Sklaven des Gesetzes: Politische und philosophische Implikationen des platonischen Begriffs der Sklaverei [1 ed.] 9783428525775, 9783428125777

In der vorliegenden Untersuchung entwickelt der Autor aus dem platonischen Werk eine Theorie der Sklaverei, welche ausge

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Sklaven des Gesetzes: Politische und philosophische Implikationen des platonischen Begriffs der Sklaverei [1 ed.]
 9783428525775, 9783428125777

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 148

Sklaven des Gesetzes Politische und philosophische Implikationen des platonischen Begriffs der Sklaverei

Von

Christian Angermeir

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTIAN ANGERMEIR

Sklaven des Gesetzes

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 148

Sklaven des Gesetzes Politische und philosophische Implikationen des platonischen Begriffs der Sklaverei

Von

Christian Angermeir

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen hat diese Arbeit im Wintersemester 2005/2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12577-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern in Liebe und Dankbarkeit

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2005/2006 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Claus-E. Bärsch für die wohlwollende Begleitung und Betreuung meiner Arbeit sowie Frau Prof. Dr. Hedda J. Herwig, die mich auf die Bedeutung der Thematik aufmerksam gemacht hat und mir in vielen inspirierenden Gesprächen als Diskussionspartnerin zur Seite stand. Des Weiteren möchte ich meines Lehrers Herrn Prof. Dr. Eberhard Simons (y) gedenken, der mir die Freude am philosophischen Denken eröffnet hat und mit seiner Weise, unscheinbare Textstellen neu zu entdecken und differenziert wahrzunehmen, maßgeblich zu meiner geistigen Entwicklung beitrug. Sehr verbunden bin ich auch meinem Freund Winand Herzog, der die Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen hat und mit mir in langen, anregenden Gesprächen so manches sprachliche und inhaltliche Problem erwog. Schließlich danke ich Frau Eleni Papadatou für ihre philologische Beratung bei Zweifelsfällen im Altgriechischen und insbesondere für ihren liebevollen Beistand, der das Gelingen dieser Arbeit erst ermöglicht hat. München, im Sommer 2007

Christian Angermeir

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geschichte und Theorie der Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Platon als Sklave . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zur Terminologie der Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 25 45 48

1. Teil Psyche § 2 Die Konzeption der sklavischen Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die ontologische Bestimmung des Menschen anhand der Seelenteile . . . 1. Die Natur der Seele: Selbstbewegung und Unsterblichkeit (Phaidros 245c–246a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Idee der Seele als Gleichnis in Phaidros und Politeia . . . . . . . . . . II. Die spezifische Differenz der sklavischen Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das logistikÎn des Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das qumoeidÝò des Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das ™piqumhtikün des Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die ˜paideusßa des Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53 55 55 55 57 63 66 69 71 73 76

2. Teil Polis § 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Dialektik von Herr und Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Herrschaft und Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriterien des Herrschens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hierarchien des Dienens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gleichheit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Verhältnis von Göttern und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79 81 82 83 92 102 105 111 115

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Inhaltsverzeichnis

§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften . . . . . . . . . . . I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht . . . . . . . . 1. Freiheit und Versklavung in Erziehungsverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit und Versklavung in Liebesverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheit und Versklavung als Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Befreiungsbewegung des Höhlengleichnisses . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Höhlengleichnis im Lichte des Sonnen- und Liniengleichnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Abstieg in die Höhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ursprung von Gesellschaft und Sklaventum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die sklavenlose Periode im Goldenen Zeitalter des Politikos-Mythos 2. Die Genese der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auf der Spur der Sklaven in der Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politische Versklavung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit und Versklavung als politische Formen in Athen, Persien, Sparta und Kreta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die abnehmende Reihe der Herrschaftsformen und die dabei zunehmende Versklavung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sklaven des Gesetzes: Die Nomokratie als Garant des Guten . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Die I. II. III. IV. V. VI.

Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht . . . . . . . . . . . . Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen . . . . . . . . Behandlung und Einsatz von Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafen für Sklaven im Vergleich zu Strafen für Freie . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sklave als Gegenstand von Handel und Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . Die Freilassung von Sklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 118 118 128 140 140 148 152 156 159 159 173 176 189 191 191 201 208 220 223 223 231 236 238 242 244

3. Teil Kosmos § 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Platons Kritik der vorsokratischen Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247 249 249 252 260

§ 7 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Der platonische Sklave als psychokosmopolitisches Prinzip . . . . . . . . . . . 261 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

§ 1 Einleitung I. Einführung in die Thematik Sklaven waren in der antiken Welt allgegenwärtig und sicherlich auch die Voraussetzung dafür, dass die Bürger Athens einen so aristokratischen Umgang mit der Arbeit pflegen konnten, der zu politischen Errungenschaften und geistig-kulturellen Leistungen führte, ohne welche unsere moderne Gesellschaft nicht vorstellbar wäre. Hierzu gehört auch ein klarer unverstellter Blick auf gesellschaftliche Gegebenheiten, und man kann den Griechen nicht vorwerfen, dass sie irgendwie versucht hätten, die Ausbeutung der Sklaven zu vertuschen. Das Thema der Sklaverei ist also eine wichtige Grundlage zum Verständnis der antiken griechischen Gesellschaft und damit auch der damaligen politischen Philosophie, die in jener Zeit begründet wurde und bis heute ein Fundament der politischen Theorie ist. Der eigentliche Begründer der politischen Wissenschaft als politikÞ ™pistÞmh, Platon, hat sich in seinen Schriften nirgends explizit für oder wider die Sklaverei ausgesprochen. Auch finden wir in den Dialogen keine systematische Darstellung zum Wesen der Sklaverei, stattdessen gibt es eine Vielzahl von Fundstellen in den verschiedensten Kontexten, in welchen eine dem Themenkomplex der Sklaverei entnommene Begrifflichkeit verwendet wird. Dies können konkrete Anweisungen zum Umgang mit Sklaven, Darstellungen politischer Strukturen oder Analogien zur Beschreibung anderer Verhältnisse sein. Das entsprechende Vokabular findet sich bei fast allen von Platon behandelten Themen und scheint, zumindest im erweiterten Sinne, eine zentrale Kategorie platonischen Denkens zu sein. Umso erstaunlicher ist es, dass das ,Problem der Sklaverei bei Platon‘ noch keine systematische Behandlung erfahren hat. Die einzige größere Publikation zu dem Thema ist von G. R. Morrow verfasst und stammt aus dem Jahre 1939, beschränkt sich aber auf die Gesetzgebung zur Sklaverei in den Nomoi und vergleicht diese mit den Gesetzen der griechischen Poleis.1 Zwar hofft der Autor, dadurch auch Licht auf Platons eigene Einstellung zu dieser ,heiklen Institution‘ zu werfen, doch liegt sein besonderes Interesse darin, durch die zahlreichen Gesetze bezüglich Sklaven in den Nomoi Überlieferungslücken in der tatsächlichen

1 G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery in its Relation to Greek Law, Urbana, Ill., 1939 (Illinois Studies in Language and Literature Vol. XXV, No. 3). Reprint: New York, 1978.

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§ 1 Einleitung

Gesetzgebung der Griechen zu schließen.2 Morrow betont dabei, dass Platon aus Gründen der Realisierbarkeit seine eigenen Gesetzesentwürfe möglichst an den wirklichen Gegebenheiten seiner Zeit ausrichtete3 und kommt folglich zu dem Schluss, dass die platonischen Gesetze eine verschärfte Variante der athenischen Rechtssprechung darstellen.4 Mit einem Seitenblick auf die Verfasstheit des Herrscheramtes in den Nomoi und der dortigen strikten personalen Trennung zwischen Legislative und Exekutive ergibt sich allerdings für Morrow der Widerspruch, dass Platon sein eigenes Prinzip nicht auf das Verhältnis von Herren und Sklaven anwendet.5 Hierbei wird jedoch übersehen, dass Platon trotz seiner, wie Morrow schreibt, profunden Kenntnis der attischen Gesetze,6 die Gesetzespolis, wie sie in den Nomoi dargelegt wird, nicht als eine verbesserte Fortführung des Status Quo begreift. Der platonische Gesellschaftsentwurf baut prinzipiell nicht auf der griechischen Polis auf, sondern ist eine konsequente Anwendung der gesamten platonischen Philosophie auf den politischen Bereich. Ähnlichkeiten in der konkreten Gesetzgebung ergeben sich dabei von selbst, wenn, wie es Platon zumindest in den Nomoi tut, von realen Verhältnissen ausgegangen wird. Gleichwohl gehen die platonischen Gesetze von völlig anderen Prinzipien und Voraussetzungen aus, als es die Grundlagen der attischen Gesetzgebung sind. Morrows an sich verdienstvolle Studie gewährt uns also einen detaillierten, komparativen Überblick auf die griechische Gesetzeslage bezüglich der Sklaverei, jedoch lassen sich im Vergleich dieser mit den Gesetzen der Nomoi keinerlei Rückschlüsse auf Platons Konzeption des Sklaven ziehen, da eine solche nicht ohne Einbeziehung seiner Philosophie erschlossen werden kann. Eine Skizze zu einem umfassenderen Ansatz zeigt Gregory Vlastos in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1941 auf, der aber naturgemäß bei einem Thema solchen Umfanges nur als Anregung verstanden werden kann und wohl auch nicht mehr beabsichtigt.7 Die dort zugrunde gelegte Argumentation, ausgehend von der These, dass es dem Sklaven laut Platon an Vernunft mangelt und er somit nicht über die wesentliche Voraussetzung für jegliche Form des Herrschens verfügt,8 eröffnet ein weites Feld von verschiedenen Graden an SklavenVgl. G. R. Morrow, ebd., S. 11. Vgl. G. R. Morrow, ebd., S. 12. 4 Vgl. G. R. Morrow, ebd., S. 124 ff. 5 Vgl. G. R. Morrow, ebd., S. 133. Dieses Problem wird ausführlicher in § 5, Kapitel I. ,Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen‘ der vorliegenden Arbeit behandelt. 6 Vgl. G. R. Morrow, ebd., S. 124: „The legislation of the Laws [. . .] is the work of a man who had a competent knowledge of Attic law and legal concepts, and made generous use of this positive material in his own ideal legislation.“ 7 G. Vlastos, ,Slavery in Plato’s Thought‘, Philosophical Review 50 (1941), S. 289– 304, abgedr. in: ders., Platonic Studies, Princeton, 1981, S. 147–163. 8 Vgl. G. Vlastos, ebd., S. 148–149. 2 3

I. Einführung in die Thematik

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tum, entsprechend der unterschiedlich stark ausgeprägten Vernunft der Menschen, in der platonischen Anthropologie. Daraus wird verständlich, dass der Begriff des Sklaven bei Platon durchaus auch eine positive Konnotation haben kann, wenn der Unterworfene dabei im Dienst eines höheren Prinzips steht.9 Von diesem Punkte aus geht Vlastos dann den folgerichtigen Schritt, die Sklaverei auch als kosmologische Struktur im platonischen Denken darzulegen, wodurch diese wiederum als politisches Mittel gerechtfertigt ist.10 Dieser weit reichenden Perspektive, die dem platonischen Denken auch in Bezug auf die Sklaverei durchaus gerecht wird, steht allerdings entgegen, dass Vlastos abschließend bemüht ist, die Konzeption des Sklavischen bei Platon vor allem metaphorisch zu deuten.11 Hierbei wird aber übersehen, dass die hierarchische Konstruktion des Logos aus welcher sich das Prinzip des Sklaven ableitet, eine manifeste Realität in der platonischen Theorie ist. Zwar meint Platon oft nicht den ,Diener eines Herrn‘ im institutionellen Sinne, wenn er vom ,Sklaven‘ spricht, jedoch impliziert diese Bezeichnung zumeist eine inferiore Stellung für den betreffenden Menschen im platonischen Gesellschaftsaufbau und beschreibt immer die Unterordnung bezüglich eines im positiven oder negativen Sinne mächtigeren Prinzips. Indem Vlastos den platonischen Sklaven vor allem als Metapher sieht, wird er den Konsequenzen, die sich aus der Sklavenkonzeption als solcher ergeben, nicht gerecht und bringt eine Vielzahl der sich daraus ergebenden Aspekte im psychologischen wie politischen Bereich nicht zur Sprache, was aber auch bei der von ihm gewählten knappen und konzentrierten Darstellungsweise nicht erwartet werden kann. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Aufsatz um die bislang angemessenste Behandlung des Themas, da sie den Gesamthorizont des platonischen Denkens, Psyche, Polis und Kosmos mit der Sklaverei in Verbindung bringt. Schließlich sei noch das Platonkapitel in der Studie von Hans Klees über die ,Sklaverei im oikonomischen und politischen Schrifttum der Griechen in klassischer Zeit‘ erwähnt, welche aber, wie der Titel schon nahe legt, ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf das Verhältnis von ,Herren und Sklaven‘ richtet.12 Da sich für diesen Blickwinkel natürlich die Nomoi aufgrund ihrer Materialfülle anbieten, ergeben sich für den Aspekt der Sklaverei und den Begriff des Sklaven bei Platon im Allgemeinen die gleichen Einschränkungen, welche eingangs für die Arbeit von Morrow geltend gemacht wurden. Zu Recht sieht Klees die Herren-Sklaven-Problematik bei Platon zwar in dem generellen Themenbereich der Herrschaft von Menschen über Menschen angesiedelt, vermag aber nicht zu Vgl. G. Vlastos, ebd., S. 150–151. Vgl. G. Vlastos, ebd., S. 153 ff. 11 Vgl. G. Vlastos, ebd., S. 159 und S. 161–163. 12 H. Klees, Herren und Sklaven. Die Sklaverei im oikonomischen und politischen Schrifttum der Griechen in klassischer Zeit (= Forschungen zur antiken Sklaverei, Bd. 6), Wiesbaden 1975, S. 142–181. 9

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§ 1 Einleitung

sagen, worin das spezifische ,Wesen des Trennenden‘ zwischen den Sklaven und übrigen Menschen besteht.13 Wie bereits erwähnt, lässt sich dieses jedoch nur im Zusammenhang der gesamten platonischen Philosophie, unter besonderer Beachtung der Ausführungen zur Seelenlehre, erschließen und kann nicht isoliert dem Gesetzeskatalog der Nomoi entnommen werden. Generell ist es erstaunlich, dass man meint, eine so komplexe Thematik wie die Sklaverei in der Antike an diversen archäologischen Zeugnissen oder vereinzelten Textstellen festmachen zu können, ohne die Mentalitätsstruktur der griechischen Geisteswelt in ihrem eigentümlichen Zusammenhang zu sehen bzw. im Falle der Sklavenfrage bei Platon, ohne die vorausgehenden und grundlegenden philosophischen Konzepte zu berücksichtigen. Die Arbeit von Klees ist dabei als Darstellung der Sklaverei im griechischen Schrifttum, auch wegen ihres großen Quellenreichtums, durchaus verdienstvoll und aufschlussreich, vermag aber nicht das Wesen des Sklavischen hinter den Gesetzen der Nomoi zu erkennen. Neben diesen hier erwähnten Arbeiten gab es eine Flut an Abhandlungen sowohl zur antiken Sklaverei14 als auch zur platonischen Philosophie, welche die Forschung deutlich weiterbrachten, jedoch findet sich dabei keine Darstellung der Sklaverei als eines weiteren Schlüssels zur Deutung der platonischen Philosophie, insbesondere ihrer politischen Implikationen in einem kosmologischen Zusammenhang. Da auch nach 2400 Jahren immer noch ein notwendiger Bedarf an eröffnenden Kategorien für ein nach wie vor noch nicht ganz erschlossenes zentrales Werk der abendländischen Kultur besteht, möchte diese Arbeit einen Beitrag dazu leisten und den Mangel auf diesem einen Gebiet zu beheben helfen. Jede moderne Platoninterpretation steht dabei vor dem Problem, sich in einer bis in die Antike zurückreichende Rezeptionsgeschichte wieder zu finden, in welche sie sich einzuordnen oder gegenüber welcher sie sich mit guten Gründen abzugrenzen hat. Die Verschiedenartigkeit der methodologischen Ansätze und der daraus folgenden Ergebnisse ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass H. Klees, ebd., S. 159. Einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur Sklaverei in der Antike vermittelt der Aufsatz von H. Bellen, ,Die antike Sklaverei als moderne Herausforderung. Zur Situation der internationalen Sklavenforschung‘, in: ders., Politik – Recht – Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte, Stuttgart 1997, S. 307–318. Die vorliegende Arbeit bezieht sich hierbei vor allem auf die Veröffentlichungen von M. Finley und die Forschergruppe, welche Beiträge zu den regelmäßig stattfindenden Kolloquien des Centre de recherches d’histoire ancienne an der Universität von Besançon beisteuerte (u. a. M. Detienne, Y. Garlan, J.-P. Vernant und P. Vidal-Naquet). Im deutschen Sprachraum ist vor allem das von J. Vogt initiierte Projekt ,Forschungen zur antiken Sklaverei‘ an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz hervorzuheben, zu dem die erwähnte Studie von H. Klees gehört. Des Weiteren verdanke ich grundlegende Einsichten zum Themenkreis Sklaverei in der Antike zwei neueren Veröffentlichungen von L. Schumacher und C. Delacampagne. 13 14

I. Einführung in die Thematik

15

von Platon keine Schrift überliefert ist, falls es überhaupt jemals eine solche gegeben hat, die den Anspruch erhebt, seine philosophische Lehre systematisch in aller Deutlichkeit darzustellen. Erschwerend für die Interpretation kommt hinzu, dass Platon keine Resultate abgeschlossener Gedankengänge präsentiert, sondern die Denkbewegung selbst in der Dialogform dargestellt wird. Hierzu treten in den Dialogen Personen unterschiedlichsten Charakters auf, die sich unterhalten und besprechen, die agieren und reagieren, diskutieren, beratschlagen, behaupten und Einwände vorbringen, die Fragen stellen, auf Fragen erwidern, die prüfen oder einer Prüfung selbst auszuweichen versuchen, die Rede stehen und Reden anderer vortragen, die polemisieren oder darauf entgegnen15 – kurz, es werden die verschiedensten Gedankenbewegungen vollzogen, die aber häufig in einer Aporie enden oder durch einen Mythos erläutert werden. Eine gewisse Einheit stiftet in den meisten dieser Dialoge allein die Person des Sokrates mit ihrer dialektischen Fragetechnik, doch selbst hierbei kann nur gemutmaßt werden, ob es sich um die Methode des historischen Sokrates handelt oder ob das ihm in den Mund gelegte eigentlich ein rein platonischer Gedanke ist.16 Viele dieser Dialoge sind zudem zeitlich vor Platons Geburt oder doch in seiner Kindheit angesiedelt und somit sicherlich keine wörtliche Rekonstruktion so wirklich stattgefunden habender Gespräche, aber ebenso wenig kann von den durch eine Vielzahl an Personen vorgebrachten Gedankengängen mit Sicherheit ausgesagt werden, es handle sich um Platons philosophische Lehre.17 Eine Arbeit über Platon ist somit immer bereits das Resultat einer Interpretation, da seine Philosophie nicht direkt zu fassen ist, indem er sie nirgendwo eindeutig dargelegt hat. Es wurde in der Antike erzählt, dass Platon auf dem Sterbebett von sich als einem singenden Schwan träumte, der von Baum zu Baum fliegt und von keinem Jäger erlegt werden kann.

15 Vgl. R. Mugerauer, Sokratische Pädagogik, Marburg 1992, S. 25. Dieses Zitat wurde, ohne den Sinn zu verändern, leicht abgewandelt und deswegen nicht in Anführungszeichen gesetzt. 16 Zum Problem der Person des Sokrates vgl. A. Patzer (Hrsg.), Der historische Sokrates (= Wege der Forschung, Bd. 585), Darmstadt 1987. In seiner Einleitung zu dieser kenntnisreichen Zusammenstellung von Texten aus einhundertfünfzig Jahren schreibt Patzer: „Sokrates ist schon den Zeitgenossen ein Rätsel gewesen. Platon (Theät. 149a) berichtet, die Leute hätten gesagt, er sei ein ,höchst seltsamer Mensch‘ (˜topþtatoò), der seine Umwelt in Ratlosigkeit versetze. Die moderne Wissenschaft ist nicht viel klüger. Obwohl sie sich seit mehr als zweihundert Jahren um Aufklärung bemüht, ist Sokrates noch immer eine der umstrittensten und rätselhaftesten Gestalten der antiken Philosophiegeschichte.“ A. Patzer (Hrsg.), ebd., S. 1. 17 In diesem Sinne beschreibt L. Edelstein die Herausforderung für die Platoninterpretation folgendermaßen: „If it is a challenge to state concisely what Plato said, it is even a greater challenge to state in positive terms what he meant and what position he occupies with regard to the arguments he presents with such brilliance and lucidity.“ L. Edelstein, Plato’s Seventh Letter, Leiden 1966, S. 166.

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§ 1 Einleitung „Der Pythagoreer Simmias deutete diesen Traum so: Alle Menschen würden sich bemühen, Platons Gedanken zu begreifen, aber jeder werde die Deutung seinem eigenen Denken anpassen.“18

Die Geschichte der Platonrezeption lässt sich dennoch auf der Grundlage von vier aufeinander folgenden Paradigmen betrachten, beginnend mit den unmittelbaren Schülern Platons in der älteren Akademie. Diese Überlieferung wurde maßgeblich geprägt von Platons langjährigem philosophischem Begleiter Aristoteles, sowie von Platons Neffen und Nachfolger in der Leitung der Akademie Speusipp, als auch von Xenokrates, dem dritten Leiter der Akademie. Kurz gefasst zeichnen sich diese Interpretationen durch ein starkes systematisches Interesse aus, unter Vernachlässigung der Dialogform der Schriften und mit Einbeziehung des an der Akademie mündlich Gelehrten. Der Inhalt der Schriften wird des Öfteren umgedeutet, um Widersprüche mit der ,ungeschriebenen Lehre‘ zu beseitigen. Was an diesen Auslegungen noch originär platonisches Gedankengut ist, lässt sich zumeist nicht mehr mit Sicherheit feststellen, da die Schüler und insbesondere Aristoteles ausgeprägt eigene Gedanken in ihrer Philosophie vertraten. Das darauf folgende neuplatonische Paradigma geht auf die Lehren Plotins im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurück. Sein streng systematischer Ansatz versuchte die platonischen Schriften und hierbei insbesondere den Timaios und den Parmenides in Hinblick auf eine hierarchische Struktur der übersinnlichen Wirklichkeit zu interpretieren, welche in dem Einen, der höchsten Gottheit und dem Urgrund alles Seienden gipfelte und die materielle Welt als abgestufte Emanationen dieses Prinzips begriff. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei die Problematik des Verhältnisses von Einheit und Vielheit, wozu neben Platons schriftlichen und mündlichen Lehren auch aristotelische, stoische, neupythagoreische, orientalisch-religiöse und mystische Motive herangezogen wurden. Im fünfzehnten Jahrhundert übertrug der Plotin-Übersetzer Marsilio Ficino den gesamten Platon aus dem Griechischen ins Italienische, wodurch die Texte einem größeren Publikum zugänglich wurden und Plotins Platoninterpretation mit dem Schwerpunkt des ,Einen-Guten‘ allgemein Beachtung fand. Der Neuplatonismus, welcher eintausendfünfhundert Jahre das maßgebliche Paradigma der platonischen Textexegese war, hat Beträchtliches zur Erschließung der Metaphysik Platons geleistet und dabei auch großen Einfluss auf die christliche Theologie gehabt, jedoch alle anderen zahlreichen Aspekte der platonischen Philosophie systematisch ausgeblendet oder doch nur hinsichtlich des Emanationsprinzips beleuchtet. 18 P. Friedländer, Platon. Bd. 3. Die platonischen Schriften zweite und dritte Periode, Berlin 1975, S. 33. Friedländer fügt hinzu: „(Das gilt noch heute.)“ Die Geschichte, deren Überlieferungsweg ungewiss ist, findet sich im zweiten Kapitel von Olympiodoros’ Alkibiadeskommentar.

I. Einführung in die Thematik

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Anfang des neunzehnten Jahrhunderts übersetzte Friedrich Schleiermacher (1768–1834) die platonischen Schriften ins Deutsche und eröffnete einen neuen Interpretationsansatz. Die literarische Form der Dialoge und ihr philosophischer Inhalt gehörten für ihn wesentlich zusammen. Das Gesamtwerk Platons ist mithin eine einzige große Gedanken- und Gesprächsbewegung, die sich in ihrer Entwicklung wie ein roter Faden durch die einzelnen Dialoge zieht. Diese herauszuarbeiten ist, nach Schleiermacher, die Aufgabe einer jeden Platoninterpretation, so dass die Unterscheidung zwischen einem exoterischen Platon der Schriften und einem esoterischen Platon der ,ungeschriebenen Lehre‘, die lediglich „nur ein Gewebe von Missverständnissen und verwirrten Vorstellungen“ ist,19 für Schleiermacher hinfällig wird. Zum ersten Mal in der Rezeptionsgeschichte erscheint Platon nun auch als Künstler und Schriftsteller, der den philosophischen Gedankengang dramatisch erschließt. Zunehmend wichtig wurden für die Forschung nun die geschichtliche Persönlichkeit Platons und ihre Gedankenentwicklung in den Dialogen. Diesen Ansatz führte als erster Karl Friedrich Hermann (1804–1855) in seinem Buch ,Geschichte und System der platonischen Philosophie‘ (1839) aus, wobei er die Unterscheidung zwischen Esoterik und Exoterik beibehielt. Für ihn verhält sich die mündliche Lehre Platons, wie sie insbesondere bei Aristoteles überliefert wird, zum Inhalt der Dialoge wie die Ideenwelt zur Sinnenwelt.20 Durch den Entwicklungsgedanken angeregt und durch Unstimmigkeiten unter den Philosophen motiviert, interessierten sich nun die Philologen für Platon, in der Absicht, eine gesicherte Chronologie der Dialoge herauszuarbeiten. Zwar gibt es bis heute noch Unklarheiten über die Echtheit der Briefe und einiger kleinerer Dialoge, jedoch ist die Frage der chronologischen Entstehung der Schriften spätestens seit Wilamowitz-Moellendorff gelöst.21 Auf dieser Grundlage konnte man nun versuchen, „den Weg von den frühen zu den späten Schriften als ein Fortschreiten in der Bewältigung sachlicher Schwierigkeiten zu verstehen“.22 Besonderes Interesse fand dabei Platons Ideendialektik, die man als den methodischen Kern der platonischen Philosophie begriff. Nachdem das Zeitalter der großen Systeme vorüber war, konzentrierte sich die Forschung zunehmend auf erkenntnistheoretische Fragen, was zu einer Rückbesinnung auf Kant führte. Der Neukantianismus meinte in Platons dialektischen Spätschriften23 die eigenen Problemstellungen wieder zu erkennen. Der bedeutendste Beitrag zum methodologischen Problem im Denken Platons in 19 F. Schleiermacher, ,Einleitung‘ zu ,Platons Werke‘, 3. Aufl. Berlin 1855, S. 11, abgedr. in: K. Gaiser (Hrsg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. 1–32. Das Zitat findet sich dort auf Seite 7. 20 Vgl. K. Gaiser, ,Vorwort des Herausgebers‘, in: ders. (Hrsg.), Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis, Hildesheim 1969, S. IX. 21 Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon, 2 Bde., Berlin 1920. 22 K. Gaiser, ,Vorwort des Herausgebers‘, a. a. O., S. XII.

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neukantianischer Hinsicht ist zweifelsohne Paul Natorps (1854–1924) Buch ,Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus‘ (1903). Platon zeigte sich darin als derjenige, welcher erwiesen hatte, „wie eben der Gang der Methode es ist, die der begrifflichen Einzelfestlegung sich überordnet. Die Denkpunkte, die Begriffe verlieren dabei ihre scheinbare Starrheit. Nicht sie sind mehr das ursprünglich Bestimmende, sondern sie selbst bestimmen sich erst gleichsam als die Schneidungen der Denklinien“.24 Demzufolge sind „die Ideen bei Platon nicht statisch dinghaft zu verstehen [. . .], sondern dynamisch als Gesetze des Denkens oder Funktionsbegriffe“.25 Die neukantianische Begrifflichkeit und die kategorische Anwendung der Erkenntnistheorie Kants führten jedoch auch zu einer Verengung der Platoninterpretation, welche den weit reichenden Horizont der platonischen Philosophie zunehmend begrenzte. Dieser Begrenzung versuchte Julius Stenzel (1883–1935) zu entgehen, indem er die philologischen Ergebnisse mit den Erkenntnissen der philosophischen Platonforschung in Einklang zu bringen versuchte und dabei zwischen Theorie und Praxis, Mathematik und Ethik als auch genetischer und systematischer Betrachtungsweise vermittelte. In diesem Sinne gelang es ihm, „die modernistischen Übertreibungen der Neukantianer“ zu vermeiden und gleichzeitig „den Naivitäten und Trivialitäten der biographisch-psychologischen Methode aus dem Wege“ zu gehen.26 Nach dem ersten Weltkrieg rückte der politische Platon in den Mittelpunkt des Interesses, das heißt, das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft stand nun im Zentrum der Forschung, in der Hoffnung neben dem metaphysischen und ontologischen Platon das Platonbild nun notwendigerweise um den ethischen und erzieherischen Platon zu erweitern. In seinem dreibändigen Werk ,Paideia‘ erschließt Werner Jaeger (1888–1961) die platonische Philosophie aus der griechischen Geistesgeschichte in ihrem Anspruch, menschenbildend und lebensformend zu sein. Der zentrale politisch-erzieherische Aspekt des platonischen Denkens wird damit erstmals zu einem Schlüssel zur Eröffnung des gesamten Werkes Platons. Aus der gleichen Perspektive überbrückte Paul Friedländer (1882–1971) die Spannung zwischen wissenschaftlich-philosophischer und politisch-künstlerischer Platoninterpretation, indem er dramatische Form

23 Als solche wären hervorzuheben: Theaitetos, Sophistes, Politikos, Parmenides und Philebos. 24 P. Natorp, ,Genesis der platonischen Philosophie‘, in: K. Gaiser (Hrsg.), Das Platonbild, a. a. O., S. 65. 25 K. Gaiser, ,Vorwort des Herausgebers‘, a. a. O., S. IX. Diese Auffassung der Ideen blieb allerdings nicht unwidersprochen. Vgl. hierzu W. D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, London 1951, S. 226 ff. und A. Graeser, Platons Ideenlehre. Sprache, Logik und Metaphysik. Ein Entwurf, Stuttgart 1975, S. 72 und S. 119. 26 K. Oehler, ,Der entmythologisierte Platon. Zur Lage der Platonforschung‘, Zeitschrift für philosophische Forschung 19 (1965), S. 398.

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und philosophischen Inhalt wechselseitig aufeinander bezog und politischethisch beleuchtete. Während die Platoninterpretation in Kontinentaleuropa entweder metaphysisch, ontologisch oder ethisch-politisch vorgeht, ist die englische und nordamerikanische Auslegung vor allem an rein logischen Fragestellungen interessiert, insbesondere an der sprachlich-analytischen Untersuchung der von Platon aufgeworfenen Probleme und ihrer argumentativen Lösungsversuche. Ausdrücklich erwähnt seien hier die durchaus verdienstvollen Arbeiten von J. L. Ackrill und R. E. Allen, die mit den neuen Erkenntnissen der logischen Analyse glaubten, die Problemstellungen Platons besser formulieren und somit auch verfolgen zu können.27 Der Sinn der platonischen Philosophie wird hierbei in der widerspruchsfreien Auslegung des dialogischen Logos gesucht, welcher aber im Gegensatz zur modernen Logik auch Widersprüche in sich trägt. Streng logische Erkenntnisse werden so um den Preis der sokratisch-platonischen Grundeinsicht _ errungen, dass die Philosophie wesentlich eine pol iti˘kÞ tÝxnh im Sinne einer Lebensgestaltungspraxis ist.28 Die rein logisch-analytische Interpretation des politischen Denkens Platons trägt die Widersprüche nicht dramatisch-dialogisch aus, sondern führt zu radikalen Vereinseitigungen, wie Karl Poppers Ansicht von der Politeia als Prototyp des modernen totalitären Staates nach Art des Faschismus.29 Einen anderen Ansatz verfolgte im englischen Sprachraum Eric Voegelin, der im antiken Denken verschiedene Weisen von Ordnungsentwürfen, sowohl der gesellschaftlich-politischen wie historisch-mythischen Erfahrungen sieht. Sein Interpretationsansatz ist hermeneutischer Art und legt einen Schwerpunkt auf die existentielle Erfahrung Platons von der erotischen Anziehung durch das ˜ga˘ qün und den sich daraus ableitenden Ordnungskonzeptionen.30 27 Vgl. hierzu: J. L. Ackrill, Essays on Plato and Aristotle, Oxford 1997; ders., ,Plato on False Belief‘, in: Monist 50 (1966), S. 383–402; R. E. Allen, Socrates and Legal Obligation, Minneapolis 1980; ders., Plato’s Euthyphro and the Earlier Theory of Forms, London 1970; ders., ,Anamnesis in Plato’s Meno and Phaedo‘, in: Review of Metaphysics 13 (1959/60), S. 165–174. Der logisch-analytischen Richtung wird auch G. Vlastos zugerechnet. Vgl. hierzu Fn. 28. 28 In A. Graesers Studie über Platons Ideenlehre werden die Resultate der analytischen Platoninterpretation zusammenfassend dargestellt und kritisch bewertet. Hierzu schreibt er, dass jeder Platonauslegung die Gefahr droht, „ihre Deutung um den Preis einer anderen zu erkaufen“. Vgl. A. Graeser, Platons Ideenlehre, a. a. O., S. 8. Die Einwände gegen die logische Analyse gelten nicht für den bereits erwähnten Aufsatz von Vlastos ,Slavery in Plato’s Thought‘, in welchem ich keine logischen Vereinseitigungen erkennen kann, sondern im Gegenteil gegenüber anderen Arbeiten zum Thema den ganzen Umfang des platonischen Denkens, wenn auch skizzenhaft, berücksichtigt finde. 29 Vgl. K. Popper, The Open Society and its Enemies. Vol. 1: The Spell of Plato, London 1945. 30 Vgl. E. Voegelin, Plato and Aristotle. Order and History Volume Three, Baton Rouge 1957. In diesem Kontext sei auch auf Leo Strauss verwiesen, so bspw.

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Die aus dem Paradigma Schleiermachers hervorgegangenen vielfältigen und unterschiedlichen Interpretationsansätze, die jeweils immer andere Seiten der platonischen Philosophie betonten, ließen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder ein verstärktes Interesse an einer mehr systematisch orientierten Platoninterpretation aufkommen. Man kam zu der Auffassung, dass Platons Denken nicht nur aus den Dialogen erschlossen werden könne, insbesondere im Hinblick auf Platons eigene Schriftkritik im Phaidros und im siebten Brief,31 sondern dass man zu einer adäquaten Interpretation die bei anderen antiken Autoren32 überlieferten innerakademischen mündlichen Lehren hinzuziehen müsste. Die aus der Schule Wolfgang Schadewaldts hervorgegangenen Tübinger Vertreter der These einer so genannten ,ungeschriebenen Lehre‘33 Platons, Konrad Gaiser und vor allem Hans Joachim Krämer, dessen Buch ,Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie‘ (1959) als Hauptwerk dieser neuen Richtung gilt, bieten ein systematisches Platonbild an, welches auf den doxographischen Überlieferungen zu Platons an der Akademie gehaltenen Vorlesungsreihe ,Über das Gute‘ basiert. Man meint hierin Platons Philosophie zu erkennen, wie er sie selbst an der Akademie vorgetragen hat und die über das in den Dialogen Gesagte hinausgeht. In der Rekonstruktion dieser Ontologie kommt man zu einer Prinzipienlehre oder Protologie nach pythagoreischem Vorbild, die auf dem ,Einen‘ (Òn) als Prinzip der Einheit und der ,unbegrenzten Zweiheit‘ (˜üristoò duÜò) als Grund der grenzenlosen Vervielfältigung aufbaut. Aus diesen zwei Prinzipien werden dann schrittweise die Ideenzahlen, die idealen (mathematisch-geometrischen) Gebilde und schließlich die Körperwelt abgeleitet.34 Die Position der L. Strauss, An Introduction to Political Philosophy. Ten Essays by Leo Strauss, Detroit 1989. 31 Vgl. Phaidros 274b–277a und VII. Brief 341b–342a, 344a–d. Besonders prägnant ist Platons Schriftkritik an folgender Stelle im siebten Brief: „Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es lässt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und nährt sich dann schon aus sich heraus weiter“ (VII. Brief 341c 4–d 2). Die höchste philosophische Erkenntnis ist somit eine in Worten nicht darstellbare Erfahrung der Unmittelbarkeit. Daraus folgt, dass sie auch nicht Gegenstand der eher mathematisch orientierten Vorlesungen an der Akademie gewesen sein kann, geschweige denn eine angemessene Darstellung in der weitreichenden und verzweigten Überlieferungstradition gefunden hätte. 32 Zu den maßgeblichen Quellen gehören hierbei die Schriften oder Fragmente von Aristoteles, Alexander von Aphrodisias, Theophrastos, Sextus Empiricus, Aristoxenos und Hermodor. 33 „ågra—a dügmata“. Der Begriff geht auf Aristoteles zurück, welcher ihn in seiner Physik 209b 15 verwendet. 34 Vgl. H. J. Krämer, ,Die platonische Akademie und das Problem einer systematischen Interpretation der Philosophie Platons‘, Kantstudien 55 (1964), S. 69–101, abgedr. in: K. Gaiser (Hrsg.), Das Platonbild, a. a. O., S. 198–230.

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Vertreter der Tübinger Schule führte wieder zu einer deutlichen Unterscheidung zwischen exoterischem und esoterischem Platon und ist eigentlich kaum zu widerlegen, da Platon unbestreitbar einer mündlichen Lehrtätigkeit an der Akademie nachging, wo er höchstwahrscheinlich auch Gedanken zur Sprache brachte, die in den Dialogen nicht explizit vorkommen. Aus heutiger Sicht jedoch haben wir aufgrund der schlechten Überlieferungslage zu dem damals Gesagten keinen unmittelbaren Zugang mehr, so dass schon aus methodischen Gründen „der Weg über die Dialoge der Königsweg zum Verständnis Platons“ ist.35 Der hypothetische Nachweis einer nur unsicher, lückenhaft und fragmentarisch überlieferten ungeschriebenen Lehre Platons ergibt zudem wesentliche Widersprüche mit konstitutiven Elementen des platonischen Dialogwerkes, was besonders deutlich wird, wenn Krämer die Idee des Guten als „philosophischen Halbunsinn“ bezeichnet.36 Überdies scheinen die rekonstruierten Ergebnisse der ,ungeschriebenen Lehre‘, wie die Protologie, das Essentielle der platonischen Philosophie auf ein schablonenhaftes Prinzipiengerüst zu reduzieren, welches zu einer Schematisierung führt, die dem vieldeutigen Umfang des platonischen Denkens nicht gerecht wird und welche Platon wohl selbst mit seiner Verweigerung einer systematischen Darstellung vermeiden wollte. In diesem Sinne kann seine Schriftkritik im Phaidros und im VII. Brief geradezu als ein Appell gewertet werden, nicht den Weg der Tübinger zu gehen. Die unterschiedlichen Interpretationsansätze der Platonrezeption, insbesondere in diesem Jahrhundert, machen deutlich, dass es keine verbindliche Methode und kein einheitliches Verständnis der platonischen Philosophie gibt. Jeder nach heutigen Kriterien wissenschaftliche Versuch, zu einer widerspruchsfreien Deutung Platons zu gelangen, stößt auf unverkennbare Widersprüche sowohl in den Dialogen als auch in der zu ihnen in Beziehung gesetzten ,ungeschriebenen Lehre‘. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Platons künstlerisch gestaltete Denkbewegung sich von der modernen wissenschaftlichen Methodik wesentlich unterscheidet, auch wenn sie bestimmte Grundlagen und Voraussetzungen hierfür geschaffen hat. Das streng genommen philosophische Wissen ist für Platon keine isolierte Einzeldisziplin, sondern umfasst ein größeres Ganzes, welches u. a. psychologische, politische und kosmische Elemente beinhaltet. Platonische Philosophie ist Wissen aus noetischer Erkenntnis und erotischer Erfahrung zur Lebensbildung und Polisgestaltung und somit nicht wertneutrale, widerspruchsfreie Wissenschaft, sondern Herausforderung, selbst zu einem das Leben in seinen Widersprüchen tragenden Wissen zu gelangen. Die verschiedenen Interpretationen nun vermögen unter Umständen einige Teil35 H.-G. Gadamer, ,Platons ungeschriebene Dialektik‘, in: ders./W. Schadewaldt (Hrsg.), Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968, S. 13. 36 H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959, S. 473.

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aspekte eröffnend zu beleuchten, doch dürfen sie in den meisten Fällen nicht als Darstellung eines abgeschlossenen Systems verstanden werden, welches als Vorgedachtes vorgestellt wird und somit dem Rezipienten die eigene Denkerfahrung abnimmt. Der Leser der platonischen Dialoge muss vielmehr selbst zum Gesprächsteilnehmer werden, die Gedankenbewegungen nachvollziehen und so an sich die philosophischen Fragen erfahren, die wohl einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit haben, aber von jedem Menschen selbst erlebt und gedacht werden müssen. In diesem Sinne ist auch die vorliegende Arbeit als eine textnahe Analyse konzipiert, in der es, mangels anderer Studien hierzu, primär herauszuarbeiten gilt, wie das platonische Denken über Sklaverei in seiner Philosophie verankert ist und dort zur Darstellung gelangt. Die Gliederung in die drei Bereiche Psyche, Polis und Kosmos ergibt sich dabei aus den Grundkategorien der in den Dialogen behandelten Themenfelder, welche, aufeinander aufbauend, wechselseitig miteinander vermittelt sind. So ist der platonische Begriff der Seele eng mit der Ideenlehre verknüpft, welche wiederum in der Kosmologie gründet und von dort auf die politische Ebene verweist. Die Psyche ist aber auch das maßgebliche Element der platonischen Anthropologie und damit bestimmend für Platons Definition des Menschen. Die vorliegende Untersuchung vertritt daher die im ersten Teil zu beweisende These, dass die Definition des Sklaven und das Merkmal des Sklavischen, nach Platon, in einer spezifischen Disposition der Seelenteile besteht. Die Annahme einer Seele ist hierbei eine conditio sine qua non, welche auch durch die Metaphysikkritik der neuzeitlichen und modernen Philosophie nicht aufgehoben werden konnte und bleibt damit das grundlegende Element zum wesentlichen Verständnis der platonischen Philosophie. Insofern wird die Sklaverei bei Platon primär nicht unter institutionellen Gesichtspunkten thematisiert, sondern zumeist unter Bezugnahme auf die Psyche. Die Grenzen zwischen dem Sklaven als Funktionsträger und dem sklavischen Verhalten eines freien Bürgers verschwimmen hierbei oftmals, da Platon in beiden Fällen von den gleichen Voraussetzungen ausgeht, die seelisch begründet sind. So mag es scheinen, dass Worten aus dem Begriffsumfeld der Sklaverei in den Dialogen häufig eine metaphorische Verwendung zukommt, die aber in ihren Implikationen durchaus wörtlich zu nehmen sind. Die Merkmale des Zwanges und des Freiheitsentzuges können sowohl auf Freie wie auf Unfreie zutreffen und es macht für Platon keinen wesentlichen Unterschied, ob jemand, nach der klassischen Definition des Sklaven, einem anderen gehört oder ob er sich nicht einmal selbst gehört. Platonisch gedacht ist also eine Wesensgleichheit zwischen dem ,metaphorischen‘ und dem institutionellen Sklaven durchaus gegeben. Eines der Hauptmotive bei Platon ist sicherlich das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten und die Darlegung verschiedener Legitimationen hierfür. Prototypisch sind diese bereits in der Konstellation von Herr und Sklave vorge-

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geben und finden nun im Gerechtigkeitsbegriff der Politeia ihre politische Entfaltung, wie sie in § 3 des zweiten Teiles analysiert werden. Die Kriterien, welche zum Herrschen berechtigen, kommen dann ausführlich im Spätdialog Politikos zur Sprache und führen auch im politischen Bereich zu einer Hierarchie des Dienens. Es zeigt sich dabei, wie sehr die platonische Politik auf der Seelendisposition des Einzelnen aufbaut und wie weit reichend die Einflüsse der Sklavenkonzeption Platons sind. Letztendlich ist der Mensch im positiven oder negativen Sinne immer mit Formen der Herrschaft konfrontiert, denen er sich zu unterwerfen hat und damit Gewalt über sich abgibt. Dabei soll gezeigt werden, wie, nach Platon, der Sklave davon profitiert, wenn er durch seinen Herrn am Guten und an der Gerechtigkeit teilhat, was aber wiederum voraussetzt, dass der Herr den Herrschern und diese den Göttern unterworfen sind. Im ersten Kapitel von § 4 werden dann verschiedene Formen von Freiheit und Versklavung im zwischenmenschlichen und individualpsychologischen Bereich vorgestellt. Platon weist dabei subtile Strategien in Erziehungs- und Liebesverhältnissen nach, die Abhängigkeitsverhältnisse dazu gebrauchen, Menschen zu Sklaven im seelischen Sinne zu degradieren. Gleichwohl ist Erziehung im platonischen Sinne auch eine unabdingbare Voraussetzung, das Freiheitspotential im Kinde zu wecken, welches in der Unterwerfung unter eine höhere, kosmische Ordnung besteht, die aber dem Menschen gemäß ist und zu seiner Selbstermächtigung führt. Diese kann sich dann in den Liebesverhältnissen bewähren, indem der Liebende sich nicht zum Sklaven seiner Begierden macht, womit ein wesentliches Merkmal der sklavischen Seele charakterisiert ist, und der Geliebte nicht der Funktionalisierung dieses Begehrens unterworfen wird, was ihn zum Sklaven des anderen machte. Wie sehr die Sklaverei als prototypisches Herrschaftsverhältnis das platonische Denken durchzieht, zeigt sich dann an einer Leseweise des berühmten Höhlengleichnisses, in welchem sämtliche Punkte der Philosophie Platons zusammenkommen, hinsichtlich des Aspektes von Freiheit und Versklavung. Das Selbstverhältnis des Menschen wird hier im Kontext der extremen Pole von verblendeter Versklavung und erleuchteter Freiheit dargestellt, wobei im Zentrum die Befreiungsbewegung vom Sklaven zum wahrhaft Freien steht. Die düstere Darstellung der im Höhlengleichnis beschriebenen Gesellschaft führt zu der im zweiten Kapitel behandelten Frage, wie politische Gemeinschaften überhaupt entstehen und ob notwendig Formen der Sklaverei damit einhergehen. Platon kontrastiert hierbei in Anlehnung an Hesiods Mythos vom Goldenen Zeitalter eine unpolitische, auf ihre Grundbedürfnisse reduzierte Menschheit mit der Genese eines komplexen Gesellschaftssystems. Hierbei zeigt es sich, dass erst die gesellschaftliche Ausdifferenzierung zur Unterscheidung von Herren und Sklaven führt und die Entwicklung von Kultur und Philosophie die gleichen und davon nicht abzutrennenden Bedingungen wie die Entstehung der Sklaverei hat. In diesem Zusammenhang soll auch endgültig die viel diskutierte

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Frage gelöst werden, ob und inwiefern Sklaven im Gesellschaftsentwurf der Politeia eine Rolle spielen. Im dritten Kapitel geht es dann um die konkreten Formen politischer Versklavung und insbesondere um das Verhältnis von Freiheit und Knechtschaft, welches historisch von Platon an so unterschiedlichen Gesellschaften wie Athen, Persien, Sparta und Kreta analysiert wird. Deutlich ist diesbezüglich seine Ablehnung jeglicher Einseitigkeit und der Unterdrückung des Volkes durch die persischen Despoten, aber auch der anarchischen Freiheit der Athener Demokratie seiner Zeit. In einer Verfallsreihe der Herrschaftsformen, die aus der psychopathologischen Analyse degenerierender Seelendispositionen der Bürger abgeleitet wird, zeigt sich schließlich, dass Demokratie für Platon nur eine Vorform der Tyrannis ist, welche durch die vollkommene Versklavung aller charakterisiert wird. Die vorliegende Arbeit vertritt somit die These, dass, nach Platon, der politische Zustand einer Gesellschaft immer durch die psychische Beschaffenheit der in ihr lebenden Bürger bedingt ist und sich dieses an Art und Ausmaß der in ihr vorhandenen Formen der Sklaverei zeigt. Hierbei gilt es aber zwischen Unterdrückung und Unterordnung zu unterscheiden, wie aus Platons Entwurf einer Nomokratie, welche Hauptthema seines Spätwerkes Nomoi ist, hervorgeht. Ganz im Sinne eines Grundgesetzes werden hier Verfassungsprinzipen, über die nicht demokratisch abgestimmt oder sonst wie verfügt werden kann, der Verfassung vorgeordnet. Diese aus der philosophischen Erkenntnis der kosmischen Zusammenhänge abgeleiteten Prinzipien gelten uneingeschränkt auch für die obersten Herrscher, welche in einem ausgefeilten System sich diesbezüglich gegenseitig kontrollieren und damit dem Guten in Form dieser Prinzipien innerhalb der gesamten Gemeinschaft Geltung verschaffen. Diese bedingungslose Unterordnung rechtfertigt es, dass die Herrscher als ,Sklaven des Gesetzes‘ bezeichnet werden und darin den Bürgern ermöglichen ihre selbstgemäße Freiheit zu entwickeln, welche sie selber zu Sklaven des Gesetzes macht. In einer solchen Gesellschaft hat dann auch der institutionelle Sklave am Gesetz teil, auch wenn er, nach Platon, aufgrund seiner psychischen Beschaffenheit nicht in der Lage ist, sich diesem freiwillig unterzuordnen. Auf Grundlage der bis hierhin gewonnenen Ergebnisse kann nun, in § 5, eine Darstellung und Bewertung der platonischen Gesetzgebung in Bezug auf die Sklaven in den Nomoi vorgenommen werden. Platon geht es hierbei weniger um den Schutz der elementaren Rechte von Sklaven, sondern um eine starke Position des Herrn, der ja in Bezug auf den Sklaven die gesetzgebende Idee des Guten vertritt. Dies ist eine konsequente Umsetzung der platonischen Philosophie, auch wenn seine Detailversessenheit bei manchen Gesetzen zu Absonderlichkeiten führt und ein gewisses Desinteresse an wirtschaftlichen Fragen wesentliche Punkte, die sich aus einer rein von Sklaven getragenen Ökonomie ergeben, ungeklärt lassen.

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Abschließend soll das Prinzip von Herrschen und Dienen in Platons Naturphilosophie aufgezeigt werden, wie es sich in der Beziehung von Ursache und Notwendigkeit darstellt. Das übergeordnete Vernunftprinzip als Primärursache der Kosmogenese verhält sich zur sekundären Ursache der Notwendigkeit wie der Herr zum Sklaven. Die anleitende Vernunft bedarf dabei der dienenden Notwendigkeit, um sich als Kosmos materialisieren zu können, wohingegen die ungeordnete Notwendigkeit auf die ordnungsstiftende Vernunft zu ihrer Realisierung angewiesen ist. So ist hierin die politische Rechtfertigung der Sklaverei angelegt, welche ihre Entsprechung im Verhältnis von vernünftigem und begehrlichem Seelenteil hat. Die Sklaverei ist somit politischer Ausdruck eines psychischen Gerechtigkeitsmodells, welches sein Vorbild in den Prinzipien des kosmischen Geschehens hat. Der Sklave braucht den Herrn, um an einer Ordnung partizipieren zu können, welche letztendlich als kosmische auch seiner eigenen, ihm selbstgemäßen Seelendisposition entspricht. In einem solchen hierarchisch von der kosmischen Vernunft hergeleiteten und psychologisch begründeten politischen Modell ist es völlig unmöglich, die Institution der Sklaverei abzuschaffen, da sie, philosophisch betrachtet, eine ontologische Notwendigkeit ist. Von drei zentralen Aspekten wird diese Arbeit geleitet: Zuerst soll untersucht werden, auf welche Weise das Wesen des Sklaven in der Konzeption der platonischen Seelenlehre angelegt ist. Zweitens gilt es darzustellen, inwieweit eine solche Disposition Auswirkungen auf die platonischen Gesellschaftsentwürfe hat und wie sehr diese durch die Kosmologie gerechtfertigt sind. Schließlich muss sich zeigen, ob die Akzeptanz der Sklaverei konsequent aus Platons Dialektik folgt oder sein aufklärerischer Impetus bei diesem Thema einem elitären Anspruchsdenken zum Opfer gefallen ist. Als Textgrundlage diente mir die Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, wobei ich die für das hier behandelte Thema wichtigen Begriffe bei Zitaten in Altgriechisch hinzugefügt habe, zumal die schleiermacherische Übertragung bei der Begrifflichkeit zur Sklaverei eine für die hier vorliegende Darstellung notwendige Deutlichkeit mitunter vermissen lässt.

II. Geschichte und Theorie der Sklaverei Sklaven hat es lange vor der griechischen Antike gegeben, und bis in unsere Zeit hinein haben wir es mit einer durchgehenden Tradition der Sklaverei in vielfältigen Formen zu tun. Die Definition des Sklaven als Besitztum, wie sie uns schon bei Aristoteles begegnet,37 impliziert die direkte und dauerhafte Unterworfenheit eines Menschen unter die unbeschränkte Gewalt einer Herrschaft, 37 Aristoteles, Politik 1254a 13–17: „Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein Sklave von Natur. Eines anderen aber ist ein

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die im Todesfall des Eigentümers auch vererbbar ist. Dies unterscheidet den Sklaven klassischerweise von anderen Personengruppen der Unfreien, wie Leibeigenen oder Knechten, die wirtschaftlich zwar ebenso ausgebeutet werden, doch nur teilweise der Gewalt ihrer Herren unterworfen sind, sei es durch eine Abgabepflicht oder die Gebundenheit an ein Stück Land. Andererseits kann jedoch auch das System der Leibeigenschaft so enge Grenzen annehmen, dass de facto der Leibeigene nicht vom Sklaven zu unterscheiden ist, zumal dann, wenn die zur Erfüllung der Abgabenpflicht aufzuwendende Arbeit das ganze Leben des Arbeitenden in Anspruch nimmt. Die klare Unterscheidung zwischen Sklaven und Unfreien sowie die Charakterisierung des Sklaven als Besitzstück kann in dieser Deutlichkeit höchstens für die griechische und römische Antike aufrecht gehalten werden, da in der gesamten Folgezeit, mit Ausnahme der nordund südamerikanischen Sklavenhaltersysteme, massive Abhängigkeitsverhältnisse durch raffinierte Begriffsmanipulationen und subtile Rechtskonstruktionen verschleiert werden. Um eine für alle Epochen zureichende Definition der Sklaverei zur Verfügung zu haben, scheint es angemessen, die Betonung vom Besitz auf den Begriff der Arbeit zu verlagern. So schreibt Delacampagne in einer neueren Untersuchung, Sklaverei bedeute, „dass ein Mensch, anstatt seine ,Arbeitskraft‘ zu verkaufen oder zu vermieten, gezwungen ist, sich selbst zu verkaufen, um überleben zu können. Anders gesagt, handelt es sich um ein System, in dem nicht mehr die ,Arbeitskraft‘, sondern der ,Arbeiter‘ als solcher verkauft oder gekauft wird. Ein System, in dem der ,Hersteller‘ (von Waren oder Handelsgut) selbst zur ,Ware‘ wird und damit aus der Welt der Lebenden verbannt – oder, kurz gesagt, zum gesellschaftlichen Tod verurteilt wird.“38

In diesem Sinne spielt es nun keine Rolle mehr, ob ein Mensch de jure eines anderen Menschen Besitzstück ist, zumal diese Form der Sklaverei heutzutage weltweit verboten ist, sondern inwieweit er gezwungen ist, seine Arbeitskraft gegen einen oftmals nur symbolischen Lohn in einem Maße zu verkaufen, dass seine ganze Person darin aufgezehrt und seine sämtliche Lebenszeit damit verbraucht wird. Mit dieser Definition soll ein Rahmen geschaffen werden, der der wirtschaftlichen Versklavung in Europa seit dem Ende der Antike und der formalen Abschaffung der Sklaverei als Produktionsweise gerecht wird. Am Ende dieses Kapitels werden einige Beispiele gegeben, die deutlich machen, wie weit verbreitet die Sklaverei, gemäß dieser Definition, auch im 21. Jahrhundert noch ist. Nichtsdestoweniger ist der klassische Begriff des Sklaven als jemand, der Mensch, der, wenn auch Mensch, ein Besitzstück ist. Ein Besitzstück aber ist ein tätiges und getrennt für sich bestehendes Werkzeug.“ 38 C. Delacampagne, Die Geschichte der Sklaverei, Düsseldorf/Zürich 2004, S. 13– 14. Weitere Erörterungen zur Definition der Sklaverei finden sich bei D. B. Davis, The Problem of Slavery in Western Culture, Cornell 1966, S. 46–47; O. Patterson, Slavery and Social Death, Harvard 1982, S. 431 und M. I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, London 1980, S. 67–78.

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sich nicht selbst gehört, überall dort und insbesondere bei Platon von Bedeutung, wo Sklaverei als Beschreibung für Selbstenteignungsverhältnisse steht, d. h. im existentiell-psychologischen Sinne, den es vom wirtschaftlich-institutionalen Begriff der Sklaverei abzugrenzen gilt. Die Ursprünge der Sklaverei liegen im Dunklen. Lange Zeit galt es als eine gesicherte Annahme, dass ihr Aufkommen unmittelbar mit dem Entstehen von Gesellschaften zusammenfällt. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass die frühesten archäologischen Zeugnisse zu diesem Thema aus der Epoche der frühen Hochkulturen, d. h. den ersten hierarchisch geordneten Staatsgebilden stammen. Demnach entwickelten sich der Staat, die Schrift und die Sklaverei aus einer gemeinsamen Wurzel, die darin bestand, dass die Produktionskräfte einer Gesellschaft durch klimatische, technische oder sonstige Veränderungen eine Effektivität erreichten, die es ermöglichte, eine Nahrungsmenge zu erwirtschaften, welche höher lag als die Bedürfnisse eben dieser Gemeinschaft. Dies führte zur Ausbildung eines Personenkreises, der nicht in der Landwirtschaft tätig war und sich in Folge dessen ganz militärischen oder organisatorischen Aufgaben widmen konnte, was u. a. zur Erfindung der Schrift führte. Gleichzeitig und auf diese neue Klasse gestützt konnten sich nun absolutistische Herrscher etablieren, die ihre Ansprüche aus religiösen und politischen Gründen ableiteten. Die neuere Forschung geht davon aus, dass erst ein solches System in der Lage war, Sklaven wirtschaftlich zu unterhalten und die ausreichende Macht hatte, sie an Rebellion und Flucht zu hindern.39 Die ersten Kulturen, die eine derartige gesellschaftliche Organisationsform entwickelten, waren in den letzten Jahrhunderten des vierten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung die Sumerer im südlichen Mesopotamien und die Ägypter am oberen Nillauf. Aus den ältesten uns überlieferten Gesetzestexten, welche ungefähr eintausend Jahre später verfasst wurden, geht hervor, dass die sumerische Gesellschaft aus einem differenzierten Geflecht hierarchischer Abstufungen bestand, an dessen unterem Ende die Sklaven standen. Diese rekrutierten sich zumeist aus Kriegsgefangenen, welche oft verfeindeten anderen sumerischen Stadtstaaten angehörten oder sie sind durch Bestrafung, aus Not bzw. zur Schuldentilgung in die Sklaverei geraten. Zwar galten Sklaven generell als Besitzstücke, mit denen Handel getrieben werden konnte, doch gestand man ihnen auch gewisse Rechte zu wie beispielsweise die Möglichkeit, vor Gericht Einspruch gegen einen Verkauf zu erheben oder sich ihre Freiheit zurückzukaufen. Von solchen ,Privilegien‘ konnte im ägyptischen Kulturkreis nicht die Rede sein. Die Hierarchie war hier sehr deutlich ausgeprägt und unterschied vor allem zwischen dem Gottkönig, seiner Familie und den Beamten einerseits und 39 Vgl. C. Delacampagne, a. a. O., S. 28–30. Zu Platons Theorie über die Entstehung des Sklaventums s. a. § 4, Kapitel II.1. ,Die sklavenlose Periode im Goldenen Zeitalter der Politikos-Mythos‘ der vorliegenden Arbeit, insbesondere Fn. 200.

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allen übrigen Menschen andererseits, so dass zwischen dem eigentlichen Volk und den Sklaven kaum ein Unterschied bestand. Beide Gruppen wurden rücksichtslos zum Bau der kolossalen Steinmonumente ausgebeutet und ihr Leben galt nicht viel, da sowohl durch die Größe des Pharaonenreiches ständig Nachschub an Arbeitskräften gegeben war, als auch die ausgedehnten Feldzüge der Könige an den südlichen Grenzen des Landes, vom Sudan bis zum heutigen Somalia, eine große Zahl von insbesondere schwarzen Kriegsgefangenen einbrachten, deren Schicksal die gnadenlose Versklavung war. Des Weiteren wissen wir auch von anderen Völkern des Mittelmeerraumes aus dieser Zeit, dass die Sklaverei dort eine gängige Praxis war, selbst wenn die Überlieferungslage uns diesbezüglich keine detaillierten Einblicke gestattet. Eine Ausnahme bilden die Israeliten, die, obzwar einst selbst in ägyptische Sklaverei geraten, später durchgehend auch eigene Sklaven besaßen. Im Alten Testament finden sich zahlreiche Stellen, die den Einsatz von Sklaven, deren rechtliche Stellung und den Umgang mit ihnen behandeln. Bemerkenswert hierbei ist, dass erstmals in der Geschichte die Lage der Sklaven auch ethisch reflektiert wird. So wird die schlechte Behandlung von Sklaven ausdrücklich abgelehnt und mit der Freilassung des betroffenen Sklaven geahndet40 sowie Menschenraub generell unter Todesstrafe gestellt.41 Eine weitere Neuerung ist die Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden Sklaven: Juden sollen nicht länger als sechs Jahre Sklaven eines anderen Juden sein, wohingegen fremde Sklaven als dauerndes Eigentum betrachtet wurden und auch vererbt werden konnten.42 Die Sklaverei in ihren historischen Anfängen war aber nicht nur auf die bisher beschriebene Weltgegend beschränkt. So wissen wir, dass sich auch in Nordindien seit dem dritten Jahrtausend ein Kastensystem entwickelte, welches Sklaven umfasste und ebenso fanden Sklaven im antiken China Verwendung als Arbeitskräfte und Menschenopfer. Von diesen beiden Kulturen ausgehend, fand die Sklaverei auch Verbreitung in den umliegenden Gebieten und hat dort in modifizierten Formen kontinuierlichen Bestand bis in unsere Tage. Begeben wir uns nun nach Griechenland und dort zuerst nach Mykene. Auch wenn uns über diese so genannte ,Palastgesellschaft‘ des 15. bis 13. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung relativ wenig bekannt ist, hat die Entzifferung von Linear B im Jahre 1953 doch etwas Licht auf die soziale Struktur und das Wirtschaftssystem dieser Kultur geworfen. Es ergibt sich daraus das Bild einer 40 Altes Testament, Zweites Buch Moses (Exodus) 21, 26–27. Anleitungen zur gerechten Behandlung von Sklaven finden sich im apokryphen Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) 33, 33–40. 41 Altes Testament, Zweites Buch Moses (Exodus) 21, 16. Diese Forderung wird wiederholt im fünften Buch Moses (Deuteronomium) 24, 7. 42 Altes Testament, Drittes Buch Moses (Leviticus) 25, 44–46.

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Gesellschaft, die sehr zentralistisch auf einen König hin ausgerichtet ist, so dass sich die einzelnen Gesellschaftsgruppen von ihrer Stellung zum Machtzentrum her definieren. Dies führt zu einer subtilen Hierarchisierung, die eine klare Unterscheidung zwischen ,Sklaverei‘ und ,Freiheit‘ nicht zulässt. Vielmehr sollte man, wie es Vidal-Naquet vorschlägt, von unterschiedlichen „Stufen an Macht, Stufen an Freiheit und Stufen an Knechtschaft“ sprechen.43 Dass am unteren Ende dieser Skala eine zahlenmäßig wahrscheinlich nicht unbedeutende Gruppe von ausländischen Kriegsgefangenen stand, wird durch die Tatsache relativiert, dass diese häufig und legal eheähnliche Verbindungen mit Einheimischen eingingen, als auch das Recht hatten, Vieh und Land zu erwerben oder gar selbständige Berufe auszuüben. Aus diesem Grunde weist John Chadwick, der maßgeblich an der Entzifferung von Linear B mitgewirkt hat, darauf hin, dass das mykenische Wort ,doero‘, auf welchem etymologisch das griechische Wort für Sklave ,dou= loò‘ fußt, richtiger mit ,Diener‘ übersetzt ist.44 In der Archaischen Zeit, ab dem zehnten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, ist Griechenland in viele kleine Königreiche aufgeteilt, in denen, neben dem eigentlichen Herrscher, die gesamte Adelsschicht eine bedeutende Rolle spielt. In dem Bild, welches uns Homer von dieser Zeit gibt,45 spielen vor allem weibliche Sklaven im Haushalt eine Rolle, die als Kriegsbeute in diese Lage gekommen sind. In der Landwirtschaft und bei der Pflege des Viehbestandes erfahren wir aber auch von männlichen Sklaven, welche wohl zumeist die gleichen Arbeiten wie ihre Herren wahrnahmen, wie es in technisch wenig entwickelten Agrargesellschaften üblich war. Diese Landsklaven scheinen nicht nur aus Kriegsgefangenen zusammengesetzt, sondern zum Teil auch durch Handel erworben zu sein, wie es uns das Beispiel des Schweinehirten Eumäos zeigt, den der Vater des Odysseus von phönizischen Händlern kaufte.46 Dieser Hirte, 43 P. Vidal-Naquet, Athen – Paris und zurück. Die griechische Demokratie von außen gesehen II, München 1996, S. 75. 44 Vgl. J. Chadwick, The Mycenaean World, Cambridge 1976, S. 78. 45 Zwar beschreibt Homer in der Ilias den Trojanischen Krieg, welcher um 1300 stattfand und in der Odyssee die Heimfahrt des Helden, doch spiegelt die dargestellte Gesellschaft das Leben in der archaischen Zeit wider, an deren Ende, im achten Jahrhundert, die beiden Epen verfasst wurden. 46 In archaischer Zeit scheint die Kaufsklaverei aber eher die Ausnahme gewesen zu sein. In einem bei Athenaios (Deipnosophistai 265b–266f) überlieferten Fragment des Historikers Theopompos aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert heißt es: „Nach den Lakedaimoniern und Thessaliern waren die Leute von Chios die ersten, die sich der Sklavenarbeit bedienten, aber sie schufen sie nicht auf dieselbe Weise. Die Lakedaimonier und Thessalier haben ihre Sklavenklasse aus Griechen gebildet, die vor ihnen das Gebiet, das sie jetzt besitzen, bewohnten [. . .]. Die Leute von Chios dagegen haben als Diener Barbaren, die sie für Geld gekauft haben.“ Da die Eroberung Messeniens durch die Spartaner erst im achten bis siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stattfand, muss es sich demgemäß bei gekauften Sklaven vor diesem Zeitpunkt um Einzelfälle gehandelt haben. Die Sklaven von Chios finden auch bei Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 8, 40, 2 Erwähnung.

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der als Freund des Odysseus auftritt, gibt Anlass zu der Vermutung, dass die Sklaven jener Zeit im weitesten Sinne zur Familie gehörten. Die sozialen Bindungen und damit die Teilhabe an der Gemeinschaft waren in dieser Gesellschaft an die Zugehörigkeit zu einem Oikos geknüpft. Wenn Achilles aus der Unterwelt berichtet, er wäre lieber der Tagelöhner eines armen Mannes als König der Toten, so beschreibt er damit die unterste soziale Stufe, die in der völligen Ausgeschlossenheit vom sozialen Leben besteht. Dem Sklaven der archaischen Zeit ging es folglich besser als dem mittellosen Freien.47 Im Laufe der Zeit kam es denn auch in Attika zu einer anwachsenden Verarmung der Landbevölkerung, die durch ein von Drakon erlassenes Schuldrecht in eine sklavenähnliche Abhängigkeit von der Aristokratie geriet. Die daraus resultierenden Spannungen wurden schließlich durch die berühmten Reformen des Solon im Jahre 592 vor unserer Zeitrechnung gelöst. Zentraler Punkt seines Gesetzeswerkes war die Abschaffung der Schuldknechtschaft und die Übereignung des Landes an die Bauern. Des Weiteren ergriff er erfolgreiche Maßnahmen, um Handel und Handwerk in Athen zu fördern. Der nun folgende wirtschaftliche Aufschwung als auch die zunehmende Demokratisierung der Polis und die damit verbundene intensivere Beschäftigung der Bürger mit politischen Angelegenheiten sowie die sich daraus ergebende Abwertung körperlicher Arbeit48 führten zu einem Mangel an Arbeitskräften, der durch den Import ausländischer Kaufsklaven behoben wurde und ständig ansteigend seinen Höhepunkt erst zu Zeiten des Perikles über 150 Jahre später erreichte. Die Reformen Solons haben somit nicht die Knechtschaft im Lande verringert, sondern die Grundlage für die erste Sklavenhaltergesellschaft49 der Geschichte geschaffen, was freilich 47 Homer, Odyssee, XI 489–491. Ich folge hierbei der Argumentation von VidalNaquet, der sich wiederum auf Finley beruft. Vgl. P. Vidal-Naquet, a. a. O., S. 77. Delacampagne interpretiert diese Homerstelle in dem Sinne, dass Achilles zwar lieber noch Tagelöhner, aber keinesfalls Sklave wäre. Für diese Auslegung sehe ich keinerlei Grundlage im Text, da es ja hier um den größtmöglichen Gegensatz zwischen der Königswürde unter Toten und der niedrigsten Stellung bei den Lebenden geht, welche immer noch vorzuziehen ist. Vgl. C. Delacampagne, a. a. O., S. 49. 48 Finley weist darauf hin, dass es weder im Griechischen noch im Lateinischen ein Wort gab, „mit dem man die allgemeine Bedeutung von ,Arbeit‘ oder die Vorstellung von Arbeit als einer anerkannten sozialen Funktion ausdrücken konnte“. M. I. Finley, Die antike Wirtschaft, München 1993, S. 91. 49 Zur Unterscheidung von Gesellschaften, die sich der Sklavenarbeit bedienen und solchen, deren Wirtschaft konstitutiv auf Sklavenarbeit aufgebaut ist, schreibt Osterhammel unter Berufung auf Finley: „Die Geschichte der Menschheit kennt zahlreiche Beispiele für Gesellschaften mit Sklaven; in nahezu allen Zivilisationsräumen hat es sie irgendwann einmal gegeben. Neben den vielen Gesellschaften mit Sklaven finden sich jedoch nur sehr wenige ausgesprochene Sklavengesellschaften. In Gesellschaften dieses Typs ist Sklaverei nicht eine Arbeitsform neben anderen, sondern steht im Mittelpunkt der – oft großbetrieblich organisierten – Produktion. Sklaverei äußert sich hier als ein weder durch Recht noch durch Herkommen begrenzter Arbeits- und Disziplinarzwang über Menschen, die als Eigentum betrachtet werden, also verkauft, verschenkt und vererbt werden können. Sklavinnen und Sklaven sind entwurzelte Außen-

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dazu beitrug, dass Athen von nun an Wiege zahlreicher kultureller und politischer Errungenschaften werden konnte oder wie es Moses Finley ausdrückte, dass der „Vormarsch von Freiheit und Sklaverei Hand in Hand“ vonstatten gegangen ist.50 Für diese Entwicklung war es von Bedeutung, dass der Status des Sklaven in zunehmender Schärfe von dem des Freien abgegrenzt wurde. Zu diesem Zwecke erließ bereits Solon ein Gesetz, das „den Sklaven verbot, Gymnastik zu treiben und die jungen Leute zu lieben“51, aber erst im Jahre 451 vollendete sich dieser Prozess mit dem unter Perikles verabschiedeten Bürgerrecht, welches nur legitime Söhne eines Atheners und einer Athenerin aufnahm. Vidal-Naquet bezeichnet diese „Konstitution eines klaren und entschiedenen Gegensatzes zwischen den Freien und den Sklaven, [sowie] der Beseitigung der Zwischenstufen“ gar als das „wahre griechische Wunder“.52 Es darf demnach nicht verwundern, dass die Zeit zwischen den Perserkriegen und dem peloponnesischen Krieg, eine Periode, in der die attische Sklaverei ihre umfassendste Ausbreitung erfuhr, auch gleichzeitig ein Höhepunkt der wirtschaftlichen und politischen Macht Athens war und von den Bürgern als eine Epoche der größten Freiheit und Blüte der Demokratie wahrgenommen wurde. Ausdruck dieses extremen Gegensatzes zwischen Sklaven und Bürgern war die Rechtsstellung der Unfreien.53 Bis auf die Frage des Tötungsrechtes gab es kaum gesetzliche Bestimmungen, welche die absolute Gewalt des Herrn über seine Sklaven einschränkten. Lediglich in Fällen großer Grausamkeit konnte der Sklave in einem Tempel Schutz suchen und um Asyl bitten in der Hoffnung, seiter, oft Kriegsgefangene. Sie sind ,sozial tot‘, das heißt aus den Verwandtschaftsbeziehungen ihrer Herkunft herausgerissen und in ihrer neuen Lage bestenfalls auf Widerruf zur Familiengründung befugt [. . .]. Wie Finley betont, hat es die voll ausgeprägte Sklavengesellschaft des umrissenen Typs in der Geschichte äußerst selten gegeben. Nur fünf genuine Sklavengesellschaften sind dokumentarisch belegt: zwei davon in der Antike – im klassischen Griechenland und im Italien der späten Republik und des frühen Prinzipats. Die drei anderen entstanden in der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit: in Brasilien, auf den Inseln der Karibik sowie im südlichen Teil Nordamerikas. Die neuzeitlichen unterscheiden sich von den antiken Sklavengesellschaften dadurch, dass erstens die Sklaverei an koloniale Peripherien verbannt war, zweitens das Kriterium der rassischen Zugehörigkeit eine viel größere Rolle spielte und drittens die Rückkehr oder Rückführung der Sklaven in ihre Herkunftsländer wegen der großen geographischen Entfernung nahezu unmöglich war.“ J. Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, Themen 70 (Privatdruck-Reihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung), München 2000, S. 26–28. Vgl. a. M. I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, a. a. O., S. 9. 50 M. I. Finley, ,Was Greek civilization based on slave labour?‘, in: ders., Economy and Society in Ancient Greece, London 1981, S. 115. 51 Plutarch, Solon I, 6. 52 P. Vidal-Naquet, a. a. O., S. 85. 53 Einblick in die konkrete athenische Gesetzgebung, welche die Sklaven zum Gegenstand hatte, vermittelt § 5 ,Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht‘ der vorliegenden Arbeit. Vgl. hierzu auch die vorzügliche Studie von G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery in its Relation to Greek Law, Urbana 1939.

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dass die Priester seinen Verkauf an einen anderen Herrn regeln würden. Dessen ungeachtet gab es große Unterschiede in den Aufgabenbereichen, die Sklaven zukamen und welcher Behandlung sie, daraus resultierend, ausgesetzt waren. Es lassen sich ungefähr sieben Formen der Sklaverei im antiken Athen ausmachen: 1. Sklaven, die als Verwalter und Aufseher von ihren Herren eingesetzt wurden, da sie durch Loyalität deren Vertrauen erworben hatten und mit Befehls- und Strafgewalt gegenüber ihren Untergebenen ausgestattet waren. Hierbei handelte es sich um eine Aufgabe, die Freie aufgrund des damit einhergehenden Abhängigkeitsverhältnisses einem anderen Freien gegenüber nicht gewillt waren auszuüben. 2. Einfache Arbeitssklaven, die unter eben einem solchen Aufseher im Betrieb ihres Herrn tätig waren, ohne aber jemals Kontakt zu diesem zu haben. 3. Sklaven von Bauern oder Handwerkern, die gemeinsam mit ihren Herren die gleichen Arbeiten erledigten. 4. Sklaven, die von ihren Herren vermietet wurden. 5. Sklaven, die getrennt von ihren Herren wohnten und unabhängig für sich wirtschafteten, dabei aber zu regelmäßigen Abgaben an ihre Eigentümer verpflichtet waren. 6. Haussklaven, die unter ständiger Kontrolle ihrer Herrschaft arbeiteten. 7. Haussklaven, wie Ammen und Pädagogen, die großes Vertrauen und menschliche Anerkennung ihrer Herrschaft genossen. Konkret bedeutete dies, dass das Los eines attischen Sklaven vom traurigen, grausamen und kurzlebigen Schicksal eines Bergmannes in den Silberminen zu Laureion bis zum Vertreter eines Fernhändlers in Ägypten oder eines Bankiers, welche offensichtlich immer Sklaven oder Freigelassene waren, im Piräus reichen konnte. Sklaven waren in der antik-griechischen Gesellschaft omnipräsent und selbst in der Volksversammlung ist ihre Gegenwart noch als Diener bezeugt. Die Akzeptanz der Sklaverei in der griechischen Antike ist so groß, dass kaum ein Denker der damaligen Zeit es anscheinend für nötig erachtet hat, hierzu kritische Überlegungen anzustellen oder auch nur eine Rechtfertigung dieser Institution zu verfassen. Ein einziges Fragment des Rhetors Alkidamas aus dem Jahre 362 vor unserer Zeitrechnung ist uns überliefert, welches die Institution der Sklaverei grundsätzlich in Frage stellt. Darin heißt es: „Die Gottheit hat alle Menschen frei geschaffen. Die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht.“54 54 Das Fragment stammt aus der Messenischen Rede des Alkidamas und ist uns als Zitat in einem scholastischen Kommentar zur aristotelischen Rhetorik erhalten. Der Text findet sich u. a. bei H. Rabe (Hrsg.), Comm. in Arist. Graeca 21, Pt. 2, Berlin

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Ganz der Tradition der Sophisten entsprechend, zu deren Gruppierung Alkidamas als Schüler des Gorgias zu rechnen ist, wird hier eine selbstverständlich gewordene Praxis und Übereinkunft der griechischen Gesellschaft in Frage gestellt. Ziel dieser Überlegungen dürfte aber weniger die Abschaffung der Sklaverei als vielmehr der Nachweis gewesen sein, dass alle menschlichen Institutionen durch Sitte und Gesetz und nicht von Natur aus entstanden sind.55 Wenn auch eine derartige Auffassung bezüglich der Sklaverei nur von sehr wenigen Menschen der damaligen Zeit vertreten worden sein dürfte, war dies für Aristoteles dennoch Anlass genug, ein Gegenkonzept zu entwerfen.56 Zwar räumt er zunächst ein, dass Sklaverei nach dem Gesetz, das heißt als Folge von Kriegen, durchaus ungerecht sein kann, wenn einen ,edlen‘ Menschen dieses Los ereilt, doch dient ihm dieser Schluss insbesondere dazu, seine These des ,Sklaven von Natur‘ zu untermauern.57 Grundlage dieses Gedankens ist die aristotelische Beobachtung, dass „der Gegensatz von Herrschendem und Dienendem [. . .] überall [auftritt], wo etwas aus mehreren Teilen besteht und eine Einheit bildet, seien die Teile nun kontinuierlich oder direkt. Und dieses Verhältnis von Über- und Unterordnung findet sich bei den beseelten Wesen auf Grund ihrer ganzen Natur.“58

Dieses ,Naturgesetz‘ kommt am offensichtlichsten im Verhältnis von Leib und Seele zum Vorschein: „Was aber die sinnlich belebten Wesen betrifft, so bestehen sie zunächst aus Leib und Seele, von welchen beiden das eine naturgemäß herrscht, während das andere dient.“59

1896, S. 74. Der Titel der Rede verweist auf ihren Bezug zur Befreiung der Heloten im Jahre 370. In der sogenannten ,Neuen Komödie‘ findet sich in einem Fragment des Dichters Philemon ein sehr ähnlicher Satz: „Even if someone is a slave, he has the same flesh; by nature no one was ever born a slave.“ (zitiert nach: P. Garnsey, Ideas of Slavery from Aristotle to Augustine, Cambridge 1996, S. 76, Fn. 1). Der Vollständigkeit halber sei hier noch ein verlorenes Werk des Sokratesschülers Antisthenes erwähnt, von dem uns nur der Titel ,Über Freiheit und Sklaverei‘ bekannt ist. 55 Zur Methode der Sophistik vgl. § 6, Kapitel I. ,Platons Kritik der vorsokratischen Naturphilosophie‘ der vorliegenden Arbeit. 56 Die Abgrenzung gegenüber dem sophistischen Standpunkt findet sich in Aristoteles’ Politik 1253b 20–23. 57 Vgl. Aristoteles, Politik 1255a 3–b 15. Aus dieser Stelle erhellt auch, dass mit „Sklaven von Natur“ alle Nichtgriechen, d. h. die ,Barbaren‘ gemeint sind. Ungerecht ist demnach für Aristoteles nur die Versklavung von Griechen. Gerechtfertigt ist ein Krieg, wenn er gegen solche Menschen geführt wird, die „zu dienen bestimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen“. Im Rahmen der aristotelischen Systematik fällt ein solcher Krieg dann, wie auch die Jagd, unter die Erwerbskunde. Vgl. Politik 1256b 20–25. 58 Aristoteles, Politik 1254a 29–32. 59 Aristoteles, Politik 1254a 34–35.

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Analog hierzu ist die naturgemäß herrschende Seele wiederum in einen vernunftbegabt herrschenden und einen vernunftlosen dienenden Teil gegliedert.60 Ein – gemäß der aristotelischen Definition – Sklave von Natur hat aber an der Vernunft nur insoweit teil, „dass er sie in anderen vernimmt, sie aber nicht selbst hat“.61 Insoweit der Herr die Vernunft besitzt, welche dem Sklaven fehlt, ohne die er aber nicht überleben kann und der Sklave dem Herrn die körperliche Arbeit abnimmt, wodurch sich dieser der Vernunft angemessenen Tätigkeiten innerhalb der Polis verschreiben kann, sind sie sich gegenseitig von großem Nutzen, „denn was von Natur dank seinem Verstande vorzusehen vermag, ist ein von Natur Herrschendes und von Natur Gebietendes, was dagegen mit den Kräften seines Leibes das so Vorgesehene auszuführen imstande ist, das ist ein Beherrschtes und von Natur Sklavisches, weshalb sich denn die Interessen des Herrn und des Sklaven begegnen.“62

Aus diesem Grunde kann Aristoteles das Dasein der Sklaven von Natur als „nützlich und gerecht“ bezeichnen63 und dem Sklaven gar keine andere Stellung als die eines Besitzstückes im Haushalt seines Herrn zuweisen.64 Dass er dennoch die Freilassung von Sklaven erwägt, um sie zu effektiverer Arbeit und gutem Benehmen anzuhalten,65 ist mit der Theorie des ,Sklaven von Natur‘ eigentlich nicht zu vereinbaren, da der freigelassene Sklave, Aristoteles zufolge, 60 Aristoteles, Politik 1260a 7. Im siebten Buch der Politik (1333a 23) wird der vernünftige Seelenteil ausdrücklich als der ,bessere‘ und damit zum Herrschen prädestinierte bestimmt. In der Nikomachischen Ethik ist das Konzept der Seele dreigliedrig. Neben dem vernünftigen Teil steht hier ein vernunftbegabter, begehrender Seelenteil, der von dem vernunftlos-vegetativen Teil abzugrenzen ist. Dieser der Vernunft zugängliche Bereich scheint von Aristoteles in der Politik, wenn auch nicht erwähnt, so doch mitgedacht zu sein, da ansonsten die nun folgende Darstellung der sklavischen Seele keinen Sinn ergäbe. 61 Aristoteles, Politik 1254b 21–23. Neben der seelischen versucht sich Aristoteles im Folgenden (1254b 28–40) auch an einer körperlichen Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven, muss aber einräumen, dass die Natur diesbezüglich nicht immer eindeutig ist. 62 Aristoteles, Politik 1252a 30–34. Eine interessante Differenzierung dieses Aspektes findet sich im Dritten Buch der Politik (1278b 32–36), wo es heißt, dass zwar das Verhältnis von Herr und Sklave zu beidseitigem Nutzen ist, dabei aber nur zum Vorteil des Herrn. 63 Aristoteles, Politik 1255a 1–2. 64 Siehe die Definition unter Fn. 37 dieses Paragraphen. Die Zuordnung des Sklaven zum Haushalt bedingt auch die Abhandlung dieses Themas zu Beginn der Politik, da der Haushalt die kleinste Einheit innerhalb der Polis ist. Nur in diesem Kontext kann die Sklaverei in der Politik in Erscheinung treten, denn Zweck der politischen Gemeinschaft ist das gute und glückliche Leben, welchen Sklaven und anderen Lebewesen aber unmöglich ist, da „sie an der Glückseligkeit und einem Leben nach Selbstbestimmung keinen Teil haben“. Aristoteles, Politik 1280a 31–34; vgl. a. 1328a 35–b 1. 65 Vgl. Aristoteles, Politik 1330a 32–34. Hier wird die Freilassung empfohlen, aber die Behandlung dieses Themas zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt. In

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gar nicht überlebensfähig wäre. Auch sonst ist die erste und einzige systematische Abhandlung der Antike über Sklaverei nicht frei von Widersprüchen.66 Ein Vergleich mit Textstellen der Nikomachischen Ethik zeigt beispielsweise, dass Aristoteles keine grundlegenden Unterschiede in Wesen und Charakter der freien ,edlen‘ Griechen und der Sklaven von Natur, wie er sie in der Politik beschreibt, sah.67 Auch bleibt seine scharfe Verurteilung der Sklaverei nach dem Gesetz, d. h. durch ungerechte Kriege, nicht nachvollziehbar, wenn er gleichzeitig die Kriege zum Erwerb barbarischer Sklaven verteidigt, die ein großes Risiko für Griechen bargen, in die ungerechte Versklavung durch Barbaren zu gelangen. So wird denn auch die These vertreten, dass Aristoteles mit seiner Theorie hauptsächlich von dem Problem ablenken wollte, dass der Bedarf einer Sklavenhaltergesellschaft an Sklaven so groß ist, dass viele Unfreie eben keine unzivilisierten Barbaren, sondern Menschen waren, die sich in nichts außer vielleicht ihrer Herkunft von den Freien unterschieden. Die Proklamation eines idealen ,Sklaven von Natur‘ konnte leicht dazu dienen, diesen Sachverhalt zu verschleiern und über die tatsächlichen Ungerechtigkeiten dieses Systems hinwegzuschauen.68 Einen weiteren Schritt hinsichtlich der Verharmlosung der Sklavenproblematik machte die nacharistotelische Philosophie der Stoa, welche die Kategorien von Freiheit und Sklaverei nur noch als moralische Metaphern untersuchte und damit den Grundstein zu einer Betrachtungsweise schuf, die für die darauf folder Politik ist dann davon nicht mehr die Rede, allerdings wird der Gegenstand in der aristotelischen Ökonomik 1344b 15 wieder aufgegriffen. 66 Da Platons Denken über Sklaverei das eigentliche Thema dieser Arbeit ist, welches in den folgenden Teilen hinlänglich untersucht werden wird, kommt er in diesem kleinen historisch-theoretischen Überblick nicht vor. Ein kurzer Vergleich mit Aristoteles’ Theorie sei hier dennoch erlaubt. Prinzipiell einig sind sich beide Philosophen darin, dass das wesentliche Merkmal des Sklaven ein eklatanter Mangel an Vernunft ist, dass folglich die Versklavung zum Nutzen des Sklaven ist und dass das so verstandene System von Herrschen und Dienen auf menschlicher Ebene Abbild eines kosmischen Prinzips ist. Gleichwohl ist die Sklaverei bei Platon aber nicht auf die Rasse bezogen und wird grundsätzlich nicht als etwas typisch Barbarisches beschrieben. Daraus folgt, dass Platons Theorie der Sklaverei stringenter als die Aristotelische ist, auch wenn dies in der Praxis seiner Gesetzgebung nicht immer zum Tragen kommt. Widersprüche finden sich auch hier, was aber weniger an der platonischen Sklavenkonzeption als solcher liegt, sondern vielmehr an der Weigerung, diese auch konkret auf Griechen anzuwenden. 67 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1095a 2 ff.; 1095b 19 ff.; 1177b 31 ff.; 1179b 11 ff. Garnsey geht davon aus, dass die Theorie des ,Sklaven von Natur‘ zum Zeitpunkt der Abfassung der Nikomachischen Ethik noch nicht entwickelt war (P. Garnsey, a. a. O., S. 124–126). Umso erstaunlicher ist es dann, dass Aristoteles die wesentlichen Unterschiede zwischen Freien und Sklaven nicht differenzierter ausgearbeitet hat. 68 Vgl. P. Garnsey, a. a. O., S. 126–127: „Natural slave theory offered ideological support to slave owners rather than prescriptions for or descriptions of actual master/ slave relationships.“

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genden anderthalb Jahrtausende prägend sein sollte. Die Lehre des ,Sklaven von Natur‘ spielt in der stoischen Philosophie keine Rolle mehr, da es für die Institution der Sklaverei keinen Rechtfertigungsbedarf gab. Das Schicksal wurde deterministisch gedeutet und galt schon den frühen Stoikern Zenon und Chrysippos als eine Rolle, in die man sich freiwillig zu fügen habe. Hauptaugenmerk galt der Frage, wie man sich aus der seelischen Versklavung durch Leidenschaften und Emotionen befreien konnte, um darin den Gesetzen eines höheren, natürlichen Rechts zu folgen. Zwar stimmten die stoischen Denker darin überein, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien, jedoch hielt dies sie nicht davon ab, die Akzeptanz politischer Ordnungen und sozialer Hierarchien, wie insbesondere das Verhältnis von Herr und Sklave, zu akzeptieren. Die spätere, römische Stoa empfahl deswegen den Sklaven, ihren Herren möglichst gut zu dienen, da hierin ihre Tugend bestünde und ihr Glück läge. Für den Philosophen Seneca ergab sich immerhin umgekehrt daraus auch, dass Herren ihre Sklaven gut zu behandeln hätten. Eine Verurteilung der Sklaverei oder zumindest Vorschläge zu einer Modifizierung der Institution waren von den griechischen und römischen Stoikern aufgrund ihrer Betonung der Unwichtigkeit äußerlicher Verhältnisse nicht zu erwarten. Selbst ein vormaliger Sklave wie der als Freigelassener prominent gewordene stoische Philosoph Epiktet spricht sich im frühen zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung an keiner Stelle gegen die Sklaverei aus, sondern betont statt dessen, dass der Sklave in einem gewissen Komfort lebt, den er als freier Mann verliert.69 Die römische Sklavenhaltergesellschaft unterschied sich in Aufbau und Organisation der Sklaverei nicht wesentlich von der Griechischen. Deswegen sei hier nur auf einige Merkmale verwiesen, die sich von den Entwicklungen in Attika und Hellas abheben. Zwar dürfte es seit der Gründung Roms im Jahre 753 vor unserer Zeitrechnung dort Sklaven gegeben haben, doch stieg ihre Zahl sprunghaft an mit den aggressiven Expansionsbestrebungen der römischen Republik ab dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. In nahezu allen Ländern Südwest- und Südosteuropas, sowie im nördlichen Afrika versklavten die siegreichen römischen Heere die Bevölkerungen ganzer Städte und verkauften sie an die in ih69 Epiktet, Unterredungen 4, 1, 33–37. Diese Stelle ist keineswegs zynisch zu verstehen. Die Befreiung unvorbereiteter Sklaven führte noch im 19. Jhdt. in Nordamerika zu einer drastischen Verschlechterung ihrer Lebensqualität, wie dieses erschütternde Zitat einer Betroffenen bezeugt: „Slavery is better for us than things is now, in some cases. Niggers then didn’t have no responsibility, just work, obey and eat. Now they go to shuffle around and live on just what the white folks mind to give them. Slaves prayed for freedom. Then they got it and didn’t know what to do with it. They was turned out with nowhere to go and nothing to live on. They had no experience in looking out for themselves, and nothing to live on. They had no experience in looking out for themselves, and nothing to work with, and no land.“ Zitiert nach: B. Hurmence, My Folks Don’t Want me to Talk about Slavery, Winston-Salem, N. Carolina 1984, S. 79.

