppen sie sich als interessante Gegenstände geistes- und kulturwissenschaftlicher Arbeit."
Man beachte die Verben konstituieren, bedingen, prägen, die Wiederholung konstituieren im Adjektiv konstitutiv und den expliziten theoretischen Hinweis auf die relativitätstheoretischen Kernausdrücke „Weltbild" und „Wahrnehmungsmuster" bei Klook/Spahr, oder die Ausdrücke beteiligen, sinnerzeugend (vs. sinntransportierend) bei Krämer; an anderer Stelle verwendet sie Wirkkraft und ebenfalls das Verb prägen. Pointierter noch als Zuses „in Form setzen", aber nicht ganz so radikal wie McLuhans Gleichsetzung von Botschaft und Medium, werden die sinnstiftenden Eigenschaften des Mediums betont. Der medial mitgeteilten Information wird damit außer einer bestimmten Form auch ein zusätzlicher medienbestimmter Gehalt zugeschrieben. Auf den Gegenstand Wörterbuch bezogen, bedeutet dies: Medien werden bei Kloock/Spahr als Techniken bezeichnet, „welche die Möglichkeiten der Kommunizierbarkeit von Informationen konstituieren". Dieser Satz gilt auf jeden Fall für Bücher im Allgemeinen, somit auch für Wörterbücher, aber für diese nicht in spezifischer Weise. Dennoch wirken alle Folgesätze so, als wären sie der Textsorte Wörterbuch geradezu auf den Leib geschrieben. Denn Wörterbücher sind auch „konstitutive Faktoren von Kultur". In den Zitaten wird gesagt, dass Medien, und das beziehe ich im Folgenden explizit auf Wörterbücher, nicht einfach nur übermitteln, was vorgegeben ist, sondern, dass sie, wie Hartmann vorsichtig schon 10
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Daniela Kloock / Angela Spahr, Medientheorien. Eine Einführung. 2. Auflage. München
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durch das Verb verstärken andeutet, die Botschaft auch bedingen, sie formen und damit auch die Weltbild- und die Wahrnehmungsmuster der Kommunikationsteilnehmer prägen. McLuhan schlussfolgert konsequenterweise, dass Medien nicht nur übertragende, sondern auch „gestaltende Kraft in der Geschichte" haben (McLuhan 1964, 29).
III. Die Medialität der Wörterbücher Welche welt„erfassenden", welterschließenden und weltkonstitutiven Funktionen das Medium Wörterbuch aufweist, soll im Folgende gezeigt werden. Diese Erörterung soll in Form von 3 Thesen erfolgen. These 1 betrifft den Medienstatus von Wörterbüchern. Werke kollektiven Wissens, allen voran Wörterbücher, können unter ganz bestimmten medientheoretischen Vorannahmen in einem funktional-kommunikativen Sinne deswegen als Medien bezeichnet werden, weil sie wichtige Instrumente zur Übertragung und Vermittlung von Inhalten sind. Es kommt unter dem Konstitutionsgesichtspunkt hinzu, dass die Medialität von Wörterbüchern von besonderer Art ist. In ihnen verbinden sich, wie schon in der Bezeichnung kenntlich wird, verschiedene Medientypen, und zwar erstens das Printmedium Buch, zweitens dessen sprachliche Verfasstheit und drittens dessen skribale Konzeption. Der jeweilige Medienstatus der drei genannten Größen ,Buch\ ,Schrift 4,,Sprache' ist dabei unterschiedlich zu bewerten. These 2. Das Wörterbuch stellt auch deshalb eine besondere Kategorie von Medium dar, weil es die geschichtlich notwendige Antwort auf die immer weiter voranschreitende Wissensakkumulation der Neuzeit ist. Mit seiner Hilfe können Informationsfluten gebändigt, geordnet und kanonisiert werden. Weil man Wörterbücher als ausgegliedertes Sprachgedächtnis verstehen könnte, sind sie ganz im Sinne McLuhans „Extensions ofMan und zwar nicht nur generell im anthropologischen Sinne, sondern auch im kultur- und sozialhistorischen Sinne. Sie sind vor allem die Extensions of communities, besser: das Speichermedium von Kultur und Geschichte und werden auch als solches von den Rezipienten angesehen. These 3: Wörterbücher sind aber mehr als nur passiv gedachte Speicher bzw. Ablagen oder Schubladen, da sie mit ihrem Gegenstand Sprache die genannten Größen Kultur und Geschichte immer in einer spezifischen Fassung modellieren und verarbeiten. Der jeweilige Modus der Speicherung, damit alle Modalitäten der Erfassung, Be- und Verarbeitung, verändert das Gespeicherte. Und was über Medien gesagt worden ist, gilt entsprechend für Wörterbücher. (Krämer 1998b, 14): „Medien übertragen nicht einfach Botschaften, sondern entfalten eine Wirkkraft, welche die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erfahrens, Erinnerns und Kommunizierens prägt." Wörterbücher sind eben nicht nur Medien der Weltwissenssammlung und -speicherung, wofür man sie in einer naiven Anschauung hält, sondern auch der Weltwissens- und Weltbildkonstruktion. Was McLuhan allgemein für Geschriebenes bzw. für Bücher schreibt, gilt umso mehr für Wörter-
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bücher, als diese alle Eigenschaften des geschriebenen und gedruckten Wortes mit sich führen und darüber hinaus auf eine bestimmte textsortenspezifische Erwartungshaltung des Rezipienten treffen. McLuhan schreibt dies bezeichnenderweise in einem Kapitel mit der viel sagenden Überschrift: „The printed word. Architect of Nationalism", wobei Nationalismus mit anderen „-ismen" beliebig austauschbar wäre. Die angesprochenen Erwartungshaltung des Rezipienten, der in der Rezeption natürlich immer auch noch seine eigenen Modellierungen vornimmt, besteht vor allem darin, dass man Wörterbüchern und Enzyklopädien aufgrund ihres handlungstheoretischen Hauptanliegens, den Rezipienten über etwas zu informieren, ganz besondere Eigenschaften zuschreibt, nämlich besondere Glaubwürdigkeit, Objektivität, Kompetenz und Normativität. Ohne diese Zuschreibungen wäre die oben angesprochene Wirkkraft sicherlich nicht so hoch zu veranschlagen. Hier anschließend stellt sich nun die Frage, ob damit - also mit dem Objektivitätsduktus der Textsorte Wörterbuch bzw. mit dessen Annahme durch die Rezipienten - vielleicht schon dasjenige getroffen ist, was oben mit den Ausdrücken konstituieren, prägen usw. bzw. mit der medium-message-Formulierung gemeint war. Hierzu scheint mir eine kritische Bemerkung angebracht zu sein: Einerseits ist nicht zu leugnen, dass das Medium die Inhalte in bester Weise mitprägt, sei es durch seine medialen Darstellungsmöglichkeiten oder sei es indirekt durch die aus der allgemeinen Kenntnis des Mediums resultierende Rezeptionshaltung der Rezipienten. Deren (Un)voreingenommenheit hat einen maßgeblichen Anteil am Interpretations- und Bewertungsprozess. Beispiele wie die schon angedeuteten, dass etwa der Inhalt eines Romans ein anderer sei als der Inhalt von dessen Verfilmung und dass diese Andersartigkeit durch die Verschiedenheit der Medien Buch bzw. Film bedingt sei, leuchten ohne Weiteres ein; sie können für den Medien Wechsel vom Printmedium zum Internet jedoch nicht vollständig überzeugen. Wieso ist die Information des Druckweites Wörterbuch eigentlich konstitutiv anders als die digitale des Internet? Ist sie anders, weil der Stellenwert einer inhaltlichen Aussage infolge neuer Verknüpfungsmöglichkeiten anders ist? Dann wäre die Einheit als solche aber doch enthalten. Oder ist die Informationseinheit in ihrem Zuschnitt, in ihrer inhaltlichen Substanz je nach Medium anders? Dies zu bejahen, wird wohl schwer fallen. Es kommt hinzu, dass eine Antwort auf die Frage, wann das Eine aufhört und das Andere beginnt, nicht beantwortet ist und auch gar nicht generell beantwortet werden kann. Man kann einerseits durchaus sagen, eine Romanfigur oder die Handlungskonstellation eines Dramas sei in der Verfilmung gegenüber dem Buch verändert, man kann andererseits aber ebenso gut sagen, trotz gewisser Veränderungen sei es immer noch die gleiche Figur oder die gleiche Handlungskonstellation. Jedes Urteil über die Grenzen des Einen bzw. des Anderen hängt vom Feinheitsgrad und der Art des Aspektes ab, unter dem ich eine Gegebenheit betrachte, sie interpretiere und über sie urteile. Bei der Formulierung der ersten These wurde behauptet, Wörterbücher seien eine besondere Art Medium. Diese Aussage gilt in Bezug auf die Bedeutungserläuterung aus dem Duden, wo Medien als Hilfsmittel zu einem bestimmten Zweck ge-
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sehen werden. Wiegand (1998, 298) beschreibt dies folgendermaßen: „Alle Wörterbücher gehören zu den Gebrauchsgegenständen; für diese - als einer speziellen Art der Artefakte - gilt: sie werden hergestellt, damit ihre potentiellen Benutzer, wenn sie diese in usuellen Gebrauchskontexten benutzen, ein Mittel (oder: Hilfsmittel) haben, um bestimmte Handlungsziele erreichen zu können." Die These ist aber auch deshalb stimmig, weil das Wörterbuch, und das wird schon durch die Bezeichnung selbst deutlich, sich auf drei unterschiedliche und doch zusammengehörige Medientypen stützt, nämlich Sprache, Schrift und Buch bzw. irgendeinen speziellen schriftbezogenen Datenträger. In Bezug auf die Dichotomie Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist das Wörterbuch der Ort, an dem Sprache am schriftlichsten ist, was nichts anderes bedeutet, als dass es zu den Textsorten gehört, die in ausgeprägter Weise konzeptionell schriftlich angelegt sind. Kennzeichen lexikographischer Produkte sind nämlich Situationsenthobenheit, Abstraktion, sprachliche Dichte und Komplexität, Präzision und eine Forderung nach Kürze, die sich nicht nur in vielen Abbreviationen niederschlägt. Wenn es eine spezifische Eigenschaft von Schriftlichkeit ist, sprachlich gefasste Inhalte zu archivieren, so ist das Wörterbuch konzeptionell das wichtigste Archiv zu diesem Zweck. Es macht den flüchtig gesprochenen Ausdruck zum zeitübergreifenden, gespeicherten Kulturträger, der durch seine Situationsentbundenheit Antwort auf alle möglichen Fragen geben kann, die Benutzer an ihn als lexikographische Abstraktion stellen. Und Sprache ist bekanntlich in einem philosophisch umfassenden Sinne Datenund Handlungsträger gleichermaßen. Noch deutlicher wird die hier angesprochene Polyfunktionalität von Sprache, wenn man sie in ihrer Geschichtlichkeit betrachtet, die ihre kultur- und traditionsbildenden Leistungen sowohl synchron als auch diachron spiegelt oder anders ausgedrückt, die permanente Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dokumentiert. Sprache bildet nicht nur einen passiven Speicher, sondern fungiert als aktive Konstrukteurin von Kultur- und Weltbildinformation und wird besonders in ihrer lexikographisch aufbereiteten Formung doppelt in den großen medialen Speicher des verschriftlichten Kodifikationsprozesses eingefügt: erstens prinzipiell als sprachliche Einheiten mit allen inhaltlichen und formalen Daten und zweitens als vom Lexikographen ausgewählte und bearbeitete Einheiten. Wenn von der weltbildenden Kraft der Medien die Rede ist, so beruht die dabei vollzogene Argumentation oft auf der Tatsache, dass mit den Medien prinzipiell Kommunikations- und Informationsmedien gemeint sind. Und dies wiederum bedeutet, dass die wichtigsten Eigenschaften von Sprache auf die Medien übertragen werden. Im Falle der Wörterbücher hat dieser Einwand in besonderer Weise seine Berechtigung, denn Wörterbücher stellen eine besondere Art Datenträger dar. Im Fall von Wörterbüchern muss immer wieder betont werden, dass Sprache hier Objektsprache und Metasprache zugleich ist, Beschreibungsmittel und Beschreibungsgegenstand gleichermaßen. Hinzu kommt, dass in Wörterbüchern zwei Arten von Daten bearbeitet sind, die nur theoretisch voneinander abgegrenzt werden können, nämlich sprachbezogene und sachbezogene Informationen. Da der Gegenstand des Wörterbuches Sprache in einer jeweils gegenstandsspezifischen