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rem Gefolge mitreisenden Händler weiter, welche die Sklaven anschließend nach Italien deportierten. So brachte beispielsweise die Zerstörung Kathargos im Jahre 146 vor unserer Zeitrechnung 200.000 Sklaven ein und die Eroberung Galliens durch Cäsar, knapp hundert Jahre später, führte eine Million Menschen in die Sklaverei. Ein solches Ausmaß an Versklavungen, als auch eine derartige Anhäufung homogener Sklavenpopulationen waren in Griechenland unbekannt, weswegen sich auch erst die Römer mit dem Problem der Sklavenaufstände konfrontiert sahen. In den Jahren 134 bis 70 vor Christus kam es zu zwei großen Erhebungen in Sizilien und der berühmten, von Süditalien ausgehenden Revolte unter Anführung des Spartacus. Alle drei Befreiungsversuche wurden mit äußerster Gewalt von den römischen Truppen niedergeschlagen. Der Aufstand des Spartacus endete zur Abschreckung mit der Kreuzigung von sechstausend Sklaven entlang der Via Appia bei Rom. Zu alledem muss gesagt werden, dass das Ziel der Aufstände nicht die allgemeine Abschaffung der Sklaverei war, sondern lediglich die Rechte der involvierten Sklavengruppe betraf.70 Trotzdem ist zu vermuten, dass die Sklavenrevolten eine sukzessive Verbesserung der Lebensumstände von Sklaven zur Folge hatten, bedingt durch einen zunehmenden Rechtsschutz gegenüber ihren Herren, seit der frühen Kaiserzeit unter dem Prinzipat des Augustus. Hierzu gehört insbesondere auch eine locker gehandhabte Freilassungspraxis bei gleichzeitiger Besserstellung der Freigelassenen. Im Gegensatz zur strikten Trennung zwischen freigeborenen Bürgern und freigelassenen Sklaven in Athen konnte ein römischer Sklave nach seiner Freilassung einen freien Partner ehelichen und selbst in den Genuss des unbeschränkten Bürgerrechtes kommen.71 Mit dem Ende der römischen Expansionspolitik unter Kaiser Trajan zu Beginn des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung brach der Import kriegsgefangener Sklaven in Rom ein und führte allmählich zu wirtschaftlicher Stagnation und Verarmung der Bevölkerung. Dies hatte zur Folge, dass nun, anstatt der Sklaven die eigenen Unterschichten, von der Not getrieben, gegen geringen Lohn zu körperlicher Arbeit herangezogen werden konnten.72 Zum Zeitpunkt Vgl. M. I. Finley, Die antike Wirtschaft, a. a. O., S. 72. Mit Verleihung des Bürgerrechtes war allerdings keine vollständige soziale Rehabilitierung gegeben. Für alteingesessene Römer musste jemand mindestens zwei Generationen freier Vorfahren nachweisen können, um selbst als frei zu gelten. Überdies war der Freigelassene Gegenstand von Spott und Häme, wie es uns Petronius sehr schön in seinem Roman ,Satyricon‘ an der Figur des neureichen Trimalcion vorführt. 72 Zwar ist es ökonomisch effizienter, Menschen nur für die Zeit der von ihnen erbrachten Arbeit zu entlohnen, anstatt, wie bei Sklaven notwendig, für ihren gesamten Lebensunterhalt aufzukommen, doch ist daraus nicht der Schluss zu ziehen, das Ende der römischen Sklavenhaltergesellschaft sei durch ihre mangelnde Lukrativität bedingt gewesen. Wie Finley schreibt: „Es gibt eine lange Reihe von Autoren verschiedenster politischer Couleur, die versichern, Sklavenarbeit sei nicht effektiv und unrentabel. Diese Ansicht würde griechische und römische Sklavenbesitzer verwundert haben, die nicht nur viele Jahrhunderte hindurch überzeugt waren, dass sie aus ihren 70 71

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seines Untergangs war das römische Reich keine Sklavenhaltergesellschaft mehr, was aber nicht bedeutet, dass es in seiner Endphase dort keine Sklaven mehr gegeben hätte, noch dass das Kapitel Sklaverei damit in Europa abgeschlossen gewesen wäre. Die Raubzüge der Germanen73 und die daraus resultierende Völkerwanderung führten zu einer deutlichen Verschlechterung der Lebensumstände von Sklaven, auch wenn ihre Zahl durch eine geringere Ausbeute bei den Kriegsgefangenen und die stärkere Nachfrage an unfreien Arbeitskräften in der wirtschaftlich mächtigen islamischen Welt im Sinken begriffen war. Der ökonomische Niedergang Europas und die Zerstörung der Städte verursachten eine Landflucht, durch welche die Masse der Armen auf den Ländereien der wenigen Reichen Arbeit zu finden bestrebt war. Hieraus entwickelte sich das System der Hörigkeit, welches die Bauern unter Gewaltandrohung an das von ihnen bewirtschaftete Stück Land band und sie zu hohen Abgaben verpflichtete, wobei sie, ansonsten fast völlig rechtlos, für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen mussten. Diese so genannte ,feudale Produktionsweise‘74 hielt sich das ganze Mittelalter über und auch wenn die Zahl der Hörigen ab dem 14. Jahrhundert durch Pestepedemien und Wirtschaftskrisen bedingt allmählich sank, verschwand die mit der Hörigkeit verwandte Leibeigenschaft in einigen Ländern Osteuropas und insbesondere in Russland erst im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sklaven im klassischen Sinne des Wortes gab es während dieses Zeitraumes natürlich ebenso weiterhin, nur nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern in der Rolle als Hauspersonal. Auch hier setzt ab ca. 1400 ein Schwund ein, doch sind solche Formen von Haussklaverei beispielsweise in Frankreich bis in das 17. und in Italien bis in das frühe 19. Jahrhundert bezeugt. Die christliche Lehre unterschied zwar nicht zwischen Herren und Sklaven, da sie beide gleichermaßen als Diener Christi ansah,75 doch unternahm die Kirche nichts, um sich für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen und auch wenn sie den Herrn die Freilassung ihrer Sklaven empfahl, ergab sich daraus Sklaven erhebliche Gewinne zogen, sondern auch diese Gewinne großzügig ausgaben.“ M. I. Finley, Die antike Wirtschaft, a. a. O., S. 93. 73 Bereits Tacitus (De Germania XXIV, 3 und XXV) berichtet im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, dass die Germanen Sklaven hielten. 74 An sich ist diese Produktionsweise keine grundlegend neue Errungenschaft, da es bereits in der Antike selbständig wirtschaftende Sklaven gab, die aber an das Land und durch Abgaben an ihre Herren gebunden waren. Neu ist vielmehr nur die Begrifflichkeit, welche die Sklaven nun zu ,Hörigen‘ macht. Auch wenn dieses System ökonomisch auf der landwirtschaftlichen Arbeit unfreier Bauern aufbaut, hat man sich in der Literatur darauf geeinigt, lediglich von Gesellschaften mit Sklaven und nicht von Sklavengesellschaften selbst zu sprechen, da die Organisations- und Überwachungsformen der Arbeit sich von denen der Antike und später der karibischen sowie nord- und südamerikanischen Plantagen unterschieden. 75 Neues Testament, Paulus, Brief an die Galater 3, 28.

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keinerlei moralische Verpflichtung, da die Bedeutungslosigkeit irdischer Freiheit76 durch das ,wahre‘ Leben nach dem Tode aufgehoben werde. In Folge dessen schien jede kirchliche Kritik an der bestehenden Ordnung überflüssig, zumal die Macht der Päpste eng mit der weltlichen Herrschaft der Aristokratie verbunden war. Die Rechtfertigung für die Existenz der Institution der Sklaverei findet sich in der christlichen Philosophie bereits bei Augustinus (354–430) und wird im dreizehnten Jahrhundert von Thomas von Aquin weiter ausgebaut. Demnach hat Gott zwar keinen Menschen als Sklaven geschaffen, doch ist die Sklaverei, wie alles Böse in der Welt, Folge der Erbsünde und somit vom Menschengeschlecht selbst verschuldet. Dies führt zu der delikaten Konstruktion, dass es, im Gegensatz zu Aristoteles, zwar keine Sklaven von Natur gibt, die Sklaverei sich aber dennoch im Einklang mit dem Naturrecht und dem Willen Gottes befindet.77 Offensichtlich war dies ebenso in anderen Religionen der Wille Gottes. Auch im Koran findet sich keine Verurteilung der Sklaverei, weswegen die arabischen Länder nach ihrer kulturellen Vereinigung durch den Islam im siebten und achten Jahrhundert die bereits seit vorislamischer Zeit bestehende Sitte, Schwarzafrikaner an der Ostküste des Kontinents und südlich der Sahara einzufangen und zu versklaven, fortführen und deutlich ausweiten konnten. Neueren Schätzungen zufolge sind in den dreizehn Jahrhunderten zwischen 650 und 1900 durch den so genannten Transsahara-Handel 7.450.000 Menschen in die Sklaverei geraten.78 Rechtsstellung und Behandlung dieser Sklaven war im Wesentlichen vergleichbar mit den Zuständen im christlichen Abendland, doch konnten sie in den arabischen Ländern auch Positionen als Beamte und Soldaten bekleiden, was in Einzelfällen Sklaven eine erhebliche Machtfülle einbrachte. Die Erkundung der afrikanischen Westküste und die Entdeckung Nord- und Südamerikas durch die Europäer im 15. Jahrhundert waren die Grundlage für den atlantischen Sklavenhandel. Portugal, dem es an Arbeitern für die Landwirtschaft, als auch an Anbauflächen für das zur Gewinnung des in Europa sich großer Nachfrage erfreuenden Zuckers notwendigen Zuckerrohres mangelte, kolonisierte zuerst die kanarischen Inseln und bevölkerte sie mit rechtlosen Arbeitskräften, welche es sich auf den Sklavenmärkten der afrikanischen Küste besorgte. Hierzu ist zu bemerken, dass die Europäer in den folgenden JahrhunVgl. Neues Testament, Paulus, Erster Brief an die Korinther 7, 20–24. Vgl. bspw. Augustinus, Der Gottesstaat, XIX, 15. Man kann diese feinsinnige Modifikation aber durchaus auch als eine erweiterte Interpretation der aristotelischen Lehre verstehen. Nicht umsonst verfasste Thomas von Aquin einen ausführlichen Kommentar zum ersten Buch der Politik des Aristoteles. 78 Hierzu kann man noch schätzungsweise zwanzig Prozent aufschlagen eingedenk der Menschen, die zwar für die Versklavung gefangen wurden, jedoch den Transport nicht überlebt haben. Vgl. R. A. Austen, ,The Trans-Saharan Slave Trade: A Tentative Census‘, in: H. A. Gemery/J. S. Hogendorn (Hrsg.), The Uncommon Market. Essays in the Economic History of the Atlantic Slave Trade, New York 1979, S. 66. 76 77

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derten zwar einen Sklavenhandel in einem zuvor nie gekannten Ausmaße aufbauten, jedoch selbst nie an der Erbeutung und Gefangennahme von Sklaven beteiligt waren. Vielmehr war die Sklaverei bereits seit Jahrhunderten ein integraler Bestandteil der schwarzafrikanischen Stammesgesellschaften, die ihren Bedarf in Kriegen zwischen rivalisierenden Volksgruppen deckten. Dieser Bedarf war freilich nicht sehr groß, da die afrikanischen Wirtschaftssysteme ihre landwirtschaftliche Produktion auf die Erzeugung des zum Leben Notwendigen beschränkten. Der ,Überschuss‘ an Sklaven wurde dann zumeist an muslimische Kaufleute weiter veräußert, welche wiederum an den Küsten mit den europäischen Sklavenhändlern verhandelten.79 Nach der Entdeckung Amerikas durch den unter spanischer Flagge reisenden Christoph Kolumbus im Jahre 1492 erfolgte die zügige Kolonisierung der karibischen Inseln sowie Lateinamerikas durch Spanien in der Hoffnung auf große wirtschaftliche Profite, welche zunächst keine Erfüllung fand, da die versklavte einheimische Bevölkerung durch von den Kolonisten eingeschleppte Krankheiten dezimiert wurde und sich auch sonst als wenig belastbar erwies.80 In den Kolonien herrschte somit bald ein eklatanter Mangel an Arbeitskräften, so dass die Idee nahe lag, Schwarzafrikaner, die sich ja bereits auf den Plantagen der kanarischen Inseln ,bewährt‘ hatten, von den Portugiesen, welchen durch Papst Alexander VI. ein Monopol auf den afrikanischen Sklavenhandel zugestanden wurde, was im Gegenzug die Rechte Spaniens an den amerikanischen Kolonien legalisierte, zu erwerben und in zunehmend größerem Umfang einzuführen. Der Erfolg dieser Mission, sowie die sich immer weiter ausbreitende Landnahme in der Neuen Welt – 1500 entdeckte und eroberte Portugal Brasilien – weckte auch bald die Begehrlichkeiten der anderen europäischen Großmächte. Zunächst machte England ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Portugiesen erfolgreich das Monopol auf den Sklavenhandel streitig und sandte schließlich eigene Expeditionen in den Norden des amerikanischen Kontinents. Derweil gründeten die Franzosen Siedlungen an der nordamerikanischen Ostküste und im heutigen Kanada. Die Holländer ließen sich 1614 auf einer Insel nieder, die heute als Manhattan bekannt ist und gründeten dort ,Nieuwe Amsterdam‘, von wo aus auch sie bis nach Südamerika (Guyana) vorstießen. Das riesige Gebiet nördlich der spanischen Provinz Mexiko, zu der auch Teile der heutigen US79 Wie Delacampagne wahrscheinlich zu recht erwähnt, war es den Afrikanern wohl nicht klar, in welch grausames Schicksal sie damit ihre Gefangenen entließen, da traditionelle afrikanische Sklaven eher die Rolle von Kleinbauern einnahmen und häufiger auch mit ihrer Freilassung rechnen konnten (C. Delacampagne, a. a. O., S. 141–142). Andererseits ist damit nicht gesagt, dass sich an dieser Praxis etwas geändert hätte, wenn ihnen die Lebensverhältnisse der Sklaven in der ,Neuen Welt‘ bewusst gewesen wären. 80 Historiker gehen davon aus, dass bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zehn bis vierzig Millionen Indianer in Mittel- und Südamerika an den Folgen der Kolonisierung gestorben sind. Vgl. C. Delacampagne, a. a. O., S. 152.

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Bundesstaaten Texas, Louisiana und Florida gehörten, war von da an bis ins späte 18. Jahrhundert hinein ein beständiger Zankapfel zwischen den drei Nationen. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wanderten immer mehr Engländer über die Ostküste ein und gründeten nach und nach die dreizehn Staaten, welche 1776 gemeinsam ihre Unabhängigkeit vom Mutterland erklären sollten. In Nordamerika gingen die ersten afrikanischen Sklaven 1619 in Jamestown, Virginia an Land, womit die Grundlage des sich in den südlichen Kolonien nun rasch ausbreitenden Plantagensystems gelegt war, wodurch die Anzahl der als Feldsklaven nach Amerika gebrachten Afrikaner sprunghaft anstieg.81 Ihren Höhepunkt erreichte die Sklaverei in Amerika zum Zeitpunkt der Spätaufklärung in Europa, bedingt durch die Industrialisierung der europäischen Textilproduktion und deren gesteigerter Nachfrage an Baumwolle.82 Die Einsatzbereiche von Sklaven waren jedoch, je nach Region, verschieden. Allgemein kann gesagt werden, dass Sklaven in den nördlichen Kolonien Nordamerikas im Haus oder in Handel und Gewerbe eingesetzt wurden, in den Kolonien der Region New York, New Jersey und Pennsylvania waren sie vor allem in der Landwirtschaft tätig und in den Südstaaten, wo die Plantagenwirtschaft blühte, mussten fast alle Sklaven auf den Feldern arbeiten. Formaljuristisch hatten die Sklaven zwar einige Rechte, wie beispielsweise das auf Unterstützung im Alter oder bei Krankheit, sowie ihnen gewohnheitsrechtlich auch Privateigentum, Eheschließung und Freizeit zugestanden wurde, jedoch lag es einzig und allein im Belieben ihrer Besitzer, ob sie diese Rechte auch ausüben konnten. Tatsächlich wurden selbst die grundlegenden Menschenrechte oft missachtet. Im Prinzip war 81 Die als Plantagensystem bezeichnete Produktionsweise existierte vor allem in den Sklavengesellschaften Brasiliens, der karibischen Inseln und der südlichen Kolonien Nordamerikas. Das besondere hieran ist die völlige Neuschaffung von Gesellschaften. Hierzu schreibt Osterhammel: „Die drei vollkommen neuartigen, im 16. und 17. Jahrhundert geradezu künstlich kreierten Sklavengesellschaften in der Neuen Welt beruhten auf keinerlei vorgefundenen Strukturen. Sie waren Produkte eines gigantischen social engineering, das aus neu zusammen gebauten Elementen Gesellschaften bis dahin unbekannter Art erschuf [. . .]. Dadurch unterschieden sich die Sklavengesellschaften von einer konventionelleren Kolonialgesellschaft wie derjenigen des spanischen Mexiko. Dort hatte sich eine spanische Soldaten- und Administratorenschicht über die entmachtete und teilweise vernichtete aztekische Aristokratie hinweg an die Spitze einer fortbestehenden hierarchischen Sozialordnung gesetzt, so wie es Eroberer in der Geschichte immer wieder getan haben. Die Sklavengesellschaften des Westatlantik hingegen waren das Ergebnis zielstrebiger Projektemacherei, eines traditionslosen Kombinationsexperiments, bei dem Amerika den Produktionsfaktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Afrika die Arbeitskräfte bereitstellte. Alle vier Ingredienzien vereinigen sich in einer Institution, die sowohl die Produktion wie das gesamte gesellschaftliche Leben dominierte: der Sklavenplantage.“ J. Osterhammel, a. a. O., S. 28–29. 82 Insgesamt sind schätzungsweise elf Millionen Afrikaner als Sklaven in den Jahren 1440 bis 1870 über den Atlantik in die ,Neue Welt‘ verschleppt worden. Vgl. H. Thomas, The Slave Trade. The History of the Atlantic Slave Trade, New York 1997, S. 804–805.

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die brutale Behandlung von Sklaven, etwa ihre Verstümmelung, das Einbrennen von Brandzeichen, In-Ketten-Legen und Mord gesetzlich eingeschränkt oder verboten, jedoch wurden solche Grausamkeiten bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht nur häufig verübt, sondern normalerweise auch nicht geahndet. Die Tatsache, dass sich die neuzeitliche Sklaverei, im Gegensatz zur antiken Welt, fernab von den Metropolen völlig unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielte, kann ein Grund dafür sein, dass diese Problematik in den Büchern der europäischen Gelehrten des 16. bis 18. Jahrhunderts kaum thematisiert wurde. Der als Humanist bekannte Thomas Morus verteidigt in seiner Utopia (1513) die Sklaverei als angemessen für Kriegsgefangene und Kriminelle, wohingegen sein Zeitgenosse Erasmus von Rotterdam dieses Thema gänzlich ignoriert. Der englische Philosoph John Locke, welcher selbst an einer Sklavenhandelsgesellschaft beteiligt war, hat in seiner Theorie einer freien und rationalen Gesellschaft zwar keine Verwendung für Sklaven, umgrenzt seinen Freiheitsbegriff aber sehr genau und „erörtert durchaus Verhältnisse extremer Abhängigkeit“.83 Darüber hinaus legt seine Beschreibung der Sklaverei als eines fortgesetzten Krieges zwischen Eroberer und Gefangenem die Vermutung nahe, dass er die realen Gegebenheiten seiner Zeit, in der die Versklavung eher eine Frage des Handels als des Krieges war, bewusst überging. Erst Montesquieus Werk ,Vom Geist der Gesetze‘ (Esprit des lois, 1748) erregte, zumindest in der französischen Öffentlichkeit, etwas Aufmerksamkeit, da er dort den der Sklaverei zugrunde liegenden Rassismus und die schlechte Behandlung der Sklaven durch die Plantagenbesitzer anprangerte.84 Gleichwohl betreibt er nirgendwo eine generelle Verurteilung der Sklaverei als solcher, sondern schreibt, im Gegenteil, dass sie in gewissen Ländern auf „der natürlichen Vernunft beruhen kann“ und schlägt infolge dessen Regeln vor, sie wirtschaftlich effizienter zu organisieren.85 Wenden wir uns schließlich Rousseau zu, in dessen ,Gesellschaftsvertrag‘ (Du contract social, 1762) sich folgendes bemerkenswerte Zitat findet: „Das Recht auf Sklaverei ist nichtig, und nicht nur, weil es ungesetzlich ist, sondern auch weil es sinnlos ist und nichts bedeutet. Die Worte Sklaverei und Recht sind widersprüchlich; sie schließen sich gegenseitig aus.“86

So eindeutig die Verurteilung der Sklaverei hier ist, bezieht sie sich dennoch im Kontext dieses Kapitels lediglich auf die politische Versklavung weißer Europäer durch eine absolutistische Monarchie. Über die Plantagensklaven Amerikas wird in diesem die Französische Revolution vorbereitenden Werk kein Wort verloren.

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Vgl. J. Osterhammel, a. a. O., S. 52. Ch. de Montesquieu, Esprit des Lois 15, 5. Ebd. 15, 7 und 15, 17. J.-J. Rousseau, Du contract social I. 4.

II. Geschichte und Theorie der Sklaverei

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Die berühmten Aufklärer jener Zeit hatten also wenig zum Thema der atlantischen Sklaverei beizutragen, geschweige denn, dass sie sie eindeutig verurteilt hätten. Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten die heute wenig bekannten schottischen Moralphilosophen Hutton, Wallace und Miller sowie einige populäre Romane und Reiseerzählungen87 ein Bewusstsein in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit schaffen, welches in Teilen der Bevölkerung schrittweise zu einer scharfen Ablehnung der Sklaverei führen sollte. Zwar beruhte die Entstehung der atlantischen Sklavenwirtschaften vor allem auf ökonomischem Kalkül, doch ihrer Abschaffung lagen keine wirtschaftlichen Überlegungen zu Grunde, sondern waren das Resultat politischer und moralischer Entwicklungen.88 Diese Prozesse verliefen teils gewaltsam, wie der erste erfolgreiche Sklavenaufstand auf Haiti in den Jahren 1796 bis 1802 und der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) zwischen den abolitionistischen Nordund den konföderativen Südstaaten, teils rein politisch, wie beispielsweise das internationale Verbot des Sklavenhandels auf dem Wiener Kongress 1814, dem in den darauf folgenden Jahrzehnten auch eine allgemeine Ächtung der Sklaverei als solcher folgte. Die französischen Sklaven erhielten 1848 die Freiheit, die niederländischen 1863 und die amerikanischen 1865. In Brasilien schließlich wurde die Sklaverei 1888 offiziell abgeschafft. Interessanterweise fällt die Abschaffung der Sklaverei in Amerika und der Karibik zeitlich zusammen mit dem Beginn der Kolonisation Afrikas durch die europäischen Großmächte, welche ideologisch mit der ,Zivilisierung‘ des schwarzen Kontinents gerechtfertigt wurde, wozu natürlich auch die nun entdeckte Errungenschaft der politischen Freiheit gehörte. In der Praxis waren aber die Kolonialherren der einheimischen Bevölkerung weit übergeordnet und bedienten sich ihrer als billige durch Recht und Gesetz kaum geschützte Arbeitskräfte. Auch unternahm man nur sehr wenig, um den traditionellen Formen der Sklaverei in Afrika Einhalt zu gebieten. Dieses System der subtilen Versklavung endete mit Erlangung der Unabhängigkeit der betroffenen Staaten, welche Angola, Mosambik und Guinea erst 1974 zuteil wurde.

87 Gedacht ist hier an vergessene Autoren wie Louis Sébastien Mercier und Bernardin de Saint-Pierre. 88 So schreibt Osterhammel zum Aufkommen der Sklaverei in Nord- und Südamerika: „Die wichtigsten Ursachen waren wirtschaftlicher Natur. Bei einem bestimmten Zusammentreffen von Nachfrage und Technologie, Landüberfluss und Arbeitskräftemangel, Zwangsmitteln und Gewaltbereitschaft hätte es kaum ein anderes Resultat geben können.“ J. Osterhammel, a. a. O., S. 48. Der Niedergang der Sklaverei dagegen unterlag keinen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, wie sich heutige Wirtschaftshistoriker einig sind. Dennoch trug Adam Smiths damalige Theorie von der produktiven Überlegenheit der Lohnarbeit gegenüber der Sklavenarbeit nicht wenig dazu bei, die Sklaverei in Verruf zu bringen. Vgl. A. Smith, Über die Quellen des Volkswohlstandes, Stuttgart 1861, das Kapitel ,Vom Arbeitslohn‘, dort insbesondere S. 77 f.

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Die Verabschiedung der Antisklavereiakte im Jahre 1926 durch den Völkerbund sah das Verbot jeder Form von Sklaverei vor. Die Überzeugungen, die in dieser Konvention zum Ausdruck kamen, wurden mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung erneut bekräftigt, die die Vereinten Nationen 1948 verabschiedeten und 1956 nochmals spezifizierten. Dennoch hat das zwanzigste Jahrhundert eine Fülle von der Sklaverei zumindest ähnlichen Arbeitsformen zu bieten. Marx’ Kritik des Frühkapitalismus war in seiner Beschreibung der erbärmlichen Verhältnisse der Arbeiterschaft zumindest bis zum ersten Weltkrieg aktuell, in deutschen und russischen Lagern wurden unter Hitler und Stalin hunderttausende Menschen zur Zwangsarbeit verpflichtet, die afroamerikanische Bevölkerung musste bis in die späten sechziger Jahre hinein um ihre Bürgerrechte kämpfen und die Apartheid in Südafrika wurde erst 1994 aufgehoben. Dies sind nur wenige Beispiele und ihre Liste wäre beliebig fortsetzbar. So wurde die Sklaverei in Saudi-Arabien beispielsweise erst 1962 abgeschafft und besteht im Sudan bis heute fort. Des Weiteren haben sich im Zuge der Globalisierung neue Formen von sklavenähnlichen Ausbeutungsverhältnissen gebildet. Hierzu zählt die weit verbreitete Arbeit von Kindern in Südostasien, die häufig für geringsten Lohn im Auftrag westlicher Unternehmen Textilien produzieren ebenso, wie die im völlig gesetzlosen Raum sich abspielende Verwendung illegaler Einwanderer als Arbeitskräfte in der europäischen Landwirtschaft. Auch die Phänomene der Zwangsprostitution von Frauen und Kindern weltweit gehören hier zu und damit sind bei weitem nicht alle Formen moderner Sklaverei erfasst. Das 21. Jahrhundert ist angebrochen und die Leidensgeschichte der Sklaven wird fortgeschrieben. Die Vereinten Nationen hielten es noch im Jahre 2004 für angebracht, zum ,Internationalen Jahr des Gedenkens an den Kampf gegen die Sklaverei und an ihre Abschaffung‘ aufzurufen. In dieser Erinnerung liegt auch die Aufforderung zur Vergegenwärtigung, inwieweit dieser Kampf und der langwierige Prozess der Abschaffung der Sklaverei zu einem Abschluss gekommen sind. Die Beschäftigung mit der platonischen Theorie der Sklaverei soll hierzu einen Beitrag leisten. Die klare Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven, wie sie die griechische Antike vorgenommen hat, kann auch für den modernen Menschen hilfreich sein, verschleierte Sklavenverhältnisse deutlicher zu erkennen. Darüber hinaus findet sich in Platons Philosophie ein Schlüssel, psychische Selbstversklavungsformen zu entdecken, die ihrerseits wiederum vielfältigste Arten von Sklaverei in der Welt erschaffen. Schließlich zeigt sich das Prinzip des Dienens im platonischen Denken aber auch als eine kosmische Notwendigkeit, woraus sich erklären lassen könnte, dass der pervertierten Form der Sklaverei im menschlichen Bereich so schwer beizukommen ist, worin aber auch die Chance liegt, einem neuen Dienen Raum zu geben, welches aus der Freiheit der Selbstbegrenzung der Gewalt der Sklaverei Einhalt gebietet.

III. Platon als Sklave

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III. Platon als Sklave Die meisten platonischen Dialoge spielen in der Zeit von ungefähr zehn bis fünfzehn Jahren vor Ausbruch des Peleponnesischen Krieges bis zum Tod des Sokrates (399), also fünf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Athens. Platons eigenes, uns bekanntes Schaffen beginnt erst danach. Nicht wenige der platonischen Dialoge spielen also zu einem Zeitpunkt, als Platon noch gar nicht geboren oder doch noch ein Knabe war und sind mithin keine wortgetreue Dokumentation sokratischer Gespräche, die so wirklich stattgefunden hätten, sondern haben einen fiktionalen Charakter. Platon erwähnt sich selbst nur in zwei Dialogen und auch das eher am Rande.89 Dieses Aussparen biographischer Fakten, bei gleichzeitig lebendigster Darstellung der Gesprächsumstände und prägnant gezeichneter Charaktere der Dialogteilnehmer, hat wohl Methode, da es der Philosophie nicht angemessen sei, wie es in der Politeia heißt, „immer von den Personen [zu] reden“.90 Somit dürfte es nicht weiter verwundern, dass die vielleicht berühmteste Geschichte aus Platons Leben, sein Verkauf in die Sklaverei, in den Dialogen nicht einmal als Anspielung Erwähnung findet. Bedenklicher hingegen ist es, dass auf dieses doch nicht unerhebliche Reiseerlebnis auch im höchstwahrscheinlich authentischen autobiographischen Siebten Brief, wo die drei Reisen des Philosophen ins sizilianische Syrakus ein Themenschwerpunkt sind, nicht Bezug genommen wird. Platon beschreibt dort zwar, wie er bei seinem ersten Aufenthalt (389/388 v. Chr.) in der reichen und mächtigen Kolonialstadt Anstoß an den dort herrschenden luxuriösen und für seine Begriffe sicherlich ausschweifenden Verhältnissen nahm und dafür, außer bei seinem Schüler und Freund Dion, auf wenig Verständnis stieß,91 jedoch deutet hier nichts auf einen wachsenden Konflikt zwischen dem syrakusischen Tyrannen und dem athenischen Philosophen, was zu einer dramatischen Zuspitzung der Ereignisse geführt haben könnte. Hierüber berichten erst spätere Quellen.

89 In Apologie 34a 1 lässt er Sokrates vor Gericht Gesprächsteilnehmer und deren Verwandte aufzählen, die nun, im Sinne der Anklage, aufstehen und bezeugen müssten, von ihm verdorben worden zu sein, was diese aber nicht tun. Zu ihnen gehört Adeimantos, „des Ariston Sohn, der Bruder dieses Platon“. Etwas später, bei der Erwägung möglicher Strafen, erwähnt Sokrates Platon, neben drei anderen, die ihm zugeredet hätten, dreißig Minen Geldstrafe zu entrichten, wofür diese bürgen wollten (Apologie 38b 5–9). Schließlich wird in der Beschreibung der Umstände von Sokrates’ letztem Gespräch unmittelbar vor der Hinrichtung gesagt, dass Platon nicht anwesend sein konnte, da er wohl krank war (Phaidon 59b 10). Hiermit ist anscheinend gemeint, dass er krank vor Schmerz war, den geliebten Freund und Lehrer auf diese Weise verlieren zu müssen. 90 Politeia 500b 5–6. 91 Siebter Brief 326b 5–327b 7.

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Die Anekdote ist uns am besten und ausführlichsten bei dem Philosophiehistoriker Diogenes Laertios aus dem dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung überliefert. Dort heißt es, in einem Gespräch über Tyrannenherrschaft hätte Platon Dionysios den Älteren erzürnt, worauf dieser ihm das Leben nehmen wollte, dann aber, durch Dion milder gestimmt, davon absah, und er „übergab ihn aber dem zufällig gerade angelangten spartanischen Gesandten Pollis, um ihn als Sklaven zu verkaufen. Der nahm ihn auch mit nach Aigina und verkaufte ihn dort. Da klagte ihn Charmandros [. . .] mit dem Antrag auf Todesstrafe an gemäß dem dort bestehenden Gesetz, dass der erste Athener, der die Insel betrete, ungehört des Todes sein sollte. [. . .] Doch auf die wenn auch nur scherzhafte Äußerung von irgend jemand hin, der Gelandete sei ja ein Philosoph, ließ man ihn laufen. Einige wieder erzählen, er sei vor die Volksversammlung geführt worden und habe da, scharf von der Menge beobachtet, kein Wort von sich gegeben, sondern ruhig den Gang der Dinge abgewartet. Sie aber entschieden sich zwar nicht für den Tod, wohl aber für den Verkauf wie bei Kriegsgefangenen. So kaufte ihn denn der zufällig gerade anwesende Annikeris aus Kyrene los für zwanzig Minen, nach anderen für dreißig, und schickte ihn nach Athen zurück zu seinen Freunden. Diese erstatteten dem Annikeris alsbald das ausgelegte Geld zurück, was er aber abwies mit den Worten, sie seien nicht die einzigen, die würdig wären, sich eines Platon anzunehmen. Einige berichten auch, Dion habe ihm das Geld geschickt, er aber habe es für sich nicht angenommen, sondern habe dem Platon dafür den Garten in der Akademie gekauft. Von Pollis geht die Rede, er sei von Chabrias besiegt worden und dann bei Helike im Meer umgekommen, weil die Gottheit ihm gezürnt habe wegen des Philosophen.“92

So schön diese Geschichte ist, indem Platon als jemand dargestellt wird, der sich nicht scheut, dem Tyrannen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und anderseits ehrwürdig vor der Versammlung, die über sein Schicksal befinden soll, schweigt, dann dem Sklavenlos gerade noch entgeht und in Folge dessen es sich gar leisten kann, die Akademie zu gründen, ergeben sich doch bei genauerer Betrachtung einige Unstimmigkeiten in dieser Erzählung. So ist es beispielsweise juristisch nicht stimmig, wenn gegen jemanden, der zum Verkauf als Sklave an Land gebracht wird, ein Verfahren wegen illegaler Zuwanderung in der Volksversammlung eröffnet wird. Insbesondere auffällig aber ist die Verortung des Verkaufes auf die Insel Aigina, welche im Nordosten des Peloponnes und somit unter keinen Umständen auf der Reiseroute von Syrakus nach Sparta liegt. Die Erwähnung der Insel hat zwar historisch insoweit Sinn, als sich die Aigeniten zum Zeitpunkt der Rückreise Platons mit den Athenern im Kriegszustand befanden, jedoch gilt dies für den ganzen peloponnesischen Bund, so dass es für den Spartaner Pollis weitaus näher liegende Möglichkeiten gegeben hätte, Platon auf den Sklavenmarkt zu bringen. Wilamowitz-Moellendorff, der die Begebenheit für wahr hält, benennt den Ort der Versklavung denn auch nicht genauer, sondern spricht von einer „Stelle, die mit Athen im Krieg 92

Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, III, 18–21.

III. Platon als Sklave

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liegt“.93 Eine andere Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzuheben, besteht darin, aus dem Spartaner einen Kaufmann aus Aigina zu machen, so wie wir es in der Lebensbeschreibung Platons von Olympiodoros nachlesen können.94 Erzähltechnisch allerdings war Pollis der ideale Kandidat, um den großen Platon in die Sklaverei zu führen, da er später die Schlacht verlor, welche den Niedergang Spartas einleitete und schließlich bei einem Seebeben ums Leben kam, was durchaus als Strafe der Götter für seinen Frevel an dem Philosophen gedeutet werden konnte. Überhaupt finden sich in den verschiedenen antiken Quellen dieser Geschichte immer wieder unterschiedliche Protagonisten wieder, die um Platon herum agieren.95 So wissen wir von Olympiodoros, dass Platons Freikäufer Annikeris ein berühmter Wagenlenker war, der eben zu jenem Zeitpunkt nicht in Aigina verweilte, sondern in Olympia an einem Rennen teilnahm. Auch soll er dereinst der Akademie einen Besuch abgestattet haben, um seine Künste vorzuführen, worauf er angeblich von Platon als ein Mensch ohne jegliche höheren Interessen abgetan wurde. Es ist kaum anzunehmen, dass sich Platon so gegenüber seinem Retter verhalten hätte. In anderen Quellen kommt denn auch Annikeris gar nicht vor und der Philosoph wird stattdessen von einem ungenannten armen alten Mann gekauft, der ihn dann freilässt. Dass der Name des Menschen, der Platon vor dem Sklavenlos bewahrt hat, nicht eindeutig in den Quellen überliefert ist, dürfte ein sicherer Hinweis darauf sein, dass ein Freikauf gar nicht stattgefunden hat. Unbestreitbar ist aber die Tatsache, dass Platon als freier Mensch von seiner ersten Reise nach Syrakus in Athen wieder eintraf, die Akademie gründete und mit der Niederschrift der Politeia begann, so dass er, wenn nicht freigekauft, dann auch nicht versklavt worden sein kann. Bei Plutarch, der von allen uns bekannten Überlieferungen wahrscheinlich die ältesten Quellen zu Verfügung hatte, findet sich denn auch eine gewisse Relativierung des Verkaufs in die Sklaverei. So ist es hier nicht mehr Dionysios, der Platon auf das Schiff verfrachten lässt, sondern Dion will so seinen Philosophenfreund vor dem Zorn des Tyrannen in Sicherheit bringen. Dieser lässt dann aber dem Pollis heimlich ausrichten, „Platon auf See umzubringen oder ihn doch wenigstens als Sklaven zu verkaufen“. Freilich zeugt die dafür gegebene Begründung aber von einem gewissen Humor des Tyrannen, „denn Platon werde davon ja keinen Schaden U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon, Bd. I, Berlin 1920, S. 253. Olympiodoros, Vita Platonis 5. Dieses früher als Einzelschrift betrachtete Werk wird mittlerweile als Einleitung zum Alkibiades-Kommentar gesehen und auch so von Westerink editiert. 95 Ein gut kommentierter Überblick auf die verschiedenen Quellen sowie die Darstellung ihrer Genese findet sich bei U. Kahrstedt, ,Platons Verkauf in die Sklaverei‘, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, 2. Jahrg. (1947), S. 295– 300. 93 94

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§ 1 Einleitung

haben, vielmehr als gerechter Mann immer noch glücklich sein, auch wenn er Sklave würde“.96 Ob der Verkauf nun allerdings tatsächlich stattgefunden hat, wird von Plutarch eingeschränkt mit der Wendung „es wird erzählt“ (lÝgetai), dass er ihn nach Aigina gebracht und dort verkauft haben soll.97 Die gesicherten Fakten dieser ganzen Anekdote sind mithin mehr als dürftig. Sicher kann man nur sagen, dass Platon wohl mit dem Tyrannen Dionysios in Streit geriet oder ihn zumindest erzürnt hat. Im Übrigen ist es wahrscheinlich, dass seine syrakusischen Freunde ihn nun in Sicherheit bringen wollten und ihm die Überfahrt nach Griechenland besorgten. Auf der Rückfahrt mag es dann aufgrund der Kriegswirren zu einem Zwischenfall auf Aigina gekommen sein, der aber sicherlich nichts mit einer Versklavung Platons zu tun hatte. Bei dieser sowie allen anderen Elementen der Erzählung handelt es sich um Ausschmückungen, wie sie im Rahmen von jahrhundertelangen Überlieferungen ganz natürlich entstehen. Auch wenn diese Geschichte also größtenteils erfunden ist, so ist sie dennoch gut erfunden, da sie prototypisch die Haltung eines aristokratischen Griechen, wie Platon es war, zeigt, dem ein solches Schicksal widerfährt. Der beschriebene Auftritt vor der Volksversammlung ebenso wie das klaglose Hinnehmen, auf dem Sklavenmarkt verkauft zu werden, dürften sich so abgespielt haben, wenn es denn Platon passiert wäre. Es gehörte zu den Spielregeln der antiken Welt, ein derartiges Sklavenlos als unvermeidbar anzunehmen, weswegen es auch keinem versklavten Griechen in den Sinn gekommen wäre, die Institution der Sklaverei als solche zu hinterfragen.

IV. Zur Terminologie der Sklaverei Abschließend möchte ich noch eine kleine Betrachtung zur altgriechischen Terminologie der Sklaverei anstellen. Der Wortschatz der Griechen hat ein umfangreiches und differenziertes Vokabular zu diesem Thema. Zur Interpretation der platonischen Textstellen ist die Beachtung der griechischen Termini von außerordentlicher Bedeutung, da die Begriffe unterschiedliche Verhältnisse und Dispositionen betonen. Am häufigsten begegnet uns bei Platon das Wort dou= loò, welches klassischerweise den ,Sklaven‘ im Gegensatz zum ,Freien‘ (eleýqeroò) bezeichnet.98 Zumeist findet es Verwendung in theoretischen Zusammenhängen, die

Plutarch, Dion 5. Nach Kahrstedt verweist Plutarch hierbei auf eine andere und geringere Quelle, woraus sich für ihn erhellt, dass die Variante, in welcher der Spartaner Pollis vorkommt und die Version mit dem Verkauf auf Aigina zwei verschiedenen Erzähltraditionen angehören. Vgl. U. Kahrstedt, a. a. O., S. 297–298. 96 97

IV. Zur Terminologie der Sklaverei

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den Sklaven nicht als Person, sondern in seinem rechtlichen Status und seiner sozialen Position innerhalb der Gesellschaft beschreiben. In der Sprache des antiken Theaters wird darüber hinaus ein besonders typisches Sklavenverhalten mit diesem Wort betont. Dies führte im Allgemeinen zu einer Bedeutungserweiterung der Wortfamilie dou= loò in den metaphorischen Bereich hinein.99 Insbesondere bei Platon kommt der Begriff oftmals in übertragenem Sinn vor, auch wenn, wie im Folgenden noch dargelegt werden wird, die Konnotation mit dem Wesen des Sklavischen dabei durchaus wörtlich zu nehmen ist. Morrow listet für Platon drei metaphorische Bedeutungsfelder von douleßa auf, wobei es sich hier nur um eine grobe Einteilung handeln kann: Zum einen verweist das Wort in den platonischen Dialogen auf das Fehlen politischer Rechte oder politischer Unabhängigkeit, wie beispielsweise bei der Beschreibung der Tyrannis in der Politeia (564a ff.) oder den Eroberungszügen der Perser in Kleinasien und Griechenland (z. B. Menexenos 239d–244e). Zweitens begegnet es uns immer dort, wo die Unfähigkeit, rationale Prinzipien im Handeln umzusetzen oder auch nur im Denken zu erkennen, dargestellt wird und folglich sklavisches Verhalten und unfreie Persönlichkeiten auch bei Bürgern zum Vorschein kommen – „in short anything incompatible with the ideal of the free man (o eleýqeroò) in the moral (not legal) sense of the word.“ Schließlich bezeichnet douleßa jede Form der Unterordnung eines Teiles bezüglich eines Ganzen. In diesem Sinne kann ein Seelenteil einem anderen untergeordnet sein (z. B. Phaidon 79e), eine kosmische Ursache einer anderen dienen (z. B. Philebos 27a) oder ein Kind seinen Eltern (Lysis 208e) und ein Bürger den Gesetzen der Polis (z. B. Apologie 37c) gehorchen. In dieser dritten metaphorischen Bedeutung erfährt das Wort bei Platon eine überaus positive Bewertung, indem es die natürliche Ordnung beschreibt, nach der sich das Niedere dem Höheren zu fügen hat.100 Am deutlichsten wird diese Hochschätzung, wenn der Athener in den Nomoi die weisen Herrscher der Gesetzespolis als „Sklaven des Gesetzes“ bezeichnet.101 Die Vokabel wird auch im heutigen Neugriechischen noch verwendet, nun im wertneutralen Sinne von ,arbeiten‘ (douleýw) und ,Arbeit‘ (douleiÜ). Die Bezeichnung ,oœkÝthò‘ berücksichtigt das Verhältnis des Sklaven zu seinem Herrn als Mitglied eines Haushaltes (oèkoò). In dieser weitgefassten Bedeutung konnte es ursprünglich auf alle Bewohner eines Hauses, ob frei oder unfrei, angewandt werden, die dem Hausherrn unterstellt waren und wird so 98 So schreibt Gschnitzer, dass ,dou= loò‘ stets dann vorkommt, „wenn eleýqeroò ,frei‘ im Gegensatz hinzugesetzt oder wenigstens hinzugedacht ist“ (F. Gschnitzer, Studien zur griechischen Terminologie der Sklaverei I. Grundzüge des vorhellenistischen Sprachgebrauchs, Mainz 1963, S. 7). 99 Vgl. M.-M. Mactoux, ,L’esclavage comme métaphore: Douleuô chez les orateurs attiques‘, in: Index 10 (1981), S. 20–42. 100 Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 134–135. 101 Nomoi 715d 5.

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§ 1 Einleitung

auch beispielsweise von Herodot noch benutzt.102 Zumeist aber zielt es im Sprachgebrauch des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung auf den unfreien Teil der Angehörigen eines Oikos. In dieser Hinsicht impliziert der Begriff, dass der Sklave im weiteren Sinne zur Familie gehört und seine Pflichten hauptsächlich in der Verrichtung der alltäglich anfallenden Aufgaben bestehen. Diese familiäre Nähe und Übersichtlichkeit des Arbeitsbereiches ist mit dem Wort aber nicht zwangsläufig gegeben, da Oikos nicht nur das Haus und seine Bewohner umfasst, sondern den ganzen Besitz,103 worunter damit ebenso der Sklave subsumiert wird, was auch seinen Einsatz auf den Feldern des Herrn fernab des Wohnhauses nicht ausschließt. Das etymologisch eng gesteckte Bedeutungsfeld von ,oœkÝthò‘ erfährt damit eine Begriffserweiterung, welche die Grenze zur allgemeineren Benennung ,dou= loò‘ verschwimmen lässt. Generell kommt eine gewisse Vorliebe für die Verwendung von ,oœkÝthò‘ zum Vorschein, wenn über die Verbindung von Herr und Sklave berichtet oder das Lebensumfeld des Sklaven dargestellt werden soll, wogegen ,dou= loò‘ bevorzugt in abstrakteren theoretischen Zusammenhängen benutzt wird. Diese Unterscheidung ist aber im altgriechischen Schrifttum nicht immer gegeben und häufig werden beide Begriffe, so auch bei Platon, synonym gebraucht.104 Der Ausdruck ,qerÜpwn‘ könnte etymologisch ebenfalls aus dem Bedeutungskreis des oèkoò stammen, nun im Sinne von ,der Wohnende‘ oder ,der zum Haus Gehörige‘,105 wird aber in klassischer Zeit völlig unabhängig vom Arbeitsbereich oder Wohnort allgemein für jeden gewöhnlichen Sklaven verwendet. Auch die Bezeichnung und oftmalige Anrede für Sklaven jeden Alters ,pai=ò‘ bzw. ,pai=‘ lässt nicht unbedingt auf einen vertraulichen Umgang des Herrn mit seinem Sklaven schließen, selbst wenn uns diese Form hauptsächlich aus der Vgl. F. Gschnitzer, a. a. O., S. 16 ff. Vgl. Xenophon, Oikonomikos I, 5–6. 104 So schreibt Morrow: „It has been suggested that dou= loò is the term used generally of a person in the servile status, while oœkÝthò is used, when the slave’s relation to his master is in mind (Klaar, in Philol. Wochenschrift, 1923, pp. 525–528).“ Dagegen kommt Morrow bei seinen Untersuchungen in Bezug auf Platon zu dem Ergebnis, „the two terms appear to be interchangeable [. . .]. If there is any such distinction between the terms as Klaar affirms, Plato seems studiously to avoid it.“ G. R. Morrow, a. a. O., S. 134. Hier scheint mir jedoch eine starke Übertreibung vorzuliegen. Zwar verwendet Platon die beiden Worte häufig nicht in begrifflich scharf getrennter Weise, jedoch kann nicht davon die Rede sein, dass er diese Unterscheidung sogar sorgfältig zu vermeiden sucht, da es auch zahlreiche Textstellen gibt, die mit der von E. Klaar gemachten Beobachtung übereinstimmen. Als Beispiel sei hier nur Nomoi 777e 7–778a 4 genannt. Zweimal kommt zuerst das Wort oœkÝthò vor, um den konkreten Umgang des Herrn mit seinen Sklaven zu beschreiben, worauf der Ausdruck dou= loò fällt, wo es um das allgemeine Verhalten der Leute gegenüber Sklaven geht. 105 Diese Möglichkeit erwähnt jedenfalls mit Vorsicht H. Frisk (Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, 1970) unter dem Begriff ,qerÜpwn‘. 102 103

IV. Zur Terminologie der Sklaverei

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altgriechischen Komödie überliefert ist. Die eigentliche Bedeutung ,Kind‘ darf auch nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass der Begriff ausschließlich für Haussklaven Verwendung fand. Vielmehr kommt darin zum Ausdruck, dass die geistige und sittliche Entwicklungsstufe der Sklaven als infantil angesehen wurde.106 Völlig eindeutig dagegen ist die Benennung des Sklaven mit dem Wort ,˜ndrÜpodon‘, Menschenfüßler, welches sich etymologisch aus dem Begriff ,tetrÜpodon‘, Vierfüßler, herleitet und womit zumeist der Viehbestand bezeichnet wurde. Der Sklave wird durch dieses Wort ausschließlich als Besitzstück gesehen und so genannt bei Eigentumsfragen bezüglich Verkauf und Verpfändung oder in seiner Funktion als Ware und Wertgegenstand. Der Sklave als Individuum, Charakter oder Person ist in diesem Begriff nicht mitgedacht, so dass er in Texten, die beispielsweise ein Verhältnis zwischen Herren und Sklaven beschreiben, nicht vorkommt. Unabhängig von diesem rein materiellen Gebrauch wird mit ˜ndrÜpodon auch manchmal der Sklave im Allgemeinen beschrieben, wenn seine inferiore Stellung in der Gesellschaft oder sein minderwertiger sittlicher Entwicklungsstand in abschätziger Weise betont werden soll.107 Im Übrigen gibt es im altgriechischen Sprachgebrauch zahlreiche Namen, die, regional unterschiedlich, eine versklavte Urbevölkerung beschreiben. Von diesen kommen bei Platon fast nur die lakedaimonischen Heloten vor, d. h. die von den Spartanern unterworfenen Messenier.108 Darüber hinaus sollen hier noch zwei von Platon gelegentlich verwendete Begriffe Erwähnung finden, die zwar nicht ausschließlich auf Sklaven bezogen, aber gleichwohl auf diese angewendet werden. Der Gefolgsmann, ˜koloýqwò, kann somit auch einen Sklaven bezeichnen, der, hinsichtlich seiner Aufgaben,

106 In der berühmten Sklavenbefragung des Dialoges Menon (82a–86c) neutralisiert Sokrates die Implikation der geistigen Zurückgebliebenheit von Sklaven, indem er der Anrede ein ,w{‘ voranstellt. Vgl. hierzu § 2, Kapitel II., Fn. 49 der vorliegenden Arbeit. 107 So beispielsweise bei Platon in den Dialogen Theaitetos (175e 8–9), Phaidros (259a 2–7) und Gorgias (483b 1–4). 108 Eine ausführliche Liste dieser Namen befindet sich bei Y. Garlan, Slavery in Ancient Greece, Ithaca 1988, S. 95. Er unterscheidet dabei sechs Weisen der Benennung: a) Namen, die sich ethnisch ableiten (so bei ,Heloten‘); b) Namen, welche die Art der Arbeit beschreiben; c) Namen, die auf die Pflichten gegenüber den Herren verweisen; d) Namen, welche die Bedingungen der Knechtschaft definieren; e) Namen, die betonen, dass die Unterworfenen nicht zur militärischen Gemeinschaft der Freien gehören; und f) Namen, die gewisse kulturelle Besonderheiten hervorheben. Lediglich in Nomoi 776c 9–d 2 erwähnt Platon neben den Heloten auch die thrakischen Mariandyner und die thessalischen Penesten. Eine deutliche Abgrenzung der Heloten von den übrigen Sklaven (˜ndrapüdwn) findet sich im Dialog Alkibiades I, 122d 7–8.

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§ 1 Einleitung

öfters in der Nähe seines Herrn sich befindet oder diesen in die Stadt sowie auf Reisen begleitet. ,phrÝthò‘ bedeutet etymologisch ,der, der unten rudert‘ und könnte auf die wenig geschätzte Ruderarbeit auf den griechischen Handelsschiffen verweisen, die oftmals von Sklaven ausgeführt wurde. Im übertragenen Sinne bedeutet das Wort ,Helfer‘ und wird auch gerne und nicht unzutreffend mit ,Diener‘ übersetzt. In der Tat dürften häufig Sklaven die Positionen besetzt haben, die in den Texten mit ,phrÝthò‘ bezeichnet werden.

1. Teil

Psyche

§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele I. Die ontologische Bestimmung des Menschen anhand der Seelenteile Das menschliche Wesen ist bei Platon durch eine Dreiteilung der Seele bestimmt.1 Dies unterscheidet den Menschen, zumindest in Hinblick auf den vernunftmäßigen Seelenteil, von allen anderen Lebewesen. Beim Tier kann man sicherlich den begehrlichen Seelenteil annehmen und den muthaften postulieren, den vernünftigen jedoch schließt Platon im Tierreich wohl aus, da er diesen ansonsten sicherlich in Beziehung zum menschlichen gesetzt hätte.2 Im Folgenden möchte ich eine kurze Skizze des platonischen Seelenbegriffs geben, da dieser maßgeblich im Zentrum der platonischen Anthropologie steht und somit nicht nur auch für Sklaven gilt, sondern, wie zu beweisen sein wird, den Sklaven und das Sklavische über eine spezifische Disposition der Seele definiert. 1. Die Natur der Seele: Selbstbewegung und Unsterblichkeit (Phaidros 245c–246a) Im Dialog Phaidros unternimmt Sokrates den Versuch, die Liebe als eine erstrebenswerte Form göttlichen Wahnsinns darzustellen, welche eine Grundvoraussetzung für Selbsterkenntnis und damit auch für philosophische Einsicht ist. Dies erfordert einen Einblick in die Eigenart der Seele.

1 Dies trifft nicht auf das im Phaidon (78b 2–80e 2) vertretene Seelenmodell zu, wo die Seele als unzusammengesetzt und darum nicht auflösbar beschrieben wird. Dieser Gegensatz zu den im Phaidros und in der Politeia vertretenen Modellen hat die Platonforschung viel beschäftigt und in den meisten Fällen zu dem Ergebnis geführt, dass Platon keine systematische Versöhnung dieses Widerspruchs angestrebt hat. Vgl. hierzu: A. Graeser, Probleme der platonischen Seelenteilungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons, Zetemata 47, München 1969. Ein tieferes Eingehen auf diesen Punkt würde den Rahmen des hier zu behandelnden Themas sprengen, so wie auch die allgemeineren Ausführungen über Natur und Idee der Seele hier nur als grundlegende Einführung zum besseren Verständnis der ,sklavischen‘ Seele dargestellt werden können. 2 Dazu passt auch die Symbolisierung des logistikÎn als ,kleines Menschlein‘ im Seelengleichnis Politeia 588c–592b.

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Beseeltem und Unbeseeltem ergibt sich aus der Natur der Seele (yuxh= ò —ýsewò3) als die Kraft, sich selbst und andere zu bewegen, „denn jeder Körper, dem nur von Außen das Bewegt-Werden kommt, heißt unbeseelt, der es aber in sich hat aus sich selbst, beseelt.“4

Die Selbstbewegung der Seele begründet ihre Unsterblichkeit und ist gleichzeitig in dieser gegründet: „Jede Seele ist unsterblich. Denn was sich selbst bewegt ist unsterblich, was aber anderes bewegt und selbst von anderem bewegt wird und also ein Aufhören der Bewegung hat, hat auch ein Aufhören des Lebens: Nur also das sich selbst Bewegende, weil es nie sich selbst verlässt, wird auch nie aufhören, bewegt zu sein, sondern auch allem, was sonst bewegt wird, ist dieses Quelle und Anfang der Bewegung.“5

Die Selbstvoraussetzung des Lebens wurzelt somit in der Selbsttätigkeit der Seelenbewegung im Gegensatz zu einer von Außen bewirkten Kausalbewegung. Es ist die Psyche, welche dem Körperlichen ihre Bewegung mitteilt und es dadurch zum Leben erweckt. Das Lebensspendende kann aber nicht selbst erzeugt sein, da es als Bewegungsursache auch Ursache seiner Selbstbewegung ist. Der Grund des Werdens ist somit ungeworden, selbstanfänglich und dynamisch autokausal: „Der Anfang aber ist unentstanden. Denn aus dem Anfang muss alles Entstehende entstehen, er selbst aber aus nichts. Denn wenn der Anfang aus etwas entstünde, so entstünde nichts mehr aus dem Anfang. Da er aber unentstanden ist, muss er notwendig auch unvergänglich sein. Denn wenn der Anfang unterginge, könnte weder er jemals aus etwas anderem, noch etwas anderes aus ihm entstehen, da ja alles aus dem Anfange entstehen soll. Demnach also ist der Bewegung Anfang das sich selbst Bewegende; dies aber kann weder untergehen noch entstehen, oder der ganze Himmel und die gesamte Schöpfung müssten zusammenfallend stillstehen und hätten nichts, woher bewegt sie wiederum entstehen könnten.“6

Die Seele als sich selbstbewegendes Prinzip ist Ursache allen Werdens und Entstehens, weswegen der ihr wesensimmanente Begriff des Anfangs (˜rxÞ) notwendig im Gegensatz zu ,Entstehendem‘ (gignümenon) steht. In dieser Selbstbezüglichkeit gründet ihr immerwährender, unvergänglicher und unentstandener Prinzipiencharakter, der sie von allem körperlich Gewordenen unterscheidet, aber als dessen Anfang und Ursache auch in grundlegender Beziehung zu diesem steht.

3 4 5 6

Phaidros Phaidros Phaidros Phaidros

245c 245e 245c 245c

2–3. 6–8. 5–11. 12–e 3.

I. Die ontologische Bestimmung des Menschen anhand der Seelenteile

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Die Anfangsbewegung kann nur die Selbstbewegung sein, da dem Anfang nichts vorgeordnet ist, weder im zeitlichen noch im kausalen Sinne. Darin zeigt sich die Seele als ideelle, unsterbliche Voraussetzung allen materiellen Werdens und Vergehens, sowohl im kosmischen Weltgeschehen7, als auch, im kleineren Maßstab, in der menschlichen Individualseele. 2. Die Idee der Seele als Gleichnis in Phaidros und Politeia Mit der Darlegung der Natur der Seele (yuxh= ò —ýsewò) als der Tätigkeit, sich selbst und andere zu bewegen und ihre daraus folgende Unsterblichkeit schließt Sokrates dieses Thema ab und geht zum Wesen der Seele über, der œdÝa yuxh= ò: „Von ihrer Unsterblichkeit nun sei dieses genug; von ihrem Wesen (œdÝaò) aber müssen wir dieses sagen, dass, wie es an sich beschaffen sei, jedenfalls auf jede Weise eine göttliche und weit reichende Untersuchung ist, womit es sich aber vergleichen lässt, dies eine menschliche und leichtere. Auf diese Art also müssen wir davon reden.“8

Deutlich setzt Sokrates den vorhergehenden Teil der Untersuchung von dem nun folgenden ab. Beschreibt die Natur der Seele ihre Tätigkeit, geht es bei der Idee um das, was die Seele ist und wie sich ihr Sein manifestiert. Diese Manifestationen sind für die menschliche Erkenntnis allerdings an ihre Verbundenheit mit dem Körperlichen geknüpft9, so dass über ihr wahres Wesen unter Menschen nur in Form eines Gleichnisses10 geredet werden kann. Diese Einleitung deutet darauf hin, dass der nun folgende Mythos zumindest teilweise als eine Allegorie aufgefasst werden kann, das heißt als bildlich-symbolische Darstellung, deren einzelnen Motiven sich konkrete Begriffe zuordnen lassen. Sokrates fährt fort: „Es [die œdÝa, das Wesen der Seele, oder die Seele selbst11] gleiche daher der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers. Der Götter Rosse und Führer nun sind alle selbst gut und guter Abkunft, die anderen aber vermischt. Zuerst nun zügelt der Führer bei uns das Gespann, demnächst ist 7 Vgl. hierzu § 6, Kapitel II. ,Zwei Arten von Ursachen: Die Herrschaft des nou= ò und die dienende Notwendigkeit‘ der vorliegenden Arbeit. 8 Phaidros 246a 3–6. 9 Vgl. hierzu Politeia 611e 5–612a 5. Das reine Wesen der Seele könne demnach nur erkannt werden, wenn sie das ganze Beiwerk, welches sich im Laufe ihrer Inkarnation an ihr festgesetzt hat, abgestoßen hätte. 10 Zum Problem des Mythos bei Platon sei auf folgende Werke hingewiesen: P. Friedländer, Platon I, Berlin 1964, S. 182–221; P. Frutiger, Les Mythes de Platon, Paris 1930; J. A. Stewart, The Myths of Plato, Oxford 1905; K. Reinhardt, Platons Mythen, Bonn 1927. 11 EoikÝ Ç (246a 6) kann sich auf œdÝaò ažth= ò (246a 4) oder auf die im ažth= ò gemeinte yuxÞ direkt beziehen.

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele von den Rossen das eine gut und edel und solchen Ursprungs, das andere aber entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit. Schwierig und mühsam ist daher natürlich bei uns die Lenkung.“12

Auf dieses Gleichnis folgt der Mythos vom Zug der Seelengespanne im Gefolge der elf13 göttlichen Seelen zur äußeren Seite des Himmelsgewölbes, wo die Schau der Ideen dem Seelengefieder beschwingende Nahrung ist.14 Dies gelingt aber nur den wenigsten Gespannen: „Wenn sie aber zum Fest und zum Mahle gehen und gegen die äußerste unterhimmlische Wölbung schon ganz steil aufsteigen, dann gehen zwar der Götter Wagen mit gleichem wohlgezügelten Gespann immer leicht, die anderen aber nur mit Mühe. Denn das vom Schlechten etwas an sich habende Ross, wenn es nicht sehr gut erzogen ist von seinem Führer, beugt sich zum Boden hinunter und drückt mit seiner ganzen Schwere, woraus viel Beschwerde und der äußerste Kampf der Seele entsteht.“15

Dies hat zur Folge, dass von den menschlichen Gespannen bestenfalls der Kopf des Wagenlenkers der Schau der Ideen teilhaftig wird und auch dies nur mit großer Mühe, da er stets das unedle Pferd im Zaum halten muss. Die meisten aber „folgen zwar auch, dem droben nachstrebend, unvermögend aber werden sie im unteren Raume mit herumgetrieben, nur einander tretend und stoßend, indem jede der anderen zuvorzukommen sucht. Getümmel entsteht nun, Streit und Angstschweiß, wobei durch Schuld schlechter Führer viele verstümmelt werden, vielen vieles Gefieder beschädigt; alle aber gehen nach viel erlittenen Beschwerden unteilhaft der Anschauung des Seienden davon, und so davongegangen, halten sie sich an scheinbare Nahrung.“16

Was die beiden Pferde und der Wagenlenker symbolisieren wird im Phaidros nirgendwo erläutert, jedoch verweist die Art und Weise ihrer Bezogenheit als auch die Konstruktion selbst deutlich auf die Lehre von der dreigeteilten Struktur der Seele, wie sie in der Politeia zum ersten Mal dargestellt wird.17 Dort geht es Platon erst einmal um das Wesen der Gerechtigkeit und der anderen Kardinaltugenden, welches zunächst anhand des größeren und somit Phaidros 246a 6–b 5. Die zwölfte olympische Gottheit, Hestia, bleibt ihrem Wesen entsprechend „in der Götter Haus allein.“ (Phaidros 247a 1). 14 Phaidros 247c 3–e 9. 15 Phaidros 247a 7–b 7. 16 Phaidros 248a 9–b 6. 17 Das Problem der chronologischen Anordnung der platonischen Dialoge war lange Zeit in der Platonforschung äußerst umstritten, gilt aber seit dem Werk von Wilamowitz-Moellendorff als weitgehend gelöst. Demnach folgt die Entstehung des Phaidros unmittelbar auf die Politeia (ca. 374). Vgl.: U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Platon, Berlin 1920, S. 393 ff. (Politeia) und S. 459 ff. (Phaidros). Siehe hierzu auch: A. E. Taylor, Plato, London 1955, S. XI; C. Ritter, Plato I, München 1913, S. 197–283. 12 13

I. Die ontologische Bestimmung des Menschen anhand der Seelenteile

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deutlicheren Bildes der Polis aufgezeigt werden soll und zur Unterscheidung von drei Gesellschaftsklassen führt, deren Verhältnis zueinander untersucht wird.18 Entsprechend hierzu soll diese Untersuchung nun auch für den Einzelnen, für die Seele durchgeführt werden: „Auf eine kleine Untersuchung bezüglich der Seele sind wir geraten, ob sie diese drei Arten in sich hat oder nicht.“19 Dass die Individualseele diese den drei Ständen20 entsprechenden Vermögen in sich birgt, steht außer Zweifel, „denn nirgends anders her können sie ja dorthin gekommen sein“.21 Jede gesellschaftliche Manifestation ist für Platon in der seelischen Konstruktion gegründet. So wird die Frage denn auch sogleich konkretisiert, „ob wir mit eben demselben alles verrichten oder von dreien mit jeglichem ein anderes, mit einem von dem, was in uns ist, lernen, mit einem anderen uns mutig erweisen und mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung und Erzeugung verbundene Lust begehren und was dem verwandt ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jegliches von diesen verrichten“.22

Ist es aber die ganze Seele, welche sich beispielsweise auf ein bestimmtes Bedürfnis wie den Durst richtet, so kann damit nicht die Gleichzeitigkeit eines anderen Bedürfnisses, welches aus Vernunftgründen gegebenenfalls nicht zu trinken begehrt, erklärt werden. Methodologisch betrachtet ist es gar gänzlich ausgeschlossen, dass „jemals etwas dasselbe bleibend zugleich in demselben Sinne und in Bezug auf dasselbe könne Entgegengesetztes erleiden oder sein oder auch tun“.23 Die Seele des Dürstenden will also, insofern sie dürstet, nichts anderes als trinken.24 Wenn sie zugleich aber auch nicht trinken will, was ja vorkommen kann, muss außer dem, wodurch sie dürstet, dem was zu trinken gebietet, in ihr auch etwas anderes sein, was zu trinken verbietet.25 Deutlich wird hier, dass die Begierden, welche sich auf das Körperliche beziehen, in der Seele selbst angesiedelt sind. Im Phaidon noch wurden diese ursächlich mit dem Körper in Verbindung gebracht.26 Was nun körperliche Bedürfnisse verbietet, kommt durch Überlegung, logismüò, was auf deren Befriedigung zielt, durch Leidenschaften, pÜqh,27 zustande:

Politeia 367e–369b; 427d–434c. Politeia 435c 4–6. 20 Es handelt sich hierbei um die verständigen Herrscher (årxonteò), die mutigen Wächter (—ýlakeò) und die die Grundbedürfnisse befriedigenden Bauern (gewrgoß). 21 Politeia 435e 4. 22 Politeia 436a 8–b 2. 23 Politeia 436e 8–437a 1. 24 Politeia 439a 9–b 2. 25 Politeia 439c 2–8. 26 Vgl. Phaidon 83d 2–e 2. 27 Politeia 439c 9–d 2. 18 19

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele „Nicht mit Unrecht also [. . .] wollen wir dafür halten, dass diese ein Zweifaches und voneinander Verschiedenes sind und das, womit die Seele überlegt und ratschlagt, das Denkende und Vernünftige (logistikÎn) der Seele nennen, das aber, womit sie verliebt ist und hungert und durstet und von den übrigen Begierden umhergetrieben wird, das Gedankenlose (˜lügistün) und Begehrliche (™piqumhtikün), gewissen Anfüllungen und Lüsten Befreundete.“28

Damit ist der Aufweis für das ™piqumhtikün, welches alle körperlichen Begierden zusammenfasst, und des logistikÎn als zwei unterschiedlichen Vermögen innerhalb der Seele gegeben. Das qumoeidÝò, das Muthafte innerhalb der Seele, wird von Platon im Folgenden in analoger Weise aufgezeigt; einerseits in Abgrenzung gegen das ™piqumhtikün29 , gegen welches es dem logistikÎn zu Hilfe kommt, andererseits auch gegen das logistikÎn30, da es sich auch bei Tieren, die keine, und bei Kindern, die noch keine Vernunft haben, findet. Platon fasst zusammen: „[. . .] es steht uns nun zur Genüge fest, dass dieselben Verschiedenheiten wie in der Stadt (pülei) auch in eines jeden Einzelnen Seele sich zeigen und gleich an Zahl.“31

Am Ende der Politeia begegnet uns dieses Seelenmodell nochmals als Gleichnis. Die Seele ist dort zusammengesetzt aus einem „kleinen“ Menschen, einem Löwen und einem Ungeheuer, welches die Köpfe von zahmen und wilden Tieren trägt und sich in alle diese Tiere verwandeln und sie aus sich erzeugen kann. Dieses Konstrukt nun ist eingebettet in einen menschlichen Körper, so dass es von außen nicht zu sehen ist.32 In diesem Bild ist die menschliche Seele in all ihren Modalitäten dargestellt. Die Gerechtigkeit, deren Untersuchung ja das Leitmotiv der Politeia ist, besteht nun darin, den inneren Menschen zu stärken, so dass er sich die zahmen Gestalten des Ungeheuers zu Nutzen mache und die wilden mit Hilfe des Löwen bekämpft, bis schließlich alle Teile untereinander befreundet sind.33 Hierin zeigt sich die Gerechtigkeit als Schönheit (kÜlloò), welche bei Platon sinnlicher Ausdruck des wahren Wesens ist, indem „das Tierische in der Natur unter den Menschen oder vielmehr unter das Göttliche gebracht wird“34. Schändlich aber ist, wenn das Zahme unter die Gewalt des Wilden gebracht wird (douloý-

28 29 30 31 32 33 34

Politeia Politeia Politeia Politeia Politeia Politeia Politeia

439d 4–8. 439e 2–440d 6. 440d 7–441c 3. 441c 4–7. 588c 8–e 2. 589a 9–b 6. 589d 1–4.

I. Die ontologische Bestimmung des Menschen anhand der Seelenteile

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mena)35, da so „das Beste von ihm selbst [dem Menschen] dem Schlechtesten verknechtet wird (katadoulou= tai).“36 Das logistikÎn als der vernunftbegabte Seelenteil ist das Göttliche im Menschen, welcher der kosmischen Ordnung gemäß über den begehrenden Seelenteil (™piqumhtikün) zu herrschen hat. Hierbei kommt ihm das Muthafte des qumoeidÝò zu Hilfe, das aber seine Kraft auch für das ™piqumhtikün einsetzt, wenn dieses in der Seele herrscht. Es ist das logistikÎn, welches den Menschen vom Tier unterscheidet und ebenso ist es sein ständiger Kampf um dessen Vorherrschaft in der Seele, der ihn von den Göttern trennt. Aus diesem existentiell menschlichen Prozess und seinen unterschiedlichen Resultaten wird in Abschnitt II dieses Teiles die spezifische Differenz der sklavischen Seele hergeleitet werden als auch die Legitimation des Herrn, über den Sklaven zu herrschen. Die Herleitung der Seelenteile und ihre Darstellung in der Politeia führen uns wieder zum Bild des Seelengespannes im Phaidros zurück, da wir nach diesen Ausführungen nun den Wagenlenker mit dem logistikÎn, das gute Pferd mit dem qumoeidÝò und das schlechte Pferd mit dem ™piqumhtikün gleichsetzen können. Nach der Erzählung des Mythos setzt Platon wieder am eigentlichen Ausgangspunkt der Untersuchung, dem Eros, an. Anhand des Gleichnisses kann nun die Dynamik der Seelenteile zueinander im erotischen Verhältnis, welches in seiner besonderen Dramatik ein spezifisch Menschliches ist, dargestellt werden: Der Wagenlenker, welcher den Geliebten sieht und vom Verlangen ergriffen wird37, leistet mit Hilfe des guten Pferdes dem schlechten Widerstand38 und züchtigt es39. Das glücklichste Leben ergibt sich, wenn die besseren Teile der Seele ganz siegen40; ein geringeres, wenn das schlechte Ross das gute gelegentlich auf seine Seite ziehen kann, aber im Ganzen dennoch ein Bemühen um, wenn auch nicht philosophische, so doch zumindest ehrliebende Lebensweise vorherrscht.41 Das schlechte Pferd, welches, zusammen mit der Unfähigkeit des Wagenlenkers, der eigentliche Grund des Sturzes der Seele auf die Erde ist, zieht die Seele in unbändiger und nur auf sinnliche Lust gehende Weise zum Geliebten hin, ist hässlich, kann nur mit Gewalt regiert werden, muss in Zucht

35 36 37 38 39 40 41

Ebd. Politeia 589d 9–10. Phaidros 253e 5–8. Phaidros 254 a 7. Phaidros 254c 1–e 10. Phaidros 256a 8–b 7. Phaidros 256b 8–d 7.

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

gehalten und besser gemacht werden.42 Das gute Pferd dagegen ist schön, gehorcht willig, ist ehrliebend, besonnen, schamhaft, Freund wahrhafter Meinung (˜lhqinh= ò düchò) und wird „ohne Schläge nur durch Befehl und Wort gelenkt“.43 Aus der Beschreibung des Zuges der Seelengespanne zum äußeren Himmelsgewölbe und dem Sturz der menschlichen Seelen auf die Erde wird klar, dass die beiden niederen Seelenteile der Seele auch vor der Geburt und nach dem Tod angehören. Das ™piqumhtikün ist ja der Grund, dass die menschliche Seele ihre Flügel verliert, abstürzt und einen irdischen Körper bekommt.44 Die menschliche Seele hat im Gegensatz zur göttlichen von vornherein ein schlechtes Pferd, und der Lenker ist, wenigstens bei einigen Seelen45, per se nicht fähig, mit seiner Aufgabe fertig zu werden. Die menschliche Seele ist dadurch wesentlich menschlich und davon ist auch ihr göttliches logistikÎn betroffen. Mit Notwendigkeit bekommt die Seele einen irdischen Körper, da der Absturz in ihrer Struktur vorgegeben ist und ihre instabile Existenz nur so einen Halt finden kann. Das ™piqumhtikün bezeichnet die Beziehung auf Körperliches in der menschlichen Seele, wie es auch im erotischen Verhältnis nur auf die unmittelbare Befriedigung des sinnlichen Begehrens zielt. Die Rolle dieses schlechten Pferdes ist dabei nicht ganz negativ zu fassen: Ohne es käme faktisch die ganze Liebesbeziehung nicht zustande.46 Es lässt sich wohl als ungezähmt treibende Energie auffassen, die als Kraft nötig, aber nur unter der Zucht des Verstandes positiv wirksam ist. Dies entspricht ebenfalls der Analogie von Seele und Polis: Auch für die Gesellschaft ist das erwerbende Element nötig, muss aber geleitet werden.47 Die gesellschaftliche Stellung eines Menschen und seine damit verbundenen Aufgaben ergeben sich also notwendig aus der platonischen Psychologie. Dies soll im nun folgenden Abschnitt bezüglich der Sklaven herausgearbeitet werden.

42 Phaidros 253e 1–3; 254a 2–7; 254b 9–c 4; 254e 5–10; 255e 5–256a 6; 256b 8–c 3. 43 Phaidros 253d 4–e 1. 44 Phaidros 246c 2–7. Vgl. hierzu P. Frutiger, Les Mythes de Platon, Paris 1930, S. 82: „Au reste, cette immortalité de l’˜lügistün dont on fait si bon marché, a une portée philosophique indéniable, car elle seule permet d’expliquer la chute des âmes dans la matière. Si, durant leur vie céleste les âmes n’avaient pas déjà en elles une force capable de vaincre la raison, par quoi pourraient-elles être entrainées au mal?“ 45 Phaidros 248b 2–3. 46 Vgl. Phaidros 253e 5–254b 3. 47 Vgl. bspw. Politeia 374b 7–d 10.

II. Die spezifische Differenz der sklavischen Seele

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II. Die spezifische Differenz der sklavischen Seele Dass die Lehre von den drei Seelenteilen des Menschen auch für Sklaven gilt, geht schon aus der berühmten Sklavenbefragung im Menon hervor, durch welche die Wiedererinnerung der Seele an vorgeburtlich Geschautes bewiesen werden soll.48 Sokrates erteilt dort einem Diener des Hauses49 eine mathematische Unterrichtsstunde indem er ihn durch geschicktes Befragen ein geometrisches Problem lösen lässt. Durch den Aufweis der Anamnesis ist gleichzeitig die Unsterblichkeit der Seele impliziert und damit ihre Priorität vor dem Körperlichen. Diese Priorität ist eine zweifache: Zum einen, der Natur der Seele entsprechend, eine chronologische als immerwährend-anfängliche Selbstbewegung, Prinzip der Bewegung, welche sie allem Körperlichen mitteilt; zum anderen, dem Wesen der Seele gemäß, eine ontologische, d. h. als „Gebieterin (despütin) und künftige Beherrscherin (årcousan) des ihr unterworfenen Körpers“50 auf Grund ihrer „Vorzüglichkeit“ (˜reth= )51. Diese Vorzüglichkeit besteht aber, wie anhand der beiden Seelengleichnisse aufgezeigt worden ist, in der Herrschaft und inneren Leitung des logistikÎn über die beiden anderen Seelenteile. Ist diese nicht gegeben, verliert die Seele zwar nicht ihre prinzipielle Vorrangstellung gegenüber dem Körperlichen, mani-

Menon 82a–86c. Zuerst lässt Sokrates nach einem Diener (˜koloýqwn, Menon 82b 1) rufen, der im Folgenden als ,pai=ò‘, Junge, angesprochen wird, welches eine durchaus übliche Anrede für Sklaven jeden Alters war. Ob es sich hier tatsächlich um einen Sklaven handelt, ist nicht ganz klar, da der Vokativ ,w} pai=‘ von Sokrates verwendet wird, welcher für die Söhne der Bürger bestimmt war. Da die Grundvoraussetzung für diesen Anamnesis-Beweis aber die absolute Ungebildetheit des Befragten ist, kann es sich hier nicht um den freien Sohn eines Atheners handeln. Meines Erachtens drückt sich in dem ,w} pai=‘ eine ungewöhnliche Wertschätzung aus, die dem ungebildeten Sklaven oder Diener als Gesprächspartner einfach zukommt. Vgl. hierzu auch: J. A. Scott, ,Additional Notes on the Vocative‘, in: Journal of American Philology 26 (1905), S. 32 ff. Klees vermerkt zu dieser Passage, dass „der Sklave nicht Gesprächspartner, sondern Objekt eines Experiments [ist], bei dem allerdings vorausgesetzt wird, dass die Seele des Sklaven an der Unsterblichkeit teilhat“ (H. Klees, Herren und Sklaven. Die Sklaverei im oikonomischen und politischen Schrifttum der Griechen in klassischer Zeit, Wiesbaden 1975, S. 69, Fn. 74). Dass der Sklave Objekt eines Experiments ist, kann man durchaus so sehen und auch wenn sich die sokratischen Fragen an das logistikÎn des Sklaven richten, handelt es sich hierbei sicherlich nicht um ein philosophisches Gespräch. Gleichwohl schließt dies die durch das ,w{‘ ausgedrückte Wertschätzung des Sklaven nicht aus, sei es um eine der Sache angemessene, respektvolle Atmosphäre zu schaffen oder möglichst objektive, vorurteilsfreie Bedingungen eines Experiments herzustellen, welches dem Nachweis eines der zentralen Punkte der platonischen Philosophie dient. 50 Timaios 34c 7–8. 51 Timaios 34c 6. 48 49

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

festiert sich aber in einer niederen, körperlicheren Weise. So sagt Sokrates im Anschluss an das Gleichnis vom Seelentier in der Politeia: „Niedriges Handwerk aber und Tagelöhnerei (banausßa kaÍ xeirotexnßa), weshalb, meinst du, liegt darauf ein Schimpf? Sollen wir wohl eine andere Ursache angeben, als sofern jenes Trefflichste in einem von Natur so schwach ist, dass es über die anderen Tiere in ihm nicht herrschen kann, sondern ihnen dienen (qerapeýein) muss und nur Dienstleistungen, welche sie fordern, zu erlernen vermag?“52

Die eigentliche dem logistikÎn vom ™piqumhtikün abverlangte Dienstleistung wird zwar wohl kaum in der Ausübung von Tagelöhnerei oder niedrigem Handwerk bestehen, doch bezeichnen diese jene Tätigkeiten, die in der platonischen Gesellschaft den der Begierde verfallenen Seelen vorbehalten sind. Andere Aufgaben würden ein größeres Maß an Beherrschung durch das logistikÎn voraussetzen. Die Sklaverei – im nun folgenden Abschnitt ist ausdrücklich von Sklaven die Rede! – versteht Platon als ein Mittel zur gesellschaftlichen Integration der ungeordneten und ungezügelten Seelen in eine wohlgeordnete Polis, insbesondere auch zum Nutzen der Betroffenen, welche nur so an dem Verständigen und Göttlichen Anteil nehmen können: „Sollen wir nun nicht sagen, damit doch auch ein solcher von demselben beherrscht werde wie der Trefflichste, müsse er der Knecht (dou= lon) jenes Trefflichsten, welcher das Göttliche herrschend in sich hat, werden? Keineswegs jedoch in der Meinung, der Knecht (doýlou) solle zu seinem eigenen Schaden beherrscht werden [. . .], sondern dass es beiden das beste sei, von dem Göttlichen und Verständigen beherrscht zu werden, am liebsten zwar so, dass jeder es als sein eigenes in sich selbst habe, wenn aber nicht, dann dass es ihm von außen gebiete, damit wir alle als von demselben beherrscht auch nach Vermögen einander insgesamt ähnlich seien und befreundet.“53

Die Priorität der Seele gegenüber dem Körper, der Vernunft gegenüber den Begierden, des logistikÎn gegenüber dem ™piqumhtikün begründet auch die Herrschaft des Herrn über den Sklaven, ja macht sie nach Platon geradezu notwendig; für den Sklaven mehr noch als für den Herrn. Die gerechte Ordnung, wie sie der Seele wesensmäßig immanent ist, wird so im gesellschaftlichen Rahmen wiederhergestellt und für die schwache, dem ™piqumhtikün unterworfene Seele stellvertretend durch den Herrn ausgeübt. Gleichwohl ist dies nur die zweitbeste Lösung, da Platon Sokrates sagen lässt, dass es ihm lieber wäre, wenn „jeder es als sein eigenes in sich selbst“ hätte und es schwingt ein pädagogisch-versöhnlicher Unterton mit in der Aussicht, dass alle Menschen, direkt oder indirekt, vom gleichen verständigen Prin-

52 53

Politeia 590c 2–8. Politeia 590c 10–d 10.

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zip beherrscht werden und darin „nach Vermögen einander insgesamt ähnlich seien und befreundet“. Die Sklavenseele unterscheidet sich also nach Platon von der Herrscherseele durch eine unterschiedliche Disposition, die Seelenteile zu ordnen. Dieser Unterschied liegt in den Schicksalsgesetzen begründet, wie sie in den entsprechenden Mythen im Timaios und in der Politeia dargelegt werden.54 Relevant für unser Thema ist dabei die den Mythos vorbereitende Fragestellung, ob die Struktur und Zusammensetzung der Seele vereinbar sei mit der Unsterblichkeit.55 Das Problem wird im Folgenden dahingehend konkretisiert, ob die Seele auch ihrer wahren Natur nach, also ohne Körper, vielgestaltig (polueidÌò) oder eingestaltig (monoeidÞò) sei.56 Es geht nun nicht mehr um den Zustand der Seele im jetzigen Leben, für den ja bereits ausreichend dargelegt wurde, dass die Seele eine dreigeteilte Struktur hat. Dies gilt als philosophisch gesichert und wird auch in diesem Kontext nicht in Zweifel gezogen. Ob die Seele dieselbe Struktur auch in ihrer wahren Natur ohne Leib hat, bleibt schließlich offen. Um das zu klären, müsste man eben diese wahre Natur selbst betrachten, welches aber aus ihrem irdischen Zustand heraus menschlichem Erkennen nicht möglich sei.57 Für die Dreiteilung auch der vom Leib geschiedenen Seele spricht allerdings, neben dem Gleichnis vom Seelengespann, wie wir es aus dem Phaidros kennen, der Bericht von den Strafen für die Seele im Jenseits. Die Schlechtigkeit der Seele, das Laster, lässt die Seele zwar nicht sterben58, aber sie bleibt ihr auch im Tod59 und wird hierfür bestraft werden60. Diese Schlechtigkeit ist aber auf das ™piqumhtikün zurückzuführen, so dass sich die Frage stellt, wie dieses im Tod, der Trennung vom Leib, verschwinden könne, die Seele aber schlecht bleibe. Entweder tritt also die Bezogenheit auf das Körperliche, wofür ja das ™piqumhtikün steht, so sehr in das logistikÎn ein, dass dieses selbst befleckt wird durch schlechtes Leben, und dann ist eine Unsterblichkeit des niederen Seelenteiles gar nicht mehr nötig, oder man muss die Sterblichkeit des ™piqumhtikün selbst in Frage stellen. Platon begreift somit die Lebensbedingung eines Sklaven nicht als willkürliches Schicksal, sondern als Fortführung der Seelengeschichte in einem anderen Körper. Hierfür spricht auch die eigenständige Wahl der Lebenslose durch die Seelen, wie sie am Ende des Abschlussmythos der Politeia beschrieben wird.61 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. u. a. Timaios 41e 3–42e 4; Politeia 614b–621b. Politeia 611b 5–7. Politeia 612a 3–5. Politeia 611b 11–612a 8. Politeia 609d 4–9. Politeia 612b 9–e 4. Politeia 614e 1–615c 4.

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

Freilich bietet jedes neue Leben auch die Möglichkeit durch eine gerechte Lebensführung dieses Los zu verändern. Umgekehrt dürfte einem Tyrannen im nächsten Leben ein Sklavenlos beschieden sein.62 Prinzipiell ist die Sklavenseele also ebenso beschaffen wie die Seele eines athenischen Aristokraten oder jedes anderen Menschen, ihre spezifische Differenz liegt jedoch in der Unordnung und Unterentwicklung des vernunftmäßigen Seelenteiles, welche zur ungebändigten Herrschaft des ™piqumhtikün innerhalb der Seele führt. Eine detaillierte Analyse der einzelnen Seelenteile bezüglich Sklaven finden wir bei Platon nicht, jedoch ist es möglich, diese aus verstreuten Äußerungen in unterschiedlichen Kontexten herzuleiten. 1. Das logistikÎn des Sklaven In den Nomoi unterscheidet ,der Athener‘ zwei Arten von Gesetzgebung: Einmal das unmittelbare Erlassen von Gesetzen bei gleichzeitiger Strafandrohung im Falle der Nichtbeachtung, zum anderen eine Legislation, welche versucht den Bürgern den Sinn der Gesetze nahe zubringen und sie zu ihrer Einhaltung ermuntert.63 Dies verdeutlicht Platon anhand eines Vergleiches zwischen freien Ärzten und Ärzten, die Sklaven sind64: „Es gibt doch gewisse Ärzte, sagen wir, und Gehilfen (phrÝtai) der Ärzte und auch diese nennen wir doch Ärzte [. . .]. Und zwar ganz gleich, ob sie Freie (™leýqeroi) sind oder Sklaven (dou= loi) und nach Anweisung ihrer Herren (despotw= n) und durch Zusehen und bloße Erfahrung ihre Kunst erwerben und nicht aus dem Wesen der Sache heraus, wie sie die Freien selbst erlernt haben und so auch ihre Schüler lehren.“65 Politeia 616b 3–620d 7. Vgl. hierzu § 4, Kapitel III.2. ,Die abnehmende Reihe der Herrschaftsformen und die dabei zunehmende Versklavung‘ der vorliegenden Arbeit. 63 Nomoi 719e 11–720a 3. 64 Schumacher verweist darauf, dass Sklaven als praktizierende Mediziner nicht vor dem Hellenismus bezeugt sind und Sklaven in der gesamten Antike keine ärztliche Versorgung durch medizinisch geschulte Sklaven gehabt hätten. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass Platon bei einem derart praktischen Beispiel auf einen rein hypothetischen Sachverhalt zurückgreift. Auch dürfte diese Generalisierung hinsichtlich der unterschiedlichsten Beziehungen, die zwischen Herren und Sklaven bestanden haben, nicht zulässig sein. Da sich Schumacher bei seinen Ergebnissen zum größten Teil auf archäologische Befunde beruft, müsste seine Aussage dahingehend relativiert werden, dass die ärztliche Behandlung von Sklaven in der Antike nicht durch Bodenfunde belegt ist. Vgl.: L. Schumacher, Sklaverei in der Antike. Alltag und Schicksal der Unfreien, München 2001, S. 215. Einen historischen Hintergrund dieser Darstellung nimmt auch F. Wehrli, ,Der Arztvergleich bei Platon‘, in: Museum Helveticum 8 (1951), S. 177–184, an, wenn er vermutet, dass die von Platon dargestellte Arbeitsaufteilung zwischen freien Ärzten und ihren unfreien Gehilfen durch die medizinische Literatur seiner Zeit inspiriert worden sei und somit durchaus realistische Züge trägt. Diese Einschätzung teilt ebenfalls H. E. Sigerist, Der Arzt in der griechischen Kultur, Esslingen 1970, S. 80. 61 62

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Der Sklave ist also durchaus in der Lage, eine relativ anspruchsvolle Kunst wie die Medizin auszuüben, erwirbt dieses Wissen aber lediglich durch Anweisung, Imitation und Erfahrung. Er ist nicht in der Lage, das ,Wesen der Sache‘ zu begreifen und aus diesem heraus verständig angeleitet zu werden, um so seine Kenntnisse zu entwickeln. Sein logistikÎn, ganz oder teilweise unter dem Einfluss des ™piqumhtikün, ist verhaftet im Bereich der sinnlichen Anschauung und kann nur aus diesem heraus das Erfahrene und Angeordnete imitieren oder bestenfalls auf ähnlich gelagerte Fälle übertragen. Ein tieferes Verständnis von dem Verhältnis zwischen Ursache und Symptom, ein Einblick in das Wesen von Krankheit und Gesundheit bleibt ihm verwehrt, da sein Denken unter der Herrschaft des Körperlichen steht und sich nicht zur geistigen Schau (qewrßa) des wahren Wesens alles Seienden hinaufschwingen kann. Der Sklave als Arzt verfügt höchstens über eine wahre, empirisch erworbene Meinung, die er, seinen Herrn zu imitieren versuchend, in sich ähnelnden Fällen praktisch anwenden kann. Entsprechend unterschiedlich beschreibt ,der Athener‘ im Folgenden die Behandlungsmethoden dieser beiden Arten von Ärzten: „Nun kannst du doch auch folgendes beobachten: da die Kranken in den Städten teils Sklaven (doýlwn), teils Freie (™leuqÝrwn) sind, so werden die Sklaven in der Regel zumeist von Sklaven (dou= loi) behandelt, die ihre Rundgänge machen oder sie in den Arztstuben erwarten; und kein einziger von solchen Ärzten pflegt auch nur irgendeine Begründung (lügou) für die jeweilige Krankheit eines Sklaven zu geben oder sich geben zu lassen, sondern er verordnet ihm das, was ihm aufgrund seiner Erfahrung gut scheint, als wüsste er genau Bescheid (dücanta ™c ™mpeirßaò), eigenmächtig wie ein Tyrann; dann springt er auf und begibt sich zu einem anderen erkrankten Sklaven und erleichtert so seinem Herrn die Sorge für die Kranken. Der freie Arzt dagegen behandelt meistens die Krankheiten der Freien und beobachtet sie; und indem er sie von ihrem Entstehen an und ihrem Wesen nach erforscht, wobei er sich mit dem Kranken selbst und mit dessen Freunden bespricht, lernt er teils selbst manches von den Kranken, teils belehrt er auch, soweit er es vermag, den Patienten selbst und verordnet ihm nicht eher etwas, bis er ihn irgendwie davon überzeugt hat; dann erst versucht er, indem er durch Überredung den Kranken immer wieder beschwichtigt, ihn zur Gesundheit zu führen und damit Erfolg zu haben.“66

Der Sklavenarzt erweist sich hier als ein reiner Handwerker, der in Eile die Patienten untersucht, unfähig eine Begründung für die Krankheit zu geben oder zu berücksichtigen und unter dem Anschein von Autorität nach Gutdünken, gemäß der Schematik einer gewissen Erfahrung, eine Therapie verordnet, ohne den Sinn hierfür dem Patienten einsichtig zu machen. Dies ist jedoch auch nicht nötig, da der Patient, insofern er Sklave ist, einer solchen Begründung gar 65 66

Nomoi 720a 9–b 6. Nomoi 720b 10–e 1.

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nicht folgen könnte, als auch unmöglich, da der Arzt als Sklave gar nicht in der Lage wäre, diese zu liefern. Der freie Arzt dagegen bedient sich eines pädagogisch-therapeutischen Ansatzes und scheut auch nicht davor zurück, selbst zu lernen und neue Erkenntnisse zu machen, anstatt mechanisch und blind auf seine Erfahrungen zurückzugreifen. Im Gespräch mit dem Kranken und dessen Angehörigen versucht er, die Ursachen der Erkrankung zu erforschen, teilt diese dem Patienten verständig mit und entwickelt gemeinsam mit ihm einen Behandlungsplan. Unter Freien entwickeln sich Diagnose und Therapie aufgrund einer philosophischen Gesprächsform, die nach Hintergründen und Ursachen fragt und im gemeinsamen Erkunden das Wesen der Krankheit zu erkennen sucht. Sklaven und deren Ärzte beschränken sich auf die körperlichen Auswirkungen einer Erkrankung und versuchen auch nur diese zu behandeln, da sie aufgrund der Körperfixierung ihres vom ™piqumhtikün beherrschten logistikÎn gar nicht in der Lage sind, weiterreichende, im Wesen der Sache begründete Folgerungen zu ziehen. Das Sklavische des Sklavenarztes zeigt sich an seiner völligen Unfähigkeit, überhaupt den Sinn einer nach dem Wesen der Krankheit fragenden Behandlungsart zu erkennen. In einem späteren Teil der Nomoi kommt Platon auf die oben zitierte Stelle noch einmal zurück: „Unser Vergleich war nicht übel, als wir alle diejenigen, denen heutzutage Gesetze gegeben werden, mit Sklaven (doýloiò) verglichen, die von Sklaven (doýlwn) ärztlich behandelt werden. Denn darüber muss man sich völlig im klaren sein: wenn einmal einer der Ärzte, welche die Heilkunst rein empirisch ohne theoretische Grundlage betreiben, auf einen freien Arzt träfe, der sich mit einem freien Kranken unterhält und sich dabei beinahe philosophischer Argumente bedient und die Krankheit bei der Wurzel packt, indem er auf die allgemeine Natur des Körpers zurückgeht, so würde jener gleich in lautes Gelächter67 ausbrechen und keine anderen Reden vorbringen als die, welche in diesem Fall die meisten so genannten Ärzte schnell bei der Hand haben; er würde nämlich sagen: ,Du Tor, du behandelst ja nicht den Kranken, sondern belehrst ihn geradezu, als müsste er ein Arzt, nicht aber gesund werden!‘ “68

Dem Sklaven ist das realitätsstiftende Prinzip des logistikÎn vollkommen fremd, da er nicht unmittelbar an diesem teilhat. Seine Welt beschränkt sich gänzlich auf die sinnliche Wahrnehmung und das körperlich Erfahrbare. Der 67 Dieses Gelächter erinnert an das Lachen der Magd in der Thales-Anekdote des Theaitetos ( 174a 3–9) und beschreibt auch einen ähnlichen Fall von Unverstand: „Wie auch den Thales [. . .] als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd (qerapainÍò) soll verspottet haben, dass er, was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe.“ 68 Nomoi 857c 6–e 1.

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philosophische Eros, der im gemeinsamen Gespräch das Wesen der Dinge zu ergründen sucht, erscheint ihm lächerlich, da ihm die Voraussetzung fehlt, diese Sprache zu verstehen. Hierzu bedarf es der freien Herrschaft des logistikÎn über die beiden anderen Seelenteile. Die sklavische Seele aber ist durch die ungezügelten Begierden des ™piqumhtikün geknebelt und unfähig, das Wesen einer Sache hinter ihren materiellen Manifestationen zu verstehen, geschweige denn selbst zu erkennen. In einem anderen Kontext der Nomoi gibt Platon eine indirekte Definition dieser sklavischen Art der Weltwahrnehmung, indem er ein bloßes Meinen und Erfassen (™nnoei=n), ohne „imstande zu sein, es mit Worten darzulegen und zu beweisen“, als eine „Haltung von Sklaven (˜ndrapüdou)“ beschreibt.69 Ansätze des logistikÎn sind in der Sklavenseele also durchaus vorhanden, wie schon daraus hervorgeht, dass Sklaven der Anamnesis fähig sind70, durch Anordnung und Erfahrung lernen können und dieses erworbene Wissen auch gut anzuwenden in der Lage sind.71 Ihr Verhalten kann unter günstigen Bedingungen verlässlicher sein als das von engen Familienmitgliedern: „[. . .] denn schon viele Sklaven (dou= loi), die sich in jeglicher Tugend für manchen Besitzer besser bewährten als Brüder und Söhne, haben ihre Herren und deren Besitz und deren ganze Häuser gerettet.“72 Der Sklave kann richtige Vorstellungen73 entwickeln und das Wahre glauben, doch eben nur Vorstellungen und wechselhafte Meinungen und kein einsichtiges, begründetes, von Meinungen unabhängiges Wissen, warum zum Beispiel etwas richtig ist. Der Sklave im Menon findet zwar die richtige Lösung des mathematischen Problems, kann aber nicht die geometrische Wahrheit dahinter erkennen. Das logistikÎn ist bei ihm nur soweit ausgebildet, als die körperlichen Ansprüche des ™piqumhtikün dies zulassen, darüber hinausgehend ist ihm Einsicht und Erkenntnis verwehrt. 2. Das qumoeidÝò des Sklaven Im Phaidrosmythos vom Seelengespann spielt das gute Pferd, welches den muthaften Seelenteil, das qumoeidÝò, bezeichnet, weder für den Seelensturz noch für die Ideenschau eine ursächliche Rolle. Es findet an dieser Stelle kaum Nomoi 966b 1–5. Menon 82a–86c. 71 Diese Möglichkeit wird schon früh, im Dialog Laches (186b 1–5), erwogen: „[. . .] wenn einer uns sagte, einen Lehrer habe er zwar nicht gehabt, so müsste doch auch dieser seine Werke anführen können und zeigen, welche Athener oder Fremde, Knechte (dou= loi) oder Freie durch ihn eingestandenermaßen sind gut geworden.“ 72 Nomoi 776d 9–e 2. Freilich wird im Anschluss auch gleich das Gegenteil behauptet: „[. . .] dass an einer Sklavenseele nichts Gesundes ist und dass ein Mann mit Verstand dieser Sorte von Menschen niemals auch nur das geringste Vertrauen schenkt.“ 73 rqÌn dücan; vgl. Politeia 430b 6/7. 69 70

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

Erwähnung.74 Erst im erotisch-ethischen Bereich tritt es dort wieder deutlich hervor.75 Entweder es lässt sich von der ungestümen Begierde des ungebändigten schlechten Pferdes, dem ™piqumhtikün, mitreißen oder es unterstützt nach Kräften das logistikÎn, den Wagenlenker, bei seinem angestrengten Versuch, das ungezähmte Ross im Zaum und auf dem rechten Weg zu halten. Die Kraft des Mutes und des Wollens unterstützt also unterschiedslos den jeweils herrschenden Seelenteil. Die Schwäche und Unzulänglichkeit des logistikÎn des Sklaven führt zu unberechenbaren Verhaltensweisen. Er kann sich als äußerst tugendhaft erweisen und Leben und Haus seines Herrn retten76 oder zum Mörder werden77; er kann ein treuer Begleiter sein, aufrichtig bemüht, auch mathematische Probleme zu lösen78 oder entgegen allen Verträgen entlaufen,79 Aufstände anzetteln und zum Räuber werden80. Aufgrund all dieser Erfahrungen wird behauptet, „dass an einer Sklavenseele (yuxh= ò doýlhò) nichts Gesundes ist und dass ein Mann mit Verstand dieser Sorte von Menschen niemals auch nur das geringste Vertrauen“ schenken sollte.81 Hat ein Sklave eine richtige Meinung oder zeigt tugendhaftes Verhalten, so ist auch dies letztlich nur durch das ™piqumhtikün motiviert, welches nun qumoeidÝò und logistikÎn für sich eingespannt hat, um auf diese Weise zur Befriedigung seiner Begierden zu gelangen. Wohlverhalten gegen erwartete Belohnung und nicht aus Einsicht, da zu einer solchen das geknechtete logistikÎn nicht fähig ist. Eine „richtige Vorstellung [. . .], die ohne Bildung (åneu paideßaò) entstanden ist, sowie auch die tierische und die knechtische (˜ndrapodþdh)“ sind nicht beständig und auch etwas anderes als Tapferkeit82, welche die dem muthaften Seelenteil zugeordnete Tugend ist. Der Sklave mag eine richtige Vorstellung haben und etwas Wahres meinen, doch fehlt ihm der lügoò als der begründenden Vernunft, warum etwas gut und wahr an sich ist und nicht in Bezug auf eine Zweckerfüllung. Wahre Tapferkeit, d. h. der das logistikÎn unterstützende Einsatz des qumoeidÝò, ist nur unter der Herrschaft des vernünftigen Seelenteils möglich, da nur so die Ausrichtung der Handlung auf das Gute durch Einsicht in dasselbige bleibend gewährleistet ist. Alles andere ist willkürlich, wandelbar und kurzfristi74 75 76 77 78 79 80 81 82

Phaidros 246a 3–249d 2. Phaidros 253c 7–256e 2. Nomoi 776d 9–e 2. Nomoi 872b 1–c 1. Menon 82a–86c. Kriton 52d 1–2. Nomoi 777c 1–6. Nomoi 776e 5–8. Politeia 430b 8–12.

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ger Zweckerfüllung unterliegend. Im Timaios wird dieser Unterschied folgendermaßen beschrieben: „Denn das eine entsteht in uns durch Belehrung, das andere durch Überredung (peiqou= ò); das eine ist stets mit wahrer Begründung verbunden, das andere ist unbegründet; das eine ist durch Überredung nicht zu bewegen, das andere ist umzustimmen.“83

Der Sklave, aufgrund seines defizitären logistikÎn, unfähig einer begründeten Belehrung, ist den Einflüsterungen und Überredungen84 sowohl seines ™piqumhtikün als auch denen anderer Menschen ausgeliefert. Sein qumoeidÝò kämpft somit stets für die Erreichung von Zielen, die ihm das ™piqumhtikün auferlegt oder ihm mittelbar durch Beeinflussung des begehrenden Seelenteils von außen auferlegt werden. Ist diese äußerliche Suggestion von einer vernünftigen Einsicht, beispielsweise seines Herrn, motiviert und dem ™piqumhtikün durch Überredung oder eventuell unter Androhung von Sanktionen schmackhaft gemacht worden, kann die daraus resultierende Handlung durchaus den Anschein von Tugend oder Erkenntnis erwecken. Ohne eine solche Anleitung aber ist das qumoeidÝò des Sklaven der Willkür seiner Begierden ausgeliefert und ähnlich dem geknechteten logistikÎn nicht in der Lage, sich diesen zu widersetzen. 3. Das ™piqumhtikün des Sklaven Bleibt der begehrliche Seelenteil (™piqumhtikün), welcher in der sklavischen Seele die Leitung hat. Ohne den Maßstab der einsichtigen Erkenntnis ist der Sklave von seinen Begierden, Lüsten und Unlüsten hin- und hergeworfen, nicht Herr seiner selbst und bedarf somit der Anleitung von außen85. Einen dramatischen Eindruck von der Gewalt der Begierden vermittelt die Beschreibung vom Verhalten des schlechten Rosses beim Anblick des Geliebten im Mythos vom Seelengespann: Es „scheut nun nicht länger Stachel noch Peitsche des Führers, sondern springend strebt es mit Gewalt vorwärts und, auf alle Weise dem Spanngenossen und dem

Timaios 51e 3–7. Vlastos weist darauf hin, dass im Englischen (und so auch im Deutschen) „Peitho is usually translated ,persuasion‘ [Überredung] [. . .]. But ,influence‘ or ,suggestion‘ would be a better rendering. Peitho means simply changing another’s mind. It puts no strings on the way this is done. ,Persuasion‘, as ordinarily used in English, ties one down to some kind of intellectual, or, at least, rhetorical, process. You cannot persuade without some kind of argument, though it may be fallacious argument.“ G. Vlastos, ,Slavery in Plato’s Thought‘, in: ders., Platonic Studies, Princeton 1981, S. 148, Fn. 5. – ,Überredung‘ beinhaltet hier also nicht unbedingt eine intellektuelle Beanspruchung. 85 Politeia 590c 2–d 8. 83 84

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele Führer zusetzend, nötigt es sie, hinzugehen zu dem Liebling und der Gaben der Lust gegen ihn zu gedenken.“86

Nun, in der Nähe des Objektes der Begierde, entbrennt ein verbissener Kampf zwischen dem Wagenlenker und dem schlechten Ross: „Und wenn sie nicht mehr fern sind, beugt es sich vornüber, streckt den Schweif in die Höhe, beißt in den Zügel und zieht sie schamlos weiter. Dem Führer aber begegnet nur noch mehr dasselbe wie zuvor, und wie sie an den Schranken zu tun pflegen, beugt er sich hinterwärts, zieht noch gewaltsamer dem wilden Rosse das Gebiss aus den Zähnen, dass ihm die schmähsüchtige Zunge und die Backen bluten, und, Schenkel und Hüften am Boden festhaltend, lässt er es büßen.“87

Dieses Bild beschreibt die Situation in der wohlgeordneten Seele, in welcher das logistikÎn herrscht und der Wagenlenker das schlechte Ross, wenn auch mit viel Mühe und Anstrengung, in der Gewalt hat. In der sklavischen Seele ist der Wagenlenker schwach, das gute Pferd dem schlechten willfährig und so das ganze Gespann der unmittelbaren Triebkraft des ™piqumhtikün ausgeliefert. In dieser Machtlosigkeit, den Begierden hilflos verfallen zu sein, zeigt sich das Unfreie und Knechtische der Sklavenseele, denn sie tut am wenigsten das, „was sie gern wollte, wenn man nämlich von der ganzen Seele redet, sondern wie sie immer vom Stachel mit Gewalt getrieben wird, muss sie auch immer voll Schrecken und Reue sein“88. Im Dialog Protagoras zeigte Sokrates auf, dass kein Mensch willentlich Unrecht tut und dass man der wahren Einsicht in eine Tugend, d. h. dem Wissen von der Bestheit einer Handlung und Lebensführung, nicht zuwiderhandelt, da man sich dadurch nur selbst schaden würde, wonach aber niemand streben kann.89 Der Sklave nun, dem diese Einsicht verwehrt ist, handelt, indem er sich von seinen Begierden fortreißen lässt, stets gegen seinen eigenen Willen, auch wenn ihm dieser letztlich verborgen ist. Der Sklave ist in erster Linie Sklave seiner selbst und Knecht seiner Begierden. Die selbstverschuldete Unordnung in seiner Seele und die daraus resultierende Tyrannis des ™piqumhtikün führen ihn in die Unfreiheit, nicht tun zu können, was er eigentlich will. Die gewaltherrschaftlich-zwanghaften Lebensverhältnisse bedingen die Selbstversklavung, indem sich die Tyrannis der Begierden mit der Versklavung der Vernunft in einer Person treffen.

Phaidros 254a 3–7. Phaidros 254d 7–e 5. 88 Politeia 577e 1–5. An dieser Stelle ist von der Seele des Tyrannen die Rede, doch, wie noch aufgezeigt werden wird (§ 4, Kapitel III.2.), ist die Tyrannenseele die allerunfreieste und er selbst der größte Sklave. 89 Vgl. Protagoras, 345 e 1–5. Siehe hierzu auch die Untersuchung im Gorgias (475e 6–479e 11) über Unrecht tun und Unrecht leiden. 86 87

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Dieses Seelenverhältnis ist allerdings nicht nur den Sklaven eigentümlich, sondern findet sich auch bei dem Großteil aller übrigen Menschen90, weswegen die Terminologie von ,Herr und Sklave‘ bei Platon generell auf Freie und Unfreie angewandt wird, um eine sich selbst und anderen Gewalt antuende Lebensweise zur Darstellung zu bringen, die normalerweise der Selbstvergessenheit anheim fällt. Hier bildet sich bereits für den platonischen Gesellschaftsentwurf eine kleine Klasse von freien Herrschern heraus gegenüber einer großen Menge von Sklaven unterschiedlichen Grades, da diese eben der platonischen Definition der sklavischen Seele als eines defizitären logistikÎn in einer vom ™piqumhtikün beherrschten und tyrannisierten Seele entsprechen. Das Gute, welches sie nicht erkennen können, wird ihnen von außen auferlegt und diesem müssen sie sich gemäß der kosmischen und der daraus folgenden gesellschaftlichen Ordnung unterwerfen. In diesem Sinne ist für Platon der Sklave in einer gerechten Gesellschaft von seiner eigenen Tyrannei und Selbstversklavung zumindest teilweise befreit. 4. Die ˜paideusßa des Sklaven Die Ursache der Ungebildetheit (˜paideusßa) von Sklaven ist somit kein Bildungsdefizit, sondern eine psychische Disposition, nämlich die Unfähigkeit zu philosophischem Denken. Den Sklaven fehlt schon die grundlegende Voraussetzung zur Philosophie, die Muße, d. h. die Fähigkeit, den freien Moment erfüllt zu nutzen – sie schlafen lieber.91 Freilich sagt Platon nicht, dass Sklaven ohne Ausnahme unfähig zu philosophieren wären – er äußert sich gar nicht dazu, wenn er ihnen auch die grundlegende Fähigkeit zum Erkenntniserwerb zugesteht. Dem Sklaven im Menon, stellvertretend für alle Ungebildeten, attestiert Sokrates, nachdem er die Lösung des einen mathematischen Problems gefunden hat, dass er in der Lage ist, mit allen geometrischen Problemen so zu verfahren und ebenso in anderen Wissenschaften auch.92 Da er dieses Wissen jedoch nicht in seiner Erziehung erworben haben kann, weil eine solche ihm nicht zuteil wurde, „so hat er sie ja offenbar in einer anderen Zeit gehabt und gelernt“93. Sokrates fährt fort: 90 Politeia 431b 12–c 3: „Und die vielen und vielerlei Begierden und Lüste und Unlüste findet einer doch wohl bei Kindern am meisten und bei Weibern und Gesinde (oœkÝtaiò), unter den sogenannten freien Leuten aber nur bei dem großen und gemeinen Haufen.“ Vgl. hierzu auch Timaios 51e 7–9. 91 Phaidros 259a 2–7: „Wenn sie [die Zikaden] nun auch uns nichts besser als andere in der Mittagsstunde nicht uns unterredend sähen, sondern aus Trägheit der Seele von ihnen eingesungen schlummernd, so möchten sie mit Recht über uns spotten und denken, ein paar Knechte (˜ndrÜpod\) wären in ihrem Aufenthalt eingekehrt, um wie Schafe, die bei der Quelle Mittag machen, des Schlafes zu pflegen.“ 92 Menon 85e 1–3. 93 Menon 85e 10–86a 1.

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele „Wenn also in der ganzen Zeit, wo er Mensch ist, oder auch, wo er es nicht ist [d. h. in unkörperlichem Zustand], richtige Vorstellungen (˜lhqei=ò dücai) in ihm sein sollen, welche, durch Fragen aufgeregt, Erkenntnisse werden, muss dann nicht seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.“94

Es ist für Platon eine conditio sine qua non, dass die Seele ein gewisses Maß an vorgeburtlich geschautem Wissen auf die Erde mitbringt, um in einem menschlichen Körper geboren zu werden. Das logistikÎn des Sklaven verfügt zumindest über Grundkenntnisse, die durch Befragung oder Erfahrung wiedererinnert werden können. Der Unterschied zur Seele des Philosophen besteht darin, in welchem Ausmaß das Wissen vom wahrhaft Seienden von ihr präinkarnativ geschaut wurde. Das logistikÎn unterscheidet den Menschen vom Tier, so, wie ihn das ungebändigte ™piqumhtikün von den Göttern trennt. Die Ungleichheit der Menschen und ihre daraus resultierenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Rechte und Pflichten gründet in der Dimension ihres vorgeburtlich erworbenen Wissens und ihrer Fähigkeit, dieses wiederzuerinnern. Die Ungebildetheit des Sklaven liegt in dieser Begrenzung, wobei das Umgrenzte auch Grundlage seines Menschseins ist. Im Bildnis des Phaidros gesprochen bedeutet dies, dass jede Seele eines Menschen ihrer Natur nach das Seiende geschaut haben muss, „oder sie wäre in dieses Gebilde [gemeint ist der Körper] nicht gekommen; sich aber bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern, ist nicht jeder leicht, weder denen, die das dortige nur kümmerlich sahen, noch denen, welche, nachdem sie hierher gefallen, ein Unglück betroffen, dass sie irgendwie durch Umgang zum Unrecht verleitet, das ehedem geschaute Heilige in Vergessenheit gestellt; ja wenige bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug beiwohnt“.95

Allen Menschen ist also ein gewisses intellektuelles Vermögen gemein. An anderer Stelle vergleicht Platon dies mit der Fähigkeit zu sehen, die einem gegeben ist und nicht erst herausgebildet werden muss. Vielmehr geht es darum, wohin der Blick sich richtet und was gesehen wird. Die Aufgabe des Philosophen besteht dann in einer Umlenkung (periagwgÌ) des Blickes der meisten Menschen hin zum Wesentlichen, zum wahren Seienden.96 Ansonsten schadet dem Menschen sein Denkvermögen, da es, die falschen Zwecke und Ziele im Visier habend, zu unnützen oder gar verderblichen Folgen führt: Das Erkennen „mag wohl vielmehr einem Göttlicheren angehören, wie es scheint, welches seine Kraft niemals verliert, nur aber durch Lenkung nützlich und heilbringend oder auch unnütz und verderblich wird. Oder hast du noch nicht auf die geachtet, die man 94 95 96

Menon 86a 6–11. Vgl. auch Phaidon 75b 3–77c 7. Phaidros 249e 6–250a 7. Vgl. auch ebd. 249b 1–7. Vgl. Politeia 518d 3–9.

II. Die spezifische Differenz der sklavischen Seele

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böse aber klug nennt, wie scharf ihr Seelchen sieht und wie genau es dasjenige erkennt, worauf es sich richtet, dass es also kein schlechtes Gesicht hat, aber dem Bösen dienen (phretei=n) muss und daher, je schärfer es sieht, desto mehr Böses tut“.97

Das logistikÎn, aufgrund seiner Schwäche gezwungen, dem ™piqumhtikün zu dienen, seine Kenntnisse dessen Zwecken zur Verfügung zu stellen, richtet sich so ganz gegen sich selbst und trägt zu seiner eigenen Versklavung maßgeblich bei. Dies umso mehr, je größer die von ihm erworbenen und vorgeburtlich geschauten Erkenntnisse sind. Ein solcher Mensch bedarf also einer eindringlicheren Umlenkung seiner Seele und diese Aufgabe muss so früh wie möglich in Angriff genommen werden, bevor sich die Fixiertheit auf die Begierde zu sehr verhärtet: „Eben dieses indes an einer solchen Natur, wenn sie von Kindheit an gehörig beschnitten und das dem Werden oder der Zeitlichkeit Verwandte ihr ausgeschnitten worden wäre, was sich wie Bleikugeln an die Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten anhängt und das Gesicht der Seele nach unten wendet, würde dann, hiervon befreit, sich zu dem Wahren hinwenden und dann bei denselben Menschen auch dieses auf das schärfste sehen, eben wie das, dem es jetzt zugewendet ist.“98

Aus der Darstellung des Phaidrosmythos ergibt sich freilich, dass die Seele, auch nach ihrer Umwendung, das Wahre nur insofern auf das schärfste sehen kann, als sie es auch vorgeburtlich geschaut hat.99 Die Seelengespanne, bei denen der Kopf des Wagenlenkers nur kurz und voller Hektik und Mühe das wahre Seiende im Überhimmlischen erblickte, werden auch mit Blick auf das Wahre, dessen eigentliches Wesen auf Erden nicht ergründen können, wohl aber dennoch ein gutes, dem Wahren gemäßes Handeln hervorzubringen in der Lage sein. Dies erklärt, warum es auch rechtschaffene Sklaven gibt.100 Ein intellektuell vermögender Sklave ist also nach Platon kein Widerspruch, doch fehlt ihm zur wirklichen Bildung die Fähigkeit, Einsicht in die tiefer liegenden, wahren Zusammenhänge zu gewinnen. Er kann zwar analytisch, schlüssig seine Kenntnisse kombinieren, doch basieren diese auf Erfahrung und Anordnung zur Befriedigung gewisser Bedürfnisse, nicht jedoch auf einem freien, zweckfreien Denken, welches das Wesen des Seienden zum Gegenstand hat. Der Sklave im Menon setzt die geometrischen Formen so zusammen, wie sie ihm Sokrates vorgibt, bis er schließlich zur Lösung dieses einen Problems gelangt. Er weiß nichts von den geometrischen Formen als solchen, von den Politeia 518e 2–519a 6. Politeia 519a 8–b 6. Hierzu passt auch das Bild im Phaidon (83c 4–e 3) von Lust und Unlust als Nagel, welcher die Seele an den Leib heftet und sie so leibartig, d. h. starr und unbeweglich macht. 99 Dieser Schluss ist insofern zulässig, als in beiden Dialogen, im Gegensatz zum Phaidon, das gleiche Seelenmodell vertreten wird. 100 Vgl. Nomoi 776d 8–e 3. 97 98

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§ 2 Die Konzeption der sklavischen Seele

Axiomen, der tieferen Wahrheit, die diese Lösung erst ermöglicht. Platon sagt nicht explizit, dass diese Einsicht dem hier befragten Sklaven generell unmöglich sei, gesetzt aber den Fall, er würde die der Aufgabe zugrunde liegenden geometrischen Ideen erkennen, so dürfte er in der platonischen Polis kein Sklave sein, sondern müsste zu den Herrschern gehören.

III. Zusammenfassung Ebenso wie für das Verständnis der platonischen Philosophie im Allgemeinen ist auch für die besondere Problematik der Sklaverei die Seelenlehre grundlegend. Die Natur der Seele, welche durch ihre Tätigkeit definiert wurde, erwies sich als ihre Selbstbewegung, die als Anfang aller Bewegung ungeworden, d. h. ewig und somit unsterblich ist. Daran anschließend entfaltete sich die Idee der Seele als das, was sie ist und wie sich ihr Sein manifestiert, zu einer Dreiteilung, bestehend aus dem vernünftigen logistikÎn, dem muthaften qumoeidÝò und dem begehrenden ™piqumhtikün. Die Dynamik dieser Teile untereinander beschreibt Platon in mythischer Weise. Im Idealfall herrscht die Vernunft über die beiden anderen Seelenbereiche, die dann, unter dieser Leitung, unterstützend zur gerechten, naturgemäßen Seelenordnung beitragen. Aus der Disposition der Seelenteile zueinander ergibt sich, nach Platon, die gesellschaftliche Stellung und Tätigkeit eines jeden Menschen in der Polis. Dieses Seelenmodell trifft gleichermaßen auch auf Sklaven zu, jedoch ist in der sklavischen Seele nicht die Vernunft Gebieterin, sondern das Begehren hat dort die Herrschaft an sich gerissen. Der Herr übt im gesellschaftlichen Rahmen sozusagen stellvertretend die Vernunft für seine Sklaven aus. Nur so ist der Sklave in der Lage, am „Göttlichen und Verständigen“ teilzuhaben und nur durch die Herrschaft der Vernünftigen über die Unvernünftigen kann, nach Platon, eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft gewährleistet werden. Das Los der Sklaverei aufgrund einer unvernünftig ausgerichteten Seelendisposition ist nicht in einem willkürlichen Zufall begründet, sondern notwendige Folge der Unsterblichkeit der Seele und somit Resultat von Verschuldungen aus vorangegangenen Inkarnationen. Gleichwohl ist dieses Schicksal nicht bis in alle Ewigkeit festgeschrieben und der Sklave kann durch Teilhabe an der gerechten Ordnung selbst zur Herrschaft des logistikÎn in seiner Seele gelangen, wodurch er schon per definitionem kein Sklave mehr wäre. Platon spricht den Sklaven also keineswegs die Fähigkeit ab, sich ihrer Vernunft zu bedienen, gesteht ihnen durchaus richtige Vorstellungen zu und sieht die Möglichkeit, dass sie an das Wahre glauben können. Jedoch sind sie nicht fähig, das wahre Wesen einer Sache selbst zu erkennen, d. h. begründete Einsichten in die hinter den Dingen verborgene immaterielle Wahrheit zu gewinnen, solange in ihren Seelen der begehrliche Teil vorherrscht mit seiner zwang-

III. Zusammenfassung

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haften Fixierung auf alles Materielle. So ist der Sklave in erster Linie Sklave seiner selbst und Knecht seiner Begierden. Im Chaos der Begierdentyrannis und unter dem Joch der selbstverschuldeten Vernunftversklavung findet der sklavische Mensch nicht von sich aus zu sich selbst und kann ohne äußere Herrschaft nicht zu der allen Menschen angemessenen vernünftigen und gerechten, wohldisponierten Seelenordnung gelangen. Platon gebraucht die Begriffe ,Sklave‘ oder ,sklavisch‘ auch häufig für freie Bürger, da deren Seelendisposition sich oftmals nicht von der der Sklaven unterscheidet. Verallgemeinernd kann festgestellt werden, dass für Platon jeder ein Sklave ist, der zu philosophischem Denken unfähig ist.

2. Teil

Polis

§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten Aus dieser Psychologie folgt, dass das Verhältnis zwischen Herr und Sklave nach Platon analog zu dem zwischen Herrschern und Beherrschten ist. Wer sich selbst nicht beherrschen kann, Sklave seiner selbst ist, kann auch nicht über andere herrschen. Der Begriff ,Sklave‘ bei Platon muss somit primär existentiell-psychologisch gefasst und erst daraus resultierend als Standesbezeichnung innerhalb einer Gesellschaft verstanden werden. Herrscher ist dementsprechend, wer Herr seiner selbst ist und dadurch auch andere an der Herrschaft seines logistikÎn teilhaben lassen kann. In diesem Sinne bezeichnet auch der Begriff des Herrschers oder Königs für Platon erstmal eine grundlegende psychische Disposition, aus der die gesellschaftspolitische Aufgabe sich im Idealfall zwangsläufig ergibt. Der Herrschende ersetzt dem Beherrschten den frei entfalteten lügoò bzw. die Teilhabe am göttlichen nou= ò, welcher in der sklavischen Seele der Tyrannei des ™piqumhtikün zum Opfer gefallen ist. Die ontologischmetaphysisch gegebenen Unterschiede der Individuen in Bezug auf Gliederung und Wechselwirkung ihrer Seelenteile werden so auf höherer Ebene wieder ausgeglichen. Erst durch die Beherrschung eines selbstbeherrschten Herrschers findet die sklavische, durch sich selbst tyrannisierte Seele zu der ihr potentiell innewohnenden Freiheit zurück, die sich aus der notwendigen Befolgung der wesenhaften Einsichten ergibt. Da sie dies nicht aus sich selbst heraus zu leisten vermag, werden dem Sklaven durch den verständigen Herrscher bzw. Herrn die Handlungen und Verhaltensweisen auferlegt, die den wesentlichen Ideen und philosophischen Erkenntnissen der kosmischen und damit gesellschaftlichen Ordnung gemäß sind. Diese ist dem Beherrschten wohl zumeist nicht einsichtig, da er sonst selbst ein Herrscher sein könnte. Der Herrscher dagegen muss sich stets selbst prüfen, inwieweit er noch Anteil an der göttlichen Einsicht hat und seine Handlungen auf das beste ihr entsprechend einrichtet. Er ist so gesehen selbst wieder Diener der göttlichen Ordnung, jedoch in aller Freiheit, die die Einsicht in ihre Notwendigkeit mit sich bringt. Im platonischen Sinne heißt Knecht zu sein, endlich zu sein, der Begrenzung durch die Materie und der Fixiertheit auf sie ausgeliefert zu sein. Damit ist zugleich impliziert, dass der Mensch die Vergänglichkeit seiner körperlichen Existenz annehmen muss. Darüber hinausgehend kann der Mensch aber auch als Herr leben, indem er durch Erkenntnis und Vergegenwärtigung der Anwesenheit einer unsterblichen Seele in ihm sich die Dimension eines unendlichen Seins menschlicher Existenz bewusst macht.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

I. Die Dialektik von Herr und Knecht An einer berühmten Stelle im Dialog Parmenides, welche die Möglichkeit von Erkenntnis zum Thema hat, lässt Platon Parmenides aufzeigen, wie der Begriff des Herrn in Beziehung zu dem Begriff des Knechts definiert ist und umgekehrt: „So, habe Parmenides gesagt, wenn einer von uns des anderen Herr (despüthò) ist oder Knecht (dou= lüò), so ist er nicht des Herrn an sich, welcher bezeichnet, was ein Herr ist, nicht dessen Knecht; noch auch des Knechtes an sich, welcher bezeichnet, was ein Knecht ist, Herr ist Herr; sondern als Menschen sind sie füreinander dieses beides. Die Herrschaft selbst aber ist, was sie ist, von der Knechtschaft selbst, und ebenso ist Knechtschaft selbst die Knechtschaft von der Herrschaft selbst. Nicht aber hat, was bei uns ist, sein Vermögen in Beziehung auf jenes, noch jenes auf uns, sondern, wie ich sage, unter sich und für sich ist jenes und unseres ebenso für sich.“1

Einen Begriff von Herrschaft oder Knechtschaft an sich gibt es nicht bzw. liegt er zumindest nicht im menschlichen Erkenntnishorizont. Beide definieren sich über Kriterien, die sich wechselseitig ergänzen (also z. B. stark – schwach oder frei – unfrei) und gesellschaftlich, aber unter Umständen auch individuell anerkannt sind. Gleichzeitig spricht Platon dem Herrn wie auch dem Sklaven eine Beziehung zu sich selbst zu. Damit eröffnet er eine Relation von Selbstbezug und Fremdbezug. In der reinen Selbstbezüglichkeit sind Herr und Sklave schlichtweg Menschen. Die Frage, auf wen sich der Herr bezieht, wird dann erweitert durch die Frage, von woher sich der Herr auf wen bezieht. Diese Nuancierung der Despoteia hebt ihre Einseitigkeit auf, durch die sie schnell zur Tyrannis wird. In ihrer Einseitigkeit ist sie Unterdrückungs- und Schreckensherrschaft, indem sich der Herr nur über seine Stellung dem Sklaven gegenüber definiert, nicht aber die Legitimation seiner Herrschaft aus seiner Selbsterkenntnis und der Einsicht des logistikÎn an sich ableitet. Ebenso sieht sich der Knecht als bloßes Objekt und entmündigtes Opfer, wenn er sich ausschließlich auf den Herrn bezieht. In der reinen Fremdbezogenheit erhält das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, trotz seines wechselbezüglichen Wesens, einen Charakter von Unterdrückung und Tyrannei. Denkt man jedoch zur Fremdbezogenheit den Selbstbezug hinzu, so wird die Relation von Herrschaft und Knechtschaft aus ihrer Einseitigkeit befreit. Der Herr verhält sich dann selbstbezüglich von seinem Herr-Sein, d. h. von seinem seelischen Herrschaftsverhältnis, aus dem Sklaven gegenüber. Somit ist er nicht bloßer Despot, sondern Herr eines Knechtes und gleichzeitig Herr seiner selbst. Ebenso darf sich der Knecht von seinem Knecht-Sein aus auf den Herrn beziehen und erhält damit die Freiheit, Knecht seines Herrn und darin sich selbst 1

Parmenides 133d 8–134a 2.

II. Herrschaft und Tugend

83

dienend, auch wieder, im Rahmen seiner Möglichkeiten, Herr seiner selbst zu sein. Das Asymmetrische des Verhältnisses von Herr und Knecht ergibt sich dann aus seiner pädagogischen Dimension, die jedem das ihm Angemessene zuteilt. In einem asymmetrischen Lehrverhältnis gelangen beide zu einem ihnen entsprechenden Lernen. Der Knecht fragt dann von und aus sich selbst nach sich selbst und seinem Nicht-Selbst und der Herr antwortet für sich wie aus sich, wie auch für den Knecht als sich selbst. Mit Hilfe seines Herrn hat der Sklave die Gelegenheit, seine tyrannische Selbstversklavung in Frage zu stellen und diese erkennend und befragend zu erfahren als Bedingung der Möglichkeit seiner Freiheit in der Knechtschaft. Der Herr dagegen ermöglicht dem Sklaven diese Erkenntnis, lässt ihn darin an seinem logistikÎn teilhaben und verantwortet so sein Herr-Sein als Dienst an einer den kosmischen Gesetzen entsprechenden, vernünftigen gesellschaftlichen Ordnung. Der Herr ist für den Sklaven die Antwort auf die Frage nach seinem in der Tyrannis der Begierden untergegangenen wahren Selbst, wogegen der Sklave für den Herrn die Frage nach der gerechten Herrschaft ist, die in der Ordnung seiner Seelenteile ihre Antwort findet und in diesem Verhältnis stets selbstbezüglich aufs Neue überprüft wird.2

II. Herrschaft und Tugend Die soziale Position hängt im platonischen Gesellschaftsentwurf somit konsequenterweise von den Herrschaftsverhältnissen innerhalb der Seele ab. Gerecht ist die platonische Polis dadurch, dass jeder Bürger in ihr das ihm Angemessene und Seinige tut.3 Dieses ergibt sich aus der Disposition der Seele in der Relation ihrer Seelenteile zueinander. So ist es Aufgabe der wenigen Menschen, deren logistikÎn unumschränkt in ihren Seelen herrscht und dadurch die 2 Das Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in Hegels Phänomenologie des Geistes kann durchaus als Kommentar zu der platonischen Stelle gelesen werden. Die beiden Prinzipien zeigen sich dort, erstens, als zwei Fähigkeiten bzw. Bewusstseinsformen innerhalb des Menschen, die sich, zweitens, im Kampf um Anerkennung zur Konstituierung von Selbstbewusstsein äußerlich setzen und im Anderen wieder zu sich selbst finden und, drittens, über dieses Anerkennungsverhältnis Geschichte und Politik prägen, ja überhaupt erst als Prozess ermöglichen. Ähnlich stellt sich in der Politeia (543a–576b) die Parallele zwischen den Kämpfen in der Seele und den Machtkämpfen in der Gesellschaft dar, welche in § 4, Kapitel III.2. genauer beschrieben wird. Auch bei Hegel handelt es sich um ein Ringen der herrscherlichen Vernunft mit dem sklavischen Trieb, welches politische Verhältnisse als Selbstverhältnisse antizipiert. Siehe hierzu G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt am Main 1986; S. 145–155 und ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 1986, § 430–§ 435. 3 Politeia 433b 1–c 2.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

wahre Einsicht in das Wesen des Seins ermöglicht, auch die Herrschaft in der bestmöglichen Polis auszuüben: „Also vermöge der kleinsten Zunft und Abteilung derselben [der gerechten Polis] und der dieser innewohnenden Erkenntnis, der nämlich, welche versteht und befiehlt, wäre die ganze naturgemäß (katJ —ýsin) eingerichtete Stadt weise.“4

Die dem logistikÎn zugeordnete Tugend (˜retÞ), d. h. das Vermögen, etwas auf bestmögliche Weise zu verrichten, ist die Weisheit (so—ßa) als die höchste Form von Einsicht und Erkenntnis. Das katJ —ýsin deutet daraufhin, dass der ideal konstituierten Polis die kosmischen Gesetze zugrunde liegen, indem der ordnungsstiftende nou= ò, welcher in der Natur waltet, durch die Weisheit der Herrscher auch auf die Gesellschaft übertragen wird.5 Ebenso ist für Platon die Bedingung der Möglichkeit für die Herrschaft des logistikÎn in der Psyche eine naturgegebene, unabänderliche Tatsache, die gleichwohl ethisch-metaphysisch gegründet ist und darin dem Menschen eine schicksalhafte Selbstverantwortung für seine Seelendisposition auferlegt. Die Weisheit der wenigen Herrscher gleicht das Vernunftdefizit der vielen anderen Menschen aus, da diese durch das Regiment der Weisen an deren Vernunft teilhaben und von ihr zu ihrem eigenen Guten beherrscht werden. Die naturgemäße Ordnung des alles beherrschenden kosmischen nou= ò ist somit auf gesellschaftspolitischer Ebene hergestellt.6 Nächstdem geht es Platon um die Aufrechterhaltung dieser Ordnung und deren Verteidigung gegenüber Feinden von außen. Dies ist in der gerechten Stadt Aufgabe des Wächterstandes, welcher dem qumoeidÝò in der Seele entspricht und dessen Tugend im Sinne der bestmöglichen Handlungsweise die Tapferkeit (˜ndreßa) ist. Diese ist definiert als Bewahrung und Aufrechterhaltung „der von dem Gesetz durch die Erziehung eingeflößten Meinung über das Furchtbare, was und welcherlei es ist.“ Des Weiteren muss diese Aufrechterhaltung beständig sein, „weil sowohl, wer in Schmerzen ist, sie durchführen soll, als wer in Lust, und in Begierde sowohl als in Furcht, und sie nicht fahren lassen.“7 Psychologisch betrachtet sind auch die weisen Herrscher im Besitz der Tapferkeit, da ohne die bestmögliche Unterstützung des qumoeidÝò die für die Weisheit notwendige konsequente Aufrechterhaltung der Herrschaft des logistikÎn in der Seele gar nicht möglich wäre. Die gerechte Polis im Ganzen hinPoliteia 428e 8–11. Platons naturphilosophische Begründung für die Herrschaft des nou= ò im Kosmos wird in § 6 der vorliegenden Arbeit ausgeführt. 6 An der berühmten Stelle von den Philosophenkönigen in der Politeia (473c 13– e 6) präzisiert Platon diesen Sachverhalt programmatisch. Vgl. § 4, Kapitel I.3.c) ,Der Abstieg in die Höhle‘ der vorliegenden Arbeit. 7 Politeia 429c 7–d 2. 4 5

II. Herrschaft und Tugend

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gegen hat Anteil an der Tapferkeit durch die Wächter (—ýlakeò), welche die von den Weisen vorgegebene Ordnung unter allen Umständen zu bewahren haben. Dem ™piqumhtikün nun wird nicht direkt die Tugend der Besonnenheit (sw—rosýnh) zugeordnet, gleichwohl bezieht sie sich maßgeblich auf die im begehrenden Seelenteil angenommenen Kräfte: „Ein gewisser Anstand ist doch [. . .] die Besonnenheit und eine Mäßigung gewisser Lüste und Begierden, wie sie sagen; und stärker als er selbst pflegen sie ihn [. . .] zu nennen [. . .]. Nun ist doch stärker als er selbst lächerlich. Denn wer stärker als er selbst wäre, wäre doch offenbar auch schwächer als er selbst, und der Schwächere stärker; denn es ist doch immer derselbe, der in allen diesen Redensarten auf beiden Seiten aufgeführt wird.“8

Wer Herr seiner selbst und Herrscher über seine Lüste ist, ist im eigentlichen Sinne er selbst, im Gleichklang mit der lebensimmanenten kosmo-psychischen Grundbewegung und Ordnung. Es ist dies die einzige dem Menschen angemessene Lebensweise, da jede andere fremdbestimmt und wesensfremd wäre. Platon richtet sich gegen die Redewendung ,stärker als man selbst sein‘, um der sich naturgemäß selbst realisierenden und der äußerlich fixierten und vom eigenen Wesen wegführenden Lebensweise nicht den gleichen ontologischen Status einzuräumen. Herr und Sklave treffen sich nicht auf gleicher Ebene. Dennoch lässt Platon diese Redensart als eine Analogie für die Ordnung der Seelenkräfte gelten: „Allein mir scheint diese Erklärung sagen zu wollen, dass es in dem Menschen selbst an der Seele irgendein Besseres gibt und ein Schlechteres; und wenn nun das von Natur Bessere über das Schlechtere Gewalt hat, dies nennt sie stärker sein als er selbst, denn dies lobt sie ja; wenn aber durch schlechte Erziehung oder Umgang von der Menge des Schlechteren das kleinere Bessere überwältigt wird, dieses scheint sie als einen Schimpf zu tadeln und dies schwächer sein als er selbst zu nennen und den so Gestimmten einen Zügellosen.“9

In dieser intuitiven Übereinstimmung liegt die Besonnenheit der gerechten Stadt, welche dem Besseren das Recht einräumt, über das Schlechtere zu herrschen. Wenn an dieser Stelle auch die Frage offen bleibt, wie die von ihren Begierden beherrschte Menge die notwendige Einsicht und Tapferkeit aufbringen soll, um zu dieser Zustimmung freiwillig zu gelangen, setzt sie Platon doch voraus und siedelt sie in der ganzen Polis über alle Stände verteilt an. Die Besonnenheit ist durch die ganze Stadt verbreitet „und lässt in völligem Einklang zusammenstimmen die Schwächsten mit den Stärksten und Mittleren, seien sie es nun an Einsicht oder an Stärke oder auch an Zahl oder Reichtum oder was dergleichen du sonst willst. So dass wir also vollkommen 8 9

Politeia 430e 8–431a 2. Politeia 431a 4–b 3.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten richtig sagen können, diese Einmütigkeit sei Besonnenheit, nämlich des von Natur Besseren und Schlechteren Zusammenstimmung darüber, welches von beiden herrschen soll, in der Stadt sowohl als in jedem einzelnen.“10

Grundlage der gerechten Polis ist somit die Besonnenheit im Sinne der Übereinstimmung aller, dass das Gute über das Schlechte herrschen soll. Ansonsten hätten wir es mit einer Tyrannei des Guten bzw. der Weisen zu tun. Die Vernunft wäre dann von den Herrschern aufoktroyiert und die Beherrschten würden unter diesem Zwang, wenn überhaupt, nur widerwillig an ihr teilhaben. Die naturgemäße Ordnung wäre so auf gesellschaftlicher Ebene nicht realisierbar. Das Einverständnis soll nicht durch Zwang, sondern anhand einer aufklärerischen Darlegung der gesetzgebenden Prinzipien durch die Herrschenden erreicht werden, wie anhand der Analogie von den Ärzten in den Nomoi in anderem Kontext bereits aufgezeigt wurde.11 Die Legislative und die Exekutive sind bei Platon immer mit einem pädagogischen Aspekt verbunden, der den Beherrschten, wenn auch nicht die wahre Einsicht, so doch wahre Meinungen vermittelt. Zwar kann sich nur das logistikÎn des Philosophen zur unmittelbaren Schau der Ideen emporschwingen, doch auf der Ebene des Sinnlichen, Emotionalen und der Vorstellungskraft können auch alle anderen Menschen zu wahren Meinungen gelangen, wenn ihnen seit frühester Kindheit die richtige Erziehung zuteil wird, die Platon die ,musikalische‘ nennt und alle Bereiche des sozialen Lebens, bis hin zur Haartracht, umfasst.12 Diese andauernden psychischen Konditionierungen führen dazu, dass das wahrhaft Gerechte intuitiv als schön und sein Gegenteil als hässlich empfunden wird.13 Auf Grundlage dieser Paideia kann Platon in seiner naturgemäß und gerecht eingerichteten Stadt das harmonische Einverständnis von Herrschenden und Beherrschten postulieren. In allen anderen real existierenden Poleis ist im platonischen Sinne die Besonnenheit wohl nur bei den echten Philosophen und deren Schülern (im Gegensatz zu den Sophisten) zu finden. Gleichfalls ist die vierte Kardinaltugend, die Gerechtigkeit (dikaiosýnh), Produkt dieses Erziehungsprozesses und bezeichnet die bestmögliche Handlungsweise der wohlgeordneten Seele. Gesellschaftlich zeigte sie sich bereits Politeia 432a 3–b 2. Siehe § 2, Kapitel II.1. ,Das logistikÎn des Sklaven‘ der vorliegenden Arbeit. Bei Platon: Nomoi 720a 3–e 5 und 857c 6–e 2. 12 Politeia 376b–412b und 521c 1–540c 10. Die detaillierten Anweisungen, welche sich überall in den Nomoi verteilt finden, gehören natürlich auch in den Bereich der paideßa mousikÞ. In gewissen Kleinigkeiten kann für Platon Wesentliches zum Vorschein kommen. So wird es im Theaitetos (175e 8–9) als etwas typisch Sklavisches beschrieben, wenn man seinen Mantel nicht wie ein freier Mann zu tragen versteht. In den Nomoi (880a 4–6) gilt ein Mann über vierzig Jahre als sklavisch gesinnt (legümenoò ˜ndrapodþdhò), wenn er sich auf Prügeleien einlässt. Dies gilt erstaunlicherweise auch, wenn er sich als Angegriffener zur Wehr setzt. 13 Politeia 430b 3–7. 10 11

II. Herrschaft und Tugend

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darin, dass jeder in der Polis ,das Seinige tut‘14, „dass der von Natur Schusterhafte auch recht tue, nur Schuhe zu machen und nichts anderes zu verrichten, und der Zimmermännische, nur zu zimmern, und die anderen ebenso.“15 Dies ist aber nur ein „Schattenbild“ des eigentlichen psychologischen Wesens der Gerechtigkeit: „In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit, wie sich zeigte, zwar etwas dieser Art, aber nicht an den äußeren Handlungen in Bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige, indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten lässt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zusammenstimmung bringt, [. . .] auch dies alles verbindet und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohlgestimmt, und so erst verrichtet, es betreffe nun Erwerb des Vermögens oder Pflege des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen, dass er in dem allen diejenigen für gerechte und schöne Handlungen hält und erklärt, welche diese Beschaffenheit unterhalten und mit hervorbringen, und für Weisheit die diesen Handlungen vorstehende Einsicht, sowie für ungerecht die Handlungen, welche diese Beschaffenheit aufheben, und für Torheit die solchen vorstehende Meinung.“16

Die Gerechtigkeit definiert sich hier nicht von außen her als einer Weise, materielle Besitzstände zu regeln, sondern bezeichnet das Werden des Menschen entsprechend seiner naturgemäßen seelischen Disposition. Gerecht ist die harmonische Selbstbefreundung des Menschen mit sich und erst dann die entsprechend daraus folgenden Handlungen. Die in der Individualseele realisierte kosmische Ordnung steht in Einklang mit der naturgemäßen gesellschaftlichen Ordnung, in der sie sich hat ausbilden können und findet sich so in ihr wieder. Gleichzeitig vollbringt jeder Seelenteil auf bestmögliche Art und Weise das ihm Angemessene und Angestammte, so dass die Gerechtigkeit auch Voraussetzung für alle anderen Tugenden ist: Durch die Harmonie der Seelenteile führt sie zur Besonnenheit, durch Optimierung und Wohlausgerichtetheit des qumoeidÝò zur Tapferkeit und aufgrund der Seelenleitung durch das logistikÎn zur naturgemäßen Selbstwerdung und weiterhin, den Möglichkeiten entsprechend, zumindest zu wahren Meinungen.17 Gerechtigkeit zeigt sich für Platon als AnerkenPoliteia 433b 1–c 2. Politeia 433c 6–8. 16 Politeia 433c 10–444a 2. 17 Spaemann bemerkt jedoch zur praktischen Darstellung der Seelenteile in der Politeia, dass die meisten Menschen dort nur mit einem Seelenteil vorkommen: „Sie repräsentieren entweder das Epithimetikon oder den Thymos und sind daher der Selbstregierung nicht fähig. Ihre Vernunftleistung besteht im wesentlichen in der Bereitschaft, sich von der Vernunft eines Vernünftigeren regieren zu lassen.“ R. Spaemann, ,Die Philosophenkönige‘, in: O. Höffe (Hrsg.), Platon Politeia, Berlin 1997, S. 164. 14 15

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

nung der kosmischen Ordnung, die gleichermaßen eine Selbstanerkennung des eigentlich menschlichen Wesens ist. Die derart geordnete und handelnde Seele begreift intuitiv das Gerechte und Vernünftige als schön sowie das Ungerechte und Törichte als hässlich und alle ihre Tätigkeiten nach innen und außen spiegeln dies wider, da ansonsten das Angemessene und Harmonische der Seelenteile sich selbst ad absurdum führte. Alle Bürger der platonischen Polis, denen die musikalische Paideia zuteil geworden ist, sind also zumindest im Besitz der Tugenden Besonnenheit und Gerechtigkeit. Die Sklaverei im existentiellen Sinne, von welcher alle Menschen gleich welchen Standes oder welcher Herkunft betroffen sein können, nach Platon eine Selbstversklavung der ungeordneten Seele in Folge eines defizitären logistikÎn, ist in der gerechten Stadt durch eine naturgemäße Bildung und Erziehung weitestgehend abgeschafft. Die Verrichtung niederer Tätigkeiten18 würde von den betroffenen Bürgern einer solchen Polis als ihnen angemessen und der Harmonie und gerechten Ordnung ihrer Seelen und des Gemeinwesens zuträglich begriffen werden. Die Freiheit des Menschen gründet in der Einsicht in die kosmische Notwendigkeit, die in reiner Form nur den weisen Herrschern gegeben ist und sich bei den übrigen Menschen in wahrer Meinung und richtigem Gefühl äußert. Die kosmische Notwendigkeit verlangt aber auch von den einsichtigen Herrschern eine Einübung in diese Art Freiheit, der naturgemäßen Ordnung in sich zu dienen und diese als Herrscher weiterzugeben. In den Nomoi entwickelt Platon eine Dialektik von Herrschen und Dienen als pädagogische Grundlage für die Ausbildung der zukünftigen Herrscher: „Jedermann muss aber über jeden Menschen der Meinung sein, dass einer, der nicht gedient (douleýsaò) hat, wohl auch kein Herr (despüthò) werden wird, der des Lobes würdig ist, und dass man eher darauf stolz sein soll, gut gedient (douleu= sai), als darauf, gut geherrscht (årcai) zu haben, und zwar zuerst den Gesetzen, da dies ein Dienst (douleßan) an den Göttern ist, dann die Jüngeren den Älteren, die ehrenvoll gelebt haben.“19

Allerdings ist diese Form der Vernunftleistung auch nicht zu gering einzuschätzen, da sie eine klare Einsicht oder doch zumindest richtige Meinung von dem, was wahrhaft gut und gerecht ist erfordert. 18 In Athen zu Platons Zeit gab es in diesem Sinne keine sklaventypischen Tätigkeiten, wenn man einmal von den körperlich harten Arbeiten in den attischen Bergwerken absieht. Ansonsten war es durchaus üblich, dass der Handwerker oder Bauer neben seinen Sklaven die gleichen Arbeiten verrichtete. Vgl. hierzu: P. Vidal-Naquet, Athen – Paris und zurück. Die griechische Demokratie von außen gesehen II, München 1996, S. 101. Die sich hier andeutende Frage, ob in der platonischen Politeia überhaupt Sklaven vorkommen, wird in § 4, Kapitel II.2.a) ,Auf der Spur der Sklaven in der Politeia‘ der vorliegenden Arbeit untersucht. 19 Nomoi 762e 1–8.

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Die Übersetzung ,Dienst‘ trifft nicht ganz die Absolutheit dieser Forderung, welche eine völlige Unterwerfung unter die kosmischen Gesetze, hier personifiziert durch die Götter, impliziert. Nur wer geradezu sklavisch der naturgemäßen, göttlichen Ordnung dient, kann auch ein guter Herr und Herrscher werden. Ein Lernen zu befehlen und sich befehlen zu lassen sollte deswegen schon von der Kindheit an geübt werden.20 In der Dialektik von Dienen und Befehlen realisieren sich die kosmischen Gesetze innerhalb der menschlichen Gemeinschaft und pflanzen sich so fort als ein Handlungswissen von Wahrheit, welches bei den Einzelnen zu erweiterten Kompetenzen und dadurch zu mehr Freiheit führt. Platonische Freiheit basiert auf Wissen und dieses Wissen ist bezeichnet als ein Befolgen höherer Einsichten, seien diese vom Einzelnen selbst geschaut oder ihm durch Handlungsanweisungen von anderen äußerlich auferlegt. Dies wird so erstmals in dem frühen platonischen Dialog Lysis entwickelt, anhand eines Beispiels, welches aus dem alltäglichen Leben wohlbekannt ist, der Kindererziehung. Dort fragt Sokrates den Knaben Lysis, ob ihm wohl jemand glücklich zu sein scheint, der dient und nichts tun darf, wozu er Lust hat, was dieser sogleich verneint.21 In der weiteren Befragung stellt sich freilich heraus, dass seine ihn liebenden Eltern ihm so manches verbieten und diese Tätigkeiten, wie beispielsweise das Führen eines Pferdegespanns, von Knechten und Sklaven ausüben lassen. Auch über sich selbst hat der Knabe nur beschränkt Verfügungsgewalt, da ihm ein Knabenführer (paida˘ gwgüò) vorgeordnet ist, ebenfalls ein Sklave, was Sokrates zu dem ironischen Ausruf veranlasst: „Gewiss, das ist arg, dass du, ein Freier, von einem Knecht regiert wirst (doýlou årxesqai).“22 Der Grund hierfür ist nicht, wie Lysis zuerst vermutet, sein junges Alter, sondern das ihm auf diesen Gebieten fehlende Wissen, so dass Sokrates diesbezüglich folgenden Schluss zieht: „Darüber, wovon wir uns richtige Einsichten erworben, wird jedermann uns schalten lassen, Hellenen und Ausländer, Männer wie Frauen; wir werden darin tun, was wir nur wollen, und niemand wird uns gern hindern, sondern wir werden hierin ganz frei sein und auch gebietend über andere, und dieses wird das Unsrige sein, denn wir werden Nutzen davon haben. Wovon wir aber keinen Verstand erlangt haben, damit wird uns niemand verstatten zu tun, was uns gut dünkt; sondern alle werden uns hinderlich sein, soviel sie können, nicht die Fremden allein, sondern auch Vater und Mutter, und wenn uns jemand noch näher verwandt sein könnte als sie. Vielmehr werden wir selbst, was diese Dinge betrifft, anderen folgsam sein, und sie werden uns also fremd sein, denn wir werden keinen Nutzen von ihnen haben.“23 20 Nomoi 942c 8–10: „Darin also muss man sich bereits im Frieden gleich von Kind an üben: anderen zu befehlen und sich von andern befehlen zu lassen.“ 21 Lysis 207d 10–e 2. 22 Lysis 208c 7–8. 23 Lysis 210a 10–c 7.

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An dieser Textstelle ist für das hier zu behandelnde Thema erst einmal wichtig, dass Platon Sklaven in den verschiedensten Bereichen Kompetenzen zuschreibt, die ihnen mehr Rechte einräumen als dem freien Knaben Lysis. Freilich wird hier nur eine Aufgabenverteilung beschrieben, die so in Athen wohl die Regel war, doch stellt Platon diese generell nicht in Frage, wenn auch gegen Ende des Dialogs die Fähigkeiten der Sklaven als Knabenerzieher und Aufseher durch ihre Trunkenheit ironisch konterkariert werden.24 Sklaven können zumindest eine bestimmte Art von Anwendungswissen erwerben und besser ausführen als ein ungeübter Freier. Sein spezifisches Wissen kann dem Sklaven gegenüber dem unwissenden Freien in bestimmten Bereichen mehr Freiraum gewähren. Gleichwohl wird dieses auf Wissen basierende Recht des Sklaven mit dem Nutzen begründet, den alle Beteiligten davon haben. Die Kenntnisse des Sklaven sind also nicht aus dem Wesen der Sache geschöpft (dann wäre er gemäß der platonischen Definition ja auch kein Sklave), sondern rein anwendungsorientiert, wie dies bereits anhand der Sklavenärzte in den Nomoi aufgezeigt wurde.25 Doch auch dort erwerben diese ihr Wissen von den freien Ärzten durch Anleitung oder Beobachtung, d. h. eine ihnen adäquate Vermittlung der höheren Einsicht fand durchaus statt, und so darf auch im vorliegenden Falle vermutet werden, dass der Herr oder eine ihn kompetent stellvertretende Person den Sklaven im Wissenserwerb angeleitet hat oder dass der Herr aus dem einsichtigen Wissen heraus den Überblick über die Verhältnisse wahrend, dem Sklaven entsprechende Anweisungen gibt, sein Anwendungswissen in einem größeren Rahmen einzubringen. Die Weisheit des Herrn unterscheidet sich wesentlich vom Wissen des Sklaven. Erstere ist Resultat des vollendeten Zusammenspiels aller vier Kardinaltugenden unter Leitung des außerordentlich befähigten logistikÎn, letzteres dagegen sind willkürlich erworbene und situativ bedingte Fähigkeiten, gültig in einem begrenzten Anwendungsgebiet. Wissen ist lehrbar, Weisheit nicht.26 Im Rahmen der Kindererziehung dürfte die Herrschaft der Wissenden jedermann und auch den Kindern selbst einleuchten. Politische Führung einer Gesellschaft dagegen, die nach Platon natürlich auch die Richtlinien einer philosophisch-musikalischen Paideia festlegt, bedarf nicht nur eines Anwendungswissens, sondern der Weisheit als einer Einsicht in höhere Gesetzmäßigkeiten. In der Praxis jedoch werden diese Anforderungen kaum berücksichtigt, wie schon Sokrates’ Befragungen seiner ehrenwerten Mitbürger zeigten, die ihn letztlich vor Gericht brachten und zu seinem Todesurteil führten. Er hinterfragte das Wissen von für weise gehaltenen Staatsmännern, die sich auch selbst sehr Lysis 223a–b. Nomoi 720a 9–e 1 und 857c 6–e 1. Vgl. § 2, Kapitel II.1. ,Das logistikÎn des Sklaven‘ der vorliegenden Arbeit. 26 Vgl. hierzu die Erörterung im Dialog Protagoras (318a–334c), inwiefern Tugend lehrbar sei. 24 25

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weise vorkamen, jedoch nur Meinungen von sich gaben und selbstreflektiert nichts Rechtes wussten, sodann von bewunderten Dichtern, die aber nicht aus Weisheit, sondern aus Inspiration und Begeisterung dichteten und auch von kunstfertigen Handwerkern, die in ihrem Bereich wohl einiges wussten, sich dann aber auch in anderen wichtigen Dingen für sehr weise hielten, von denen sie nichts verstanden.27 So wurde Sokrates klar, dass das Delphische Orakel wohl doch recht haben müsse, da es verkündete, dass niemand weiser wäre als Sokrates,28 „denn es mag wohl eben keiner von uns beiden [gemeint ist der jeweilige Gesprächspartner] etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses Wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“29

Es würde zu weit führen, nun auf den sokratischen Begriff des Nichtwissens einzugehen, und es sei bloß angemerkt, dass das Adjektiv ,weise‘ hier wohl eine ironische Konnotation erfährt, die ihm sonst bei Platon nicht zukommt. Bedeutsam für unseren Kontext ist die Analyse des angemaßten Wissens vom Politiker, der seine Entscheidungen aufgrund von wechselhaften Meinungen trifft, bis zum Handwerker, der sich in die Politik einmischt, ohne etwas davon zu verstehen. So betrachtet sind beide austauschbar, vorausgesetzt, der Politiker beherrscht auch ein Handwerk. Beiden fehlt die Einsicht in die naturgemäße kosmische Ordnung, auf welcher auch eine gerechte Gesellschaft gründet und beide unterliegen einer sie täuschenden Selbstbehauptungsstrategie, der das ihnen Angemessene und Gerechte geopfert wird. Die sokratische und damit auch platonische Erkenntnis steht in grundlegendem Gegensatz zu den allgemeinen Paradigmen, wie sie von den Sophisten ihrer Zeit vertreten und auch verbreitet wurden. Dazu gehört, bezüglich des Aspektes von Herrschaft und Knechtschaft, die im Dialog Gorgias von dem Politiker Kallikles vertretene These, dass kein Mensch glücklich sein kann, der irgendwem, und sei es sich selbst, dient (douleýwn)30, als auch die von Thrasymachos in der Politeia vorgetragene Umkehrung dieses Schlusses, dass nur der glücklich ist, der die Macht hat, viele seiner Mitbürger zu Knechten zu machen (doulþshtai).31 Das Gegenteil ist jedoch der Fall, da diese Auffassungen der kosmischen Harmonie und Ordnung diametral entgegenstehen, indem das in der Seele und damit auch in der Gesellschaft zur Herrschaft gelangt, dem eigentlich zu dienen zukommt. Dieser Aufstand eines Teiles gegen das Ganze der 27 28 29 30 31

Apologie 21c 1–22e 7. Apologie 21a 8–12. Apologie 21d 4–10. Gorgias 491e 6–8. Politeia 344b 5–11.

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Seele32, von Platon als Ungerechtigkeit definiert, ist die Selbstversklavung des Menschen unter Berufung auf ein tyrannisches Glück, als Ausdruck der Selbstenteignung durch Fremdbestimmung. Nur die politische Herrschaft der Tugend kann dem sklavischen Charakter die Freiheit geben, sich nicht selbst in die Ketten seiner ihn beherrschenden Zwänge zu legen. Der wahrhaft freie und philosophische Charakter dagegen, der uns von Platon stets in der Person des Sokrates beispielhaft vorgestellt wird, bedarf keiner äußerlichen Herrschaft und zieht den Tod dem Verlust seiner durch Vernunft geleiteten Autonomie vor. So kann Sokrates im Bewusstsein seiner Unschuld in der Verteidigungsrede nicht auf eine Gefängnisstrafe plädieren, um sein Leben zu retten, da das Leben im Kerker für ihn einer „Versklavung (douleýonta)“ entspricht.33 Gleichfalls lehnt er es später ab, wie ein Sklave zu fliehen und im Exil ein unfreies Leben zu führen.34 Prozess, Verurteilung und Hinrichtung des Sokrates legen in außerordentlicher Weise und Deutlichkeit dar, wie sich die individuelle Herrschaft der Tugend unter keinen Umständen versklaven lässt und sich in dieser unbedingten Freiheit als absolutes Gegenteil zur Sklaverei erweist. 1. Kriterien des Herrschens Im Dialog Politikos unternimmt Platon den Versuch, das Wesen und die Definition des gerechten und weisen Herrschers zu entwickeln. Die Kriterien des Herrschens betreffen hierbei gleichermaßen den Staatsmann (politikÎn), den König (basilÝa), den Herrn des Sklaven (despüthn) und den Haushaltsvorstand (oœkonümon), da es sich um die gleiche anzuwendende Kunst handelt.35 Wer im Besitz dieser Kunst ist, kann Herrscher genannt werden, ganz gleich ob er eine entsprechende Aufgabe ausübt oder nicht.36 Die Bestimmung der ,königlichen Kunst‘ des Herrschens soll nun mit der Methode der Diairesis, d. h. der Begriffszergliederung, wie sie bereits im dem Politikos unmittelbar vorangehenden Dialog Sophistes angewandt wurde, durchgeführt werden. Ausgehend vom Oberbegriff des Wissens, im Sinne eines Kenntnis von etwas haben, wird dieses zunächst unterschieden in ein handelndes (praktikÌn) und ein einsehen32 Vgl. Politeia 444b 1–c 1: „Nächst diesem aber, denke ich, müssen wir die Ungerechtigkeit in Betrachtung ziehen [. . .]. Muss sie nun nicht ihrerseits ein Zwiespalt eben dieser drei [Seelenteile] sein und eine Vieltuerei und Fremdtuerei und ein Aufstand irgendeines Teiles gegen das Ganze der Seele, um in ihr zu herrschen, obwohl es ihm nicht zukommt, sondern er ein solcher ist von Natur, dass es ihm gebührt, dem, welches von dem herrschaftlichen Geschlecht ist, zu dienen (douleýein)“. 33 Apologie 37c 2. 34 Kriton 52c 9–d 6. Vgl. hierzu auch § 4, Kapitel I.3.c), Fn. 132 und § 6, Kapitel II., Fn. 12 der vorliegenden Arbeit. 35 Politikos 258e 9–259c 5. Gegen diese Behauptung wendet sich Aristoteles in seiner Politik 1252a 7 ff. 36 Politikos 259b 4–7.

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des (gnwstikÞn) Wissen (beispielsweise Tischlerei und Rechenkunst).37 Letzteres gliedert sich sodann in ein beurteilend-kritisches (kritikün) und ein anordnend-gebietendes (™pitaktikÎn), wie es exemplarisch den reinen Mathematiker von dem die Arbeiter anweisenden Baumeister unterscheidet.38 Bis hierhin kann festgehalten werden, dass die Herrscherkunst auf einem einsichtig-anordnenden Wissen basiert, welches zudem noch ein selbstgebietendes ist.39 Im nun folgenden Teil nimmt die Begriffsgliederung groteske Züge an und führt zu der Definition des Herrschers als eines Hirten über zweifüßige, ungefiederte Landtiere.40 Dieses Ergebnis ist auch für die Dialogpartner unbefriedigend, insbesondere deswegen, weil der sorgetragende Aspekt des Hirten bezüglich des Menschen auch von anderen Berufsgruppen, wie beispielsweise den Kaufleuten, Ärzten oder Ackerbauern, in Anspruch genommen werden kann.41 Das eigentliche Differenzierungskriterium für die Herrscherkunst ist also noch nicht gefunden, so dass ein neuer Anfang genommen wird, der mit dem Mythos von den zwei Weltperioden beginnt. Die Erzählung42 von einem Weltumlauf, den der Gott führt, wodurch die Menschen sorgenfrei im Einklang mit der kosmischen Ordnung leben und einer darauf folgenden Periode, in welcher die Menschen durch eigenes Handeln sich dieser Ordnung annähren müssen, um die Dinge im Lot zu halten, verweist auf zwei Defizite der vorhergehenden Definition des wahren Herrschers: „Dass wir nämlich, gefragt nach dem Herrscher und König aus dem gegenwärtigen Umlauf und Art des Werdens, vielmehr aus dem entgegengesetzten Zeitlauf den Hirten der damaligen menschlichen Herde beschrieben haben und also einen Gott statt eines Sterblichen, daran haben wir gar sehr gefehlt. Dass wir ihn aber als den Herrscher des gesamten Staates angegeben haben, ohne zu bestimmen auf welche Weise, daran haben wir zwar an sich selbst ganz wahr geredet; aber wir haben es weder ganz noch deutlich genug ausgedrückt.“43

Die erste Definition zielte auf einen Herrscher, der bereits eine Gesellschaft vorfindet, die den kosmischen Gesetzen gemäß ausgerichtet ist und in der jeder Politikos 258e 4–5. Politikos 259e 6–260b 6. 39 Politikos 260d 12–e 11. Der entsprechende Gegenbegriff zu ,selbstgebietend‘ (ažtepitaktikÌn) wird hier nicht genannt. Als Beispiele dafür werden die Herolde und Wahrsager angeführt. 40 Politikos 266e 4–267c 2. Auf diese Stelle spielt Diogenes Laertios (Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI, 2, 40) an, wenn er die Anekdote kolportiert, der Kyniker Diogenes sei mit einem gerupften Hahn zur Akademie gelaufen und hätte dabei ausgerufen: „Seht her! Das ist Platons Mensch!“ 41 Politikos 267e 8–268c 3. 42 Genauer wird auf den Politikos-Mythos in § 4, Kapitel II.1. der vorliegenden Arbeit eingegangen. 43 Politikos 274e 10–275a 7. 37 38

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den ihm angestammten Platz einnimmt. Im autonomen Zeitalter der Menschheit muss diese Ordnung allerdings erst hergestellt werden und es gibt zahlreiche Konkurrenz unter den Menschen, die Aufgabe des Herrschens sich anzumaßen, ohne die notwendige Kompetenz dafür mitzubringen. So gilt es nun, die Eigenschaften und Fähigkeiten des Herrschers so kenntlich zu machen, dass er die ihm angemessene Position in der Gesellschaft einnehmen kann. Durch den Mythos ist der Rahmen gesteckt: Die Tätigkeit des Herrschens bezieht sich unmittelbar auf die kosmische Ordnung und erstreckt sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche, ohne dass dadurch Handlungskompetenzen Einzelner beschränkt werden, insofern sie dem Gemeinwohl in seiner naturgemäßen Ausrichtung zugutekommen. Eine derartige Herrschaft bedarf eines übergeordneten Maßstabes, an der sie gemessen werden kann. Zu diesem Zwecke unterscheidet Platon zwei Arten der Messkunst. Die eine vergleicht die Dinge quantitativ im Verhältnis zueinander bezüglich Anzahl, Länge, Größe, Tiefe, Weite oder Geschwindigkeit, wogegen die andere Weise zu messen sich an den Kriterien von Angemessenheit, Tauglichkeit, Geeignetheit und Gelegenheit ausrichtet, d. h. nach Platon an allem, „was in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat“.44 Bezüglich der Herrscherkunst kann der Maßstab nur auf letztere Weise angelegt werden, da es sich um ein Wissen, also etwas Qualitatives, handelt.45 Daraus leitet sich ab, dass keine der bekannten Herrschaftsformen für die gerechte, naturgemäße Herrscherkunst besonders prädestiniert ist, da sie sich alle über quantitative Kriterien wie ,viele‘, ,wenige‘, ,reich‘, ,arm‘, ,freiwillig‘, ,unfreiwillig‘ definieren und nicht nach einem zugrunde gelegten Wissen.46 Das Wohl der Gesellschaft hängt somit also nicht von ihrer allgemeinen Verfasstheit ab, sondern inwiefern es in ihr möglich ist, dass die einsichtigen, wenigen Weisen, Besitzer der königlichen Herrscherkunst, in ihr maßgeblich politischen Einfluss ausüben können: „Notwendig ist also auch unter den Staatsverfassungen (politeiw= n), wie es scheint, diejenige die richtige vor allen andern und einzige Staatsverfassung, in welcher man bei den Regierenden wahrhafte und nicht nur eingebildete Erkenntnis findet, mögen sie nun nach Gesetzen oder ohne Gesetze regieren und über Gutwillige oder Gezwungene und arm sein oder reich: denn hiervon ist gar nichts niemals irgendwie für die Richtigkeit mit in Anschlag zu bringen.“47

Die einzige Richtlinie für die Herrscher ist das Gemeinwohl der Polis, welches sie ihrer einsichtigen Erkenntnis gemäß stets im Blick haben. Zu diesem

Politikos 284e 2–9. Vgl. Politikos 258e 9–259c 10 und 292b 6–7. 46 Politikos 291d 1–292d 2. Die hier gemeinten Gesellschaftsformen sind Monarchie, Tyrannei, Aristokratie, Oligarchie sowie anarchische und gesetzmäßige Demokratie. 47 Politikos 293c 7–d 2. 44 45

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Zwecke dürfen sie auch Bürger verbannen oder töten oder neue Bürger ansiedeln, „solange sie nur Erkenntnis und Recht anwendend ihn [den Staat] erhalten und aus einem schlechten möglichst besser machen, werden wir immer nach diesen Bestimmungen diese Staatsverfassung für die einzig richtige erklären müssen.“

Alle anderen Verfassungen sind lediglich Nachahmerinnen (memimhmÝnaò) jener „von denen die so genannten wohlgeordneten sie besser, die anderen schlechter nachahmen.“48 Ist das wahre, den kosmischen Gesetzen entsprechende Wissen im ganzen Umfang zur Herrschaft in der Gesellschaft gelangt, realisiert sich das gemeinschaftliche Wohl nur noch über die uneingeschränkte, sich freilich selbstgebietende Macht der weisen Herrscher und unter diesen Umständen wären selbst politische Gesetze ein Hindernis, da sie im Einzelfalle höheren Einsichten entgegenstehen könnten, „weil das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen, und dass niemals nichts sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, die gestattet nicht, dass irgendeine Kunst in irgend etwas für alle und zu aller Zeit einfach darstelle [. . .]. Das Gesetz aber sehen wir doch, dass es eben hiernach strebt, wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch, der nichts will anders als nach seiner eigenen Anordnung tun und auch niemanden weiter anfragen lassen, auch nicht, wenn jemandem etwas Neues, Besseres gekommen ist, außer der Ordnung, die er selbst festgelegt hat.“49

Um diesem generellen, verallgemeinernden Charakter auch der besten Gesetze zu entkommen, wäre es optimal, wenn der weise ,königliche‘ Herrscher ohne sie zu Werke ginge, nur den Gesetzen der höheren Einsicht verpflichtet. Praktisch ist es natürlich den wenigen Weisen, selbst unter günstigsten Umständen, gänzlich unmöglich, der Menge der regierten Bürger in jedem Einzelfall und unter wechselnden Bedingungen entsprechend angemessene Rahmenbedingungen für ihr Verhalten zu setzen. Gesetze sind daher ein verwaltungstechnisches Mittel, um dem Großteil aller Fälle grob zu entsprechen und müssten daher zum Teil neu verfasst werden, als auch die Gebräuche des Landes miteinbeziehen. Gleichwohl sind die weisen Herrscher und Gesetzgeber nicht an ihre eigenen Gesetze gebunden. Wenn es die Situation oder ein besonderer Fall erfordert, können sie die Gesetze entsprechend ihrer Weisheit verändern und auch Gewalt anwenden, falls es nur so möglich ist, das Schlechtere durch das Bessere zu ersetzen.50 Politikos 293d 4–e 3. Politikos 294a 12–c 6. Diese Kritik an den Gesetzen wird nochmals verschärft 297e10–301a 3 am Beispiel des Arztes und des Steuermannes. Wenn beide nur starr nach Gesetzen handelten und sich jeder neuen Entdeckung widersetzten, wären sie mit ihren Künsten bald am Ende. 48 49

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Die bis hierhin beschriebenen Herrscher finden sich in einer Situation wieder, die sie nach wie vor auf das Niveau des ,göttlichen Hirten‘ des ersten Weltumlaufes aus dem Mythos erhebt. Platon arbeitet in aller Schärfe und Konsequenz das reine, ungetrübte Bild des Paradigmas heraus, von welchem alle anderen Gesellschaftsformen nur mehr oder weniger gelungene Nachahmungen sind.51 In diesen können die weisen Herrscher nicht frei, nur dem Paradigma verpflichtet, schöpfen, da die Menge der Menschen nichts von der königlichen Kunst und der einsichtigen Erkenntnis weiß und somit ihre ,Hirten‘ auch gar nicht erkennen kann, zumal sie es auch gar nicht für möglich halten wird, dass jemand nur aus Weisheit und Tugend zu herrschen gedenkt, so dass leicht der Verdacht der Tyrannei auf den Weisen fallen könnte.52 Als Ansatzpunkt bleiben für den wahren Herrscher so nur die überlieferten Gesetze, da auf ihnen die nachgeahmten Gesellschaften aufbauen und dort zumindest die Schemen des Paradigmas erkennbar sind, denn sie beruhen auf langer Erfahrung und einige der alten Gesetzesgeber dürften doch als verständig gelten.53 Von diesen Überresten ausgehend sollte durch Überzeugung jedes Einzelnen versucht werden, sich der gerechten, naturgemäßen Polis wieder anzunähren.54 Gleichwohl bleibt es für den Weisen schwer, sich in einer Gesellschaft zu behaupten, in der Menschen politischen Einfluss haben, „die in den größten Dingen die größte Unwissenheit besitzen, und ohnerachtet sie in Staatssachen von gar nichts etwas verstehen, doch meinen, in allen Stücken unter allen Wissenschaften diese gerade am sichersten innezuhaben.“55 Platon setzt jedoch bei diesem Prozess auf die reinigende, kathartische Wirkung der stetigen Annäherung an das Paradigma und vergleicht diesen mit der Goldgewinnung. Hier wie dort müssen erst große Mengen Erde und Steine ausgesondert werden, bis die wertvolleren, dem Gold verwandte Elemente, wie Erz und Silber, zum Vorschein kommen, die durch Schmelzungen und Läuterungen gewonnen werden. Diese, dem königlichen Gold ähnlich gearteten Metalle, stehen im gerechten, naturgemäßen Staat für die Aufgaben und die zu ihrer angemessenen Ausführung notwendigen Seelenbeschaffenheiten der Feldherrn, Richter und Rhetoren.56 Alle diese Tätigkeiten sind zwar unabdingbar für das wohlgeordnete Funktionieren einer Gesellschaft, können aber nicht selbst als Vgl. Politikos 294d 1–297b 6. Entsprechend wird in der Politeia am Ende des zehnten Buches (592a 8–b 5) von der dort entworfenen Polis gesagt, sie sei auf Erden nirgendwo zu finden, aber „im Himmel ist doch vielleicht ein Muster (parÜdeigma) aufgestellt für den, der sehen und nach dem, was er sieht, sich selbst einrichten will.“ 52 Politikos 301b 10–d 10. 53 Politikos 300b 1–c 4. Platon hat hier wohl insbesondere auch an Solon gedacht. 54 Politikos 296a 9–12. 55 Politikos 302a 11–b 4. Gemäß der platonischen Definition der sklavischen Seele könnte die hier beschriebene Gesellschaftsform als Sklavenherrschaft bzw. Doulokratie bezeichnet werden. 50 51

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Staatskunst bezeichnet werden, da ihnen die Selbstbezüglichkeit fehlt im Sinne der Ausgerichtetheit auf und Einsicht in die kosmische Ordnung, die sowohl auf die psychologische, wie auch politische Struktur von Mensch und Gesellschaft verweist und darin erst den dem Herrscher notwendigen Überblick gewährt: „Und soviel ist zu sehen, wenn man alle die bisher beschriebenen Künste betrachtet, dass keine von ihnen sich irgend als Staatskunst gezeigt hat. Denn die wahrhaft königliche soll nicht selbst etwas verrichten, sondern nur über die, welchen Verrichtungen obliegen soll sie herrschen, als Anfang und Antrieb zu allem Wichtigsten im Staat nach Zeit und Unzeit erkennend; die andern aber sollen, was ihnen aufgetragen ist, verrichten.“57

Die Staatskunst ist die anordnende und delegierende, Einsicht habende und Überblick wahrende, das Gesellschaftsgebilde gemäß dem idealen Paradigma zusammenhaltende und gesetzgebende Tätigkeit, zu der nur die wenigen, weisen Seelen befähigt sind. Konkret wird im Folgenden die Tätigkeit des ,königlichen‘ Herrschers, als eines Verknüpfens der unterschiedlichen Charaktere der Menschen, mit der Webkunst verglichen. Hierzu nimmt Platon eine Modifizierung seiner Tugendund Seelenlehre, wie wir sie aus der Politeia kennen, vor. Im Gegensatz zu der dort vertretenen Auffassung, „dass alle Teile der Tugend untereinander freund sind“58, indem unter Führung des logistikÎn jeder das ihm Angemessene verrichtet, wird nun die Möglichkeit einer unausgewogenen und einseitigen Tugendhaftigkeit eingeräumt. Dem Menschen, der im Besitz der Tapferkeit (˜ndreßa) ist, wird Mut, Stärke und Schnelligkeit zugeschrieben, gleichfalls aber kann er sich in anderen Situationen als gewalttätig, brutal und übermütig geben. Ebenso wird der die Besonnenheit (sw—rosýnh) Liebende wegen seiner ruhigen, bedächtigen und sanften Art gelobt, die sich aber auch als schwerfällig, träge und feige erweisen kann.59 In ihren extremen Ausprägungen sind sich diese Tugenden entgegengesetzt und jede, sollte sie in der Gesellschaft die Vorherrschaft erlangen, ist eine Gefahr für die Polis und führt entweder aus übermütiger Angriffslust oder mangelndem Verteidigungswillen in die Sklaverei.60 Bevor Platon darauf eingeht, wie man mit solchen Naturen eine gerechte und 56 Politikos 303d 10–305c 9. Entsprechend werden in der Politeia (415a 1–c 11) den drei Ständen die Metalle zugeordnet: „[. . .] der bildende Gott aber hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen (årxein), Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichsten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern.“ Im Folgenden wird beschrieben, wie penibel auf die Möglichkeit zu achten ist, dass auch einem Bauernkind Gold oder einem Herrscherkind Erz beigemischt sein kann und es entsprechend dem Metall in dem ihm angemessenen Stand aufwachsen soll. 57 Politikos 305c 10–d 6. 58 Politikos 306c 1–2. 59 Politikos 306e 2–307d 5. 60 Politikos 307e 2–308a 10.

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stabile politische Ordnung schafft, sieht er den Herrscher nach eingehender Prüfung auch mit solchen Menschen konfrontiert, die über gar keine Tugend verfügen und aufgrund ihrer bösen Natur der Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit frönen. Solche sollen durch Verbannung oder Tod aus der Polis entfernt werden, da mit ihnen das königliche Webstück nicht zu vollbringen sei. Eine weitere Gruppe sondert Platon extra aus, nämlich solche, die „in Torheit und großer Niedrigkeit des Sinnes sich herumwälzen“, sollen in das Sklavengeschlecht unterjocht werden (doulikÎn pozeýgnusi gÝnoò).61 Für sein fehlendes oder hochdefizitäres logistikÎn soll also niemand gänzlich aus der Gemeinschaft der Gesellschaft oder gar der Lebenden verstoßen werden, doch kann er auch nicht an dem hochdifferenzierten Polisgeflecht teilhaben, da er durch nichts direkt zu dessen Stabilität und Vorzüglichkeit beitragen kann. Aus Platons Sicht kann er als Sklave weder sich selbst noch der Gesellschaft irgendeinen Schaden zufügen und durch eine ihm angemessene, angeordnete Arbeit einen kleinen, ihm einzig möglichen Beitrag zum Wohle des Ganzen und damit auch für sich selbst schaffen. Deutlich zeigen sich an dieser Textstelle die Seeleneigenschaften, die für Platon einen Menschen zum Sklaven prädestinieren: Das defizitäre logistikÎn wird beschrieben als unwissend und unerfahren aufgrund von Dummheit (˜maqßa), als deren Folge eine Unordnung in der Psyche eintritt, die sich als Niedrigkeit, Schwäche und Machtlosigkeit (ta˘ peinüthò) dem ™piqumhtikün gegenüber zeigt. Für das eigentliche Werk der weisen Herrscher bedarf es allerdings edlerer Naturen, bei denen die Tugend zumindest im Rohzustand vorhanden ist und die „mit Hilfe der Erziehung fähig sind, gebildet zu werden und kunstmäßig Vermischung miteinander einzugehen.“62 Diese Verknüpfung ist eine Zweifache: „Zuerst, indem sie, wie es der Verwandtschaft gemäß ist, den ewigen Teil ihrer Seele durch ein göttliches Band vereinigt und nächst dem göttlichen auch den tierischen durch ein menschliches.“63 Das göttliche Band wird beschrieben als die „wahrhaft wahre Vorstellung von dem Gerechten, Schönen und Guten und dessen Gegenteil, wenn sie wohlbegründet der Seele einwohnt.“64 Die mutigen und besonnenen Seelen dahingehend auszubilden und auszurichten ist Aufgabe der weisen Herrscher, da nur sie aufgrund ihrer Einsicht in die ewigen, göttlichen Gesetze dazu fähig sind65, diese auch durch die Gesetze zu vermitteln und so den Bund der Tugend mit der Gerechtigkeit zu stiften.66

61 62 63 64 65 66

Politikos Politikos Politikos Politikos Politikos Politikos

308e 4–309a 10. 309a 11–b 2. 309c 1–4. 309c 6–9. 309d 1–5. 310a 1–7.