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Aufbereitung ist und man diese als das Medium des Menschen betrachten könnte, müssen Wörterbücher in ihrem metasprachlichen Zugriff auf das Medium Sprache folglich auch als ein Metamedium gelten. Denn in Wörterbüchern wird sprachlich gespeichelt, dokumentiert, beschrieben und erklärt, was in der Sprache bzw. Sprachvarietät gespeichert, dokumentiert, beschrieben und erklärt wird. Das Wörterbuch ist also ein Sammelbegriff für Exemplare eines bestimmten Mediums, nämlich des Buches, das seinen Gegenstand in einem anderen Medium, nämlich der Sprache hat und mittels dieses Mediums bearbeitet wird. Wörterbücher können aber noch aus einem anderen Grund als Metamedien betrachtet werden, und hier überschneiden sich die Antworten zu den Thesen 1 und 2. Es ist kein Zufall, dass Werke kollektiven Wissens entwicklungsgeschichtlich zu einem Zeitpunkt an Bedeutung gewannen, als die Bücherflut der Neuzeit ihre Leser zu ertränken drohte und ein Navigationsinstrument gesucht wurde, mit dem man das akkumulierte Wissen lesegerecht verwalten konnte. Die erste Medienrevolution, die der Buchdruck eingeleitet hatte, ist ein Lehrstück für die Notwendigkeit, Wissen zu organisieren und zu strukturieren. Der gesellschaftspolitische Bedarf an Wissen wuchs in gleichem Maße wie die Publikationsmenge. Doch je mehr Bücher auf den Markt geworfen wurden, desto weniger konnte das publizierte Wissen von einzelnen Individuen bewältigt werden. Die Folge waren Bücher über Bücher, die das akkumulierte Wissen zusammenfassten, ordneten und „mundgerecht" servierten, eben Wörterbücher und Lexika (Adelungs Grammatisch-Kritisches Wörterbuch, Diderots Encyclopédie). Hartmann (173) nennt sie „Navigationstools" im weiten Meer des Wissens und leitet im Anschluss an den Ansatz von Harold Innis folgendes Theorem ab: Hartmann, Mediologie 174: „Ein Mediensystem reagiert auf spezifische Kontingenzprobleme des Mediums jeweils mit der Entwicklung von Meta-Medien. Diese Meta-Medien oder Navigationshilfen (denn es handelt sich nicht immer gleich um völlig „neue" Medien) setzen den kulturell notwendigen Prozess der Auslagerung geistiger Funktionen in kulturelle Techniken (Schrift, Bibliothekswesen oder eben Enzyklopädien, Bilder, Denkmäler, Museen) nur fort: Solche Funktionserweiterungen des Mediums reagieren auf Defizite und werden entsprechend dem neuen Bedarf entwickelt. Das Meta-Medium dient in der Folge der Medienkompetenz, die durch das alte Medium überfordert wurde. Niemand kann mehr alles lesen, daher wird eine andere Buchform populärer, werden Bücher über Bücher publiziert. Je komplexer das mediale System einer Kultur ist, desto ausgeprägter wird das Verlangen nach Meta-Informationen zum vorhandenen Wissen, also nach ordnenden, steuernden und transformierenden Funktionen sowie nach medialen Subsystemen (wie Deskriptionen, Übersetzungen, Interpretationen, Indizes)."
Greifen wir auch hier wieder auf Ausdrücke des Zitates zurück. Die Feststellung der Defizite aufgrund eines neuen Bedarfs veranlasst den Menschen, sich Hilfen zu konstruieren, nämlich Navigationshilfen. Eine besonders effektive Art solcher Kulturprothesen sind Wörterbücher. In ihnen kann nachgeschlagen werden, was das eigene Gehirn vergessen hat, sowohl sprachbezogene Information als auch sachbezogene. Nimmt man das eben Formulierte ernst, so kann man im Sinne von McLu-
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hans Idee von Medien als „Extension of Man" tatsächlich vom Wörterbuch behaupten, dass es ein ausgegliedertes Sprachgedächtnis des Menschen sei, eines, das es dem Menschen manchmal sogar erleichtert, sich im Dschungel seines Alltags zurechtzufinden. Dass Zurechtfinden auch Lenken bedeutet, ist im Zitat angeklungen. Um die in der dritten These aufgestellte Frage nach dem Charakter der Botschaft soll es im Folgenden gehen. Ordnen, steuern und transformieren sind Verben, die den sinnstiftenden Charakter der neuen Meta-Medien unterstreichen. Dies gilt bei McLuhan bereits für das Medium Buch: McLuhan (1964/2001, 187) „Psychically the printed book, extensión of the visual faculty, intensified perspective and the fixed point of view. [ . . . ] (188) Socially, the typographic extensión of man brought in nationalism, industrialism, mass markets, and universal literacy and education. For print presented an image of repeatable precisión that inspired totally new forms of extending social energies."
Wörterbücher sind eine besondere Art von Büchern. An ihnen kann das zweite medientheoretische Postulat diskutiert werden, das oben von McLuhan als intensified perspective and the fixed point of view formuliert wurde, eine etwas abgemilderte Formulierung des bereits diskutierten: „The Medium is the Message".11 Die prinzipielle Information: „dieses Buch ist ein Wörterbuch" ist, wie schon angedeutet wurde, von großer Bedeutung. Immerhin veranlasst sie den Rezipienten zu ganz bestimmten Erwartungen. Die Textsorte Wörterbuch in ihrem genuinen Verwendungszweck für den Benutzer, nämlich als Nachschlagewerk von Informationen, suggeriert per se die Richtigkeit der Information, die Sachkompetenz des Lexikographen und lässt keinen Raum zur Diskussion derselben. Zum Aspekt der Textsorte gehört vor allem die spezifisch lexikographische Art der Darstellung. Alle in Werken kollektiven Wissens gespeicherten sprachlichen Informationen beruhen auf einer eigens für ihren Codifikationsprozess entwickelten Technik der Übermittlung, die durch fachsprachliche Kürze und Bestimmtheit gekennzeichnet ist und damit großen Anteil hat an der genannten Erwartungshaltung ihrer Rezipienten. Diese Erwartungshaltung wird aber in der Regel nicht vom Benutzer reflektiert. Für ihn sind Richtigkeit und vor allem Objektivität der in einem Wörterbuch oder einem Lexikon angegebenen Information selbstverständlich. Und selbst wenn er einen Einzelartikel doch einmal im Detail hinterfragt, ihn gar aufgrund eigener Kompetenzen in Zweifel zieht, so würde er die Glaubwürdigkeit der Textsorte selbst nicht in Frage stellen. Täte er dies, so befände er sich im Zustand der Störung, des Rauschens, wie S. Krämer es metaphorisch formuliert. Denn „Medien wirken wie Fensterscheiben: sie werden ihrer Aufgabe um so besser gerecht, je durchsichtiger sie bleiben" (Krämer 1998c, 74). Aber Fensterscheiben sind nicht gleichzusetzen mit dem dahinter sichtbaren Bild. Sie können die Sicht erleichtern, verklären, verstärken und sogar verzerren, aber sie nicht selbst sein. Die Medialität von Wörterbüchern, die schon durch das gedruckte Buch eine bestimmte ErwarAnders Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt 1995, 165-213. Vgl. dazu: S. Krämer 1998c, 75.
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tungshaltung des Benutzers an die Botschaft mit sich bringt, nämlich Relevanz bzw. Gültigkeit, Festigkeit und Stabilität des Ausgesagten auch in anderen Zusammenhängen, wird also durch die Textsorte zusätzlich verstärkt. Wenn man sich einmal die unterschiedlichen Wörterbuchtypen betrachtet, einsprachige oder mehrsprachige, gesamtsprachbezogene oder varietätenbezogene, synchron-zustandsbezogene oder diachron-entwicklungsbezogene12, so stellt man schnell fest, dass lexikographische Werke ganz unterschiedliche Funktionen13 haben, die sich je nach Benutzerinteresse unterscheiden. Während der Einzelne seinen ganz individuellen Nachschlagebedürfnissen nachkommen will, die sich in erster Linie durch rezeptionsbedingte Textverstehensunsicherheiten motivieren lassen, aber auch durch Textproduktionsstörungen, hat das Kollektiv, was immer sich dahinter verbirgt, vorrangig das Bedürfnis, Sprach- und Sachinformationen zu dokumentieren und die mit dem Dokumentierten verbundenen soziokulturellen Normen und Wertmaßstäbe zu legitimieren 14. Die Gebrauchslexikographie geht dabei oft übergangslos in die Dokumentationslexikographie über: „Dokumentationslexikographie, mit deren Hilfe, Museen vergleichbar, die Sprachschätze aufbewahrt und ausgestellt werden". 15 Reichmann definiert Wörterbücher aus diesem Grunde zusammenfassend als „Nachschlagewerke in einer kulturellen Praxis" 16 . Folglich sind es die Domänen Religion, Dichtung, Bildungswesen, Recht, Politik, Wirtschaft und Verwaltung, Sprachplanung und Sprachwissenschaft, die das Anfertigen von lexikographischen Werken vorantreiben. Je komplizierter die Zusammenhänge in diesen Bereichen werden, desto lauter wird der Ruf nach einem Nachschlagewerk, in dem kurz und präzise alles erklärt wird, was in der täglichen Arbeits- und Lebenswelt von Bedeutung ist. Das Buch ersetzt dann, ganz im Sinne der extensions of man, was der eigene Kopf nicht mehr leistet, oder ergänzt mit Präzision und Schnelligkeit, wozu man sonst zu lange nachdenken müsste. Wörterbücher sind zugriffsfreundliche Verlängerungen der eigenen kognitiven Kompetenzen, ohne die aber auch soziales, durch Sprache vermitteltes Wissen immer in der Schwebe bliebe. Wörterbücher bieten damit nicht nur Hilfestellungen für unsere kognitiven Mängel, sondern auch für unsere sozialen. Das macht sie, wie Hausmann es nennt, so faszinierend. Hausmann 1989b, 20: „Woher aber rührt die Faszination? [des Wörterbuches; ALR.] Die Antwort ist in einer übergeordneten Institution zu suchen, an deren Faszination das Wörterbuch in besonderer Weise teilhat, der Sprache. Über die Sprache erfährt der Mensch die Welt. Deshalb wird ihm innerhalb der Sprache das am meisten bewußt, was der Welt am nächsten steht, der Wortschatz mit seiner Begriffsbildung. Was ist ein Pfeiler? Was ist eine Säule? Was ist Betriebsblindheit? Was ist ein Geisterfahrer? Was ist Liebe? Was ist Haß?