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In Verbindung mit der kosmischen Gerechtigkeit erweist sich der Tapfere als besonnen und maßvoll, ohne in Brutalität und Gewalttätigkeit abzugleiten und der Besonnene gewinnt an Stärke und Einsicht, die ihn vor der Einfältigkeit und Feigheit schützt.67 Die Kunst der Herrscher besteht somit darin, die quantitativ und qualitativ stark divergierenden und zum Teil entgegengesetzten Charaktere der Menschen einheitlich auf den Maßstab der Angemessenheit, Tauglichkeit und Geeignetheit in Bezug auf die kosmische Ordnung hin auszurichten. Die zweite Verknüpfung, die Verbindung von Tierischem und Menschlichem, betrifft die Stiftung von angemessenen Ehen, wobei die Partnerwahl nicht von der Bequemlichkeit geleitet sein sollte, sich einen charakterlich möglichst ähnlichen Menschen zu suchen, sondern im Gegenteil sollte sich der Tapfere mit der Besonnenen und umgekehrt zusammentun, damit sich die Tugenden auch blutsmäßig vermischen und so die Gefahr von zwei getrennten, einseitig begabten Gruppen in der Gesellschaft gebannt wird.68 Das Werk der weisen Herrscher besteht also im Zusammenknüpfen der unterschiedlichen Tugenden und Charaktere zu einer einheitsstiftenden Ordnung, die im Einklang mit den göttlichen, kosmischen Gesetzen des Guten und der Gerechtigkeit ist.69 Die Vollendung dieser so geschaffenen Gesellschaft ist, „dass ineinander eingeschossen und verflochten werde der tapferen und der besonnenen Menschen Gemütsart, wenn die königliche Kunst durch Übereinstimmung und Freundschaft beider Leben zu einem gemeinschaftlichen vereinigend, das herrlichste und trefflichste aller Gewebe bildend, alle übrigen Freien und Knechte (doýlouò) in den Staaten umfassend, unter diesem Geflechte zusammenhält und, wieweit es einem Staate gegeben sein kann glückselig zu werden, davon nirgend etwas ermangelnd herrsche und regiere.“70

Die Sklaven werden hier ausdrücklich neben den Freien als Teil des Staates begriffen und sind somit auch Gegenstand der ,königlichen‘ Kunst der Herrscher. Damit nicht genug, werden sie sogar in das Glücksversprechen, das die weise Herrschaft beinhaltet, mit einbezogen. Es ist H. Klees also zu widersprechen, wenn er behauptet, Sklaven gehören nicht zu den Untergebenen des Herrschers und deren Wohl sei bei der Ausübung der ,Staatskunst‘ nicht berücksichtigt.71 Zwar findet eine Aussonderung statt, wenn Platon die Unverständigen Politikos 309d 11–e 12. Politikos 310b 1–e 5. 69 Politikos 310e 6–311a 2. 70 Politikos 311b 8–c 7. 71 H. Klees, Herren und Sklaven. Die Sklaverei im oikonomischen und politischen Schrifttum der Griechen in klassischer Zeit, Wiesbaden 1975, S. 175, Fn. 199. Er wendet sich damit gegen G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 34, der die platonische Definition des Herrschers als Wissendem im Gegensatz zu den Beherrschten, denen das Wissen zu herrschen und sich selbst zu beherrschen fehlt, auch auf die daraus folgende notwendige Behandlung der Sklaven bezieht. 67 68

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und vom begehrlichen Seelenteil Unterjochten zu Sklaven macht und sie so nicht bei der Verknüpfung der Tugenden zum Gesellschaftsgeflecht durch den Herrscher einbezieht,72 jedoch verweist dies nur darauf, dass solcherlei Naturen nichts Substantielles zum stabilen Aufbau der Polis beizutragen haben. Jeder Einzelne trägt unter Anleitung und Wohlausgerichtetheit auf die gerechte Ordnung den Teil seiner Tugenden und Talente bei, die dem Ganzen angemessen sind. Da die sklavische Seele über solche aber nicht verfügt, bleiben für sie nur beaufsichtigte Arbeiten übrig, die weder Vernunft noch Mut oder Besonnenheit von sich aus erfordern. Diese und damit die sie Ausführenden sind aber durchaus Teil des wohlgeordneten Ganzen der Gesellschaft und tragen darin zum Gelingen des ,Webstücks‘ bei, wovon auch sie profitieren. Bereits zu Beginn des Politikos wird die herrscherliche Kunst auf alle Gesellschaftsbereiche bezogen, indem gesagt wird, dass sie sowohl für den Politiker als auch für den König, den Herrn des Sklaven und den Haushaltsvorstand gilt.73 Sie wurde daraufhin als ein einsichtiges, anordnendes und sich selbstgebietendes Wissen beschrieben, welches über den Mythos zum Bild des göttlichen Hirten führte. Dieser bedarf keiner menschengemachten Gesetze, es sei denn, um diese gemäß der kosmischen Gesetze zu modifizieren, darin seine Mitbürger zum Besseren zu beeinflussen und so schließlich zu der ihm angemessenen Herrschaft ausübenden Position zu gelangen. Die Bedeutung der politischen Gesetze nimmt dann wieder ab und beschränkt sich darauf, auf den Charakter und die Tugenden der Menschen positiv einzuwirken. Die politische Praxis selbst besteht in der Delegierung von Aufgaben gemäß der Einsicht des Herrschers und seiner Ausrichtung am übergeordneten Gemeinwohl und ist an keine weiteren Gesetze gebunden. Der Realpolitiker hat somit fast wieder die ihm zustehende Position des ,göttlichen Hirten‘ erreicht.74 Als Herr über seine Sklaven oder als Haushaltsvorstand bedarf es für das einsichtige Oberhaupt allerdings sowieso keiner Gesetze, da die naturgemäße Ordnung im kleinen Rahmen bereits hergestellt ist. Wohlgemerkt gelten hier aber die gleichen strengen Kriterien, die zur Herrschaft legitimieren, wie für den Herrscher über die ganze Gesellschaft auch. Ebenso kann nur der Sklave sein, dem aufgrund einer spezifischen Seelendisposition kein anderer Platz in der Gesellschaft zukommt. Hier hat er vermittels seines Herrn Anteil an der vernünftigen Ordnung, die er mangels einsichtigen logistikÎn selbst nicht erkennen kann, und fügt sich so auf angemessene Weise in das große Ganze. An anderer Stelle würde er gegen die kosmischen Gesetze und damit gegen die gerechte Vgl. die bereits zitierte Stelle Politikos 308e 4–309a 10. Politikos 258e 9–259c 5. 74 Das Ideal des ,göttlichen Hirten‘ wird zumindest als Paradigma auch in der Politeia angestrebt. Aufschlussreich dazu ist u. a. die Textstelle über die Unnötigkeit von Gesetzen, Politeia 425a 11–427a 8. 72 73

II. Herrschaft und Tugend

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Gesellschaft und so schließlich gegen sich selbst handeln. Gesetze, die ihm eh nicht einsichtig wären und die den Handlungsspielraum des berufenen Herrn zum Schaden des Ganzen einschränken könnten, sind dann überflüssig. In den Nomoi werden die Kriterien des Herrschens um einen Katalog von Herrschaftsansprüchen erweitert. Platon unterscheidet deren sieben: Die Herrschaft der Eltern über ihre Kinder, die der Edlen über die Gemeinen, der Älteren über die Jüngeren, der Herren (despütaò) über die Sklaven (doýlouò), der Starken über die Schwachen, der Wissenden über die Unwissenden und der Glücklichen über die Unglücklichen.75 Einleitend dazu wird die Unvermeidlichkeit der Unterteilung der Bürger in Herrscher und Beherrschte festgeschrieben. Die Herrschaft der Starken über die Schwachen ist „unter allen Lebewesen am weitesten verbreitet und auch der Natur gemäß“, im Bereich der menschlichen Gemeinschaft aber zeigt sich dieses biologische Herrschaftsmodell im Herrschaftsanspruch des Wissenden über den Unwissenden, der ebenfalls als „naturgemäß“ beschrieben wird, da es sich um die eigentliche ,Herrschaft des Gesetzes‘ handelt, die „ihrer Natur nach über Freiwillige und nicht mit Gewalt ausgeübt wird“.76 So wie die natürliche Ordnung Bestand hat und Ermöglichungsgrund allen Werdens ist, müssten sich auch die Menschen in die auf das kosmische Gesetz ausgerichtete politische Ordnung einfügen, welche die Herrschaft der Vernunft über die Unvernunft ist. Der weise Herrscher ist demnach „von Natur zur Herrschaft berufen“.77 Gleichwohl ist aufgrund der Vielzahl von Herrschaftsansprüchen und ihrer zum Teil entgegengesetzten Natur mit Konflikten zu rechnen.78 Die absolute Priorität des Herrschaftsanspruches der Vernunft dürfte nicht allen Menschen einsichtig sein, die ihrerseits wieder ihre Legitimation zu herrschen aus der Herkunft oder ihrem Alter ableiten. Der ,göttliche Hirte‘, dem sich alle freiwillig fügen, bleibt ein Idealbild, dem es sich zwar anzunähren gilt, das aber nie gänzlich erreicht werden kann, da die makellose, unkorrumpierbare Vernunft eines Gottes verbunden mit dessen schöpferischer Durchsetzungskraft nicht im Bereich des Menschenmöglichen liegt. Dies verdeutlicht Platon auch in den Nomoi anhand des Kronosmythos vom Goldenen Zeitalter: „Weil nämlich Kronos erkannte, dass [. . .] keine einzige menschliche Natur fähig ist, in eigener Machtvollkommenheit alle menschlichen Angelegenheiten zu verwalten und dabei nicht von Übermut und Ungerechtigkeit erfüllt zu werden, [. . .] setzte er damals als Könige und Herrscher über unsere Staaten keine Menschen, sondern Wesen göttlicheren und besseren Ursprungs, nämlich Dämonen, so wie wir es jetzt bei den Schafen und allen zahmen Tierherden tun: nicht Rinder über Rinder, nicht

75 76 77 78

Nomoi 689e 4–690c 14. Nomoi 690b 4–c 6. Ebd. Nomoi 690d 3–5.

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Ziegen über Ziegen setzen wir ihnen als Führer ein, sondern wir selbst herrschen über sie, ein besseres Geschlecht als sie.“79

Die Beziehung von Hirte und Herde ist als politisches Herrschaftsverhältnis nicht gänzlich zu verwirklichen, da sich Herrscher und Beherrschte auch bei größter charakterlicher und intellektueller Unterschiedenheit dennoch zu ähnlich sind. Um ungerechtfertigten Herrschaftsansprüchen vorzubeugen, erstellt Platon in den Nomoi eine Gesetzgebung, der sich auch die obersten Herrscher zu beugen haben. Die Herrschenden sollen nicht in der Lage sein, Gesetze zu geben, die lediglich dazu dienen, ihren Machterhalt zu sichern80 und das Volk so unter das Joch von Parteienherrschaften bringen.81 Das kosmische Gesetz, umgesetzt in eine politische Gesetzgebung, wird damit zum eigentlichen göttlichen Hirten der Bürger und die Herrscher in der Gesellschaft werden so zu „Sklaven des Gesetzes (årxonteò dou= loi tou= nümou)“82. 2. Hierarchien des Dienens Der platonische Gesellschaftsbegriff entfaltet sich schrittweise zu einer Hierarchie des Dienens, deren Aufbau davon bestimmt ist, inwieweit die ausgeübte Tätigkeit selbst ursächlich (aœtßwn) oder lediglich mitursächlich (sunaitßwn) ist. Auf die bereits erwähnte Analogie von Webkunst und Herrscherkunst verweisend,83 räumt Platon den produzierenden Gewerben eine für die Gesellschaft grundlegende Funktion ein: „Die nun irgendein, sei es nun kleines oder großes Werkzeug im Staat verfertigen, diese müssen wir insgesamt als Mitursachen setzen. Denn ohne diese könnte weder ein Staat (püliò) noch eine Staatskunst (politikÞ) jemals bestehen, aber keines davon können wir doch als ein Werk der königlichen Kunst (basilikh= ò ærgou tÝxnhò) ansehen.“84

In der nun folgenden Aufzählung85 gesellen sich zu den Werkzeugmachern alle Arten von produzierenden Handwerkern wie Töpfer, Schmiede, Zimmermänner, Schneider, Köche und neben noch einigen anderen Berufen auch die Nomoi 713c 7–d 6. Nomoi 714b 3–715d 6. Gemeint ist die Ableitung politischer Gesetze aus den kosmischen. Hierauf werde ich in § 4, Kapitel III.3. und § 6, Kapitel II. zu sprechen kommen. 81 Nomoi 832b 9–d 6. 82 Nomoi 715c 9–d 8. 83 Politikos 281c–e. 84 Politikos 287d 2–7. 85 Politikos 287e 4–289a 6. 79 80

II. Herrschaft und Tugend

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Bauern. Sie alle bereiten die Grundlagen für die Bedingung der Möglichkeit einer funktionierenden und bestenfalls auch gerechten Polis vor, verursachen diese aber nicht selbst und sind nicht Teil der Herrscherkunst.86 Nebst der produzierenden Bevölkerungsgruppe werden nun auch jene Berufe untersucht, in denen Menschen Handlungen vollziehen und welche wir heute im weitesten Sinne Dienstleister nennen würden, von Platon aber als „Sklaven und alle anderen Diener (doýlwn kaÍ pÜntwn phretw= n)“87 bezeichnet werden. Es wird vermutet, dass sich in diesem Bereich welche finden ließen, die Anspruch auf Ausübung der königlichen Kunst erheben könnten. Zuerst sind in dieser Gruppe die gekauften Sklaven zu erwähnen, die nach allem bisher Gesagten natürlich am wenigsten die Voraussetzung zum Herrschen mit sich bringen.88 Ebenso wenig eignen sich dafür, nach Platon, die freien Bürger, welche die gleichen Tätigkeiten wie die Sklaven verrichten, wenn auch freiwillig. Hierzu zählen Tagelöhner, Söldner und Kaufleute. In der Beamtenschaft hingegen, die ja mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt ist und darin auch, zumindest theoretisch, das Allgemeinwohl im Auge hat, zeigen sich zwar Menschen, die ein Anrecht auf die königliche Kunst erheben, da jedoch auch die Beamten nur mitursächliche Dienstleister sind, kann es nicht sein, die Herrscherkunst „in irgendeinem dienenden Zustande suchen zu wollen“.89 Dies gilt selbst noch für die Priesterkaste, deren Dienst ja darin besteht, als Dolmetscher zwischen Göttern und Menschen zu fungieren und auch ein ägyptischer Priesterkönig, dem seine Aufgabe durch Geburt zuteil wird, oder ein athenischer Archonkönig, dem u. a. die Pflichten eines Hohepriesters zukommen und der durch das Los bestimmt wird, sind mitursächlich in das Staatsgewebe verknüpft und nicht Verursacher des bestmöglichen Gebildes. Gerade in diesem Bereich der herrscherlichen Amtsausübung, die auf Glück, Geburt oder Ränkespiel und nicht auf Einsicht und Erkenntnis beruht, zeigen sich die merkwürdigsten Gestalten, welche Platon in einem Bild beschreibt90, das an das vielköpfige und wandelbare Seelenungeheuer der Politeia erinnert91 und hinter dem letztlich der machtbewusste Sophist zum Vorschein kommt.92 Auf der Suche nach dem wahrhaft freien und weisen Herrscher in der Gesellschaft hat sich somit die schlimmste und gefährlichste Form der sklavischen 86 87 88 89 90 91 92

Politikos 289a 6. Politikos 289c 4. Politikos 289d 12–e 3. Politikos 290b 12–c 1. Politikos 291a 8–b 2. Politeia 588c ff.; vgl. auch § 2, Kapitel I.2. der vorliegenden Arbeit. Politikos 291c 4–8.

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Seele gezeigt.93 Der gemeine Kaufsklave, der einfache Händler oder Beamte können dagegen geradezu als rechtschaffen und tugendhaft bezeichnet werden. Die Seelen der Bauern und handarbeitenden Menschen, zu welchen wohl auch die Masse der Sklaven zu zählen ist, hat dem ,Gesetz der Adrasteia‘ zufolge, wie es im Dialog Phaidros bezüglich des Sturzes der Seelen nach dem Verlust ihrer Gefieder berichtet wird, mehr von der himmlischen Weisheit geschaut und in sich aufgenommen als die Seelen der Sophisten und Tyrannen.94 In aufsteigenden Stufen folgen auf den Bauern die Dichter und Künstler, dann die Wahrsager und Priester, darauf die Sportler und Ärzte. Am drittmeisten hat die Seele eines gewerbetreibenden Staatsmannes geschaut, am zweitmeisten die eines verfassungsmäßigen Königs oder kriegerischen Strategen. Der eigentliche Anwärter auf Ausübung der königlichen Kunst kann, nach Platon, aber nur der sein, dessen Seele am meisten von der Wahrheit geschaut hat, ein Mann, der sich als Freund der Weisheit und Schönheit zeigt und auch als Diener der Musen und der Liebe bezeichnet wird.95 Dieses Dienen allerdings ist ein freier und selbstursächlicher Dienst aus Einsicht und ungetrübter Liebe zur Weisheit. Alle anderen Tätigkeiten in der Gesellschaft dagegen sind mitursächlich und bestehen in funktionalistischen, dienstleistenden Handlungen, welche nicht ihren Zweck in sich selbst haben und mangels Einsicht nicht notwendigerweise das Gute, Wahre und Schöne zum Ziel haben. In diesem Rahmen fällt auch der Sklave nicht weiter auf, der ja, je nach Geschick, durchaus in der Lage ist, alle dienstleistenden wie auch produzierenden Tätigkeiten vom Landwirtschaftlich-Handwerklichen bis zum Verwalterisch-Vermittelnden auszuüben. Dies war auch im Athen zu Platons Zeit, aber ebenso davor und danach, durchaus üblich.96 Im Unterschied dazu hatten aber auch freie Bürger im platonischen Gesellschaftsentwurf der Politeia keine politischen Rechte, sofern sie nicht zur einsichtigen Herrscherklasse gehörten. Die Differenz zwischen Freien und Sklaven in der Masse des Volkes nivelliert sich damit auf ein nicht mehr wahrnehmbares Minimum und es bleiben allein die wahrhaft sklavischen Seelen von Tyrannen und Sophisten sichtbar, die aber aus der platonischen Polis mit Sicherheit verbannt gewesen wären.

93 Diese wird als Tyrannenseele in § 4, Kapitel III.2. der vorliegenden Arbeit noch genauer beschrieben werden. 94 Phaidros 248c 2–e 5; vgl. auch § 2, Kapitel I.2. der vorliegenden Arbeit. 95 Phaidros 248d 2–4: „˜llJ tÌn mÊn plei=sta œdou= san eœò gounÌn ˜ndrÎò genhsomÝnou —ilosü—ou ç —ilokÜlou ç mousikou= tinoò kaÍ ™rwtikou= “. 96 Vgl.: L. Schumacher, Sklaverei in der Antike. Alltag und Schicksal der Unfreien, München 2001. Hier insbesondere den Teil über den Arbeitseinsatz von Sklaven, S. 91–238. Als bestes Beispiel dafür sind uns die Arbeiten am Erechtheion auf der athenischen Akropolis in den Jahren 409–407 vor unserer Zeitrechnung überliefert. Aus den Abrechnungen geht deutlich hervor, dass Sklaven neben ihren Herren den gleichen Arbeiten nachgingen.

III. Gleichheit und Gerechtigkeit

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So gesehen könnte man bei Platon von einer Abschaffung der Sklaverei reden oder aber auch von einer Generalversklavung der Bevölkerung. Letzteres bezeichnet jedoch eine Umschreibung der Tyrannei, deren größter Feind Platon war. Die scheinbare Volksversklavung dient Platon dann auch zur Erlangung einer höheren Form von Freiheit: Der Freiheit der versklavten Seelen, wie sie nur in einer Gesellschaft erreicht werden kann, wo jede Form des Sklavischen aus dem Bereich der Herrschaft, der Herrschenden und der politischen Einflussnahme verbannt ist.

III. Gleichheit und Gerechtigkeit Die Untersuchung verschiedener Herrschaftsformen und Klassen des Dienens mit unterschiedlicher Verteilung von Rechten und Pflichten setzt eine genauere Betrachtung der Begriffe Gleichheit und Verschiedenheit in Hinblick auf die Gerechtigkeit voraus. Wie im Kapitel über Herrschaft und Tugend bereits ausgeführt, ist die Gerechtigkeit der Inbegriff aller Tugenden, indem sie deren angemessenes Zusammenspiel koordiniert und so im Rahmen der vorstehenden vernünftigen Einsicht (Weisheit) gerechte und schöne Handlungen hervorbringt, betreffe es nun „Erwerb des Vermögens oder Pflege des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen“.97 In diesem gesellschaftlichen Kontext entwickelt sich aus der Kardinaltugend Gerechtigkeit ein Partialbegriff von Gerechtigkeit als des herrschaftlichen Verteilens von Rechten, Ämtern, Privilegien, Aufgaben und Gütern. Gerechte Verteilung aber erfordert ein Wissen von Gleichheit und Verschiedenheit als Maßstab dessen, inwieweit welche Rechte und Pflichten an wen wann gerecht zu verteilen sind. Bereits im Gorgias unterscheidet Platon zwischen arithmetischer und geometrischer Gleichheit und fügt hinzu, dass letztere viel vermag unter Göttern und Menschen, wohingegen die arithmetische Gleichheit auf dem Impuls des Mehrhaben-Wollens beruht98, dem dadurch Einhalt geboten wird, wie später in der Demokratiekritik der Politeia dargelegt wird, dass „gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit“ ausgeteilt wird99. In den Nomoi dann präzisiert Platon den Unterschied zwischen diesen beiden Arten: „Denn von den zwei Gleichheiten (œsotÞtoin), die es gibt und die zwar denselben Namen haben, in Wirklichkeit aber in vielem einander geradezu entgegengesetzt sind, vermag die eine jeder Staat und jeder Gesetzgeber bei den Ehrungen einzuführen, nämlich die nach Maß, Gewicht und Zahl gleiche, indem er sie bei den Vertei97 Politeia 443e 4–6. Ganz in diesem Sinne sagt Aristoteles, „in der Gerechtigkeit ist jegliche Tugend enthalten“; vgl. Nikomachische Ethik 1229b 28. 98 Gorgias 508a 6–11. 99 Politeia 558c 5–6.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

lungen durch das Los herstellt; aber die wahrste und beste Gleichheit vermag nicht mehr jeder so leicht zu erkennen. Denn sie besteht in einer Entscheidung des Zeus, und den Menschen steht sie immer nur in geringem Umfang zu Gebote; doch alles, was davon etwa den Staaten oder auch dem einzelnen zu Gebot steht, das bewirkt lauter Gutes. Dem Größeren teilt sie nämlich mehr, dem Kleineren weniger zu und schenkt so jedem das, was seiner Natur angemessen ist; und so misst sie auch den an Tugend Größeren stets größere Ehren, den an Tugend und Bildung jenen Entgegengesetzten aber das jeder Seite Gebührende im entsprechenden Verhältnis zu. Denn es ist doch wohl auch das Wesen der Staatskunst für uns stets eben dies: das Gerechte.“100

Diese beiden Begriffe von Gleichheit sind also nicht nur verschieden, sondern, wie Platon festhält, „in vielem einander geradezu entgegengesetzt“. Als Beispiel für die arithmetische Gleichheit wird hier die Verteilung der Ämter durch das Los angegeben, eine in Platons Athen durchaus geläufige Praxis und auch in unsere Zeit ähnelt die Ämtervergabe zuweilen eher einem Glücksspiel als einer proportionalen Zuteilung, welche die unterschiedliche Natur und Kompetenz der zur Auswahl stehenden Amtsanwärter berücksichtigt. Geometrische Gleichheit bestünde aber gerade darin, dem, der ein mehr an Wissen und Tugend hat, auch mehr Ehre und Machtbefugnis zukommen zu lassen. Dementsprechend definiert Platon das Gerechte (tÎ dßkaion) einige Zeilen weiter im Dialog so, „dass man den Ungleichen jeweils das für sie naturgemäß Gleiche zukommen lässt“.101 Auf Grund der unterschiedlichen Natur der Menschen heißt dies aber auch, dass man Ungleichen nicht Gleiches zuteile, da es eben dadurch ungleich würde, falls man dafür nicht das richtige Maß findet. Dieses Maß liegt in der Angemessenheit, das heißt, jedem käme das zu, was ihm von Natur aus verhältnisgerecht zusteht. Geometrisch beschreibt Platon dieses Maß als das, „was in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat“102, und darauf bezieht sich auch Aristoteles, wenn er die Gerechtigkeit (im Sinne des Gleichen) als „Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig“103 definiert. Da diese Mitte bei unterschiedlichen Menschen von verschiedenen Seiten und in divergierendem Maße auszutarieren ist, muss diese Verschiedenheit für eine gerechte Gleichheit berücksichtigt werden, so dass die zugeteilten Rechten und Pflichten eines jeden in Einklang mit seinen naturgemäßen Bedürfnissen und Fähigkeiten stehen oder, um noch einmal Aristoteles als Platon-Kommentator zu zitieren, da an diesem Punkt zwischen beiden Einigkeit herrscht:

Nomoi 757b 1–c 8. Nomoi 757d 7–8. 102 Politikos 284e 2–9. Vgl. dazu § 3, Kapitel II.1. über die ,Kriterien des Herrschens‘ der vorliegenden Arbeit, wo diese Stelle in ihrem Kontext interpretiert wird. 103 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1132a 15–19. 100 101

III. Gleichheit und Gerechtigkeit

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„Es muss dieselbe Gleichheit bei den Personen, denen ein Recht zusteht, vorhanden sein, wie bei den Sachen, worin es ihnen zusteht: wie die Sachen, so müssen auch die Personen sich verhalten. Sind sie nämlich einander nicht gleich, so dürfen sie nicht Gleiches erhalten. Vielmehr kommen Zank und Streit eben daher, dass entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und genießen.“104, 105

Nur diese Art proportionaler Gleichheit kann für Platon Gerechtigkeit gewährleisten, woraus ersichtlich wird, warum in der gerechten Stadt der Politeia (aber ebenso in den Nomoi) die Wächter keinen Besitz, dafür aber politische Macht haben im Gegensatz zum besitzenden, aber politisch rechtslosen dritten Stand. Gleichwohl erweist sich Platon in den Nomoi als sehr klarsichtig und pragmatisch, wenn er die arithmetische Gleichheit der Bürger durch das Los nicht gänzlich abschafft, um der „Unzufriedenheit der Masse“ Rechnung zu tragen, jedoch hoffend und betend, dass die „Gottheit und das gute Glück [. . .] das Los zur gerechten Seite hinlenken“ mögen.106 Die zitierte Textstelle, in welcher die beiden Arten von Gleichheit differenziert werden, leitet Platon mit einem Vergleich des Verhältnisses von Herren und Sklaven ein: „Denn Sklaven (dou= loi) und Herren (despütai) werden wohl nie Freunde werden und ebensowenig, selbst wenn man ihnen die gleichen Ehren zubilligt, schlechte und tüchtige Männer; wird doch für Ungleiche das Gleiche ungleich, wenn es nicht das rechte Maß trifft, und durch dies beides werden die Staaten mit Aufständen erfüllt.“107

Freundschaft und Gemeinschaft setzen geometrische Gleichheit108 und ein gemeinsames Streben109 voraus. Die Verschiedenheit zwischen dem vernunftmäßig begrenzten Sklaven und seinem einsichtig tugendhaften Herrn ist jedoch so groß, dass selbst ein gleiches Streben völlig ungleiche Implikationen für beide mit sich brächte. Der Herr ist den Weg immer schon gegangen, wo der Sklave ihn noch nicht gefunden hat. Geometrische Gleichheit zwischen Herren und Sklaven ist nach Platon immer eine Nullgleichung, die nicht aufgehen kann.

Aristoteles, Nikomachische Ethik 1131a 22–29. Eine ausführliche Diskussion zur Problematik des Gleichheitsbegriffes findet sich bei C.-E. Bärsch, Die Gleichheit der Ungleichen, München 1979 in dem Kapitel ,Das Prinzip der Gleichheit‘ S. 58–113. Dem modernen Postulat der ,absoluten Gleichheit‘ wird hier lediglich der Status einer Hinsichtsgleichheit eingeräumt, wohingegen gesellschaftliche Gleichheit nur als relative, d. h. proportionale Gleichheit gerechterweise umgesetzt werden kann. 106 Nomoi 757e 3–7. 107 Nomoi 757a 1–6. 108 Vgl. Gorgias 507e 6–508a 6. 109 Vgl. Sokrates’ ,Diotima Rede‘ im Symposion 201d 1–212c 3. 104 105

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

Ist im Allgemeinen die Differenzierung der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Rechten und Pflichten im wechselseitigen Zusammenspiel, bei Platon, stets auf das Ziel der maximalen sozialen Harmonie hin ausgerichtet, so ist, konträr dazu, im Falle der Sklaven, die Unterscheidung absolut und ihre Einbindung in die Gesellschaft von Zwang und nicht von Harmonie getragen. Das Gerechtigkeitspostulat erfüllt sich hier nicht aufgrund von arithmetischer oder geometrischer Gleichheit, sondern durch Notwendigkeit. Diese Notwendigkeit, begründet in der unterschiedlichen Seelendisposition von Freien und Sklaven,110 ist naturgemäß den Betroffenen keineswegs einsichtig, denn „da das Tier ,Mensch‘ störrisch ist und in die unvermeidliche Unterscheidung (diürisin), dass man nämlich in der Tat zwischen einem Sklaven (dou= lün) und einem Freien und Herrn (™leýqeron kaÍ despüthn) zu unterscheiden hat, sich offenbar jetzt und künftig keineswegs fügen will, so ist dieses Besitzstück (kth= ma) schwer zu behandeln.“111

Der vernunftschwache Sklave gehört zur Habe, zum Besitz des Herrn, wodurch, nach Platon, eine höhere, notwendige Gerechtigkeit erfüllt wird, da der Sklave nicht wie der Freie über sich selbst herrschen kann. Ein Verhalten, wie es zwischen Bürgern einer Stadt, Freunden oder Familienmitgliedern üblich ist, kommt damit hinsichtlich der Sklaven nicht in Betracht.112 So sind die Umgangsformen zwischen Herren und Sklaven, die Platon empfiehlt, auch wenig freundschaftlich: „Jedes an einen Sklaven gerichtete Wort muss in der Regel ein Befehl sein. Scherzen darf man auf keinen Fall mit Sklaven, weder mit weiblichen noch mit männlichen; denn gerade durch ein solches Verhalten gegenüber Sklaven pflegen viele Leute diese in recht unvernünftiger Weise zu verwöhnen und beiden Seiten das Leben schwerer zu machen: jenen, sich beherrschen zu lassen, und sich selbst, zu herrschen.“113

110 Vgl. § 2, Kapitel II. ,Die spezifische Differenz der sklavischen Seele‘ der vorliegenden Arbeit. 111 Nomoi 777b 4–9. 112 In diesem Kontext ist auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Platon und Aristoteles hinzuweisen, da letzterer die Freundschaft von Sklaven und Freien durchaus für möglich hält: „Sofern er Sklave ist, ist keine Freundschaft mit ihm möglich, wohl aber sofern er Mensch ist. Denn jeder Mensch, kann man sagen, steht im Rechtsverhältnis zu jedem Menschen, der Gesetz und Vertrag mit ihm gemeinsam haben kann, und damit ist auch die Möglichkeit eines Freundschaftsbandes gegeben, insofern der Sklave ein Mensch ist.“ Aristoteles, Nikomachische Ethik 1161b 5–11. Dieser Gedanke dürfte für den Aristokraten Platon nicht nachvollziehbar gewesen sein, da es für ihn nur Freundschaft zwischen gleichen bzw. ähnlichen Menschen geben kann, unabhängig davon, in welchem Rechtsverhältnis sie stehen. Platonische Freundschaft ist ein philosophischer Weg, der von zwei Menschen gemeinsam beschritten wird und kein juristischer Verbund. 113 Nomoi 778a 1–6.

III. Gleichheit und Gerechtigkeit

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Der absoluten Unterscheidung zwischen Freien und Sklaven im platonischen Gesellschaftsentwurf entspricht eine konsequente Behandlung, wodurch die psychisch bedingte Notwendigkeit der gesellschaftlichen Stellung von Sklaven im Rahmen der proportional-geometrischen Gerechtigkeit erfüllt wird. Der Sklave erhält, was ihm naturgemäß zusteht, wodurch er gemäß ihrer Prinzipien aktiv in die Gesellschaft eingebunden ist, wenn er auch nicht freiwillig von sich aus daran partizipiert, da er dafür über sich selbst herrschen können müsste. Entsprechend den mannigfachen Unterschieden der Menschen innerhalb einer Gesellschaft sind die Verschiedenheiten zwischen den Völkern für Platon bedeutsam. Bereits die Trennung von Hellenen und Barbaren scheint ihm fragwürdig, da sie generell die Barbaren nur quantitativ von den Hellenen abhebt und nicht die Verschiedenheiten der einzelnen Völker beachtet. Die Benennung ,Barbaren‘ (bÜrbaroi) impliziert, dass jenseits der Hellenen alle anderen Völker, „die gar nichts untereinander gemein haben und gar nicht übereinstimmen114, [. . .] ein Geschlecht seien“.115 Diese Unterscheidung beinhaltet nicht die Vielfalt der nicht-hellenischen Stämme, sondern stellt eine Gleichheit her, die ihr Merkmal gerade in der Verschiedenheit hat. Gleichwohl sind die Barbaren in qualitativer Hinsicht den Hellenen fremd und feindlich gesinnt, weswegen die untereinander befreundeten und verwandten Griechen sich im Kriegsfalle nicht gegenseitig versklaven (˜ndrapodßzesqai) sollen, sondern statt dessen ihre gebündelte Kraft aufbringen müssen, um abzuwenden, selbst in die Knechtschaft der Barbaren (barbÜrwn douleßan) zu geraten.116 Interessanterweise erwähnt Platon hier nicht, ob denn umgekehrt im siegreichen Falle die Hellenen die Barbaren versklaven sollten, was in diesem Kontext aber wohl bedeutet, dass es diesbezüglich keine Einwände gäbe.117, 118 Bei aller Fremd- und Verschiedenheit zwischen Hellenen und Barbaren liegt für Platon aber der prinzipielle Unterschied nicht in einer Wesensdifferenz, sondern lediglich in der kulturellen Entwicklungsstufe. Die Verhältnisse und Gebräuche der frühen Grie-

114 Im griechischen Text steht für ,nicht übereinstimmen‘ ,˜sum—þnoiò‘, womit das sprachliche Verstehen gemeint ist. Diese Bedeutung liegt auch dem Wort ,bÜrbaroò‘ zugrunde im Sinne von ,unverständlich, rauh sprechend‘. Aus umgekehrter Perspektive wären dann aber auch die Hellenen für anderssprachige Völker Barbaren. 115 Politikos 262d 2–8. 116 Politeia 469b 10–13 und 470b 5–d 1. 117 Aus Politeia 471b 6–8 ergibt sich jedoch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Versklavung von Barbaren auch in der bestmöglichen Polis durchaus legitim sein könnte. Vgl. hierzu § 4, Kapitel II.2.a) ,Auf der Spur der Sklaven in der Politeia‘ der vorliegenden Arbeit. 118 Im Dialog Menexenos 242d 2–6 wird die Meinung vorgetragen und auch gelobt, dass man gegen Griechen bis zum Sieg, gegen Barbaren aber bis zur Vernichtung kämpfen solle. Letzteres entsprach dem attischen Kriegsrecht, Männer des Feindes zu töten und Frauen und Kinder zu versklaven.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

chen ähneln denjenigen einiger Barbarenstämme zu seiner Zeit.119 Wenngleich damit nicht gesagt ist, dass die fremden Völker das Niveau der athenischen Hochkultur jemals erreichen werden, so wird es aber eben auch nicht ausgeschlossen und der Vergleich stiftet gar eine gewisse Verwandtschaft zwischen Hellenen und Barbaren.120 Anthropologisch stehen für Platon der ,Barbar‘ und der Sklave auf einer Stufe.121 Beiden ist gemein, dass ihre Entwicklung rückständig ist, bei dem einen kulturell, bei dem anderen psychisch. Zwar mag es Barbaren geben, die auch in der Lage sind über sich selbst zu herrschen, doch kann in ihrem kulturellen Kontext diese Herrschaft nie eine philosophische sein. Auch der Sklave kann gute Ansätze zeigen, doch es fehlt ihm, wie bereits aufgezeigt, die vernünftige Kompetenz, diese auf das einsichtige Gute hin auszurichten. Sowohl Sklaven als auch Barbaren verfügen aber, nach Platon, zumindest latent, über Entwicklungspotentiale, wobei der Sklave immerhin durch seinen Herrn mit dem Guten in Berührung kommt, obwohl er es nicht immer erkennen kann. Abschließend sei noch kurz das Geschlechterverhältnis bezüglich der Gleichheit erwähnt. Der Unterschied zwischen Mann und Frau scheint für Platon nur ein akzidentieller, arithmetischer zu sein, da die Frau in allen Ständen das ihrer Natur als Mensch Angemessene erreichen kann. Wie in der Politeia ausführlich dargelegt122, kommt den geeigneten Frauen die gleiche Ausbildung zu wie den geeigneten Männern, mit den daraus folgenden entsprechenden politischen Herrscherrechten. Die Seelendisposition der einzelnen Menschen ist nicht von ihrem Geschlecht bestimmt, woraus folgt, dass sowohl Männern als auch Frauen gleichermaßen die Möglichkeit eingeräumt wird, im Spektrum zwischen Herrscher und Sklave jede Position in der Gesellschaft zu besetzen.123 119 Vgl. Politeia 452c 5–d 3. Platon preist hier die Nacktheit bei den Leibesübungen. Diesbezüglich scheint die Moderne wieder auf den Stand des frühen Griechentums zurückgefallen zu sein. 120 Der Entwicklungsvergleich zwischen alten Hellenen und Barbaren geht auf Thukydides zurück. Nach seiner Ansicht ließen sich viele Beispiele finden, „die Übereinstimmung des alten Hellas mit den jetzigen Barbaren nach[zu]weisen“; Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, I. Buch, 6. Abschnitt. Auch Aristoteles berichtet von solchen Zuständen aus der Frühzeit der Griechen. Vgl. Aristoteles, Politik 1252b 18; 1257a 25; 1268b 38 und 1295a 10. 121 Hierzu passt auch der allgemeine Sprachgebrauch zu Platons Zeiten: Bereits ab Mitte des 5. Jhdt. gab es in Attika so viele nichtgriechische Sklaven, dass die Begriffe ,Sklave‘ und ,Barbar‘ homonym verwendet werden konnten. Vgl. hierzu E. Hall, Inventing the Barbarian, Oxford 1989, S. 193 ff. 122 Politeia 449a 1–466d 7. 123 Gleichwohl erwartet Platon von den Männern, dass sie den gleichrangigen Frauen überlegen sind. Hierzu führt Annas aus: Plato „argues that women are not debarred by nature from pursuits conventionally limited to men, and vice versa, but he retains the comfortably superior belief that men will always do better than women in all fields, since they are better equipped both physically and mentally (455a). His argument thus aims at opening to women many pursuits hitherto regarded as exclu-

IV. Das Verhältnis von Göttern und Menschen

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IV. Das Verhältnis von Göttern und Menschen Im Zentrum von Platons Dichterkritik in der Politeia steht der Vorwurf, dass „Hesiodos und Homeros und die anderen Dichter [. . .] für die Menschen unwahre Erzählungen (mýqouò) zusammengesetzt und vorgetragen“ haben.124 Die Geschichten von kriegstreibenden, sich gegenseitig nachstellenden, betrügenden und täuschenden Göttern sind, nach Platon, einfach nicht wahr.125 Selbst wenn ein verborgener Sinn dahinterstecken sollte, die Götter so darzustellen,126 dürften nur die wenigsten davon erfahren127, um den Seelen der Menschen, insbesondere der jungen Menschen, die durch die Erzählungen ihrer Mütter, Wärterinnen und Erzieher mehr als durch alles andere gebildet werden sollen128, keinen Schaden zuzufügen. Das Göttliche muss also dichterisch so dargestellt werden, wie es seinem Wesen nach ist, d. h. vollkommen und gut. Es ist zwar die Bedingung alles Guten, kann aber unmöglich die Ursache von irgendetwas Bösem sein.129 In seiner Vollkommenheit ist das Göttliche unwandelbar, wie auch die tapferste und vernünftigste Seele „am wenigsten von irgendeiner äußeren Einwirkung erschüttert und verändert“ wird130 und leidet keinen Mangel an Schönheit oder Tugend.131 Platon wusste sehr wohl um die Vorbildfunktion der Mythen als auch um ihren gegenwartsstiftenden Einfluss in Kult und Tragödie. Dargestelltes Fehlverhalten der Götter dort kann nur allzu leicht als Rechtfertigungsgrund für menschliches Fehlverhalten dienen. Des Weiteren aber sind für Platon diese anthropomorphen Dichtererzeugnisse über eine sich in endlosen Händeln befindliche Götterfamilie eine philosophische Absurdität. Das Göttliche, allegorisch durch die einzelnen Götter und Göttinnen dargestellt, bezeichnet, platonisch gesprochen, das höchste Prinzip des Guten als der Grundlage der kosmischen Ordnung, die sich in allem Sein und Seiendem vollzieht und welche auch die Gesetze vorgibt, denen die weisen und gerechten sively part of the all-male public world; but he clearly expects men to excel everywhere and so to retain a dominant position. Women are seen as playing a wider, but still second-class role.“ J. Annas, ,Politics and Ethics in Plato’s Republic‘, in: O. Höffe (Hrsg.), Platon Politeia, Berlin 1997, S. 142. Vgl. auch: dies., ,Plato’s Republic and Feminism‘, in: Philosophy 51 (1976), S. 307– 321 und G. Vlastos, ,Was Plato a Feminist?‘, in: ders., Studies in Greek Philosophy, Volume II: Socrates, Plato and their Tradition, Princeton 1995, S. 133–143. 124 Politeia 377d 5–8. 125 Politeia 378b 9–c 7. 126 Politeia 378d 8–9. 127 Politeia 378a 1–10. 128 Politeia 377c 3–6. 129 Politeia 379a 8–c 8. 130 Politeia 380e 10–12. 131 Politeia 381c 1–2.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

Herrscher unterworfen sind. Eine solche Herrschaft nennt Platon dann auch einen „Dienst an den Göttern (qew= n phresßan)“, wobei den Göttern dabei die Rolle der „Gebieter über die Herrschenden (despüthò tw= n ˜rxüntwn)“ zukommt und die Herrscher zu „Sklaven des Gesetzes (årxonteò dou= loi tou= nümou)“ werden.132 Platons dramatische Wortwahl an dieser Stelle der Nomoi impliziert die absolute Notwendigkeit für die Herrscher, gemäß ihrer Einsicht in die kosmischen Gesetzmäßigkeiten, die Gesellschaft zu lenken, da nur so auch die in den Individualseelen angelegte, aber verwirrte kosmische Ordnung wieder hergestellt werden kann oder doch zumindest in der Gemeinschaft gemäß dieser Ordnung gehandelt werden wird. Die Götter gebieten den weisen Herrschern, gemäß der göttlichen Prinzipien zu handeln, wodurch eine gerechte Ordnung, die sich in aller Schönheit in die größere, kosmische Ordnung eingliedert, garantiert wird. Die Herrscher sind in diesem Sinne Sklaven des Gesetzes, dass sie keine eigenen bzw. eigennützigen Rechte geltend machen können, sondern ganz und gar nach der einsichtigen Notwendigkeit handeln, was aber einen Akt der Freiwilligkeit impliziert. Sklave des Gesetzes zu sein bedeutet dann, durch vernünftige Einsicht im Einklang mit sich selbst und der kosmischen Ordnung zu leben und als Dienst an den Göttern die Gesellschaft demgemäß mitzugestalten. In diesem Kontext erfährt das Wort ,Sklave‘ (dou= loò) eine Konnotation, die einer allerhöchsten Auszeichnung gleichkommt. Gemeinschaften, in welchen, aufgrund von Partikularinteressen, gegen die wesentlichen und universalen Grundlagen gehandelt wird, d. h. wo das „Gesetz geknechtet (˜rxümenoò) und machtlos ist“, sagt der Athener der Nomoi den Untergang voraus.133 In der Apologie bezeichnet der platonische Sokrates seine Bürgerbefragungen als „Dienst (phresßan), den ich dem Gott leiste“134, indem er durch forschendes Fragen die Bürger Athens auf das göttliche Prinzip in ihnen, die wohlproportionierte Seele, auszurichten sucht:

132 Nomoi 715b 9–d 8. Der Ausdruck ,Dienst an den Göttern‘ findet sich nochmals in Nomoi 762e 5, dort allerdings in der verschärften Variante mit douleßan anstatt phresßan. An dieser Stelle beschreibt Platon die Notwendigkeit, das Dienen zu erlernen als Voraussetzung dafür, ein Herr zu werden. 133 Nomoi 715d 3–5. 134 Apologie 30a 7. Gleichfalls wurde von Platon in der Antike berichtet, dass er sich selbst als Diener des Apolls verstand. In der von Olympiodoros überlieferten Anekdote (In Alcibiad. 2. 30–31) heißt es wörtlich „‡müdoulon toi=ò kýknoiò“ also ,Sklave des Schwans‘, welcher als Symbol für Apoll gilt. Die Anekdote dürfte von dieser Stelle der Apologie inspiriert worden sein. Es gibt einen ganzen Corpus von Anekdoten, die Platons apollinische Natur oder gar Herkunft beschreiben. Vgl. hierzu: A. Swift-Riginos, Platonica. The Anecdotes concerning the Life and Writings of Plato, Leiden 1976, S. 9–32.

IV. Das Verhältnis von Göttern und Menschen

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„Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überall so sehr zu sorgen als für die Seele, dass diese aufs Beste gedeihe, zeigend, wie nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle anderen menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche.“135

Wirkliche Frömmigkeit ist demnach ein gerechtes Handeln in der Gemeinschaft, welches auf der eigenen Tugend als einer Wohldisponiertheit der Seelenteile beruht. Diese wird erreicht durch eine bedingungslose Ausrichtung auf das göttliche Prinzip, in diesem Falle das apollinische, lichtspendende und Einsicht gewährende, wodurch der Dienst am Gott zur Herrschaft über sich selbst führt. Sind in einer Gesellschaft die Bürger von diesem Geist durchdrungen, als einer Gemeinschaft der Diener Gottes, entfalten sich in ihr die wahren Reichtümer als der realisierten Einheit von Kosmos, Polis und Psyche. Das Problem der eigentlich bestimmenden Herrscher in einem politischen Verbund von Menschen bleibt in der Apologie noch außen vor, statt dessen sehen wir in Sokrates einen Mann der Basis, der sein Handeln als politisch-religiöse Aufklärung versteht, indem er die Autonomie der Bürger von ihrer Bereitschaft, dem Göttlichen als der Realisierung ihres höheren Selbst zu dienen, abhängig macht. Reine Frömmigkeit dagegen, im Sinne von opfern und beten, ist kein Dienst an den Göttern, sondern eher der Versuch eines Handelsgeschäftes, wie Sokrates im platonischen Frühdialog mit dem Priester Euthyphron herausfindet.136 Dieser räumt zwar ein, die Behandlung der Götter sei ansatzweise von der Art, wie auch Knechte (dou= loi) ihre Herren behandeln137, d. h. die absolute Unterwerfung unter einen Herrschaftsanspruch, in diesem Falle unter die göttliche Vernunft, jedoch stellt sich bald darauf heraus, dass der Fromme so lediglich von den Göttern etwas erbittet, dessen er bedarf ohne in der Lage zu sein, eine entsprechende Gegenleistung zu gewähren, es sei denn, den Göttern wohlgefällig zu sein.138 Bereits zuvor wurde in dem Dialog aber bereits dargelegt, dass das Fromme lediglich Attribut des Gottgefälligen ist, nicht aber dessen Wesen.139 Die Götter lieben nicht den frommen Beter und großzügigen Opferer, sondern den, der die der göttlichen Vernunft gemäße und dienende Einsicht in die Notwendigkeit der göttlichen Herrschaft hat. Analog hierzu müsste auch der Sklave die Notwendigkeit seiner Versklavung anerkennen, um der Unordnung in seiner Seele mit Hilfe äußerlicher Herrschaft Herr zu werden.

135 136 137 138 139

Apologie 30a 8–b 5. Euthyphron 13d 3–15b 6. Euthyphron 13d 8. Euthyphron 14c 10–15b 6. Euthyphron 10a 1–11b 1.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

Erkenntnistheoretisch stellt sich das Problem, dass Götter und Menschen auf gänzlich getrennten Erkenntnisebenen fungieren: Die Götter schauen die Ideen selbst, die Menschen dagegen nur deren Abbilder. Die Götter können also nicht unmittelbar Herrschaft über die Menschen ausüben, da sie die trügerischen menschlichen Dinge ebenso wenig sehen können, wie die Menschen die göttliche Wahrheit.140 Götter und Menschen begegnen sich nicht auf der gleichen Realitätsebene und es ist der Mensch, von dem die Annäherung zum Göttlichen durch die Optimierung seiner Seelendisposition ausgeht. In einer mythischen Vorzeit steuerten die Götter die Menschen noch durch einsichtige Überredung,141 so wie im Idealfall auch die Herrscher über die Beherrschten gebieten sollen,142 doch hiermit beschreibt Platon lediglich ein Paradigma, welches an die Orientierung an das göttliche Prinzip zur Organisation der menschlichen Polis gemahnt.143 Das direkte Verhältnis zwischen Göttern und Menschen wird danach wieder unmittelbarer. Platon beschreibt in seinem Spätwerk den Menschen als Marionette der Götter, welche an vielen Fäden hängt, wovon die eisernen die Affekte symbolisieren und der eine dünne goldene Faden die Vernunft charakterisiert.144 Wer dem heftigen Ziehen der mal lustvollen, mal schmerzlichen eisernen Fäden gleichgültig gegenübersteht und statt dessen dem sanften und schönen Zug des goldenen Fadens folgt, ist Herr seiner selbst und sich selbst überlegen, gleichsam nur noch dem Göttlichen unterworfen. Andere bedürfen dazu Helfer (eben jene in der Polis herrschenden Diener der Götter), wieder andere bleiben ewig sich selbst unterlegen. Trotz der Marionettenmetapher ist die Seele als das Göttlichste im Menschen auch sein „allereigenste[r] Besitz“, wie etwas später in den Nomoi betont wird. Die Gottähnlichkeit der Psyche impliziert per definitionem auch ihre Autarkie. In diesem der Seele immanenten Freiheitsmoment liegt sowohl die Chance ihrer umfassenden Selbstrealisierung als auch die Möglichkeit ihres Scheiterns: „Das Höhere und Bessere ist das Herrschende (despüzonta), das Geringere und Schlechtere dagegen das Dienende (dou= la); daher muss man unter dem Seinigen das Herrschende (despüzonta) stets höher schätzen als das Dienende (douleuüntwn). Wenn ich also sage, dass man seine Seele nach den Göttern, die ja die Herrscher sind, [. . .] ehren soll, so habe ich recht mit dieser Aufforderung. Es ehrt sie aber fast keiner von uns, [. . .], in der rechten Weise, sondern meint dies bloß. Denn ein göttliches Gut ist zweifellos die Ehre, von den schlechten Dingen aber verdient keines Ehre; wer aber glaubt, durch gewisse Reden oder Geschenke die Seele zu erhöhen oder durch mancherlei Nachgiebigkeit, ohne sie dadurch aus einer schlechteren zu einer besseren zu machen, der meint zwar sie zu ehren, tut das aber Parmenides 134d 10–e 7. Kritias 109b 7–c 6. 142 Nomoi 719e 11–720e 7 und 857c 6–859b 5. 143 Vgl. hierzu auch die Interpretation des Mythos vom Goldenen Zeitalter in § 4, Kapitel II.1. der vorliegenden Arbeit. 144 Nomoi 644d 8–645c 7. 140 141

V. Zusammenfassung

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keineswegs. [. . .]; unsere jetzige Behauptung aber lautet, dass er sie durch ein solches Tun schädigt und nicht ehrt.“145

Die naturgegebene Freiheit der menschlichen Seele kann sich entweder an den Göttern, d. h. an dem kosmischen Maßstab ausrichten, dass das Gute über das Schlechtere herrscht oder ohne übergeordnetes Maß sich von den Lüsten und Bequemlichkeiten leiten lassen, um diesen damit untertan zu sein. Die Frage von Freiheit und Unfreiheit ist in jedem Falle gebunden an die Kriterien von Herrschen und Dienen. Die theologisch begründete Freiheit der Seele kann aber, in einer auf kosmologischen Prinzipien gegründeten Polis, wieder auf den ihr innewohnenden Freiheitspunkt des Göttlichen hin ausgerichtet werden. Der Mensch ist, nach Platon, das Wesen, welches unbedingt der Herrschaft bedarf, um wesentlich, sowohl individuell als auch in der politischen Gemeinschaft, sich selbst realisieren zu können. Dabei ist der am unabhängigsten, der selbst in der Lage ist, sich seine göttliche Herrschaft zu finden. In welchem Maß der einzelne Mensch versklavt ist, bleibt ihm selbst überlassen. Wer den Göttern nicht direkt untertan ist und sich nicht gänzlich von der göttlichen Vernunft führen lässt, ist Sklave vieler Herren, schließlich auch Sklave seiner selbst. Der Mensch ist umso freier, je weniger Herren er über sich hat und es liegt in seiner eigenen Freiheit, nur noch Sklave eines einzigen Prinzips zu sein. Das Prinzip von Herrschaft und Knechtschaft reicht bei Platon unaufhebbar bis zur höchsten Ebene hinauf.

V. Zusammenfassung Das Verhältnis von Herr und Sklave ist dialektisch strukturiert. Zu ihrem wechselseitigen Bezug aufeinander denkt Platon den jeweiligen Selbstbezug der beiden hinzu. Der Herr erfährt sich dann nicht nur despotisch als Herr eines Knechtes, sondern ebenso als Herr seiner selbst. Gleichfalls ist dem Knecht selbstbezüglich die Freiheit gegeben, sich als Sklave seiner selbst zu sehen und als Knecht seines Herrn sich letztlich selbst zu dienen. Auf diese Weise ist das Verhältnis von Herr und Sklave nicht auf Ausbeutung gegründet, sondern steht im pädagogischen Kontext von Platons politischer Theorie.

145 Nomoi 726a 2–727b 4. Die Gottähnlichkeit der menschlichen Seele als Ermöglichungsgrund der menschlichen Freiheit und die damit verbundene Fähigkeit, gemäß des ,Universalwillens‘ oder aus Eigenwillen zu handeln mitsamt allen Konsequenzen bezüglich der Frage nach Gut und Böse ist auch der zentrale Punkt in Schellings Freiheitsschrift von 1809, die, wenn auch mit teilweise christlichem Vokabular, ein tiefgreifendes Verständnis des antiken metaphysischen Denkens ermöglicht. Vgl. F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt am Main 1988. Der Konflikt zwischen dem nicht immer verständlichen Willen der Götter und den sich in Freiheit dazu verhaltenden Menschen durchzieht auch leitmotivisch die antike Tragödie.

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§ 3 Das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten

Dort zeigte sich die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten analog zu der von Herren und Sklaven. Durch die Weisheit der wenigen Herrscher wird das Vernunftdefizit der vielen anderen Menschen ausgeglichen, wie auch die tapferen Wächter stellvertretend den muthaften Seelenteil in der Gesellschaft repräsentieren. Die dritte platonische Kardinaltugend, die Besonnenheit, welche sich auf den begehrlichen Seelenteil bezieht, zeigt sich gesellschaftlich als Einverständnis der unvernünftigen Masse, alle politische Gewalt in der Polis an die weisen Herrscher zu delegieren. Damit wäre auch die alles umfassende Tugend der Gerechtigkeit realisiert, die im weitesten Sinne darin besteht, dass jeder ,das Seinige tut‘, d. h. das, was seiner Natur angemessen und der Seelendisposition entsprechend ist. Praktisch gewährleistet wird diese zur Gerechtigkeit führende Übereinstimmung der Bürger durch ein ausgeklügeltes pädagogisches System, welches zu einer Selbstanerkennung durch Anerkennung der kosmischen Ordnung führt und die Menschen bereits intuitiv das als schön empfinden lässt, was in Einklang mit dieser Ordnung steht, alles andere aber als hässlich. Gerade die zukünftigen weisen Herrscher müssen intensiv lernen zu dienen und sich befehligen zu lassen, denn nur der geradezu sklavische Diener der kosmischen Ordnung kann diese als Herrscher auf die Gesellschaft übertragen. Das Wissen der Herrscher und Herren liegt in einem genauen Befolgen höherer Einsichten, welches sie befähigt, in der bürgerlichen Gemeinschaft politisch verantwortungsvoll tätig zu sein, wogegen sich das Wissen der meisten anderen Menschen in Form instrumentaler Vernunft zeigt und sich auf bestimmte, begrenzte Anwendungsgebiete beschränkt. Dieses herrscherliche Wissen, von Platon mit den Attributen einsichtig, anordnend und selbstgebietend versehen, ist gleichermaßen Voraussetzung für eine leitende politische Tätigkeit, wie für das Befehligen von Sklaven. Gänzlich dem kosmischen Gesetz verpflichtet, bräuchte ein solcher Herrscher im Idealfall keine weitere Gesetzgebung, sondern würde individuell gemäß dem übergeordneten und wohldisponierten Gemeinwohl entscheiden. Praktisch jedoch hält Platon auch seine Philosophenkönige nicht für unfehlbar und unkorrumpierbar, so dass er sie in den Nomoi einer Gesetzgebung unterwirft, die sie unabänderlich an die kosmische Ordnung bindet und wodurch sie, im positiven Sinne, zu ,Sklaven des Gesetzes‘ werden. Der platonische Gesellschaftsaufbau entwickelt sich so zu einer Hierarchie der Dienenden, wobei lediglich zwischen der ursächlichen Tätigkeit der Herrschenden und den für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung mitursächlichen Tätigkeiten der produzierenden und dienstleistenden Schichten unterschieden wird. Aus dieser Perspektive ist kein wesentlicher Unterschied zwischen freien Bürgern und Sklaven mehr wahrnehmbar. Diese Form von Gleichheit beruht auf dem Prinzip einer geometrischen, proportionalen Gerechtigkeit, bei der es nicht um arithmetische, quantitative Aus-

V. Zusammenfassung

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gleichsverhältnisse geht, sondern die jedem das ihm Angemessene bezüglich seiner Seelendisposition zukommen lässt. Durch einen solchen Gerechtigkeitsbegriff ist für Platon auch die Notwendigkeit begründet, Sklaven mit Zwang in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen, wohingegen die übrigen Bürger durch Einsicht und Überredung das ihnen Angemessene akzeptieren sollten. Ähnlich unverständig wie die Sklaven sind, nach Platon, die nicht griechisch sprechenden Barbaren. Bei ersteren liegt der Grund dafür jedoch in einer psychischen Unterentwicklung, bei den anderen Völkern aber in einer kulturellen Rückständigkeit. Beiden wird gleichwohl die latente Möglichkeit zugesprochen, sich durch Ausrichtung auf die kosmische Ordnung höher zu entwickeln, wobei die Voraussetzungen hierbei für den Sklaven durch die Nähe zum Herrn günstiger sind. Letztlich sind aber auch die Herren und Herrscher in ihrer uneigennützigen und absoluten Ausrichtung auf die göttliche Ordnung Sklaven der Götter und des kosmischen Gesetzes. Erst diese Selbstaufgabe und freiwillige Unterwerfung ermöglicht es ihnen ja, Herren ihrer selbst und Herrscher über Menschen zu sein. Das Prinzip von Herrschen und Dienen zieht sich somit durch alle gesellschaftlichen Schichten und nur damit ist gewährleistet, dass die gerechte kosmische Ordnung auch politisch umgesetzt werden kann.

§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften Sind im dritten Paragraphen die Verhältnisse zwischen Herrschenden und Beherrschten in ihrer formalen Struktur beleuchtet worden, so sollen nun die konkreten Beziehungen zwischen Menschen diesbezüglich dargestellt werden. Dieses Kapitel gliedert sich in einen psychologischen Teil, in welchem es um Erziehungs-, Liebes- und Selbstverhältnisse geht und in einen politischen Abschnitt, der verschiedene Aspekte von Macht und Herrschaft in Bezug auf Freiheit und Versklavung beschreibt. Implizit haben wir es hier mit zwei grundverschiedenen Formen der Sklaverei nach Platon zu tun. Zum einen die von der seelischen Struktur hergeleitete, psychisch bedingte Sklaverei, aus der sich für den betroffenen Menschen eine soziale Position als Sklave ergibt, um sein seelisches Defizit auszugleichen, zum anderen die politisch verursachte Versklavung, welche sich aus ungerechten bis tyrannischen Gesellschaftsverhältnissen ergibt und aus der sich ein seelisch wohldisponierter Mensch durch eigene Kraft zu befreien bestrebt ist. Die psychisch bedingte Sklaverei zeigt sich in Erziehungs- und Liebesverhältnissen, wohingegen der Mensch im Selbstverhältnis seine Existenz im Rahmen eines Gesellschaftssystems auf mögliche politisch verursachte Formen der Sklaverei hinterfragen kann. Diese Art der Unfreiheit kann unter verschiedenen Herrschaftsformen Gestalt annehmen, wobei jedoch die auf psychischer Disposition beruhende Versklavung ein idealtypischer Fall der platonischen Gesellschaftstheorie ist.

I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht 1. Freiheit und Versklavung in Erziehungsverhältnissen Erziehung im wörtlichen Sinne von Bildung (paideßa) ist ein Grundpfeiler der psycho-politischen Philosophie Platons. Hier zeigt sich, ob der Mensch als Herr seiner selbst frei ist oder eine Sklavenseele hat. Um den Rahmen des hier zu behandelnden Themas nicht zu sprengen, werde ich mich vor allem auf diesen Aspekt der platonischen Pädagogik beschränken.1 1 Die Literatur zu Platon bietet zahlreiche Werke, die sich intensiv mit dem Gesamtprogramm der platonischen Pädagogik beschäftigen. Insbesondere die dialektische

I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht

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In den Nomoi definiert Platon Paideia als „Erziehung zur Tugend vom Knabenalter an, welche die Lust und Liebe erweckt, ein vollkommener Staatsbürger zu werden, der es versteht, der Gerechtigkeit gemäß zu herrschen und sich beherrschen zu lassen.“2

Davon abzusetzen ist eine Ausbildung, die auf Gelderwerb (xrÞmata) und Körperkraft, d. h. eine Tätigkeit ohne Vernunft und Gerechtigkeit, zielt. Diese bezeichnet man als „handwerksmäßig (bÜnausün)“ und sie ist eines „Freien unwürdig (˜neleýqeron)“, ja nicht einmal wert, Erziehung (paideßan) genannt zu werden.3 Die platonische Bildung richtet sich also ganz an den vernunftmäßigen Seelenteil unter Ausschließung spezieller instrumenteller Fähigkeiten. Ziel ist es, die Herrscherkunst zu erlernen, d. h. die Fähigkeiten, selber zu herrschen, sich selbst zu beherrschen und sich von Fähigeren beherrschen zu lassen. Hierin erweist sich die Tugend als Tauglichkeit, gerecht zu herrschen und gerechterweise zu dienen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine angelernte Pflichtmoral, sondern um eine Tugendethik, deren Handlungsweisen durch „Lust und Liebe“ eingeübt werden. Der vollkommene Bürger ist zur Freiheit erzogen und weiß deshalb um die Notwendigkeit zu dienen. Im Gesellschaftsgebilde der Nomoi können handwerkliche Tätigkeiten nur von Unfreien oder Metöken ausgeführt werden, da die freien Bürger aufgrund ihrer umfangreichen politischen Pflichten hierzu keine Zeit finden.4 Erst im Vergleich zu philosophisch-politischen Aufgaben erscheint dann die handwerkliche Betätigung als „unedel“ und für einen Freien als „abstoßend“, da ein Bürger nur aus Geldgier seine politischen Rechte und Pflichten zugunsten eines handwerklichen Berufes vernachlässigen würde.5 Bereits in der Politeia wird „niedriges Handwerk“ und „Tagelöhnerei“ denjenigen Menschen zugeordnet, in deren Seelen das Vernünftige von Natur aus Ausbildung hat zu ausführlichen Interpretationsversuchen Anlass gegeben. Als weiterführende Literatur seien hier empfohlen: R. E. Cushman, Therapeia. Plato’s conception of Philosophy, Chapel Hill 1958; H.-G. Gadamer, ,Platos Staat der Erziehung‘, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 5, Tübingen 1985, S. 249–262; W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1933–1947; J. Mittelstraß, ,Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen‘, in: O. Höffe (Hrsg.), Platon Politeia, Berlin 1997, S. 229–249; P. Natorp, ,Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik‘, in: Archiv f. soz. Gesetzgebung und Statistik 8 (1895), S. 140–171; J. Stenzel, Platon der Erzieher, Leipzig 1928. 2 Nomoi 643e 5–9. 3 Nomoi 644a 1–6. 4 Nomoi 741e 1–7: „Denn Gelderwerb ist nicht viel möglich bei einer solchen Einrichtung; sie hat ferner zur Folge, dass es weder nötig noch erlaubt ist, eine der unedlen Erwerbstätigkeiten auszuüben – insofern ja die handwerkliche Arbeit, die als erniedrigend gilt, ein edles Gemüt abstößt –, ja, dass man überhaupt kein Verlangen hat, auf solchem Wege Reichtümer zu sammeln.“ 5 Zur Vermeidung dieser Versuchung dienen die Vorschriften unter 846d 1–847b 6 und 919d 4–920a 3.

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§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften

schwach ist und vom begehrlichen Seelenteil geknechtet wird.6 Dies sind, wie schon dargelegt, nach Platons Definition die sklavischen Seelen, da sie nicht in der Lage sind, freie, politisch-philosophische Tätigkeiten auszuüben. Im Umkehrschluss kann ein freier Bürger, der sich mehr für Handwerk als für Philosophie interessiert, nur eine Sklavenseele haben, da sein schwaches logistikÎn durch die ihm zuteil gewordene Paideia nicht zur Herrschaft in der Seele bewegt werden konnte. Grundlage der höheren Paideia ist die Wissenschaft, d. h. bei Platon die Philosophie, im Gegensatz zu einer Erziehung durch Rhetorik, die zum Knechte (oœkÝtai) macht, da sie nur auf Äußeres gerichtet und nicht der Wahrheit verpflichtet ist.7 Platon bezieht sich an dieser Stelle natürlich nicht auf wirkliche Diener und Sklaven, sondern beschreibt damit die prozessverliebten Mitbürger seiner Zeit. Die Rede vor Gericht ist nicht ein Kind der Muße und des wahrheitsliebenden Logos, sondern richtet sich nach den Ritualen, Erfordernissen und Strategien, die dem Ausgang der Sache des Redenden förderlich erscheinen. „Dann auch beziehen sich ihre Reden immer auf einen ihrer Mitknechte (‡modoýlou) und sind gerichtet an einen Herrn (despüthn), welcher vor ihnen sitzt und die Gewalt in Händen hat.“8 Eine absolvierte Rhetorikausbildung9 vermittelt also insbesondere die Fähigkeiten, geschickt zu schmeicheln, dabei zum scheinbar eigenen Vorteil die Wahrheit zu beugen oder gar zu lügen und dadurch anderen Unrecht anzutun. Eine solche Erziehung, so sehr sie auch zu gesellschaftlichen Erfolgen führen kann, hat aber einen hohen Preis, da sie die Psyche ihrer wesensmäßig innewohnenden Freiheit beraubt und versklavt: „Denn die Knechtschaft (douleßa) von Jugend an hat ihnen das Wachstum und das freie gerade Wesen benommen, indem sie sie nötiget, krumme Dinge zu verrichten, und die noch zarte Seele in große Gefahren und Besorgnisse verwickelt, welche sie ohne Verletzung des Gerechten und Wahren nicht überstehen können, und daher sogleich zur Lüge und zum gegenseitigen Unrechttun sich hinwendend so verbogen und verkrüppelt werden, dass schon nichts Gesundes mehr an ihren Seelen ist, 6 Politeia 590c 2–8. Vgl. hierzu auch in § 2 der vorliegenden Arbeit den Anfang des Kapitels II. ,Die spezifische Differenz der sklavischen Seele‘. 7 Theaitetos 172c 9–173b 4; vgl. Philebos 58a 1–59b 9. 8 Theaitetos 172e 4–7. Etwas weiter im Text heißt es, dass man so auch zum ,Knecht seiner Reden‘ (tw= n lügwn phrÝtai) wird (173c 2). 9 Hiermit sind nach Platon all die Wissensinhalte gemeint, welche von den Sophisten gelehrt wurden und von den Bürgern Athens hochbegehrt waren, um im öffentlichen Leben erfolgreich tätig zu sein. So lässt Platon im Dialog Philebos einen Gesprächspartner des Sokrates sagen: „Ich [. . .] habe immer vom Gorgias vielfältig gehört, dass die Kunst zu überreden (peßqein) vor allen anderen bei weitem den Vorzug verdiene. Denn sie mache sich alles unterwürfig (dou= la) freiwillig und nicht mit Gewalt und sei also bei weitem die trefflichste unter allen Künsten.“ (Philebos 58a 8– b 4).

I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht

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wenn sie aus Jünglingen zu Männern werden, wie gewaltig und weise sie auch geworden zu sein glauben.“10

Die besondere Gefahr der Rhetorik liegt darin, dass auch sie, ebenso wie die Philosophie, sich des logistikÎn bedient, eine gewisse Begabung dort also vorhanden sein muss, und somit das Vernünftige, Wahrheitsliebende sich gegen sich selbst richtet. Hieraus erklärt sich, wie Platon schreibt, dass sich Männer mit kranken, verkrüppelten Seelen für weise halten können. Alles Wissen, welches nicht auf die Idee des Guten ausgerichtet ist, kann sich auch gegen das Gute richten und zum Schlechten gebraucht werden11, indem es nicht durch die einsichtige Ordnung des Guten begrenzt ist, sondern sich dem vermeintlich eigenen Vorteil zuwendet ohne zu berücksichtigen, dass dieser nur im Einklang mit dem psychokosmopolitischen Ganzen verwirklicht werden kann. Der direkte Angriff auf die begabte Vernunft durch die Rhetorik und die Benutzung ihres Potentials zu ungerechten Zwecken zerrüttet die Seele in ihrem Wesen. Der Schaden ist ungleich größer als beim handwerklich orientierten Menschen, dessen logistikÎn aufgrund seiner Schwäche von den materiellen Begehrlichkeiten geknechtet wird und sich somit auch nicht gegen sich selbst richten kann. Der Rhetor dagegen schädigt sich und andere mit der ganzen Kraft und dem uneingeschränkten Talent seines Wesens als vernunftbegabter Mensch. Wer jedoch eine philosophische Erziehung genossen hat, dem gelten die Dinge nichts, wofür der Rhetor kämpft, so dass er die ganze Kraft seiner Vernunft der Liebe zur Weisheit schenken kann und damit seine Seele in bester, naturgemäßer Ordnung und Gesundheit hält. Freilich macht er in Gesellschaft seiner streitsüchtigen, ehr- und geldliebenden Mitbürger in einer Stadt, die solcherlei Eigenschaften würdigt, mitunter einen einfältigen, ungeschickten Eindruck, da er sich weder auf „schmeichlerische Worte“ noch auf „knechtische Dienstleistungen (doulikJ diakonÞmata)“ versteht.12 Das platonische Erziehungsmodell fußt nicht auf einer schulischen Wissensvermittlung oder dem Erwerb instrumenteller bzw. strategischer Fähigkeiten, sondern stellt die Ausbildung der Charakterstärke von Kindern in den Vordergrund. In der ganzen Politeia findet sich kein Hinweis auf Examen oder Prüfungen zur Abfrage erlernten Wissens. Stattdessen sollen unter körperlichen Anstrengungen die Reaktionen der Kinder auf Affekte der Lust und des Schmerzes regelmäßig getestet werden und davon ihr weiterer Ausbildungsgang abhängig gemacht werden.13 Die Erziehung erweist sich als ein umfassendes CharakterTheaitetos 173a 5–b 4. Das Problem wird ausführlich im Dialog Hippias Minor erörtert. In Politeia 489d–492e, 494b–495b und 537e–540d erläutert Platon diese Gefahr während der Philosophenausbildung. 12 Theaitetos 175d 10–e 11. 13 Politeia 413c 8–414a 7. 10 11

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§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften

training in allen Bereichen, wo Kinder erziehbar sind.14 Die Grenze zwischen privatem Leben und öffentlicher Ausbildung ist dementsprechend durchlässig. Das umfassende Regelwerk der Nomoi lässt die Kindererziehung bereits vor der Geburt beginnen, indem die werdenden Mütter zu bestimmten gymnastischen Übungen angehalten werden15 und vergisst auch nicht, Vorschriften für die Spiele der Kinder zu erlassen, die eine gleichmäßige Geschicklichkeit beider Hände fördern sollen.16 Weniger detailliert, dafür aber grundlegend, wird in der Politeia die Erziehung in einen gymnastischen und einen musischen Aspekt aufgeteilt17, womit die Gesamtheit des auszubildenden Charakters umfasst wird, um „mutigen Sinn (tÎ qumoeidÝò) auf der einen“ und „geistiges Streben (tÎ —ilüso—on) auf der anderen Seite in ein harmonisches Verhältnis zu setzen.“18 Die gymnastischen Übungen dienen somit auch insbesondere der Ausbildung der Seele.19 Es ist Aufgabe des Erziehers, den Charakter seines Zöglings demgemäß umfassend zu prägen, denn ein zu einseitig ausgeprägtes Wesen macht unfrei. Sanftmut und Mannhaftigkeit führen in Reinform beide in die Knechtschaft. Der Erzieher sollte in den Seelen beides verbinden.20 Entsprechend wichtig ist die frühzeitige Übung, im Umgang mit Affekten wie Furcht, Lust und Schmerz umzugehen, da diese einen sonst beherrschen und man außerdem Sklave derjenigen wird, die darin geübt und Herr ihrer Affekte sind.21 In diesem Kontext ist auch Platons Kritik an gewissen Tonarten in der Musik und Darstellungsformen der Dich-

14 In diesem Sinne schreibt Heidegger: „[. . .] will Platon zugleich zeigen, dass die paideßa nicht darin ihr Wesen hat, bloße Kenntnisse in die unbereitete Seele wie in einen leeren, beliebig vorgehaltenen Behälter hineinzuschütten. Die echte Bildung ergreift und verwandelt dem entgegen die Seele selbst und im Ganzen, indem sie den Menschen zuvor an seinen Wesensort versetzt und auf diesen eingewöhnt.“ M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern/München 1975, S. 24. 15 Nomoi 789e 1–3. Vgl. auch Timaios 89a 1–b 4, wo sich ein Katalog der der seelischen Gesundheit förderlichen Bewegungsarten findet. 16 Nomoi 794d 7–795d 4. 17 Politeia 376e 5–6. Mit musischer Ausbildung (mousikÞ) meint Platon insbesondere die Lehre von den Worten (mu˘qoi und lügoi), sowie Rhythmus- und Harmonielehre. 18 P. Friedländer, Platon. Band III, Berlin 1975, S. 75. Dazu Politeia 376c 4–6. 19 Vgl. Politeia 410b 13–c 6. 20 Politikos 307e 7–308a 10: „Und vermöge dieser Neigung, wenn sie unzeitiger ist, als sie sollte, werden sie, wenn sie nach ihrem Willen handeln können, unvermerkt selbst unkriegerisch, wie sie auch die Jünglinge gleichfalls zu solchen machen, und fallen daher jedem Angreifenden anheim, wodurch sie dann in gar wenig Jahren mit ihren Kindern und dem gesamten Staate oft aus Freien (™leuqÝrwn) unvermerkt Knechte (dou= loi) geworden sind [. . .]. Wie aber die mehr zur Tapferkeit sich Neigenden? Reizen die nicht ihren Staat immer zu irgendeinem Kriege an wegen ihrer, mehr als gut ist, heftigen Begierde nach einem solchen Leben und verwickeln ihn dadurch mit vielen und Mächtigen in Feindschaft, ja bringen wohl gar ihr Vaterland in Verderben und in die Knechtschaft (doýlaò) und Gewalt seiner Feinde?“

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tung zu sehen, indem er durch seine Anweisungen zu vermeiden sucht, negative Affekte noch künstlich zu verstärken.22 Das Kriterium der erfolgreichen Erziehung ist eine ethisch-moralische Reife, die den Menschen das Gute schön und das Böse hässlich finden lässt.23 Die Kinder sollen keine Verhaltensregeln auswendig lernen, sondern sich intuitiv von dem Guten angezogen und durch das Böse abgestoßen fühlen. Den tieferen Sinn und Zweck hierfür müssen sie in jungen Jahren noch nicht begreifen. Ethisch wertvolles Verhalten wird so zu einem natürlichen und angenehmen Teil des täglichen Lebens und hebt sich deutlich von einer durch Androhung von Strafe durchgesetzten Pflichtmoral ab, wie wir sie aus späteren Jahrhunderten kennen. Erziehung ist also, nach Platon, kein Wissenstransfer in eine noch unwissende Seele, so wie man blinden Augen die Sehkraft verleiht24, sondern eine Hinwendung des Auges zum Licht und „wie das Auge nicht anders als mit dem gesamten Leibe zugleich sich aus dem Finsteren ans Helle wenden konnte, so auch dieses25 nur mit der gesamten Seele zugleich von dem Werdenden abgeführt werden muss, bis es das Anschauen des Seienden und des glänzendsten unter dem Seienden aushalten lernt.“26

21 Nomoi 635b 8–d 8. Über die ,Kunst des Umgangs mit der Lust‘ zu verfügen macht aber allein noch keinen guten tugendhaften Menschen aus. Platon betont hier, dass diese Menschen ansonsten ,ganz schlecht‘ sein können. 22 Vgl. Politeia 377b–403c und 595a–607d. Wichtig in unserem Zusammenhang ist hier, dass Platon die Künste nicht generell verdammt, sondern in der Musik nur Tonleitern, die einen verweichlichenden Klang haben und in der Dichtung jene Formen, die lediglich auf Wohlgefallen ohne Bezug auf das Gute ausgerichtet sind oder ungerechte und verwerfliche Handlungen darstellen, d. h. die Seele in die falsche Richtung lenken. Hierzu gehört die Tragödie, in der die Menschen gar nicht anders können als Unrecht tun, auch wenn sie dafür leiden müssen. Ebenso die homerischen Epen, in denen selbst Götter ungerecht handeln. Durch die starken Affekte, die die Kunst auszulösen imstande ist, haben solche Themen eine besonders verwerfliche Wirkung auf die Menschen. Die Kunst sollte, nach Platon, ebenso wie die Politik, die Menschen besser machen. Dieser Anspruch ist aber nur durch die Philosophie zu erfüllen. Nach H. Kuhn begriff Platon seine Dialoge als eine Fortführung der Dichtung zum Guten hin, als die wahre Tragödie. Vgl. H. Kuhn, ,Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker‘, in: K. Gaiser (Hrsg.), Das Platonbild, Hildesheim 1969, S. 231–324. So lange die Dichter des Unrechts und der Lüge nicht aus der Stadt verbannt sind, wie Platon es in der Politeia (595a 5–6) fordert, können die wahren Tragödien der platonischen Dialoge nicht innerhalb der Polis gestaltet werden, sondern spielen sich außerhalb, in der Akademie ab. 23 Vgl. Politeia 401e 1–402a 5. 24 Vgl. Politeia 518b 12–d 1. Mit diesem Bild wird auf die sophistische Theorie und Methodik angespielt. 25 Gemeint ist „dieses der Seele eines jeden innewohnende Vermögen und das Organ, womit jeder begreift“ vom Satzanfang. Es handelt sich also um das logistikÎn. 26 Politeia 518c 6–d 1.

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Sinn und Zweck der Paideia ist es somit, die Bedingungen herzustellen, die es den zu Erziehenden erlauben, das Vermögen ihres vernünftigen Seelenteils soweit wie möglich zu entwickeln und auszubilden. Hiermit ist für Platon das wesentliche Erziehungsziel für die meisten Kinder und zukünftigen Bürger seiner idealen Polis erreicht. Die Psyche ist nun ihrem Wesen entsprechend auf das Gute ausgerichtet und verhält sich notwendig in freier Harmonie vernünftig zu sich selbst und zu anderen. Hieran könnte sich nun, gemäß der Idiopragieformel27, eine praktische Ausbildung zum Handwerker oder Landwirt anschließen, die aber von Platon selbst nicht mehr ausgeführt wird. Für die Kinder, welche sich als besonders begabt während der anfänglichen Ausbildung erwiesen haben, sieht Platon nun intensive und ausführliche weiterführende Studien vor, welche vor allem mathematische Probleme zum Gegenstand haben. Von nun an liegt die Betonung bei der Erziehung auf dem intellektuellen Vermögen und der kreativen Vorstellungskraft. Dabei soll die Vermittlung dieses Wissens ohne jeden Zwang zum Lernen vonstatten gehen, weil „kein Freier irgendeine Kenntnis auf knechtische Art (metJ douleßaò) lernen muss. Denn die körperlichen Anstrengungen, wenn sie auch mit Gewalt geübt werden, machen den Leib um nichts schlechter, in der Seele aber ist keine erzwungene Kenntnis bleibend.“28

Mathematisches und erst recht philosophisches Denken kann nicht erzwungen werden, wenn die geistige Kapazität nicht vorhanden ist. Die befähigte Seele erwirbt dieses Wissen ihrer Natur gemäß von selbst und ohne Zwang, durch welchen ihr die Schönheit dieser Kenntnisse gewaltsam verleidet würden. Gleichfalls zeigt sich durch diese Methode völlig unverstellt, wessen Seelenpotential für eine weitere Ausbildung geeignet ist. Diese besteht dann ab dem dreißigsten Lebensjahr in philosophischen Studien, von Platon Dialektik genannt29 und deren Ziel die „Erklärung des Seins und Wesens eines jeden“30 ist. Nach weiteren fünf Jahren ist der theoretische Teil der platonischen Erziehung abgeschlossen und die übrig gebliebenen so Ausgebildeten sollen sich nun für fünfzehn Jahre im öffentlichen Wächterdienst bewähren.31 Erst dann zeigt sich, wer die außerordentliche Begabung besitzt, in den kleinen Kreis der Philosophenherrscher aufgenommen zu werden. Vielleicht wird es nur einer sein.32 Die 27 Als Idiopragieformel wird von einigen Autoren die These Platons bezeichnet, dass jeder ausschließlich die ihm gemäße Aufgabe in der Gesellschaft auszuüben hat. Vgl. O. Höffe, ,Einführung in Platons Politeia‘, in: ders. (Hrsg.), Platon Politeia, Berlin 1997, S. 23. Vgl. auch § 3, Kapitel III. über ,Gleichheit und Gerechtigkeit‘ der vorliegenden Arbeit. 28 Politeia 536e 1–5. 29 Vgl. Politeia 511b 4 und 511c 5. 30 Politeia 534b 3–4. 31 Vgl. Politeia 539d ff.

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höchste Macht im platonischen Gesellschaftsentwurf wird von jenen ausgeübt, die auch die beste Erziehung genossen und sich ihr entsprechend als überaus fähig erwiesen haben. Als herausragendes Produkt dieser Erziehung ist es nun ihre Aufgabe, selbst die höchsten Erzieher zu sein. Im Erziehungsmodell Platons soll sich zeigen, wer zum Herrscher und wer zum Handwerker bestimmt ist. In das pädagogische Programm der Politeia eingefügt ist der Mythos von der Erdgeborenheit der Menschen33, wodurch ihre gemeinschaftliche Herkunft und einheitsstiftende Verwandtschaft herausgestellt wird. Diese nivelliert jedoch nicht die unterschiedlichen Anlagen der ,Brüder‘, denn „der bildende Gott hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, [. . .], den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern (gewrgoi=ò) und übrigen Arbeitern (dhmiourgoi=ò). Weil ihr nun so alle verwandt seid, möchtet ihr meistenteils zwar wohl auch selbst ähnliche erzeugen; bisweilen aber könnte doch auch wohl aus Gold ein silberner und aus Silber ein goldener Sprössling erzeugt werden und so auch alle anderen von anderen [. . .] und wenn irgend von ihren eigenen Nachkommen [der Herrscher] einer ehern wäre oder eisenhaltig, sollen sie auf keine Weise Mitleid mit ihm haben, sondern nur die seiner Natur gebührende Stelle ihm anweisend sollen sie ihn zu den Arbeitern oder Ackerbauern hinaustreiben; und so auch, wenn unter diesen einer aufwüchse, in dem sich Gold oder Silber zeigte, einen solchen sollten sie in Ehren halten und ihn unter die Herrscher erheben oder unter die Gehilfen, da ein Götterspruch vorhanden sei, dass die Stadt dann untergehen werde, wenn Eisen oder Erz die Aufsicht über sie führe.“34

Die unterschiedlichen Begabungen der Menschen sind demnach natur- bzw. gottgegeben, gehen jeglicher Erziehung voran und sind in der weiteren Ausbildung streng zu berücksichtigen. Konsequent führt Platon diesen Gedanken über ein starres Dreiklassensystem hinaus, indem er die Klassengrenzen in beiden Richtungen durchlässig gestaltet und somit eine soziale Flexibilität ermöglicht, die keinen Menschen durch seinen Geburtsstand zu protegieren oder diskriminieren scheint. Jeder soll gemäß seinen Begabungen gefördert werden und so in der Lage sein, die ihm zukommende gesellschaftliche Position dort einzunehmen, wo er seine Fähigkeiten am nützlichsten und sinnvollsten entfalten kann. Ein Bauernjunge ist damit nicht prinzipiell von einer philosophischen Paideia ausgeschlossen, ebenso wenig wie diese für ein Kind der herrschenden Klasse automatisch gewährleistet wäre. Vgl. Politeia 502b 1–2. Politeia 414d 1–e7. Dieses Motiv findet sich auch im Mythos von den zwei Weltaltern im Politikos, auf welchen in Kapitel II. dieses Teiles der vorliegenden Arbeit noch genauer eingegangen wird. In beiden Erzählungen wird ausdrücklich betont, dass die Erdgeburt einer ahistorischen Zeit angehört, gleichwohl das Bild auch für die sexuell sich reproduzierenden Menschen seine Gültigkeit behält. 34 Politeia 415a 4–c 9. Vgl. auch 423c 11–d 7. 32 33

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Im elaborierten Gesetzesgeflecht der späteren Nomoi kommt dieser Gedanke bei der Kindererziehung zur Geltung und wird auch auf die Kinder von Sklaven übertragen. Dennoch kann hier nicht von einer prinzipiellen Gleichbehandlung des freien und unfreien Nachwuchses die Rede sein. Die Problematik liegt bereits in den verordneten Ansprüchen an die werdenden Mütter und in der erforderlichen Intensität der Aufzucht und Pflege während der ersten Lebensjahre.35 Trotz der professionellen Unterstützung durch die Wärterinnen dürfte eine in der Landwirtschaft beschäftigte Sklavin kaum die erforderliche Zeit hierfür gefunden haben. Dennoch geht m. E. aus dem platonischen Text nicht ausdrücklich hervor, dass diese pädagogischen Zuwendungen nur auf die Kinder von Freien und Bürgern beschränkt waren, wie es H. Klees in seinem umfangreichen und verdienstvollen Werk über das Sklavenleben in Griechenland behauptet.36 Es wäre dann auch nicht nachvollziehbar, wie die in diesem Falle weiter entwikkelten freien Kinder zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr mit den gleichaltrigen Sklavenkindern sich im Spiel verständigen könnten, wie es Platon beschreibt.37 Für diese Lebensphase wird also ausdrücklich die gleiche Erziehung freier und unfreier Kinder gefordert, auch wenn gerade hier ein eklatanter Fall von Ungleichbehandlung explizit wird. Den Wärterinnen, die selbst Sklavinnen sind, ist es nicht erlaubt, die Kinder zu züchtigen. Hierzu ist nur die „Ehewächterin“ des Bezirks befugt, welche die Kinder von Sklaven direkt und eigenmächtig bestrafen kann, bei Bürgerkindern aber die Stadtaufseher entscheiden lassen muss, wenn das Kind Einspruch erhebt. Klees interpretiert diesen Sachverhalt dahingehend, dass so „Sklavenkinder im frühesten Alter an ihre inferiore Stellung gewöhnt oder umgekehrt gesehen, den Kindern der Bürger das Gefühl einer bevorzugten Stellung vermittelt“ wird.38 Diesen Effekt würde eine solch diskriminierende Strafpraxis bei ihrer Umsetzung sicherlich gehabt haben, dürfte aber von Platon so nicht intendiert gewesen sein, da in diesem Stadium der Erziehung die Disposition der Seelenteile als auch die Begabungen der Zöglinge noch nicht vollends erkennbar sind und somit auch noch nicht ersichtlich ist, wer in der Stadt einmal Herrscher und wer Sklave werden wird. Eine verfrühte Rollenfixierung ist in diesem Alter 35 Vgl. Nomoi 788d 1–792e 12. Am Ende dieses Abschnitts wird auf das Wohl der schwangeren Frau besonderen Wert gelegt. 36 H. Klees, Sklavenleben im klassischen Griechenland, Stuttgart 1998, S. 239. Dem widerspricht auch die ebenfalls von Klees angeführte Textstelle Theaitetos 172d–173a über „die großen Gefahren und Ängste [. . .], die schon bei jungen Sklaven jedes geistig-moralische Wachstum zerstören.“ Es ist kaum anzunehmen, dass Platon dies wissentlich in Kauf genommen hätte, da er auch die Kinder von Sklaven einer Erziehung für wert erachtete, wodurch dieses Wachstum ja gefördert werden soll. 37 Nomoi 793e 4–794c 4. 38 H. Klees, a. a. O., S. 239. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, nimmt auf diese doch auffällige Unterscheidung in seiner sonst sehr genauen Untersuchung überraschenderweise keinen Bezug.

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pädagogisch sinnlos und für die spätere, angemessene Sozialintegration unter Umständen äußerst hinderlich. Der eigentliche Grund Platons für diese Anordnung muss dann wohl auch eher in der elterlichen Verfügungsgewalt über ihre Kinder gesehen werden, wie sie Usus im Athen seiner Zeit und somit für ihn selbstverständlich war. Alleinig der Vater war berechtigt, sein minderjähriges Kind zu schlagen und konnte diesen Anspruch gegebenenfalls auf den Pädagogen übertragen.39 Im Falle der Kinder in den Nomoi steht nur dem Stadtaufseher als oberstem Erzieher diese Übertragungsmacht zu, derer es aber für die Kinder von Sklaven nicht bedarf, da hier die maßgeblichen Elternfunktionen auf die Ehewächterin übergegangen sind. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Platon über dieses juristisch einwandfreie Konstrukt nicht den negativen erzieherischen Aspekt dieser Anordnung aus den Augen verloren hat. In dem nun weiter in den Nomoi beschriebenen Ausbildungsweg der Kinder wird eine Unterscheidung zwischen Kindern von Bürgern und Kindern von Sklaven nicht mehr vorgenommen. Es wird weder gesagt, dass die Erziehung für Sklavenkinder beendet ist, noch dass sie bis zu einem gewissen Punkt weitergeht. Stattdessen führt Platon eine allgemeine Schulpflicht ein, die auch für Mädchen gilt,40 ohne jedoch auf das Problem der Herkunft weiter Bezug zu nehmen. Nach der ausführlichen Darlegung des schulischen Lehrplanes folgt dann ausdrücklich die Feststellung, dass es nun „für die Freien noch drei Lernfächer“ gibt: Arithmetik, Geometrie und Astronomie.41 Erst an diesem Punkt in der Erziehung liegt die Schwelle zwischen Freiheit und Sklaverei. Von nun an lernen die Kinder, welche mittlerweile bereits Studenten sind, die Kenntnisse, welche sie zu herrscherlichen Tätigkeiten in der Polis qualifizieren. Im Sinne und gemäß der Aussage des Mythos von der Erdgeburt und den Metallbeimischungen in der Seele müsste ein Kind von Sklaven, bei dem sich eine goldene Begabung herausgestellt hat, durchaus das Recht erhalten, seine Studien nun fortzuführen und als Freier in der Gesellschaft seine Aufgaben wahrzunehmen. Umgekehrt wird so manches Bürgerkind nun mit einer handwerklichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit seinen ihm gemäßen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Bevor sich diese Talente und Begabungen nicht herauskristallisiert haben, spielt die Herkunft für Platon keine Rolle. Die Unterschiede zwischen Sklavenkindern und Bürgerkindern sind in der Erziehung vernachlässigbar. Die Kinder sind frei, alles gemäß ihren Fähigkeiten zu lernen und ihre Ausbildung soweit fortzutreiben, wie ihr geistiges Vermögen reicht, wenngleich die Prinzipien ihrer Behandlung auf eine Stufe mit der gerechten Behandlung der Sklaven gestellt werden, wie Platon einleitend zu der Erziehungsphase zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr schreibt: 39 40 41

Vgl. Protagoras 325c 7–d 9. Nomoi 804c 2 ff. Nomoi 817e 6–10.

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„Mit drei Jahren aber und mit vier und fünf und auch noch mit sechs Jahren verlangt die Seele des Kindes nach Spielen. Mit der Verzärtelung muss man nun Schluss machen, indem man es straft, aber ohne sein Ehrgefühl zu verletzen; sondern was wir schon bei den Sklaven (doýlwn) bemerkt haben,42 dass man nämlich nicht durch übermäßiges Strafen Zorn bei den Bestraften hervorrufen soll oder indem man sie ungestraft lässt, Verweichlichung, genau das muss man auch bei den Freien (™leuqÝroisi) befolgen.“43

Die Kinder brauchen ihre Pädagogen und Wärterinnen wie Sklaven ihre Herren.44 Alle Kinder, unterschiedslos welcher Herkunft, sind noch nicht zur selbstverantwortlichen Reife gelangt, ihre eigenen Herren oder Herrinnen zu sein. Erst nach der schulischen Grundausbildung, wenn in der Seele eine Disposition zur Tapferkeit und Besonnenheit herausgebildet worden ist, zeigt sich die eigentliche Befähigung des Menschen zur Freiheit. Wer aus ,Torheit oder Niedrigkeit des Sinns‘ den Ansprüchen nicht genügen kann, der gehört dem Sklavengeschlecht an45 und dies ist, nach Platon, besser für ihn, da er nur so auch des Göttlichen der Vernunft teilhaftig werden kann, welchem der Freie aus sich selbst heraus folgt.46 Die platonische Paideia ist eine Erziehung zur Freiheit, falls die geistigen und charakterlichen Voraussetzungen gegeben und ausbildbar sind. Ist dies nicht der Fall, führt sie geradewegs in die Versklavung oder doch zumindest in die politische Unfreiheit. Es schwingt bei Platon der grundlegende Gedanke mit, der erst bei Aristoteles explizit wird, dass es Sklaven von Natur gibt. Niemand ist Sklave aufgrund seiner Herkunft, aber durch die Erziehung zeigt sich, wo, gemäß der mitgebrachten Fähigkeiten, sich des Menschen Standort in der Gesellschaft befindet. 2. Freiheit und Versklavung in Liebesverhältnissen Eine besondere Form der Paideia ist das Liebesverhältnis; im antiken Athen wohl zumeist zwischen einem erwachsenen Mann und einem heranwachsenden Knaben. Diese für unsere heutige Zeit befremdlich wirkende Verbindung beabsichtigte, sich die Kräfte des Begehrens und der Zuneigung für charakterbildnerische, pädagogische Zwecke zu Nutzen zu machen, wenn auch die Gefahr des Missbrauches aufgrund der Unterschiede zwischen beiden Partnern gegeben Hier bezieht sich Platon auf Nomoi 777d 3 ff. Nomoi 793e 3–794a 2. 44 Vgl. Nomoi 808d 1–5: „Kehrt aber der Tag und die Morgendämmerung wieder, dann müssen sich ja wohl die Kinder zu ihren Lehrern begeben; ohne Hirten dürfen aber weder Schafe noch sonst eine Herde leben, und also auch nicht die Kinder ohne bestimmte Aufseher (paidagwgw= n) oder die Sklaven (doýlouò) ohne Herren (despotw= n).“ 45 Politikos 309a 7–9. 46 Politeia 590c 2–d 10. 42 43

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war. Hier kann sich Eros in besonderer Weise als ein Tyrann oder Befreier zeigen. Gleichwohl sind die platonischen Gedanken auch auf alle anderen möglichen Arten erotischer Liebesverhältnisse zu übertragen, zumal sich die Konventionen des antiken Sexuallebens nicht an qualitativen Kategorien wie der Geschlechtszugehörigkeit oder des Altersunterschiedes der Partner orientierten, sondern sich anhand der relationalen Struktur der Partnerschaft hinsichtlich der Rollenverteilung bezüglich Dominanz und Submission definierten. So schreibt Winkler in seiner eröffnenden Studie über Sexualität und Geschlechterverhältnis im antiken Griechenland: „Sex wurde [. . .] nach Maßgabe von entweder Ausübung oder Einwirkung, Geben oder Empfangen, Tun oder Getan-Bekommen wahrgenommen. ,Die Natur‘ kümmert sich um Hierarchien und Abhängigkeit, nicht um periphere Dinge wie Haarfarbe oder Geschlechtszugehörigkeit.“47

Folglich bestand die griechische Sexualmoral nicht in einer Verdammung gewisser Praktiken, sondern in einem geschickten Austarieren des Begehrens zwischen einem Mehr oder Weniger. Im Vordergrund stehen der besonnene „Gebrauch der Lüste“, das richtige Maß im Umgang mit ihnen, sowie der richtige Zeitpunkt und der passende Ort für ihre Ausübung und nicht einzelne sexuelle Vorlieben. „Exzess und Passivität sind für einen Mann die beiden Hauptformen der Immoralität in der Praktik der aphrodísia“, schreibt Michel Foucault in seinem grundlegenden Werk Sexualität und Wahrheit.48 Eros kann ein Tyrann in der Seele sein und es spielt hierbei keine Rolle, ob sich das Begehren auf Männer, Frauen oder Knaben bezieht. Verwerflich ist nach antiken Maßstäben das von den Begierden beherrscht werden als solches, nicht das Begehren selbst. So zeichnet uns Platon das Portrait des tyrannischen Menschen als eines Charakters, dessen Seele ganz und gar von der Tyrannei der Begierden des Eros beherrscht wird.49 Der heterosexuelle Exzess ist hierbei nicht weniger verwerflich als der homosexuelle: „Einer Freundin wegen, die ihm erst seit kurzem liebgeworden und ihm gar nicht notwendig ist, wird ein solcher seine ihm von jeher liebe und durch die Natur verbundene Mutter oder wegen eines jugendlich schönen, erst kürzlich erworbenen und ihm gar nicht unentbehrlichen Freundes seinen schon hinfälligen alten Vater, welcher sein ältester Freund und durch solche Bande ihm verwandt ist, wohl gar misshandeln und diese jenen dienstbar unterwerfen (katadoulþsasqai), wenn er sie in demselben Hause zusammenbringt.“50 47 J. J. Winkler, Der gefesselte Eros. Sexualität und Geschlechterverhältnis im antiken Griechenland, Marburg 1994, S. 108. Winkler bezieht sich hier seinerseits auf eine Studie von D. M. Halperin, One Hundred Years of Homosexuality and Other Essays on Greek Love, New York 1989, S. 30. 48 M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt am Main 1986, S. 64. 49 Vgl. Politeia 573d 3–4.

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Platons Kritik zielt hier nicht auf die Art des Begehrens, sondern lediglich auf die exzessive Weise, die dazu führt, dass der tyrannische Mensch selbst seine Eltern versklaven würde, um der inneren Tyrannei des Eros in seiner Seele uneingeschränkt Folge leisten zu können. Umgekehrt gibt uns Platon ein Beispiel ,besonnener Mäßigung‘, indem er von einem Athleten berichtet, der „niemals eine Frau noch gar einen Knaben während der ganzen Zeit seines harten Trainings angerührt“ hat.51 In Übereinstimmung mit der Sexualmoral seiner Zeit ist also auch für Platon nicht die Kategorie der Lust, sondern der maßvolle bzw. unmäßige Umgang mit ihr von Bedeutung. Der relationalen Bewertung der dominant – submissiven Rollenverteilung einer Partnerschaft entsprechend, baut Platon seine Erostheorie auf den Herrschaftsverhältnissen innerhalb der Seele des Einzelnen auf. Das tugendhafte Verhalten des Individuums orientiert sich nicht an einem von außen auferlegten Regelkatalog, sondern fußt auf einer Seelenordnung, die nach den Kategorien von Herrschaft und Unterwerfung konstituiert ist. Das hierfür maßgebliche Instrument ist die Tugend der Besonnenheit, welche von Platon im Rahmen der Darstellung der Kardinaltugenden in der Politeia als „Ordnung (küsmoò) und Mäßigung (™gkrÜteia) [. . .] gewisser Lüste und Begierden (™piqumiw= n)“ beschrieben wird.52 Hierin spiegelt sich Sokrates Antwort auf die Frage des Kallikles im Gorgias, was „sich selbst beherrschen (Šautou= årxonta)“ sei: „[. . .] besonnen sein und seiner selbst mächtig (sþ—rona énta kaÍ Šgkrath= ažtÎn Šautou= ) und die Lüste und Begierden [. . .] beherrschend.“53 Voraussetzung für einen freien, auch erotischen, Umgang mit anderen ist ein von der Tyrannei der maßlosen Lüste befreites Selbstverhältnis. Der Freie kann seinen Begierden befehlen und sie beherrschen, der Sklave wird von ihnen beherrscht. Erst unter der Maßgabe der Herrschaft über sich selbst fügt sich das ungeordnete Begehren ein in die selbstgemäße, vernünftige Autonomie des Subjekts und trägt zu dessen Aufstieg zur Wahrheit im Schönen, wie er im Folgenden noch anhand des Symposions beschrieben werden wird, bei. Der Tyrann Eros unterwirft sich kraft der Vernunft und Besonnenheit Eros, dem Befreier oder wie es Michel Foucault in seiner Analyse griechischer Sexualmoral ausdrückt: 50 Politeia 574b 13–c 7. Wie uns Diogenes Laertios in seiner Bion-Biographie überliefert, machte man auch dem Alkibiades nicht sein polymorphes Sexualleben zum Vorwurf, sondern lediglich die unangemessene Unmäßigkeit: „Als heranwachsender Jüngling machte er die Männer ihren Weibern abspenstig, als junger Mann die Weiber ihren Männern.“ Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, IV, 7, 49. 51 Nomoi 840a 4–7. 52 Politeia 430e 8–9. Schleiermacher übersetzt ,küsmoò‘ hier unzutreffenderweise mit ,Anstand‘. 53 Gorgias 491d 9–e 2.

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„Um sich im Gebrauch, den es von seinen Lüsten macht, als tugendhaftes und mäßigendes Subjekt zu konstituieren, muss also das Individuum ein Verhältnis zu sich herstellen, das zum Typ ,Herrschaft/Gehorsam‘, ,Befehl/Unterwerfung‘, ,Meisterung/Gelehrigkeit‘ gehört. Das ist es, was man die ,heautokratische‘ Struktur des Subjekts in der moralischen Praktik der Lüste nennen könnte.“54

In der stringent durchgeführten Analogie von Polis und Individuum, auf welcher die Politeia aufbaut, entspricht die ,heautokratische‘ Struktur des Subjekts der Philosophenherrschaft, wohingegen das Beherrschtwerden durch die Lüste der Tyrannei ähnelt: „Wenn nun, entgegnete ich, der Mann dem Staate ähnlich ist, muss dann nicht auch in ihm dieselbe Ordnung sich vorfinden und seine Seele voll Unfreiheit (˜neleuqerßaò) und vielfältiger Knechtschaft (douleßaò) sein und gerade die Teile derselben in der Knechtschaft sein (douleýein), welche die edelsten waren, und nur ein kleiner, und zwar der wertloseste und ausschweifendste herrschen (despüzein) ? – Notwendig, sagte er. – Wie nun? Wirst Du sagen, dass eine solche Seele knechtisch sei oder frei (doýlhn í ™leuqÝran)? – Knechtisch (doýlhn), sage ich, gewiss. – Und weiter, der knechtische und tyrannisch beherrschte (doýlh kaÍ turannoumÝnh) Staat tut wohl am wenigsten, was er will? – Gewiss. – So wird auch wohl die tyrannisch beherrschte Seele am wenigsten tun, was sie gern wollte, wenn man nämlich von der ganzen Seele redet, sondern wie sie immer vom Stachel mit Gewalt getrieben wird, muss sie auch immer voll Schrecken und Reue sein.“55

Die wohlgeordnete Seele ist strukturiert wie die gerechte Polis. Fällt diese Machtstruktur weg oder pervertiert sich dahingehend, dass das schiere Begehren die Vernunft unterwirft, hat dies Versklavung durch die Tyrannei der Begierden zur Folge. Der Mensch ist nicht mehr frei in Bezug auf die Gesamtheit seiner seelischen Vermögen zu handeln, sondern sieht sich der maßlosen und ungeordneten Willkür seiner rohen Triebe ausgeliefert. Der Zwang, ungehemmt diese Begierden auszuleben, führt ihn immer weiter in deren Knechtschaft, wodurch die freie Entfaltung der Gesamtheit seiner Anlagen mehr und mehr verunmöglicht wird. In diesem Sinne kann Platon schreiben, dass der Tyrann und die von ihren Begierden beherrschte Seele am wenigsten tun, was sie gern wollten. Die Freiheit des Individuums liegt im Verhalten des Menschen zu sich selbst begründet und zwar insofern er diese Freiheit gegenüber seinen eigenen Begierden verteidigen kann. Die Souveränität seiner selbst konstituiert sich durch die Unabhängigkeit seinem a priori ungezügelten Begehren gegenüber. Erst im Einklang mit dem logistikÎn trägt das ™piqumhtikün zur Wohlgeordnetheit der seelischen Struktur bei. Jede andere Variante der Seelendisposition ist für Platon ein Merkmal von Unfreiheit und Sklaverei, welches in Belangen des Eros am klarsten zum Vorschein kommt. 54 55

M. Foucault, a. a. O., S. 94. Politeia 577d 1–e 5.

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Diese von Platon beschriebene individuelle Freiheit darf jedoch nicht mit der Proklamation eines unabhängigen freien Willens verwechselt werden. „Ihr Gegensatz ist“, wie Foucault schreibt, „weder ein naturhafter Determinismus, noch der Wille einer Allmacht, sondern Sklaverei, und zwar die Versklavung seiner durch sich. Frei sein im Verhältnis zu den Lüsten – das ist: nicht ihnen zu Diensten stehen, nicht ihr Sklave sein. Die Gefahr, die mit den aphrodísia verbunden ist, ist weniger die Beschmutzung als die Versklavung.“56

Diese Freiheit als ,Nicht-Sklaverei‘ ist aber zugleich auch Machtausübung über sich selbst und damit auch über andere, da der Herr seiner selbst keiner anderen Herren bedarf, wohlmöglich aber andere, Bedürftige zu ihrer eigenen Selbstermächtigung anleitet. Die Herrschaft seiner selbst, d. h. die Herrschaft des logistikÎn über die Begierden ist bereits Resultat eines Erkenntnisprozesses und setzt das Wissen von einer gerechten Ordnung voraus. „Man kann sich im Gebrauch der Lüste nicht als Moralsubjekt konstituieren, ohne sich gleichzeitig als Erkenntnissubjekt zu konstituieren.“57 So unterstreicht Platon in den Nomoi die Notwendigkeit für ein gelingendes Leben, niemals ohne Wissen und Verstand oder zum unrechten Zeitpunkt den Lüsten zu frönen.58 Das für die Meisterung der Begierden nötige Wissen erlangt der Mensch durch praktische Übungen im Rahmen seiner Paideia. Ähnlich wie die Tapferkeit im Kampf gegen die innere Feigheit erworben wird, ist die Besonnenheit Resultat des Sieges über die Lüste und Begierden: „Wie aber, wenn wir es unternehmen, jemanden furchtsam im Einklang mit der Gerechtigkeit zu machen? Müssen wir ihn da nicht der Schamlosigkeit gegenüberstellen und ihn gegen sie einüben und ihn so dahin bringen, dass er im Kampf mit seinen Lüsten den Sieg davonträgt? Oder soll er zwar dadurch, dass er gegen die ihm innewohnende Feigheit ankämpft und sie besiegt, vollkommen in der Tapferkeit werden, so wie umgekehrt ein jeder, der in solchen Kämpfen unerfahren und ungeübt ist, wohl nicht einmal zur Hälfte der ihm erreichbaren Tüchtigkeit gelangen wird; besonnen dagegen soll er in vollkommenen Maße werden können, ohne gegen vielerlei Lüste und Begierden, die zu Unverschämtheit und Ungerechtigkeit antreiben, gekämpft und über sie gesiegt zu haben mit Hilfe von Vernunft, Übung und Können (metJ lügou kaÍ ærgou kaÍ tÝxnhò), sei es im Spiel oder im Ernst, sondern obwohl er gar nichts dergleichen mitgemacht hat? – Das kann wohl keine Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen.“59

M. Foucault, a. a. O., S. 105. M. Foucault, a. a. O., S. 114. Etwas weiter vorne im Text weist Foucault diesen Gedanken auch für Aristoteles auf: „Seine Lüste beherrschen und sie dem lógos unterwerfen ist ein und dasselbe: der Mäßige, sagt Aristoteles, begehrt nur, ,was die rechte Vernunft (orqÎò lügoò) vorschreibt‘.“ Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1119b. 58 Nomoi 636e 2–3. 59 Nomoi 647c 8–d 12. 56 57

I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht

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Der Kampf gegen die Lüste ist Bedingung für ihre Überwindung und die Erlangung der Besonnenheit. Wer nie der verführerischen Kraft der Begierden ausgesetzt war, kann sie auch nicht meistern und sich dadurch als Herr seiner selbst konstituieren. Herrschaftsausübung baut gemäß Platon stets auf einem agonalen Verhältnis auf, sei es im Kampf gegen niederes Begehren60 oder in der Jagd auf Weisheit. Der Sklave bleibt einem von Natur und Kultur vorgegebenem Status Quo verhaftet, der Herr optimiert durch Überwindung diese Vorbedingungen mit dem Ziele größtmöglicher Selbstermächtigung. Hierzu bedarf es nach Platon der Kunst des Könnens (tÝxnhò), der Praxis der Übung (ærgou) und dem Wissen der Vernunft (lügou). In den Belangen der Erotik finden sich diese drei Voraussetzungen im Idealfall zu einer Einheit zusammen oder es zeigen sich schnell deutliche Konsequenzen, falls diese nicht gegeben sind. Hierin liegt der pädagogische Wert des Eros.61 60 Ein Bild von diesem Kampfe vermittelte uns im Phaidros (254a) der Kampf zwischen dem Wagenlenker und dem schlechten Ross. Vgl. dazu § 2, Kapitel II.3. der vorliegenden Arbeit. 61 Die Bedeutung, welche Platon der Aneignung von Tugenden durch Herausfordern von Lastern beimisst, geht auch hervor aus dem ersten größeren Themenkomplex der Nomoi, der die Durchführung von Symposien und das Weintrinken zum Gegenstand hat (636a–674c). Es wird dort ausdrücklich empfohlen, dass die Menschen bis ins hohe Alter durch Weingenuss einerseits den Mut des philosophischen Denkens fördern und gleichzeitig durch Mäßigung im Trinken ihre Besonnenheit üben sollen. In diesem Sinne erläutert Leo Strauss diese Textstelle als eine Bedingung der Möglichkeit, nach dem Abstieg in die Höhle sich nicht wieder von den dort herrschenden starren Verhältnissen binden zu lassen: „[. . .] wine drinking educates to boldness, to courage, and not to moderation, and yet wine drinking was said to be conductive to moderation. [. . .]. It means to transcend all human traditions, nay, the whole dimension of the merely human. It means to learn to look down on the human as something inferior or to leave the cave. But by leaving the cave one loses sight of the city, of the whole political sphere. If the philosopher is to give political guidance, he must return to the cave: from the light of the sun to the world of shadows; his perception must be dimmed; his mind must undergo an obfuscation. The vicarious enjoyment of wine through a conversation about wine, which enlarges the horizon of the law-bred old citizens, limits the horizon of the philosopher. But this obfuscation, this acceptance of the political perspective, this adoption of the language of political man, this achievement of harmony between the excellence of man and the excellence of the citizen, or between wisdom and law-abidingness is, it seems, the most noble exercise of the virtue of moderation: wine-drinking educates to moderation. For moderation is not a virtue of thought: Plato likens philosophy to madness, the very opposite of sobriety or moderation; thought must be not moderate, but fearless, not to say shameless. But moderation is a virtue controlling the philosopher’s speech.“ L. Strauss, ,What Is Political Philosophy?‘, in: ders., An Introduction to Political Philosophy. Ten Essays by Leo Strauss, Detroit 1989, S. 29–30. Platon versteht diese Methode des Weintrinkens als eine ernsthafte philosophische Übung und stellt abschließend klar, dass er ein Alkoholverbot bei allen philosophischen und sonstigen offiziellen Tätigkeiten der Bürger befürwortet, falls „es als heiteres Spiel betrieben wird“. In diesem Zusammenhang heißt es auch, dass „in der Stadt weder eine Sklavin noch ein Sklave (mÞte doýlhn mÞte dou= lou) jemals davon kosten darf“ (Nomoi 673e 11–674b 6). Ob dieses Verbot für Sklaven generell oder nur für den erwähnten Fall gilt, bleibt im Text unklar, doch ist, nach Platon, anzunehmen,

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§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften

So zeigt sich in den platonischen Erosdialogen Phaidros und Symposion das Problem des Zweikampfes immer wiederkehrend als Frage nach der Einwilligung des Knaben seinem Liebhaber gegenüber62. Willigt er zu schnell ein, die ihm zukommende submissive Stellung des Geliebten einzunehmen, erweist er sich als unterwürfig und für spätere herrscherliche Aufgaben wenig geeignet. Ebenso wäre aber auch eine Totalverweigerung Zeichen von Feigheit und der bewusste Verzicht auf die Teilhabe an der agonalen Männergesellschaft. Umgekehrt darf sich auch der Liebhaber keine schnelle Einwilligung des Knaben wünschen, um so mehr Gelegenheit zu finden, durch schöne Reden den Geliebten zum schönen Eros hin zu führen und dabei selbst Herr seiner Begierden zu bleiben. Freilich ist es für den Knaben (oder auch einen jeden anderen erotischen Partner) nicht ratsam, sich wahllos auf ein solches Verhältnis einzulassen, da die Intentionen des Liebhabers nicht immer die Edelsten sind. Platon unterscheidet im Phaidros zwei grundlegende Arten des sich Zueinanderverhaltens, gemäß der zwei Antriebe, die das Verhältnis bestimmen können: Begierde und Vernunft: „Wir müssen demnach bemerken, dass es in einem jeden von uns zwei herrschende und führende Triebe gibt, denen wir folgen, wie sie eben führen, eine eingeborene Begierde nach dem Angenehmen und eine erworbene Gesinnung, die nach dem Besten strebt. Diese beiden nun sind uns bald übereinstimmend, zuweilen auch wieder verunreinigt, und dann hat jetzt diese, dann wieder die andere die Oberhand. Wenn nun die Gesinnung uns zum Besseren durch Vernunft führt und regiert, so heißt diese Regierung Besonnenheit; wenn aber die Begierde vernunftlos hinzieht zur Lust und in uns herrscht, wird diese Herrschaft Frevel genannt. Der Frevel aber ist vielnamig; denn er ist vielteilig und vielartig.“63

Im Folgenden beschreibt Platon den destruktiven Einfluss, den ein von den Begierden beherrschter Liebhaber auf das geliebte, oder besser gesagt, begehrte Objekt ausübt: „Notwendig nun wird der von der Begierde _ Beherrschte und der Lust Dienende (™piqumßaò ˜rxomÝnÃw douleýonti te šdonh) das Geliebte aufs angenehmste für sich zurichten suchen. Dem Kranken64 aber ist alles nicht Widerstrebende angedass der Weingenuss für den Sklaven diese positiven Wirkungen nicht hat, sein muthafter Seelenteil höchstens den Begierden zugute kommt und damit auch die Einübung in die Besonnenheit verunmöglichen würde. 62 Dies zeigt sich deutlich in der ,Pausanias-Rede‘ im Symposion, insbesondere 184b 8–185c 2. 63 Phaidros 237d 6–238a 3. 64 Im allgemeinen griechischen Verständnis wurde die starke Ergriffenheit durch Eros als Krankheit empfunden. Vgl. J. J. Winkler, a. a. O., S. 129: „Die Kernerfahrung, die sich in der griechischen erotischen Literatur findet, ist die einer mächtigen, unfreiwilligen Anziehungskraft, die als ein Eingriff empfunden und in einer Pathologie körperlicher und geistiger Störung beschrieben wird.“ Ähnlich beschrieb dies H. Licht in der ersten ausführlichen deutschsprachigen Studie zur Sexualität in der griechischen Antike in den frühen dreißiger Jahren des 20.

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nehm, Gleiches und Stärkeres aber verhasst. Weder besser also noch ihm selbst gleich wird ein Liebhaber gern seinen Liebling leiden mögen, sondern schwächer und unvollkommener wird er ihn immer machen. Schwächer aber ist der Unverständige als der Weise, der Feige als der Tapfere, der Unberedte als der Rednerische, der Langsame als der schnell Denkende. Solche also und noch andere Übel, wenn sie dem Gemüt des Geliebten entstehen oder von Natur innewohnen, müssen den Liebhaber erfreuen, teils auch muss er sie selbst befördern oder sich des augenblicklich Angenehmen beraubt sehen. Neidisch also muss er sein und schon, indem er ihn von anderen, auch nützlichen Verbindungen abhält, durch welche am meisten ein Mann aus ihm werden könnte, ihm großen Schaden verursachen, den größten aber in Hinsicht derjenigen, welche ihn im eigentlichen Sinn weise machen würde. Dies nun ist die göttliche Weisheitsliebe, von der also der Liebhaber den Liebling gewiss, aus Furcht, ihm verächtlich zu werden, weit entfernt halten wird. Und auch im übrigen wird er alles anwenden, damit er, unwissend in allen Dingen und in allem auf den Liebhaber zu sehen genötigt, ein solcher sei, wie er ihm zwar am meisten zur Lust, sich selbst aber eben so sehr zum Schaden gereicht.“65

Wer von der Begierde beherrscht ist, unterwirft sich der Lust und erwartet dies auch von seinem Liebling, wobei er versucht eine tyrannische, die Begierden begünstigende Seelendisposition in ihm zu fördern. Als Strategie dient dem Liebhaber dazu, den jüngeren Geliebten möglichst klein und ungebildet zu halten oder ihn übermäßig schmeichlerisch zu verwöhnen66, d. h. ihn entweder als Tyrann beherrschen oder als Sklave verblenden. Der Angriff zielt hierbei, wie von Platon beschrieben, direkt auf logistikÎn und qumoeidÝò: Unverständigkeit und Feigheit dienen als Grundlage seiner Schwäche, wodurch der Geliebte den Liebhaber zwangsläufig als ihm selbst überlegen ansehen muss oder doch zumindest von der Schmeichelei des Geliebten abhängt, um sich in seinem verfehlten Selbstbild bestätigt zu finden. Einem tyrannischen Eros unterworfen und von diesem verführt, verliert die junge Seele jede Möglichkeit eine heautokratische Struktur zu entwickeln und sich als Vernunftsubjekt gemäß ihrem existentiellen Wesen zu konstituieren. Die so missverstandene Liebe dient der BefriediJahrhunderts: „Wir erinnern uns, dass nach Meinung des Altertums und hauptsächlich der Griechen die Liebe, d. h. das Physische in der Liebe, eine Krankheit ist oder eine mehr oder weniger heftige Form des Wahnsinns. Mit dem ersten Ausdruck wollten sie sagen, dass die Liebe, also der sinnlich-erotische Trieb, auf einer Störung des gesunden Gleichgewichtes des Körpers und der Seele beruhe, so dass unter dem Zwange des erotischen Verlangens die Seele ihre Herrschaft über den Körper verliere, während der Ausdruck Wahnsinn so zu verstehen ist, dass erotisches Begehren an sich nur durch die Annahme einer vorübergehenden Trübung der Verstandestätigkeit zu begreifen sei.“ H. Licht, Sittengeschichte Griechenlands, Stuttgart 1962 (3. Auflage), S. 217. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass Platon im Phaidros von einem zu preisenden göttlich inspirierten Wahnsinn spricht und bezüglich der Liebe nur bei der tyrannischen, exzessiven Form eine pathologische Begrifflichkeit verwendet. 65 Phaidros 238e 3–239b 10. 66 Die Strategie des Schmeichelns beschreibt Platon im Anschluss (Phaidros 240a 11–241c 7). Im Resultat sind beide Formen der Vereinnahmung auf die Seele des Geliebten gleich verheerend.

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gung gegenseitiger und zum Teil künstlich geschaffener Abhängigkeiten, indem die Sklavenseele des Liebhabers die Macht ihrer Begierden nach außen trägt und sich eine noch unbedarfte Seele zur Erfüllung ihrer Begierden versklavt. Ganz anders, wenn die Vernunft der herrschende Trieb ist und nicht in knechtischer Weise die Schönheit des Leibes angebetet wird, sondern sich die Liebe auf die Seele richtet und die Liebenden zu schönen Reden und Gedanken inspiriert. Die berühmte von Sokrates wiedergegebene Rede der Diotima im Symposion konstruiert die Liebe nicht ex vulgo als ein Machtverhältnis zwischen Liebhaber und Geliebtem, sondern setzt beide in ein Verhältnis zur Wahrheit, welches ihnen gemeinsam immanent ist. Der Liebhaber befreit dabei den Geliebten aus der Latenz des in ihm schlummernden Strebens nach Wahrheit und erkennt seinerseits in diesem Prozess das Wesen der Liebe als Realisierung der Wahrheit in der Schönheit der Seelen: „Nächstdem aber muss er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den Leibern, so dass, wenn einer, dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen, damit er selbst so dahin gebracht werde, das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten anzuschauen, um auch von diesem zu sehen, dass es sich überall verwandt ist, und so die Schönheit des Leibes für etwas Geringes zu halten. Von den Bestrebungen aber muss er weiter zu den Erkenntnissen gehen, damit er auch die Schönheit der Erkenntnisse schaue und vielfältiges Schönes schon im Auge habend, nicht mehr das bei einem einzelnen in knechtischer (oœkÝthò) Weise liebt, die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung, und damit dienend (douleýwn) sich schlecht und kleingeistig zeige, sondern auf die hohe See des Schönen sich begebend und dort umschauend viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht.“67

Jene nun folgende Beschreibung des Schönen als solchem in der Einzigkeit seiner Form, die durch alles vielgestaltige Schöne hindurch scheint, soll uns hier weniger interessieren als die Befreiung der Seelen durch das Liebesverhältnis. Die Liebe, welche im Liebhaber durch die Schönheit des Geliebten erweckt wird, zeugt in seinem Denken die Betrachtung der Liebe und der Schönheit selbst und teilt sich dem Geliebten durch schöne Reden und Handlungen dahingehend mit, dass der Eros ihn weg von den Begierden und hin zu den Erkenntnissen führt. Beiden Partnern kommt hierbei eine unabhängige Rolle voneinander zu, inwieweit jeder von ihnen für sich bereit und fähig ist, den durch die gemeinsame Liebe inspirierten Weg zu gehen. „Wenn der Eros Bezug zur Wahrheit ist“, so schreibt Foucault, 67

Symposion 210b 7–d 10.

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„können sich die beiden Liebenden nur treffen, sofern auch der Geliebte durch die Kraft desselben Eros zum Wahren getragen wurde. In der platonischen Erotik kann sich der Geliebte nicht auf eine Objektposition gegenüber der Liebe des anderen beschränken, indem er einfach [. . .] die Ratschläge, die er braucht, und die Erkenntnisse, auf die er hofft, aufnimmt. Es kommt ihm zu, tatsächlich Subjekt in dieser Liebesbeziehung zu werden.“68

Im Gegensatz zum Eros tyrannos, der den Geliebten zum Objekt der Begierden degradiert, indem er die vernünftigen und muthaften Teile der Seele zugunsten des Begehrlichen unterjocht, stärkt das im Schönen zeugende Liebesverhältnis, der Eros kalos, eben diese Seelenteile des Geliebten und setzt ihn frei, sich seiner selbst gemäß zu entwickeln.69 Entsprechend dazu versucht der Liebhaber in seinem durchaus nicht uneigennützigen Bestreben, durch die Liebe zur Schau des Schönen zu gelangen, den Geliebten „besser zu machen“ und ihm zu _ ˘ n)“ ist, „die zeigen, wie seine Seele „Herrin ihrer selbst (™gkrate iò atw Quelle des Lasters versklavt (doulwsÜmenoi)“ und „die der Tugenden befreit hat (™leuqerþsanteò)“.70 Der Liebhaber erweist sich nun als ein Meister der Liebe und als ein Freund der Weisheit, somit als Philosoph, und wird als solcher von dem Geliebten geliebt. Das Verhältnis der Partner kehrt sich um und rekonstituiert sich als wechselseitiges neu im gemeinsamen Bezug auf die Schönheit und Wahrheit der geteilten Liebeserfahrung. In gegenseitiger Anerkennung der ihnen durch den Eros kalos zukommenden Rollen wird aus dem Liebhaber ein Geliebter und aus dem Geliebten ein Liebender. Jenseits der üblichen dominant-submissiven Beziehungsstruktur übt der geliebte Liebhaber nun eine Herrschaft über den liebend-Geliebten aus, die durch die Herrschaft in ihm selbst legitimiert ist und welche zum Ziel hat, den jüngeren Partner eben zu dieser Form von Heautokratie zu ermächtigen.71, 72

M. Foucault, a. a. O., S. 303. Eine begriffliche Gegenüberstellung von Eros tyrannos und Eros kalos findet sich als ,himmlischer‘ und ,irdischer Eros‘ in der Rede des Pausanias. Vgl. Symposion 180c 3–182a 6. 70 Phaidros 256b 1–3. 71 Die Wandlung vom Liebhaber zum Geliebten wird von Platon in der ,Alkibiadesrede‘ des Symposions als besonderes Kennzeichen der Beziehungen des Sokrates zu den Jünglingen seines Kreises, wie dem „Charmides, dem Sohn des Glaukon, und dem Euthydemos, dem Sohn des Diokles, und gar vielen anderen, die er hintergeht, als wäre er ihr Liebhaber und dann vielmehr sich zum Liebling aufwirft statt Liebhaber“ herausgestellt. Vgl. Symposion 222b 2–4. Zu den Beziehungen zwischen Sokrates und Eros s. a. P. Hadot, Exercices spirituels et philosophie antique, Paris 1981, S. 69– 82. 72 Die Struktur des platonischen Liebeskonzeptes ähnelt hierbei prinzipiell der Dialektik von Herr und Knecht, wie sie in § 3., Kapitel I. der vorliegenden Arbeit dargestellt wurde. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Herr dem Knecht die fehlende Herrschaft des Logistikons ersetzt, wohingegen der Liebhaber den Geliebten zu dieser Herrschaft heranführen möchte. 68 69

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Die platonische Erostheorie ist dabei prinzipiell nicht so körperfeindlich, wie es ihr oftmals angedichtet wurde, was schon daraus hervorgeht, dass die erste Sprosse der Leiter, welche die Liebenden in der Diotimarede erklimmen, auf der körperlichen Anziehungskraft beruht.73 Sie dient als Grundlage der Begegnung und ist der Ausgangspunkt dafür, dass der Körper durch den Geist freigesetzt und zu einer Liebe befähigt wird, die im Schönen das Gute zeugt. Der Eros kann zu Freiheit oder Versklavung führen und überträgt sich als solches auch auf alle anderen hier besprochenen Verhältnisse. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Auftritt des Alkibiades am Ende des Symposions.74 Trunken gesellt er sich gegen Ende des Gastmahls zu den übrigen Teilnehmern und schwärmt freimütig von den Verführungskünsten der sokratischen Reden und der tiefen Bewegtheit, die diese in ihm auslösen, da sie ihn nötigen, einzugestehen, „dass mir selbst gar noch vieles mangelt und ich doch, mich vernachlässigend, der Athener Angelegenheiten besorge.“75 Dieser Erkenntnis versucht Alkibiades zu entfliehen und fühlt sich doch weiterhin von Sokrates „Silenenart“ angezogen. Als er nun in Sokrates den Liebhaber der Schönheit erkennt, meint er durch seine eigene körperliche Attraktivität eine gewisse Gewalt über ihn ausüben zu können, um von seiner Weisheit und Nähe zehren zu können.76 Nach allerlei vergeblichen Verführungsversuchen gelingt es ihm schließlich, Sokrates zu nötigen, bei ihm zu nächtigen und ihm ein unzweideutiges Angebot zu machen, welches dieser ironisch abzuwenden sucht. Nun meint Alkibiades aber, seinem Ziele nahe zu sein: „Nach dieser Rede und Antwort nun, und nachdem ich meine Pfeile so zu sagen abgeschossen, glaubte ich ihn doch getroffen zu haben, und ich stand auf, ohne dass ich ihn weiter zum Worte kommen ließ, warf dieses mein Kleid über, denn es war Winter, und legte mich unter seinen Mantel, indem ich mit beiden Armen diesen göttlichen und in Wahrheit ganz wunderbaren Mann umfasste, und so lag ich die ganze Nacht [. . .]. Und ohnerachtet ich dies alles getan, siegte er so sehr und verachtete und verlachte meine Schönheit und trieb Übermut, wiewohl ich doch glaubte es wäre etwas damit, [. . .], wisst es nur, bei Göttern und Göttinnen, dass nachdem ich so mit dem Sokrates geschlafen hatte, ich aufstand, ohne etwas weiteres, als wenn ich bei einem Vater oder älteren Bruder gelegen hätte. Hierauf also wie meint ihr, dass mir zu Mute gewesen, der ich mich gekränkt glaubte, und doch auch an des Mannes Natur und Besonnenheit und Tapferkeit mich erfreute, da ich einen solchen angetroffen, wie ich nie zu finden geglaubt an Weisheit und Beharrlichkeit, so dass ich weder wusste wie ich ihm zürnen sollte und mich seinem Umgang entziehen, noch auch wie ich ihn gewinnen könnte Rat wusste.“77

73 74 75 76 77

Vgl. Symposion 208e 2 und vor allem 210a 7–b 6. Symposion 215a 6–222b 9. Symposion 216a 6–8. Symposion 216d 2–217a 7. Symposion 219b 3–d 9.

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Die neuplatonische Interpretation sieht hierin eine deutliche Ablehnung des platonischen Sokrates der körperlichen Liebe gegenüber. Diese ist allerdings in solcher Schärfe durch nichts in der platonischen Erostheorie gerechtfertigt. Stattdessen wird dem Alkibiades eine Lektion zuteil, zwischen seinem tyrannischen, vereinnahmenden Eros und dem befreienden Eros kalos des Sokrates unterscheiden zu lernen. Alkibiades ist einer der schönsten Jünglinge seiner Zeit und außerdem auf allen Gebieten hoch talentiert, jedoch auch von einem großen Ehrgeiz und Selbstbehauptungstrieb besessen. Er ist der verkörperte Machtwillen und die phallokratische Existenz schlechthin. Sokrates beansprucht deswegen, dass der phallokratische Alkibiades sich verwandelt in das der schönen kosmischen Ordnung entsprechende Wesen, welches auch an ihm zu erahnen ist. Danach strebt Alkibiades selbst jedoch nicht, sondern er will lediglich Sokrates körperlich in Besitz nehmen, um auch diesen Sieg errungen und ihn solcherart für sich vereinnahmt zu haben. Sokrates lässt die Funktionalisierung des erotischen Begehrens zum Zwecke des Machtmissbrauchs jedoch nicht zu. Er bewahrt sich die Freiheit seinen eigenen Begierden gegenüber und kann so auch nicht durch die Begierden anderer in Besitz genommen werden. Die Rede des Alkibiades berichtet uns vom Sieg der freien, wohlgeordneten Seele über die Vereinnahmungsversuche einer von blindwütigen Trieben geknechteten Sklavenseele, die zu einem angesehenen und bewunderten Athener Bürger gehört.78 Es ist nicht der Verzicht auf die körperliche Liebe, wodurch Sokrates diesen Sieg erringt, sondern seine Verweigerung, sich versklaven zu lassen. Die Erfahrungen, die ein jeder Mensch mit Eros macht, prägen seinen Charakter und sein seelisches Wohlbefinden auf wesentliche Weise. Gleichwohl ist es ein schmaler Grat zwischen Freiheit und Versklavung in der erotischen Praxis. Aufgrund dieser Unberechenbarkeit spielt die Erotik in der platonischen Paideia und Gesetzgebung praktisch keine Rolle: „[. . .] sodann ist die ganze Erziehung mit Gesetzen bedacht worden [. . .] und außerdem hält das Auge der Obrigkeiten, da es verpflichtet ist, auf nichts anderes zu blicken, sondern stets eben darauf zu achten und auf die jungen Leute selbst, die anderen Begierden, soweit menschenmöglich, in Schranken. Was aber die Liebesleidenschaften zu Knaben und Männern angeht und von Männern zu Frauen und von Frauen zu Männern, woraus ja schon tausendfaches Unheil für die Menschen persönlich und für ganze Staaten entstanden ist: wie könnte man das verhüten und welches Heilmittel müsste man bereiten, um für diese alle einen Fluchtweg aus einer solchen Gefahr zu finden?“79 78 Alkibiades ist sich der Schmach und Schande, die seine eigene Rede auf ihn wirft, durchaus bewusst. Er gesteht den Zuhörern ein, dass er dies nur berichtet, weil er trunken ist (217e 3), rechnet aber auf das Verständnis der Anwesenden, die Ähnliches erlebt haben könnten (217e 7–218b 8). 79 Nomoi 836a 3–b 5. Vgl. auch Phaidros 252a–b: Die Liebe ist eine Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt, außer der geliebten Person selbst.

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Trotz aller Anlagen und deren Ausbildung muss der Mensch selbst seinen ihm angemessenen Weg zur Freiheit oder in die Versklavung finden und es ist in den Liebesverhältnissen, wo sich ihm die Richtung am deutlichsten zeigt. 3. Freiheit und Versklavung als Selbstverhältnis Freiheit und Versklavung sind nach Platon insbesondere auch Weisen, wie sich der Mensch zu sich selbst innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens verhält. Wer Unrecht tut, versklavt das Beste in sich, die göttliche Vernunft, dem Schlechtesten, den zügellosen Begierden.80 Platon unterscheidet drei Auslöser von Ungerechtigkeit in der Seele, die in die Selbstversklavung führen können: Zorn und Furcht, Tyrannis der Begierden sowie Unwissenheit.81 Im platonischen Gesellschaftsentwurf werden die Affekte durch Paideia zu Tugenden umgebildet und die Zügellosigkeit der Begierden entfaltet sich im philosophischen Liebesverhältnis zur Freiheit des Begehrens. Die existentielle Unwissenheit jedoch kann der Mensch nur durch die Begegnung mit sich selbst überwinden. Das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst wird von früher Kindheit an geprägt durch die Einflüsse der ihn umgebenden Gesellschaft. Diese entspricht zumeist nicht den platonischen Gedanken zu Politik, Erziehung und Eros, sondern folgt den Prinzipien der Pleonexie und handelt aus philosophischer Unwissenheit. Der freigeborene Mensch verliert so seine Freiheit an eine, im psychologischen Sinne, unfreie Gesellschaft, noch bevor er zu denken gelernt hat. Die Frage nach der Wiedererlangung seiner Freiheit kann sich ihm erst stellen, wenn er bereits in die gesellschaftlichen Prozesse aktiv eingebunden ist und deren Zwängen unterliegt. Dies ist die Grundsituation menschlicher Existenz in politischen Systemen, welche Platon mit dem Bild der Höhle und ihrer Bewohner beschreibt. Das Selbstverhältnis des Menschen ist in dieser Lage geprägt von den äußerlichen Umständen, deren Sklave er unwissentlich ist. Seine eigentliche Natur kann sich nur entfalten, wenn er sich aus dieser Unwissenheit befreit; sie ist somit eine Frage der Bildung bzw. Unbildung82, wie es zu Beginn des Höhlengleichnisses in der Politeia heißt. a) Die Befreiungsbewegung des Höhlengleichnisses Das Höhlengleichnis der Politeia kann in diesem Sinne als eine Befreiungsbewegung aus der Selbstversklavung heraus gelesen werden. Der erste Schritt zur Befreiung aus der Sklaverei ist die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit, das Spüren und Lösen der Fesseln, die Selbstermächtigung, sich auf den Weg 80 81 82

Vgl. Politeia 589c 7–590b 12. Nomoi 863b 1–864c 8. Politeia 514a 1–2.

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nach oben zu begeben. Doch der Erwerb dieser Bildung, welche von einem Sklavendasein zu einer selbstbestimmten und freien Existenz führt, gleicht dem mühseligen Ausbruch aus einem Gefängnis. Platon lässt Sokrates das unmittelbare Leben der Menschen als eine Gefangenschaft in einer unterirdischen Höhle beschreiben. Dort sitzen sie, an Hals und Schenkeln gefesselt, von Kindheit an auf demselben Fleck vor einer Wand, mit dem Rücken zur nach draußen ins Licht führenden Öffnung der Höhle. Von diesem Zugang führt ein schmaler Pfad zu den Gefangenen, entlang welchem eine Mauer steht, hinter der andere Menschen hölzerne und steinerne Abbilder von allerlei Gegenständen vorbeitragen, so dass nur diese über die Mauer ragen und aufgrund eines hinter ihnen brennenden Feuers Schatten an die Wand werfen, vor welcher die Gefangenen sitzen. Da diese gefesselt sind, können sie sich weder zur Mauer hin umdrehen, noch einander anschauen, sondern nur die Schatten der Gegenstände an der Wand wahrnehmen, sowie die Stimmen der Träger, die sie aber den Schatten zuordnen, welche sie auch sonst für das einzig Wahre, d. h. ihnen Unverborgene, halten. Diese versuchen sie nun wetteifernd miteinander zu benennen.83 Diese Beschreibung menschlicher Gesellschaft erscheint uns vielleicht heutzutage auf den ersten Blick ebenso fremd und absurd, wie Glaukon, dem Gesprächspartner des Sokrates: „Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche“84, entgegnet Sokrates direkt und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass er nichts anderes umschrieben hat, als das Zusammenleben der Menschen seiner Zeit. Dieses findet in einer Höhle statt, in welche sie hineingeboren werden, da sie „von Kindheit an“85 in ihr gefesselt sind. Die Allegorie der Höhle verweist auf die archaische Lebensweise im dunklen Haus der geschlossenen Familie, welche die zum Teil über Generationen vererbten Zwangsverhältnisse auf ihre Kinder überträgt und somit von Anfang an die freie Entfaltung des Menschen behindert.86 Eltern geben an ihre Kinder die unausgetragenen Konflikte weiter, welche sie mit ihren eigenen Eltern hatten und zusätzlich noch jene, die sie miteinander haben. Das Kind, dem wehrlos ausgeliefert, hat folglich nur die Wahl, die Wahrnehmungszwänge seiner Eltern zu übernehmen oder sich durch Wahrnehmungsverweigerung davor zu schützen. Die Eltern, in ihrem fehlenden Selbstbezug unfähig, ihre Kinder selbstgemäß wahrzunehmen, reproduzieren in diesen ihre eigene Liebes-

Vgl. Politeia 514a 3–515c 3. Politeia 515a 4–6. 85 Ebd. 514a 6. 86 Die Vererbung von Zwangsverhältnissen und deren Kulmination in der jeweils neuen Generation hängt unmittelbar mit dem Verfall der Staatsformen zusammen, wie in Buch VIII der Politeia (545c–568d) beschrieben. Siehe hierzu Kapitel III.2. dieses Teiles der vorliegenden Arbeit. 83 84

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und Lebensunfähigkeit.87 Eine jede Sklavengeneration bringt so unweigerlich die nächste hervor. Platon verdeutlicht solches durch die Fesselung am Hals der Höhlenbewohner, die ein Verändern und Erweitern der Blickrichtung unmöglich macht. Diese Starre und Einengung der perspektivischen Optionen erzwingt gewisse Verhaltensmuster, welche die geistige und seelische Bewegungsfähigkeit einschränken und die freie Entfaltung des angeborenen Lebenspotentials drastisch reduzieren. Die Höhlenbewohner, auch an den Schenkeln gefesselt, sind somit von Anfang an in sklavische Lebensverhältnisse eingebunden, in denen sie unverschuldet festgehalten werden. Die Licht- und Schattenverhältnisse in der Höhle verweisen auf die allen gemeinsame Welt der unmittelbaren Phänomene und des konkretistischen Umgangs mit ihnen, der nicht weiter hinterfragt wird. Die Schattenwelt wird als Wirklichkeit genommen und die Menschen meinen, dieser Schein sei die Wahrheit88. Sie bestätigen sich die Richtigkeit dieser Annahme, indem sie die Dinge an der Wand, welche eigentlich Schatten sind, untereinander zu benennen versuchen. Sie können die Dinge nicht von den Schatten unterscheiden und definieren auch sich selbst und ihre gesellschaftliche Position über die Phänomene, welche sich ihnen unmittelbar zeigen. So reproduziert sich die Scheinwelt in ihrem Wahrheitswahn als Selbst- und Fremdtäuschung, denn niemand vermag von sich selbst aus direkt auf den anderen Bezug zu nehmen, da man nur indirekt über die Schatten89 kommuniziert. In der Höhle lebt keiner durch sich selbst, sondern jeder durch die Schatten. Die Schattenwelt wird für die wahre Welt gehalten und an dieser fesselnden Falschheit eines dinglich fixierten Nicht-Lebens hält man zwanghaft fest. Die verführten Verführer in der Höhle führen nicht ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben, sondern ein von Fremdzwängen geprägtes Tod-Leben, denn das Gesetz der Höhle ist der Tod, wofür schon ihre unterirdische Lage spricht, die bildhaft den Hades symbolisiert. 87 Um diese familiären Zwangskonstellationen gar nicht erst aufkommen zu lassen, sieht Platon in Politeia 457d und 460b–d eine gemeinschaftliche Erziehung der Kinder vor; dies bedeutet, dass die Kinder ihre leiblichen Eltern nicht kennen und von den Erwachsenen der vorigen Generation kollektiv aufgezogen werden. 88 Die eigentliche Bedeutung des Wortes ,˜lÞqeia‘ ist das ,Unverborgene‘. In diesem Sinne sind die Schatten das Wahre für die Höhlenmenschen, da sie das sind, was sich ihnen aus ihrer Perspektive heraus zeigt. Heidegger unterscheidet demgemäß vier Stufen von Wahrheit im Höhlengleichnis: In der Höhle vor der Wand, nach Lösung der Fesseln, draußen vor der Höhle und nach dem Rückstieg. Der Prozess der Erkenntnis, welcher im Höhlengleichnis beschrieben wird, vollzieht sich im fortschreitenden Entdecken des Unverborgenen aus dem Verborgenen. Vgl. M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Bern/München 1975, S. 27–32. 89 Bereits in der Apologie (18d 3–9) kommt es Sokrates vor, als kämpfe er vor Gericht wie mit Schatten, überredeten Menschen, die andere überreden.

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In der Höhle herrscht Finsternis, ebenfalls ein Symbol für den Tod. Gleichwohl brennt hinter der Mauer ein Feuer, welches immerhin ein Gewahrwerden der Schatten ermöglicht. Der Schein des Feuers in der Höhle ist Abbild der Kraft der Sonne90 und die Mindestvoraussetzung dafür, dass die Höhlenbewohner überhaupt an einem Schein von Leben partizipieren und sich in irgendeiner Weise etwas vorstellen können. Das Licht braucht den Schatten nicht, der Schatten kann jedoch ohne Licht nicht existieren; somit gründet auch die Wahrheit des höhlenhaften Scheinlebens letztendlich im Lebendigen selbst, wofür bei Platon die Sonne steht, die alleine Leben und als geistiges Licht auch wahrhafte Erkenntnis ermöglicht.91 Von dieser sind die Höhlenmenschen in ihrem sklavischen Gefangenendasein allerdings noch weit entfernt, denn das Licht des Lebens mischt sich in ihrer Welt mit der Finsternis der allgemein für wahr gehaltenen Unwissenheit des Meinens. Sie vegetieren in der Grauzone eines Todlebens, dem jegliche Unterscheidungsfähigkeit von Lebens- und Todesprinzipien, d. h. auch von Freiheit und Unfreiheit, abhanden gekommen ist. Die Welt der Phänomene zeigt sich als eine falsche, lebensverneinende Existenz, da der Blick auf sie durch ererbte, gesellschaftlich sanktionierte und selbstreproduzierte Zwangsverhältnisse verstellt und eingeschränkt ist. Man hält die allgemeine Täuschung für die eigene Wahrheit, da man nicht gelernt hat, frei von äußeren und inneren Zwängen, das Leben selbstgemäß zu gestalten und in sich zur freien Entfaltung zu bringen. Die allgewaltigste Fessel der Höhlenbewohner ist weder die am Hals noch die an den Schenkeln, sondern die gegenseitige Verblendung und gemeinsame Verführung zum Falschen der Schatten als des Wahren, welches innerhalb des Höhlensystems höchstens ein Richtiges, da allgemein Anerkanntes, ist. Nichtsdestoweniger steht dieses Leben unter den Gesetzen des Todes und des Sklaventums. Dessen Reproduktion verwandelt die unverschuldete Schuld des in die Höhle Hineingeborenseins in eine schuldige Unschuld des in der Höhle Bleibens, denn es gibt einen Ausgang, und es liegt nun am einzelnen Menschen selbst, sich auf den Weg in die Freiheit zu machen. So fährt Sokrates nun fort in der Erzählung des Höhlengleichnisses mit der Loslösung aus diesen Verhältnissen: Einer der Höhlenbewohner wäre nämlich nun entfesselt und würde gezwungen, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu schauen. Die ungewohnten Bewegungen bereiten ihm große Schmerzen und wegen des flimmernden Glanzes vermag er nicht jene Dinge zu erkennen, welche die Schatten an die Wand werfen. In seiner Verwirrung wird er meinen, dass die Schatten wirklicher seien als das nun unklar Erblickte, auch wenn ihm jemand das Gegenteil versicherte. Müsste 90 91

Vgl. Politeia 517b 3–4. Vgl. Politeia 509b 2–11.

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er nun gar in das Feuer selbst blicken, so schmerzten ihm die Augen und er würde an seinen alten Platz zurückkehren wollen, in fester Überzeugung, das hier Gezeigte sei dem Seienden weitaus näher als das soeben unklar und qualvoll Gesehene. Jedoch wird er dort nicht zur Ruhe kommen, denn nun schleppt ihn einer unter viel Schmerzen den steilen Weg zum Ausgang der Höhle hoch und wird ihn nicht loslassen bis er an das Licht der Sonne kommt, in deren Glanz er nichts sehen kann von dem, was sich ihm nun zeigt. Behutsam muss er seine Augen an die neuen Beleuchtungsverhältnisse gewöhnen, indem er zuerst die Schatten zu erkennen lernt, dann die Spiegelbilder der Menschen und Dinge im Wasser und schließlich diese selbst. Ebenso betrachtet er den Himmel erst bei Nacht, erblickt das Mond- und Sternenlicht, bis er es wagt, tagsüber das Abbild der Sonne im Wasser anzuschauen. Zuletzt aber kann er auch die Sonne selbst ins Auge fassen und erkennt allmählich, dass sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft, alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was er in der Höhle sah, gewissermaßen die Ursache ist.92 Platon stellt die Menschen erst einmal als knechtische und höhlenhafte Wesen dar, sodann geht es ihm aber um „Lösung und Heilung (lýsin kaÍ èasin)“ von ihren Banden und ihrem Unverstande (˜—rosýnhò).93 Das Gleichnis berichtet nicht nur über Aufenthalte, sondern über Vorgänge, welche Übergänge sind.94 Die Frage ist also, wie der einzelne Mensch aus den starren Zwangsverhältnissen der Höhle in eine ihm selbstgemäße, lebenseröffnende Bewegung kommt; oder, konkreter gefragt, wie handelt man in einer handlungslosen Welt und wie kann aus Unfreiheit Befreiung entstehen. Es wäre wohl vergeblich, auf einen äußeren Retter zu warten, der einem die Fesseln abnimmt. Platon schreibt, dass einer „entfesselt wäre“, ohne genauer darauf einzugehen, wie dies vonstatten gegangen ist. Er spricht nicht davon, ob ein Retter kommt oder nicht, sondern wie Rettung aussieht. Der Mensch muss von sich aus eine Bereitschaft zur Rettung und Verwandlung seiner Verhältnisse haben. Dies setzt allerdings voraus, dass es auch in der Höhle etwas Rettendes gibt.95 Dieses Rettende ist das Licht, als Schein des Feuers in der Höhle. Das Leben hängt ab von den Beleuchtungsverhältnissen; auch die Schatten können in einem anderen Licht, d. h. aus einer anderen Perspektive, als Täuschung erkannt werden. Um den allgemein akzeptierten Schein als Täuschung zu begreifen und so von der noch unentdeckten Realität schiedlich zu machen, muss ein neues Wissenslicht aufgehen, welches das Denken zur Wahrnehmung des unmittelbar Vgl. Politeia 515c 5–516c 2. Politeia 515c 4–6. 94 Vgl. M. Heidegger, a. a. O., S. 22. 95 So etwa zu Anfang von Hölderlins Gedicht Patmos: „Nah ist / und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ 92 93

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Gegebenen bringt und so die zur Verwandlungsbewegung notwendige Unterscheidungsfähigkeit zwischen Vorgetäuschtem und Selbstentdecktem herstellt. Das Abbild des erkenntnisstiftenden Lichtes, symbolisiert durch das Feuer, ermöglicht die Wahrnehmung des eigenen noch ungelebten Selbstes in seinem Begehren, das eigene, noch ungeborene Leben ans Licht der Welt kommen zu lassen. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich selbst als Gefesselten wahrzunehmen, denn die Fesseln lassen sich nur lösen, wenn man sie kennt. In dieser durch Selbstbeobachtung initiierten Selbstbewegung lockert sich dann bereits die Fessel am Hals, welche eben die Weigerung darstellt, sich selbst und die anderen als Gefesselte wahrzunehmen, wie auch die Fesseln an den Schenkeln, welche die Unfähigkeit versinnbildlichen, das eigene Begehren wahrzunehmen. Das Licht steht hierbei für die Bedingung der Möglichkeit, diese Verhältnisse unterscheiden zu können, wodurch sich die so erkannten Fesseln bereits lockern und die Voraussetzung für die Befreiung aus der Versklavung durch die Zwangsverhältnisse bieten. Das Herauslösen aus den gewohnten, behaglich gewordenen Umständen ist freilich mit viel Mühe und Schmerzen verbunden. Verwirrt durch seine gewonnene Freiheit, ungewohnt, sich zu bewegen, und noch nicht in der Lage, die sich entbergende, neue Erkenntnis zu fassen, möchte der Entfesselte zurück auf den ihm angestammten Platz vor der Wand, wo er die ihm bekannten Schatten zu benennen vermag und sich aus Gewohnheit auskennt. Die neuen Eindrücke hält er nicht für wahr, da sie nicht in sein ihm vertrautes Weltbild passen. Der Höhlenmensch fühlt sich existentiell bedroht, da mit dem Lockern der Fesseln seine ihm Sicherheit verheißende Sklavenexistenz in Frage gestellt wird. Er muss sich von dem ihm Gewohnten und Bekannten loslösen, um den mühevollen Weg zu seinem freien Selbst zu finden, der ihm erst einmal unklar, unsicher und wirklichkeitsfern zu sein scheint. Indem er seinen Platz vor der Höhlenwand verlässt, verliert er die Sicherheiten seiner klar geregelten Vorstellungswelt. Dies versetzt den Menschen in Todesangst und das auch zu Recht, denn um zur wahren Einsicht zu gelangen, müssen die Todeszwänge seines Schattenlebens zu Tode kommen. Der Höhlenbewohner meint zu sterben, doch es ist nur seine Schattenexistenz, dieses Selbstbild als Fremdentwurf, welche stirbt, die er aber für wirklich hält. An dieser versucht er zwanghaft festzuhalten, denn in der bequemen Sicherheit unmittelbaren Meinens fühlt er sich besser aufgehoben als auf dem einsamen Weg der Selbstbeobachtung, von dem er noch nicht wissen kann, wo, und ob er überhaupt irgendwo hinführt. In dieser verzweifelten Verwirrung kommt einer und schleppt ihn mit Gewalt (bßa) „durch den unwegsamen und steilen Aufgang, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hat“96. Platon sagt nicht, wer kommt, aber der nun folgende 96

Politeia 515e 7–11.

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Aufstieg ist mit Gewalt verbunden und wird als gewaltig empfunden. Was hier genau geschieht, wird etwas später in den Folgerungen, die Sokrates aus dem Höhlengleichnis zieht, beschrieben. Im Gegensatz zu der von vielen Sophisten vertretenen Auffassung, dass die Seele ursprünglich eine Tabula rasa sei, denkt Platon das Erkenntnisvermögen und damit latent das gesamte Wissen als der menschlichen Seele von jeher innewohnend.97 Das Erkennen mag somit einem Göttlichen angehören, welches seine Kraft wohl niemals verliert, aber durch Umlenkung nützlich und heilbringend oder aber auch unnütz und verderblich wird. Kluge Menschen beispielsweise, die Böses tun, besitzen ein ausgeprägtes Erkenntnisvermögen, richten dies aber nach unten statt nach oben.98 Es stellt sich also die Frage, wie dieses Vermögen am leichtesten und wirksamsten umgewendet werden kann, denn es muss nicht erst gebildet werden, sondern ist schon vorhanden, aber noch nicht recht gestellt und sieht nicht klar, wohin es soll.99 Die Umwendung bedeutet auch eine Abwendung von den allgemein anerkannten Beleuchtungsverhältnissen der Höhle. Es ist der Abschied aus der dämmerigen Unterwelt der ununterschiedenen Lebens-Todes-Verhältnisse einer versklavten Freiheit, um hinauf an das Licht eines von allen Fremdzwängen befreiten Lebens zu gelangen, „nach Art einiger, von denen erzählt wird, sie seien aus der Unterwelt zu den Göttern hinaufgestiegen“100. Die Gefilde des Totenreiches einer unreflektierten Meinungspolis und des Götterreiches der ewigen, selbst einsichtig gewordenen Erkenntnis sind sich freilich diametral entgegengesetzt, und es erfordert die Umlenkung der ganzen Seele, „welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen“101. Der Abschied aus den Sicherheiten des Höhlenlebens zu den Wagnissen der Erkenntnis hin, in deren Licht der Höhlenmensch erst einmal blind ist, kann für ihn nicht als angenehm, sondern muss zuvorderst als gewaltsam empfunden werden.102 Überwältigt vom Ruf des eigenen Erkenntnisvermögens, den Blick auf das ihm selbst gemäße Göttliche zu richten, schlägt er den Weg zur Philo97 Eine ausführlichere Darlegung der platonischen Seelenlehre findet sich in § 2 ,Die Konzeption der sklavischen Seele‘ der vorliegenden Arbeit. 98 Vgl. Politeia 518b 8–519b 6. 99 Vgl. Politeia 518d 3–9. 100 Politeia 521c 2–3. Hier könnte an Asklepios gedacht sein. 101 Politeia 521c 6–9. 102 Eric Voegelin fragt, welche Kraft es in der Politeia ist, die den Menschen auf den mühsamen Weg der Erkenntnis bringt und nennt sie das Begehren nach Wahrheit (desire for truth), welches m. E. durch das Feuer in der Höhle ermöglicht wird. Die entsprechende Kraft im Symposion ist der Eros, im Phaidros die Mania, der göttliche Wahn der Begeisterung. Vgl. E. Voegelin, Order and History, Volume Three: Plato and Aristotle, Baton Rouge and London 1957, S. 113.

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sophie ein, falls ihm die Götter gnädig sind und ihm die dazu nötige Kraft und Tapferkeit verleihen.103 Die Bereitschaft zur Umlenkung auch in Bewegung zu bringen, dieses „stärker sein als man selbst“104 zu vollziehen, dürfte ein individuell unterschiedlicher Prozess sein. In jedem Falle ist der zu beschreitende Weg die Philosophie samt ihrer Propädeutika105, welcher viel Geduld und Gewöhnung erfordert, um schrittweise zu dem befreienden Wissen über die Herkunft der Schatten und den Ermöglichungsgrund von Allem zu gelangen. Als erstes erkennt der seine Fesseln abgestreift habende Mensch das Höhlenfeuer und die Figurenmodelle als Ursprung der Schatten an der Wand. Jedoch auch das Feuer und die schattenwerfenden Abbilder leiten sich von einem höheren Prinzip außerhalb der Höhle her, zu dessen Erkenntnis er erst über viele Zwischenstufen gelangen wird. Wenn der sich befreiende Sklave nach langem Aufstieg des nachts zum Ausgang der Höhle gefunden hat und nun den sich auf dem Wasser spiegelnden Mond für die Quelle des Lichts und den Ursprung der Schatten in der Höhle hält, hat er zwar eine erste persönliche Befreiung erreicht, doch nur, um Einblick in weitere kosmische Gesetzesmäßigkeiten zu nehmen, wie z. B. die Abhängigkeit des Spiegelbildes vom Mond selbst und dessen Unterworfensein unter die Sonne, bis er schließlich eines Tages diese als Grund von allen Schatten und allem Sein erkennt und in plötzlicher Erleuchtung in ihr das Sinnbild für das kosmische Gesetz erblickt, das einzige, dessen Sklave er fortan sein wird. In diesem Sinne wird die Sonne als Symbol für das Gute selbst (tü ˜gaqün) erkannt. Erst jetzt wäre der Mensch befähigt, gemäß den Prinzipien des Kosmos auch politisch zu handeln. Sowie das Spiegelbild in seiner Bedingtheit Sklave des Mondes und dieser wiederum Sklave der Sonne ist, geht der Philosoph den Weg vom Sklaven vieler Herren zum freiwilligen Sklaven des einen kosmischen Gesetzes, und seine gesellschaftliche Aufgabe bestünde darin, dieses politisch umzusetzen und allen anderen Sklaven der Polis den ihnen gemäßen Platz unter entsprechend vielen, beziehungsweise wenigen Herren zuzuweisen.

103 Zur Notwendigkeit göttlicher Hilfe in widrigen Umständen vgl. Politeia 492a 1– 6 und 492e 4–493a 2. 104 Vgl. Politeia 430e 8–431b 3. S. a. hierzu in § 3, Kapitel II. ,Herrschaft und Tugend‘ der vorliegenden Arbeit die Ausführungen zum ™piqumhtikün. 105 Diese wären: Arithmetik, Geometrie, Stereometrie und Astronomie, sowie Harmonielehre. Siehe hierzu das erste Kapitel dieses Teiles der vorliegenden Arbeit ,Freiheit und Versklavung in Erziehungsverhältnissen‘.

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b) Das Höhlengleichnis im Lichte des Sonnenund Liniengleichnisses An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, die Idee des Guten, auf welche die platonische Philosophie ebenso hinausläuft, wie sie auf der Seelenlehre aufbaut, etwas genauer zu beleuchten und zur Interpretation des Höhlengleichnisses das Sonnen- und das Liniengleichnis heranzuziehen. Platon selbst weist darauf hin, diese drei bei der Deutung miteinander zu verbinden.106 Diesem Aufruf wurde in der Forschung weitgehend Folge geleistet, wenn auch große Differenzen darüber bestehen, ob das Höhlengleichnis eher aufgrund des Sonnen- oder des Liniengleichnisses interpretiert werden sollte.107 Ersteres führt zu einer eher idealistisch-metaphysischen Interpretation, die keinen Unterschied zwischen dem Guten selbst und der Idee des Guten macht, letzteres zu einer eher erkenntnistheoretisch orientierten Auslegung, welche die Idee des Guten als noetische Apperzeption des Guten selbst begreift. Beide blenden die politische Dimension des Höhlengleichnisses aus. Die politische Interpretation schließlich basiert auf dem Gegensatz von philosophischem und politischem Leben, fragt aber nicht danach, wie dieser zu überwinden sei. Meines Erachtens bauen die drei Gleichnisse aufeinander auf, so dass die Ergebnisse jedes einzelnen im Folgenden weitergeführt werden. Wenn es auch geringfügige Abweichungen zwischen den Gleichnissen gibt, insbesondere zwischen den beiden unteren Linienabschnitten und der Höhlenwelt108, gehen Sonnen- und Liniengleichnis doch im Höhlengleichnis auf und erhalten dort eine politische Dimension, die durch das Bild des Himmels, des Mondes, der Sterne und insbesondere durch die Sonne in einem kosmologischen Maßstab fundiert wird, der auch die Diskrepanz zwischen philosophischem und politischem Leben als auflösbar erscheinen lässt. Im Sonnengleichnis versucht Sokrates das Gute selbst mitteilbar zu machen und fürchtet die Schwierigkeit dieser Aufgabe. Er meint, unvermögend dafür zu Vgl. Politeia 517a 10–b 8. Da diese Fragestellung nur peripher mit dem zentralen Anliegen dieser Arbeit, den politischen und philosophischen Implikationen der Sklaverei bei Platon, verbunden ist, sei hier auf die ausführliche Diskussion dazu bei Z. Planinc, Plato’s Political Philosophy, Missouri 1991, S. 32 ff., verwiesen. Das problematische dieser Interpretationen ist die Reduzierung auf einen einzelnen Gesichtspunkt, obwohl sich die Interpretatoren weitgehend darüber einig sind, dass die platonischen Dialoge ein organisches Ganzes sind. Die hier vorliegende Arbeit versucht, die Gesamtperspektive von Psyche, Polis und Kosmos im Auge zu behalten, auch wenn Einzelaspekte dieser Verbindung behandelt werden. Da dieser Zusammenhang grundlegend die gesamte platonische Philosophie betrifft, versteht es sich, dass das Thema in diesem Rahmen nicht umfassend und erschöpfend behandelt werden kann. Vielmehr geht es darum, die psychokosmopolitische Dimension für jeden Teil des Auf- und Abstieges mitzudenken. 108 Vgl. K. Bormann, Platon, Freiburg und München 1993 (3. durchges. Auflage), S. 80. 106 107

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sein und vermutet sich ungeschickt und lächerlich dabei zu gebärden. Des Weiteren hält er das Thema für viel zu weitläufig, als dass er auch nur soviel mitteilen könnte, wie er bereits darüber weiß.109 Das Gute an sich ist letztendlich nicht begrifflich mitteilbar, sondern lediglich über alle Erkenntnis hinaus als ,Schau‘ erfahrbar. Gleichwohl erklärt sich Sokrates bereit, über einen Sprössling des Guten, der diesem sehr ähnlich erscheint, Auskunft zu geben.110 Dieser Sprössling ist die Sonne in ihrem Verhältnis zum Sehvermögen. Das Auge kann das Sichtbare nur sehen, wenn die Sonne mit ihrem Licht hinzukommt. Das Sehen und Gesehenwerden sind also mit einem „köstlichen Bande“ über das Licht mit der Sonne verbunden.111 Die Sonne ist der Grund (aœtßa) des Sehvermögens und das sehende Auge das sonnenähnlichste Sinnesorgan112, da es sein Vermögen nur durch die Sonne realisieren kann und diese somit als Ursache des Sehens begriffen werden kann.113 Diese Merkmale im sichtbaren Bereich der Sonne entsprechen (˜nÜlogon) im Gebiet des Denkbaren denen des Guten (˜gaqün) in Bezug auf Denken und Gedachtem.114 Das Gute selbst ist weder das Denken (nou= ò) noch das Gedachte (nooýmena), sondern das, „was dem Erkennbaren Wahrheit (˜lÞqeia) mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt.“115 Erkenntnis und Wahrheit haben ihre Ursache im Guten an sich, sind aber nicht dieses selbst, sondern lediglich gut-artig, so wie das Auge sonnenähnlich (†lioeidÝstatün) ist. Das Gute als Ursache von Erkenntnis und Wahrheit ist als solches von höherer Beschaffenheit als diese, da es deren Sein erst gründet und somit „über das Sein an Kraft und Würde hinausragt“.116 Dies wird insbesondere an der Stelle deutlich, wo Sokrates über den Bereich des Sehens und Erkennens noch hinausgeht. Die Sonne verleiht „dem Sichtbaren nicht nur das Vermögen, gesehen zu werden, sondern auch das Werden und Wachstum und Nahrung unerachtet sie selbst nicht das Werden (gÝnesiò) ist.“117 Ebenso kommt nun dem Erkennbaren nicht nur das Erkanntwerden von dem Guten zu,

Politeia 506d 7–e 6. Ebd. 506e 4–6. 111 Ebd. 508a 1–3. 112 In diesem Sinne dichtet Goethe in der Einleitung zu seiner Farbenlehre: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigene Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“ Goethe verweist diesbezüglich auch auf die vorsokratischen ionischen Philosophen und auf Jakob Böhme. Vgl. J. W. Goethe, Farbenlehre, Bd. 1, hrsg. von G. Ott, Stuttgart 1988, S. 56 f. 113 Politeia 508a 14–b 10. 114 Politeia 508b 12–c 4. 115 Politeia 508e 1–3. 116 Politeia 509b 9–11. 117 Politeia 509b 2–5. 109 110

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„sondern auch das Sein und Wesen habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht das Sein ist“, sondern diesem vorangeht (™pÝkeina).118 Das Licht der Sonne und seine entsprechende Analogie als Idee des Guten verweisen auf die Grundlegung von Existenz im Allgemeinen und die Bedingung der Möglichkeit von Leben im Besonderen. Das Gute ist somit nicht als moralischer Wert gedacht, sondern bezeichnet eher im Sinne von Nietzsche einen Wert als die vom Leben selbst gesetzte Bedingung der Ermöglichung des Lebens.119 Das Agathon bedeutet griechisch gedacht, wie Martin Heidegger schreibt, „das, was zu etwas taugt und zu etwas tauglich macht. Jede Idee, das Aussehen von etwas, gibt die Sicht auf das, was je ein Seiendes ist. Die Ideen machen daher dazu tauglich, dass etwas in dem, was es ist, erscheinen und so in seinem Beständigen anwesen kann. Die Ideen sind das Seiende jedes Seienden. Das, was jede Idee zu einer Idee tauglich macht, die Idee aller Ideen, besteht darin, das Erscheinen eines in all seiner Sichtsamkeit zu ermöglichen. Das Wesen jeder Idee liegt schon in seinem Ermöglichen und Tauglichmachen zum Scheinen, das eine Sicht des Aussehens gewährt. Daher ist die Idee aller Ideen das Tauglichmachende schlechthin, tü ˜gaqün.“120

Das Gute als Grund alles Existierenden, zu Erkennenden und allen Erkennens ist somit überall präsent, wo etwas Seiendes sich zeigt. Selbst dort, wo die Sonne am weitesten von dem menschlichen Auge und seiner Erkenntnisfähigkeit entfernt ist, in der Höhle, zeigt sich der Schein des lebensspendenden Lichtes als Feuer und ermöglicht den Blick auf die Schatten des Seienden, wenngleich es auch nicht als Ursache dafür erkannt wird. Das Feuer „ist Bild für den unbekannten Grund jener Erfahrung des Seienden, die zwar Seiendes meint, aber es nicht als ein solches kennt.“121 Der Mensch, der gefesselt vor der Höhlenwand die Schatten beobachtet, weil seine Seele als Erkenntnisvermögen nicht zum Licht hin gewendet ist, weiß nicht, sondern meint nur zu wissen und sein geistiges Sehvermögen verdunkelt sich in dem Maße, dass seine Vorstellungen unstet und wechselhaft sind, so dass es so aussieht, „als ob [es] keine Vernunft hätte“.122 Vernunft und Wahrheit zeigen sich dem Höhlenbewohner nur durch eine Neubeleuchtung seiner Verhältnisse, welche sich durch Umwendung der Seele zum Licht hin ereignet. In seinem Verhalten zu den Ideen, in seinem Hin- oder Abwenden, entscheidet der Mensch über den Grad seiner Freiheit, ergo seiner Lebensbefähigung, denn wenn Idee das ist, was zu etwas tauglich macht, taugt sie letztendlich zur Frei118 119 120 121 122

Politeia 509b 7–11. Vgl. M. Heidegger, a. a. O., S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Vgl. Politeia 508d 8–12.

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setzung aller dem Menschen innewohnenden Lebenspotentiale, welche kulminiert im Grund aller Gründe, dem Tauglichmachenden schlechthin: Der Idee des Guten. Die Einsicht in den Grund allen Erkennens und allen Seins, der selbst über das Sein in jeder Weise hinausragt, kann nur als Resultat eines langen Weges gedacht werden, der kontinuierlich Grenzen des üblichen Meinens überschreitet, bis es zur platonischen Transzendenzerfahrung kommt, welche zu dem Guten selbst als jenseits (™pÝkeina) des Seienden führt. Dieses Jenseits ist aber kein Aufstieg in die weltlose Welt einer postvitalen Unsterblichkeit, sondern das Aufgehen einer schöneren, der Idee des Lebens als des Guten entsprechenden Weltbildung im Lichte der Erkenntnis. Wer die Höhle nie verlassen hat, versteht freilich auch nicht, wovon die Rede ist. Sokrates’ Gesprächspartner Glaukon kann das ™pÝkeina nur ironisch als „wundervolles Übertreffen (daimonßaò perbolÞò)“123 kommentieren. Anhand des Liniengleichnisses versucht Sokrates nun, dem eher an rationale als an poetische Wahrheiten gewohnten Glaukon, den Weg zur Einsicht in die Idee des Guten auf geometrische Weise zu verdeutlichen. Hierzu werden vier Arten von Wissen unterschieden. Man stelle sich eine in zwei Bereiche unterteilte Linie vor: Der eine steht für den Bereich des Sichtbaren und des Werdens, der andere für den des Denkbaren und des Seienden. Jeder Bereich wird noch einmal in zwei Teile geschieden124. Im Gebiet des Sichtbaren gibt es zum einen den Abschnitt der Bilder (eœküneò), womit Schatten und Spiegelungen gemeint sind.125 Der andere Teil beinhaltet die Dinge selbst, von denen die Schatten und Spiegelungen stammen. Es ist der Bereich der sinnlichen Wahrnehmung, der alle Vertrauen und Glauben (pßstiò) schenken. Im Gebiet des Denkbaren gibt es einerseits den Bereich der mathematischen und geometrischen Objekte, die verstandesmäßig (diÜnoia) erfasst werden, jedoch ohne ihre Voraussetzungen zu hinterfragen,126 und andererseits den Bereich der eigentlichen Ideen, die von der Vernunft (nou= ò) unmittelbar ergriffen werden und im dialektischen Fortschreiten von Voraussetzung zu Voraussetzung zum Anfang allen Anfangens gelangt. Dies ist die Wissenschaft (™pistÞmh) der Philosophie.127

Politeia 509c 1–2. Die Linie und ihre Abschnitte sind nicht symmetrisch aufgebaut. Die Interpretation dieses Sachverhaltes ist aber für unser hier zu behandelndes Thema nicht von Bedeutung. 125 Politeia 509d 8–510 a 3. 126 Vgl. Politeia 510b 3–511 b 2. 127 Vgl. Politeia 511b 3–d 9. 123 124

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Diese vier Abschnitte der Linie entsprechen, wenn auch nicht vollständig, den Aufenthaltsbereichen in der Höhle, die verschiedene Stufen von Wahrheitserfahrung repräsentieren. Der Teil der eœküneò verweist auf die subjektive Wahrnehmung des die Schatten beobachtenden Höhlenmenschen. Pßstiò bezeichnet die allgemein anerkannte Welt des Meinens und Glaubens, den Meinungsaustausch über die Schatten, die empirische Wahrnehmung. Der Linienabschnitt des Sichtbaren entspricht somit der Schattenwelt der Höhle. Bereits im Aufstieg begriffen ist der Geometriker, der durch den Gebrauch seines Verstandes dem Licht der Erkenntnis schon näher ist und so die Kraft gewonnen hat, die Höhle zu verlassen, wenngleich er außen nur die Spiegelungen im Wasser und die Gestirne bei Nacht betrachtet und nicht nach den Voraussetzungen für diese fragt. Dies tut erst der Dialektiker, welcher so zur Schau der Ideen, den Dingen selbst vordringt und schließlich zum Wesen allen Seins, Anfang allen Anfangens, der Idee des Guten gelangt. Das Gute selbst, welches jenseits des Seienden ist, kann nur als Idee geschaut werden. Diese aber vermittelt Einsicht in das Wesen des Erkennens als seiner eigenen Selbstvoraussetzung durch das Gute. Sie verweist ferner auf das Wesen allen Seins als dessen anfangslos anfangender Grundvoraussetzung und gibt somit den Blick frei auf das Urbild (parÜdeigma) der allem Sein und somit auch dem Menschen und der Polis zugrunde liegenden Ordnung (kosmei=n).128 c) Der Abstieg in die Höhle Aus diesem Wissen heraus denkt unser ehemaliger Höhlenmensch nun an sein früheres Leben in der Höhle, an seine damaligen Mitgefangenen und an das, was dort für Weisheit gehalten wurde. Im Lichte des errungenen Wissens vom wahren Sein allen Werdens ist er glücklich über die Veränderung und beklagt die anderen, welche die Schatten für wirklich halten und Belohnungen, Lob und Ehre dem zuteil werden lassen, der vorherzusagen vermag, welches Abbild als nächstes auf der Wand erscheint. Alles andere würde der Aufgestiegene eher über sich ergehen lassen als jemals wieder so leben zu müssen und solche Vorstellungen zu haben.129 Der Befreite will nicht mehr in den Kerker der Höhle zurück, sondern sich weiterhin im Lichte der Erkenntnis des Guten sonnen. Losgelöst von den Banden der Schattenwelt ist er nun in Gefahr, sich in der weltlosen Welt des reinen Lichtes zu verlieren. Der isolierte Aufstieg führt den Menschen in die ideelle Welt der Erkenntnis von der allwaltenden vernunftgemäßen Ordnung des Guten, jedoch ohne Bezug dieses Wissens zur politischen Leibgemeinschaft der Menschen. Die Erkenntnis in ihrer Absetzung von der allgemeinen Meinung bein128 129

Vgl. Politeia 540a 9–b 2. Vgl. Politeia 516c 5–e 2.

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haltet somit die Tendenz, wieder zu einer Fessel zu werden, die sich in Sinnesfeindlichkeit und einem zwanghaften Leib-Seele-Dualismus manifestieren kann. Dies ist das Problem einer wohl erfahrenen, aber nicht zu sich selbst gebrachten Transzendenz, die aus der Welt herausführt und quasi-jenseitig das Leben in einer weltlosen Erkenntnis fristet. Die Verblendung besteht in der Verabsolutierung der Erkenntnisfähigkeit der Seele ohne Berücksichtigung ihrer Verkörperung im Leib. Die körperlose Vernunft als Weltflucht ins Lichtreich ist auf ihre Art ebenso lebensfeindlich wie die vernunftlose Körperlichkeit als sklavischer Zwangsbegierde in der Schattenwelt. Um durch die Erkenntnis des Guten die Verwandlung zu einer wahrhaft befreiten und lebensspendenden Wirklichkeit zu vollziehen, muss der ehemalige Höhlenbewohner sich seine Herkunft vergegenwärtigen. Die eigene Welt kann erst erwachen in der Konfrontation mit dem, was man war und in gewandelter Form immer noch ist. So steigt der Aufgestiegene wieder hinab in die Höhle und nimmt seinen alten Platz ein. Aus der Helligkeit kommend, kann er nun in der Dunkelheit nicht klar die Schatten erkennen und nur schwer mit den anderen wetteifern, welche ihn auslachen und meinen, er hätte sich oben die Augen verdorben. Für diese steht nun fest, dass es sich nicht lohne, hinaufzukommen und dass man jeden, der versuchte, sie loszulösen und hinaufzubringen, daran hindern müsse und ihn nach Möglichkeit gar umbringen.130 Vom Lichte des neugewonnenen Wissens erfüllt, steigt unser Held hinab in die Finsternis und findet sich im Labyrinth der unterschiedlichen, wechselhaften Meinungen nicht zurecht. Unter das menschliche Elend versetzt, gebärdet er sich seltsam und erscheint lächerlich, da er gleich genötigt wird, am öffentlichen Leben teilzunehmen nach Art und Weise derer, die den Aufstieg nie gewagt haben.131 Zudem hat er kein Interesse mehr daran, diese Dinge zu betreiben und um Ehre und Macht in der Sklavenwelt der Schattenpolis zu wetteifern. Er stellt das vermeintliche Wissen der Höhlenbewohner schon durch seine unübliche Verhaltensweise in Frage und kann dabei sein eigenes Wissen in der Sprache ihrer Schattenbenennungen nicht adäquat vermitteln. Aus diesem Missverhältnis heraus kommt es zu einer Bedrohung der psychischen Grundlagen der eingefahrenen öffentlichen Ordnung, die ihrerseits mit dem Tode droht.132 Es braucht eine längere Zeit der Gewöhnung,133 bis sich seine Augen an die Vgl. Politeia 516e 3–517a 8. Vgl. Politeia 517d 5–e 2. 132 Platon spielt hier offensichtlich auf das Schicksal des Sokrates an. Wie aber am Ende der Apologie und erst recht in dem kleineren Dialog Kriton deutlich wird, ist der Tod im Totenreich der Sklavenpolis für Sokrates, der durch die Philosophie ein Höchstmaß an innerer Freiheit gewonnen hat, keine Bedrohung. Laut Planinc ist somit auch nicht Sokrates der vom Tod Bedrohte, sondern eher ein geometrischer Denker wie Glaukon, der nicht bereit ist, seine eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen. Vgl. Z. Planinc, a. a. O., S. 102–104. 130 131

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Finsternis angepasst haben, so dass er die Dinge wieder so wahrnimmt wie die anderen, dies nun aber im Lichte der eigentlichen Erkenntnis.134 So wird ihm seine Entfremdung von den anderen bewusst und er erkennt ihre Widerstände, das Scheinwissen zu überwinden, indem er durch Befragung mit Blick auf das Wissen von der kosmischen Ordnung sich auf seine Mitbürger bezieht. Diese, im Dunkel der Schattenwelt scheinbar orientiert, werden sein philosophisches Fragen für unnütz halten, doch verweist dies lediglich auf den desolaten Zustand einer Gesellschaft, in welcher nicht nach der gerechten Ordnung gefragt wird.135 In einem wohlgeordneten Gemeinwesen wird man die Nützlichkeit der Philosophen und des freien und selbstbestimmten Bürgers anerkennen und ihnen die Herrschaft antragen, denn weder die Ungebildeten und der Wahrheit Unkundigen können einem Staat gehörig vorstehen, da sie als nicht zum Lichte Aufgestiegene keinen höheren Maßstab in ihrem Leben kennen, auf welchen zielend sie alles täten für sich und öffentlich, noch auch die Wissenschaftler, welche nicht mehr absteigen wollen und unwillig sind, an den Geschäften der Polis teilzunehmen.136 In einem nicht in Hinblick auf die Idee des Guten regierten Staat jedoch gibt es keinerlei öffentliche Verpflichtung für den Philosophen, an den Staatsgeschäften teilzunehmen, da er sich entgegen der herrschenden Verfassung selbst zu einem solchen herangebildet hat.137 Sein Motiv für den Rückstieg kann daher nur in dem Eigeninteresse bestehen, die gewonnenen Erkenntnisse auch in seiner Umgebung praktisch umsetzen zu können. Dies ist nur durch Teilnahme am öffentlichen Leben möglich, in dem Versuch, Leben in die starren Todesverhältnisse der Polis zu bringen, die sonst das nach der gerechten Ordnung ausgerichtete, selbstgemäße Leben des befreiten Menschen zu verhindern trachtet. Um nicht von der allgemeinen Schlechtigkeit korrumpiert zu werden oder in der abgeschiedenen Kontemplation der reinen Wesensschau den Bezug seines Wissens zur Welt zu verlieren, vertritt der Philosoph in der Öffentlichkeit die Sache der Gerechtigkeit und des Guten, um wenigstens seine eigenen Verhältnisse lebendig zu gestalten, denn die größte Strafe ist es, von „Schlechteren regiert zu werden, wenn einer nicht selbst regieren will; und aus Furcht vor dieser scheinen mir die Rechtschaffenen zu regieren, wenn sie regieren.“138

Vgl. Politeia 517a 1–2. Vgl. Politeia 520c 5–9: „Denn gewöhnt ihr euch hinein, so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt.“ 135 Vgl. Politeia 489b 3–d 8. 136 Vgl. Politeia 519b 8–c 7. 137 Vgl. Politeia 520b 1–8. 138 Politeia 347c 4–7. 133 134

I. Freiheit und Versklavung in individualpsychologischer Hinsicht

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In der Schattenpolis kommen jene zu Macht und Ehren, welche mit den Spielregeln der Schattenerscheinungen am besten vertraut sind; von dem Feuer und von der diesem allen zugrunde liegenden Sonne wissen sie nichts. Wer aber vernünftig handeln will, „es sei nun in eigenen oder öffentlichen Angelegenheiten“, der muss das Gute als Ermöglichung aller Ordnung und Grundlegung der Vernunft geschaut haben.139 Wird die Gesellschaft von machthungrigen Politikern zusammen mit weltfremden Wissenschaftlern angeführt, welche beide nur die Erfüllung ihrer persönlichen Interessen im Auge haben, so kann für die Polis als Ganzes nichts Gutes herauskommen. Lediglich der Philosoph, der sich seiner Sklavenfesseln entledigt hat, ist wahrhaft befähigt zu regieren, da es ihm nicht um Macht und Ehre geht, die er als Schatten- und Gaukelspiel durchschaut hat, sondern um die Realisierung der gerechten Ordnung.140 Diese Einsicht erlangte Platon schon recht früh in seinem Leben, zur Zeit seiner ersten sizilischen Reise141, und sie kulminiert in dem großen Plädoyer für die Verbindung von Philosophie und Herrschaft im Zentrum der Politeia: „Wenn nicht [. . .] entweder die Philosophen Könige wären in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, die vielerlei Naturen aber, die jetzt zu jedem von beiden einzeln hinzunahen, durch eine Notwendigkeit ausgeschlossen werden, eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, lieber Glaukon, und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht, noch kann jemals zuvor diese Staatsverfassung nach Möglichkeit gedeihen und das Licht der Sonne sehen, die wir jetzt beschrieben haben. Aber dies ist es eben, was mir schon lange Bedenken macht zu reden, weil ich sehe, wie es gegen aller Menschen Meinung angeht. Denn es geht schwer einzusehen, dass in einem anderen keine Glückseligkeit sein kann, weder für den einzelnen, noch für das Ganze.“142

Dass die Philosophen Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen und von der Ideenschau wieder hinabsteigen in die Polis, ist Platon so wichtig, dass er gleich das erste Buch der Politeia mit einem „Ich stieg hinab (KatÝbhn)“ beginnen lässt.143 Gemeint ist Sokrates, der von Athen hinuntergeht zum Piräus, um dort den Feiern für die Göttin Artemis beizuwohnen. Hier lässt er sich überreden, im Haus des Polemarchos ein Gespräch über die Gerechtigkeit zu führen, welches zur ideellen Gründung des gerechten Staates führt. Der Abstieg als Einstieg in die Höhlenverhältnisse und deren Verwandlung durch Umbildung der Seele ist ein durchgängiges Leitmotiv der Politeia, vom Vgl. Politeia 517b 8–c 8. Vgl. Politeia 520e 1–521a 11. 141 Vgl. VII. Brief 326a–b. 142 Politeia 473c 13–e 6. 143 Politeia 327a. Vgl. hierzu E. Voegelin, Order and History, Volume Three: Plato and Aristotle, Baton Rouge 1957, S. 52–56 und S. 117. 139 140

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Anfangssatz an über die Bewegung des Höhlengleichnisses bis hin zur mythischen Unterweltserzählung von den Schicksalsgöttinnen und der selbstverantwortlichen Wahl des Lebensloses des zehnten Buches, in welcher menschliches und kosmisches Gesetz gemäß der gerechten Notwendigkeit der Himmelssphären miteinander verbunden sind.144 Die Frage nach der Gerechtigkeit, gespiegelt in der Problematik eines gerechten Selbstverhältnisses, führt somit zu den Möglichkeiten der Befreiung aus sklavischen Verhältnissen zur Konstituierung einer Ordnung, in welcher jeder und jedes lediglich dem Guten unterworfen ist, sei es direkt oder vermittels geeigneterer Herrschaft. 4. Zusammenfassung Freiheit oder Versklavung des Individuums in psychologischer Hinsicht konstituieren sich im platonischen Denken aufgrund von dreierlei Verhältnissen. In der Erziehung bilden sich idealerweise die zum freien Wesen gehörenden Anlagen heraus, im Liebesverhältnis zeigt sich dann, wie frei der Mensch über diese verfügen kann und schließlich, aber nicht zuletzt, erweist sich im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, wie groß sein Freiheitsdrang ist, sich aus unfreien Verhältnissen zu befreien. Diese drei Bereiche gehen ineinander über, wobei allerdings die Erziehungs- und Liebesverhältnisse in real existierenden Gesellschaftssystemen nicht unbedingt die Freiheit des Individuums im Auge haben, sondern mitunter auch dessen Versklavung, d. h. die Unterordnung des Menschen in das Gefüge machtpolitischer Interessen einiger weniger. Auch im platonischen Gesellschaftsentwurf ist das Ziel der Bildung, sei es durch Paideia, Liebe oder Selbsterziehung, die Unterwerfung des Menschen unter eine höhere Ordnung, die aber nicht menschengemacht ist, sondern sich aus den kosmischen Prinzipien herleitet und als solche auch im Mikrokosmos des Individuums verankert ist. Diese innere Ordnung gilt es, nach Platon, von den Sklavenfesseln einer entfremdeten Existenz zu befreien, um sie in aller Freiheit zu entfalten und so dem alleine herrschenden Prinzip des ordnungsstiftenden Guten zu unterstellen. Ist dies in den gesellschaftlichen Systemen der Erziehungsorganisationen und Liebesverbindungen nicht möglich, bleibt dem freiheitlich gesinnten Menschen, gegen alle Widerstände, aus eigener Kraft und mithilfe der Philosophie immer noch die Möglichkeit, diese Ordnung durch und für sich selbst herzustellen. Dieser Weg ist allerdings nur für wenige gangbar, so dass im Rahmen der größtmöglichen Gerechtigkeit für alle eine Erziehung, im Sinne einer Charakterbildung, welche die Freiheitspotentiale eines jeden Kindes soweit wie möglich entfaltet, unverzichtbar ist. Ziel des platonischen Erziehungsideals ist es, die Lust und Liebe zu erwecken, der Gerechtigkeit gemäß zu herrschen und sich beherrschen zu lassen, wo144

Vgl. Politeia 616c ff.