12 Vgl. Reichmann 2003, 51. 13 Vgl. dazu auch Kühn, in: Wörterbücher I, 116; Wiegand 1987b, 202. 14 Vgl. Hausmann, Die gesellschaftlichen Aufgaben der Lexikographie 1989a, 1. 15 Hausmann 1989a, 6. 16 Reichmann 1988, 395.
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Was ist Demokratie? Die Sprache ist des Menschen Leben. Wenn das so ist, dann ist der Wortschatz sein Leben und folglich das Wörterbuch. Der Mensch (als soziales Wesen) hat den Eindruck, daß das Wörterbuch einen großen Teil seiner selbst schwarz auf weiß einschließt, fixiert, nachschlagbar und überprüfbar macht. Das ist deshalb so wichtig, weil kein Mensch ein präsentes Bewußtsein seines sprachlichen Wissens hat. Ich weiß, daß ich viel weiß. Aber ich kann mein Wissen nicht vor mir aufschlagen. Aufschlagen aber kann ich das Wörterbuch. Das Wörterbuch ist die präsente Synopsis des versteckten sozialen Wissens. Man findet darin sich selbst in einer Weise, wie man sich ohne das Wörterbuch nicht finden kann. Das macht die Faszination des Wörterbuchs aus."
Wörterbücher sind damit aber nicht nur ausgegliedertes Sprachgedächtnis und Navigationshilfen von einzelnen Menschen, sondern Sozialisations- und Identifikationsgrundlage ganzer Kollektive. Sie bieten das gesamte Inventar der kulturtypischen, genauer: der zeit-, räum-, sozial-, textsortentypischen Bezugsrahmen auf eine vorauszusetzende Realität und sie dokumentieren damit nicht nur die Darstellungs-, sondern auch zugleich die Erkenntnis- und Handlungseinheiten einer Epoche als Ganzheit wie auch in ihrer sozialen Untergliederung. Was Hartmann über Medien im Allgemeinen sagt, ist daher ganz besonders für Wörterbücher gültig: Hartmann, Mediologie 177: „Diese Auslagerungen machen Sinn, denn die Evolution kennt bei allen Lebewesen kein anderes Kriterium als jenes des kollektiven Ertrags. Der Wissensbestand des Kollektivs aber hat keinen Platz im Gedächtnis von Individuen. Auf diese Weise entsteht ein soziokultureller Makrokosmos, der zwar das Individuum wiederum konditioniert, aber ohne ihm jede Freiheit zu nehmen."
Um es noch einmal zu pointieren: Wörterbücher sind Werke kollektiven Wissens, die dazu beitragen, vorhandene Kollektive zu bejahen und neue zu bilden. Werke kollektiven Wissens sind Enzyklopädien, Allbücher und Wörterbücher. In ihnen werden die kulturellen Güter einer Gemeinschaft gesammelt, dokumentiert und archiviert. Lexika und Enzyklopädien „stehen für das Vertrauen in die Macht des Wissens. Sie sind sinnfällige Produkte des Willens zur Ordnung des schriftlich überlieferten „gelehrten" Wissens."17 (Schneider/Zedelmeier 349). Es wird auch deutlich geworden sein, dass Werke kollektiven Wissens eine höhere Weihe haben, die keinen Zweifel an ihren Inhalten oder gar ihrer Gesinnung zulässt. Sie gelten als letzte Instanz in allen Wissensfragen. Nur was Eingang in das Wörterbuch gefunden hat, gilt als objektives Wissen und als Wahrheit, und zwar genau in der Weise, wie es vom jeweiligen Lexikographen beschrieben wurde, oder um es zu spezifizieren, was und wie es geordnet, ausgewählt, gesteuert und dann transformiert wurde. Welche Konsequenzen diese Ordnung, Auswahl und Steuerung für eine Gesellschaft haben können, die unreflektiert mit diesem kollektiven Wissen umgeht, zeigen die nun folgenden Beispiele. 17 Ulrich Johannes Schneider/Helmut Zedelmaier, Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit. In: Richard van Dülmen /Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2004, 349-363 (Böhlau).
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Das Gesagte gilt für alle Werke kollektiven Wissens, also nicht nur für Artikel in Enzyklopädien, in denen es um Sachinformation geht, sondern in gleicher Weise für Wörterbücher. Ein Artikel Arier kann in beiden Werken kaum ideologiefrei sein, wenn er während der Zeit des Nationalsozialismus verfasst worden ist. Als veranschaulichendes Beispiel für Lexika soll hier der Artikel Arier aus Meyers Kleinem Lexikon. (9. Aufl. 1. Bd.: A- Gelbwurz. Leipzig 1933, 102) dienen. Arier, 1) sprachwissenschaftl. Begriff für Ostindogermanen, die in Iran u. Indien einwanderten u. sich »Arya« (edel) nannten. - 2) (Rassenpolitisch) (arisch, teutonisch, germanisch) im Gegensatz zur semitischen, besonders jüdischen Rasse gebraucht. Die Gesetzgebung der nationalsozialist. Revolution schloß die Nichtarier fast völlig aus dem öffentl. u. dem kulturellen Leben aus. (Arierparagraph). Nichtarier ist nach der 1. VO. zur Durchführung des Ges. zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11.4. 1933: wer von nicht-arischen, bes. jüd. Eltern od. Großeltern abstammt; es genügt, wenn ein Eltern- oder ein Großelternteil nichtarisch (bes. jüdisch) ist. Als Abstammung gilt auch die außereheliche Abstammung (VO. v. 6. 5. 1933).
Wenn man bedenkt, dass das Wort Arier letztlich eine wissenschaftsgeschichtlich höchst zweifelhafte Konstruktion bezeichnet, so wird diese spätestens mit dem Lexikonartikel in ihrer Existenz und vor allem in den Folgen dieser Existenz legitimiert. In analoger Weise gilt dies für die Darstellungen von politisch hochwertigen Lemmata wie Demokratie oder Freiheit. Allein die normalerweise gestellte Frage: Was ist Freiheit?, erwartet eine präzise Definition, die am besten und vor allem am schnellsten und kürzesten im Wörterbuch oder Lexikon nachgeschlagen werden kann. Die klassische Frage beim Nachschlagen in Wörterbüchern lautet nur beim reflektierten Laien: Was versteht man unter... ? In der Regel setzen Benutzer Sprachinformation mit Sachinformation gleich. Zur Veranschaulichung instrumentalisierter Lexikographie, in der die Verquickung beider Informationstypen zu weit reichenden Ideologisierungen führt, einige Auszüge aus dem von der Deutschen Akademie herausgegebenen „Trübners Deutschem Wörterbuch" 4. Bd. Bearb. von Alfred Götze aus dem Jahre 1943: Jude M. Die Angehörigen des Stammes Juda gaben den aus dem babylonischen Exil 536 v. d. Ztw. nach Palästina zurückkehrenden Resten des Volkes Israel den Namen. [ . . . ] Als Nachkommen eines Volkes, das den Heiland gekreuzigt hat, waren sie der Christenheit von jeher verhasst. [ . . . ] Deshalb mag auch nach dem Volksglauben nicht einmal der Storch, der Vögel Gottes, auf einem Judenhaus nisten. [ . . . ] So äußert sich der uralte Haß aller Wirts Völker diesem Eindringling gegenüber auch in Deutschland schon bald [ . . . ] . Aus dieser frühen Erfahrung heraus nimmt das Wort Jude neben dem fortbestehenden volklichen Inhalt schon in mhd. Zeit den Nebensinn betrügerischer Händler, Wucherer' an."
Das Zitat braucht nicht weiter kommentiert zu werden. Neben den altbekannten antijudaistischen Vorurteilen werden hier vom Lexikographen, ganz zeitgemäß und ideologiekonform, alle Register antisemitischer Polemik gezogen. Was die beiden Beispielartikel auf den Punkt bringen sollen, ist, dass Wörterbücher nicht nur deswegen Werke kollektiven Wissens sind, weil sie das kollektive
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Sprachwissen speichern und spiegeln, sondern weil sie in ihrer auswählenden und normierenden Funktion auch dafür mitverantwortlich gemacht werden können, was als Wissen eines Kollektivs gilt. Man kann ihren Anteil an der Weltbildkonstitution einer Gesellschaft nicht hoch genug einschätzen, vor allem wenn man bedenkt, dass sie schon in Schulen und Universitäten als letzte Instanzen der Richtigkeit institutionalisiert werden. Wörterbücher müssen daher im Focus sprach- und gesellschaftskritischen Interesses18 stehen. Wiegand 1998, 60: „Lexikographie ist nicht nur die vermeintlich objektive Präsentation von sprachlichen Fakten, nicht nur interessenloses Zusammenstellen von Daten, sondern auch interessenverhaftetes Schreiben von Texten, damit geistige Verarbeitung von Daten zu neuen Informationen und damit Selektion; dies führt zu einem gezielten Angebot potentieller Informationen".
Das gezielt ausgewählte Angebot hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an den Identifikationsprozessen von Kollektiven. Lexikographische Werke sind in diesem Sinne lebensraummanifestierende Medien, da sie als Werke kollektiven Wissens teilhaben an der Begriffs- und Sachgliederung des öffentlichen Raumes. Sie sind Kulturträger, Kulturspeicher, Kulturvermittler, Kulturüberträger und Kulturbildner. Das Bestimmungswort Kultur könnte an dieser Stelle durch Information oder Wissen ersetzt werden. Manche Wörterbuchtypen bilden entsprechend ergiebige Sozialisationsinstrumente19, mentalitätsgeschichtlich, wissenschaftshistorisch und sprachpädagogisch. Wiegand 1998, 61: „Die Benutzung von Sprachnachschlagewerken, insbesondere die von Sprachwörterbüchern, kann eine intendierte oder nichtintendierte Beeinflussung des Benutzers im Sinne bestimmter gesellschaftlicher und/oder staatlicher Interessen zur Folge haben".
Politische oder gesellschaftliche Obrigkeiten nutzten und nutzen ihren normativen Charakter, um zukunftsweisend Ideologien zu propagieren. Wörterbücher sind damit nicht einfach Wissensspeicher einer unwichtig gewordenen Vergangenheit, sondern bilden die Brücken zwischen den Zeitenwelten. Sie vermitteln und verbinden das Alte und Bekannte mit dem Schwindenden oder gar Verschwundenen, das Gegenwärtige mit dem sichtbar Kommenden oder manchmal sogar dem Möglichen. Es ist die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, die nicht nur das typische Kennzeichen von Sprache an sich ist, sondern sich in bestimmten Wörterbuchtypen in aller Deutlichkeit spiegelt. 18 Vgl. dazu: Anja Lobenstein-Reichmann. Das Bild des „Zigeuners" in den Lexika der nationalsozialistischen Zeit. In: Anita Awosusi, Stichwort Zigeuner. Zur Stigmatisierung von Sinti und Roma in Lexika und Enzyklopädien. Heidelberg 1998, 71-95. Varietätenbezogen: Jochen Bär, Zigeunerstereotype in Dialekt- und Mundartwörterbüchern des Deutschen. In: Awosusi, ebd. 45 - 70. 19 Siegfried J. Schmidt, Medien: Die Kopplung von Kommunikation und Kognition. In: S. Krämer 1998a 67: Medien sind längst zu machtvollen Instrumenten der Sozialisation geworden."
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Der Ort der Sprachlenkung ist unterschiedlich: Er beginnt schon bei der Konzeption der Mikro- und Makrostruktur des Wörterbuches, setzt sich über die Auswahl und Bearbeitung der Stichwörter auf der einen Seite und der bewussten Darbietung der Belege fort. Am sinnfälligsten im wahrsten Sinne des Wortes kann man ihn in der Bedeutungserläuterung nachvollziehen. Die Ausarbeitung der Bedeutungsebene durch einen Lexikographen ist immer auch individuelle Konstruktion von Weltsicht, so objektiv diese auch dargestellt zu sein scheint. Dieser Satz bedeutet aber nicht, dass der Lexikograph willkürlich die Sprache semantisieren bzw. resemantisieren kann, es sind die kleinen Formulierungsnuancen, die bei der Erläuterung in verschiedene Richtungen weisen können. Man muss dabei unterscheiden zwischen einer individuellen Prägung des Lexikographen, also z. B. in welcher weltanschaulich-religiösen Weltsicht er sich verortet, und in welcher überindividuellen, zeittypischen und zeitabhängigen Diskurswelt er steht. Diese Diskurswelt setzt sich zu gleichen Teilen aus wissenschafts- und sprachtheoretischen Grundbedingungen zusammen wie aus einer gesellschaftlichen Bedingtheit, also den sozio-kulturellen Vorraussetzungen auch seiner Rezipienten. Nicht zu vergessen sind dabei die hinter der Wörterbuchkonzeption liegenden wirtschaftlichen Interessen des Verlages. Allein die vom Verlag verordnete Seitenzahlbegrenzung des Nachschlagewerkes, die sich in der Regel nicht sachbezogen errechnen lässt, sondern nach dem veranschlagten Preis, bildet eine Restriktion, die sich in der Beschreibungssprache der Einzelartikel nachweisen läst. Ganz anders ist die politische Sprachlenkung zu sehen. Sie stellt einen direkten Eingriff in die Selbstbestimmung des Lexikographen bzw. der Wörterbuchkanzlei dar. Die Geschichte des in der DDR entstandenen Wörterbuchs der deutschen Gegenwartssprache 20 ist das eindrucksvollste Beispiel politischer Einflussnahme, die konzeptionell schon im Vorwort des Werkes nachzulesen ist und sich folgerichtig auch in den Einzelartikeln (z. B. vgl. s. v. Freiheit, Demokratie oder Arbeit) niederschlägt. Besonders „anfällig" für sprachlenkende Einflussnahme sind Artikel, in denen diejenigen Wörter bearbeitet werden, die kultur- und gesellschaftsrelevant sind. Dazu gehören Verben wie leben und sterben, herrschen und regieren, Adjektive wie konservativ, liberal, treu und gehorsam, natürlich Substantive wie Staat, Volk und Nation, aber auch Gnade und Recht. Wörterbücher sind, und damit kehren wir zurück zur Medienfrage, Werkzeuge und Hilfsmittel, mit denen politische, gesellschaftliche und soziokulturelle Handlungen vollzogen werden können. Wichtiger Handlungsträger ist dabei der Lexikograph, der den Artikel verfasst, da er immer im spezifischen Kontext seiner Zeit und seiner Person verhaftet bleibt. Seine den Artikel durchaus prägenden Leitinteressen beim Abfassen der Einzelartikel können 20 WDG = Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. v. Ruth Klappenbach/ Wolfgang Steinitz. 6 Bände. Neunte, bearb. Aufl. Berlin 1973-1978. (Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft); vgl. dazu: Helene Malige-Klappenbach, Das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache". Bericht, Dokumentation und Diskussion. Hrsg. v. Franz Josef Hausmann. Tübingen 1986. (Lexicographica, Series Maior
12).
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erstens sprachpädagogischer, zweitens weltanschaulich / ideologischer oder drittens auch wirtschaftlicher Art sein (nach HEW 59). Sprachpädagogisch wäre zum Beispiel sein Interesse, normativ zur Herstellung einer Leitvarietät auf die Sprecher einer Sprache einzuwirken oder eine Sprache bzw. Varietät vor dem drohenden oder angeblich drohenden Untergang zu retten oder die Sprache vor Überfremdung durch andere Sprachen zu bewahren. Das letztgenannte Motiv kann mit dem zweiten weltanschaulichen Punkt einhergehen, wenn es dem Lexikographen um die Stärkung des Nationalbewusstseins geht. Ebenfalls ideologisch motiviert sind natürlich die oben zitierten Beispiele Arier und Jude. Positiv formuliert kann ein Wörterbuch aber auch vom Lexikographen ganz gezielt zum Abbau sprachund kulturbedingter Kommunikationsschwierigkeiten konzipiert werden, was wiederum auch in den dritten Bereich der wirtschaftlichen Motive hinreicht, bei dem es um die Förderung von Warenverkehr, Reiseverkehr und Tourismus geht. Wenn Hartmann (110) schreibt: „Im Zentrum steht die Frage nach der Grammatik der Medien als anonyme Geschichte der Denkmuster", so stehen Wörterbücher, wie es am Beispiel der Artikel Arier und Jude gezeigt wurde, als Aufgabenstellung an vorderster Front. Das Meta-Medium Wörterbuch ist Spiegel, Vehikel und Transformator von kollektiv relevanten Denkmustern. Fassen wir kurz zusammen, was sich bei der Diskussion der drei Thesen ergeben hat: Die Frage nach dem Medienstatus von Wörterbüchern wurde insofern bejaht, als ihre äußere Form zum einen durch die zentralen Medien Sprache, Schrift und Buch gebildet ist und sie in Bezug auf die Medientheorie McLuhans in besonderer Weise diejenigen Eigenschaften besitzen, die für ihn zur Medienbeschreibung notwendig sind: Organerweiterung und Informationskonstituens. Zum anderen kann man Wörterbüchern innerhalb der Einzelmedien einen besonderen Einzelstatus als Metamedium zusprechen. Sie sind deswegen Metamedien, weil sie ihren Benutzern versprechen, als übergeordnete, in Sprache verfasste Schnellzugriffsspeicher über alle anderen Wissensspeicher zu dienen. In ihnen wird das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, das sich in Sprach- und Sachwissen aufteilt, zugriffsfreundlich und mundgerecht dargeboten, so dass das Individuum diejenigen Kompetenzen nach außen lagern kann, die es nicht alltäglich braucht. Wörterbücher haben daher eine gedächtnisökonomische bzw. gedächtnisentlastende Funktion und sind damit zweifellos notwendige Organerweiterungen. Ihre gedächtnisentlastende Funktion ist dabei Teil einer besonderen realitätsmodellierenden Wirkkraft. Die Art und Weise, wie in Wörterbüchern das gespeicherte Wissen verarbeitet und vermittelt wird, prägt und modifiziert die Gedächtnisinhalte und das kollektive Wissen einer Gesellschaft. Wissensaufbereitung und Wissen selbst sind eben nicht voneinander zu trennen. Wenn sich nun, wie es während der letzten Jahrzehnte zu beobachten ist, neue Medien entwickeln und ausbreiten, müsste dies Folgen für den Wissenserwerb haben, letztlich dafür, was als Wissen verstanden wird. Oder explizit auf die Lexikographie hin gefragt: Wenn Medien die Bedingungen des Wissens schaffen, wie Hartmann (10) postuliert, neue Medien entsprechend den Wissenserwerb verän-
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dem, so muss man im zweiten Teil des Artikels noch einmal prinzipiell die Frage stellen, was die neuen Medien mit sich bringen, speziell welche Folgen der so genannte Medienwandel auf die Lexikographie und vor allem auf ihren Gegenstand, im Sinne McLuhans ihre Botschaft, hat.