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bei anfänglich die Intuition gefördert werden soll, das Gute als schön und das Böse als hässlich zu empfinden. Die Ausbildung richtet sich dabei jedoch ganz auf den vernunftmäßigen Seelenteil ohne Einbeziehung instrumenteller Fähigkeiten und dient der umfassenden Persönlichkeitsbildung unter besonderer Berücksichtigung des von Platon so genannten musischen als auch des gymnastischen Aspektes, um die Unfreiheit eines einseitig ausgeprägten Wesens zu vermeiden. Erst hierauf ist das Aneignen instrumenteller Fähigkeiten vorgesehen, welche den Menschen, gemäß der Idiopragieformel, dann zu einer Tätigkeit ermächtigen, die seinem frei ausgebildeten Wesen am besten entspricht. Das platonische Erziehungsmodell ist eng an die Fähigkeiten des Einzelnen gebunden. Der Geburtsstand des Menschen spielt keine Rolle bezüglich der ihm zukommenden Erziehung und in Folge dessen sind die Klassengrenzen durchlässig gestaltet, so dass ein jeder, ungeachtet seiner Herkunft, dort gesellschaftlich seine Stelle einnimmt, wo er seine ausentwickelten Fähigkeiten am nützlichsten und sinnvollsten entfalten kann. In dieses Erziehungssystem werden von Platon auch ausdrücklich die Kinder von Sklaven mit einbezogen, wenn es hierzu auch in der detaillierten Gesetzgebung der Nomoi einige organisatorische Ungereimtheiten gibt. Die Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit definiert sich demgemäß nicht über die soziale Position der Eltern, sondern über die dem Menschen angeborenen Talente und dessen Seelendisposition. Die Kinder sind alle frei, bezüglich ihren Fähigkeiten zu lernen und ihre Ausbildung soweit fortzutreiben, wie ihr geistiges Vermögen reicht, wenn auch die Prinzipien ihrer Behandlung mit Platons Anweisungen zur gerechten Behandlung der Sklaven übereinstimmen. Die Pädagogen nehmen gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern die Stellung von Herren ein, da ihre Zöglinge zu Beginn der Ausbildung noch nicht die geistige Reife erworben haben, die ihnen später die Freiheit ermöglicht, so dass sie, auf ihre seelische Entwicklung bezogen, nach Platon, noch auf einer Stufe mit Sklaven stehen. Eine weitere Art der Charakterbildung, neben der Paideia, ist nach antikem und auch platonischem Verständnis das Liebesverhältnis, welches aufgrund der dominant-submissiven Rollenverteilung der beteiligten Partner wesentlich auch die Problematik der gerechten Herrschaftsausübung zum Gegenstand hat. Grundlegend ist auch hier wieder die Ausrichtung der Herrschaftsverhältnisse in der Seele des Individuums. Das Begehren kann als Motivation dem vernünftigen Seelenteil dienen oder eben als ungezügelte Begierde diesen unterjochen. Der zum Herrschen disponierte Mensch kann frei über seine Begierden verfügen, ihnen befehligen und sie beherrschen, wohingegen der sklavische Mensch willenlos dem zügellosen Treiben seiner Gelüste ausgeliefert ist und einer angemessenen, geordneten Entfaltung seiner seelischen Vermögen nicht mehr gerecht werden kann. Die Versklavung erfolgt dann im eigentlichen Sinne durch sich selbst. Umgekehrt ist aber auch die Besonnenheit und damit die Freiheit den Begierden gegenüber kein Resultat der Askese, sondern Produkt des prakti-

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schen Umgangs mit ihnen in Verbindung mit dem Wissen der Vernunft und der Kunst des Könnens. Im Spielraum von Vernunft und Begierde zeigen sich nun zwei Typologien von Liebesverhältnissen. Ist der dominante Partner von der Begierde beherrscht, fördert er bei seinem Gegenüber ebenfalls eine die Begierden begünstigende Seelendisposition, indem er dessen Vernunft kleinzuhalten oder durch Schmeichelei zu verblenden sucht. Er festigt damit seine Machtposition als Überlegener, obwohl er sich selbst innerlich unterlegen ist und über keinerlei herrscherliche Tugend verfügt. Wird die Begierde als Liebe maskiert und zur Machtanmaßung und Selbsterhöhung funktionalisiert, führt dies bei beiden Partnern zu massiven seelischen Folgeschäden. Dennoch kann Liebe auch als von der Vernunft geleitetes Begehren zur Befreierin der Seelen beider Partner werden, wenn sich das Verhältnis nicht an Macht oder Begierde, sondern an der Wahrheit ausrichtet. Die Liebe, ursprünglich durch die unmittelbare Schönheit des Gegenübers geweckt, zeugt sich nun fort zu einer gemeinsamen Betrachtung des Schönen an sich und führt so zu einem schönen Liebesverhältnis, in welchem der dominante Partner stets bemüht ist, sein Gegenüber besser und damit schöner zu machen, indem er ihm zeigt, über seine Begierden zu herrschen und ihm so durch Übung und die Ausbildung seiner Vernunft die Kunst vermittelt, Herr seiner selbst zu sein. Ein so geartetes Liebesverhältnis führt die Seelen beider Partner in den Bereich größtmöglicher innerer Freiheit, gemäß ihrem jeweiligen seelischen Entwicklungsstand und dürfte damit die effektivste pädagogische Methode sein, sich auf die innere kosmische Ordnung selbstgemäß auszurichten. Gleichwohl ist die Kraft des Eros unberechenbar und ein reines, in einen Bezug zur Wahrheit gesetztes Liebesverhältnis scheint damals wie heute die seltene Ausnahme zu sein. Wahrscheinlicher sind die machtbewusste Funktionalisierung des Begehrens und die Vereinnahmung der Liebe für unselbstgemäße Interessen, welche die Seelen der Menschen versklaven. Aufgrund dieser Gefahr und wegen der unscheinbaren Alltäglichkeit, mit welcher die Liebe korrumpiert wird und wie sie in der Rede des Alkibiades dargestellt wurde, sieht Platon davon ab, die charakterbildende Kraft des Eros in das systematische Erziehungsmodell der Nomoi zu übernehmen. Da ein freies beziehungsweise unfreies Wesen grundlegend von dem Selbstverhältnis, welches der einzelne Mensch zu sich hat, bestimmt wird, kann Platon im Höhlengleichnis einen Weg aufzeigen, der in die Freiheit führt und nicht auf trügerische Erziehungs- und Liebesangebote einer sklavenproduzierenden Gesellschaft angewiesen ist. Voraussetzung hierfür ist zuerst die Erkenntnis, dass das Leben in nicht philosophisch regierten Gemeinwesen der Gefangenschaft in einer Höhle gleicht und sodann die schrittweise Lösung der in gemeinschaftlichem Einverständnis unwissentlich reproduzierten Zwangsverhältnisse, von Platon als Wahrnehmungs-, Denk- und Begehrensfesseln beschrieben. In-

II. Der Ursprung von Gesellschaft und Sklaventum

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dem der Mensch sich von seinen Mitgefangenen und deren Schattenspielen abwendet, beginnt er einen mühsamen Aufstieg zum Ausgang der Höhle, der im fortschreitenden Abstreifen von aufoktroyierten Verhaltens- und Denkmustern zur selbstgewonnenen Einsicht in die Ursache alles Seienden und damit der kosmischen Ordnung als Paradigma jeglicher Ordnung führt. In dieser Erkenntnis und einer daran ausgerichteten Lebensweise gründet, nach Platon, die wahre innere Freiheit des Menschen im Gegensatz zu den sklavisch-fremdbestimmten Lebensformen der den gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen willenlos und unreflektiert ausgelieferten Mitbürger. Nichtsdestoweniger realisiert sich die Freiheit des Befreiten nur durch seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, dem Abstieg im Höhlengleichnis, um im Rahmen seiner Möglichkeiten sich einen Freiraum in der noch unbefreiten Polis zu schaffen und von dort aus befreiende Impulse zu geben, auch auf die Gefahr hin, für die anderen als Bedrohung ihrer Sklavenexistenz zu gelten. Derartige Befreiungsimpulse vermittelt auch Platon mit seinen Gesellschafts-, Erziehungs- und Liebesmodellen, durch welche eine gerechte und alle Polisbewohner umfassende Verteilung von Herrschaftsbefugnissen und Dienstanweisungen aufgezeigt werden soll im Rahmen einer Freiheit, die der kosmischen Ordnung untersteht. Sind dafür die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen nicht gegeben, liegt es am Individuum selbst, sich zu befreien, so dass eine Sklavenexistenz im psychologisch-existentiellen Sinne, nach Platon, frei und selbstverantwortlich gewählt ist durch die Verweigerung, das Befreiungsangebot anzunehmen und die Befreiungsbewegung zu vollziehen.

II. Der Ursprung von Gesellschaft und Sklaventum 1. Die sklavenlose Periode im Goldenen Zeitalter des Politikos-Mythos Das trostlose Bild der Höhlenpolis, wie es Platon in der Politeia beschreibt und welches zugleich eine existentielle Analyse real gegebener Gesellschaftsverhältnisse darstellt, lässt die Frage aufkommen, warum sich Menschen überhaupt in sozialen Gemeinwesen politisch organisieren und, bezüglich unseres Themenschwerpunktes, ob und inwiefern Formen der Sklaverei diesen implizit immanent sind. Ausgangsbasis für eine solche Untersuchung ist bei Platon der Entwurf eines menschlichen Zusammenlebens ohne politische Struktur und wirtschaftliche Organisation, wie er uns im Politikos-Dialog als Mythos vom Goldenen Zeitalter begegnet.145 Dieser Topos hat im griechischen Denken eine lange Tradition, deren Überlieferung bis auf Hesiod zurückreicht, welcher uns eine Abfolge nach verschiedenen Metallen benannter Epochen beschreibt, an 145

Politikos 268d 11–274e 4.

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§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften

deren Anfang das Goldene Zeitalter steht, wo das Leben der Menschen folgendermaßen charakterisiert wird: „Diese lebten unter Kronos, der im Himmel als König herrschte, führten ihr Leben wie Götter, hatten leidlosen Sinn und blieben frei von Not und Jammer; nicht drückte sie schlimmes Alter, sie [. . .], lebten heiter in Freuden und frei von jeglichem Übel und starben wie von Schlaf übermannt. Herrlich war ihnen alles, von selbst trug ihnen die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle.“146

Dieses und die folgenden Weltalter des hesiodischen Mythos intendieren allerdings keine geschichtliche Linearität, sondern stehen für in sich abgeschlossene Perioden, welche nicht ursächlich mit der jeweils darauf folgenden Epoche verbunden sind.147 Aus diesem Grunde ist der Weltaltermythos auch nicht als eine Verfallsgeschichte menschlicher Gesellschaften zu lesen, sondern vielmehr beschreibt er unterschiedliche Abstufungen derselben bezüglich des in ihnen bestehenden Verhältnisses von ,dike‘ und ,hybris‘.148 Das Goldene Zeitalter repräsentiert in diesem Rahmen die Bedingung der Möglichkeit der größtmöglichen Entfaltung von Dike unter den Menschen. Voraussetzung hierfür ist die vollkommene Gütergemeinschaft aller Individuen, basierend auf der mühelosen Vollversorgung durch die Natur und mithin das Nichtvorhandensein von Besitz als Quelle von sozialen Auseinandersetzungen und Kriegen. Sobald eine Periode abgeschlossen ist, verschwinden auch die zu ihr gehörenden Menschen, woraus ersichtlich wird, dass es für Hesiod keine Kontinuität zwischen dem Goldenen Zeitalter und unserer Epoche, in welcher Dike und Hybris miteinander konkurrieren, gibt. Den gegenwärtigen Zustand definiert Hesiod als ein Mittelglied zwischen der Welt der Götter, welcher das Goldene Zeitalter noch nahe stand, und der Welt der Tiere, in der nur das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens herrscht.

Hesiod, Werke und Tage 111–118. Im Gegensatz zu unserem heutigen linearen Geschichtsverständnis hatten die antiken Griechen eine zyklische Vorstellung vom Ablauf der Geschichte. Siehe hierzu: K. v. Fritz, Die griechische Geschichtsschreibung, 2 Bde., Berlin 1967 und W. Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankfurt am Main 1982. 148 Vgl. J.-P. Vernant, Mythe et Pensée chez les Grecs, Paris 1985, S. 19–85. So bspw. ebd., S. 26: „Dikè et Hubris, présents côte à côte, offrent à l’homme deux options également possible entre lesquelles il lui faut choisir. A cet univers du mélange, qui est le monde même d’Hésiode, le poète oppose la perspective terrifiante d’une vie humaine où Hubris aurait totalement triomphé, un monde à l’envers où ne subsisteraient que désordre et malheur à l’état pur.“ Dike, mythologisch die Tochter des Zeus und der Themis, steht für die personifizierte Gerechtigkeit, wogegen Hybris Hochmut, Zügellosigkeit, Frevel und Gewalttätigkeit der Menschen bezeichnet. Ein Überblick über die Begriffsentwicklung der Dike findet sich bei R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, Leipzig 1907. 146 147

II. Der Ursprung von Gesellschaft und Sklaventum

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Zeus gab den Menschen eine Ordnung, aufgrund derer sie sich selbst gemeinschaftlich organisieren konnten und welche den Tieren abgeht: „Diese Ordnung setzte nämlich Kronion den Menschen, den Fischen, allem Getier und fliegenden Vögeln: dass Tiere zwar einander auffressen, weil bei ihnen kein Recht herrscht, während er den Menschen Recht verlieh, das höchste Gut unter allen.“149

Ebenso löst der hesiodische Prometheus die Menschen aus der Gemeinschaft mit den Tieren, indem er ihnen das Feuer zur Verfügung stellt, doch da es sich bei dieser Gabe um Diebesgut handelt, bewirkt dies gleichfalls den Bruch der Menschen mit der göttlichen Welt und ihre Bestrafung mit Mühe, Not und Arbeit.150 Diese Zerrissenheit versucht Protagoras von Abdera, der bedeutendste Sophist des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, zu überwinden, indem er an den Prometheus-Mythos des Hesiod anknüpft, diesen weiterführt und einige bedeutende Details in einem neuen Licht darstellt. Pikanterweise ist uns diese Version der Sage von Platon überliefert im Dialog, dessen Titel dem Sophisten gewidmet ist,151 jedoch ist es höchstwahrscheinlich, dass diese Fassung tatsächlich auf Protagoras selbst zurückgeht.152 Bei aller Feindschaft, die Platon mit den Sophisten verbindet und obwohl Protagoras gleichsam unsokratisch seine Rede mit dem Mythos eröffnet und auch danach das Gespräch durch Differenzen und gar Streitpunkte geprägt ist, bis es schließlich in der Aporie endet, da es von Protagoras höflich, aber bestimmt abgebrochen wird, entspricht dieser Gründungsmythos menschlicher Gesellschaft weitgehend Platons eigenem Denken zu diesem Thema, wie dessen implizite Wiederaufnahme im späteren Politikos-Dialog zeigen wird. Die Entstehung der Kultur ergibt sich in dieser Erzählung aus der Tatsache, dass der Mensch ein Mängelwesen ist. Prometheus und Epimetheus153 werden Hesiod, Werke und Tage 275–279. Mit ,Kronion‘ ist Zeus als Sohn des Kronos bezeichnet. 150 Vgl. M. Detienne/J.-P. Vernant, La cuisine du sacrifice en pays grec, Paris 1979, S. 37–132. So bspw. ebd., S. 50: „Ce que représente [. . .] le Titan Prométhée, c’est la mise en cause, [. . .], de l’ordre olympien qui suppose, pour cette catégorie particulière d’êtres que sont les humains, avec qui le Titan est en spéciale connivence, les fatigues, l’usure des forces, la douleur, la maladie, la mort, c’est-à-dire tout ce qui constitue, en tant que mal, la négation radicale de l’état divin.“ Der Feuerraub findet sich bei Hesiod in den Werken und Tagen 50–58 und in der Theogonie 562–570. 151 Protagoras 320c 10–322d 7. 152 Vgl. E. Will, Le monde grec et l’Orient, Paris 1972, Bd. 1, S. 482. 153 Epimetheus, Bruder des Prometheus, dessen Name soviel wie ,Spät-Denker‘ bedeutet, begegnet uns bei Hesiod zuerst in der Theogonie 510 ff. In den Werken und Tagen (85–89) nimmt Epimetheus, trotz der Warnung des Prometheus, vom Götterboten Hermes die künstlich geschaffene, verführerische Pandora als Geschenk an und bringt dadurch das Übel unter die Menschen. 149

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von den Göttern beauftragt, die von ihnen aus Feuer und Erde154 geschaffenen sterblichen Geschlechter mit Kräften, d. h. Fähigkeiten und Eigenschaften, auszustatten. Epimetheus übernimmt diese Aufgabe, hat jedoch den ganzen Vorrat bereits verteilt, als das Menschengeschlecht an die Reihe kommt. Aus dieser Verlegenheit heraus raubt Prometheus dem Zeus das Feuer und dem Hephaistos und der Athene ihre „kunstreiche Weisheit (texnon so—ßan)“155 und schenkt sie den Menschen. Prometheus wird für diesen Diebstahl von Zeus grausam bestraft,156 die Menschen allerdings werden durch diese Gaben nicht nur im Überlebenskampfe gestärkt, sondern, und dies ist der entscheidende Unterschied zu Hesiod, sie sind so auch göttlicher Züge teilhaftig geworden und stehen nun in Verwandtschaft zu den Göttern, weswegen sie ihre neugewonnenen Fähigkeiten auch dazu nutzen, diese mit Altären, Bildnissen, Tönen und Worten kunstvoll zu ehren.157 Allein, diese von Prometheus verliehenen Talente reichten weder aus, um sich den tödlichen Angriffen wilder Tiere zu erwehren, noch um zum Schutze vor diesen in Städten zusammenzuleben ohne sich heillos zu zerstreiten, da ihnen die „politische Kunst (politikÌn tÝxnhn)“ fehlte.158 Zeus, besorgt, das menschliche Geschlecht könne untergehen, schickt Hermes zu den Menschen, ihnen „Sittlichkeit und Rechtsgefühl (aœdw= te kaÍ dßkhn)“ zu bringen. Hermes stellt nun die entscheidende Frage, ob er diese, ebenso wie die Künste auf exklusive Weise unter den Individuen aufteilen oder jeden daran teilhaben lassen solle. Zeus verfügt daraufhin, dass Aidos und Dike jedem Einzelnen zukommen müsse, da nur so die menschliche Gesellschaft politisch funktionsfähig sei und gibt dem Hermes noch auf, in seinem Namen ein Gesetz zu erlassen, „dass man den, der Sittlichkeit und Rechtsgefühl sich anzueignen unfähig ist, töte wie ein böses Geschwür des Staates.“159 Aus der Logik der Weltaltererzählung bei Hesiod ergibt sich, dass der Raub des Feuers durch Prometheus am Ende des Goldenen und vor dem Silbernen Zeitalter stattgefunden haben muss. Die neuen Lebensbedingungen der Menschen, geprägt von Arbeit, Mühsal und Not, sind die Strafe für den unrechtmäßigen Erwerb des Feuers, der wiederum mit dem vorangehenden Opferbetrug des Prometheus in Zusammenhang steht,160 wodurch menschlicher Hochmut 154 Zur Erschaffung und Begründung körperlicher, d. h. sterblicher Geschlechter aus Feuer und Erde siehe Timaios 31b 6–10. 155 Protagoras 321d 1–2. 156 Platon genügt diese Andeutung, der zeitgenössische Leser wusste jedoch von der Fesselung des Prometheus an den Kaukasus und dem täglichen Abfressen des Adlers seiner nachwachsenden Leber aus der Theogonie des Hesiods (521 ff.) und der aus dem Umkreis des Aischylos stammenden Tragödie ,Der gefesselte Prometheus‘. 157 Protagoras 322a 4–9. 158 Protagoras 322b 1–c 1. 159 Protagoras 322c 1–d 7. 160 Vgl. Hesiod, Theogonie 535–557.

II. Der Ursprung von Gesellschaft und Sklaventum

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zur eigenen Vorteilsnahme gegenüber dem göttlichen Recht zum Tragen kommt. Im Mythos des Protagoras dagegen folgt der Feuerraub gleich nach der Schöpfung, um den Menschen gegenüber den Tieren überhaupt ein Überleben zu ermöglichen. Die Arbeit und ihre Erleichterung, unter anderem auch durch die von Hephaistos und Athene gestohlenen Fertigkeiten, haben den gleichen Entstehungsgrund, ohne dass die Menschen eine Schuld träfe. Infolgedessen lässt Zeus ihnen nun die politische Kunst überbringen, wodurch sie ihre neu erworbenen Fähigkeiten erst so organisieren können, dass diese fruchtbar werden. Für diese Organisation ist es grundlegend, dass alle Menschen in der Lage sind, am politischen Leben teilzunehmen, was allerdings nicht ausschließt, dass es einigen an Sittlichkeit und Rechtsgefühl mangelt, die gänzlich aus der Gesellschaft zu eliminieren sind. In dieser Aussage kreuzen sich zwei widerstreitende Philosophien. Einerseits das Ethos des platonischen Erziehungsanspruches, dass jedem zumindest die grundlegende politische Einsicht vermittelt werden kann, wonach der Bessere herrschen solle, welche uns in der Politeia als die Tugend der Besonnenheit begegnet,161 andererseits die radikaldemokratische Anschauung, dass die Mehrheit sich immer im Recht befindet, schon weil, nach sophistischer Theorie, eine politische Entscheidung nicht auf der Vernunft, sondern auf der Macht fußt, welche sich in Demokratien auf Seiten der Mehrheit befindet.162 Da Platon 161 Der noch suchende junge Sokrates des platonischen Frühdialoges Protagoras freilich bestreitet versuchsweise die Lehrbarkeit von Tugend im Allgemeinen und der berühmte Sophist geht von den falschen Voraussetzungen aus, um ihre Lehrbarkeit zu beweisen, da sein Begriff von Tugend frei von jeder zwingenden Notwendigkeit ist. Diese ist erst mit der Seelenlehre der Politeia gegeben. 162 Dieser sophistische Relativismus, welcher die Macht des Gesetzes (nümoò) mit dem Gesetz der Natur (—ýsiò), wonach stets der Stärkere im Recht ist, gleichsetzt, wird von Platon ausführlich in den sokratischen Gesprächen mit Thrasymachos (Politeia) und Kallikles (Gorgias) diskutiert. Am prägnantesten findet diese Theorie Ausdruck im ebenfalls bei Platon überlieferten Homo-Mensura-Satz des Protagoras: „Der Mensch [ist] das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ (Theaitetos 152a 2–3; siehe auch Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen IX 51). Die Absurdität dieses Gedankens ergibt sich für Platon in der Übersteigerung der Relativierung, wonach ja für ein Schwein dann eben auch das Schwein Maß aller Dinge sein müsse. (Vgl. Theaitetos 161c 1–d 2). Bezüglich der machtpolitischen Verhältnisse einer Gesellschaft stellt Platon aber ohne jede Ironie fest, „Was jedem Staate schön und gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, solange er es dafür erklärt“, jedoch nicht ohne auf die Aufgabe des Weisen aufmerksam zu machen, dass nur Heilsames und nicht Verderbliches so erscheint. (Theaitetos 167c 5–8). Zur Problematik des Gegensatzes von Gesetz und Natur bei den Sophisten siehe F. Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel 1965. Zur Überwindung dieses Gegensatzes bei Platon siehe F. L. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes, Königstein/Ts. 1985, S. 174– 193.

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nicht den gleichen Rechtsbegriff mit den Sophisten teilt, ist der Ausschluss von Menschen, die nicht über Dike und Aidos verfügen, für ihn legitim, wohingegen es sich dabei für Protagoras um einen willkürlichen, wenn auch nicht unbedingt zu verurteilenden, da naturgemäßen Akt der Machthaber handelt. Dieses im Mythos Zeus zugeschriebene Gesetz erscheint später in den Nomoi als notwendige Grundlegung zur Errichtung einer gerechten Gesellschaftsform: „Die beste Reinigung aber ist schmerzhaft wie alle Heilmittel von solcher Beschaffenheit, diejenige nämlich, die auf dem Wege des Rechts mit Hilfe der Vergeltung zur Strafe führt und Tod oder Verbannung als äußerste Grenze der Vergeltung festsetzt; denn diejenigen, welche die schwersten Vergehen verübt haben, aber nicht heilbar, sondern das größte Verderben eines Staates sind, die pflegt sie zu beseitigen.“163

Im weiteren Verlauf des Dialoges findet diese Regelung dann Anwendung bei Bürgern, die trotz ihrer philosophischen Paideia des Tempelraubes überführt werden und somit als unheilbar gelten, so dass die angemessene Strafe nur der Tod sein kann. Sklaven dagegen, die sich dieses schweren Vergehens schuldig gemacht haben, erhalten eine unbemessene Anzahl von Geißelhieben und werden nackt außerhalb der Landesgrenzen verstoßen, in der Hoffnung, dass so eine Besserung bei ihnen bewirkt werden möge.164 Ebenso wie Platon den Sklaven ein, wenn auch schwaches logistikün zugesteht, räumt er ihnen gleichfalls zumindest rudimentäre Formen von Sittlichkeitsgefühl und Rechtsempfinden ein. Bezüglich des von Protagoras vorgetragenen Prometheusmythos heißt dies, dass die Sklaven implizit genauso an den göttlichen Gaben Feuer, Techne, Dike und Aidos teilhaben wie alle anderen Menschen, d. h. in unterschiedlichem Maße. Die Verwandtschaft mit den Göttern erstreckt sich auf jedes menschliche Wesen, auch wenn aus der von Zeus Nomoi 735d 10–e 6. Vgl. Nomoi 853d 6–855a 2. Deutlich tritt die Rechtfertigung der Todesstrafe bei sittlicher Unheilbarkeit auch in Nomoi 862e 1–863a 2 hervor: „Wenn aber der Gesetzgeber merkt, dass einer in dieser Beziehung unheilbar ist, welche Strafe und welches Gesetz soll er für diese Menschen aufstellen? Da er einsieht, dass es einerseits für alle solche Menschen selber nicht besser ist, am Leben zu bleiben, und dass sie sich andererseits den übrigen doppelt nützlich erweisen, wenn sie aus dem Leben scheiden, indem sie erstens den anderen ein warnendes Beispiel geben, kein Unrecht zu tun, und sodann den Staat von schlechten Menschen befreien, so muss also der Gesetzgeber über solche Leute zur Bestrafung ihrer Vergehen den Tod verhängen, sonst aber auf keinen Fall.“ Strafe erfüllt bei Platon primär einen pädagogischen Zweck, d. h. sie soll zuvörderst der Besserung des Heilbaren dienen und erst falls dies aussichtslos ist, soll der Unheilbare zur Abschreckung der anderen getötet werden. Vergleichbare Stellen zu Wesen und Funktion der Strafe finden sich auch in Nomoi 933e 11–934b 3; 941d 2–942a 4 und 957e, sowie Protagoras 324a 3 ff.; Gorgias 478d ff.; 525a 8 ff.; Politeia 380a–c; 409e 5 ff. und Phaidon 113d ff. Vergleiche hierzu auch § 5 der vorliegenden Arbeit: ,Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht‘. 163 164

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verliehenen politischen Kunst eine gesellschaftliche Organisation erwächst, die, nach Platon, ein großes Gefälle sozialer Positionen aufweist. Die Sklaverei, somit auch mythisch fundiert, ist demnach Ausdruck und Konsequenz einer gerechten politischen Ordnung. Bei Hesiod ist das Dasein der Menschen ein technisches und soziales Problem, welches auf der Entfremdung von den Göttern beruht. Sklaven stehen in dieser Welt unreflektiert neben Zugochsen.165 Der platonische Prometheus des Protagoras hingegen ermöglicht es den Menschen trotz aller Differenzen, die Nähe zum Göttlichen zu wahren und insbesondere durch die Gaben des Zeus eine Ordnung zu errichten, welche das Recht und die Gerechtigkeit ihres Schöpfers widerspiegelt. Die politische Kunst wird so zur Grundlage des zivilisierten Lebens, welches alle Menschen mit einschließt und ihnen gemäß dem göttlichen Rechtsempfinden in der Polis einen Platz einräumt. Auch der Sklave wird so der rohen Welt des Tierischen entrissen und hat am durch den Gott vermittelten Gesetz Anteil, aufgrund seiner eigenen Teilhabe an Dike und Aidos als auch durch seine Einbindung in die Polis. Das Problem von Aufbau und Organisation einer solchen gerechten Gesellschaftsordnung bleibt bis hinein ins Spätwerk der Nomoi eine zentrale, wenn nicht gar die entscheidende Frage platonischen Denkens. Der anthropologische Nachweis der Notwendigkeit politischer Systeme verbindet sich dabei für Platon mit der Legitimierung der Herrschaft gemäß theokosmologischer Prinzipien. In diesem Sinne begegnet uns im Politikos-Dialog der Mythos vom Goldenen Zeitalter an einer Stelle, wo der Gesprächsverlauf über die Bestimmung des Herrschers als eines Hirten der menschlichen Herden ins Stocken geraten ist. Der Mythos dient hierbei als Differenzierungsmerkmal, die göttliche Führung eines Goldenen Zeitalters, wie sie das Bild von dem einen Hirten nahe legt, von der jetzigen Epoche des Zeus, in welcher die Menschen zahlreiche Aufgaben übernommen haben, zu unterscheiden, da nun zu viele verschiedene Berufsstände Anspruch auf die Position des sorgetragenden Hirten erheben könnten.166 Der Mythos167 beschreibt den Kosmos anhand von zwei aufeinander folgenden und entgegengesetzten Kreisbewegungen, die durch eine plötzliche Umkehr Vgl. Hesiod, Werke und Tage 436–446. Vgl. Politikos 267e 8–268c 3. Siehe hierzu auch § 3, Kapitel II.1. der vorliegenden Arbeit ,Kriterien des Herrschens‘. 167 Politikos 268d 11–274e 4. Platon beginnt den Mythos mit einer Vorrede (268d 11–269c 6), welche auf ,alte Erzählungen‘ verweist, die als Motive in seine Version eingeflossen sind. Ein direkter Verweis auf Hesiod findet sich hierbei aber nicht. Vgl. hierzu P. Vidal-Naquet, ,Der platonische Mythos des Politikos und die Zweideutigkeiten des goldenen Zeitalters und der Geschichte‘, in: ders., Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen der griechischen Antike, Frankfurt am Main 1989, S. 240–241. 165 166

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(metabolÌn)168 voneinander geschieden sind. Die Dynamik des ersten Umlaufs wird von der göttlichen Führung des Kronos bestimmt, welche demzufolge einheitlich und gleichmäßig stets dieselbe bleibt, wie es „nur dem Göttlichsten unter allem allein“ zukommt.169 Im zweiten Umlauf dagegen bleibt die Welt sich selbst überlassen und weicht zunehmend von der göttlichen Bewegung ab, bedingt durch die Veränderungen des Körperlichen, welche ihr teilhaftig geworden sind.170 Die Lebensumstände der Menschen während des ersten Umlaufes, des Zeitalters des Kronos, stimmen weitgehend mit denen des Goldenen Zeitalters bei Hesiod überein. Die Natur versorgte sie ohne Arbeit mit Nahrung im Überfluss und sie bedurften keiner Kleidung oder Behausung, da das Klima ihrer Konstitution optimal angepasst war. Weißhaarig wurden sie ohne Erinnerung aus der Erde geboren, kannten somit keine Familien und hatten folglich keine häuslichen Verfassungen. Aus dem Fehlen jeglicher ökonomischer Zwänge und Regelungen darf ex negativo geschlossen werden, dass es zu jener Zeit auch keinerlei Form von Sklaverei gab. Ebenso gab es keinerlei politische Organisation unter ihnen, da der Gott die Menschen hütete, wie diese heute die Tiere hüten. Es herrschte Frieden zwischen Menschen und Tieren, da es kein gegenseitiges Auffressen gab und beide konnten miteinander kommunizieren.171 An diesem Punkt stellt der den Dialog führende Fremde fest, dass diese Menschen viel glücklicher als die heutigen gewesen wären, wenn sie ihre endlose Freizeit und grenzenüberschreitende Kommunikationsfähigkeit zum Philosophieren genutzt hätten – allein, man weiß es nicht.172 Genauer betrachtet, hatten die Menschen des goldenen Zeitalters überhaupt keinen Grund, Philosophie zu betreiben, da sie, in Einklang mit der Natur und untereinander, unmittelbar geführt von den göttlichen Gesetzen, sich die wesentlichen Fragen der Philosophie, die nach der gerechten politischen Ordnung und die nach dem glückenden Leben, gar nicht zu stellen brauchten. Dies wurde erst dann nötig, als der Gott die Lenkung aussetzte und die Weltbewegung, nun in umgekehrter Richtung, sich selbst überlassen blieb und folglich vom göttlichen Kurs abzuweichen begann. Die Menschen mussten nun für sich selbst sorgen, indem sie lernten, die göttliche Ordnung zu imitieren, was ihnen zu Anfang der neuen Epoche besser Politikos 270b 10. Politikos 269d 6–8. Dieser Bewegung entspricht auch die ursprüngliche Schöpfungsdynamik in Timaios 34a 1–8. 170 Politikos 269d 11–e 8. 171 Politikos 270d 7–272b 2. Nach Hesiod (Werke und Tage 180) werden die Menschen am Ende des Zeitalter des Zeus weißes Haar bei ihrer Geburt haben. Das Bild der Erdgeborenen begegnet uns noch in zwei weiteren Dialogen Platons. In der Politeia (415c und 468e) dient es dazu, die Verwandtschaft aller Menschen miteinander deutlich zu machen. Im Sophistes (247c ff.) werden so die Materialisten im Gegensatz zu den Ideenfreunden bezeichnet. 172 Politikos 272b 9–d 8. 168 169

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gelang, da ihr Erinnerungsvermögen an die alte Zeit noch ungetrübt war.173 Die Welt und mit ihr der Mensch herrschte nun über sich selbst und seinesgleichen174 und musste zunehmend aus sich selbst heraus die Wiederherstellung der lebensermöglichenden Ordnung gewährleisten. Aus dieser Not heraus entsteht für Platon Philosophie, Wissenschaft und Kultur. Die Idylle des Goldenen Zeitalters ist ein Paradies für Tiere, welches den Menschen ewiglich verschlossen bleibt, sofern sie nicht in den Zustand tierischer Unreflektiertheit zurückfallen.175 Die heutige Menschheit ist aus der Not und den Katastrophen geboren, die auf die Umwendung des ersten, gleichförmigen Umlaufs folgten.176 Völlig „hilflos und kunstlos“ finden sie sich in einer unwirtlichen Umwelt wieder, bedroht von wilden Tieren. An dieser Stelle im Mythos kommt auch hier Prometheus ins Spiel, durch den die Menschen das Feuer erhalten und ebenso durch Athena und Hephaistos die Kunstfertigkeiten.177 Die Darstellung des zweiten kosmischen Umlaufs im Politikos-Dialog entspricht also ziemlich genau dem Mythos des Protagoras aus dem gleichnamigen Frühwerk, mit der Ausnahme, dass die Gabe des Feuers nicht mehr durch den Diebstahl abgewertet wird und nun auf einer Ebene mit den Geschenken der anderen Götter steht. Aidos und Dike allerdings werden der Menschheit nun nicht direkt über Hermes von Zeus verliehen, sondern liegen in ihnen selbst als ein verborgenes Wissen aus einer mythischen Zeit, welches sie sich anamnetisch wiederaneignen müssen, um die ihnen verliehenen Talente bestmöglich zu nutzen. Die Menschheit schafft die Zivilisation autonom aus sich heraus. Die Manifestation des Göttlichen ist nun der in sich göttlich geordnete Mensch, und Repräsentant der göttlichen Ordnung ist der Philosophenherrscher oder, wie er im Politikos genannt wird, der ,königliche Staatsmann‘. Das Goldene Zeitalter ist als Gegenentwurf zur Polis und nicht als Idealzustand menschlicher Gemeinschaft zu verstehen. Das Nichtvorhandensein von Sklaven im Zeitalter des Kronos ist Ausdruck fehlender politischer und häuslicher Ordnungen und mithin ein Zeichen von Unfreiheit im Gegensatz zum selbstherrschenden Menschengeschlecht des zweiten, autokratischen Weltenumlaufes. Wenn auch nicht ausdrücklich von Sklaverei dort die Rede ist, dürfen wir doch von ihrer Existenz ausgehen, da sie nach Platon notwendiger Bestandteil derjenigen politischen Ordnung ist, die den Menschen über das Tierische erhebt. So gesehen und antik gedacht ist der Sklave eine zivilisatorische Errungenschaft, welche aus der eiPolitikos 273a 5–b 3. Politikos 273a 10 (krÜtoò) und 274a 5 (ažtokrÜtori). 175 Hierzu passt die ländliche Ausdrucksweise von Hirten und Herden, die das Kronoszeitalter beschreibt, wohingegen bei der Darstellung der jetzigen Epoche unter Zeus eine politische Terminologie vorherrscht. 176 Politikos 273a 1–5. 177 Politikos 274c 6–d 7. 173 174

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genmächtigen Wiederherstellung der ursprünglich göttlichen Ordnung folgt. Die Sklaven übernehmen dabei die Rolle der „kornspendenden Erde, die Frucht in Hülle und Fülle von selbst trug“, wie es bei Hesiod heißt und erfüllen somit die Grundbedürfnisse einer Gesellschaft, die als politisch geordnete Gemeinschaft auch ihnen Schutz vor der rohen Wildheit einer ungebändigten Natur bietet. In den Nomoi nimmt Platon den Mythos vom Zeitalter des Kronos wieder auf178, allerdings mit einigen bedeutenden Unterschieden. So führt nun nicht der Gott selbst das Menschengeschlecht wie im Politikos, „sondern Wesen göttlicheren und besseren Ursprungs, nämlich Dämonen (daßmonaò)“, übernehmen die Herrschaft über sie, so wie die Menschen die Tiere hüten und nicht Rinder zu Hirten der Rinder machen.179 Diese den Menschen übergeordneten Wesen waren im Politikos noch für das Reich der Tiere zuständig180, so dass man einerseits annehmen könnte, Platon betone hiermit die Ungeschiedenheit der menschlichen von der tierischen Welt. Andererseits bietet die Erde den Menschen zwar wie bei Hesiod alles „überreichlich und ganz von selbst“ dar,181 jedoch liegt der Grund dafür nun nicht in der Natur der Erde selbst, sondern in einer politischen Organisationsform, an deren Spitze keine menschlichen Herrscher stehen, sondern eben jene ,Dämonen‘, wodurch „Übermut und Ungerechtigkeit (Öbreþò te kaÍ ˜dikßaò)“ aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind und statt dessen „gute Gesetze und des Rechtes Fülle (ežnomßan kaÍ ˜—qonßan dßkhò)“ den Menschen geschenkt werden.182 An Dike und Aidos hat die Menschheit hier nun als Herde Anteil, indem die göttlichen Dämonen sie als Hirten anführen. Das im Politikos verworfene Bild des Herrschers als göttlichem Hirten kommt nun wieder zum Vorschein und dient in den Nomoi ebenso als Vorbild (parÜdeigma) für die zu entwerfende Gesellschaft, wie der Entwurf der Politeia als „Muster im Himmel“ bezeichnet wurde.183 In diesem Sinne kann Platon schreiben, dass die heutigen, am besten eingerichteten Poleis ein Abbild der „Staatsverwaltung unter Kronos“ sind184, indem das Gesetz hier wie dort als „Verteilung der Vernunft“ zu bezeichnen sei.185 Die Annährung an dieses Ideal eines goldenen Zeitalters mit politischen Einrichtungen, die von göttlicher Vernunft durchdrungen sind, ergibt sich aus der Ausrichtung der Ge-

Nomoi 713a 8–714b 1. Nomoi 713c 12–d 6. Vgl. hierzu auch § 3, Kapitel II.1. ,Kriterien des Herrschens‘ der vorliegenden Arbeit. 180 Vgl. Politikos 271d 4–e 4. 181 Nomoi 713c 3–6. 182 Nomoi 713c 7–e 4. 183 Vgl. Politeia 592b 1–5. 184 Nomoi 713b 1–5. 185 Nomoi 714a 1–3. 178 179

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sellschaft oder doch zumindest ihrer Herrscher an dem theokosmologischem Maßstab, denn „die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch“.186

Auch in dieser Spätversion des Mythos vom Goldenen Zeitalter scheint, trotz des Vorhandenseins politischer Institutionen, kein Platz für Sklaven zu sein. Gleichwohl ist die Entwicklung zu diesem Ideal hin nicht gleichbedeutend mit der Abschaffung der Sklaverei ab einem bestimmten erreichten Zivilisationsstand. Im Gegenteil ergibt sich aus einem höheren Komplexitätsgrad einer Gesellschaft auch ein größerer Bedarf an Sklaven. Alternativ dazu wäre eine einfachere, selbstgenügsamere soziale Organisation zu denken, die weder Nutzen noch Mittel für die Haltung von Sklaven hätte. In der Genealogie der Gesellschaftsformen, welche Platon, ausgehend von einer Naturkatastrophe, wie sie im Mythos den Folgen des Umschwungs von einem Weltumlauf zum anderen entspricht, in den Nomoi beschreibt,187 zeigt sich anfänglich das Bild einer menschlichen Gemeinschaft, die einer rohen Natur ihr Überleben abringt und sich in einfacher, aber gerechter Weise organisiert hat, ohne von einer institutionalisierten Form der Sklaverei Gebrauch zu machen. Den Menschen jener Zeit, welche auf die umfassende Katastrophe folgte, waren die meisten technischen Fertigkeiten als auch die „in den Städten gegeneinander angewandten Kunstgriffe zur Befriedigung der Gewinnsucht und des Ehrgeizes“ unbekannt.188 Ebenso mangelte es an Werkzeugen und Waffen, da die Metalle verschüttet und deren Bearbeitung ihnen nicht geläufig war. Lediglich die „Künste des Formens und alle Flechtkünste [. . .] hat Gott den Menschen gegeben, um sich all das zu verschaffen, damit das Menschengeschlecht, wann immer es in eine solche Not gerate, eine Möglichkeit des Wachsens und Gedeihens habe. Besonders arm waren sie also nicht in einer solchen Lage, auch gerieten sie nicht unter dem Zwang der Armut in Streit miteinander; reich jedoch wären sie wohl nie geworden, da sie kein Gold und Silber besaßen.“189

186 Nomoi 716c 5–8. Die Abgrenzung zum Homo-Mensura-Satz des Protagoras könnte nicht deutlicher sein. 187 Nomoi 676a 1–702b 4. Für den hier aufzuzeigenden Sachverhalt genügt der Bezug auf die politischen Organisationen der vorhistorischen Zeit (677a 1–682e 7). In Kapitel III.1. dieses Teils der vorliegenden Arbeit wird auf die gesellschaftliche Entwicklungsgeschichte der dorischen Poleis, sowie von Persien und Athen eingegangen werden, gemäß Platons Darstellung in Anschluss an 682e. 188 Nomoi 677b 6–10. 189 Nomoi 678c 12–d 8 und 679a 8–b7.

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Krieg und Streit waren jenen Menschen fremd, denn „in einer Gemeinschaft [. . .], in der weder Reichtum noch Armut eingebürgert sind, da werden wohl so ziemlich die edelsten Gesinnungen entstehen; denn weder Übermut noch Ungerechtigkeit noch auch Eifersucht und Neid entstehen in ihr.“190

Im Vergleich mit seinen Zeitgenossen beschreibt Platon die damaligen Erdenbewohner zwar als „ungeschickter und unwissender [. . .] in den übrigen Künsten als besonders in denen des Krieges, wie sie heute zu Lande und zu Wasser geübt werden, und auch in denen, die bloß im Inneren eines Staates selbst auftreten, wo sie unter dem Namen von Prozessen und Aufständen in Wort und Tat alle möglichen Schliche hervorgebracht haben, um einander Böses und Unrecht zuzufügen – dass sie aber anderseits einfältiger waren und tapferer und zugleich besonnener und in allem gerechter.“191

Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, die Kardinaltugenden aus der Politeia, begegnen uns hier als Eigenschaften eines primitiven Menschengeschlechtes, über welche diese weit mehr verfügen als die hochkultivierten Bürger Athens. Lediglich die Weisheit, die dem logistikÎn angehörende Tugend, welche dem Philosophen zukommt,192 fehlt in dieser Aufzählung und wird durch die Einfalt ersetzt. Die Ermangelung eines ausgebildeten, starken und voll entfalteten logistikÎn durchzieht nun aber die platonischen Werke implizit und bisweilen ausdrücklich als Definition der sklavischen Seele. In Abgrenzung zu der Darstellung dieser einfältig, aber tapfer, besonnen, gerecht und wahrscheinlich sogar glücklich193 lebenden Menschen ergibt sich, dass das Merkmal des Sklavischen und somit die Sklaverei als solche nur im Rahmen von „Staat, Verfassung und Gesetzgebung“194 eine Bedeutung erlangt. Das Sklaventum entsteht folglich aus den Anforderungen, welche die politische Kunst an die Menschen stellt und ist darin auch durch die (platonische) Philosophie gerechtfertigt. Eine friedliche, selbstgenügsame Welt, die instinktiv wohlgeordnet nur mit einem Quantum praktischer und instrumentaler Vernunft auskommt, kennt keine Kriege und Sklaven.195 Platon beschreibt diese Form des Zusammenlebens als ein „patriar190 Nomoi 679b 8–c 2. Siehe auch 678e 2–9. Aus eben diesem Grunde findet sich die Verurteilung des Reichtums noch an vielen anderen Stellen in den Nomoi, so 695e 5 ff.; 697b 2 ff.; 705b; 742d 2–743c 4; 831c 4 ff. Gleichfalls gilt für die Bürger der Gesetzesstadt ein Verbot des Besitzes von Gold und Silber (vgl. 741e 7 ff.). Der Verurteilung des Reichtums steht bei Platon aber ebenso eine Ablehnung der Armut gegenüber. So heißt es an anderer Stelle, dass der Mangel an Vermögen und Gütern in den meisten Fällen Knechtschaft (douleßaò) hervorbringt (vgl. Nomoi 729a 1–2). 191 Nomoi 679d 3–e 4. 192 Vgl. Politeia 428e 8–429a 3. 193 Vgl. Nomoi 678c 6–10. 194 Nomoi 678a 4. 195 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Jean-Jacques Rousseau gut zweitausend Jahre später in seinem Discours sur l’inégalité (1755), wenn er in seiner Kritik an

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chalisches Regiment“, in welchem vereinzelte Familien unhinterfragt nach den Gebräuchen und Sitten ihrer Vorfahren leben.196 Eine allgemeine Gesetzgebung wird erst nötig, wenn sich mehrere solcher Familien zusammenschließen und aus ihrer Mitte Vertreter wählen, die die unterschiedlichen Bräuche gegeneinander abwägen und die geeignetesten davon zum Nutzen aller zu Gesetzen erheben. Dies führt zu einem Königtum oder einer Aristokratie.197 Im weiteren Verlauf nun entstehen viele solcher Städte mit unterschiedlichsten Verfassungen, die sich in der zunehmenden Enge des Raumes bedrängen, wodurch Kriege aufkommen, aber auch Zwistigkeiten innerhalb der Gemeinschaften, wenn die Krieger heimkehren. Der trojanische Krieg gilt Platon als Beispiel für diese dritte Stufe.198 Spätestens an diesem Punkt verlangen die Kriege und die dafür benötigten Reichtümer nach komplexeren politischen Regelungen und gesellschaftlichen Hierarchien, die zum Aufkommen der Sklaverei führen. Durch den Zusammenschluss in größeren politisch strukturierten Gemeinschaften werden aus einfältigen, aber gerecht und besonnen lebenden Menschen komplexe Individuen, die ihre Vernunft ausbilden, um im Wettbewerb mit den anderen möglichst viele Vorteile zu erringen. Kunst, Kultur, Wissenschaft und Philosophie entspringen aus diesem Streben, aber auch Krieg und Sklaverei. Wie im Prometheusmythos folgen unmittelbar auf die Kunstfertigkeiten die Übel der Pandora.199 Platon sieht deutlich den Zwiespalt zwischen dem unreflektierten Glück der Primitivgesellschaft und dem zweischneidigen Schwert einer hoch entwickelten politischen Kultur: „Aus jenen so gearteten Zuständen sind also erst unsere gegenwärtigen Einrichtungen insgesamt hervorgegangen, Staaten und Staatsverfassungen, Künste und Gesetze, und auch viel Schlechtigkeit, aber auch viel Tugend.“200

Hobbes schreibt: „Hobbes hat nicht gesehen, dass dieselbe Ursache, welche die Wilden am Gebrauch ihres Verstandes hindert, sie zu gleicher Zeit am Missbrauch ihrer Fähigkeiten hindert, den er selbst annimmt. Auf diese Weise kann man sagen, dass sie gerade deswegen nicht böse sind, weil sie nicht wissen, was gut sein heißt. Denn weder der Fortschritt ihrer Erkenntnisse noch der Zwang des Gesetzes, vielmehr die Unberührtheit von den Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters verhindern sie, böse zu sein.“ J.-J. Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, übers. und mit Anm. vers. v. K. Weigand, Hamburg 1955, S. 169. 196 Nomoi 680b 1–e 7. 197 Nomoi 680e 8–681d 6. 198 Nomoi 681d 9–682e 7. 199 Vgl. Hesiod, Theogonie 570–616 und Werke und Tage 54–105. 200 Nomoi 678a 9–13. Diese Analyse Platons stimmt mit den neuesten Forschungen zur Sklaverei überein. So schreibt Delacampagne in der Einleitung zu seiner Geschichte der Sklaverei: „Gewiss war diese Einrichtung [die Sklaverei] weit verbreitet. Dennoch handelte es sich dabei nicht, wie man manchmal liest, um ein ,notwendiges Übel‘, um eine ,Fatalität‘ menschlicher Gesellschaftsformen. Vielmehr tauchte sie erst vor ungefähr 5000 Jahren und zwar in einem ganz bestimmten Kontext auf: im ,fruchtbaren Halbmond‘ des mittleren Ostens gleichzeitig mit der Entstehung der

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Platons Philosophie steht in der Spannung zwischen der Polis der Menschen und dem von Gott gelenkten Kosmos, zwischen Glück und Wissenschaft, wenn er auch die Misere des Bewusstseins in jedem Falle dem Entzücken eines unbewussten Zustandes vorzieht.201 Für die Entwicklung des Bewusstseins ist aber, nach Platon, das philosophische Denken unabdingbar, und dieses verlangt nach produktiver Muße, welche sich schlecht mit harter, körperlicher Arbeit verträgt, wie sie für die Herstellung existentieller Grundgüter nötig ist. Philosophie bedingt also Sklaverei in einem wohlgeordneten Gemeinwesen und rechtfertigt sie gemäß den Anforderungen einer gerechten Stadt und dem Leistungsvermögen diesbezüglich eines jeden Einzelnen. Im Idealfall führt dies zu einer politischen Verfasstheit, die mit Hilfe der Philosophenkönige aus der Politeia oder dem nächtlichen Rat der Nomoi das menschliche Streben mit den theokosmologischen Gesetzen vermittelt. In einer solchen gesellschaftlichen Ordnung wäre der Sklave als Sklave frei, weil der Freie, sein Herr, selbst kein Sklave mehr wäre und beider Stellung im Rahmen einer höheren kosmischen Struktur gerechtfertigt wäre. Eine neue kosmische Umkehr kommt, wie Eric Voegelin schreibt202, nicht von selbst, sondern kann nur durch die Menschen als Manifestation der kosmischen Idee erreicht werden. Dass dieses neue Zeitalter aber ebenso sklavenlos wäre wie das mythische Goldene Zeitalter des Kronos ist nach Platons Konzeption politischer Philosophie nicht zwangsläufig anzunehmen.

Schrift und der ersten Staatsformen. Anschließend spielte sie in einer ganzen Anzahl von Gesellschaften eine mehr oder weniger wichtige Rolle, jedoch nur eine geringe (oder gar keine) Rolle in Gesellschaften ohne feste Staatsformen, wie den ,primitiven‘ oder ,wilden‘ Gesellschaften der ,Naturvölker‘ Ozeaniens oder der Indianer Nordamerikas. Ganz so als bestände zwischen der Sklaverei als solcher und einer zentralisierten Zwangsgewalt ein mehr als nur zufälliger Zusammenhang“ (C. Delacampagne, Die Geschichte der Sklaverei, Düsseldorf/Zürich 2004, S. 12). Diesem Befund widersprechen allerdings die Erkenntnisse der Ethnologen wie bspw. Claude Meillassoux, der die Sklaverei in den Stammesgesellschaften Afrikas als konstitutives Element der Sozialstruktur jener Gemeinschaften darstellt. Vgl. C. Meillassoux, Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt am Main 1989. Delacampagne erwähnt zwar Afrika nicht in seiner Aufzählung sklavenloser Völker, jedoch ist dieses Gegenbeispiel schon Grund genug, von einer Generalisierung seiner These abzusehen. An sich aber können wir, die platonische Analyse mit einbeziehend, durchaus festhalten, dass eine zentralisierte, hierarchisch entwickelte Gesellschaftsform die Entwicklung der Sklaverei begünstigte. 201 Vgl. E. Voegelin, Order and History, Volume Three: Plato and Aristotle, Baton Rouge 1957, S. 156: „The misery of consciousness is preferable to the bliss of unconsciousness.“ 202 Ebd., S. 157: „The cycle of decline does not reverse itself automatically, it has to be reversed by the man who is the vessel of the idea.“

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2. Die Genese der Gesellschaft Den mythischen Erzählungen vom Ursprung menschlichen Zusammenlebens steht in der Politeia eine analytische Herleitung sozialer Gemeinschaft gegenüber, die auf den Grundbedürfnissen menschlicher Natur aufbaut. Der Grundgedanke hierbei beruht auf der Annahme, dass der Mensch ein Wesen ist, welches sich selbst nicht genügt (ožk ažtÜrkhò),203 sondern dass er viele Bedürfnisse hat, die er alleine nicht für sich befriedigen kann. Des Weiteren geht Platon davon aus, dass die Menschen unterschiedliche Fähigkeiten und Talente als Naturanlagen (katJ —ýsin)204 besitzen und in einer Gemeinschaft jeder das Seinige in Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse und die der anderen beizutragen hat. Bereits in diesem frühen Stadium der Gesellschaftsbildung zeigt sich in Grundzügen die Beantwortung der die Politeia leitenden Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit als einer der eigenen Natur gemäßen Handlung in Ausrichtung auf das Allgemeinwohl.205 Die Entstehung der Polis ist somit unauflöslich mit dem Prinzip der Gerechtigkeit verbunden, welches sich sukzessive auf all ihre Entwicklungsebenen überträgt.206 Zu Beginn der Stadtgründung durch Sokrates ist die Anzahl der Grundbedürfnisse und die zu ihrer Erfüllung notwendigen Bürger noch recht überschaubar: Nahrung, Wohnung und Bekleidung erfordern Landwirte, Baumeister, Weber und Schuster.207 Diese wiederum bedürfen eigener Werkzeuge und Rohmaterialien, welche sie aufgrund der von Platon anvisierten effektiveren Arbeitsteilung nicht selbst herstellen und produzieren können. Hirten und Schäfer, sowie eine Vielzahl von Handwerkern müssen also ebenfalls in die Stadt aufgenommen werden. Um den Austausch der Waren innerhalb der Polis als auch den Handel Politeia 369b 6. Vgl. Politeia 370c 4. Siehe hierzu auch Timaios 17b 6–19b 2 (insbesondere 17c 10), wo sich eine kurze Zusammenfassung des platonischen Gesellschaftsaufbaus findet. 205 Sokrates’ Gesprächspartner Adeimantos erkennt die Gerechtigkeit an diesem Punkte freilich noch nicht, doch ahnt, dass sie in ,irgendeinem gegenseitigen Verkehr der Menschen hier untereinander‘ zu finden sein müsste (Politeia 372a 1–3). Mit Blick auf den ganzen Dialog schreibt Friedländer über diese Stelle: „Das Prinzip der Gerechtigkeit wird sich später erweisen als die Selbstbeschränkung jedes Standes im Staate und jedes Bezirks in der Seele auf seinen besonderen Bereich. Dieses selbe Prinzip nun, dass jeder ,das Seinige tue‘, ist hier in einer Vorform schon vorhanden.“ P. Friedländer, Platon, Band 3, Berlin 1975, S. 72. 206 In diesem Sinne schreibt auch Vlastos: Plato „understands this principle to mean that a polis arises when, and only when, men come to direct their individual energies with a view to the needs of others no less than their own, each of them pursuing a line of work which will best mesh with that of others to their joint benefit. Plato then proceeds to generalize this principle, so that it will apply not only to economic activity but to all of the forms of associated living which go on within the polis.“ G. Vlastos, ,Justice and Happiness in the Republic‘, in: ders., Platonic Studies, Princeton 1981, S. 118. 207 Politeia 369d 1–12. 203 204

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mit anderen Städten zu gewährleisten, kommen nun noch Handelsleute hinzu, die diese Geschäfte sowohl zu Lande als auch zu Wasser zu betreiben in der Lage sind.208 Schließlich gibt es in der neugegründeten Stadt auch noch Platz und Bedarf für Menschen, „die von seiten des Verstandes (dianoßaò) wohl nicht sehr in die Gemeinschaft gezogen zu werden verdienen, aber hinreichende körperliche Stärke haben zu allerlei schweren Arbeiten, welche denn den Gebrauch ihrer Kräfte verkaufen und den Preis derselben Lohn (misqÎn) nennen, selbst aber [. . .] Tagelöhner (misqwtoß) genannt werden.“209

All diese Tätigkeiten der Handwerker, Händler und Tagelöhner werden in Kategorien des Dienstes (diakonßa) beschrieben210 und mit Geld angemessen entlohnt.211 Die in dieser Stadt erforderten Fähigkeiten beschränken sich auf die instrumentelle Vernunft des Verstandes (diÜnoia), doch auch wer darüber nur in geringem Maße verfügt, findet hier durch seine Arbeitskraft ein Auskommen. Von einer politischen Organisation, die weiterreichende Talente verlangen würde, ist auf dieser Entwicklungsstufe nicht die Rede. Der einzelne Bürger dieser Stadt ist mit der ihm naturgemäßen Tätigkeit beschäftigt und produziert für sich und das Allgemeinwohl in ausreichendem Maße. Es gibt keine brachliegenden Kapazitäten, keinen Überschuss an Produktion und keinen Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften, da im gegenseitigen Austausch alle notwendigen Lebensbedürfnisse abgedeckt sind.212 Sklaven kommen in der Aufzählung von Berufen in dieser Stadt eben deswegen nicht vor. Einerseits gäbe es in diesem Umfeld für sie schlichtweg nichts zu tun, andererseits rechtfertigt eine gewisse Gleichheit der Menschen bezüglich ihrer Tätigkeiten innerhalb der Stadt keine Form der unbezahlten Sklaverei. Alle Bürger sind einander Dienstleister und haben darin an der Gemeinschaft teil. Erst in politisch komplexen Systemen, welche über die schieren Lebensnotwendigkeiten hinaus ein gerechtes Gemeinwesen zu organisieren haben, ergeben sich Bedingungen, aufgrund derer ein vernunftschwacher Mensch nur als Sklave eines gerechten Herrn an der Gesellschaft partizipieren kann. Die Bedürfnisbefriedigungspolis ist mit einer Maschine zu vergleichen, in der alle Teile gleichbedeutend ineinander greifen, wohingegen in einer sich ausweitenden Gesellschaftskonstruktion der Geist der Ingenieure zum Aufbau einer ordnenden Gerechtigkeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Politeia 370c 9–371d 8. Politeia 371e 1–6. 210 Vgl. Politeia 370e 13; 371a 10; 371c 6; 371d 6; 371d 9. 211 Politeia 371b 9–10. 212 Um die Stabilität dieses in sich autarken Gesellschaftssystems zu gewährleisten, bedarf es einer praktizierten Geburtenkontrolle, damit die Menschen nicht „über ihr Vermögen hinaus Kinder [. . .] erzeugen aus Furcht vor Armut oder Krieg“ (Politeia 372c 1–2). 208 209

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Gleichwohl charakterisiert Sokrates diese auf die existentiellen Grundbedürfnisse des Menschen zugeschnittene Gemeinschaft als „wahr und gesund“213. Der aristokratische Glaukon, Platons Bruder, bezeichnet den Entwurf jedoch als eine „Stadt der Schweine“214 und beklagt den mangelnden Komfort. Es treten also jetzt eine ganze Reihe von luxuriösen Handwerken und komfortablen Dienstleistern, wie Musikanten, Tänzer, Dichter, Kunsthandwerker, Barbiere, Ammen und Köche in Erscheinung, und ebenso bedarf es nun der Ärzte als Konsequenz einer ausschweifenden Lebensweise.215 Jedes neue Bedürfnis erfordert eine Vielzahl weiterer Erfüllungsgehilfen, die ihrerseits wiederum Bedürfnisse mit sich bringen und für deren existentielle Lebensgrundlagen gesorgt werden muss. Die Polis expandiert, um Platz für ihre zunehmende Bevölkerung und die zu ihrer Versorgung notwendige Ackerfläche zu schaffen. Kriegerische Konflikte mit Städten in der Umgebung, welche eine ähnliche Entwicklung eingeschlagen haben, werden nun unausweichlich, so dass die Gesellschaft einen, ebenso wie alle anderen Berufsgruppen, spezialisierten Kriegerstand braucht, der ihre Interessen vertritt.216 Diese Krieger, von Platon ,Wächter‘ (—ýlakeò) genannt, bedürfen einer philosophischen Ausbildung, damit sie ihre Macht nur gegen Fremde, nicht aber gegen ihre Mitbürger einsetzen.217 Im Folgenden findet sich eine ausführliche Darstellung der musischen und gymnastischen Erziehungsprinzipien, wie sie hier im Umriss schon vorgestellt wurden.218 Dabei zeigt sich, dass auch im Wächterstand nicht alle die gleichen Anlagen besitzen und eine kleinere Gruppe gebildeter Wehrmänner auf eine Vielzahl von Gehilfen zurückgreifen kann.219 Es entsteht somit ein immer differenzierteres Gebilde von unterschiedlichen Dienstleistungen und Hierarchien, sowohl im horizontalen Sinn, zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, als auch im vertikalen Sinne, zwischen Delegierenden und Ausführenden. Schließlich werden unter den talentiertesten Wächtern die Philosophenkönige ausgewählt, die nun, gemäß ihrer Einsichten, die Geschicke der Polis lenken und, mit dem Notwendigsten von der Bevölkerung versorgt, ohne Eigentum in einer Art Klostergemeinschaft leben – nur noch der Erkenntnis des Guten bezüglich des Gemeinwohls verpflichtet und dienend.220

Politeia 372e 8–9. Politeia 372d 6–8. 215 Politeia 373a 1–d 3. Bezeichnenderweise werden die Tätigkeiten jener nun neu hinzugekommenen Berufe im Gorgias (464c 8) ,Schmeichelkünste‘ genannt. 216 Politeia 373d 4–374d 7. 217 Politeia 374d 8–376c 7. 218 Politeia 376c 8–412b 7. Siehe hierzu Kapitel I.1. dieses Teiles der vorliegenden Arbeit. 219 Politeia 412b 8–414b 7. 220 Politeia 415d 6–422a 3 und 449a 1–541b 6. 213 214

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Im Gegensatz zu dem abrupten Bruch, wie er zwischen den hesiodischen Zeitaltern liegt und der uns auch im plötzlichen Umschwung der Weltenkreisläufe im Mythos des Politikos-Dialoges begegnet, haben wir es hier mit einem gleichsam organischen Wachstum zu tun, bei dem sich eine Stufe aus der anderen entfaltet. Die erste Polis, die lediglich der Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse dient, ist der latent fortwirkende Ursprung, auf welchem schließlich idealerweise die Philosophenherrschaft aufbaut. Das Werden der menschlichen Gemeinschaft hin zum komplexen Gesellschaftssystem, wie es in der Politeia dargestellt wird, gliedert sich in vier Abschnitte, die schrittweise ineinander übergehen.221 Auf die einfache Polis (369b–372c), die, auf Arbeitsteilung basierend, dem wechselseitigen Austausch der Lebensnotwendigkeiten unter den Menschen dient und in der kein Platz für Sklaven ist, folgt die luxuriöse Polis (372c–376e), welche über ein weit verzweigtes Geflecht von sekundären Bedürfnisbefriedigungsmechanismen verfügt und durchaus eine Vielzahl von Ähnlichkeiten mit dem reichen, hochkultivierten Athen des 5. Jahrhunderts aufweist. Das Vorhandensein von Sklaven in ihr dürfte deswegen, auch ohne explizite Erwähnung, anzunehmen sein, da es aus antiker Sicht unbedingt zu dieser Art von Lebenswandel gehört. Die gereinigte Polis (376e–445e) hebt die Extreme zwischen Armut und Reichtum auf, was sich indirekt aus den Erziehungsprinzipien des Wächterstandes ergibt. Der Bedarf an Sklaven müsste sich dadurch verringern, auch wenn ihre Akquirierung durch mögliche Kriege erleichtert wird.222 Die philosophische Polis (449a– 541b) schließlich ist das Endprodukt des Erziehungsprozesses, in welcher nun die besten der Wächter die Herrschaft übernehmen. Ob in dieser vollendeten Gesellschaftsform noch Sklavenarbeit vorgesehen ist, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden. a) Auf der Spur der Sklaven in der Politeia Oft ist die Frage gestellt worden, ob es in der philosophischen Polis de facto Sklaven gibt. Für die Nomoi ist ihr Vorhandensein evident; in der Politeia werden sie nicht als eigener Stand erwähnt. Die Art der Diskussion vermittelt den Eindruck, als ob die Gültigkeit der platonischen Philosophie im Ganzen von diesem Punkt abhängt. Die Sympathisanten Platons, wie Levinson223 und Calvert224, versuchen fragliche Textstellen so umzuinterpretieren, dass nicht der Verdacht von Sklaverei in der Politeia aufkommen kann, auch wenn dies zu 221 Die nun folgende Einteilung beruht auf E. Voegelin, Order and History, Volume Three: Plato and Aristotle, Baton Rouge 1957, S. 96–104. Die Genese der Polis wird hier in Anlehnung an Hesiods Theogonie als ,Poleogony‘ bezeichnet. 222 Das Verbot der Versklavung von Helenen untereinander findet sich erst im Rahmen der philosophischen Polis (471a 8–10). 223 R. B. Levinson, In Defence of Plato, Harvard 1953, S. 163.

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Lasten der platonischen Argumentationsstruktur und des Textaufbaus geht, wohingegen ein ausgemachter Feind Platons wie Popper die Existenz von Sklaven und Sklaverei in der ideellen Polis aufzuweisen vermeint, wo von diesen oder von dieser gar nicht die Rede ist.225 Der platonische Sklave, wie er sich uns bis hierher dargestellt hat, definiert durch ein unterentwickeltes logistikÎn und eine dieses benachteiligende Seelendisposition, erhält seinen Status erst im Fortschreiten der menschlichen Gemeinschaft von einem Grundbedürfnisbefriedigungssystem hin zu einer komplexen politischen Gesellschaftsorganisation. Auf der Stufe der ,einfachen Polis‘ begegnet uns die sklavische Seele als Tagelöhner, d. h. als lohnempfangende Arbeitskraft und somit als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft. Despotopoulos sieht darin einen ersten Hinweis, dass das wechselseitige System des Austausches von jedem seiner Natur gemäßen Fähigkeiten, auf welchem die Protopolis aufbaut, nicht zu vereinbaren wäre mit einem späteren Stadium der Polis, in welches Sklaven involviert wären, da im Prinzip der Sklaverei nicht von einer Reziprozität des Austausches die Rede sein kann und damit die Grundlage des Systems entfiele.226 Hierzu ist zu sagen, dass man die von Platon beschriebene Genese zwar durchaus als organisch ansehen kann, wobei sich eine Polis aus der anderen entwickelt, dies jedoch nicht linear und ohne Umwege vonstatten geht. Bereits die luxuriöse Polis der zweiten Stufe kann nicht mehr nach den Grundprinzipien der Vorläuferpolis funktionieren, da die Vielzahl der offerierten und beanspruchten Dienstleistungen, sowie die Mechanismen von Angebot und Nachfrage einen angemessenen und reziproken Austausch stark verkomplizieren und auch durch die Möglichkeit von Kriegen die Arbeitskraft von Gefangenen oder eben Sklaven zumindest nicht ausgeschlossen wird. Die Reinigung der dritten Stufe, sowie die darauf folgende philosophische 224 B. Calvert, ,Slavery in Plato’s Republic‘, in: Classical Quarterly 37 (1987), S. 367–372. 225 K. Popper, The Open Society and Its Enemies, Vol. 1, Princeton 1963, S. 47 und S. 224–225. So überträgt er den Umgang des timokratischen Mannes mit Sklaven (Politeia 549a 1–3) auf die philosophische Polis oder sieht in 471b–c eine explizite Aufforderung, Barbaren durch die Bürger der ideellen Polis zu versklaven, obwohl an dieser Stelle von Sklaverei nicht direkt die Rede ist. Die Auseinandersetzung Poppers mit Platon ist von einer gewissen destruktiven Bösartigkeit geprägt, so dass es mir nicht sehr fruchtbar erscheint, auf seine weiteren Ausführungen zu diesem Thema einzugehen. Gleichwohl werde ich auf 471b–c im Folgenden noch Bezug nehmen. 226 C. Despotopoulos, ,La ‘Cité Parfaite’ de Platon et l’Esclavage‘, in: Revue des études grecques 83 (1970), S. 28: „Cette association fondée sur l’entre-aide, cette réciprocité d’emplois, qui fait que chaque être humain, tout en servant les autres, est, lui aussi, servi par les autres, exclut évidemment l’existence d’esclaves parmi ceux qui constituent la ‘cité’. Car l’esclave n’est employé que pour servir son maître, sans pouvoir exiger d’être servi en retour par celui-ci ou par tout autre membre de la ‘cité’. C’est d’ailleurs pour cette raison que l’existence d’esclaves dans la Cité parfaite est fondamentalement incompatible avec la finalité de sa construction, à savoir le bonheur de tous ceux qui la composent, sans aucune exception.“

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Polis stellen zwar eine gewisse Übersichtlichkeit wieder her, jedoch ist damit nicht gesagt, dass ein eventuell sich bereits etabliert habendes System von Sklavenwirtschaft damit abgeschafft werden würde. Das Grundprinzip des gegenseitigen Austausches in der ,einfachen Polis‘ betrifft die Mitglieder der Gemeinschaft, zu denen in diesem Falle auch der Tagelöhner gehört. Der Sklave in der ideellen Polis hätte allerdings nur über seinen Herrn an der Gesellschaft teil und durch diesen wäre auch das Austauschprinzip gewährleistet. Die Protopolis kann als Keimzelle der philosophischen Polis betrachtet werden, ist aber nicht deren Abbild im Kleinen und kann folglich nicht mit dieser gleichgestellt werden, so wie es Calvert anhand dieser Textstelle (371d–e) tut.227 Das Vorhandensein von bezahlten Tagelöhnern auf dieser Gesellschaftsstufe impliziert nicht die Unmöglichkeit von Sklaven in einem weiter entwickelten Stadium. Auch ist nicht notwendigerweise gesagt, dass, wie in der einfachen Polis, auch in einem größeren und komplexeren sozialen Verbund alle anfallenden Arbeiten von den Bürgern selbst erledigt werden könnten, so dass Sklaven in diesem Kontext lediglich eine Art ,leisure class‘ bilden würden.228 Einen gewichtigeren Einwand wirft Calvert dagegen mit der Frage auf, wer in der ideellen Polis überhaupt berechtigt wäre, Sklaven zu besitzen.229 Die Prinzipien des Herrschens gelten gleichermaßen für die Herrschaft über Bürger wie über Sklaven,230 finden sich aber, nach Platons politischer Theorie, nur im Besitz derer, die sich selbst beherrschen, d. h. in deren Seelen der vernünftige Teil über die beiden anderen herrscht. Das sind in der Politeia in einem zur Herrschaft befähigendem Ausmaß jedoch nur die Philosophenherrscher, denen allerdings kein Eigentum erlaubt ist. Dies führt zu dem Paradox, dass die Menschen, welche qualifiziert sind, Sklaven zu befehligen, diese nicht besitzen dürfen, wohingegen Arbeiter und Handwerker, die der Unterstützung durch Sklaven am ehesten bedürften und auch über Eigentum verfügen können, nicht die Legitimation haben, Sklaven zu halten.231 Für Calvert folgt aus dieser Tatsache, dass B. Calvert, a. a. O., S. 368–369. Neben Calvert vertritt auch J. Wild, Plato’s Modern Enemies and the Theory of Natural Law, Chicago 1953, S. 50 f., die Auffassung, dass die Sklaven in der Politeia überflüssig wären, da alle notwendigen Arbeiten von freien Handwerkern ausgeübt würden. Vlastos verweist zu Recht darauf, dass diese Behauptung keine Grundlage im Text hat. Vgl. G. Vlastos, ,Does Slavery Exist in Plato’s Republic?‘, in: ders., Platonic Studies, Princeton 1981, S. 141. 229 B. Calvert, a. a. O., S. 369–370. 230 Vgl. Politikos 258e 9–259c 5. 231 Calvert deckt an dieser Stelle einen Widerspruch bei Vlastos auf, der einerseits das Paradoxon klar erkennt (Vlastos, a. a. O., S. 142), andererseits aber den Besitz der Sklaven dem dritten Stand zuschreibt (Vlastos, a. a. O., S. 141, Fn. 6). Auch Despotopoulos argumentiert mit dem Problem des Besitzes von Sklaven gegen ein Vorhandensein von Sklaverei im Idealstaat. Für ihn ist das Luxusverbot (Politeia 421d–422a) der Grund, dass dem dritten Stand die Haltung von Sklaven untersagt ist (Despotopoulos, a. a. O., S. 29). G. R. Morrow dagegen (Plato’s Law of Slavery in its Relation to 227 228

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niemand rechtmäßig Sklaven besitzen kann und es sie somit in der Politeia auch nicht geben kann. Denkbar wäre aber eine Rechtskonstruktion, wonach die Herrscher den Sklaven im Interesse des dritten Standes befehligen, diese aber formal öffentliches Eigentum sind, so wie es uns aus dem damaligen Athen für die aus skythischen Bogenschützen rekrutierte Polzeitruppe bekannt ist.232 Aus dem Paradoxon der Legitimität des Sklavenbesitzes ergibt sich also nicht zwangsläufig ein Argument gegen das Vorhandensein von Sklaven in der philosophischen Polis. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung versucht Calvert die mögliche Existenz von Sklaven in Widerspruch zu der platonischen Seelenteilungslehre zu bringen.233 Gemäß der Idiopragieformel müsste die Präsenz von Sklaven in der Polis dadurch gerechtfertigt sein, dass es spezifisch sklavische Talente und Persönlichkeiten gäbe, für welche nur diese Arten von Tätigkeiten in Frage kämen. Es wurde hier bereits dargelegt, dass es diese, nach Platon, gibt.234 In diesem Falle müsste Platon, nach Calvert, einen vierten Seelenteil postuliert haben, welcher das Vorherrschen des Sklavischen in einem Menschen begründet und ihn zu einem besonderen Status und speziellen Arbeiten disponiert. Die Annahme, die Dreiteilung der Seele würde nicht das Ganze umfassen, ist natürlich absurd, da Sokrates selbst diese als ,vollkommen‘ bezeichnet,235 ebenso wie die Möglichkeit einer spezifisch sklavischen Seele in Betracht zu ziehen, die nur aus jenem vermeintlichen vierten Seelenteil bestünde und von Platon stillschweigend vorausgesetzt würde. Calvert kommt folglich zu dem Schluss, dass die „analysis of the implications of the theories of justice and the soul cannot be reconciled with the institution of slavery.“236 Dieser Folgerung kann nicht zugestimmt werden, da erstens die Sklaverei, nach Platon, durchaus eine besondere, wenn auch extreme Form der GerechtigGreek Law, Urbana 1939, S. 130) sieht in dem Herrschaftsprinzip und seiner absoluten Anwendung in der Politeia eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz von Sklaven in der Politeia impliziert, legt sich darauf aber nicht eindeutig fest. 232 Vgl. M. Austin/P. Vidal-Naquet, Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland, München 1984, S. 83: „Es gab auch Staatssklaven, denen verschiedene öffentliche Aufgaben übertragen waren, z. B. Verwaltungsbeamte, Sekretäre, Gefängniswärter usw.; eine besondere Gruppe unter ihnen waren die dreihundert skythischen Bogenschützen, die als Polizei dienten.“ 233 B. Calvert, a. a. O., S. 370–371. 234 Siehe § 2, Kapitel II. der vorliegenden Arbeit ,Die spezifische Differenz der sklavischen Seele‘. Calvert verweist darauf, dass die präziseste Darstellung eines sklavischen Charakters in der Politeia der Tagelöhner in 371e ist, welcher als Mitglied der Gesellschaft geführt wird, woraus hervorgeht, dass es keine spezifisch sklavischen Tätigkeiten geben kann. Auch hier übersieht Calvert, dass dies nur für die ,einfache Polis‘ zutrifft. Des Weiteren steht bei Platon nirgendwo geschrieben, dass die Arbeit des Sklaven grundverschieden von der des Bauern oder Handwerkers sein muss. 235 Politeia 435d 10. 236 B. Calvert, a. a. O., S. 371.

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keit darstellt und zweitens die sklavische Seele nicht durch einen eigenen Seelenteil definiert ist, sondern durch die Disposition der Teile innerhalb der Seele zueinander. Das Sklavische der Seele ergibt sich, wie im ersten Teil dieser Arbeit bereits dargelegt worden ist, aus einer radikalen und bedingungslosen Herrschaft des begehrlichen Seelenteiles über das logistikÎn bei gleichzeitiger Funktionalisierung des muthaften Teiles für seine Zwecke. Ebenso hinfällig wird damit Calverts Argument, dass durch einen Sklavenstand in der Politeia die Analogie zwischen den Teilen der Seele und denen der Polis in sich nicht mehr stimmig wäre. Das Sklavische wird nämlich repräsentiert durch die Unterwerfung der Arbeiter, Bauern und Handwerker unter die Herrschaft der Philosophen. Sicherlich wird damit eingeräumt, dass der Unterschied zwischen dem dritten Stand und den Sklaven nur ein sehr geringer ist. In beiden Fällen herrscht das ™piqumhtikün in der Seele vor und versklavt das logistikÎn, wenn dies auch bei der sklavischen Seele wesentlich zügelloser und unkontrollierbarer vonstatten gehen dürfte, so dass sie neben der allgemein waltenden politischen Herrschaft noch der besonderen Herrschaft durch einen Herren bedarf, um an diesem System teilzuhaben und somit weder anderen noch sich selbst Schaden zufügen kann. Dies natürlich nur, vorausgesetzt, es gibt Sklaverei in der Politeia, was bisher noch ebenso wenig bewiesen ist, wie ihre Nichtexistenz durch die bereits abgehandelten Argumente. Ein weiterer Versuch, die ideelle Polis frei von Sklaverei zu halten, bezieht sich auf die Verfallsreihe der politischen Verfassungen in der Politeia und dort insbesondere auf den Übergang von der philosophischen Stadt hin zur Timokratie. Während dieses Prozesses sieht das platonische Szenario die Versklavung (doulwsÜmenoi) der vormaligen Herrscher durch eine Teilgruppe des dritten Standes vor, die sie nun als Diener (oœkÝtaò) auf ihren Ländereien und im Haushalt hält.237 Wild bezeichnet diese Stelle als „the introduction of slavery“ und schließt daraus das Nichtvorhandensein von Sklaven in der vorhergehenden, philosophischen Polis.238 Platon schreibt hier aber nichts über die Einführung der Sklaverei, sondern lediglich, dass ein Teil der Bürgerschaft einen anderen versklavt. Vlastos spricht dieser Textstelle jegliche Relevanz für unser Thema ab, da im politischen Denken der Griechen begrifflich sehr genau zwischen den Bürgern und anderen Bewohnern einer Polis unterschieden wurde, so dass ihm im wesentlichen beizupflichten ist, wenn er schreibt: „The enslavement of a group of citizens at a given time does not allow the slightest inference that prior to this time no non-citizens had been slaves.“239 Politeia 547c 1–6. J. Wild, a. a. O., S. 50. 239 G. Vlastos, a. a. O., S. 140, Fn. 3: „No distinction is more fundamental in Greek political thought than that between citizens and other persons in the polis.“ Als deutliche Belegstelle für diese differenzierte begriffliche Unterscheidung von Polisbewohnern bei Platon zitiert Vlastos Politeia 463a 1–b 12. 237 238

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Nachdem wir bis hierhin die Argumente untersucht haben, welche gegen das Vorhandensein von Sklaven in der ideellen Polis der Politeia sprechen sollten, wenden wir uns jetzt den Textstellen zu, die die Möglichkeit von Sklaverei in der philosophischen Stadt zumindest nicht ausschließen. Nun sehen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass Platon nirgendwo in der Politeia eine Klasse von Sklaven als Teil seines Gesellschaftsentwurfes benennt. Dies hat viele Interpreten implizit und einige ausdrücklich zu der Überzeugung veranlasst, dass ihr Nichtgenanntwerden eben auch auf ihre Nichtexistenz verweist.240 Diese Implikation übersieht aber, dass der Sklave nach griechischem Verständnis nicht Gegenstand der Verfassung der Polis ist, sondern zum Bereich des Haushaltes und der Wirtschaft gehört.241 Vlastos hat anhand des Aufbaus der Nomoi nachgewiesen, dass diese Zuordnung auch für Platon maßgebend ist und begründet die Abwesenheit des Sklaventhemas in der Politeia damit, dass die Darstellung der wirtschaftlichen Gegebenheiten des dritten Standes, welchen er fälschlich zu Sklavenbesitzern macht, kein Anliegen eines politischen Ordnungssystems ist, wie es in der Politeia verfolgt wird.242 Auch wenn es mehr als fraglich ist, ob der Besitz von Sklaven in der Politeia dem Nährstand zuzurechnen sei, so bleibt doch ihre Zuordnung zum Wirtschaftssektor bestehen und erklärt zureichend, warum der Sklave als ökonomischer Faktor nicht näher in Erscheinung tritt. Ein politisches Thema wäre die Sklaverei lediglich, wenn es um ihre Abschaffung ginge, so dass Platons Schweigen zu diesem Punkt geradezu auf den Fortbestand der Institution hinweist.243 Alle großen Veränderungen gegenüber den athenischen Gegebenheiten, sei es das Verbot des Privateigentums für die Herrscher, die Auflösung der Familien, die politische Gleichstellung der Frauen oder die zahlreichen, zum Teil recht radikalen Reformen im Bereich der Politik und des Erziehungssystems, werden ausführlich von Platon diskutiert und begründet. Wieso sollte Platon einen so weit reichenden Umbau der gesellschaftlichen Struktur, wie es die Abschaffung der Sklaverei bedeutet hätte,244 dem So J. Wild, a. a. O., S. 50–51. Vgl. Aristoteles, Politik 1274b 43: „Der Staat ist eine Vielheit von Bürgern“ und Politik 1253b 2–7: „[. . .] so müssen wir zuerst von der Hausverwaltung oder der Einrichtung und Leitung der Familie reden; denn jeder Staat besteht aus Familien [. . .]. Die vollkommene Familie setzt sich aber aus Sklaven und Freien zusammen.“ 242 G. Vlastos, a. a. O., S. 141, Fn. 6: „In the Laws Plato does not discuss the slaves when he lays down the political institutions in Book 5 and the first part of Book 6; he comes around to the slaves when he reaches the question of ktÞmata in 6, 776b ff. The simplest answer to the question [. . .] why so little is said about slaves in the Republic is that ktÞmata are wholly in the hands of the third class whose economic arrangements are of no interest to Plato.“ 243 Hierauf machte zuerst Morrow (Plato’s Law of Slavery, a. a. O., S. 131) aufmerksam und wird darin von Vlastos (a. a. O., S. 140) unterstützt. 244 Das Funktionieren des politischen Gefüges Athens war in großem Maße abhängig von der Sklavenwirtschaft. Vgl. M. I. Finley, ,Was Greek Civilization Based on Slave Labour?‘ in: Historia 8 (1959), S. 145–164. 240 241

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Leser verschweigen? Despotopoulos sieht hierfür taktische Gründe Platons vor, um dem sokratischen Schierlingsbecher zu entgehen. Demnach wäre ein solcher Vorschlag einem subversiven Versuch eines Systemumsturzes gleichgekommen und hätte zu massiven strafrechtlichen Sanktionen gegenüber dem Philosophen führen können.245 Es ist zweifelsohne nicht zu leugnen, dass der Gedanke der Abschaffung der Sklaverei unter den damaligen politischen Bedingungen revolutionäres Potential birgt, wenngleich nicht einzusehen ist, warum dies hier in größerem Maße der Fall sein sollte als bei den anderen von Platon anvisierten Veränderungen. Die Politeia im Ganzen dürfte sich für einen antiken Athener wie ein Aufruf zur Revolution gelesen haben und zeugt von Platons philosophischem Selbstvertrauen, seine gewonnenen Erkenntnisse nicht der Kleingeistigkeit politischer Machtinteressen anzupassen, auch wenn dies mit Gefahr für Leib und Leben verbunden war. Diese Furchtlosigkeit, das politische System der athenischen Polis aus philosophischer Perspektive anzuprangern und mit kompromisslosen Gedanken zu dessen Veränderung zu unterwandern, begegnet uns in den meisten platonischen Dialogen, und es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass ausgerechnet bei dem Vorschlag, die Sklaverei abzuschaffen, Platon der Mut verlassen hätte. Ein deutlicherer Hinweis auf das mögliche Vorhandensein von Sklaven in der Politeia findet sich im Rahmen einer Diskussion über die zeitgenössische Kriegsführung.246 Sokrates lehnt es hier ab, dass sich Hellenen im Kriege gegenseitig versklaven und empfiehlt, dass sie sich stattdessen unterstützen, um nicht in die Knechtschaft der Barbaren zu geraten. Glaukon pflichtet dem bei und fügt hinzu: „Umso mehr würden sie sich auch wohl gegen die Barbaren wenden und sich untereinander des Krieges enthalten.“247 Aus welchem anderen Grunde sollte Glaukon dies betonen, als um den Nachschub von Sklaven 245 C. Despotopoulos, a. a. O., S. 27, Fn. 4: „Au moment où il [Platon] rédigeait, notre philosophe ne se trouvait pas élevé sur le piédestal de l’immortalité, où nous le juchons dans la perspective des siècles; il se trouvait alors exposé, lui aussi, aux réactions mesquines des gens qui se donnaient le rôle de défenseurs du régime. Et l’esclavage était précisément un élément essentiel du régime social de l’époque. Au lieu d’énoncer une opinion explicitement favorable à sa suppression, Platon aura préferé, croyons-nous, le supprimer tacitement. C’est ainsi qu’il a construit la Cité parfaite sans assigner à cette institution aucune place, et sans en laisser sentir le besoin. De la sorte, il pouvait atteindre son objectif, sans pour autant offrir de cible trop visible aux défenseurs du système esclavagiste.“ 246 Politeia 469b 5–471c 3. Auf diese Textstelle zum Nachweis der Sklaverei in der Politeia stützen ihre Argumentation J. Adam, The Republic of Plato, Vol. 1, Cambridge 1902, S. 97, K. Popper (a. a. O., S. 224 – allerdings in einer nicht nachzuvollziehenden Zuspitzung, s. o. Fn. 225), G. Vlastos (a. a. O., S. 142–144) und J. Vogt, Sklaverei und Humanität, Historia Einzelschriften 44 (1965), S. 19. Die Vertreter einer sklavenlosen Politeia, wie Calvert, Levinson und Wild, gehen auf diese Passage nicht ein. Eine Ausnahme bildet Despotopoulos, mit dessen Einwand wir uns im Folgenden noch beschäftigen werden.

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durch Barbaren sicherzustellen, da dieser unter der gegebenen Prämisse nicht mehr durch Hellenen gewährleistet ist? Diese Annahme impliziert freilich, dass Glaukon Sklaverei in der ideellen Polis bereits als gegeben ansieht und sich das Subjekt seiner Aussage auf deren Bürger beziehen muss.248 Das ,sie‘ in seinem Satz verweist auf Sokrates vorangegangene Bemerkung, dass es vorzuziehen ist, „selbst (ažtoýò) keine Hellenen zum Knecht (dou= lon) zu haben noch auch den anderen Hellenen dies anzuraten“, wobei dieses ,selbst‘ wiederum auf „unsere Krieger (†mi=n o stratiw= tai)“ der den Abschnitt einleitenden Fragestellung verweist.249 Gemeint sind in Glaukons Aussage also sowohl die Bürger des platonischen Gesellschaftsentwurfes wie eben auch alle „anderen Hellenen“ und es gibt keine durch den Text begründete Veranlassung hier irgendeine Relativierung zwischen den beiden Gruppen vorzunehmen, so wie es Despotopoulos tut. Nach seiner Argumentationsstruktur betrifft die Aufzählung von den Übeln der Kriegsführung, wie die gegenseitige Versklavung unter Hellenen, a priori nur die anderen Griechen, so dass die Aufforderung, sich gemeinsam gegen die Barbaren zu wenden und sich untereinander des Krieges zu enthalten, als ein Ratschlag der Idealbürger, welche sich solcher Verhältnisse bereits entledigt haben, an die Realgriechen jener Zeit zu verstehen ist. Der Ausdruck „selbst keine Hellenen (ÄEllhna) zum Knecht (dou= lon) zu haben“ impliziert demnach nicht, in Verbindung mit Glaukons Kommentar, eine Akquirierung von Barbarensklaven in der ideellen Polis, sondern dient als rhetorische Figur, um den Unterschied zwischen den platonischen Vorstellungen und den griechischen Gegebenheiten deutlicher zu machen. Diese Interpretation sieht Despotopoulos gestützt durch die völker- und epochenübergreifende („panhumaine et panhistorique“) Ausrichtung des platonischen Gesellschaftsentwurfes, wie er im Satz von den Philosophenkönigen zum Ausdruck kommt, in welchem das ganze „menschliche Geschlecht (˜nqrwpßnw gÝnei)“ mit einbezogen wird oder andernorts in der Politeia, wo die Möglich247 Politeia 469b 8–c 7. In diesem Abschnitt des Dialoges gibt es keinerlei Unstimmigkeiten zwischen Sokrates und Glaukon, der dessen Argumente schnell auffasst und weiterführt, so dass man die platonische Position in den Ausführungen beider Gesprächsteilnehmer annehmen kann. 248 Vgl. G. Vlastos, a. a. O., S. 143. Der eventuellen Möglichkeit, dass die Krieger die Kriegsgefangenen nicht behalten, sondern an andere Hellenen in die Sklaverei verkaufen, begegnet Vlastos mit dem Einwand: „He [Glaukon] is hardly likely to cast the virtious utopians in the sordid role of procuring for others merchandise whose use by themselves they would consider immoral“. 249 Politeia 469b 5–6. Die Arbeitsteilung in der Politeia macht es höchstwahrscheinlich, dass mit den ,stratiw= tai‘ die ,Wächter (—ýlakeò)‘ gemeint sind. Für das Problem des Besitzes von Sklaven ergäbe sich daraus, neben der von mir erwogenen Möglichkeit des öffentlichen Eigentums, auch die Option, die Wächter zu Sklavenbesitzern in der Politeia zu machen, da diese aufgrund ihrer philosophischen Erziehung durchaus qualifiziert wären, zumindest Sklaven zu befehligen und das Eigentumsverbot in ihrem Falle vielleicht nicht ganz so rigoros wie bei den eigentlichen Herrschern gelten würde.

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keit einer Realisierung der besten Polis auch für barbarische Gegenden nicht ausgeschlossen wird.250, 251 In diesem Kontext wäre auch noch Platons Ablehnung der pauschalen Unterscheidung von Hellenen und Barbaren, wie sie uns im Dialog Politikos252 begegnet ist, zu nennen. Gleichwohl übersieht diese Interpretation die kulturspezifischen Unterschiede zwischen Barbaren und Hellenen, die aus platonischer Sicht die Versklavung entwicklungsgeschichtlich den Hellenen unterlegener Völker durchaus als legitim erscheinen lassen können. Des Weiteren setzt Despotopoulos bei seiner Argumentation, ohne evidente Textstelle hierzu, die Abschaffung der Sklaverei in der ideellen Polis schlichtweg voraus. Die von ihm angenommene rhetorische Figur hat keinen Hintergrund in der Politeia, vor dem sie sich abheben könnte, dagegen stellt die Grammatik des hier behandelten Abschnittes ganz deutlich eine Bedingung der Möglichkeit des Vorhandenseins von Sklaven in der besten Polis dar. Das Gebot, sich als Hellenen nicht gegenseitig zu versklaven, zeugt in keiner Weise von einer generellen Ablehnung der Sklaverei durch Platon. Etwas weiter im Text wird dies nochmals deutlich, wenn Glaukon Sokrates zustimmt (‡mologw= ), dass „unsere Bürger (†metÝrouò polßtaò)“ ihren hellenischen Widersachern bei Auseinandersetzungen auf diese Art begegnen müssen, „den Barbaren aber so, wie jetzt die Hellenen sich untereinander“.253 ,Auf diese Art‘ bezieht sich auf die vorangehende Aufzählung, in welcher Knechtschaft, Vandalismus 250 Politeia 473d 6 und 499c 8–d 4: „Wenn jedoch den in der Philosophie Vollendeten jemals eine Notwendigkeit, sich des Staates anzunehmen, entweder irgend entstanden ist in der unendlichen vergangenen Zeit oder auch jetzt für sie besteht in irgendeiner barbarischen, weit außerhalb unseres Gesichtskreises gelegenen Gegend oder irgendwann in der Folge entstehen wird, für diesen Fall sind wir bereit, mit Gründen durchzufechten, dass diese beschriebene Verfassung bestanden hat oder besteht oder bestehen wird, wenn diese Muse [Philosophie] sich eines Staates bemächtigt.“ 251 C. Despotopoulos, a. a. O., S. 30–31: „L’adjectif ÄEllhna, qui précède dans notre phrase le mot dou= lon, ne constitue donc aucunement un argument a contrario en faveur de l’acquisition d’esclaves barbares par les citoyens de la Cité parfaite; il n’a été utilisé que pour une raison de rhétorique, afin de renfoncer la force persuasive d’une exhortation qui est censée être adressée par les citoyens de la Cité parfaite aux autres Grecs, et qui exprime en fait le sentiment de l’auteur à l’égard du comportement des Grecs de son époque dans les guerres entre Cités. Au reste, coupée de son contexte, cette phrase deviendrait inacceptable, incompatible avec les perspectives ,panhumaine‘ et ,panhistorique‘ de la Cité parfaite, dont la vocation est d’aller au-delà de la distinction du genre humain en Grecs et Barbares.“ 252 Politikos 262d 2–8. Vgl. hierzu § 3, Kapitel III. ,Gleichheit und Gerechtigkeit‘ der vorliegenden Arbeit. 253 Politeia 471b 7–9. Eine Begründung für diese Unterscheidung findet sich etwas weiter vorher im Text (470b 5–c 4): „Mir scheinen nämlich, wie sie ja auch als zwei Wörter gesprochen werden, Krieg (pülemüò) und Fehde (stÜsiò), so auch zweierlei zu sein und sich auf zwei verschiedene Dinge zu beziehen; nämlich von diesen zweien ist das eine Befreundetes und Verwandtes, das andere Fremdes und Ausländisches. Für Feindschaft nun mit dem Befreundeten brauchen wir das Wort Fehde, mit dem Fremden aber Krieg [. . .]. Ich behaupte nämlich, das hellenische Geschlecht sei

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und Brandschatzerei zwischen sich bekämpfenden Griechen, im Gegensatz zur damaligen Praxis, strikt abgelehnt werden. Gleichwohl soll diese Art der Kriegsführung gegenüber Barbaren unvermindert weitergeführt werden, was wiederum auf einen Bedarf an Sklaven in der Politeia schließen lässt. Dass es sich hier um diese handelt, geht eindeutig aus dem Subjekt „unsere Bürger“ hervor, sowie aus der zeitlichen Absetzung gegenüber den „jetzigen“ Zuständen. Der in dieser Textstelle implizierte Hinweis für die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins von Sklaven im platonischen Gesellschaftsentwurf baut auf Voraussetzungen auf, die m. E. durch eine genaue Lektüre dieses Abschnittes der Politeia gegeben sind. Nichtsdestoweniger bleibt hier die mögliche Existenz einer Sklavenschicht noch gleichsam diskret im Verborgenen. Jedoch wurde bereits in einer vorangehenden Stelle, der wir uns nun zuwenden wollen, der Sklave als eigener Teil der Bevölkerung der ideellen Polis erwähnt. In Buch IV wird untersucht, wo in der philosophischen Stadt die Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit aufzufinden sind,254 welches in der Frage mündet, welche von diesen vieren die leitende Rolle im politischen Leben einnimmt und ob nicht vor allem das die Stadt gut macht, „wenn sich bei Kindern und Weibern, Knechten und Freien (doýlw kaÍ ™leuqÝrw), gemeinen Arbeitern und Herrschenden und Beherrschten dieses findet, dass jeder, wie er einer ist, auch nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei einmischt.“255

Es kann anhand dieser Textstelle eigentlich kein begründeter Zweifel entstehen, dass Platon neben allen anderen Bevölkerungsgruppen256 auch Sklaven einen Platz zuweist, von wo aus sie am besten zum Wohlgedeihen der philosophischen Polis beitragen können, wodurch zumindest belegt wäre, dass ihr Vorhandensein dort grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist.

sich selbst befreundet und verwandt, zu dem barbarischen aber verhalte es sich wie ein ausländisches und fremdes.“ 254 Politeia 427d 1–434d 1. Eine Interpretation dieser Untersuchung findet sich in § 3, Kapitel II. ,Herrschaft und Tugend‘ der vorliegenden Arbeit. 255 Politeia 433d 1–5. Vlastos (a. a. O., S. 145) ist nach eigenen Angaben der erste, der sich auf diese Stelle stützt, um die Existenz von Sklaven in der Politeia aufzuzeigen. Levinson (a. a. O., S. 171) hat vor ihm auf diesen Abschnitt verwiesen, um, wie noch gezeigt werden wird, wenig überzeugend gegen die Sklaverei zu argumentieren. Auch Despotopoulos versucht das Vorkommen von ,doýlw‘ an dieser Stelle zu entkräften. Es ist aus seiner Darstellung nicht ersichtlich, ob er bis zum Zeitpunkt der Publikation seines Aufsatzes 1970 Kenntnis von Vlastos Erstveröffentlichung ,Does Slavery Exist in Plato’s Republic‘ in Classical Philology 63 (1968) nehmen konnte. 256 Ich schließe mich hier der Terminologie von Vlastos (a. a. O., S. 145, Fn. 17) an: „I say ,parts of the population‘, not ,parts of the polis‘. Plato is taking here the broadest possible view of the instantiation of dikaiosýnh within the confines of the utopia, including children and slaves.“

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Um dieses Argument zu entkräften, muss man Platon Fehler beim Textaufbau oder in der Argumentationsstruktur unterstellen. So hält es Levinson für möglich, dass Platon in dem betreffenden Satz kurzfristig vergessen hat, dass sich seine Ausführungen in diesem Kontext auf die ideelle Polis beziehen.257 Diese Vermutung erscheint als eine sehr gewagte Konstruktion. So beginnt der beanstandete Abschnitt mit einer ausdrücklichen Referenz an „unsere Stadt (pülin †mi=n)“, gefolgt von einer kurzen zusammenfassenden Aufzählung der drei anderen in der philosophischen Stadt vorhandenen Kardinaltugenden, bevor schließlich in dem hier untersuchten Satzabschnitt auf die Gerechtigkeit angespielt wird. In der Dichte dieser Komposition ist nicht der geringste Platz, an irgendeiner Stelle den Bezugsrahmen von der ideellen Polis auf eine real existierende griechische Polis zu verschieben, und es wäre absurd anzunehmen, dass ausgerechnet die umfassendste der vier Tugenden, die Gerechtigkeit, woanders als in der idealen Stadt beheimatet sei. Sollte Platon an dieser Stelle tatsächlich ein solch schwerwiegender Fehler unterlaufen sein, so ist es doch unwahrscheinlich, dass er dies beim Korrekturlesen nicht bemerkt hätte oder nicht zumindest von einem seiner Schüler darauf aufmerksam gemacht worden wäre.258 In diesem Sinne kann auch Calvert nicht leugnen, dass sich der ganze Abschnitt ausnahmslos auf die bestmögliche Polis bezieht.259 Gleichwohl versucht auch er, die philosophische Stadt sklavenlos zu halten, indem er Platon der Inkonsistenz seiner Ideenführung bezichtigt. Demnach hat der Philosoph bei der Aufzählung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb der ideellen Polis nicht die Implikationen bedacht, welche die Nennung von Sklaven an dieser Stelle für seine politische Theorie mit sich bringen.260 Diese Annahme stützt sich im Wesentlichen auf das hier bereits widerlegte Argument, dass die Existenz von Sklaven im platonischen Gesellschaftsentwurf einen vierten Stand und damit auch einen vierten Seelenteil erfordere. Das Vorhandensein von Sklaven in der Politeia birgt aber nicht diese Implikationen, welche somit von Platon auch nicht hätten übersehen werden können. Im Übrigen sprechen gegen eine platonische Unaufmerksamkeit in der Argumentationsstruktur die gleichen R. B. Levinson, a. a. O., S. 171. Vgl. G. Vlastos, a. a. O., S. 145: „To take Levinson’s suggestion seriously we should also have to suppose that, after suffering this lapse when writing this sentence, Plato never noticed the blunder on rereading, and that no one else ever called it to his attention, so that it was left uncorrected. I doubt if Levinson would have himself thought his suggestion worthy of serious consideration if he had thought through its implications in this way.“ 259 B. Calvert, a. a. O., S. 367: „There is no plausible way to deny that 433d is referring to the ideal society, nor is it possible to dismiss or overlook the fact that it makes specific mention of slaves.“ 260 Ebd., S. 372: „If slaves are mentioned at 433d as inhabitants of his ideal society, it is not because he has temporarily forgotten what he should have said. There is no loss of memory, but rather a lapse from the implications of the ideals which his theory demands.“ 257 258

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Gründe wie die hier genannten Einwände bezüglich einer platonischen Vergesslichkeit im Textaufbau. Die Erwähnung von Sklaven im Gesellschaftsaufbau der ideellen Polis kann also nicht übersehen oder wegdiskutiert werden, es sei denn, man stellt die Textgrundlage unserer Überlieferung schlechthin in Frage. Despotopoulos, dessen Argumentation sehr originell ist, auch wenn ich in keinem Punkte mit ihm übereinstimme, hält die hier zur Diskussion stehende Textstelle für eine fehlerhafte Transkription aus antiker Zeit. Formal spricht dafür, seines Erachtens, zum einen die rhythmische Ungenauigkeit im Text, dass dem „gemeinen Arbeiter (dhmiourgw= )“ kein entsprechendes Pendant wie den anderen Gruppen (Kinder – Weiber; Herrschenden – Beherrschten) zur Seite gestellt wird,261 woraus zum anderen inhaltlich folgt, dass der „Sklave“ hier ein Zusatz des Kopisten ist, als soziologisch-juristische Entsprechung zum „Freien (™leuqÝrw)“, anstatt der hier von Platon gemeinten moralisch-kulturellen Gegenüberstellung des wahrhaft freien Herrn seiner selbst mit dem gemeinhin freien, d. h. nicht versklavtem Arbeiter.262 Es ist zweifelsohne richtig, dass dem Begriff ™leý261 C. Despotopoulos, a. a. O., S. 33: „Au demeurant, ces mots, outre le désaccord flagrant qu’ils offrent avec le reste de l’ouvrage, introduisent aussi une anomalie sensible dans la structure interne du passage dont ils détruisent le rythme. La phrase est, en effet, constituée de notions qui sont juxtaposées par paires kaÍ ™n paidÍ kaÍ ™n gunaikÍ, kaÍ årxonti kaÍ ˜rxomÝnw; on aperçoit là une certaine cadence. Mais si l’on accepte la paire kaÍ doýlw kaÍ ™leuqÝrw, l’expression kaÍ dhmiourgw= ne trouve pas de correspondance, au détriment de l’articulation symétrique du passage et du rythme de la phrase.“ Der erste Teil des Zitats bezieht sich auf die hier bereits besprochenen vorangehenden Argumente des Autors, welche gegen ein Vorhandensein von Sklaven in der Politeia sprechen sollen. 262 C. Despotopoulos, a. a. O., S. 33–34: „Pour notre part, nous supposons qu’un très ancien copiste a dû intercaler, dans le texte qui ne les comportait pas à l’origine, les deux mots kaÍ doýlw. Par suite d’un malentendu sur le sens du mot ™leuqÝrw dans le passage 433d, cet ancien copiste aura cru que l’expression kaÍ ™leuqÝrw impliquait celle de kaÍ doýlw, omise dans le manuscrit qu’il copiait; il aura alors pensé qu’il se devait de restituer ces mots soi-disant omis par un autre copiste et il aura ainsi intercalé kaÍ doýlw dans notre passage. Le malentendu qui est à l’origine de l’interpolation nous paraît provenir de la double acception du terme ™leýqeroò. Le copiste l’aura pris dans son sens juridico-social, comme le contraire de dou= loò. Mais, dans notre passage, le mot ™leýqeroò est employé dans un sens moral et culturel, pour désigner l’homme qui ne s’occupe pas de travaux vils, tels que ceux de l’artisan, et qui est pourvu d’une culture et d’une moralité de haut rang. Il s’agit donc d’un sens du mot ™leýqeroò qui rend possible une opposition entre ™leýqeroò (homme libre) et dhmiourgüò (artisan), bien que l’artisan soit explicitement considéré comme un homme libre au point de vue juridique et social.“ Vgl. auch ebd., S. 35: „On voit donc combien est grande la susceptibilité de Platon pour dégager parmi les ,soi-disant libres‘ une petite élite minoritaire dont les membres puissent être considérés comme véritablement et authentiquement ,libres‘. C’est le sens spécifique du mot ™leýqeroò dans le langage de notre philosophe.“ Die Eleganz der Argumentation bei Despotopoulos scheint es mir zu erfordern, ihn möglichst ausführlich zu zitieren.

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qeroò bei Platon oft eine erweiterte Bedeutung von Freisein im ethischen Sinne zukommt. Insbesondere in der Entgegensetzung zum vernunftschwachen Sklaven würde sich für den Freien der bestmöglichen Polis als Herr eines oder mehrerer Sklaven ein hoher ethischer Anspruch ergeben, der nicht alleine durch eine soziale Klassenzuordnung zu begründen ist. Die soziologisch-politische Stellung der Menschen im platonischen Gesellschaftsentwurf ist immer ethisch und kulturell verwurzelt, so dass inhaltlich nichts gegen das Begriffspaar doýlw kaÍ ™leýqeroò spricht. Der daran angehängte Handwerker (dhmiourgw= )263 würde die Aufzählung dann als Vertreter des dritten Standes vervollständigen. Die Hypothese von Despotopoulos einer Verfälschung dieser Stelle im Laufe ihrer Überlieferungsgeschichte stützt sich somit letztlich nur auf eine eventuelle rhythmische Unregelmäßigkeit im Satzbau, von welcher nicht schlüssig bewiesen werden kann, dass sie nicht von Platon selbst stammt und kann daher keinesfalls als ein zureichendes Argument gegen das Vorhandensein von Sklaven in der Politeia gelten.264 Bereits in der ,einfachen Polis‘ ergab sich ihr Funktionieren aus dem hier als Gerechtigkeit definierten Prinzip, dass ein jeder das seiner Natur gemäße Seinige zur Gesellschaft beitrage. Die gereinigte Polis dann erweiterte diesen Anspruch zum großen Erziehungsprogramm, um die Fähigkeiten der Wächter bestmöglich zu fördern und schließlich erfährt die so verstandene Gerechtigkeit in der philosophischen Polis die größte Ausweitung, indem auch Kinder und Sklaven demgemäß ihren gesellschaftlichen Platz einnehmen.265 Das Spektrum des Wirkungskreises von politischer Gerechtigkeit nach platonischem Verständnis ist somit so weit wie möglich gefasst. Das Vorkommen von Sklaven in diesem Kontext impliziert nicht, dass sie ein notwendiger Bestandteil der bestmöglichen Polis sind, konstituiert aber die Bedingung der Möglichkeit ihres Vorhandenseins und unterwirft sie in diesem Falle dem gleichen maßgebenden Prinzip, wie alle anderen Menschen, welche die Polis bevölkern. Der Sklave der Politeia wäre Eigentum des Wächterstandes oder in öffentlichem Besitz unter dem Befehl der Herrscher. Platon erhebt an keiner 263 Die Übersetzung Schleiermachers ,gemeiner Arbeiter‘ ist unzutreffend und irreführend. 264 Die Beantwortung der Frage, ob der Text an dieser Stelle im Sinne von Despotopoulos umgeschrieben werden muss, wäre die Aufgabe weiterer und tieferer altphilologischer Forschung. Meines Wissens hat allerdings kein Fachmann in den letzten dreißig Jahren hierfür eine Notwendigkeit gesehen. 265 G. Vlastos, ,Justice and Happiness‘, in: Platonic Studies, Princeton 1981, S. 118, Fn. 25, sieht in der Genese der Gesellschaftsformen, wie sie aus der einfachen Polis (369b–372c) hervorgehen, die zunehmende Verallgemeinerung dieses Gerechtigkeitsprinzips: „The first generalization is at 374b ff.: the principle is invoked to justify a professional soldiery at this point; a subclass of these ,guardians‘ is then selected (412c ff.) for the still higher task of government. In a broader sense the principle is expected to hold even of the activities of children and slaves (433d).“

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Stelle prinzipiell Einwände gegen die Existenz von Sklaven in seinem Gesellschaftsentwurf, solange ihre Präsenz in der Stadt nicht zu größeren materiellen Differenzen zwischen den Bürgern führt, welche die Gerechtigkeit und Besonnenheit der Stände unter- und zueinander beeinflussen könnten. Gleichwohl ist die Ökonomie der Politeia nicht auf Sklavenarbeit gegründet und ihr Vorhandensein lediglich optional, falls es aus nicht näher spezifizierten Gründen für das Wohlgedeihen der Stadt erforderlich sein sollte.266 Der Sklave ist für Platon zwar ein gesellschaftliches Faktum, aber kein unabdingbarer Teil eines gesellschaftlichen Gefüges. Die Möglichkeit, bei eventuellem Bedarf auf Sklavenarbeit zurückzugreifen, ist in der Politeia aller Wahrscheinlichkeit nach gegeben, selbst wenn sich 433d als philologisch nicht haltbar erwiese, dennoch wäre der platonische Gesellschaftsentwurf genau so gültig und funktionsfähig in einer Welt, die nie Sklaverei gekannt hätte. 3. Zusammenfassung Die Genese menschlicher Gesellschaftsformen findet sich bei Platon sowohl als mythische Erzählung, wie auch in einer analytisch-organischen Herleitung ihrer verschiedenen Entwicklungsstadien. In beiden Fällen kontrastiert er eine einfache, selbstgenügsame Gemeinschaft mit den positiven wie negativen Errungenschaften komplexer politischer Systeme. Aus der ursprünglichen unreflektierten Einheit des Menschengeschlechtes mit den kosmischen Gesetzen und der daraus resultierenden Ungeschiedenheit mit dem Tierreich, wie sie das Goldene Zeitalter des Hesiod oder der erste göttliche Weltenumlauf des Politikosmythos geradezu paläontologisch darstellen, ergibt sich für das nun erwachte menschliche Bewusstsein die Aufgabe, sich selbst innerhalb der kosmischen Ordnung zu positionieren. Die hierfür notwendigen Fähigkeiten erhalten die Menschen in der Erzählung des Protagoras durch Göttergeschenke oder, in der Version des Politikos, durch eine anamnetische Wiederaneignung verborgenen Wissens, welche als „politische Kunst“, d. h. als Sittlichkeit und Rechtsgefühl beschrieben werden. Diese spricht Platon auch Sklaven nicht grundsätzlich ab, woraus sich eine generelle Verwandtschaft der Menschen untereinander als auch zu den Göttern, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, ergibt. Den Menschen, da er sich als Individuum nicht selbst genügt, sieht Platon als ein Mängelwesen, das seine Defizite durch die Errichtung von Ordnungssyste266 In diesem Punkte kann ich Calvert (a. a. O., S. 372) zustimmen, wenn er als letztmöglichen Beweis für die Nichtexistenz von Sklaven in der Politeia, anführt, dass sie nicht notwendig sind: „But suppose we exclude them – is anything lost? Would the state cease to function, or function only at the cost of considerable inconvenience to its citizens? Not as far as I can see. Unlike the actual Athenian society of his day which did rely on slave labour, there is no position for slaves to fill in the ideal society of the Republic, no vital role for them to perform.“

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men in Gemeinschaften kompensiert. Hierin liegt der anthropologische Nachweis der Notwendigkeit politischer Strukturen in menschlichen Gesellschaften. Diese können sich auf verschiedenen Komplexitätsebenen entfalten. Die ,einfache Polis‘, auf welcher die Gesellschaftsgenese in der Politeia aufbaut, erfüllt bereits die Grundforderung des platonischen Gerechtigkeitsbegriffes, wonach jedes Mitglied der Gesellschaft nur das seiner Natur gemäße Seinige zu vollbringen hat, beschränkt dabei aber die menschlichen Bedürfnisse auf das Wesentliche und Allernotwendigste und die politische Struktur auf einen gegenseitigen Austausch von Diensten. Für Sklaven ist in einer solchen Polis kein Platz, da ihre Aufgaben von entlohnten und gleichberechtigten Tagelöhnern übernommen werden. Dieses einfache System in seiner konstanten Übersichtlichkeit basiert auf einfachen, selbstgenügsamen Menschen, denen Platon alle Tugenden bis auf die Weisheit des logistikÎn zugesteht. Die mangelnde Entwicklung des vernünftigen Seelenteils ist, nach Platon, das Hauptmerkmal der sklavischen Seele, welchem aber hier an dieser Stelle unter Gleichen keine weitere Bedeutung zukommt. Erst ein höherer Komplexitätsgrad einer Gesellschaft, bedingt durch eine größere seelische Verschiedenheit ihrer Mitglieder und einer daraus folgenden weiteren Streuung ihrer über das Lebensnotwendige hinausgehenden Bedürfnisse, erfordert und rechtfertigt demnach das Aufkommen von Sklaven. Deren Nichtvorhandensein entspricht dem Fehlen einer elaborierten politischen Ordnung mit all ihren kulturellen wie zivilisatorischen Errungenschaften, zu denen auch die Philosophie gehört. Platon übersieht hierbei freilich nicht die Ambivalenz des logistikÎn und greift in den späten Nomoi auf das Paradigma eines Idealbildes vom Goldenen Zeitalter mit politischen Institutionen zurück, wohlwissend, dass er damit die Quadratur des Kreises bezeichnet. Es bleibt die Möglichkeit einer Annäherung an dieses Bild, welches durch eine entsprechende Gesetzgebung, bspw. zur Verhinderung größerer materieller Unterschiede zwischen den Polisbewohnern, befördert werden soll. Gleichwohl ist es gerade die vielschichtige politische Verfasstheit einer Gesellschaft mit ihren Gesetzen und sozialen Zuordnungen, wodurch der Sklave Einzug in die menschliche Gemeinschaft hält, aber somit auch an ihr und idealerweise auch an den in ihr waltenden theokosmologischen Prinzipien teilhat. Diese implizite Herleitung der Sklaverei aus dem Entstehen der Zivilisation durch Platon beantwortet a priori bereits die vieldiskutierte Frage nach dem Vorhandensein von Sklaven in der Politeia und erklärt auch, warum diesem Thema dort nicht mehr Platz eingeräumt wurde. Aus zwei Belegstellen geht zudem, trotz philologischer Umstrittenheit, eindeutig hervor, dass Sklaven ein Faktum des platonischen Gesellschaftsentwurfs, wenn auch keine unabdingbare Notwendigkeit desselben sind.

III. Politische Versklavung

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III. Politische Versklavung 1. Freiheit und Versklavung als politische Formen in Athen, Persien, Sparta und Kreta Das Maß an Freiheit und Knechtschaft in einer Gesellschaft bestimmt ihre politische Realität. Platon macht dies am Beispiel von Athen und Persien deutlich, deren Verfassungen er als zwei gegensätzliche, reine Herrschaftsformen begreift, nämlich Demokratie und Monarchie, aus welchen sich alle weiteren Gesellschaftstypen als Mischverfassungen ableiten lassen.267 Der Aufstieg zur Großmacht wurzelte bei beiden Völkern jedoch ursprünglich in einem maßvollen Verhältnis von monarchisch-autoritärer Führung und demokratisch-freiheitlicher Selbstbestimmung. Zur Zeit des Kyros, dem Gründer des Großreiches, gab es in Persien eine ausgewogene Mitte zwischen Freiheit und Sklaverei, wodurch zuerst das Volk selbst befreit und es in der Folge dazu ermächtigt wurde, über andere Länder zu herrschen und auch diese an der Freiheit teilhaben zu lassen.268 Diese von Platon etwas geschönte Sicht der persischen Eroberungsfeldzüge trifft dennoch im Wesentlichen den Charakter der Expansionspolitik unter Kyros in den Jahren 559 bis 529 vor unserer Zeitrechnung. Die Perser waren anfänglich ein primitives Volk mit nomadischen Zügen, die, aufgrund ihrer überlegenen, auf Bogenschützen basierenden Kampfweise, sukzessive bis zu den Hochkulturen in Ionien und Lydien vordrangen, diese unterwarfen und deren kulturellen Errungenschaften für sich übernahmen. In Ermangelung einer eigenständigen Kultur war ihnen daran gelegen, die Verwaltungspraxis in den eroberten Gebieten unangetastet zu lassen und einheimische Herrscher unter ihrem Oberbefehl einzusetzen. Auch die an sich monotheistische Religion der Perser erwies sich der polytheistischen Götterwelt Kleinasiens gegenüber als erstaunlich tolerant; und eingedenk der Tatsache, dass durch die persischen Siege einige Tyrannen zu Fall kamen und sich aufgrund der Einheit des entstehenden Großreiches neue Handelswege für die geschäftstüchtigen Ionier auftaten, ist es nicht weiter verwunderlich, dass unter der Monarchie des Kyros ein erster Hauch von Freiheit gen Griechenland wehte: „Denn da die Herrscher den Beherrschten an der Freiheit Anteil gaben und sie zur Gleichheit hinführten, waren die Krieger mit ihren Befehlshabern enger befreundet und zeigten sich kampfesmutiger in den Gefahren; und wenn es andererseits unter ihnen einen verständigen Mann gab, der Rat zu erteilen fähig war, so konnte er, da der König nicht eifersüchtig war, sondern Redefreiheit gewährte und diejenigen ehrte, die über etwas Rat zu erteilen wussten, die Fähigkeit seines Denkens der Allgemeinheit zugute kommen lassen, und so gedieh alles bei ihnen durch Freiheit, Freundschaft und Gemeinsamkeit der Vernunft.“269 267 268 269

Nomoi 693d 2–e3. Nomoi 693e 4–694a 7. Nomoi 694a 6–b 7.

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Nach dem Tod des Kyros riss sein Sohn Kambyses die Herrschaft an sich, indem er seinen Bruder tötete „aus Verärgerung darüber, dass dieser ihm gleichgestellt war.“270 Zwar gelang es ihm in seiner siebenjährigen Amtszeit, Ägypten zu erobern und bis nach Nubien und Libyen vorzudringen, doch verfiel im persischen Reich selbst derweil seine Macht und Autorität, wodurch er in „Trunksucht und Verrücktheit“ getrieben wurde. Der Grund für dieses gescheiterte Herrschaftsintermezzo liegt, nach Platon, in Kambyses’ verweichlichender Erziehung ohne Zucht am Hofe nur durch Frauen und Eunuchen in Abwesenheit des Feldzüge führenden Vaters.271 Unter seinem Nachfolger Dareios, einem Schwiegersohn des Kyros, der ebenfalls wie dieser nach alter persischer Weise und nicht nach Königssohnmanier erzogen wurde, konnte die Politik des ,divide et impera‘ fortgesetzt werden, „indem er eine Art allgemeine Gleichheit (œsüthta) einführte, und den Tribut, den Kyros den Persern versprochen hatte, nahm er in sein Gesetzeswerk auf, wodurch er Freundschaft und Verbundenheit unter allen Persern hervorrief und mit Geldspenden und Geschenken das Volk der Perser für sich gewann. Darum erwarben ihm seine Heere mit treuer Ergebenheit nicht weniger Länder hinzu, als ihm Kyros hinterlassen hatte.“272

Die Herrschaft des Dareios währte denn auch 35 Jahre bis 486, als er nach der misslungenen Strafexpedition gegen die Griechen bei Marathon, welche eine Reaktion auf deren Unterstützung der ionischen Aufstände war, mit der Planung eines großen Feldzuges gegen Griechenland begann. Diesen auszuführen blieb dann seinem Sohne Xerxes überlassen, der aber ebenso wie Kambyses am Hofe erzogen worden war und somit weder das diplomatische Geschick, noch die charakterliche Stärke seines Vaters ins Herrscheramt mitbrachte.273 Ein Beispiel hierfür war sein Versuch, die Religionsfreiheit in den unterworfenen Gebieten rigide zu beschränken, was zumindest in Ägypten und Babylon zu größeren Aufständen führte, die den König innenpolitisch schwächten und ihn zu einer strengeren Politik im Sinne von immer weitergehenden Freiheitsbeschränkungen veranlasste.274

Nomoi 695b 5. Nomoi 694d 1–695b 9. 272 Nomoi 695c 9–d 8. 273 Nomoi 695d 8–696 a 4. 274 Eine Inschrift aus Persepolis belegt eindrucksvoll den restriktiven Umgang des Xerxes mit der Religion. Sie findet sich bei E. Herzfeld, Altpersische Inschriften, Berlin 1938, S. 34–35. Auszugsweise ist diese auch abgedruckt in O. Murray, Das frühe Griechenland, München 1995, S. 356. Als weiterführende Literatur zur Geschichte der Perser und ihr Verhältnis zu den Griechen sei auf folgende Werke verwiesen: J. M. Cook, The Greeks in Ionia and the East, London 1962; R. N. Frye, The History of Ancient Iran, München 1984 und A. R. Burn, Persia and the Greeks, London 1962. 270 271

III. Politische Versklavung

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Bereits die ionischen Aufstände unter Dareios lassen aber vermuten, dass diese Entwicklung zumindest schon in der Spätphase seiner Regentschaft einsetzte. Zusammenfassend schreibt Platon denn auch von den persischen Königen im Allgemeinen, „dass sie dem Volk die Freiheit (™leýqeron) zu sehr entzogen und die Herrscherwillkür über Gebühr steigerten und dadurch das Gefühl der Freundschaft und Gemeinschaft im Staat beseitigten. Ist dies aber geschwunden, dann fasst einerseits der Rat der Herrschenden seine Beschlüsse nicht zum Wohle der Beherrschten und des Volkes, sondern der eigenen Herrschaft zuliebe; wenn sie auch nur einen kleinen Vorteil jeweils daraus zu gewinnen hoffen, vernichten sie Städte, vernichten sie befreundete Völker mit Feuer, und so hassen sie und werden gehasst mit feindseligem und unerbittlichem Hass; wenn sie andererseits in die Notlage kommen, dass die Völker für sie kämpfen müssen, dann finden sie keinen Gemeinsinn bei ihnen, der mit der Bereitschaft gepaart wäre, sich willig in Gefahren und Kämpfe zu wagen; sondern obwohl sie unzählige Tausende von Leuten besitzen, sind doch diese alle zum Krieg unbrauchbar, und als ob es ihnen an Menschen fehlte, mieten sie sich Leute und hoffen von Söldnern und ausländischen Menschen gerettet zu werden.“275

Sowohl der persischen Bevölkerung, wie auch den unterworfenen Völkern wurden somit schrittweise und massiv die Freiheitsrechte entzogen. Die reine und ursprünglich ausgewogene Gesellschaftsform der Monarchie führte zu einer Maßlosigkeit der Knechtschaft, so dass Persien viele Völker unterwarf und in Knechtschaft hielt,276 dabei die Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft aber immer größer wurde und Zwietracht zwischen den wenigen Freien und den vielen Sklaven entstand, bis diese nichts gemeinschaftlich mehr ausrichten konnten und das Reich so wieder an Macht verlor.277 Grundlage des persischen Aufstiegs war somit nicht die willkürliche Versklavung möglichst vieler Menschen, sondern ihre gemäßigte Beherrschung unter Wahrung zumindest elementarer Freiheitsrechte. Der persische König verliert in dem Maße an Macht und Einfluss, in welchem er seine Untertanen sukzessive zu Sklaven degradiert.

Nomoi 697c 7–e 4. Vgl. auch die Darstellung dieser Entwicklung im Dialog Menexenos 239d 1– 240e 6. 277 Eine Analyse der Ungerechtigkeit als Grundlage jeglicher Entzweiung und die daraus folgende Ableitung eines Mindestmaßes an Gerechtigkeit als Voraussetzung gemeinschaftlichen Handelns findet sich im ersten Buch der Politeia (350c 12–352b 5): „Glaubst du, dass, wenn eine Stadt oder ein Heer oder auch Räuber und Diebe oder irgend anderes Volk gemeinschaftlich etwas ungerechterweise angreift, solche irgend etwas werden ausrichten können, wenn sie sich auch untereinander unrecht tun? – Wohl gewiss nicht [. . .]. – Wenn nun dies das Werk der Ungerechtigkeit ist, Hass hervorzubringen, wo sie ist, wird sie nicht auch, wenn sie sich unter Freie und Knechte (™leuqÝroiò te kaÍ doýloiò) mischt, machen, dass diese einander hassen und sich entzweien und unvermögend sind, gemeinschaftlich miteinander etwas auszurichten? – Freilich.“ (Politeia 351c 7–e 3). 275 276

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Athen befand sich zu jener Zeit im Umbruch. Zum einen galt seit einhundert Jahren das solonische Gesetzeswerk mitsamt seiner bürgerlichen Verfassung, welche die Macht des Adels einschränkte und statt dessen auf vier Stände, gestaffelt nach Vermögensklassen, verteilte, zum anderen bewirkten die 509 bis 507 vor unserer Zeitrechnung vorgenommenen Reformen des Kleisthenes eine Stärkung der individuellen Rechte des Bürgers durch die Profilierung des Gleichheitsaspektes in der Gemeinschaft und einer diesbezüglich gleichmäßigen Verteilung von Bürgerrechten und Pflichten in der Gesetzgebung im Sinne einer Isonomie.278 Die kleisthenischen Reformen dürften einen starken psychologischen Einfluss auf das wachsende Selbstbewusstsein der athenischen Bürgerschaft und ihr Zusammenhalten gegen die persische Bedrohung gehabt haben, auch wenn Platon selbst sie in diesem Kontext mit keinem Wort erwähnt279, und hierfür insbesondere noch das Wirken der solonischen Gesetze verantwortlich macht. So sagt der Athener in den Nomoi: „Denn wir hatten zu jener Zeit, als der Angriff der Perser auf die Hellenen und vielleicht auf fast alle Bewohner Europas erfolgte, noch eine aus alter Zeit stammende Verfassung, und Obrigkeiten aufgrund von vier Vermögensklassen, und in uns wohnte als Gebieterin eine gewisse Ehrfurcht (aœdþò), durch die wir bereit waren, in Gehorsam (douleýonteò) gegen die damals bestehenden Gesetze zu leben. Zudem bewirkte die Größe des Heereszuges zu Lande und zu Wasser, indem sie uns eine ausweglose Furcht einjagte, dass wir in noch größerer Unterwürfigkeit (douleßan) den Obrigkeiten und den Gesetzen gehorchten, und aus all diesen Gründen erfasste uns ein starkes Gefühl gegenseitiger Freundschaft.“280

Dass dieser Zusammenhalt der Athener im Angesicht einer vermeintlich vernichtenden Bedrohung durch das Selbstgefühl der Bürger, Gleicher unter Gleichen zu sein, motiviert wurde, kann man höchstens zwischen den Zeilen heraus278 Der Begriff ,œsonomßa‘ (gleiche Ordnung) wurde ursprünglich für den erst später aufgekommenen, provozierenderen Terminus ,dhmokratßa‘ (Herrschaft des Volkes) verwendet. Gleichzeitig sollte damit eine Abgrenzung vom älteren Ideal der ,ežnomßa‘ vollzogen werden, welches einen hierarchischeren Gesellschaftsaufbau impliziert, wie er in der solonischen, aber auch spartanischen Verfassung gegeben war. Zum Verhältnis der Reformen Solons und Kleisthenes siehe auch O. Murray, Das frühe Griechenland, München 1995, 331–355; insbesondere S. 344: „Solons Reformen waren mit der Schaffung eines Gesetzeswerks und der angemessenen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft befasst gewesen. Die Grundlage der kleisthenischen Reformen war hingegen das Konzept des Bürgerrechts. Zuvor hatte man es nicht für nötig erachtet, die Mitglieder der Polis und ihre Rechte zu definieren; jetzt aber war jeder Mann in Athen sich seiner Position als Mitglied der Polis bewusst, war Polites.“ 279 Hierin folgt Platon freilich den Wirrungen der Überlieferung. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen verschwindet Kleisthenes nach seinen Reformen völlig aus der geschichtlichen Betrachtung und sein Geschlecht, die Alkmeoniden, galt in der Zeit um 490 als verachtet. Statt dessen bestand die offizielle Version der Befreiung Athens von der Tyrannis in der Geschichte des Tyrannenmordes durch Harmodios und Aristogeiton im Jahre 514. Bereits Thukydides allerdings entlarvte diese Darstellung als Missverständnis (Der peloponnesische Krieg VI, 54–59). 280 Nomoi 698b 2–c 3.

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lesen, statt dessen dominieren die Begriffe der Versklavung (douleßa) unter die alten Gesetze, d. h. ein damals verbreitetes Sittlichkeitsgefühl (aœdwò), den Gesetzen ehrfürchtig Gehorsam zu leisten. Zugespitzt formuliert heißt es etwas später im Text noch einmal: „Unser Volk, [. . .], war zur Zeit der alten Gesetze über nichts Herr, sondern war gewissermaßen freiwillig Sklave der Gesetze (™doýleuò toi=ò nümoiò).“281

Wichtig ist jedoch die Betonung der Freiwilligkeit des Sklaveseins durch die sittliche Einsicht, dass diesen Gesetzen Ehrfurcht zukommt und nur ein gemeinsames Befolgen dieser die notwendige Stärke und Einheit verleiht, der fürchterlichen Gefahr ins Auge zu blicken. In aller Freiheit unterwarfen sich die Athener den Notwendigkeiten, verbündeten sich mit den Spartanern und konnten so die persische Bedrohung mit einem Sieg ihrer vereinten Flotten abwehren.282 Zu dieser Zeit hatten die Athener die rechte Balance zwischen Freiheit und Knechtschaft gefunden, d. h. zwischen dem Recht des Einzelnen in der Gemeinschaft und dessen völligem Gehorsam gegenüber den Gesetzen. In der darauf folgenden Periode entstand, nach Platon, eine zu große Freiheit, die ausgelöst wurde durch eine Vermischung der Gattungen in Dichtung und Musik, welche sich auf das politische Leben übertrug. Während nämlich in alter Zeit die Form streng an den Inhalt gekoppelt war, begann man danach, unabhängig vom höheren Sinn von Musik und Dichtung, jedes mit jedem zu vermischen, je nach Lust und Laune und unter besonderer Berücksichtigung, dem Publikum zu gefallen. Entsprechend dazu brachten die Menschen ihre Zustimmung bzw. Abneigung dem Vortrag gegenüber unmittelbar und spontan zum Ausdruck, wohingegen in älterer Zeit die Sitte es noch erforderte, der Darbietung stillschweigend und ohne sichtliche Reaktion zu folgen.

281 Nomoi 700a 3–5. Vgl. auch Nomoi 699c 1–9: „Das alles nun erzeugte in ihnen gegenseitige Freundschaft, nämlich die Furcht, die damals herrschte, sowie auch die aus den früheren Gesetzen hervorgegangene, die sie sich durch ihre Unterwerfung (douleýonteò) unter die früheren Gesetze erworben hatten, die wir oben in unserm Gespräch mehrmals als Scham (aœdw= ) bezeichnet haben, von der wir auch behauptet haben, ihr müssten sich diejenigen unterwerfen (douleýein), die tüchtige Männer werden wollten, während der Feige davon frei und furchtlos sei.“ Zum Begriff des ,aœdwò‘ vgl. die Interpretation des Prometheusmythos bei Hesiod und im platonischen Protagoras-Dialog in § 3, Kapitel II.1. der vorliegenden Arbeit. 282 Nomoi 692d 1–693a 7: „Wenn nicht der gemeinsame Entschluss der Athener und der Lakedaimonier die heranziehende Knechtschaft (douleßan) abgewehrt hätte, so wären bereits fast alle hellenischen Stämme untereinander und barbarische unter die Hellenen und hellenische unter die Barbaren gemischt, so wie diejenigen, über welche die Perser mit Gewalt herrschen, heute auseinandergerissen und durcheinandergeworfen in jämmerlicher Zerstreuung leben.“ Die Athener hatten also nur die Wahl, sich ihren eigenen Gesetzen ohne Wenn und Aber zu unterwerfen (wie es die Spartaner mit den ihrigen immer schon taten) oder in persische Sklaverei und Unterdrückung zu geraten.

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„Infolgedessen wurden aus stummen Theatern lärmende, als verständen sie, was in der Musenkunst schön sei und was nicht, und statt einer Herrschaft der Besten (˜ristokratßaò) entstand in ihr eine üble Herrschaft des Publikums (qeatrokratßa).“283

Diese Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten an sich wäre noch nicht weiter problematisch, jedoch künden ästhetische Umbrüche auch von einem veränderten gesellschaftlichen Selbstverständnis, welches sich für Platon hierin als ,Gesetzesverachtung‘ zeigt: „So aber nahm von der Musik aus die Einbildung, alle verständen alles, und die Gesetzesverachtung ihren Anfang, und in ihrem Gefolge stellte sich die Freiheit ein. Sie wurden nämlich furchtlos, da sie ja Kenner seien; die Furchtlosigkeit aber erzeugte Unverschämtheit; denn die Meinung des Besseren aus Dreistigkeit nicht zu fürchten, eben darin besteht gerade die arge Unverschämtheit, als Folge einer Freiheit also, die sich allzuviel herausgenommen hat.“284

Niemand wollte sich mehr den Gesetzen, sei es denen der Polis oder denen der Musik, unterwerfen, was zu Unordnung und Niedergang führte und mit der absoluten Kapitulation im peloponnesischen Krieg endete. Platons Kritik an der ausentwickelten Athener Demokratie könnte nicht grundlegender sein. Das übermäßige Vorhandensein von Freiheit in einer Gesellschaft führt demnach zu einer falschen Anwendung des Gleichheitsprinzips und zur Missachtung der Gesetze, wodurch politische Vernunft, Weisheit und Mäßigung aus der Gemeinschaft strukturell ausgeschlossen sind. In zugespitzter Form findet sich eine Beschreibung einer solch freiheitlichen und egalitären Gesellschaft in der Darstellung der Verfallsreihe von Gesellschaftsformen im achten Buch der Politeia. Im letzten Stadium der Demokratie sind Freiheit und Gleichheit völlig sinnentleerte Prinzipien, die sich aber geradezu tyrannisch auf alle Gesellschaftsbereiche erstrecken. Wer hier noch den Obrigkeiten gehorcht, wird misshandelt, denn er ist „knechtisch gesinnt (™qelodoýloò)“ und nur „Obrigkeiten, welche sich wie Untergebene, und Untergebene, welche sich wie Obrigkeiten anstellen, werden [. . .] öffentlich gelobt und geehrt.“285 Ähnlich fürchtet in den Familien der Vater die älteren Söhne und der Lehrer tritt zitternd vor seine Zuhörer und schmeichelt ihnen, Nomoi 700e 10–701a 3. Nomoi 701a 6–b 3. Platon liefert hier im Spätwerk gleichsam noch einmal eine Begründung für die rigide Gesetzgebung bezüglich der Musik, wie er sie im dritten Buch der Politeia (398c 1–403c 8) ausführte. Bereits zuvor im Gesetzestext nimmt Platon eine scharfe Abgrenzung zwischen spezifischen Melodien und Rhythmen für Freie und solchen für Sklaven (doýlwn) vor (Nomoi 669c 3–d 2). Dass diese Unterschiede bei der oben beschriebenen ,Gesetzesverachtung‘ zumindest allmählich aufgehoben werden würden ist evident und wäre gemäß Platon sowohl Mitursache als auch Ausdruck einer zunehmenden Versklavung der Seelen bislang mehr oder weniger freier Menschen. 285 Politeia 562d 7–11. 283 284

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„die Zuhörer aber machen sich nichts aus den Lehrern und so auch aus den Aufsehern. Und überhaupt stellen sich die Jüngeren den Älteren gleich und treten mit ihnen in die Schranken in Worten und Taten; die Alten aber setzen sich unter die Jugend und suchen es ihr gleich zu tun an Fülle des Witzes und lustiger Einfälle, damit es nämlich nicht das Ansehen gewinne, als seien sie mürrisch oder herrschsüchtig (despotikoß).“286

Alle Unterschiede zwischen Menschen, auch wenn sie durch Wissen, Alter oder gesellschaftliche Funktion begründet sind, werden durch die Verabsolutierung eines egalitären Freiheitsanspruches aufgehoben. Dies kulminiert für Platon darin, „wenn die gekauften Männer und Frauen (oi ™wnhmÝnoi kaÍ a ™wnhmÝnai) nicht minder frei sind als ihre Käufer“287, womit aber nicht eine mögliche Abschaffung der Sklaverei kritisch betrachtet wird, sondern die allgemeine psychologische Versklavung durch einen zwanghaften Umgang mit dem Gleichheitsprinzip beschrieben wird, was durch die anschließende polemische Wendung über die Freiheit von Haustieren in Demokratien pointiert wird: „Wieviel freier die dem Menschen unterworfenen Tiere hier sind als anderwärts, das glaubt niemand, der es nicht erfahren hat. Denn die Hunde sind schon buchstäblich nach dem Sprichwort wie junge Fräulein; und Pferde und Esel sind gewöhnt, ganz frei und vornehm immer geradeaus zu gehen, wenn sie einem auf der Straße begegnen, der ihnen nicht aus dem Wege geht, und ebenso ist alles andere voll Freiheit.“288

Die allumgreifende Verwirklichung des Freiheitsprinzipes unter Missachtung aller Unterschiede zwischen Menschen bis hin zur Gleichstellung von Mensch und Tier führt in einem politischen Gemeinwesen zur Anarchie und mündet in die Tyrannei, wohingegen die Darstellung solcher Verhältnisse in einer vorpolitischen Naturgesellschaft an die Beschreibung des Goldenen Zeitalters erinnert, welches für Platon die Aufhebung aller kulturellen Errungenschaften impliziert als eines infiniten Regresses im historischen Prozess der Menschwerdung.289 Die äußere Freiheit kann demnach nicht in einer Einebnung sämtlicher sozialen Hierarchien bestehen, da auch die innere Freiheit, wie bereits beschrieben, von der hierarchischen Struktur der Seelenordnung abhängt. Die Seelen der demokratischen Menschen beschreibt Platon denn auch als „verzärtelt“ und Politeia 562e 8–563b 2. Politeia 563b 3–6. Der Terminus ,™wnhmÝnoi‘ für Sklaven wird m. E. von Platon nur an dieser Stelle verwendet und soll wohl den Sklaven als Funktionsträger betonen, im Gegensatz zu den sonst gerne als Metapher im psycho- oder soziologischen Sinne benützten Begriffen aus dem Wortumfeld ,doýloò‘. 288 Politeia 563c 3–d 1. Vgl. auch 562e 4–6. Ein altgriechisches Sprichwort hieß ungefähr ,Wie die Herrin, so der Hund‘, womit auf das Verhalten der Dienerschaft angespielt wurde. 289 Die Übergänge zwischen politischen Systemen werden im folgenden Kapitel über die Verfallsreihe der Herrschaftsformen dargestellt. Zur Problematik des Goldenen Zeitalters vgl. im vorangehenden Kapitel II. den Punkt 1 ,Die sklavenlose Periode im Goldenen Zeitalter des Politikos Mythos‘. 286 287

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„wenn ihnen einer auch noch so wenig Zwang (douleßaò) auflegen will, sie gleich unwillig werden und es gar nicht vertragen. Und zuletzt weißt du ja, dass sie sich um die Gesetze gar nichts kümmern, mögen es nun geschriebene sein oder ungeschriebene, damit auf keine Weise irgend jemand ihr Herr (despüthò) sei.“290

Der Zwang oder, besser übersetzt, die Unterordnung (douleßaò) begegnet uns hier wieder in dem für Platon typischen Sinne als konstitutiv-konstruktives Element sowohl einer politischen, als auch der seelischen Ordnung, wenn sich diese im Einklang mit den weltlichen Ableitungen der kosmischen Gesetze befindet. Bei den Athenern der demokratischen Zeit lösen sich diese Gesetze in der missbräuchlichen Ausbreitung des Freiheitsgedankens auf, wohingegen sie bei den Persern durch die tyrannische Gleichsetzung von Herrschaft und Willkür aufgehoben sind. Athenern und Persern ist, so gesehen, das Gleiche widerfahren: Beide haben zwei reine Gesellschaftsformen, hier die despotische Monarchie, dort die anarchische Demokratie bis zur Maßlosigkeit ausagiert. Ein gutes Gedeihen der Polis bzw. des Reiches gab es in ihrer Geschichte jedoch nur, wenn eine gewisse Mischform zwischen Freiheit und Knechtschaft in der Gesellschaft verankert war. Als Beispiele für Mischverfassungen, die er auch als „wirkliche Verfassungen“ bezeichnet,291 nennt Platon Sparta und Kreta. Platons letzter Dialog, die Nomoi, geschrieben knapp 50 Jahre nach Ende des peloponnesischen Krieges, dem ersten wirklichen Tiefpunkt in der Geschichte Athens und gefolgt von einem kontinuierlichen Verfall der politischen Kultur und Macht der Stadt, spielt dann auch nicht wie gewohnt in Athen, sondern auf Kreta, einst Zentrum der sagenumwobenen minoischen Kultur. Die drei Gesprächsteilnehmer, Kleinias, der Kreter, Megillos, der Lakedaimonier, also Spartaner und der namenlose Athener, wohlmöglich Platon selbst, stehen hierbei für die historische Struktur der politischen Geschichte Griechenlands unter besonderer Betonung ihrer positiven Aspekte.292 Auch wenn aus der minoischen Zeit keine Gesetzestexte überliefert bzw. falls vorhanden, noch nicht entschlüsselt sind, verweisen doch die umfangreichen Inschriften des fünften und vierten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung aus der Politeia 563d 5–e 1. Nomoi 712e 12–13. 292 Vgl. E. Voegelin, Order and History, Volume Two: The World of the Polis, Baton Rouge 1957, S. 43–44: „The choice of the interlocutors expressed the historical structure of Greek political culture. The nameless Athenian, Plato himself speaking, personified the youngest area of Greece that had grown into its intellectual and spiritual center; the Spartan stood for the political virtues and military strength of the older Doric institutions; and the Cretan represented the Minoan period. The Hellenic renaissance since Homer, the savage, primitive, disciplined warrior communities of the Doric centuries, and the mythical golden splendor of the Minoan sea empire gained life in the three venerable elders who discussed the foundation of a rejuvenated, healthy polis on the island that once had been the center of political power.“ 290 291

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kretischen Stadt Gortyn auf eine alte und hoch entwickelte Kultur der Gesetzgebung. Jedenfalls hatten die kretischen Gesetze bereits in klassischer Zeit eine hohe Reputation in ganz Griechenland und ihnen wurde ein Einfluss sowohl auf die Verfassung des sagenhaften spartanischen Königs Lykourgos als auch auf die Gesetze Solons zugeschrieben.293 Platons Lob auf die kretische Gesetzgebung findet sich bereits in Buch I der Nomoi und kann durchaus als Skizze der im Folgenden noch zu entwerfenden Verfassung gelesen werden: „Die Gesetze der Kreter stehen nicht umsonst unter allen Hellenen in besonderem Ansehen; denn sie sind richtig, da sie diejenigen, die sie anwenden, glücklich machen. Verschaffen sie ihnen doch alle Güter. Die Güter aber sind doppelter Art, die einen menschlich, die andern göttlich; von den göttlichen aber sind die andern abhängig, und wenn ein Staat die größeren bei sich aufnimmt, so erwirbt er auch die kleineren; wo nicht, so büßt er beide ein.“294

Die Freiheit des Individuums zeigt sich hierbei als das kleinere, menschliche Gut, welches sich den göttlichen Gütern unterordnet und dadurch erst zu seiner eigentlichen Realisierung gelangt. Deutlich wird dies in Anbetracht der Tatsache, dass Kreta und Sparta in ihrer langen Geschichte zu den wenigen griechischen Poleis gehörten, die niemals eine Tyrannei gekannt haben.295 Im Gegensatz zu Athen und Persien konnten Kreta und Sparta stets die Mitte zwischen unterdrückender Despotie und ungezügelter Freiheit halten, was für Platon konstitutiv mit dem Charakter ihrer gemischten Verfassungen verbunden ist.296 Das ungeteilte Lob für die kretischen Gesetze bezieht somit größtenteils auch die spartanischen Institutionen ein, allerdings kritisiert Platon hier heftig, dass das Ziel der Gesetzgebung und Erziehung Spartas sich ausschließlich auf den Sieg im Krieg richtet, somit ganz dem qumoeidÝò gewidmet ist unter Vernachlässigung des logistikün, d. h. die Polis entbehrt bei ihren Entscheidungen jeglicher Vernunft.297 Historisch zeigt sich dies beispielsweise in den verbissenen und verlustreichen Kämpfen der Spartaner gegen die von ihnen versklavten Messenier und auch in dem offensichtlichen Fehlen von kulturellen Errungenschaften und Zeugnissen, die über das Kriegswesen hinausgehen. Hinsichtlich des gesellschaftlichen Aufbaus zeichnet sich sowohl die spartanische als auch, soweit wir darüber informiert sind, die kretische Sozialstruktur durch mannigfaltige Abstufungen in den Bezeichnungen für Freie und Sklaven Vgl. Herodot I, 65 und Plutarch, Solon 12. Nomoi 631b 3–c 1. Bereits in früheren Dialogen findet Platon lobende Worte für die kretische Kultur, so bspw. Protagoras 342a 6 ff.; Kriton 52 e 7–9 und Politeia 544c 2–3, wo die kretischen und spartanischen Verfassungen als beste der nicht perfekten Herrschaftsformen gewürdigt werden. 295 Vgl. Nomoi 711a 5–11. 296 Vgl. Nomoi 693e 5–10 und 712d 2–e 13. 297 Zu Platons Kritikpunkten an Sparta vgl. Nomoi 628 c–634b und Politeia 544c ff. 293 294

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aus, womit auf eine Vielzahl von Sonderstellungen zwischen diesen beiden Bereichen verwiesen wurde. Wir finden in diesen Gesellschaften durchaus größere Gruppen von Bürgern, die formal zur Kategorie der Gleichgestellten (‡moioi) gehören, aber aufgrund von Besitzlosigkeit oder militärischer Untauglichkeit nur eingeschränkte Rechte genossen, als auch vereinzelt Heloten, die als Sklaven in einem spartanischen Haushalt geboren wurden und denen die klassische Erziehung zuteil wurde, so dass sie nach ihrer eventuellen Freilassung in der Gemeinschaft Aufnahme fanden, jedoch ohne unter die Gruppe der Gleichgestellten zu fallen. Freiheit und Unfreiheit zeigen sich in Sparta und Kreta selten als Reinform, sondern sind durch ein differenziertes System subtiler Abstufungen gegeben, für welches hier nur diese zwei Beispiele erwähnt werden sollen.298 Das Merkmal der Unfreiheit beschreibt Platon immer wieder als eine zu ausgeprägte Einseitigkeit und sei es auch bezüglich der Freiheit selbst, die dann in Knechtschaft umschlägt. Entsprechend kann auch keine reine Verfassungsform den Bedürfnissen einer ausgewogenen Menschwerdung gerecht werden und sie politisch repräsentieren. Die Idee der Mischverfassung besteht für Platon in einem quasi monarchischen Regiment durch eine vernünftige, d. h. von der kosmischen Ordnung abgeleitete Gesetzgebung, welche den Menschen zur Selbstbestimmung im Rahmen seiner Möglichkeiten erzieht. Diese wurden durch das athenische System über- und in Sparta unterschätzt. Die meisten so genannten Verfassungen aber sind nach Platon weder reine noch gemischte Formen, sondern Einrichtungen, die von Teilen ihrer selbst beherrscht werden und die restliche Bevölkerung zu deren Sklaven machen. Hierzu zählen u. a. Demokratie, Oligarchie und Tyrannei: „Von diesen ist nämlich gewiss keine einzige eine Verfassung, sondern am treffendsten könnten sie als Parteiherrschaft bezeichnet werden; denn keine übt ihre Herrschaft freiwillig über freiwillige Untertanen aus, sondern jede herrscht nach eigenem Willen über unfreiwillige Untertanen mit steter Anwendung von Gewalt; da aber der Herrscher den Beherrschten fürchtet, wird er es nie aus freien Stücken 298 Vgl. hierzu: P. Vidal-Naquet, ,Waren die griechischen Sklaven eine Klasse?‘, in: ders., Der schwarze Jäger. Denkformen und Gesellschaftsformen der griechischen Antike, Frankfurt 1989, S. 153–162. Vidal-Naquet sieht hierin einen der wesentlichen Unterschiede zwischen Sparta und Athen: „Kurz, die spartanische Gesellschaft ist durch eine Skala sozialer Stellungen gekennzeichnet, ohne dass man eindeutig festlegen könnte, wo die Freiheit beginnt und wo die Sklaverei aufhört, denn selbst die ,Gleichen‘ sind im Grunde nicht freie Männer im athenischen Sinne. Mit einer Reihe von geringfügigen Abweichungen scheint dies auch für andere ländliche Gesellschaften, vor allem für Kreta, zuzutreffen. Dort finden wir noch eine erstaunliche Vielzahl von Bezeichnungen für die Gruppe der Sklaven und manchmal auch für die Gruppen der vollberechtigten Bürger. Man darf sich also nicht von dem Umstand irreführen lassen, dass in einem Vertrag des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (Thuk. 5, 23) dasselbe Wort, douleia, zugleich die Sklaven in Athen und die Heloten in Sparta bezeichnet“ (ebd., S. 157).

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zulassen, dass dieser schön oder reich oder stark oder tapfer, und schon gar nicht, dass er ein tüchtiger Krieger wird.“299

Gesetze und Verfassungen, welche von Interessengruppen gegeben werden, haben, nach Platon, also nie die freie Entfaltung des Individuums im Sinn, sondern nur ihre eigenen Belange, für welche die übrige Bevölkerung funktionalisiert wird. Die Gefahr der Sklaverei ist somit allgegenwärtig, wo um politische Formen gerungen wird und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es Platon in seinem Denken maßgeblich um die Abschaffung dieser Art von politischer Sklaverei ging, was nicht ausschließt, dass ihm andere Formen der Unterwerfung durchaus als legitim und notwendig erschienen. 2. Die abnehmende Reihe der Herrschaftsformen und die dabei zunehmende Versklavung Die in Buch VIII der Politeia dargestellte Verfallsreihe von Herrschaftsformen wurde bereits von Aristoteles missverstanden als eine politischen Systemen immanente, degressive Entwicklungsgeschichte. Unter diesem Gesichtspunkt ergaben sich für den analytisch scharfsichtigen Peripatetiker eine Fülle von Ungereimtheiten, die mit seinen eigenen historischen und politischen Beobachtungen nicht in Übereinstimmung zu bringen waren. So bleibt beispielsweise die Frage nach der Ursache des Verfalls der besten Verfassung ebenso unbeantwortet wie eine Begründung dafür fehlt, dass auf diese eine timokratische Staatsform folgt, wo doch Verfassungen sich „öfter in die ihnen entgegengesetzte als in die ihnen zunächst stehende“ verwandeln. Auch sieht Aristoteles genügend Beispiele in der griechischen Geschichte für Veränderungen in die umgekehrte als die von Platon angenommene Richtung, wo zum Beispiel aus einer Demokratie eine Oligarchie oder Monarchie wird.300 Ein Blick auf die Entwicklung Athens seit den Tagen Solons bestätigt die aristotelischen Einwände widerspruchslos, jedoch wäre es vermessen zu denken, dass dies Platon als einzigem Athener nicht bekannt hätte sein sollen.301 Ebenso fällt auf, dass eine Beschreibung der politi299 Nomoi 832c 3–10. Vgl. auch Nomoi 712e 13–713a 3: „[. . .] sind keine Verfassungen, sondern Einrichtungen von Staaten, die von bestimmten Teilen ihrer selbst beherrscht (despozomÝnwn) werden und deren Sklaven (douleuousw= n) sind, und jede wird nach der Macht des jeweils Herrschenden benannt.“ 300 Aristoteles, Politik 1316a 20–24. 301 In ihrem Beitrag ,Die ungerechten Verfassungen‘ in: O. Höffe (Hrsg.): Platon Politeia, Berlin 1997, S. 251–270 schreibt Dorothea Frede zum Vergleich der platonischen Verfassungsabfolge mit der athenischen Geschichte: „Man dürfte damals in der vorgezeichneten Abfolge von der Aristokratie des Geistes, über die Timokratie, Oligarchie, Demokratie bis zur Tyrannis nur wenig Ähnlichkeit zur tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung gesehen haben. Es genügt vollkommen, sich die Entwicklung in Athen von Solon an zu vergegenwärtigen, um zu sehen, dass Platon kaum hoffen konnte, mit einer derartigen Geschichtsdeutung großen Eindruck zu machen. Die alte Aristokratie wurde durch die Tyrannis des Peisistratos und seiner Söhne abge-

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schen Strukturen der einzelnen Verfassungen, wie sie für ein solches Anliegen im aristotelischen Sinne notwendig gewesen wäre, von Platon nicht vorgenommen wird, woraus hervorgeht, dass die Verfallsanalyse der Herrschaftsformen kein geschichtsphilosophisches oder entwicklungspolitisches Ziel intendiert. Dafür spricht auch die mitunter stark überzeichnete Darstellung der Lebensformen in den verschiedenen Gesellschaften und die geradezu karikaturistischen Überhöhungen der in ihnen agierenden Charaktere. Das Bild des schwächlichen, skrupellos betrügenden oligarchischen Geizhalses dürfte ebenso wenig der Realität entsprochen haben, wie die Beschreibung des Lebens in Athen als eines rücksichtslosen Schwelgens von Faulpelzen in beliebigen Freiheiten, welches einer aristophanischen Komödie zur Ehre gereicht hätte. Platon nimmt somit bewusst Abstand von einer realistischen Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten und entwirft statt dessen eine reine Typologie der unterschiedlichen Gesellschaftsformen, um in aller Klarheit die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich für das seelische Befinden der Menschen und damit den politischen Zustand der Gesellschaft ergeben, wenn die charakteristische Eigenschaft und das ihr immanente Wertesystem einer Verfassung verabsolutiert werden. In solcher Reinform dürfte dies in der Realität zwar nie vorkommen, dennoch wird durch diese Methode in aller Deutlichkeit klar gemacht, wohin gewisse vorherrschende Tendenzen in einer politischen Gemeinschaft führen können und welche Auswirkungen diese wiederum auf das Individuum haben, wodurch einem fortschreitenden Werteverlust und, damit einhergehend, einem diesem entgegenkommenden politischen System Vorschub geleistet werden. Die platonische Darstellung intendiert also eine Analyse des sukzessiven Verfalls von politischem Ethos und eine sich daraus ergebende Psychopathologie der Bürger, welche auch gelesen werden kann als eine Entwicklungsgeschichte der Sklaverei im existentiell-politischen Sinne mit der dazugehörigen Psychologie des jeweiligen Sklaventyps. Hand in Hand geht hierbei die immer weiter reichende Versklavung des Volkes mit einer zunehmenden Selbstversklavung der Herrschenden, welche in der Tyrannei dann auf beiden Seiten ihre Apotheose gefunden hat.

löst. Nach der Vertreibung der Peisistratiden wurde zunächst die Aristokratie wiederhergestellt, bald jedoch im Zuge der politisch-militärischen Ereignisse nach den Perserkriegen durch die Demokratie ersetzt. Es folgte ein Wechselbad von Verfassungen: Die radikale Demokratie wurde 411 für kurze Zeit durch ein oligarchisches Regime, 404–403 durch die Schreckensherrschaft der dreißig Tyrannen verdrängt. Nach ihrer Wiederherstellung blieb die demokratische Staatsform bis zur Unterwerfung durch Philipp und Alexander weitgehend unangetastet. Auch in anderen Stadtstaaten gab es eine bunte Mischung von Verfassungsänderungen. Aspiranten auf eine Tyrannenherrschaft pflegten keineswegs auf eine instabile Demokratie zu warten, bevor sie die Macht übernahmen. Tyrannenherrschaften lösten sowohl Erbkönigtümer als auch Aristokratien und Oligarchien ab“ (ebd., S. 253).

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Ausgehend von der Aristokratie, d. h. der Herrschaft der Besten, also platonisch: der Philosophen, in welcher jeder gemäß der geometrischen Gerechtigkeit den ihm angemessenen Platz einnimmt und aus dieser Beschränkung die wesentlichen Tugenden seiner Seele am besten entfalten und in die Polis einbringen kann, wäre die erste Verfallsstufe die Timokratie, d. h. die Herrschaft derer, die Ruhm und Ehre mehr lieben als Wahrheit und Gerechtigkeit. Platons Kritikpunkte am timokratischen System wurden bereits deutlich in seinen Einwänden gegen die spartanische Gesellschaft, wie sie im vorangehenden Kapitel angesprochen wurden. Hierbei zeigte sich, dass er dieser hierarchischen Verfassungsstruktur, welche sehr viel Wert auf die Erziehung und die Herausbildung einer gemeinschaftlichen Gesinnung aller Bürger legt, nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, aber den Inhalt ihres Strebens deutlich verurteilt, indem dieses auf die Ehre und den Sieg im Krieg gerichtet ist und somit kriegslüsterne und nicht weise Männer dortselbst an die Macht gelangen.302 Entsprechend der Kongruenz zwischen politischer Ordnung und Seelenstruktur manifestiert sich so in der Timokratie ein Herrschaftsanspruch des ™piqumhtikün, der in diesem Falle durch das qumoeidÝò wahrgenommen wird, als der Begierde nach Sieg und Ehre, über das logistikÎn, welches so in Unfreiheit und Abhängigkeit von dem begehrlichen Seelenteil gerät. Aus diesem Grunde beschreibt Platon den Umschwung von Aristokratie zu Timokratie in einem Bild der Versklavung, welches wohl so kein historisches Vorbild hat, sondern den Prozess gleichsam von innen psychologisch zur Anschauung bringt. Demnach strebt eine Gruppe von „eisernen und ehernen“ Bürgern in der noch aristokratischen Polis nach Erwerb und Besitz, wohingegen sich die „goldenen und silbernen“ Herrscher weiterhin nur der Tugend widmen. Als nun erstere Gewalt anwenden, kommt es zu einer Eigentumsumverteilung303 und die vormaligen Herrscher werden unterjocht (doulwsÜmenoi) und müssen als Dienstleute (oœkÝtaò) auf den Ländereien und in den Häusern der neuen Herren arbeiten.304 Platon stellt in aller Klarheit hier das Wesen der Timokratie als einen ersten Schritt zur Unterwerfung der Vernunft unter die Begierde dar, wobei die Versklavung des logistikÎn allerdings schon vollkommen ist und im Folgenden nur durch die zunehmend despotischeren Inhalte des Begehrens verschärft wird. Gleichwohl wird bereits hier deutlich, dass die eigentliche, existentielle Versklavung auf Seiten des timokratischen Menschen zu sehen ist, da er „Knechte (doýloiò) nicht so geringschätzt wie ein völlig gebildeter“, woraus freilich folgt, dass er sie, mangels Tugend und zwecks bemühter Abgrenzung von ihnen, erst recht roh und grausam behandelt, wohingegen er sich bei „den Vgl. Politeia 547e 1–548a 4. Man könnte aus dieser Stelle auch herauslesen, dass an diesem Punkte in der Polis erst Eigentum entsteht, da „Land und Häuser in Eigentum verwandelt und verteilt wird“ (vgl. Politeia 547b 8–c 1). 304 Politeia 547b 2–c 6. 302 303

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Obrigkeiten höchst unterwürfig (žpÞkooò)“ verhält.305 Das Sklavische der timokratischen Mentalität wird dann des Weiteren noch dadurch betont, dass es u. a. die Einflüsterungen der Haussklaven (oœkÝtai) sein können, die den Sohn eines aristokratischen Vaters gegen denselben aufbringen können und somit sklavische Werte in die neue Generation der Herrscher transportiert werden.306 Das timokratische Streben nach Ehre ist auch nicht frei von materiellen Begierden, doch wird Gold und Silber heimlich verehrt und gehortet, um nach außen hin einen ehrenvollen Anschein von Bescheidenheit zu wahren.307 Gleichwohl währt dieser nicht lange, denn „jene Kammer, [. . .], die jeder sich mit Geld anfüllt, verdirbt eine solche Verfassung [. . .]. Zuerst ersinnen sie sich Aufwand und lenken dahin die Gesetze um.“308 Die ehrliebende, bereits vom ™piqumhtikün beherrschte Seele des Timokraten erweitert sukzessive ihr Begierdenspektrum auf Geld und Reichtum, was sich politisch in Gesetzesveränderungen auswirkt, welche nun den wohlhabendsten und nicht mehr den militärisch erfolgreichsten Bürgern die Macht einräumen, zumal sich auch Reichtum leichter messen lässt als Ehre. Aus der Timokratie ist nun eine Oligarchie geworden, in der wenige Reiche über die Masse der Armen herrschen, so dass Platon von zwei verschiedenen Staaten in einem sprechen kann, die „sich gegenseitig auflauernd zusammenwohnen.“309 Der oligarchische Charakter verliert zunehmend die Tugenden, welche für den Timokraten noch notwendig waren, Ehre in Gesellschaft und Gefecht zu erwerben und konzentriert seine Fähigkeiten gänzlich auf das Streben nach Gewinn, was allerdings auch eine gewisse Zügelung der Begierden noch voraussetzt, um in Geschäftsverhältnissen einen guten Ruf zu wahren und für gerecht gehalten zu werden. Es handelt sich hierbei, nach Platon, um eine „zweckmäßige Gewalt über sich selbst“, um „andere ihm innewohnende schlechte Begierden“ zurückzuhalten, doch „nicht etwa, indem er sich selbst überzeugt, dass es nicht so besser wäre, auch nicht, indem er sie durch Vernunft zähmt, sondern aus Not und Furcht, weil er für sein übriges Eigentum zittert.“310 Politeia 549a 1–4. Politeia 549e 4–550b 9. Zu den äußerlichen Einflüssen auf die Seele schreibt Voegelin erhellend: „Characters and forms do not simply correspond to each other but the various social forces (father, mother, servants, acquaintances, and so on) struggle in the soul of the individual; and they can struggle within the individual soul because they are psychic forces. The psyche is a society of forces, and society is the differentiated manifold of psychic elements.“ E. Voegelin, Order and History, Volume Three: Plato and Aristotle, Baton Rouge 1957, S. 125. 307 Vgl. Politeia 548a 6–c 2. Die Bestechlichkeit der spartanischen Machthaber war in der Antike allgemein bekannt. 308 Politeia 550d 9–e1. 309 Politeia 551d 6–9. 310 Politeia 554c 12–d 4. 305 306

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Das in der Seele des Oligarchen herrschende ™piqumhtikün bedient sich also in taktisch kluger Weise des versklavten logistikÎn, um sein Ziel zu erreichen, wenngleich der oligarchische Mensch sich auch stets in einem Zwiespalt befindet und mit sich selbst nicht einig ist, da er einerseits stets in Gefahr ist, die Kontrolle über die Begierden des nach Ausschweifung strebenden ™piqumhtikün zu verlieren und andererseits zum Gelingen seines Unternehmens bemüht sein muss, dass mehrheitlich „die besseren Begierden in ihm herrschen über die schlechteren.“311 Das unglückliche Bewusstsein des Oligarchen macht seine Selbstversklavung zu einem qualvollen Akt der Selbstverleugnung. Seinen nunmehr rein materiellen Begierden vollständig ausgeliefert, muss er sie dennoch stets beschränken, um sie zu befriedigen, wodurch diese nach dem Gesetz der Pleonexie, des Mehr-haben-Wollens, gestärkt werden und an Macht über ihn gewinnen. Gleichfalls befindet sich die Masse des Volkes in einem Zwiespalt. Einerseits verachtet es die herrschenden Oligarchen, welche sie in der Mehrzahl zu Bettlern und Dieben gemacht haben,312 andererseits ist ihr ™piqumhtikün aufgestachelt vom Neid auf die oligarchische Lebensweise mit all ihren Reichtümern. Die Demokratie ist dann der Aufruhr der vielen Armen gegen die wenigen, verweichlichten Oligarchen313 mit dem Ziel, den oligarchischen Lebensstandard für alle zu realisieren. Psychoökonomisch gesprochen heißt dies, dass die Seelenordnung unter Leitung des ™piqumhtikün nun generell dem Prinzip der Gewinnmaximierung unterworfen ist, allerdings unter Ausschaltung der dem Oligarchen noch innewohnenden Resttugenden. Die Freiheit der Demokratie ist, nach Platon, die vollständige Befreiung der Begierden in ihrer Fixierung auf das Ökonomische einhergehend mit einer Freiheit von politischer Vernunft und ethischem Handeln. Der demokratische Charakter lebt damit nicht frei aus sich selbst heraus, sondern befindet sich in einer steten Abhängigkeit von ökonomischen Zwängen, die ihm durch seine Begierden wahllos diktiert werden. Das demokratische Gleichheitsprinzip karikiert Platon in Bezug auf die Begierden dahingehend, dass er den gesetzteren Demokraten, in welchem sich „das große Getümmel [. . .] etwas verlaufen hat“, beschreibt als „in einem gewissen ruhigeren Gleichgewicht der Lüste“ lebend, „indem er der, welche jedesmal eintritt, als ob das Los sie getroffen hätte, die Herrschaft in sich übergibt, bis sie befriedigt ist, und dann wieder einer anderen, indem er keine nachteilig auszeichnet, sondern sie alle gleichmäßig pflegt.“314

War der Oligarch noch um eine gewisse Kontrolle und Konzentration seines Strebens bemüht, verliert sich der Demokrat in den Beliebigkeiten seiner Ge311 312 313 314

Vgl. Politeia 554d 11–e 7. Vgl. Politeia 552a 7–e 7. Vgl. Politeia 555b–557a. Politeia 561a 10–b 9.

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lüste und in der Anarchie seiner Begierden. Die Selbstversklavung vollzieht sich hier als Selbstverlust, indem selbst das ™piqumhtikün keine feste Größe mehr ist, sondern lediglich Behältnis für irrationale und wechselhafte Inhalte. So wie der Demokrat weder Herr über sich selbst zu sein in der Lage ist, noch sein ™piqumhtikün Macht über die von ihm unterstützten Begierden hat, gilt im demokratischen System das Prinzip der Herrschaft generell als suspekt. Die gesellschaftliche Position des Herrn ist in Verruf geraten, denn alle gelten als gleich viel und Sklaven sind so frei wie Herren. Diese Übermäßigkeit an Freiheit verknechtet die Menschen aber wieder, da es keine Ordnung in der Gesellschaft mehr gibt und jeder den Umtrieben des Anderen als auch seiner eigenen Zügellosigkeit schonungslos ausgeliefert ist.315 Die Demokratie als Versuch, eine Oligarchie für alle zu erstellen, führt zu allgemeiner Bedürftigkeit und zu einer Gleichheit, die alle Bürger zu Sklaven macht. Es ist die absolute Ablehnung jeglicher Herrschaft, insbesondere der Selbstbeherrschung, d. h. der Herrschaft über sich selbst, von Platon auch als „Rauch der Knechtschaft (douleßaò), wie sie unter Freien (™leuqÝrwn) ist“ bezeichnet, welche die Notwendigkeit einer Ordnung so deutlich werden lässt, dass diese nun in ihrer extremsten Abart hervortritt und das Volk „in die Flamme einer von Knechten ausgeübten Zwingherrschaft (doýlwn despoteßaò)“ hineinstürzt und es so „statt jener übergroßen und unzeitigen Freiheit die unerträglichste und bitterste Knechtschaft (doýlwn douleßan)“ angezogen hat.316 Es ist zu bemerken, dass Platons Begrifflichkeit bezüglich der Versklavung des Volkes hier durchaus nicht nur metaphorisch zu verstehen ist. Der Tyrann tritt zuerst als Volksvertreter, als Advokat der Armen, in Erscheinung mit dem Versprechen, das Vermögen der Oligarchen umzuverteilen, d. h. er wendet sich direkt an das ™piqumhtikün des vermeintlich zu kurz gekommenen Volkes.317 Als Dank hierfür genehmigt ihm das Volk eine Leibwache, „damit doch der Beschützer des Volkes selbst sicher sei“318. In Folge seiner zunehmend despotischeren Politik, welche die Vermögenden zur Selbstbereicherung beraubt und die Freigesinnten vertreibt, sichert der Tyrann seine Macht, indem er den Bürgern ihre Sklaven wegnimmt, diese befreit und sie in seine Schutztruppe eingliedert, wo sie ihm dankbar und ergeben dienen werden.319 Diese Freigelassenen nun kümmern sich wohl vor allem um die Sicherheit des Tyrannen, doch werden sie mit der 315 Politeia 562d–564a. Siehe hierzu auch die Beschreibung der athenischen Demokratie im vorangehenden Kapitel. 316 Politeia 569b 9–c 4. Vgl. auch Politeia 564a 4–5: „Also auch die äußerste Freiheit wird wohl dem einzelnen und dem Staat sich in nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft (douleßan)“. 317 Vgl. Politeia 565a 9–12. Der Tyrann als Verteidiger des Volkes gegenüber der Aristokratie ist historisch vor allem im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Griechenland, einschließlich Athen, belegt. 318 Politeia 566b 4–7. 319 Politeia 567d 4–e 8.

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Zeit auch zu den einzigen ihm verbliebenen Getreuen und damit zur privilegierten Gruppe seiner Vertrauten und scheinbaren Freunde, zumal es sich zeigt, dass die Psychologie des Tyrannen und der vormaligen Sklaven sehr ähnlich ist. Beide handeln unter dem Einfluss eines entfesselten ™piqumhtikün in ihren Seelen und streben hemmungslos nach der Realisierung ihrer unersättlichen sexuellen wie materiellen Begierden.320 Der Tyrann kann den „wahren demokratischen Traum“ ausleben, so dass die nach ungezügelter Freiheit aller Begierden strebenden Demokraten unbewusst „denjenigen aus ihnen zum Tyrann einsetzen, der selbst in seiner Seele den größten und stärksten Tyrannen hat“321, wodurch sich ihre seelische Selbstversklavung auch politisch als äußerste Knechtschaft manifestiert, was bei Platon in dem Bild anschaulich wird, dass das Volk nun von seinen eigenen Sklaven versklavt ist und diese ernähren muss.322 Nun scheint der Tyrann zwar in seiner unbegrenzten Machtfülle bedingungslose Freiheit zu genießen und müsste der glücklichste aller Menschen sein, so wie es Thrasymachos in der Politeia und Kallikles im Gorgias darstellen323, doch das Gegenteil ist der Fall. Die edelsten Seelenteile sind bei ihm vollends unter die Knechtschaft der Begierde geraten, welche ihn gewaltsam dazu antreibt, das zu tun, was er gar nicht will, wodurch er immer mehr Schaden nimmt: „Wenn nun [. . .] der Mann dem Staate ähnlich ist, muss dann nicht auch in ihm dieselbe Ordnung sich vorfinden und seine Seele voll Unfreiheit (˜neleuqerßaò) und vielfältiger Knechtschaft (douleßaò) sein und gerade die Teile derselben in der Knechtschaft sein (douleýein), welche die edelsten waren, und nur ein kleiner, und zwar der wertloseste und ausschweifendste herrsche? – Notwendig [. . .]. – So wird auch wohl die tyrannisch beherrschte Seele am wenigsten tun, was sie gern wollte, wenn man nämlich von der ganzen Seele redet, sondern wie sie immer vom Stachel mit Gewalt getrieben wird, muss sie auch immer voll Schrecken und Reue sein.“324

In der vollkommenen Negierung der kosmisch fundierten Seelenordnung ist der Tyrann sich selbst der schlimmste Feind. Die absolute Herrschaft des Sklavischen in ihm, als vollkommene Loslösung des ™piqumhtikün vom logistikÎn in seiner Seele, verbunden mit einer unbeschränkten Machtentfaltung, degradiert ihn zum denkbar ohnmächtigsten Menschen, der stets seinen eigenen Interessen und Bedürfnissen zuwiderhandelt. Im wahren Tyrannen zeigt sich das entsetzliche Grauen einer von den ordnungsstiftenden kosmischen Prinzipien abgesonderten Lebensweise und damit der Sklave in Reinform, wenn dieser nicht mehr durch seinen Herrn notwendig an der kosmischen Ordnung teilVgl. Politeia 574d 1–575b 12. Politeia 575c 8–d 2. Etwas weiter unten im Text wird die Versklavung des Volkes auch als „das Ziel der Begierde eines solchen Mannes“ beschrieben. 322 Politeia 569a 1–6. 323 Politeia 344a–c; Gorgias 491d–e. 324 Politeia 577d 1–e 3. 320 321

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hat. In einer gerechten Polis wird, nach Platon, der Tyrann, welcher in jeder Seele in unterschiedlichem Maße lauert, systematisch in Schach gehalten und wer dies nicht für sich selbst vermag, lässt die Herrschaft über sich selbst von einem anderen, fähigeren ausüben, dessen Sklave er fortan ist. Der Schrecken einer entfesselten Tyrannis, wie sie uns Platon hier zeichnet, kann als eindrucksvolle Begründung und Rechtfertigung der Sklaverei im platonischen Sinne gelesen werden, auch wenn weder Platon noch sonst irgendein Mensch der Antike diesbezüglich unter Rechtfertigungszwang standen. Die abnehmende Reihe der Herrschaftsformen, wie sie Platon in der Politeia darlegt, erweist sich als eine stufenweise Verlagerung der Seelendisposition vom logistikÎn hin zum ™piqumhtikün und deren unabwendbaren Auswirkungen auf das politische System. Der individuelle Charakter wird ebenso wie die gesellschaftliche Verfassung maßgeblich geprägt von einer der drei psychischen Kräfte, welche in der Seele vorherrschend ist. In der gerechten Polis regiert auch in der Individualseele das logistikÎn, wohingegen die Tyrannis sich aus der entfesselten Willkürherrschaft des ™piqumhtikün in der Seele herleitet. Letztere ist per definitionem Sklaverei in extremster Form und reinstem Sinne, sowohl für die Beherrschten als auch für den Machthaber. Timokratie, Oligarchie und Demokratie sind Zwischenstadien auf diesem Weg, welche sukzessive über eine sich immer weiter ausbreitende Begehrensfixierung in die seelische und folglich auch politische Unfreiheit führen. Bereits der Timokrat hat über seine Ehrliebe und Eitelkeit den versklavenden Begierden des ™piqumhtikün Platz eingeräumt, kann aber im großen und ganzen noch über sich selbst herrschen, auch wenn er als Herrscher im Staat schon ein Übel wäre. In der Demokratie dann, die nach Platon eine Freisetzung aller Triebe und damit die Befreiung von jeglicher Ethik verursacht, ist Herrschaft jeglicher Art verpönt und führt so unmittelbar in die grenzenlose Versklavung der Seele unter das ™piqumhtikün, was sich politisch als Tyrannis manifestiert. Das Prinzip der Sklaverei in Form von seelisch-existentieller Selbstversklavung zeigt sich hier als ein wesentliches Element gesellschaftlichen Handelns und führt je nach Ausbreitung zu unterschiedlichen Graden von politischer Unfreiheit. 3. Sklaven des Gesetzes: Die Nomokratie als Garant des Guten Die Frage ist nun, wie sich Platon das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit in Bezug auf die gerechte Gesellschaft vorstellt, so dass eine stabile, dem Guten verpflichtete Ordnung gewährleistet ist, im Rahmen welcher der Bürger die Möglichkeit und Förderung hat, Herr seiner selbst zu werden und gleichzeitig der Gemeinschaft seiner Natur gemäß am besten dienen kann. Im 7. Brief gibt Platon den Anhängern des Dion den Ratschlag, Sizilien nicht menschlichen Herrschern (˜nqrþpoiò despütaiò), sondern Gesetzen (nümoiò)

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untertan (doulou= sqai) zu machen. Einzig so ist zu vermeiden, dass die Unterjochenden (douloumÝnoiò) wie die Unterjochten (doulwqei=sin) ins Verderben geführt werden aufgrund des unfreien Sinnes der Seelen jener Personen, die nur Vorteile an sich zu reißen bestrebt sind, „weil sie nichts darüber wissen, was bei Göttern und Menschen in Zukunft und in Gegenwart gut und gerecht ist.“325 Allein ein kämpferischer Philosoph wie Dion hätte Sizilien aus der Knechtschaft (douleßan) befreien können, um in einem Übergangsprozess die Reinigung der freien Polis einzuleiten und „wäre danach mit allen Mitteln darangegangen, das Leben der Bürger durch die angemessenen, ja besten Gesetze zu ordnen.“326 Diese Gesetze müssten auf der Grundlage einer Versöhnung zwischen den vormals verfeindeten Parteien errichtet werden, ohne Streben nach Rache und Vergeltung, um deutlich zu machen, dass die neuen Herrscher „sich selbst in der Gewalt haben“, worauf sie nun „Gesetze für alle erlassen, die ihnen selbst nicht mehr Genuss bringen als den Unterlegenen, und sie zwingen, sich an die Gesetze zu halten, mit dem doppelten Zwang, der auf Scheu und Furcht beruht: auf Furcht, indem sie als die Überlegenen ihnen ihre Macht unter Beweis stellen, auf Scheu hingegen, indem sie sich als überlegen auch gegenüber ihren Leidenschaften erweisen und es vorziehen und vermögen, den Gesetzen untertan (douleýein) zu sein.“327

Grundlage der platonischen politischen Theorie, wie sie hier als Ratschlag an Dions Weggefährten formuliert wird, ist somit die maßgebliche Unterscheidung zwischen menschlichen Herrschern und der Herrschaft von Gesetzen, wobei Siebter Brief 334c 7–d 5. Siebter Brief 336a 1–5. 327 Siebter Brief 336e 2–337a 9. Die Herrschaft über sich selbst im Sinne von ,sich selbst möglichst weit in der Gewalt‘ zu haben wird als ein Kriterium für den zum Herrschen geeigneten Menschen von Platon bereits vorher in der Epistel (331d 9) erwähnt. In diesem Zusammenhang fällt auch der Ratschlag, sich ,zuverlässige Freunde (—ßlouò) und Vertraute (Štaßrouò)‘ zu erwerben. Obwohl die Echtheit des siebten, wie auch des achten platonischen Briefes in der Forschungsliteratur mittlerweile fast einhellig anerkannt wird, gibt es dennoch diesbezüglich auch kritische Stimmen, die auf inhaltliche Diskrepanzen zwischen den Briefen und den Dialogen verweisen. Hierzu gehört die nicht unüberzeugende Darstellung von L. Edelstein, Plato’s Seventh Letter, Leiden 1966. Edelstein macht mit Verweis auf Politeia 365d und 494e, sowie Nomoi 856b zu Recht darauf aufmerksam, dass Platon das athenische Hetärenwesen im Sinne eines politischen Lobbyistentums in seinen Dialogen ablehnt (ebd., S. 30). Einem anderen Einwand zu der von mir zitierten Stelle kann ich allerdings nicht zustimmen. Platons Aufruf, Gesetze für alle zu erlassen, die für Herrscher wie Beherrschte verbindlich sind, interpretiert Edelstein als isonomisch, was zweifelsohne unplatonisch wäre (ebd., S. 31–36). Im Text ist allerdings nur die Rede von nümouò koinoýò, also gemeinschaftlichen Gesetzen, die alle betreffen, und somit auf den prinzipiellen Rahmen und die grundlegende Gesetzesstruktur verweisen, nicht aber eine Einzelgesetzgebung mit gesonderter Verteilung von Rechten und Pflichten betreffen. Die Frage nach der Authentizität der platonischen Briefe kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht gelöst werden, jedoch stehen die von mir angeführten Textstellen m. E. nicht im Widerspruch zu den platonischen Dialogen, sofern hierzu keine Anmerkung erfolgt. 325 326

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beide Formen eine bedingungslose Unterwerfung mit sich bringen, die von Platon durch die Wortwahl ,doulou= sqai‘ betont wird. Gleichwohl könnten die Prämissen der Unterwerfung nicht unterschiedlicher sein. Die menschliche Herrschaft konstituiert sich aus dem persönlichen Vorteilsstreben der Herrschenden, welches sich aus der Unfreiheit ihren Leidenschaften gegenüber ergibt, wohingegen die Herrschaft der Gesetze in einem zeitlosen Wissen davon wurzelt, was gut und gerecht ist, unbeeinflusst von den Lüsten und Launen der Individualseele. Da die Gesetze sich im politischen Bereich jedoch nicht selbst Geltung verschaffen können, bedarf es zu ihrer Umsetzung menschlicher Vertreter, die ihre Eignung dazu dadurch bewiesen haben, dass sie in und für sich selbst den Gesetzen freiwillig untertan sind und daraus die Autorität beziehen, diese auch für die anderen Bürger um- und durchzusetzen. Die Versklavung durch Herrscherwillkür weicht damit der Unterwerfung unter die notwendigen Bedingungen eines guten und im platonischen Sinne gerechten menschlichen Zusammenlebens, an welche auch die Exekutive der Herrscher gebunden ist. Obwohl Platon im siebten Brief Versöhnung propagiert, spricht er dort auch von einer „Reinigung“ der Polis.328 Bereits in der Politeia erscheint diese als konstitutives Element politischen Handelns der Philosophenherrscher, „welche sich gleich dadurch von den anderen unterscheiden [. . .], dass sie weder mit einzelnen noch mit dem Staat sich eher würden befassen noch Gesetze geben wollen, bis sie ihn rein (kaqarÜn) übernommen oder selbst gereinigt haben.“329

Die erfolgreiche Ein- und Umsetzung einer gerechten Verfassung erfordert also, nach Platon, die Entfernung aller Elemente innerhalb der Gesellschaft, welcher einer solchen entgegenstehen. Im Idealfall bestünde eine solche Polis anfänglich nur aus Kindern unter zehn Jahren, die, frei von erzieherischen und gesellschaftlichen Deformationen, nun von den Herrschern gemäß den Gesetzen angeleitet und gebildet werden könnten.330 Normalerweise liefe ein solcher Rei328 Nach Edelstein wird, im Gegensatz zu den Dialogen Politeia und Nomoi, im siebten Brief jegliche Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele abgelehnt (a. a. O., S. 26). Der Briefschreiber lobt ausdrücklich Dions Vorhaben, die neue Verfassung ohne Blutbad, Tod und andere Untaten (327d 5) umsetzen zu wollen. Die Übersetzung von Dietrich Kurz, Dion „hätte zuerst Syrakus, seine Heimatstadt, aus ihrer Abhängigkeit befreit, gereinigt und in die Form einer freien Stadt gebracht“ (336a 1–3) scheint auch mir im Kontext der platonischen Dialoge zu drastisch gesagt für das sich im Text befindliche „™peÍ tÎ Surakoýsaò mÊn prw= ton, tÌn patrßda tÌn Šautou= , ™peÍ tÌn douleßan ažth= ò ˜pÞllacen —aidrýnaò ™leuqÝraò d’™n sxÞmati katÝsthsen“. Vielmehr beschreibt diese Stelle die Errichtung einer klaren und sauberen politischen Ordnung, wobei über die Mittel hierzu nichts gesagt wird und auch von einer nachdrücklichen Läuterung im Sinne der kÜqarsiò nicht die Rede ist. Gleichwohl werden hier grundlegende Veränderungen im sozialen Gefüge angedeutet, die wir in den Dialogen konkreter dargestellt finden. Zur möglichen Intention eines pseudoplatonischen Briefschreibers, die Gewaltlosigkeit politischer Umwälzungen zu betonen, siehe L. Edelstein, a. a. O., S. 61. 329 Politeia 501a 4–7.