IV. Lexikographie und Neue Medien Wenn wir von den Neuen Medien sprechen, so meinen wir in der Regel die vielfältigen Möglichkeiten, die uns der Personalcomputer, von dem Eberhard Lämmert meint, er habe sich „karnickelartig 21 " ausgebreitet, anbietet. Gemeint ist dabei vor allem das Internet und die Chance, auf schnelle und unkomplizierte Weise mit der ganzen Welt Kontakt aufzunehmen, sei es in direkter Kommunikation durch Emails oder indirekt durch das World Wide Web. Man könnte meinen, man lebe in einer digitalen Welt, deren Reichweite zumindest kommunikativ und virtuell auf die Ausmaße eines mittelgroßen Dorfes zusammengeschrumpft ist, und deren besondere Wissenskultur ins Unermessliche ansteigt. Die digitale Wissenskultur ist grenzenlos verfügbar, sowohl zeitlich rund um die Uhr wie räumlich rund um den Globus. Der Zugang und vor allem aber der Umgang mit Information und Wissen waren noch nie so leicht wie heute. Die neuen Medien bilden eine neue Infrastruktur des Wissens, die weder politisch noch sozial begrenzt zu sein scheint, und deren neue Verkehrswege relativ ungesteuert und damit in einem vermeintlich herrschaftsfreien Raum verlaufen. Doch Distribution und Erreichbarkeit von Wissen sind beinahe wichtiger geworden als das Wissen selbst. Dieses ist nun scheinbar nicht mehr kanonisiert, beständig und allgemeingültig, sondern ein Produkt des allgemeinen Diskurses, wie Foucault es definiert 22 , und damit kurzfristig und wankelmütig, situationsabhängig und fragwürdig, ja, es ist nicht mehr in der gleichen dogmatischen Weise glaubwürdig wie früher, sondern ein: Lämmert 109: „Mosaik, das zwar multimedial, aber doch auch zufällig Auskünfte präsentiert oder unterlässt: Auskünfte, die eintönig oder auch, wenn's glückt, kontradiktorisch sein können, je nachdem wie einer die Maus bewegt." 23
Die Vorzüge der neuen Reichweite werden durch die neuen Darstellungsmöglichkeiten ergänzt. Wissen kann abwechslungsreicher und anschaulicher an die Menschen herangebracht werden denn je, und wird z. B. durch das multimediale Zusammenspiel von Texten, bunten Bildern und akustischen Einlagen, vielleicht sogar leichter verstehbar. Aufgrund der mutiplen Vernetzbarkeit und der tatsächlich vorgenommenen Vernetzungen kommt es zu neuen Anschauungen und möglicherweise auch zu neuen Erkenntnissen; zumindest können Erkenntnisse nun 21
Eberhard Lämmert, Der Kopf und die Denkmaschine. In: S. Krämer 1998a 107. Michel Foucault, Archäologie des Wissens. 8. Aufl. Frankfurt 1997, 258 ff. 2 3 Eberhard Lämmert, Der Kopf und die Denkmaschine. In: S. Krämer 1998a, 109. 22
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leichter anhand ihrer Quellen belegt und verifiziert werden (Lämmert 111). Musste man nämlich bislang bei jeder schriftlichen Publikation auf die vorgeschriebene Umfangsbegrenzung achten und daher Quellen- und Belegmaterial im besten Falle in die Fußnote verbannen, so kann die neue Publikationsweise im WWW dazu führen, dass mit Hilfe von gezielten Verlinkungen jede benutzte Quelle auch vom Leser einsehbar wird. Nachvollziehbarkeit und Verifikation der angebotenen Argumentation scheinen auf diese Weise leichter gemacht zu werden, doch dem „Zuwachs an Lesermündigkeit" auf der einen Seite (so Lämmert 111), stehen auf der anderen Seite auch neue Möglichkeiten der Informationsklitterung gegenüber. Diese bestehen nicht nur darin, dass man immer noch darauf angewiesen ist, welche Quellen überhaupt angegeben werden und welche Verlinkungen daraus resultieren, sondern vor allem darin, dass mit dieser Publikationsform immer auch der Verlust eines haftbaren oder zumindest moralisch zur Verantwortung zu ziehenden Autors einhergeht. So könnte man nun problemlos ganz anonym Bilder zu einem Text stellen, zu dem sie nicht gehören, in dessen Verbindung sie jedoch einen eindeutigen und vor allem gewollten Zusammenhang herstellen können, und diese publizieren. Der neu entstandene Zusammenhang ist in Sekundenbruchteilen in der ganzen Welt bekannt, und die Glaubwürdigkeit nicht nur dieser einen Information zerstört, sondern aller Informationen insgesamt, der Urheber oft nur mit Schwierigkeiten ermittelbar, was die kriminelle Vernetzung der rechtsradikalen Szene immer wieder unter Beweis stellt. Wissen ist schon immer autorautonom gewesen, doch Informationen unterstanden in gewisser Weise einer kommunikativen Regresspflicht. Diese scheint mit dem Internet immer mehr verloren zu gehen. Neben der Informationsflut, die unzweifelhaft charakteristisch für die neuen Medien ist, gehören Verantwortungsverschleierung bis -Verweigerung zum Regelfall bei der Informations„über„mittlung. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist die schon genannte Folge, deren Konsequenzen auf der einen Seite ein kritischer Umgang mit Ideologien sein kann, die aber gleichermaßen auch die Notwendigkeit mit sich bringt, neue Wege für das menschliche Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnis zu finden. Denn was früher als sicheres Wissen galt, scheint es heute nicht mehr zu sein. Die Halbwertzeit von Wissen reduziert sich mit dem Fortschreiten der multimedialen Möglichkeiten immer mehr. Und die Frage, ob die hochgepriesene Erreichbarkeit von Informationen sich unter der Hand vom Segen zum Ruch entwickeln wird, stellt sich immer mehr. Denn woher weiß ich noch, was in der Flut der Angebote vertrauenswürdig und für meine Belange wichtig ist und was nicht. Auch die Frage nach der Relevanz des im WWW Kommunizierten wird immer dringlicher, so dass man fast befürchten muss, dass das Internet als Gesamtkunstwerk einen regelhaften Verstoß gegen die Grice'schen Kommunikationsmaximen darstellt. 24 Es sei hier nur auf die Maxime 24
Vgl. dazu Paul, Grice, Logik und Konversation. In: Meggle, Georg (ed.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. 2. Aufl. Frankfurt / Main, 243-265; Angelika Linke/Markus
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der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie - für die gegebenen Gesprächszwecke - nötig! Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig!), der Qualität (Sage nichts, was du für falsch hältst! Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen!), der Relation (Sei relevant!) und der Modalität (Formuliere klar und geordnet!) hingewiesen. Was für die einzelne Seite im Internet zwar gültig sein kann, wird für das „Gesamtkunstwerk" immer mehr zum Problem. Denn oft sind die Seiten weder relevant noch informativ noch verifizierbar noch geordnet. Je größer die Informationsflut, desto hilfloser wird der Internetbenutzer. Hinzu kommt, dass die möglicherweise gefundene Information oft auch instabil oder besser: situationslabil ist und dem Benutzer beim schnellen Zugriff bereits durch die Finger rinnt. Pointiert bringt dies Rainer Kuhlen (1996, 116) zum Ausdruck: „virtuelle Leistungen zielen nicht auf Stabilität ab" 25 . Und was ist dann noch mit dem „Wissen"? Nicht nur die Erwartungen an dieses scheinen sich zu verändern. Siegfried J. Schmidt 1998, 67: „Die Verfügbarkeit unterschiedlichster Medien hat das Nutzerverhalten signifikant verändert. ,Switchen', ,Zappen', ,Samplen', ,Surfen' sind zu Modebezeichnungen für Nutzerstile geworden, die längst nicht mehr in der konzentrierten Lektüre stabiler Texte ihre Krönung erfahren. Entsprechend verändern sich [68] auch die Produktionsstile: Kommunikationsqualitäten dominieren über Sinndichte, Rhetorik löst die Hermeneutik ab. Spätestens in den Datennetzen geht es um Breite und Additivität der möglichen Links, nicht um Tiefe und Hierarchien". 26
Was mit dem Zitat Schmidts angedeutet wird, ist die Feststellung, dass Informationszuwachs, sofern es einen solchen gibt, zunächst einmal nur eine Addition ist, nicht aber automatisch auch in Erkenntniszuwachs münden muss und damit in Wissen. Es wird sogar immer wahrscheinlicher, dass der Abstand zwischen Laienwissen und Expertenwissen zunimmt. Denn Wissen ist eine Art qualitativer Vernetzung von Informationen zu neuen Erkenntnissen, die in sich kohärent, das heißt geordnet und strukturiert sind (vgl. hierzu die nachfolgenden Ausführungen zum lexikographischen Arbeitsprozess). Eine solche Kohärenz kann das Medium selbst nicht herstellen, sondern sie beruht auf der Erkenntnisfähigkeit von Menschen, die aus Informationen erst Wissen machen können. Von der Expertenkultur zur Demokratisierung des Wissens ist also immer noch derselbe weite Weg wie vor der digitalen Revolution. Vielleicht ist er sogar noch weiter geworden, denn eine „neue" Art Wissenskultur hat sich eingeschlichen. Dem traditionellen Verständnis von Nussbaumer, Konzepte des Impliziten: Präsuppositionen und Implikaturen. In: Klaus Brinker/ Gerd Antos / Wolfgang Heinemann / Sven F. Sager, Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/New York 2000, 435-448; dort auch weiterführende Literatur. 25 Rainer Kuhlen, Zur Virtualisierung von Bibliotheken und Büchern. In: Literatur im Informationszeitalter. Hrsg. von Dirk Metjorski/Friedrich Kittler. Frankfurt 1996, 112-142. 26
Siegfried J. Schmidt, Medien: Die Kopplung von Kommunikation und Kognition. In: S. Krämer 1998a, 67.
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Wissen, basierend auf dem oft langwierigen hermeneutischen Prozess des Verstehens und Erkennens, der außerdem die Fähigkeit voraussetzt, das vermeintlich Erkannte immer wieder kritisch zu reflektieren, wird nun die einfache Beherrschung von Verfahrenstechniken (oder schlichtweg Computerkenntnissen) gegenübergestellt, bei der der Weg zum Ziel wird, unabhängig von dem, was dabei herauskommt. Man weiß nun, wie man an Informationen herankommt, aber man vergisst, wie diese zu bewerten sind, welchen Stellenwert sie in ihrem fachlichen Kontext haben und oft sogar, was sie bedeuten. Die Erklärungs- und Vermittlungsaufgabe bleibt also erhalten, wird sogar noch größer, da das Informationsangebot breiter und verwirrender geworden ist. Die Parallelen des modernen Informationszeitalters zum 18. Jahrhundert mit seinem großen Bedarf an Wörterbüchern und Lexika als Informationsnavigatoren liegen auf der Hand. Neue Navigationstools27 sind notwendig geworden, ohne die eine Bewältigung der diffusen Masse an Informationen unmöglich scheint. Suchmaschinen wie Google sind das technische Ergebnis dieses Bedarfs. Sie reichen aber allein deswegen schon nicht aus, weil sie höchstens technische Informationszugänge liefern, aber keine Semantik und schon gar kein interpretiertes, gesichertes oder zumindest stabiles Wissen anbieten. Doch das traditionelle Werkzeug, mit dem man metamedial Abhilfe schaffen könnte, die Lexikographie, scheint zwar auf der einen Seite tatsächlich neue Chancen durch den Medienwandel zu bekommen, muss dabei aber auf der anderen Seite aufpassen, dass sie diese auch adäquat zu nutzen weiß bzw. nicht den von S. J. Schmidt beschriebenen Gefahren zum Opfer fällt. Was hier plakativ als Gefahren bezeichnet wurde, kann auf zwei besonders wichtige Punkte reduziert werden. So kann es erstens durch die Verlockungen der Technisierung zum Verlust von bereits vorhandenen qualitativ hochwertigen Standards kommen, ohne dass zweitens die Chancen genutzt werden, welche die neuen Möglichkeiten bieten. Beide Punkte hängen eng zusammen. Denn was an den neuen Medien so verlockend zu sein scheint, sind die Unendlichkeit des bearbeitbaren Raumes und die Schnelligkeit, mit der dieser Raum auf der Basis von in Datenbanken akkumulierten Informationen gefüllt werden kann. Beide Vorzüge relativieren sich jedoch in dem Moment, in dem man den Raum nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ auffüllen will. Es erweist sich schnell, dass eine qualitative Ausnutzung aller neuen Möglichkeiten ebenso zeitintensiv ist wie das Herstellen eines neuen Wörterbuches im alten Medium. Die alten Wörterbücher aber einfach nur ins neue Medium zu transportieren, ohne sie dabei medial anzupassen, hieße, eine Chance zu verpassen, bei der die erworbenen Standards mit den neuen technischen Möglichkeiten noch verbessert werden könnten. Das Deutsche Rechtswörterbuch gehört zu den wenigen lexikographischen Unternehmungen, in denen tatsächlich alle Chancen optimal genutzt worden sind. (Vgl. zu den neuen Chancen den Artikel von Heino Speer in diesem Band). Wieder ist es übrigens McLuhan, der das Problem auf den Punkt bringt. 27 Vgl. Hartmann 173.
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McLuhan 94: These are difficult times because we are witnessing a clash of cataclysmic proportions between two great technologies. We approach the new with the psychological conditioning and sensory responses of the old. This clash naturally occurs in transitional periods. In late medieval art, for instance, we saw the fear of the new print technology expressed in the theme The Dance of Death. Today, similar fears are expressed in the Theater of the Absurd. Both represent a common failure: the attempt to do a job demanded by the new environment with the tools of the old.
Es stellt sich aber prinzipiell die Frage, ob sich die Anforderungen an das lexikographische Arbeiten durch die neuen Werkzeuge verändert haben oder ob die alten Werkzeuge für die neuen Aufgaben unpassend geworden sind. Beim Arbeiten in der lexikographischen Werkstatt stellt sich schnell heraus, dass die Arbeit, die der Lexikograph bei der Produktion der Wörterbuchartikel zu leisten hat, nämlich die Herstellung der Botschaft, die Vernetzung der Information zu Wissen, beim Übergang vom einen Medium in das andere in der gleichen Weise vollzogen werden muss wie vorher auch, vorausgesetzt man möchte die alten Standards erhalten. Auch wenn im vorangegangen Teil aus argumentativen Gründen die Lexikographiekritik in den Vordergrund gestellt worden ist, wird deutlich geworden sein, dass Wörterbücher, vor allem bei einem verantwortungsvollem Umgang mit ihnen, in sich stimmige Erklärungssysteme sind, zu deren Hauptaufgaben neben der Archivierung und Sammlung von sprachlichen Daten vor allem die semantische Erklärung der Welt in Sprache und durch Sprache gehört. Wörterbücher sind, und das muss hier noch einmal betont werden, hermeneutisch erarbeitetes Wissen und keine additiv gewonnenen Datensammlungen. Um dieses Wissen sachadäquat und verständlich zu vermitteln, wurden in den letzten Jahrhunderten lexikographischer Tradition bestimmte Konzeptionen und methodische Standards entwickelt, die dem Wörterbuchbenutzer tatsächlich einen schnellen und informationseffektiven Zugriff auf gesichertes Wissen ermöglichen. Diese Standards scheinen nun ins Wanken zu geraten. Die Aufgabe von Wörterbüchern ist es, wie schon mehrfach betont wurde, Wissen zu sammeln, zu archivieren und zu vermitteln. Was dies für den Lexikographen im Einzelnen bedeutet, soll anhand eines kleinen Werkstattberichts zu den Arbeiten des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches (kurz: FWB) deutlich gemacht werden. Das FWB ist ein historisches Bedeutungswörterbuch für das Hochdeutsche der Zeit von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Diese Zeit bildet eine Epoche der deutschen Geschichte, in der entscheidende geistige, theologische, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Weichen für die gesamte neuzeitliche bis hin zur gegenwärtigen Kultur gestellt wurden. Ein Zugriff auf die Sprache dieser Zeit kann nur über die textliche Überlieferung, speziell den frühneuhochdeutschen Wortschatz, erfolgen. Dieser Wortschatz hat einen Umfang von rund 150 000 Einheiten, die prinzipiell als mehrdeutig anzunehmen sind und damit zu einer Größenordnung von etwa einer halben Million Bedeutungsbeschreibungen führen. Das Wörterbuch umfasst alle räumlichen, zeitlichen und textsortentypisehen Varianten des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutsch. Es richtet sich an alle Dis-
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ziplinen, deren Quellen sprachlich verfasst sind, konkret also an jeden historisch arbeitenden Literaturwissenschaftler, Rechtshistoriker, Theologen, Philosophen, auch an alle fachhistorisch orientierten Naturwissenschaftler (Medizinhistoriker, Pharmaziegeschichtier usw.) sowie an all diejenigen Laien, die aus welchen Gründen auch immer ein Nachschlagewerk für frühneuhochdeutsche Texte benötigen. Die Bandbreite des Wortschatzes betrifft also alle Ausdrücke zur christlichen Religion ebenso wie historische Rechtsbegriffe, Fachwortschätze des Weinbaus, der Pferdeheilkunde oder der Wasserwirtschaft. Man hätte es auch einfacher sagen können: Die Botschaft der hier zugrunde liegenden Wortschatzbearbeitung ist es, das Gesamtbild einer Epoche aufzuzeigen. Die historische Bedeutungslexikographie, wie sie mit dem FWB vorgeführt werden kann, repräsentiert alle bisher angesprochenen Faktoren deswegen, weil mit ihr gezeigt werden kann, inwiefern man Wissen aus Wörterbüchern erhält und wie dieses im digitalen Zeitalter immer noch auf denselben Grundprinzipen beruht wie vorher auch. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die neuen technischen Möglichkeiten auch für den Lexikographen bei der Informationsgewinnung hilfreich sein können. Es besagt nur, dass die Information selbst nur wenig mit dem Medium zu tun hat, in dem sie dem Leser angeboten wird. Dies gilt umso mehr, als Bedeutungslexikographie explizit darauf angelegt ist, vor allem semantische und weniger grammatische Informationen zu bearbeiten. Entsprechend geht es bei den folgenden Überlegungen nicht um formalgrammatische Informationen, die in Bezug auf historische Sprachstufen mit einigem Aufwand zwar, aber im Ernstfall je nach Fragestellung des Recherchierenden sogar maschinell und halbwegs selbstgenerierend durch eine Völltextrecherche aus einer Datenbank erschlossen werden können. Der kulturhistorisch interessierte Laie, der zu einem historischen Wörterbuch greift, wird dies sicherlich nicht deshalb tun, um sich über die Pluralprofilierung im Frühneuhochdeutschen zu informieren oder um etwas über den Gebrauch des Genitivus objectivus zu erfahren (was er im FWB sogar könnte). Sein vordergründiges und in der Regel einziges Interesse besteht darin, herauszufinden, was in einem Text, der ihm zu irgendwelchen medizin-, pharmazie-, kriminalhistorischen oder allgemeinhistorischen Forschungszwecken vorliegt, mit einem Wort gemeint war, was also z. B. mit dem Wort Lauge gemeint war, möglicherweise wie eine nicht mit der neuhochdeutschen Sache Lauge übereinstimmende frühneuhochdeutsche Sache, die ebenfalls als Lauge oder mit einem anderen Lexem bezeichnet wird, aus den Texten heraus hinsichtlich ihrer Herstellung und Zusammensetzung bestimmbar ist. Einen Mentalitätshistoriker könnte interessieren, was die Einstellung der Menschen zwischen 1400 und 1600 zum Leben oder zum Tod war, einen Theologen, was das Wort Gnade im 16. Jh. bei Luther bedeutet hat, inwiefern es sich vom allgemeinsprachlichen oder gar vom katholischen Wortgebrauch unterschied und von wem das gegen die Protestanten gerichtete Schimpfwort Gnadheinz gebraucht worden ist. Mit diesen kurzen Ausführungen habe ich nicht nur die hauptsächliche Funktion historischer Bedeutungslexikographie angesprochen, man könnte dies auch die
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Botschaft nennen, nämlich semantische und pragmatische Informationen über den Wortgebrauch einer vergangenen Zeitstufe zu liefern, sondern auch gleichzeitig den Weg zu den alten Tugenden der Lexikographie eingeschlagen, die ich im Folgenden etwas provokativ den neuen Medien gegenüberstellen möchte. Unter den alten Tugenden verstehe ich vor allem Semantikkompetenz und Textkompetenz, Basiskompetenzen also, die für jeden Lexikographen unabdingbare Voraussetzungen für seine Arbeit und deren Qualität sind. Man könnte diese Tugenden auch als die unabdingbaren Werkzeuge des Lexikographen bezeichnen, ohne die kein Wörterbuch zu dem würde, was man von ihm erwartet: ein Werk kollektiven Wissens. Der Lexikograph hat nämlich erstens nachzuzeichnen, wie die Sprecher einer historischen Sprachstufe kulturtypisch, das heißt zeit-, sozial-, räum-, textsortentypisch auf eine vorauszusetzende Wirklichkeit Bezug genommen haben. Er hat zweitens nachzuzeichnen, wie sie durch die Gesamtheit der erwähnten Bezugnahmen eine kulturtypische Realität konstituiert haben, und er hat drittens dies alles so zu tun, dass er einen antizipierten Benutzer des Wörterbuches damit anspricht. Gleichzeitig hat er die Pragmatik der historischen Zeitstufe ins Auge zu nehmen: er hat eben nicht nur zu beschreiben, was weltbezüglich von historischen Sprechern und ihren Gruppierungen geleistet wurde, sondern auch welcher Sprecher als Angehöriger welcher Gruppe und in welchen Sozialsituationen diese Leistungen vollzogen hat. Dazu ein ganz kurzer Exkurs. Ausgehend davon, dass dem Lexikographen zur Bearbeitung eines beliebigen Substantivs, z. B. gnade, rund 500 oder gar 1000 Belege zur Verfügung stehen, ergibt sich die Aufgabe, diese Belege jeweils einzeln hinsichtlich ihrer Belegstellenbedeutung zu bestimmen, danach aus den 500 Ergebnissen dieser Bestimmungen Ähnlichkeiten herauszufinden und diese in jeweils eigenen integrierten Mikrostrukturen zu behandeln. Bei der Interpretation der Einzelstelle ist der Textzusammenhang zu überprüfen, und bei der Herausfilterung von Ähnlichkeiten sind übereinzeltextliche Zusammenhänge zu beachten. Bei Gnade z. B. geht es darum, rechtsrelevante Gebräuche des Lemmazeichens von theologisch relevanten oder im weiteren Sinne soziologisch relevanten zu unterscheiden, oder Gnade als Handlung von metonymischen Handlungsimplikationen aller Art und Handlungsergebnissen zu trennen, sowie die Überlappungszonen zwischen all diesen anzudeuten. Dies ist eine Interpretations- und Gestaltungsleistung, die nur dem textgeschichtlich Eingelesenen und semantisch sowie pragmatisch Kompetenten möglich ist. Damit soll die Kernkompetenz des Lexikographen nur angedeutet sein. Sie ist von ihrer kognitiven Qualität her in keiner Weise vergleichbar mit den Verlinkungsgeschäften von Technikgläubigen und umfasst mindestens 2/3 der gesamten Zeit, die auf einen Wörterbuchartikel verwandt wird bzw. werden sollte. Auch wenn diese Aussage an sich eine Plattitüde zu sein scheint, da sie für jedermann einsichtig sein müsste, wird im Zeitalter der neuen Medien immer offensichtlicher, dass dieser Selbstverständlichkeit dasselbe Schicksal bevorsteht, wie vielen anderen Selbstverständlichkeiten, nämlich dass sie aufgrund neuer Gewich-
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tungen aus dem Aufmerksamkeitsfeld herausfallen, keine weitere Pflege mehr erfahren und dass die geforderten Standards bzw. Qualitätsmerkmale dabei schon deshalb unbemerkt sinken, weil man die dazu notwendigen Tugenden bzw. Kompetenzen bzw. Werkzeuge zunehmend weniger beherrscht. Dies gilt besonders im Hinblick auf die unerwartete Aufmerksamkeit, die die Lexikographie im Zusammenhang mit den neuen Medien erhalten hat, und die dazu führt, dass sie zur digitalen Verwalterin des bereits Erreichten zu werden droht. Das einst so unliebsame Wissenschaftskind „Wörterbuch" erlebt mit dem neuen Medium nicht nur eine Art Renaissance, indem allerorten lexikographische Unternehmen aus dem Boden gestampft werden; oft werden auch die Möglichkeiten, die mit den neuen Medien einhergehen, als einzig wahrer Schlüssel zum Erfolg eines Wörterbuches angepriesen. Man bekommt mancherorts sogar den Eindruck, als habe in Deutschland Lexikographie vor Erfindung des Internets nicht wirklich existiert bzw. sei nur so vor sich ,hingedümpelt'28. Ich liste einige Argumente auf, die sicherlich mit einer gewissen Berechtigung in diesem Zusammenhang immer wieder zu hören sind: • Gute Corpuserstellung sei erst jetzt möglich, da nur der Computer angemessene Mengen an Material bewältigen könne, nur mit ihm echte Volltextrecherchen gemacht werden könnten und diese unabdingbar seien für eine „repräsentative Abbildung" des jeweils zu bewältigenden Wortschatzbereiches. • Die neuen Corpora ermöglichten eine erhebliche Beschleunigung der lexikographischen Produktion. • Verweisstrukturen seien mit der Möglichkeit der Verlinkung zu neuer Aussagekraft entwickelbar. • Zur Verlinkung gehören dabei nicht nur die Verlinkungen innerhalb des lexikographischen Werkes, auch diejenigen, die zu Portalen und Wörterbuch-Verbünden gesetzt werden. • Verlinkungen könnten nicht nur formale Strukturierungen darstellen, sondern auch inhaltliche. • Die Volltextrecherche des lexikographischen Werkes mache ein Wörterbuch erst hinsichtlich aller in ihm enthaltenen, aber durch die Alphabetisierungsstruktur nicht auffindbaren Aussagen nutzbar. • Die beliebig erweiterbare Menge des zusätzlich zur Verfügung gestellten Materials übersteige alle Erwartungen. Man könne nun Landkarten, Faksimiles, Bildmaterial aller Art, Tonaufnahmen, Filmaufnahmen, eben Zusatzinformationen und -erläuterungen usw. hinzufügen. Bei aller Anerkennung dieser neuen, durchaus arbeitserleichternden Möglichkeiten steht dennoch fest: Mit Hilfe der neuen Arbeitstechniken kann nur das Aus28 Eine entsprechende Haltung kann man gegenüber alten traditionellen Unternehmungen beobachten, die aufgrund ihres Alters nunmehr stark unter Druck geraten.
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gangsmaterial für qualitativ hochwertige semantische und pragmatische Analysen, also für die eigentliche lexikographische Arbeit zusammengestellt werden. Die Lexikographie selbst hat andere Kernaufgaben und muss darum auch andere Kernkompetenzen pflegen. Für sie sind dies nur Hilfsdienste. Es ist in diesem Zusammenhang nicht notwendig, zwischen produktionsorientiertem Gebrauch der neuen Medien und der Ergebnisdarstellung in Form von Hypertexten im WWW, CD-Roms oder cross-media-publishing zu differenzieren. Es geht in erster Linie um die Aufgaben des Lexikographen und um seine Ergebnisse, also um die Erarbeitung lexikographischer Erkenntnisse und nur nebenbei um die Arbeitstechnik und die Form der Ergebnisdarstellung. Sinnvoll ist ein Blick darauf, wie die Lexikographie die neuen Medien bislang in ihre Arbeit einbezieht bzw. einbeziehen kann. Es gibt (in sehr vereinfachter Darstellung) drei Arten der Nutzung: 1. Die Digitalisierung fertiger, vorhandener Wörterbücher ohne spezifisch lexikographische Eigenleistung. Hier geht es nur um den Wechsel von einem Medienträger in einen anderen, ohne dass dabei neue Werkzeuge angepasst oder konzeptionell neue Wege beschritten werden. Dazu sei angemerkt: Die Digitalisierung lexikographischer Standardwerke ist durchaus wünschenswert, und diese sollten in jedem Fall volltextrecherchierbar gemacht werden. Dies ist jedoch ein vorwiegend technisches und nur bedingt ein semantisches Unternehmen. Die Herstellung eines Wörterbuches ist davon im Kern ebenso wenig betroffen wie das vorbildliche Sprechen durch das linguale Metawissen des Linguisten. Ein wirklicher Medienwechsel hat hier eigentlich gar nicht stattgefunden. 2. Die Digitalisierung in Arbeit befindlicher und in Teilen bereits vorhandener Wörterbücher in Verbindung mit einer diese Arbeit modifizierenden, produktionsverändernden Errichtung von Datenbanken und damit möglicher neuer lexikographischer Kompetenzmodule sowie neuer Vermittlungsformen. Es ist unbestritten, dass Speichererweiterungen immer einen Fortschritt bedeuten. Sie dürfen jedoch nicht zu überfüllten Lagerhallen ohne Zugriffsmöglichkeiten werden. 3. Schließlich Neuprojekte, die mit der Situation konfrontiert sind, neue lexikographische Konzeptionen zu erarbeiten, die nicht nur konzeptionell vollständig datenbankorientiert sind, sondern auch den Mehrwert digitaler Möglichkeiten mit bedenken. Hier wäre der Ort für die Erprobung neuer Werkzeuge, seien es besondere semantischer Vernetzungen oder Verlinkungen usw. Doch viele Neuprojekte sind nicht wirklich neu, und nur wenige zeigen, was sie vorhaben. Manche, die zeigen, was sie vorhaben, lassen nichts Gutes erwarten. Es fehlen die Standards, weil man die alten über den Haufen geworfen hat. Man meint nun, alles besser, da multimedial machen zu können. Ich bezweifle den Erfolg. Denn bei zu viel Fixierung auf die neuen Vermittlungsmedien lässt man die alten Tugenden unter den Tisch fallen.
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Anhand zweier, sicherlich etwas überspitzt formulierter Thesen möchte ich zur Diskussion stellen, welche Gefahren sich immer mehr in die lexikographische Praxis einschleichen bzw. warum ich glaube, dass die lexikographischen Tugenden wieder mehr ins Bewusstsein gerückt werden sollten. Oder um es mit McLuhan auszudrücken: Zwei Thesen darüber, warum ich glaube, dass die Herausforderungen des Medienwechsels ohne das qualitative Fundament der alten Werkzeuge nicht bewältigt werden können und warum das neue Medium auch konzeptionell nicht auf halbem Wege stehen bleiben darf. These 1 betrifft den vermeintlichen Zeitgewinn. Auf der Homepage des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (www.dwds.de) stand bis April 2005 ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger: „Zum ersten Mal ist es möglich, lexikographische Arbeit so enorm zu beschleunigen, dass ihre Resultate in kurzer Frist verfügbar werden". Diese Ansicht war erschreckend naiv, und es ist bezeichnend, dass man diesen Satz wieder aus dem Netz genommen hat. Denn die Schnelligkeit eines Wörterbuchprojektes ist unabhängig von der Nutzung der neuen Medien. These 2 betrifft den Qualitätsgewinn. Die Qualität eines Wörterbuches wird mit der Nutzung neuer Medien nicht unbedingt besser. Im Gegenteil, die Gefahren werden dadurch erhöht, dass häufig der Focus von der Semantik auf formal leichter recherchierbare Informationsebenen umgelagert wird. Plötzlich findet man vermehrt einfachste grammatische Informationen an prominenter Stelle, dabei weniger bzw. qualitativ schlechtere pragmatische und semantische Information. Ad These 1: Schnelligkeit und neue Medien. Ein kurzer Blick auf das mittelhochdeutsche Wörterbuch von Matthias Lexer, aber auch auf das GrammatischKritische Wörterbuch J. Ch. Adelungs oder z. B. das FWB zeigt, dass eine solche Aussage zu kurz greift. Die von Enzensberger gemachte Präsupposition, dass alte Wörterbuchunternehmen langsam waren bzw. sind, stimmt so verallgemeinert ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, die deutsche Wörterbuchlandschaft besteht aus einer Vielzahl qualitativ hochwertiger Einzelleistungen. Man denke nur an Lexikographen wie Adelung, Mensing 29 , Dittmaier 30 , Fischer 31 oder Daniel Sanders32, der als Einzelperson mehrere heute noch nicht überholte Wörterbücher vollendet hat. Ein vollständig auf die Möglichkeiten der neuen Medien hin konzipiertes Wörterbuch dagegen, oder wie man das multimediale Äquivalent auch nennen möchte, gibt es immer noch nicht. Wo ist da die versprochene Schnelligkeit? Die Formel von „Schnelligkeit durch neue Medien" scheint mir mehr ein politisches Pro29
Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch (Volksausgabe), bearb. und hrsg. v. O. Mensing. Neumünster 1927-1935. 30
Das Rheinische Wörterbuch, bearb. und hrsg. v. J. Müller. Bonn 1928-1971. Das Schwäbische Wörterbuch, bearb. v. H. Fischer, zu Ende geführt v. W. Pfleiderer. Stuttgart 1904-1936. 32 Sanders, Daniel, Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. 3 Bde. Zweiter unveränderter Abdruck. Leipzig 1876. [Nachdruck Hildesheim 1969]. (Documenta Lingüistica, Reihe III). 31
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gramm zu sein, dessen Realisierung zwar wünschenswert ist, doch mit der Realität nicht viel zu tun hat. Was man mit dieser Formel aber tatsächlich schafft, ist eine verzerrte Darstellung der deutschen Lexikographiegeschichte. Damit soll nicht bestritten werden, dass es bekanntermaßen viele Wörterbuchunternehmen gibt, die hundert und mehr Jahre Arbeitszeit in Anspruch nehmen, personal und kostenintensiv sind. Man muss aber darauf hinweisen, dass die neuen Unternehmen erst einmal beweisen müssen, bei mindestens gleichem Niveau schneller sein zu können, nur weil sie die neuen Möglichkeiten der neuen Medien im Gepäck haben. Als wichtiges Argument für die vermeintliche Schnelligkeit neuer Unternehmungen werden die Datenbanken genannt: Datenbanken verheißen einen geringeren Arbeitsaufwand bei der Artikelbearbeitung, z. B. allein schon dadurch, dass man, wenn man sie erst einmal hat, einen Beleg nicht mehr abtippen muss. Sie versprechen, damit verbunden, natürlich auch die Vermeidung von Tipp-Fehlern und damit die Ersparung des Korrekturlesens. Doch vom traditionellen Zettelkasten zur hochmodernen Datenbank ist oft ein weiter Weg, der bei einzelnen Wörterbuchkanzleien nicht nur kostenintensiv war, sondern über Jahrzehnte hinweg finanzielle wie personelle Ressourcen gebunden hat, während die Artikelproduktion stecken blieb. Eine Digitalisierung der alten Zettel kommt bei traditionellen Wörterbuchunternehmen also ebenso wenig in Frage wie eine Neuexzerption oder eine komplette Umstellung auf Datenbanken. Oft sind daher viele Kompromisse mit den neuen Medien nötig, bzw. die zeitliche Durststrecke bis zur vollständigen modernen Datenbank ist so lang, dass selbst die technikbegeisterten Geldgeber irgendwann an deren Durchführbarkeit zweifeln 33 . Dass Datenbanken zur zeitsparenden Produktionssteigerung bei denjenigen bestehenden Wörterbuchunternehmen dienen können, bei denen bereits lexikographische Kompetenz vorhanden ist, soll keineswegs bestritten werden. Es gibt genügend Beispiele für die Nutzung neuer Medien innerhalb bestehender Unternehmen, die zeigen, dass diese tatsächlich hilfreich für die einzelnen Bearbeiter sein können. Doch selbst wenn die Beherrschung der neuen Techniken als optimal anzusehen ist, leisten diese letztlich nur Hilfsdienste: und zwar für die unbedingt vorauszusetzende, oft durch jahrelange Erfahrung mit dem jeweiligen Gegenstand erworbene Semantik-, Text- und Geschichtskompetenz der Bearbeiter. Datenbanken können aber auch Zeit kosten, nicht nur wie angedeutet bei der Umstellung, auch und vor allem bei der Bearbeitung. Es ist bekannt, dass digital zur Verfügung stehende Belegmengen einen unverhältnismäßig hohen Arbeitsauf33
Das hier Beschriebene betrifft zunächst die Quellen und damit die Produktion, nicht jedoch die Darstellung im neuen Medium. Diese bedarf häufig, sofern sie dem neuen Medium angepasst werden soll, einer regelrechten Neukonzeption des Wörterbuches. Und eine solche wiederum hätte als Ergebnis ein neues Wörterbuch, zum mindesten ein anderes als die gedruckte Vorlage. Ein Dilemma, aus dem man nicht immer glücklich herauskommt, vor allem dann, wenn das gedruckte auch noch als Druck weitergeführt werden soll. Höchst gelungen scheint mir dabei die Lösung des Deutschen Rechts Wörterbuches (vgl. den Artikel von Heino Speer im gleichen Band).
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wand erfordern, um auf ein aussagekräftiges Maß reduziert werden zu können. Anders gesagt: Mit viel Aufwand produzierte Datenmengen sind mit noch höherem Aufwand auf eine bearbeitbare Menge zu reduzieren. Umgekehrt und für die alte Lexikographie positiv ausgedrückt: Ein gut angelegter Zettelkasten kann unter Umständen schon so viele Vorinformationen beinhalten, dass der Lexikograph genügend Orientierung für eine schnelle Bearbeitung hat. Ein langwieriges Suchen nach dem goldenen Belegschnitt, nach Informationen über die onomasiologische Vernetzung, Syntagmen usw. kann so vermieden bzw. minimalisiert werden. Auch haben die Zettelanleger den Text in seiner Ganzheit rezipiert und wissen daher auch um dessen textinterne und textexterne Zusammenhänge. Die propagierte Textkompetenz wird hier verdoppelt. Die hier angedeutete Kritik darf nicht als Aufruf verstanden werden, dass man zum alten Zettelkasten zurückkehren sollte; sie soll nur einer Haltung entgegensteuern, die aus technikeuphorischer Unkenntnis unterstellt, Fortschritt sei auf jeden Fall die ultima ratio, obwohl alte Lösungen manchmal nicht nur ihre Vorteile haben, sondern explizit besser, in diesem Falle sogar zeitsparender sein können. Datenbanken sind eben immer nur so gut wie die Daten, die in ihnen gespeichert sind. Diese lexikographische Weisheit ist so alt, wie es Wörterbücher gibt bzw. Zettelkästen, die aus Corpora exzerpiert worden sind. Hieran hat sich nichts geändert. Ausgewogenheit ist das Stichwort, das es einzuhalten gilt, und nicht bloße Quantität. Nun zur 2. These, zum wunden Punkt der Qualität. Woran misst man die Qualität eines Wörterbuches? Ich greife das Wort Standard noch einmal auf. Was gehört zum Standard eines guten lexikographischen Unternehmens, vor allem, wenn dieses bedeutungslexikographisch orientiert ist? Natürlich die Botschaft, also eine gute, semantisch differenzierte Bedeutungserläuterung und die Füllung der die Erläuterung stützenden Informationspositionen. Es gibt zwei Qualitätsmerkmale, auf denen semasiologische Wörterbücher beruhen. Diese wurden schon thematisiert: Semantikkompetenz und Textkompetenz. Beide Kompetenzen sind personenbezogen, erfahrungsorientiert und vor allem medienunabhängig. Im Einzelnen: Das Qualitätsmerkmal Textkompetenz könnte meines Erachtens in Zukunft stark beeinträchtigt werden, denn die „modernen" Lexikographen arbeiten nur noch datenbankorientiert. Ich möchte an dieser Stelle den Gegensatz Textorientierung versus Datenbankorientierung aufwerfen, denn Datenbanken verarbeiten solche Materialmassen, dass eine einzelne Person niemals über die Gesamttexte verfügen können kann. Semantikkompetenz ist eng verbunden mit Textkompetenz. Nur wer die bearbeiteten Texte inhaltlich genau kennt, kann auch den Gebrauch ihrer Wörter resemantisieren. Ein adäquates Resemantisieren ist aber mit einem Mammut-Corpus, das, wenn es all das halten soll, was es verspricht, also zum Beispiel textsortenspezifisch ausgewogen sein muss, nahezu unmöglich. Besonders diejenigen, die einer angeblich pragmatischen Gebrauchstheorie nachhängen, müssen sich darüber im
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Klaren sein, dass gerade diese eine vollständige Text- und damit Gebrauchskompetenz verlangt. Auffällig ist übrigens, dass die lexikographische Hauptaufgabe, nämlich die Bedeutungserläuterung und die dazu nötigen Basiskompetenzen, als das zentrale Schwierigkeitspotential durchaus bewusst sind, allerdings die damit verbundene Arbeit vermieden wird. Denn die meisten neuen bedeutungsbezogenen Projekte basieren auf den Ergebnissen alter traditioneller Lexikographie. Sie haben nur das Medium gewechselt und weder die wirkliche lexikographische Konzeption verbessert noch gezeigt, dass sie die lexikographischen Kernkompetenzen in ihrem vollen Ausmaße selbst anwenden. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (www.dwds.de) basiert sinnvollerweise, aber auch bezeichnenderweise, auf dem Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache (WdG), einem von sehr kompetenten Lexikographen gemachten Wörterbuch. Neu ist nur die digitalisierte Textbasis. Doch solange die Technik nicht so weit ist, dass man Bücher aus allen Jahrhunderten ohne größere Probleme auch im Computer durchblättern kann, hat auch das langatmige Aufrufen der wenigen bereits vorhandenen Faksimileseiten nur mehr geringen Wert. Natürlich ist es von großem Vorteil, wenn ich zu jeder Zeit und an jeder Stelle des Arbeitsablaufes auf den kompletten Text meines Beleges zurückgreifen kann. Aber wer macht das noch, wenn der Zeitdruck zu groß und vor allem die Anzahl der wartenden Belege unermesslich ist. Abgesehen davon, dass ich damit letztlich natürlich voraussetze, dass die Quellenliteratur überhaupt gelesen wird, man sich also die Textkompetenz bei der Arbeit erwirbt und diese nicht immer mehr zur Ausnahme wird, was ein anzunehmendes Risiko bei all denen ist, die nicht über diese lange Erfahrung verfügen. Denn um zu wissen, dass die Betrachtung eines vom Computer nach formalen Kriterien ausgewählten Belegausschnittes nicht zur Bearbeitung genügt, reicht es eben oft nicht aus, diesen nicht verstanden zu haben. Im Gegenteil: Oft sind es gerade diejenigen Belegstellen, die auf den ersten Blick eindeutig scheinen, die es am Ende gar nicht sind. Apropos Belegausschnitt: Wenn man bisher den Belegschnitt am Ende der Interpretation vorgenommen hat, so ist der nun zum Ausgangspunkt geworden, eine Entwicklung, die sich als Unsegen erweisen könnte; vor allem dann, wenn der digitalisierte Text aufgrund von programmatischem Zeitdruck nicht mehr weiter nachgeprüft werden kann, nicht weiträumiger gelesen wird bzw. erst gar nicht mehr im Kontext seines Gesamtzusammenhangs wahrgenommen werden kann. Was die Weite der Textkompetenz für die Bearbeitung ist, ist die Dichte für die Darstellung der Ergebnisse. Das neue Medium Internet verleitet so manchen, die unendlichen Weiten des Raums dazu zu nutzen, um ausladend wenig zu sagen. Eine große Stärke lexikographischer Texte war ihre strukturierte Komprimiertheit, ihre Informationsdichte, ihr schneller Wissenszugriff, ihre Klarheit und ihre Präzision gewesen. (Ich erinnere noch einmal an die Kommunikationsmaximen von P. Grice.) Wenn ich aber einen „modernen" Artikel auf Papier ausdrucke, dann sollte der Ausdruck keine 25 unstrukturierten und vor allem halbleeren Seiten umfassen. Immer dann, wenn man durch einen Verlag oder durch eigene Zielsetzung einen
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bestimmten Raum vorgegeben hat, ist man gezwungen, innerhalb dieses Raumes genau dasjenige und nur dasjenige zu sagen, was man im Vergleich zu anderem Wichtigen als das eigentlich Relevante erachtet. Diese Konstruktion ist ein in sich eng verflochtenes, apodiktische Aussagen mit feinen Andeutungen und Nuancierungen verbindendes Textgebilde, das die Übernahme von Aussageverantwortlichkeiten verlangt, auch im Sinne der dem Lexikographen auferlegten Sicherung und Gestaltung von Tradition. Als Gegenbild entwerfe ich ein Horrorszenario: eine für niemanden zusammenhängend bearbeitbare Textmasse, dementsprechend eine Unmenge von corpusbezüglichen Einzelaussagen höchst unterschiedlicher Relevanz, der Verkauf dieser Aussagenmengen als „Abbildung" einer sprachlichen Realität und dies alles unter dem Deckmantel, dem Rezipienten eigene Möglichkeiten zur Erkenntnisgewinnung an die Hand zu geben, ohne ihn pädagogisch verantwortlich zu leiten. Man sollte nie vergessen, dass der Lexikograph immer auch Konstrukteur einer Weltsicht ist, auch wenn die Textsorte Wörterbuch das Gegenteil suggeriert. Darum zum Schluss ein Zitat Blumenbergs aus seinem Buch über die Lesbarkeit der Welt (1983, 19): „Der Aufbau unserer Erfahrungswelt vollzieht sich in der Sättigung der Inhalte mit Sinnfunktionen, die systematische Verbund- und Verweisstrukturen tragen. Durch sie wird das Bewusstsein instand gesetzt, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können." Gute Wörterbücher haben bisher dabei geholfen, diese Erfahrungen in ihrer historischen Dimension lesbar zu machen. Bei allen modernen Möglichkeiten, neue systematische Verbund- und Verweisstrukturen zu setzen, sollten wir uns aber immer bewusst sein, dass es die Inhalte sind, die unser Leben prägen und nicht nur deren äußere Vernetzungen.
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