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nigungsprozess innerhalb der Gesellschaft allerdings über ein Auswahlverfahren ab, zu dessen Verdeutlichung Platon in den Nomoi nochmals das Bild von Hirte und Herde bemüht. Bei jeder neu übernommenen Herde wird ihr Hüter „die für jede Gemeinschaft erforderliche Reinigung“ vornehmen; „und wenn er die gesunden und kranken, die edlen und die unedlen Stücke voneinander geschieden hat, wird er die einen zu irgendwelchen anderen Herden fortschicken, die andern aber in seine Pflege nehmen, indem er bedenkt, wie vergeblich und endlos die Mühe um einen Leib und um Seelen wäre, welche ihre Naturanlage (—ýsiò) und eine schlechte Zucht verdorben hat und die dadurch auch noch den Stamm von gesunden und unverdorbenen Charakteren und Leibern in den einzelnen Herden mit zugrunde richtet, wenn man nicht den vorhandenen Bestand durch und durch säubert.“331

Die Kriterien des Auswahlverfahrens betreffen also die Gegensatzpaare gesund/ungesund und edel/unedel, welche kausal auf entsprechende Naturanlagen bzw. auf die Erziehung (Zucht) zurückgeführt werden. Die verdorbenen Individuen sollen sodann von den übrigen, gesunden getrennt werden, um einen negativen Einfluss der ersteren zu vermeiden. Hierzu gibt es zwei Möglichkeiten, wobei die bessere eines Gesetzgebers bedürfe, der zugleich Tyrann sei, da nur ein solcher die Macht und Autorität besäße, in Einklang mit dem Gesetz die unheilbar Verdorbenenen in die Verbannung oder, bei schwersten Vergehen, in den Tod zu schicken.332 Ein Gesetzgeber hingegen, der nicht über Tyrannengewalt verfügt, wird als mildere Art der Reinigung die für die neuen Gesetze nicht geeigneten Individuen mit einer Koloniegründung beauftragen, wobei Platon für deren Gelingen kein großes Interesse aufzubringen scheint.333 Die Errichtung einer Gesetzesherrschaft vollzieht sich, bei aller Bemühung um Versöhnung, nicht gewaltlos und ohne Härten, sondern ist „schmerzhaft wie alle Politeia 540e 6–541a 7. Nomoi 735b 4–c 6. Im folgenden Satz macht Platon noch auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier aufmerksam, doch betrifft dies nur die größere Sorgfalt, welche der Gesetzgeber anwenden muss, „um zu erforschen und anzugeben, was für jeden einzelnen angemessen ist, sowohl bei der Reinigung als auch bei allen anderen Maßnahmen.“ 332 Nomoi 735d 4–e 6. Eine derart positive Erwähnung des Tyrannen an dieser Stelle ist überraschend, sollte aber nicht verwechselt werden mit der Tyrannendarstellung in der Politeia, mit dem der Tyrann als Gesetzgeber nur den Namen gemein hat. Platon konstruiert hier idealtypisch ein Bild maximaler Machtfülle gepaart mit allen Tugenden und großer philosophischer Begabung. Eine Beschreibung dieses Charakters, welche an Dionysios den Jüngeren oder auch an Platons Bild von Dion erinnert, findet sich in Nomoi 709e 7–710a 2: „[. . .] der Tyrann aber soll jung sein, mit gutem Gedächtnis, lernbegierig, tapfer und von Natur großgesinnt. Das aber, wovon wir im vorigen gesagt haben, es müsse alle Teile der Tugend begleiten, das soll auch jetzt der Tyrannenseele beigesellt sein.“ Vgl. auch 739a 5–6. Zur Rechtfertigung der Todesstrafe bei unheilbarer Verdorbenheit und daraus folgenden schweren Verbrechen siehe auch § 4, Kapitel II.1., Fn. 164 der vorliegenden Arbeit. 333 Vgl. Nomoi 735e 7–736a 4. 330 331

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Heilmittel von solcher Beschaffenheit“.334 Als Resultat ergibt sich freilich die ideale Situation, dass alle Bürger der Polis über eine gesunde körperliche wie geistige Beschaffenheit verfügen und edlen Charakters sind, darin mit den Gesetzen übereinstimmen und sich diesen freiheitlich ihrer Natur gemäß unterwerfen. Die Reinigung der Polis impliziert nicht die Versklavung der Unedlen und Ungesunden durch die Vornehmen und Wohlgeratenen, welches aufgrund der platonischen Definitionen von Gesundheit als seelischer Wohlgeordnetheit und Sklaverei als der kosmischen Ordnung widersprechende Seelendisposition durchaus nicht abwegig gewesen wäre, zumal der Verfassungsentwurf der Nomoi ökonomisch von Sklavenarbeit getragen wird. In einem solchen Vorschlag hätte aber die Platon wohl bewusste Gefahr eines Bürgerkrieges gelegen, wodurch die Errichtung einer Nomokratie auf lange Sicht hin verunmöglicht worden wäre. Statt dessen ist anzunehmen, dass die Rekrutierung von Sklaven im funktional-wirtschaftlichen Sinne zum einen durch die Übernahme der Besitzstände der Verbannten und zum Tode Verurteilten erfolgen sollte, zum anderen und im Falle der Kolonisation, welche ja nicht der Eigentumsrechte beraubte, durch Ankauf von Barbarensklaven auf den Märkten zu erfolgen hatte. Die strikten Methoden der Reinigung sowie die Vorstellung eines idealen Tyrannen als Gesetzesgeber lassen die Unabhängigkeit der Gesetze von diesem bzw. der Exekutive in den Hintergrund treten, auch wenn ihre Autonomie stets von Platon mitgedacht wird. Bereits in den Vorüberlegungen zur Beschaffenheit der Verfassung der in den Nomoi zu gründenden Polis wird die Aufgabe der Herrscher darin gesehen, die göttliche Ordnung, wie sie im mythischen Zeitalter des Kronos bestand, möglichst genau zu imitieren.335 Recht und Gerechtigkeit sind somit nicht durch die Person des Herrschers gesetzt, wie dies zumeist in allen politischen Systemen der Fall ist, wo zu keinem anderen Zweck Gesetze gegeben werden „als zum Nutzen der eigenen Herrschaft, damit diese Bestand hat“336, sondern von dieser unabhängig. Den Gesetzen kommt dabei eine den Individuen und auch der Gemeinschaft übergeordnete Bedeutung und Rechtfertigung zu, die sich aus Platons Begriff der Vernunft als kosmologischem Ordnungsprinzip ergibt. Nur in der Übertragung dieser ordnungsstiftenden Vernunft auf die politischen Verhältnisse kann eine von Einzelinteressen 334 Nomoi 735d 8. Sandvoss bemerkt hierzu trefflich: „Dass der schnellste Weg zur Arete nicht gerade der freiheitlichste ist, lässt die schwere Antinomie erkennen, mit der Platon auf diese Weise die Zielsetzung seiner Gesetzgebung belastete.“ E. Sandvoss, Soteria. Philosophische Grundlagen der platonischen Gesetzgebung, Göttingen 1971, S. 288. 335 Vgl. Nomoi 713a 10–714b 1. Eine ausführliche Darstellung des Kronosmythos findet sich in § 4, Kapitel II.1. der vorliegenden Arbeit. 336 Nomoi 714d 1–5. Vgl. hierzu Platons Kritik an den geläufigen Verfassungsformen als Parteienherrschaften in Nomoi 832b 10–d 7.

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unabhängige Verwirklichung von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft gewährleistet werden. Folglich definiert Platon Gesetz als „Verteilung der Vernunft“337 und die Aufgabe der Herrscher kann nur darin bestehen, „Diener der Gesetze (phrÝtaò toi=ò nümoiò)“ zu sein und nicht den in der Ordnung der Natur liegenden vernunftmäßigen Prinzipien zuwiderzuhandeln. „Denn in einem Staat, in welchem das Gesetz geknechtet und machtlos ist, einem solchen sehe ich den Untergang bevorstehen. In welchem es aber Gebieter über die Herrschenden (despüthò tw= n ˜rxüntwn) und die Herrschenden Sklaven des Gesetzes (ërxünteò dou= loi tou= nümou) sind, dem Staat sehe ich Fortbestand und alle Güter zuteil werden, welche die Götter je Staaten verliehen haben.“338

Die Nichtachtung der Gesetze im politischen Bereich bedeutet eine Pervertierung der im Kosmos waltenden Vernunft, wie sie sich psychologisch auch in der Sklavenseele ereignet, indem das ™piqumhtikün das logistikÎn beherrscht. Unfreiheit hier und Untergang dort sind die Folgen. Befinden sich die Herrscher in ihrem Handeln aber im Einklang mit den ihnen übergeordneten Gesetzen, d. h. wenn sie die Partialinteressen ihrer Individualseele dem kosmischen lügoò oder nou= ò untergeordnet haben bzw. ihr logistikÎn ganz von diesem geleitet wird, haben die Polis und die in ihr lebenden Menschen den angemessenen Platz in der natürlichen Ordnung gefunden und entwickeln sich selbstgemäß im Rahmen der allgemeinen kosmischen (göttlichen) Prinzipien weiter. Der Sklave des Gesetzes und der Sklave im Sinne einer psychischen Fehldisposition sind zwei gegensätzliche Extreme, haben jedoch im Sinne der platonischen Definition des Sklaven gemeinsam, dass ihrer beiden logistikÎn von etwas anderem beherrscht und geleitet wird. Wohingegen aber der durch die Begierde unterdrückte vernunftmäßige Seelenteil der Sklavenpsyche des Befehls und der Führung durch andere bedarf, ist der Herrscher durch die Teilhabe an der kosmischen Vernunft nicht nur befähigt, Herr seiner selbst zu sein, sondern auch der Polis die rechtmäßigen Gesetze ihres geordneten und gerechten Zusammenlebens zu vermitteln. Es stellt sich nach diesen Ausführungen die Frage, inwieweit die Herrschaft der Gesetze noch mit der Herrschaft der Philosophie, wie sie in der Politeia dargelegt wurde, kompatibel ist, zumal der Begriff ,—iloso—ßa‘ in den Nomoi 337 Nomoi 714a 2. Vgl. auch Nomoi 835e 4–5, wo von der Vernunft gesagt wird, dass sie zum Gesetz zu werden strebt. 338 Nomoi 715d 3–6. Der Ausdruck ,Diener des Gesetzes‘ findet sich auch bei Aristoteles (Politik 1287a 19–22): „Und aus eben diesem Grunde müssen auch, falls es besser ist, dass mehrere herrschen, diese nicht anders denn als Wächter und Diener des Gesetzes (nomo—ýlakaò kaÍ phrÝtaò toi=ò nümoiò) bestellt werden.“ Morrow macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Idee der Gesetzeshüter keine Erfindung Platons ist: „The title and the institution of nomo—ýlakeò were not invented by Plato. Nomo—ýlakeò existed in a number of greek states in his day, and the office became more common in the century after his death.“ G. R. Morrow, ,Plato and the Rule of Law‘, in: Philosophical Review 2 (1941), S. 107, Fn. 7.

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§ 4 Freiheit und Versklavung von Individuen und Gesellschaften

kein einziges Mal verwendet wird.339 Zwar wird von der dialektischen Methode im Dialog reichlich Gebrauch gemacht, doch beschränkt sich die Beschreibung der philosophischen Wissenschaft sowie die diesbezügliche Ausbildung der Mitglieder der nächtlichen Versammlung auf wenige Seiten am Ende von Buch XII.340 Statt dessen finden sich, insbesondere in Buch X der Nomoi, eingehende Darlegungen zur Theologie und Kosmologie, durch welche die Gesetze immer wieder ihre Begründung und Rechtfertigung erhalten. Die Erwähnung des Gottes verweist aber stets auf das ordnungsstiftende Prinzip des kosmischen nou= ò als Grundlage jeglicher Gesetzlichkeit und setzt damit das im platonischen Sinne Gute voraus, welches als Idee nur durch die philosophische Methode erfasst werden kann. Die Herrschaft des Gesetzes kann also nur mit Hilfe der Philosophie vermittelt werden und der Herrscher als Gesetzgeber ist ebenso Sklave des Gesetzes, wie er als Philosoph nur der Wahrheit verpflichtet ist. Die höchste politische Tugend und somit die beste Qualifikation zur Ausübung eines öffentlichen Amtes besteht demnach im bedingungslosen Gehorsam diesen Gesetzen gegenüber.341 Gleichwohl war sich Platon bewusst, dass die Machtfülle, mit der er den Philosophenherrscher ausstattet, diesen zwangsläufig korrumpierbar macht: „Selbst wenn sich wirklich jemand die Erkenntnis [. . .] in seiner Kunst voll zu eigen gemacht hat, er aber hernach frei von jeder Verantwortung und aus eigener Macht über einen Staat herrscht, so wird er wohl niemals die Kraft haben, diesem Grundsatz treu zu bleiben und sein ganzes Leben hindurch an erster Stelle das Gemeinwohl im Staat zu fördern, das eigene Interesse aber erst im Anschluss an das Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Cretan City, Princeton 1960, S. 573. Vgl. Nomoi 963a 1–968b 2. Detaillierte Anleitungen finden sich dafür zur Kindererziehung, wie sie im Paideia-Kapitel der vorliegenden Arbeit beschrieben wurden. Edelstein bemerkt hierzu: „Much as he [Plato] is concerned in the Laws with outlining a curriculum for school children, he avoids setting forth the subjects to be studied by the future philosopher, or ,regulations either for the length of time to be given to the single subjects or for the order in which they shall be taken up‘ (968d). The dialogues investigate problems, but are sparing of conclusions. Rather than laying down a dogma, they call for further search. To be sure, they show a ,way of life‘. But it is one of individual responsibility and self-reliance for him who wishes to find the truth.“ (L. Edelstein, a. a. O., S. 162–163). Diese von den Nomoi ausgehende Generalisierung übersieht freilich die ausführliche Darstellung der Philosophenausbildung in der Politeia. Ich schließe mich daher Morrow an, der die unterschiedliche Gewichtung in Platons beiden großen Verfassungsentwürfen folgendermaßen erklärt: „It is at first sight surprising that these preliminary sciences, as well as the other elements of this higher education just mentioned, are treated so briefly in the Laws in comparison with the lengthy discussion of them in the Republic. But Plato’s advanced age gave him no time for repeating himself here, even if that had been desirable; instead he gives attention to inquiries not mentioned in the Republic – cosmology and theology – and emphasizes certain doctrines that he had apparently seen clearly only after writing the earlier work.“ G. R. Morrow, Plato’s Cretan City, Princeton 1960, S. 574. 341 Vgl. Nomoi 715c 2–4. 339 340

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Gemeinwohl. Sondern seine sterbliche Natur wird ihn stets zur Selbstsucht und zur Befriedigung seiner persönlichen Interessen antreiben, weil sie unvernünftigerweise vor dem Schmerz flieht und der Lust nachjagt.“342

Auch der Sklave des Gesetzes ist also in letzter Instanz nicht davor gefeit, Sklave seiner eigenen Begehrlichkeiten zu werden, zumal eine derartige Machtposition alle Möglichkeiten dazu eröffnete. Der Machthaber der Legislative und der Herrscher der Exekutive dürfen somit nicht in einer Person zusammenfallen; und beide Aufgaben werden von Platon als völlig verschiedene Tätigkeitsbereiche definiert, welche unterschiedliche Qualifikationen erfordern: „Wie es nun bei einem Gewebe [. . .] nicht möglich ist, Einschlag und Kette aus denselben Fäden zu fertigen, sondern notwendig das Material der Kette durch seine Vorzüglichkeit hervorragen muss – stark soll es nämlich sein und eine gewisse Festigkeit in seinem Wesen besitzen, während das andere weicher sein und eine angemessene Nachgiebigkeit aufweisen muss –, deshalb muss man entsprechend jeweils diejenigen, die in den Staaten Regierungsämter bekleiden sollen, auf dieselbe Weise von denen scheiden, die nur durch eine geringe Erziehung erprobt worden sind. Denn es gibt doch zwei Seiten der Staatsverwaltung: einmal die Einsetzung von Beamten für die einzelnen Aufgaben (˜rxai=ò), dann die Gesetze, die diesen Beamten zugewiesen werden.“343

Regieren (årxein) unterscheidet sich demnach wesentlich vom Gesetze geben (nomoqetei=n) und erfordert eine geringere Ausbildung als dieses. Beide Ämter können nicht von der gleichen Person ausgeübt werden, denn der Gesetzgeber wäre als Regierender nicht mehr unabhängig von seinen Eigeninteressen, wohingegen der Regierende als Gesetzgeber nicht die notwendige Qualifikation mitbrächte.344 Neben der Trennung von Legislative, welche in den NoNomoi 875b 3–14. Vgl. auch 691c 7–d 5. Nomoi 734e 6–735a 7. Die gleiche Unterteilung findet sich nochmals in 751a 4–b 3. Ebenso unterscheidet Aristoteles Verfassung von Gesetzgebung (Politik 1289a 15–22): „Die Verfassung ist jene Ordnung für die Staaten, die sich auf die Magistraturen bezieht, die Art ihrer Verteilung regelt und bestimmt, welches der herrschende Faktor im Staat und welches das Ziel der jeweiligen politischen Gemeinschaft ist; die Gesetze aber sind es, die, gesondert von jenen Verfassungsbestimmungen, die Norm abgeben, nach der die Regierenden regieren und den Übertretern wehren sollen.“ Gemäß dieser Definition ist auch Aristoteles’ Kommentar zu den Nomoi (Politik 1265a 2–4) zu verstehen: „Von den GESETZEN aber enthält der größte Teil eben nur Gesetze, und von der Staatsverfassung (politeßa) hat er nur wenig gesagt.“ Die Webkunst als Bild für den gerechten Polisaufbau wird ausführlicher im Dialog Politikos 305e ff. beschrieben. Siehe hierzu auch § 3, Kapitel II.1. ,Kriterien des Herrschens‘ der vorliegenden Arbeit. 344 Dass Gesetzgebung keine primäre Aufgabe der Regierenden ist, zeigt sich auch in der Auslassung dieses Themas in Aristoteles Beschreibung der Athener Verfassung. Hierzu schreibt Morrow in ,Plato and the Rule of Law‘, in: Philosophical Review 2 (1941), S. 125: „It is a striking fact that in Aristotle’s description of the constitution of Athens, otherwise so detailed, there is not a single sentence concerned with legislation, and but little more in the Politics. There could be no better evidence that legislation was not generally recognized as one of the formal functions of government, at least in the circles to which Aristotle and Plato belonged.“ 342 343

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moi dem nächtlichen Rat obliegt, und Exekutive, die durch eine Vielzahl von Gesetzeshütern in den einzelnen Bereichen gewährleistet ist, sind die Wächter, sofern sie richterliche Aufgaben wahrnehmen, sich gegenseitig Rechenschaft schuldig, womit auch eine Trennung von Exekutive und Judikative stattfindet.345 Die Herrschaft des Gesetzes als ,Verteilung der Vernunft‘ durchzieht damit alle Ebenen der Gesellschaft, ohne dass sie durch den Vorgang ihrer Anwendung in Mitleidenschaft gezogen würde. Im Gegensatz zur heutigen Idee der Gesetzgebung als eines steten Anpassungsprozesses zwischen der grundgesetzlichen Verfasstheit und den gesellschaftlichen Erfordernissen muss sich der platonische Bürger immer wieder an das Gesetz anpassen „and all the forces of art, religion and education are directed to this end“.346 Der kosmische nou= ò und die von ihm abgeleiteten politischen Gesetze sind, nach Platon, unveränderlich und diesbezügliche Änderungen sind im Gesetzeswerk der Nomoi nur als seltene Ausnahmen und in einer sehr vagen Form vorgesehen. Sind die Gesetzgeber ,Sklaven des Gesetzes‘, so sind auch alle Menschen in der Polis unauflöslich an dieses Gesetz gebunden. Eine nähere Bestimmung dieser Gesetze verbunden mit einer Definition für Sklaverei findet sich im achten platonischen Brief. Ähnlich, wie in den Nomoi anhand der Beispiele von Persien und Athen ein Übermaß sowohl an Knechtschaft wie an Freiheit als schädlich für die Polisgemeinschaft dargelegt wurde,347 beschreibt der Verfasser des Briefes nun entsprechende Zustände in der Geschichte von Syrakus und kommt zu der Schlussfolgerung: „Abhängigkeit (douleßa) und Freiheit (™leuqerßa) im Übermaß sind beide sehr schlecht, im rechten Maß sehr gut. Maßvoll ist die Abhängigkeit (douleßa) gegen-

345 Vgl. Nomoi 761e 5–6: „Kein Richter aber und kein Beamter soll richten und sein Amt ausüben, ohne rechenschaftspflichtig zu sein.“ Obgleich die Trennung von Legislative, Judikative und Exekutive heute zu den allgemeinen Errungenschaften demokratischer Staaten gehört, geht Platons Rechenschaftspflicht der Richter über die moderne Praxis weit hinaus. Morrow (,Plato and the Rule of Law‘, a. a. O., S. 118) kommentiert die Stelle diesbezüglich folgendermaßen: „Judges may shake their heads at this proposal. For it makes the judge render judgment at his peril, and thus may incline him to consider personal consequences of his decision rather than the law and the facts of the case to be decided. On the other hand, it is probable that a similar objection might be raised on a priori grounds to the now familiar practice of holding officials liable to prosecution for their administrative acts; but in practice it does not seem to have had any serious effects upon the efficiency of administration. I confess to a secret fondness for Plato’s proposal, because it strikes at a defect in the administration of justice to which our Anglo-Saxon lawyers seem to be congenitally blind, viz. the abuse of judicial power. For the rule of law, as it has worked out in our legal institutions, means the rule of judges, and this kind of rule, like any other, can become tyranny unless properly safeguarded.“ 346 G. R. Morrow, ,Plato and the Rule of Law‘, in: Philosophical Review 2 (1941), S. 124. 347 Vgl. § 4, Kapitel III.1. der vorliegenden Arbeit.

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über Gott, maßlos gegenüber den Menschen. Gott aber ist für besonnene Menschen (˜nqrþpoiò sþ—rosin) das Gesetz (nümoò), für unbesonnene die Lust.“348

Des Weiteren heißt es, dass dies von Natur so sei. Auch das göttliche Gesetz konstituiert sich demnach aus einem ausgewogenen Verhältnis von Beschränkung und Unbegrenztheit, d. h. die natürliche Ordnung entfaltet sich frei im Rahmen allbestimmender Prinzipien, welche so entsprechend auch auf die Polis zu übertragen sind. Sklave dieses Gesetzes zu sein ist dem Menschen angemessen, wohingegen andere Abhängigkeitsverhältnisse von Platon abgelehnt werden. Wer allerdings nicht dem Gesetze hörig ist, begibt sich zwangsläufig in andere, unangemessene Abhängigkeiten, welche dann durch äußeren Zwang neutralisiert werden müssen, um die natürliche Ordnung innerhalb der Polis wieder herzustellen. Hierzu dient eine Rangordnung, welche „unter den dreien, Seele, Körper und Besitz, die Vollkommenheit der Seele als die wertvollste [ansetzt], an zweite Stelle die des Körpers, die der Seele nachsteht, an dritte und letzte den Wert des Besitzes, der Körper und Seele untertan (douleýousan) zu sein hat.“349

Die Vervollkommnung der Seele ergibt sich aus der Unterordnung unter die Gesetze, wie auch der kosmische nou= ò als Weltseele der Materie voransteht und diese erst hervorbringt. In der Anwendung dieser beiden Prinzipien – a) kein Übermaß an Freiheit oder Abhängigkeit zuzulassen und b) Besitz und Körper der Seele unterzuordnen – im politischen Bereich, ergibt sich eine Angleichung von Individualseele und Polisseele an die Weltseele, d. h. eine Übereinstimmung von menschlichem und kosmischem Gesetz, gewährleistet durch die Herrschaft der Sklaven des Gesetzes: „Jetzt also sollen die einen Freiheit unter königlicher Herrschaft erhalten, die anderen die verantwortliche königliche Herrschaft; doch dabei soll die letzte Macht über die anderen Bürger wie auch über die Könige selbst, falls sie etwas Gesetzwidriges tun, bei den Gesetzen liegen.“350

Die Maßnahmen dieser Gesetze haben konkret diesseitige Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Gesellschaft, doch ihre Autorität beziehen sie aus den grundlegenden jenseitigen Prinzipien der kosmischen Ordnung. In dieser Verknüpfung von Philosophie mit Politik und Religion liegt der wesentliche Un348 Achter Brief 354e 4–355a 2. Der achte Brief wird in der Platonforschung überwiegend als echt angesehen, wenngleich auch diesbezüglich noch nicht alle Zweifel ausgeräumt werden konnten. Vgl. hierzu L. Edelstein, a. a. O., S. 145–155. 349 Achter Brief 355b 2–6. Auch Edelstein kommt nicht darum herum, diese Rangordnung als echt platonisch zu bezeichnen (a. a. O., S. 150). 350 Achter Brief 355e 1–5. Der Verfasser des Briefes hält es für möglich, die syrakusische Tyrannei schrittweise in ein solches Königtum zu verwandeln. Dies widerspricht der im siebten Brief anvisierten kompletten Umwendung der Seele (periagüge), woraus u. a. für Edelstein folgt, dass die beiden Briefe nicht vom selben Autor stammen können (a. a. O., S. 149).

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terschied der platonischen Nomokratie zu demokratischen, theokratischen und allen anderen Verfassungsformen. Sandvoss bemerkt hierzu: „Die Gefahren dieser Art von Spekulationen liegen auf der Hand. In den Händen Unberufener bedarf es nur eines Schrittes, und es kommt zu Diskriminierung, Deportation und Massenmord. Was den modernen totalitären Machthabern abging und was sie zu Verbrechern statt zu Wohltätern der Menschheit machte, war das Fehlen echter religiöser Bindungen, wie wir sie bei Platon in jedem Stadium seines politischen Philosophierens beobachten können, die Bereitschaft, politischen Ehrgeiz und Machtstreben der Idee des Guten, nicht irgendwelchen ,Idealen‘ unterzuordnen, das Urteilsvermögen über wahr und unwahr, gesund und krank, heilsam und heillos, schließlich das unerlässliche Maß von Selbsterkenntnis und Verehrung der Seele, das sokratische Erbe Platons.“351

Abschließend sei noch ein Blick auf das Leben der einfachen Bürger in den Nomoi unter der Herrschaft des Gesetzes geworfen. Generell ist dem Bürger der platonischen Gesetzespolis jede Art von wirtschaftlicher Betätigung untersagt. Die landwirtschaftliche Produktion befindet sich ganz in den Händen von Sklaven und die handwerkliche Gütererzeugung obliegt den fremden Metoiken und deren Sklaven.352 Die daraus sich für den Bürger ergebende freie Zeit und Muße wird allerdings in ein Leben voll „rastloser Tätigkeit“ investiert, „das der Sorge für die allseitige Vollkommenheit des Leibes und der Seele gewidmet ist und mit vollem Recht als Leben bezeichnet werden kann. Denn hier darf keine sonstige Nebenbeschäftigung zum Hindernis werden, wenn es gilt, dem Leib die erforderlichen Anstrengungen und Nahrung und der Seele die erforderlichen Kenntnisse und Gewöhnungen zukommen zu lassen; sondern die ganze Nacht und der ganze Tag zusammen reichen fast nicht aus, wenn man sich eben dieser Aufgabe widmet, um daraus den vollkommenen und befriedigenden Nutzen zu ziehen.“353

Entsprechend ist es Pflicht für alle Freien, nachts „so lange wie möglich wach“ zu sein und morgens vor den Sklaven aufzustehen, „denn dass irgendein Bürger irgendeine Nacht ganz mit Schlafen zubringt und nicht dem ganzen Hausgesinde (oœkÝtaiò) zeigt, dass er stets als erster aufwacht und aufsteht, das muss von allen für schimpflich und eines Freien unwürdig erachtet werden.“354

351 E. Sandvoss, a. a. O., S. 100. Die Formulierung ,was sie zu Verbrechern statt zu Wohltätern der Menschheit machte‘ ist m. E. recht unglücklich gewählt, da aus einem Hitler oder Stalin auch mit ,echter religiöser Bindung‘ wohl kein Philanthrop oder gar Philosophenkönig im platonischen Sinne geworden wäre. 352 Vgl. Nomoi 806d 7–e 1 und 846d 1–4. Hier findet sich auch das Verbot, Sklaven von Bürgern im handwerklichen Bereich tätig werden zu lassen, da dies den Sinn der Freien auf wirtschaftliche Belange ablenken könnte. 353 Nomoi 807c 9–d 6. 354 Nomoi 807e 7–808a 2.

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Neben der oben beschriebenen tätigkeitsintensiven Pflege von Leib und Seele müssen die freien Bürger und Bürgerinnen auch noch ihren organisatorischen Pflichten als Hausherrinnen und Herren nachkommen355, welche insbesondere in einer Überwachung der Sklavenarbeit bestehen und dahingehend von Platon wohl als eine praktische Übung zur Vervollkommnung der Seele begriffen worden sein dürfte. Letztendlich dienen all diese Aufgaben und Pflichten nur als Vorbereitung und Einübung in die eigentliche Berufung des Bürgers: „Denn ein Staatsbürger (polßthò) besitzt bereits einen Beruf, der ihn genug in Anspruch nimmt und viel Übung und viele Kenntnisse erfordert; er muss nämlich die allgemeine Ordnung des Staates erhalten und verwirklichen, was nicht als Nebenbeschäftigung betrieben werden darf.“356

Die Selbstvervollkommnung sowie die häuslichen und öffentlichen Pflichten sind damit den gleichen Prinzipien unterworfen, die auch für die Herrschaft der Polis gelten und von den kosmischen Gesetzen her abgeleitet sind. Wenngleich es den Bürgern auch nicht erlaubt ist, anderen als den soeben dargestellten Beschäftigungen nachzugehen, finden sich in den Nomoi doch erstaunlich viele Anweisungen, die sich an die Herren in ihren Funktionen als beispielsweise Landwirte, Imker oder Hirten richten.357 Dies wäre noch damit zu erklären, dass die hauswirtschaftlichen Pflichten auf einem Landgut ein profundes anordnendes Wissen erfordern, um die Ordnung des Gesetzes auch im Detail zu gewährleisten. Nichtsdestoweniger ergibt sich hieraus ein zusätzlicher Zeitaufwand, der anscheinend hauptsächlich den weniger wohlhabenden Teil der Bürgerschaft betrifft, da dieser, aus eben diesem Grunde von der Pflicht zum regelmäßigen Besuch der Volksversammlung entbunden ist.358 Wir stoßen hier an die Grenzen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der platonischen Gesetzespolis, durch welche einzelne Bürger weniger an der Herrschaft der Gesetze teilhaben als andere. Gleichwohl gibt es unterschiedliche Grade von Sklaverei und damit Partizipation an der Herrschaft im Gesetzeswerk der Nomoi. Vgl. Nomoi 808b 1–4. Nomoi 846d 4–8. 357 Vgl. Nomoi 842d 1–e 6 und ff. Dass es sich hier um Gesetze für die Bürger und nicht deren Sklaven handelt, geht nach Morrow u. a. schon daraus hervor, dass diesbezügliche Vergehen mit Geldstrafen und nicht mit Geißelhieben geahndet werden. Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 22, Fn. 17. 358 Vgl. Nomoi 764a 5–b 1. J. Bisinger, Der Agrarstaat in Platons Gesetzen, Klio Beiheft 17, Leipzig 1925, S. 83, nimmt an, dass einem früheren Plan Platons zufolge ein Teil der Bürgerschaft selbst ihre Landgüter zu bewirtschaften hatte. Morrow (a. a. O., S. 22) vermutet, dass Platon klar die wirtschaftliche Unmöglichkeit erkannt hat, dass alle Bürger ein Leben der reinen Muße führen, wohingegen H. Klees, Herren und Sklaven, Wiesbaden 1975, S. 145, hierin eine unauflösliche Diskrepanz zu 806d ff. sieht. In der Tat scheint mir hier Platons Ideal von der Herrschaft der Gesetze mit einem wirtschaftlichen Pragmatismus zu kollidieren, der leicht in die von Platon abgelehnte Verfassungsform der Oligarchie führen könnte. Das Grundproblem besteht hierbei für Platon darin, die Zahl der Sklaven in einem gewissen Rahmen zu halten und dennoch den freien Bürgern ein Leben der politischen Muße zu ermöglichen. 355 356

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Angefangen bei den Sklaven des Gesetzes, die neben diesem keine weiteren Herren über sich haben, finden sich auf den anderen Ebenen sowohl Formen gegenseitiger Überwachung wie auch hierarchischer Kontrolle.359 Die Teilhabe an der kosmischen Vernunft, wie sie in den politischen Gesetzen vorgegeben ist, reicht aktiv nur so weit, wie sie innerlich-psychisch bereits ausentwickelt ist. Wo dies nicht mehr der Fall ist, wird sie von außen kommend, d. h. fremdbestimmt durch die sich in ihrem Besitz Befindlichen, auferlegt, da nur so gewährleistet ist, dass die gesamte Gemeinschaft einheitlich diesem Prinzip verbunden ist und ausnahmslos einig diesem folgt. Alle Bürger werden somit zu Sklaven des Gesetzes, sei es unmittelbar aus eigener Kraft oder vermittelt durch äußeren Zwang. In den Nomoi beschreibt Platon als Experiment, was bereits als Programm in der Politeia folgendermaßen formuliert war: „Sollen wir nun nicht sagen, damit doch auch ein solcher von demselben beherrscht werde wie der Trefflichste, müsse er der Knecht (dou= lon) jenes Trefflichsten, welcher das Göttliche herrschend in sich hat, werden? Keineswegs jedoch in der Meinung, der Knecht solle zu seinem eigenen Schaden beherrscht werden [. . .]; sondern dass es beiden das beste sei von dem Göttlichen und Verständigen beherrscht zu werden, am liebsten zwar so, dass jeder es als sein eigenes in sich selbst habe, wenn aber nicht, dann dass es ihm von außen gebiete, damit wir alle als von demselben beherrscht auch nach Vermögen einander insgesamt ähnlich seien und befreundet.“360

Platons Grundstruktur des Polisaufbaus besteht in einem subtilen Verhältnis von begrenzten Freiheiten und nach Möglichkeit freiwilligen Abhängigkeiten. Der platonische Bürger soll nahezu völlig auf seine, im modernen Sinne, persönliche Freiheit verzichten (man beachte das Reiseverbot!361), um sich von seinen seelischen Abhängigkeiten zu lösen und seinem logistikÎn die freie Herrschaft zu ermöglichen. Diese besteht aber wiederum in der freiwilligen Unterwerfung unter die königlichen Gesetze, die in größerem Maßstab auch die Gesetze der Polis und des Kosmos sind und ihn so zur Teilhabe an diesen so weit wie möglich durch sich selbst ermächtigen, bzw. stellvertretend durch die ,Sklaven des Gesetzes‘ dazu ermächtigt zu werden. 4. Zusammenfassung Platon unterscheidet zwei Formen reiner Herrschaft, für welche beispielhaft die persische Monarchie und die athenische Demokratie stehen. Ursprünglich bestand, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, in beiden Reichen ein 359 So gesehen stellt sich bezüglich der eingeschränkten politischen Partizipation der ärmeren Bürger lediglich die Frage, inwieweit die Wohlhabenheit der beiden oberen Vermögensklassen mit ihren hervorragenden Tugenden zusammenhängt. 360 Politeia 590c 8–d 8. 361 Nomoi 742b 4–6.

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maßvolles Verhältnis von Freiheit und Knechtschaft, das sich als freiheitliche Toleranz im Rahmen monarchisch-autoritativer Führung in Persien bzw. in bürgerlicher Selbstbestimmung unter absoluter Respektierung der solonischen Gesetze in Athen manifestierte. Die historisch darauf folgende Vereinseitigung beider Herrschaftsformen führte jedoch zu deren Untergang. Aus Persien wird unter restriktiv-autoritärer Führung ein Reich von Unterdrückten und Sklaven, welches nicht mehr auf die Solidarität und Ergebenheit seiner Bevölkerung rechnen kann, wohingegen Athen zunehmend in der Anarchie versinkt, die aus der Verabsolutierung eines egalitären Freiheitsanspruches erwächst, wodurch sich niemand mehr an irgendwelche Gesetze gebunden fühlt. Diese Entwicklungen widersprechen der kosmisch vorgegebenen, natürlichen Seelenordnung. Die persische Despotie unterdrückt und erstickt die Psyche und insbesondere ihr logistikÎn als Ganzes und versklavt so unterschiedslos alle Menschen, wogegen die missverstandene Freiheit der athenischen Demokratie lediglich dem begehrlichen Seelenteil zur Herrschaft verhilft, unter Ausschaltung aller Vernunft und die Menschen, nach der platonischen Definition, zu Sklaven ihrer selbst macht. Eine an dem Guten orientierte politische Ordnung impliziert für Platon immer auch eine Unterordnung, die aber nicht mit Unterdrückung gleichzusetzen ist. Unfreiheit entsteht demnach aus despotischer Unterdrückung von Freiheit, aber auch aus einer Verabsolutierung des Freiheitsgedankens, der so in Tyrannei umschlägt. Aus diesem Grunde favorisiert Platon die Mischverfassungen Kretas und Spartas, da, ihm zufolge, in diesen Gesellschaften ein ausgewogenes Maß von Freiheit und Unterordnung gegeben war. Die Freiheit des Individuums entfaltet sich in einer solchen Mischverfassung im Rahmen und in den Grenzen eines gemeinschaftlichen höheren Ziels, woraus sich für das Individuum bezüglich seiner Ausrichtung und Ermächtigung auf dieses Ziel hin unterschiedliche Grade von Freiheit und Knechtschaft bzw. Unterordnung ergeben. An den bestehenden Mischverfassungen seiner Zeit, insbesondere an Sparta aber, kritisiert Platon, die Begrenzung ihrer Ziele auf den muthaften Seelenteil, d. h. auf Ehre und Sieg im Krieg, unter völliger Vernachlässigung des logistikÎn. Erscheint uns Platon in seinen Dialogen auch oft als Freund der spartanischen Institutionen und Gesetzgebung, dürfen wir dennoch nicht übersehen, dass seine politische Philosophie eine ganz andere Zielrichtung im Auge hat. Völlig indiskutabel sind für Platon alle so genannten Verfassungsformen, die kein anderes Ziel als die Machterhaltung der jeweils in ihr herrschenden Klasse verfolgen. Diese begegnen uns als Typologie im Dialog Politeia in der Verfallsreihe der Herrschaftsformen, welche ebenso eine psychopathologische Darstellung der in ihnen lebenden Bürger enthält und damit eine Entwicklungsgeschichte der Sklaverei im existentiellen wie im politischen Sinne entfaltet. Die einzelnen Systeme unterscheiden sich hierbei lediglich in einer stufenweisen Verlagerung der Seelendisposition vom logistikÎn hin zum ™piqumhtikün. In

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einer Timokratie wie Sparta ist die Ehre und der Sieg im Krieg Ziel allen Handelns, d. h. das Begehren nach gesellschaftlicher Anerkennung erringt als Begierde des ™piqumhtikün in der Seele die Herrschaft über das logistikÎn, welche sich alsbald auf das Streben nach Reichtum und materiellen Werten ausdehnt und entsprechend zu einer Oligarchie führt. In der Demokratie hat sich dieses Streben im Volk dann verallgemeinert und führt durch die sich nun ausbreitende Gesetzlosigkeit geradewegs in die Tyrannei als politischem Ausdruck der Diktatur der Begierden und der Herrschaft des ™piqumhtikün in den Seelen der Einzelnen. Der Typus des Tyrannen stellt den Sklaven in Reinform dar, der losgelöst von der natürlichen Seelenordnung seinem eigenen Wesen stets zuwiderhandelt und sich somit selbst den größten Schaden zufügt. In der Tyrannei manifestiert sich somit die Sklaverei, welche sich als Herrschaft des ™piqumhtikün über das logistikÎn in der Seele der Individuen bereits existentiell absolut vollzogen hat, nun auch funktional-politisch. Die Errichtung einer gerechten politischen Ordnung hängt maßgeblich vom Ziel der letztendlichen Ausrichtung des individuellen wie politischen Handelns ab. Dieses kann für Platon nur in einer Imitation der kosmischen Ordnung bestehen, die als allwaltendes Gesetz von den Philosophen als das Gute erkannt und in entsprechenden Gesetzen politisch umgesetzt wird. In ihrer bedingungslosen Ausrichtung auf das kosmologische wie gesellschaftliche Gute sind diese Herrscher Sklaven des Gesetzes. Wie die Seele des Sklaven zur Gänze vom ™piqumhtikün beherrscht wird, so waltet in der Psyche der Herrscher eine höhere Vernunft, der kosmische nou= ò, eben das Gesetz, über ihr individuelles logistikÎn. Ihre persönliche Freiheit ist damit nur der natürlichen Ordnung des Kosmos unterworfen und verpflichtet, wohingegen der gemeine Sklave nur durch äußeren Zwang an dieser Ordnung teilhaben kann, welche auf diese Weise alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht, die so von der Verteilung der Vernunft profitieren. Institutionell wird die Unabhängigkeit des Gesetzes von eventuellen Eigeninteressen der Gesetzgeber durch eine strikte Gewaltenteilung von Legislative, Judikative und Exekutive gewährleistet. Der platonische Bürger wie der ihm übergeordnete Herrscher widmen sich, gemäß der Idiopragieformel jeder in seinem ihm angemessenen Bereich so ganz der Vervollkommnung ihrer Seelen durch diesbezüglich unterschiedliche Tätigkeiten in Haus und Polis. Als letztes Glied in der Kette trägt so auch der Sklave zum Gelingen der Herrschaft des Gesetzes in der Gesellschaft bei und ist demnach indirekt in seiner Funktion als Sklave seines Herrn auch Sklave des Gesetzes.

§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht I. Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen Waren die Sklaven in der Politeia noch nicht Gegenstand des Gesellschaftsentwurfes, so erachtet es Platon in seinem Spätwerk, den Nomoi, doch für nötig, sie in seine detaillierte Gesetzgebung ausführlich mit einzubeziehen. Die schiere Zugehörigkeit des Sklaven zum Haushalt, von der die Politeia ausging, erhält in den Nomoi eine politische Dimension, da Platon nun erkennt, dass auch Sklaven Einfluss auf die öffentliche Meinung haben können1 und nicht zuletzt auch, weil das Verhältnis von Herr und Sklave in Analogie steht zu dem von Herrscher und Beherrschtem. Die Gesetze der Nomoi, welche sich auf Sklaven beziehen, richten sich an diese zumeist in ihrer Stellung als Privatbesitz der Herren. Öffentliche Sklaven, die direkt der Stadt unterstellt sind, wie es sie im damaligen Athen gab, scheinen in den Nomoi nicht oder nur in sehr begrenztem Umfange vorzukommen.2 Ebenso schließt Platon eine andere athenische Institution für seine Gesetzespolis aus, die es manchen Sklaven erlaubte, unabhängig von ihren Herren ein Handwerk auszuüben und dieses Privileg durch eine festgesetzte Abgabe an ihre Besitzer zu begleichen. In den Nomoi ist den Sklaven von Bürgern eine Tätigkeit im handwerklichen Bereich generell verboten, da die Herren dadurch von ihren 1 Nomoi 838d 4–e 1. Dem Gesetzgeber wird hier ausdrücklich angeraten auf die öffentliche Meinung aller Bevölkerungsgruppen zu Gunsten des Gesetzes einzuwirken. Die Aufzählung enthält neben Sklaven und Freien (doýloiò te kaÍ ™leuqÝroiò) auch Frauen und Kinder. 2 Die bewusste Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Sklaven wird von Platon an keiner Stelle vorgenommen. In 794c 1 ist von ,Dienern des Staates (th= ò pülewò oœketw= n)‘ die Rede, welche unter Aufsicht einer Beamtin Kinder züchtigen können. Ein ähnlicher Fall, dass Sklaven Freie auf Befehl eines Beamten hin schlagen dürfen, findet in 882b 3–4 Erwähnung. Im Übrigen besteht die Möglichkeit, Sklaven zu öffentlichen Arbeiten heranzuziehen (760e 9–761a 3), wobei aber betont wird, dass diese Zeiten so zu wählen sind, ,wo diese von ihren eigenen Arbeiten frei sind‘. Ein letzter von Platon erwähnter Sonderfall betrifft inhaftierte ,Gottesfrevler‘, denen jeglicher Kontakt mit Freien untersagt ist und die ihr Essen ,aus den Händen von Sklaven (oœketw= n) erhalten‘ sollen (909c 1–3). Diese einzig in Frage kommenden Textstellen lassen den Schluss zu, dass Sklaven für öffentliche Aufgaben von Privatpersonen geliehen werden sollten oder aber nur in sehr geringer Zahl der platonischen Gesetzespolis zur Verfügung stünden.

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

politischen Aufgaben abgelenkt werden könnten.3 Ähnlich wie in Sparta fallen in der platonischen Polis alle landwirtschaftlichen Aufgaben der abhängigen Bevölkerungsschicht zu,4 doch während es sich bei den spartanischen Heloten um zwar an ihre Felder gebundene, im Übrigen aber relativ frei wirtschaftende Leibeigene handelt, ist der Sklave der Nomoi bei der Zuteilung der von ihm bewirtschafteten Güter vollkommen auf seinen Herrn angewiesen.5 Generell ist zu sagen, dass eine rechtliche Unterscheidung zwischen Haussklaven und Sklaven in der Landwirtschaft von Platon nicht getroffen wird. Dies entspricht, im Gegensatz zu Sparta, den athenischen Gesetzen des 5. Jahrhunderts; handelt es sich dort jedoch um ein Erbe der solonischen Abschaffung der Leibeigenschaft, ist Platons Intention hierbei und bezüglich der anderen erwähnten Fälle, die bestmögliche und unmittelbarste Aufsicht des Herrn über seine Sklaven zu gewährleisten. Dem platonischen Sklaven sind damit die kleinen Freiräume entzogen, die das attische und selbst das lakedaimonische Gesetz den Unfreien einräumte. Gleichwohl setzt Platon hier in der Praxis nur konsequent um, was in seiner Theorie der Sklaverei bereits wesentlich vorgedacht ist. Die Überlegenheit des Freien gegenüber dem Unfreien gründet sich nicht primär auf eine gesetzliche Festlegung, sondern auf seine den vernünftigen Seelenteil betreffenden Fähigkeiten, die dem Sklaven so nicht gegeben sind und welche ihm nur durch Vermittlung eines Herrn zuteil werden. Ein mehr oder weniger unabhängig wirtschaftender Sklave dürfte dem zu Folge, nach Platon, gar kein Sklave sein oder wäre andernfalls mit seiner Aufgabe heillos überfordert. Rechtlich untersteht der Sklave der platonischen Gesetzespolis damit ganz der Autorität und dem Willen seines Herrn. Sein Stand entspricht dem einer fortdauernden Minderjährigkeit, weswegen sich in den Nomoi Gesetze finden, die den Sklaven und das Kind analog behandeln. Da auch das kindliche logistikÎn, wie das des Sklaven, nicht ausentwickelt ist, hilft, nach Platon, bei Verfehlungen kein vernünftiges Zureden, sondern jeder Freie ist berechtigt und verpflichtet, in solchen Fällen das Kind wie einen Sklaven körperlich zu züchtigen.6 Ebenso wie bei Sklaven gilt es aber auch hier das rechte Maß zu wahren, Nomoi 846d 1–7. Vgl. Nomoi 806d 7–e 3. 5 Vgl. Nomoi 847e 2–848c 5. Im Unterschied zu den Heloten scheint der platonische Sklave auch nicht auf ein bestimmtes Stück Land festgelegt gewesen zu sein, da sich nirgendwo in den Nomoi ein Gesetz findet, das den Verkauf landwirtschaftlicher Sklaven verbietet, wohingegen die Ländereien selbst unverkäuflich sind. Zusammen mit Platons Ratschlag, möglichst Sklaven unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen Muttersprachen zu beschäftigen (Nomoi 777d 1–2), zeigt sich in dieser Maßnahme sein Anliegen, unbedingt größere Gruppen einheitlicher Sklavenpopulationen zu vermeiden. Vgl. hierzu G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 20: „He was opposed [. . .] to any form of slavery which would involve the presence within the city’s boundaries of a large homogeneous subject population.“ 6 Nomoi 808e 5–7. 3 4

I. Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen

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„dass man nämlich nicht durch übermäßiges Strafen Zorn bei den Bestraften hervorrufen soll oder indem man sie ungestraft lässt, Verweichlichung, genau das muss man auch bei den Freien befolgen.“7

Des Weiteren findet sich im platonischen Gesetzeswerk die Analogie, dass ein Sklave, der einen Freien in Notwehr getötet hat, ebenso gerichtet werden soll wie jemand, der seinen Vater ums Leben bringt.8 Das Verhältnis des Sklaven zu seinem Herrn entspricht also dem des Kindes zum Vater, denn der Sklave als Person ist Teil des Haushaltes und somit Teil der Familie. Hierfür spricht auch, dass die ausführliche Passage über den Umgang mit Sklaven9 sich in den Nomoi im Kontext der Regeln zur Gründung einer Familie und den Anweisungen zur Einrichtung eines Hauswesens befindet. Der Herr als Familienoberhaupt ist somit für die Handlungen seiner Sklaven ebenso verantwortlich wie für die seiner Kinder und Ehefrau. Dies gilt bis zu einem gewissen Grade auch für deren moralische Entwicklung. So betont Platon in der erwähnten Textstelle bezüglich der Behandlung von Sklaven, dass es Aufgabe des Herrn ist, durch seine eigene Vorbildlichkeit als auch durch direkte Anweisungen „die Saat der Tugend auszustreuen“.10 Dem Sklaven wird also durchaus die Fähigkeit zugestanden, gewisse Tugenden wie Mut und Besonnenheit11 zu erkennen bzw. zu besitzen, wenngleich wohl auch nicht in dem Maße, wie dieses einem Freien zukommen kann und sicherlich unter Ausschluss der dem vernünftigen Seelenteil zugehörigen Tugend der Weisheit.12 Ob und wie weit diese Anlagen im Sklaven zur Entfaltung kommen, liegt dabei ganz in der Verantwortlichkeit seines Herrn. Unzweifelhaft ist jedoch, dass dem Sklaven im Rahmen der Anerkennung dieser Möglichkeiten der Status einer, wenn auch rudimentären, Person 7 Nomoi 793e 3–9. Platon selbst verweist hier auf die vorangegangene Stelle 777d 3 ff. über die entsprechende Behandlung von Sklaven. 8 Nomoi 869d 4–6. Vgl. auch Nomoi 877b 6–7. 9 Nomoi 776b 5–778a 5. Dass der Sklave als Mitglied der Familie betrachtet wird, entspricht auch seiner Stellung im damaligen Athen. 10 Nomoi 777e 1–4. Diese Meinung teilt auch Aristoteles in seiner Politik (1260b 2–5), wo es heißt: „Man sieht also, dass dem Sklaven zur Erlangung standesgemäßer Tugend sein Herr verhelfen muss und nicht der, der ihm mit einer Art Herrengewalt den Unterricht in seinen Dienstverrichtungen erteilt.“ S. a. im folgenden Kapitel ,Behandlung und Einsatz von Sklaven‘ Fn. 33. 11 Insbesondere auf diese beiden Eigenschaften scheint Platon anzuspielen, wenn er schreibt: „[. . .] denn schon viele Sklaven, die sich in jeglicher Tugend für manchen Besitzer besser bewährten als Brüder und Söhne, haben ihre Herren und deren Besitz und deren ganze Häuser gerettet.“ (Nomoi 776d 7–e1). Als weiterer Hinweis darauf, dass Platon die Fähigkeit, gewisse Tugenden zu erlangen, den Sklaven nicht abspricht, kann auch ihre Teilnahme an den Choraufführungen, die einen dezidiert erzieherischen Anspruch haben, genommen werden. Vgl. hierzu auch § 2, Kapitel II.1. ,Das logistikÎn des Sklaven‘ der vorliegenden Arbeit. 12 Die Minderwertigkeit der Tugend eines Sklaven gegenüber der eines Freien geht aus Politeia 430b 6–9 hervor, wo im Rahmen der Tapferkeit eine Tugend, die ohne Bildung zustande gekommen ist, als ,knechtisch (˜ndrapodþdh)‘ und nicht ,recht beständig‘ bezeichnet wird.

226

§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

zuteil wird, obwohl Platon den Unfreien keine gesetzlichen Mittel in die Hand gibt, die Förderung dieses Entfaltungspotentials als Recht einzufordern. Darüber hinaus gibt es für den platonischen Sklaven in fast jeder Hinsicht keinerlei rechtlichen Schutz vor eventuellen Ungerechtigkeiten seines Herrn, der in der Behandlung seiner ihm Untergebenen allein seinem moralischen Gewissen verpflichtet ist. Dies ist umso erstaunlicher, als Platon die Möglichkeit des Machtmissbrauches bei den philosophischen Herrschern, die sich prinzipiell nicht von den Vorstehern der Haushalte bzw. Herren der Sklaven unterscheiden13, sehr wohl bewusst war und diesbezüglich die Notwendigkeit sah, mit entsprechenden gesetzlichen Verfügungen dem entgegenzuwirken.14 Dieser Makel hat insbesondere Morrow zu massiver Kritik an der platonischen Sklavengesetzgebung bewogen.15 Man mag einen solchen Rechtsschutz für Sklaven zweifelsohne für berechtigt und gar notwendig halten, kann Platon aber nicht vorwerfen, sein eigenes Prinzip in diesem Falle vernachlässigt zu haben. Die Gesetze der Nomoi einschließlich der gesetzlichen Sanktionen bei Verletzungen moralischer Obligationen gelten nur im öffentlichen Bereich. Zwar hat das Individuum als Privatperson und als Familienoberhaupt an diesen Gesetzen Anteil, jedoch bleibt ihre Ausführung und Gerichtsbarkeit innerhalb des Haushaltes dessen Vorstand überlassen. Die Mitglieder der Familie – neben den Sklaven kommen auch Kindern keine juristischen Rechte in den Nomoi zu – haben nicht direkt an der Herrschaft des Gesetzes teil, sondern vermittelt über das logistikÎn ihrer Herrschaft bzw. Eltern. Der Herr des Hauswesens gilt, nach Platon, als für dieses Amt qualifiziert, weil er primär Herr seiner selbst ist und darin das kosmische Prinzip der politischen Gesetze in seine Familie trägt. In dieser Vermittlerfunktion würde ein Eingreifen öffentlicher Instanzen dessen sich in Einklang mit den Gesetzen befindliche Autorität zunichte machen. Dem Familienoberhaupt kommt damit eine größere Unabhängigkeit und Verantwortlichkeit zu, die nicht durch das defizitäre logistikÎn eines Sklaven hinterfragt werden kann und soll. Ein Sklave, der seinen Herrn verklagt, entspräche, der platonischen Seelenteilungslehre zufolge, dem ™piqumhtikün, welches Ansprüche an das logistikÎn stellte und damit die kosmische Ordnung umkehrte. Die Verweigerung Vgl. Politikos 258e 9–259c 5. Nomoi 875b 3–14 und 691c 7–d 5. S. a. § 4, Kapitel III.3. ,Sklaven des Gesetzes: Die Nomokratie als Garant des Guten‘ der vorliegenden Arbeit. 15 G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 43: „It is, of course the purpose of the institutions described in the Laws to train the citizens in the virtues that a ruler and householder must possess, and it might be said that if these institutions accomplish their end there will be no need of legislation. But the same observation could be made of any field in which legislation enters to correct the occasional offender upon whom the processes of moral education have not taken effect, and it hardly excuses Plato’s failure to do here what he did in so many other cases, viz. add the sanctions of law to the obligations of morality.“ Zusammenfassend heißt es später noch einmal: „Unfortunately Plato failed to make this application of his own principle.“ (ebd., S. 133). 13 14

I. Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen

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Platons, Sklaven mit juristischen Mitteln auszustatten, mag zwar aus heutiger Perspektive inhuman erscheinen, ist aber nur eine konsequente Auslegung des Prinzips von der Herrschaft der Vernunft innerhalb der Gesellschaft. Für den etwaigen Missbrauch dieser Macht, sofern dadurch die öffentliche Ordnung gestört würde – und dies könnte schon durch ein Verderben der Sitten gegeben sein – stellt das Strafrecht der Nomoi Mittel zur Verfügung, wo schon für weitaus geringere Vergehen dem Bürger mit der „größten Schmach“ gedroht wird.16 Der Herr ist solange für den Sklaven verantwortlich, wie dieser sich in seinem Besitz befindet. Zu dem rudimentären Personenstatus, der dem Sklaven als Teil der Familie zukommt, gesellt sich damit auch seine Funktion als Besitz des Herrn.17 Diese Doppelrolle des Sklaven als Person und Besitzstück zugleich macht nicht nur im platonischen, sondern auch im attischen Recht seine besondere gesellschaftliche Stellung aus und unterscheidet ihn dahingehend von einem ordentlichen Familienmitglied einerseits und einem Stück Vieh anderseits. So haftet der Herr zwar für seine Sklaven, wenn diese Schaden anrichten, jedoch nie unmittelbar als Person, sondern stets in seiner Rolle als Besitzer. Der Sklave trägt somit die Schuld für seine Vergehen selbst ab, sei es durch körperliche Züchtigung oder durch den materiellen Wert, den er repräsentiert. Schlägt er einen freien Mann, darf dieser ihn nach Belieben abstrafen, jedoch, wie Platon ausdrücklich betont, ohne seinem Herrn Schaden zuzufügen, d. h. den Sklaven durch Verletzungen in seiner Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen.18 Ist die durch den Sklaven erfolgte Beschädigung zu groß, um durch Hiebe oder Schläge vergolten zu werden, kann sein Herr den Schaden finanziell begleichen oder aber den Sklaven dem Geschädigten zu dessen freier Verfügung ausliefern. In diesem Falle ist der Herr aller Verantwortlichkeit für seinen Sklaven entledigt, verliert aber auch seine Besitzansprüche an diesem zu Gunsten des Geschädigten. Gleichzeitig trifft Platon hierbei Vorkehrungen, vorgetäuschten Schadensfällen vorzubeugen, die als Absprache zwischen Sklaven und Freiem

16 So beispielsweise Nomoi 809a 2. Denkbar wäre auch eine Degradierung (,Tadel und Ehrenentzug‘) des Bürgers, wie sie Platon für die Ausübung unangemessener Tätigkeiten (847a 3–b 2) vorsieht, dann im Sinne der Anklage von ,eine Tätigkeit unangemessen ausüben‘. Einem fremden Bewohner der Polis drohten bei derartigen Vergehen gar Geldbußen, Gefängnis und Ausweisung. Auch hier muss wieder betont werden, dass Platons Gesetzgebung und deren Grundlegung bezüglich Sklaven nur auf seine eigenen Gesellschaftsentwürfe anzuwenden sind. Im Dialog Gorgias (483b 1–4) ist die Rechtlosigkeit von Sklaven (˜ndrapüdou), sich gegenüber Unrecht juristisch zu erwehren, ein Punkt in der Argumentation des Kallikles, die sicherlich als Gegenentwurf zum sokratisch-platonischen Standpunkt verstanden werden kann. 17 Wie sehr der Sklave im antiken Griechenland als Besitzstück empfunden wurde, wird an der weit verbreiteten Praxis deutlich, angekauften Sklaven neue Namen zu geben. Platon spielt im Dialog Kratylos (384d 5) auf diese Sitte an als ein Beispiel für die Willkürlichkeit gewisser Benennungen. 18 Vgl. Nomoi 882a 2–c 2.

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

nur dessen illegalen Besitzerwechsel verfolgen.19 Die Gesetze der Nomoi räumen den Herren großzügig Verfügungsgewalt mit weit reichendem Rechtsschutz für ihr Besitzstück Sklave ein, wobei der Sklave als Person zwar für seine Taten mitverantwortlich gemacht werden kann, dies jedoch nur im Rahmen seiner Funktion als Eigentum. Gleichwohl gibt es in der platonischen Gesetzespolis durchaus auch Fälle, wo der Sklave im öffentlichen Leben juristisch als Person wahrgenommen wird. Ein erster Hinweis hierauf ist die in einigen Passagen beiläufig erwähnte Eigentumsfähigkeit von Sklaven. So erfahren wir, dass Sklaven Löhne erhalten (742a 4), dass sie von ihnen entdeckte betrügerische Waren als Belohnung behalten dürfen (917d 3–5) und dass sie mitunter zu Geldbußen verurteilt werden können (941d 4–942a 1). Der Begriff des Eigentums erfordert aber auch Gesetze zu dessen Schutz und hiervon schließt Platon die Sklaven ausdrücklich nicht aus: „Wenn von den Nachbarn oder von den sonstigen Mitbürgern einer einem andern Unrecht zufügt, ein Sklave oder ein Freier (dou= loò í ™leýqeroò)“, so soll diesem durch verschiedene Instanzen Recht gesprochen werden.20 Im Anschluss an diese Stelle wird besonders auf die Rechenschaftspflicht der Richter untereinander verwiesen, doch erfahren wir leider nichts über den interessanten Fall, wenn ein Sklave von seinem Herrn bestohlen wird und ob in diesem partikulären Falle das private Haushaltsrecht oder das öffentliche Zivilrecht wirksam wäre. Jedenfalls ist dem Sklaven bezüglich seines Eigentums ein Rechtsschutz gegeben, der ihm hinsichtlich seiner körperlichen Unversehrtheit verwehrt bleibt, es sei denn als Schadensersatzklage durch seinen Herrn, wodurch der Sklave wiederum von seinem Status als Rechtsperson zu einem Gegenstand der Verhandlung herabsinkt. Eine besondere Rolle kommt den Sklaven in der Gesetzespolis als Informanten zu, wenn die öffentliche Ordnung betroffen ist und ihre Aussagen zum Anlass für gesetzliche Verfolgungen werden. Ausdrücklich erwähnt Platon auch 19 Vgl. Nomoi 879a 2–9 und 936c 8–e 5. Der Fall, dass ein Sklave angestiftet durch oder auf Befehl von seinem Herrn einem Dritten Schaden zufügt, wird in den Nomoi nicht erwogen. Gleichwohl schließe ich mich dem Urteil Morrows an, dass eine solche Tat sicherlich auch für den Herrn des Sklaven Konsequenzen mit sich brächte: „That Plato would permit a master who had instigated his slave to a wrongful act to escape liability by merely surrendering his slave to the injured party is unthinkable, and without parallel, so far as we know, in either Greek or Roman law.“ G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 64. 20 Nomoi 761d 6–e 4. Eine solche Rechtsmöglichkeit nimmt Morrow zumindest auch für die auf eigene Verantwortung wirtschaftenden Sklaven im damaligen Athen an, auch wenn Platon im Gorgias (483b 1–5) das Gegenteil behauptet. „If Plato’s statement is not a rhetorical exaggeration, it must be taken as applying only to the slaves who were under the direct supervision of their masters, not to the dou= loi misqo-—orou= nteò“ (G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 75). Wie bereits aufgezeigt, gibt es in den Nomoi aber nur Sklaven, die unter der direkten Aufsicht ihrer Herren stehen.

I. Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen

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Sklaven in den Gesetzen, die dazu berufen sind, Straftaten aufzudecken, welche Gewalt gegen Eltern (881b ff.), die unrechtmäßige Aneignung von Schätzen (913b ff.), den Verkauf betrügerischer Waren (917c ff.) und Vernachlässigung der Eltern (932b ff.) zum Gegenstand haben. Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe von Vorschriften, wo Sklaven zwar nicht genannt, aber dennoch wohl mitgemeint sind.21 Das Informantentum war auch in anderen griechischen Poleis der damaligen Zeit geläufig, wurde jedoch nicht so ausgiebig und vielfältig angewendet, wie dies in den platonischen Gesetzen den Anschein hat. Hinzukommend hat Platon wahrscheinlich dieses System durch die Bestrafung für nicht erbrachte Informationen erweitert, da uns aus Athen nur Belohnungen für erfolgreiche Denunziationen bekannt sind. Dies hat insbesondere für den platonischen Sklaven weit reichende existentielle Konsequenzen. Für eine Mitteilung über unrechtmäßig gehobene Schätze kann der Sklave mit seiner Freilassung rechnen (und sein Herr mit einer Kompensation des Verlustes), wohingegen die Unterlassung einer solchen Information mit dem Tode bestraft wird. Die Grundlagen der platonischen Strafzumessungen bzw. Belohnungskriterien bleiben allerdings, insbesondere im Falle der Sklaven, oftmals rätselhaft. Ob beispielsweise die Aufdeckung eines Schatzraubes dem Sklaven eine Aufwertung seines logistikÎn attestiert, welche ihn zu einem selbstverantwortlichen Leben in Freiheit befähigt oder ob im anderen Falle die Unterlassung einer solchen Information ihn zu einem Unheilbaren stempelt und somit nur durch dessen Tod größerer Schaden von der Gemeinschaft abgewendet werden kann, muss als äußerst zweifelhaft gelten. Das Informantentum, welches in einer informellen Aussage bei den zuständigen Beamten besteht, ist zu unterscheiden von der Zeugenaussage vor Gericht. Letztere ist dem Sklaven nur in Mordfällen erlaubt: „Einer Sklavin, einem Sklaven und einem Kind (doýlh dÊ kaÍ doýlw kaÍ paidÍ) soll es nur bei Mordsachen gestattet sein, Zeugnis abzulegen und Fürsprache zu leisten, sofern der Betreffende einen zuverlässigen Bürgen dafür stellt, dass er bis zur Entscheidung der Sache am Ort bleibt für den Fall, dass Vorbehalte wegen falscher Zeugenaussage erhoben werden sollten.“22

Im Unterschied zur Rolle des Sklaven als Informant und Ermittlungsgehilfe erfordert die Zeugenaussage vor Gericht eine zuverlässige Einbindung in das gerichtliche Procedere, zu der unter anderem auch die Nachprüfbarkeit der AusVgl. z. B. Nomoi 742b ff., 745a ff., 907e ff., 910c ff. Nomoi 937a 8–b 6. An dieser Stelle sei bemerkt, dass die athenische Unsitte, Sklaven vor Gericht nur unter Folter aussagen zu lassen, von Platon an keiner Stelle erwähnt wird. Man könnte annehmen, dass er diese Verfahrensweise als selbstverständlich voraussetzt, doch spricht dagegen die von ihm erwähnte Möglichkeit von Vorbehalten gegen Zeugenaussagen. Im attischen Recht galt die Aussage unter Folter als unumstößliche Wahrheit. Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 80–81. 21 22

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

sage während der gesamten Verhandlungsdauer gehört. Diese zu garantieren soll Aufgabe der Bürgen sein, doch besteht die Gefahr, dass die Anforderungen des Gerichtes an den Sklaven mit denen seines Herrn kollidieren. Zwar heißt es an einer Stelle der Nomoi, dass niemand einen anderen mit Gewalt daran hindern soll, vor Gericht zu erscheinen, doch ergibt sich aus dem Strafmaß, dass das Urteil des Prozesses dann hinfällig sein soll, wenn es sich dabei um einen eigenen oder fremden Sklaven handelt. Hieran zeigt sich, dass nicht alle Fälle in gerechter Weise so abgehandelt werden können, zumal, wenn zu vermuten ist, dass der Sklave gegen seinen eigenen Herrn aussagen würde.23 Solcherlei Komplikationen mögen Platon dazu bewogen haben, Sklaven nur im schwerstwiegenden Gerichtsfall, dem Mord, als Zeugen zuzulassen. Auch lässt die weitaus striktere Bestrafung, die Aussage eines Freien vor Gericht verhindert zu haben, den Verdacht aufkommen, dass Sklaven als Zeugen weniger Bedeutung zugemessen wird als Freien. Dennoch dürfen wir die Möglichkeit einer Sklavenaussage vor Gericht in Mordfällen durchaus als Anerkennung seines Status als Rechtsperson werten. Dieser ist erstaunlicherweise auch dann gegeben, wenn sich der Sklave selbst des schwerstmöglichen Verbrechens schuldig macht und willentlich einen Freien tötet. Seine Schuld muss hierbei in einem Prozess festgestellt und das Urteil vom Gericht verkündet und durch öffentliche Henker vollstreckt werden.24 Es ist kaum anzunehmen, auch wenn es von Platon nicht explizit erwähnt wird, dass in weniger schweren Fällen, die ebenfalls für Sklaven die Todesstrafe vorsehen, dies dann ohne Gerichtsbeschluss geschehen sollte. Dem Leben des platonischen Sklaven wird also zweifelsohne ein gewisser Schutz durch das Gesetz zuteil, der ihn deutlich als Person des öffentlichen Rechts auszeichnet und ihn wesentlich von einem Besitzstück, wie beispielsweise einem Ochsen, unterscheidet. Dies zeigt sich auch an einer religiösen Vorschrift Platons, die tief verwurzelt im griechischen Glauben der Antike ist. Zwar drohen einem Freien, der einen Sklaven tötet, wenn überhaupt, nur geringe juristische Konsequenzen, jedoch muss er sich den gleichen rituellen Reinigungen unterziehen, als wenn er einen Freien umgebracht hätte.25 Solche An23 Nomoi 954e 4–955a 2. Zur Erörterung der einzelnen Fallbeispiele siehe G. R. Morrow, a. a. O., S. 77–79. 24 Nomoi 872b 4–c 2. 25 Nomoi 865d 3–6. In diesem Fallbeispiel spiegelt sich auch die Anklage des Euthyphron in Platons gleichnamigem Frühdialog wider. Dieser will seinen eigenen Vater verklagen, der einen Tagelöhner (pelÜthò), welcher wiederum einen Knecht (okketw= n) im Streit umgebracht hat, in der darauf folgenden Gefangenschaft erfrieren ließ und damit fahrlässig getötet hat. Als Mitwisser möchte sich Euthryphon durch die Klage vor Gericht ,reinigen‘. Der späte Platon der Nomoi nun würde einer solchen Anklage vor Gericht wohl nicht stattgeben, für das Motiv der Reinigung aber Verständnis zeigen, auch wenn das Mittel des Prozesses hierfür falsch gewählt ist. Die religiöse Reinigung ist kein Fall für die Gerichte, doch zeigt sich in diesem Anliegen die unklare Auffassung des Priesters Euthyphron vom Begriff der Frömmigkeit, welcher das Hauptthema dieses aporetischen Dialoges ist. Vgl. Euthyphron 3e 7–4e 2.

II. Behandlung und Einsatz von Sklaven

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weisungen galten weder bei Platon noch im damaligen Griechenland für das Töten von Tieren, wodurch die Person des Sklaven unbedingt als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt wurde, dessen Blut den Göttern ebenso viel bedeutete wie das eines Freien. Eine Missachtung der Reinigungsvorschriften würde in jedem Falle sowohl über die betroffene Familie, wie auch über die gesamte Gemeinschaft großes Unheil bringen. Obzwar Platon über die Religion der Sklaven in den Nomoi keine weiteren Aussagen macht, ist doch an diesem Beispiel erkennbar, dass dem Sklaven ebenfalls ein Status als religiöse Person zukommt. Es ist anzunehmen, dass die Unfreien in der Gesetzespolis ihre Kulte gleicherweise unbehelligt ausüben konnten wie im damaligen Athen. Allerdings erwähnt Platon nirgendwo eine so bedeutende Institution wie das seinerzeitige Tempelasyl, welches Sklaven erlaubte, dort vor grausamen Herren Schutz zu suchen. Da eine ausführlichere Stelle der Nomoi sich mit dem Problem entlaufener Sklaven auseinandersetzt,26 kann die Nichtnennung des Asyls für Sklaven in Tempeln, mit all seinen juristischen Implikationen, eigentlich nur dessen Abschaffung ex silentio bedeuten. Dem Sklaven der Nomoi kommt eine Rechtsstellung als Person zu, insoweit Platon ihm zutraut, in öffentlichen Angelegenheiten und bei Mord zwischen gesetzlich und ungesetzlich zu unterscheiden und für seine Taten diesbezüglich die Verantwortung zu übernehmen. Im privaten Bereich kann er zwar als Mitglied der Familie ebenfalls als Person angesehen werden, genießt jedoch keinerlei gesetzlichen Schutz außerhalb des Wohlwollens seines Herrn und dessen rechtlichen Möglichkeiten, den Sklaven als sein Eigentum zu schützen, was aber nicht unbedingt immer im Interesse des Sklaven als Person ist.

II. Behandlung und Einsatz von Sklaven Regeln für die Behandlung der Sklaven im Allgemeinen aufzustellen hält Platon für ein schwieriges Unterfangen, da der Sklavenseele Eigenschaften von gutmütig bis hinterlistig zuzuordnen sind, die individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sind: „Wir wissen, dass wir vermutlich alle zugeben, man müsse möglichst gutwillige und tüchtige Sklaven (doýlouò) besitzen; denn schon viele Sklaven (dou= loi), die sich in jeglicher Tugend für manchen Besitzer besser bewährten als Brüder und Söhne, haben ihre Herren und deren Besitz und deren ganze Häuser gerettet. Denn dies wird doch, wie wir wissen, von Sklaven (doýlwn) erzählt. – Gewiss. – Nicht aber auch das Gegenteil: dass an einer Sklavenseele (yuxh= ò doýlhò) nichts Gesundes ist und dass ein Mann mit Verstand dieser Sorte von Menschen niemals auch nur das geringste Vertrauen schenkt?“27 26 27

Nomoi 914 e 3–915c 7. Nomoi 776d 5–e 6.

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

Die große Verschiedenartigkeit der Sklavencharaktere macht es generell schwierig, zu einer übereinstimmenden Einschätzung über das Wesen des Sklaven zu kommen und daraus umfassende Prinzipien ihrer Behandlung abzuleiten. Gleichwohl lässt Platon keinen Zweifel daran, dass eben die spezifische Handhabung der Herren ihrer Sklaven einen prägenden Einfluss auf deren Wesen, Charakter und Benehmen ausübt: „Indem also darüber die einzelnen in ihren Ansichten auseinander gehen, haben die einen zu dem Geschlecht der Sklaven (gÝnei oœketw= n) überhaupt kein Vertrauen, sondern wie wenn es Tiere wären, machen sie durch Stachel und Peitsche die Seelen ihrer Knechte (tJò yuxJò tw= n oœketw= n) nicht nur dreimal, sondern vielmal sklavischer (˜llJ pollÜkiò ˜pergÜzontai doulÜò); die andern wiederum tun davon das genaue Gegenteil.“28

Unabhängig von den individuellen Anlagen des Sklaven kann ein misstrauischer und jähzorniger Herr diesen durch rigides und entwürdigendes Strafen völlig entpersonalisieren oder aber, im umgekehrten Falle kann ein zu gutmütiger Herr durch unangebrachte Milde und Nachsichtigkeit die Person des Sklaven immens aufwerten, ohne dass dafür eine Grundlage in der sklavischen Seele vorhanden wäre. Der Vielzahl von Sklavencharakteren und daraus folgenden Verhaltensweisen steht also eine ebenso große Anzahl von Herrenmentalitäten und entsprechenden Behandlungsmethoden gegenüber. Freilich verweist die hier dargelegte Psychologie der Herren auf Freie, die nicht eigentlich Herren ihrer selbst sind, sondern die sich ihren Gemütsbewegungen in unverantwortlicher Weise hingeben. Platon beschreibt hier also das von ihm beobachtete Verhalten der Herren seiner Zeit und nicht die Bürger seiner Gesetzespolis. Der Herr, der sich selbst nicht beherrschen kann, ist dem Sklaven wesentlich verwandt und somit weder berechtigt noch befähigt, über andere zu herrschen. Hierin liegt die eigentliche Wurzel und Schwierigkeit des Sklavenproblems: „Da das Tier ,Mensch‘ störrisch ist und in die unvermeidliche Unterscheidung, dass man nämlich in der Tat zwischen einem Sklaven (dou= lün) und einem Freien (™leýqeron) und Herrn (despüthn) zu unterscheiden hat, sich offenbar jetzt und künftig keineswegs fügen will, so ist dieses Besitzstück schwer zu behandeln.“29

Implizit scheint Platon in diesem Kontext hier auf die Schwierigkeit anzuspielen, bestehende Hierarchien einer Gesellschaft der gerechten kosmischen Ordnung anzupassen.30 Die nun folgenden Ratschläge zur Sklavenbehandlung Nomoi 777a 3–7. Nomoi 777b 4–c 1. 30 Hierin dürften sicherlich die größten praktischen Schwierigkeiten liegen, eine bestehende Gesellschaft gemäß den platonischen Prinzipien umzubauen. In Politeia 540e 6–541a 7 wird deswegen der Idealfall erwogen, eine solche Polis erst einmal nur mit Kindern unter zehn Jahren zu gründen. Andererseits zeigt sich in der Politeia die Gerechtigkeit als gegenseitige Anerkennung der Stände untereinander, wobei aber die entsprechende Erziehung hierzu schon vorausgesetzt wird (vgl. § 3, Kapitel II. ,Herrschaft und Tugend‘ der vorliegenden Arbeit). In den Nomoi wird dieses Problem nicht 28 29

II. Behandlung und Einsatz von Sklaven

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setzen voraus, dass diese Anpassung bereits stattgefunden hat und befähigte Herren über Sklaven herrschen, die aufgrund ihrer Seelendisposition im gerechten Gesellschaftsgefüge dessen bedürfen. Prinzipiell empfiehlt Platon, die ständigen Konflikte der Spartaner mit den messenischen Heloten vor Augen habend, dass die Sklaven eines Herrn „keine Landsleute sein und möglichst nicht dieselbe Sprache sprechen“ sollen.31 Die „unvermeidliche Unterscheidung“ zwischen Herren und Sklaven, sofern sie denn durch die entsprechenden Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Seelen gerechtfertigt ist, soll so nicht durch Aufstände erschüttert werden, die sich aus der gegenseitigen Aufstachelung des uneinsichtigen ™piqumhtikün der sich untereinander aufgrund gemeinsamer Herkunft solidarisierenden Sklaven ergeben. Die Vorkehrungen, welche so gegen die sprachlichen Fähigkeiten der Sklaven getroffen werden, verweisen damit durchaus auf ein ihnen innewohnendes, ernstzunehmendes logistikÎn, das aber gänzlich dem begehrenden Seelenteil unterworfen ist und deswegen besonderer Kontrolle bedarf. Hierzu zählen vor allem die Kommunikationstechniken, welche Platon den Herren gegenüber ihren Sklaven anrät: „Bestrafen muss man freilich, wenn das Recht es verlangt, auch die Sklaven (doýlouò) und darf sie nicht verwöhnen, indem man sie etwa wie Freie (™leuqÝrouò) bloß zurechtweist.“32

Die Rechtfertigung körperlicher Züchtigung von Sklaven bezieht Platon aus der besonderen Disposition des sklavischen logistikÎn. Einerseits würde eine bloße Zurechtweisung, die einem Freien einsichtig wäre, den Sklaven ,verwöhnen‘, d. h. ihn in seinem triebhaften Streben bestärken, andererseits wäre eine vernunftmäßige Erklärung seiner Verfehlung durch den Herrn dem Sklaven nicht verständlich, da die Ausrichtung seines Denkvermögens nicht auf die gute Ordnung, sondern die willkürlichen Gelüste seines ™piqumhtikün gerichtet ist. Lediglich der dem begehrlichen Seelenteil immanente Trieb, Schmerz und Unlust zu vermeiden, befähigt dann das diesem unterstellte logistikÎn, die Verfehlung einzusehen oder doch zumindest, das Verhalten des Sklaven in der vom Herrn gewünschten Weise umzustellen. Die Belehrung kann der vom Begehren dominierten Seele nicht durch die Vernunft zuteil werden, sondern nur durch eine an ihren Scheinbedürfnissen orientierten Konditionierung. Da die Seelenausrichtungen von Herr und Sklave gänzlich entgegengesetzt und damit unterschiedlichen Zielen und Normen unterworfen sind, ist, nach Platon, eine eindeutige und unmissverständliche Kommunikation zwischen beiden erforderlich: vertieft, da es sich hier um keine organische Gesellschaftsgenese, sondern um eine Polisneugründung handelt. 31 Nomoi 777d 1–3. 32 Nomoi 777e 5–6.

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

„Jedes an einen Sklaven (oœkÝtou) gerichtete Wort muss in der Regel ein Befehl sein. Scherzen darf man auf keinen Fall mit Sklaven (oœkÝtaiò), weder mit weiblichen noch mit männlichen; denn gerade durch ein solches Verhalten gegenüber Sklaven (doýlouò) pflegen viele Leute diese in recht unvernünftiger Weise zu verwöhnen und beiden Seiten das Leben schwerer zu machen: jenen, sich beherrschen zu lassen, und sich selbst, zu herrschen.“33

Der Umgang des Herrn mit seinen Sklaven, darf niemals einen Zweifel aufkommen lassen, wer von beiden zum Herrschen berechtigt und wer aufgrund seiner Seelendisposition notwendig zum Dienen verpflichtet ist. Das herrschende Prinzip muss in jeder Situation ersichtlich bleiben und darf sich nie, und sei es auch bloß scherzhaft, mit dem Sklavischen gemein machen. Die Grenze zwischen der herrschenden Ursache des gesellschaftlich durch den Herrn repräsentierten logistikÎn und der dienenden Notwendigkeit des im Sklaven verkörperten ™piqumhtikün bleibt so stets gewahrt und damit die kosmische Ordnung innerhalb der Gesellschaft garantiert. Ein diese Verhältnisse verschleierndes Verhalten von Seiten eines zu milde gestimmten, sich kollegial gebenden Herrn, würde die Eigenmächtigkeit des sklavischen ™piqumhtikün in unverhältnismäßiger Weise fördern und dessen Unterordnung unter das ihm durch seinen Herrn zuteil gewordene logistikÎn deutlich erschweren. Durch dieses sehr autoritär anmutende Verhältnis von Herr und Sklave ist aber auch gewährleistet, dass dem Sklaven eine gerechte Behandlung widerfährt. Die sich im Umgang mit den Sklaven deutlich zeigende Abgrenzung des logistikÎn vom ™piqumhtikün durch den Herrn kommt letztlich den Sklaven zu gute, indem der Herr „nicht irgendwie übermütig gegen seine Sklaven (oœkÝtaò) verfährt, sondern ihnen, wenn möglich, noch weniger ein Unrecht zufügt als den Gleichgestellten. Denn ob einer aus seinem inneren Wesen heraus und nicht bloß zum Schein das Recht ehrt und wirklich das Unrecht hasst, das zeigt sich ganz deutlich gegenüber solchen Menschen, bei denen es ihm ein leichtes wäre, ihnen Unrecht zu tun. Wer also in seinem Betragen und Verhalten gegenüber Sklaven (doýlwn) unbefleckt von Un-

33 Nomoi 777e 7–778a 4. Hiergegen wendet sich Aristoteles, Politik 1260b 5–9: „Darum reden die verkehrt, die den Sklaven des vernünftigen Zuspruchs berauben wollen und meinen, dass man ihnen nur befehlen müsse. Die Sklaven müssen vielmehr noch mehr ermahnt und vernünftig belehrt werden als die Kinder.“ Dem zugrunde liegt die Auffassung, dass der Herr dem Sklaven bei der Ausbildung seiner ihm ,standesgemäßen Tugend‘ behilflich zu sein hat. Diesen Anspruch hat auch Platon an den Herrn, jedoch genügen ihm hierzu die Mittel der Vorbildlichkeit und direkten Anweisungen, um die Tugend dem Sklaven durch Nachahmung einsichtig zu machen. Aristoteles, der den Sklaven zwar ebenfalls eine vorausschauende Vernunft abspricht (Politik 1252a 31–37), gesteht ihnen dennoch zu, die Vernunft anderer vernehmen zu können, auch wenn sie sie nicht selbst besitzen (Politik 1254b 20–24). Diese Möglichkeit stritte Platon wohl nicht ab, würde ihm aber als Erziehungsmethode als nicht effizient und unangemessen erscheinen. Vgl. a. im vorangehenden Kapitel ,Die Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi im Allgemeinen‘ Fn. 10.

II. Behandlung und Einsatz von Sklaven

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frommheit und Ungerechtigkeit bleibt, der wird wohl am besten geeignet sein, um die Saat der Tugend auszustreuen“.34

Ob ein Herr als Herrscher über sich selbst wirklich befähigt ist, über andere zu herrschen, zeigt sich somit am deutlichsten an der Art und Weise, wie er seine Sklaven behandelt. Das Prinzip der Gerechtigkeit, wonach jedem das Seinige zukommt, manifestiert sich demgemäß zwar einerseits in einer besonderen Strenge den Sklaven gegenüber, garantiert ihnen aber auch eine angemessene Behandlung durch den Herrn, die frei von Übermut und Willkür ist. Dem Sklaven wird dadurch ein gewisser Respekt zuteil, der zwar nicht in seiner Person begründet ist, da Platon betont, dass der Herr zu seinem eigenen Vorteil gerecht handelt,35 dennoch kommt ihm eine Anerkennung zu, die, aufgrund seines untergeordneten Status, eine besondere Bedeutung für den Herrn hat. In keinem anderen Verhältnis zeigt sich so klar, ob die herrscherlichen Tugenden dem Herrn wesentlich angehören, so dass in der Art und Weise der Sklavenbehandlung eine große Verantwortlichkeit sich selbst gegenüber in Erscheinung tritt. Da die Sklaven der Nomoi, wie im vorigen Kapitel aufgezeigt wurde, wesentlich enger an den Haushalt des Herrn gebunden sind als dies im damaligen Athen üblich war, sind die Verpflichtungen, welche aus der herrschaftlichen Vorrangstellung folgen, nahezu permanent gegeben und prägen entscheidend den Lebensrhythmus im Hause. Herr und Herrin müssen ihren Sklaven ein Vorbild sein, und man gewinnt fast den Eindruck, dass sie härter arbeiten als diese, stehen sie doch früher auf und gehen später zu Bett.36 Schließlich arbeitet der freie Bürger, auch wenn er mit hauswirtschaftlichen oder politischen Tätigkeiten beschäftigt ist, an seinen Tugenden und der Verbesserung seiner Seele, wogegen die Sklaven lediglich körperliche Arbeit verrichten. Die Einsatzbereiche für Sklavenarbeit wiederum sind determiniert durch das seelische Wohl des Herrn. So ist es nicht nur dem Bürger der Gesetzespolis verboten, handwerklichen Tätigkeiten nachzugehen, sondern auch seinen Sklaven. Ein Handwerk auszuüben würde bedeuten, seiner eigentlichen Berufung als mitverantwortlicher Bürger der Polis nicht mehr zur Genüge nachkommen zu können und diese Ablenkung wäre auch oder erst recht gegeben, wenn man seine Sklaven für sich produzieren ließe. Ein Überschreiten dieses Verbots ist, nach Platon, mit Ehrenentzug zu ahnden, da ein anderweitig beschäftigter Bürger nicht mehr im vollen Umfange an der Gemeinschaft teilnimmt.37 Ebenso sind dem Herrn Nomoi 777d 3–e 2. Nomoi 777d 2–3. Vgl. hierzu Gorgias 468e–471d, wo ausführlich dargelegt wird, warum Unrechttun der Seele größeren Schaden zufügt als Unrechtleiden. Inwieweit Platons Ausdehnung des Hybris-Begriffes auf Sklaven im griechischen Recht bereits zum Tragen kommt zeigt Morrow (Plato’s Law of Slavery, a. a. O., S. 37–41) auf. 36 Nomoi 807e 5–808c 6. 37 Vgl. Nomoi 846d 1–847b 6. 34 35

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

Tätigkeiten im kommerziellen Bereich, wie beispielsweise dem Handel, untersagt, wenngleich auch seine Sklaven, unter strengen Auflagen, das Erwirtschaftete zu Markte tragen und dort verkaufen dürfen.38 Da Handwerk und Handel aber dennoch für die Unabhängigkeit der Polis unabdingbar sind, bleiben diese Tätigkeitsbereiche für jene Einwohner der Stadt reserviert, die nicht mit politischen Aufgaben betreut sind oder unmittelbar mit diesem Personenkreis verkehren, d. h. für die Fremden und deren Sklaven. Im Übrigen sind die Einsatzmöglichkeiten der Sklaven von Bürgern aber weit gestreut, sofern sie mit dem Gesetz übereinstimmen. Deutlich wird dies durch die vielfältigen Beispiele, die Platon für deren Anwendung aufzeigt: Sklaven können so u. a. als Ärzte andere Sklaven medizinisch betreuen (Nomoi 720a ff.; 857c–d), in der Landwirtschaft eingesetzt werden (Nomoi 806d), als Schauspieler wirken (Nomoi 816e 5–10) oder als Knabenaufseher und Lehrer arbeiten (Nomoi 808e). Daneben dürften natürlich auch alle klassischen Haushaltsarbeiten, seien sie körperlicher oder bis zu einem gewissen Maße organisatorischer Natur, für den Sklaven in Frage kommen. Darüber hinaus können die Sklaven eines Herrn ebenso für öffentliche Bauarbeiten herangezogen werden, allerdings möglichst dann, wenn „diese von ihren eigenen Arbeiten frei sind“.39 Anders als in der Politeia, deren Funktionieren nicht wesentlich an das Vorhandensein von Sklaven gebunden ist, ist der Sklave in Platons Gesetzespolis in doppelter Hinsicht ein nicht wegzudenkender Bestandteil. Erst in der Sklavenbehandlung zeigt sich einerseits, inwiefern der Herr als Bürger den ethischen Ansprüchen der Polis gerecht wird und andererseits ermöglicht erst die von den Sklaven verrichtete Arbeit dem Bürger als Herrn den daraus resultierenden Pflichten mit der dazu notwendigen Muße nachzukommen.

III. Strafen für Sklaven im Vergleich zu Strafen für Freie Im Strafrechtskatalog der Nomoi werden immer wieder unterschiedliche Strafen für Freie und Sklaven bei gleichen Vergehen aufgelistet. Aufgrund der unterschiedlichen Seelendisposition beider, von der Platon ausgeht, ist dies wohl folgerichtig. Wo bei einem Bürger eine Zurechtweisung zur Einsicht führt, braucht der Sklave eine Prügelstrafe, um ihn zukünftig von solchen Taten abzuschrecken.40 Generell ist zu sagen, dass der Sklave bei geringfügigen bis mittel38 Das Verbot des Handels für Bürger findet sich in Nomoi 920a 3–4. Die Marktordnung wird in Nomoi 849a 4–850a 6 dargelegt. Morrow (a. a. O., S. 29) macht darauf aufmerksam, dass es für dieses Verbot keine Parallele in der griechischen Gesetzgebung gibt. 39 Nomoi 760e 3–761a 3. 40 Vgl. Nomoi 777e 5–6 und die Ausführungen hierzu im vorangehenden Kapitel.

III. Strafen für Sklaven im Vergleich zu Strafen für Freie

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schweren Vergehen immer mit körperlicher Züchtigung rechnen muss, wohingegen diese einem Bürger der Polis nur in seltenen Ausnahmefällen droht.41 Lediglich bei einem so schweren Verbrechen wie Tempelraub wird dem Sklaven eine vergleichsweise moderate Strafe zugemessen: Nach Geißelhieben und Brandmarken soll er nackt verstoßen werden. Ein Bürger, der aufgrund der von ihm genossenen Erziehung vor so einer Tat gefeit sein müsste, gilt als unheilbar und wird folglich zum Tode verurteilt.42 Das platonische Strafrecht unterscheidet drei Klassen von Vergehen an Personen: Generelle Tätlichkeiten, Tätlichkeiten, die körperliche Verletzungen zur Folge haben sowie Mord und Totschlag. In allen drei Fällen gewährt die Gesetzgebung der Nomoi den Sklaven keinerlei Schutz. Tätlichkeiten jedweder Art an Sklaven bleiben ungesühnt und verschiedene Fälle von Totschlag oder vorsätzlichem Mord an ihnen werden von Platon zwar genau unterschieden, haben für den Schuldigen jedoch lediglich rituelle Reinigungen und eventuelle Schadensersatzforderungen zur Folge, es sei denn, der Tod wurde durch einen anderen Sklaven verursacht oder durch einen Freien, der den Sklaven als Informanten der Behörden ausschalten wollte.43 In diesen beiden Fällen droht dem Mörder ausnahmsweise die Todesstrafe. Umgekehrt werden auch kleinste Vergehen und Tätlichkeiten, die von Sklaven begangen werden mit einem differenzierten System von Geißelhieben geahndet44 und auf Tätlichkeiten mit Todesfolge, seien sie auch unabsichtlich geschehen, steht für Unfreie fast immer die Todesstrafe.45 Wie bereits in der Untersuchung über die allgemeine Rechtsstellung der Sklaven in den Nomoi dargelegt wurde, dürfen die Todesurteile für Sklaven jedoch nur offiziell von einem Gericht gefällt werden; deren Vollstreckung, wie auch der Vollzug aller anderen in Frage kommenden Strafen, kann aber auch von Privatpersonen vorgenommen werden.46 In diesem Punkt kann man die platonische Gesetzgebung Diese Fälle finden sich bei Morrow (a. a. O., S. 66, Fn. 32). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Ausnahmen entweder nur Bürger unter dreißig Jahren betreffen, d. h. solche, die nach Platons Ansicht noch nicht ausgereift sind, oder Einwohner der Polis, die bereits mit Ehrenentzug gestraft worden sind und somit nicht mehr im Besitz der vollen Bürgerrechte sind. 42 Nomoi 853d 5–855a 2. 43 Vgl. Nomoi 865d 1–4; 868a 4–5; 871a 2–872b 4. Die letztgenannte Textstelle erwähnt zwar nicht explizit den Mord an einem Sklaven durch einen Freien oder Bürger, doch ist die Auslassung in der Aufzählung möglicher Fälle vielsagend genug. 44 Am auffallendsten ist hier wohl das Gesetz über die unbefugte Entnahme von freiwachsendem Obst (Nomoi 845a 2–b 1): Ein Sklave erhält für jede gepflückte Traube oder Feige einen Geißelhieb, wogegen einem Fremden die entnommenen Früchte als Gastgeschenk angerechnet werden. 45 Vgl. Nomoi 868b 5–c 5; 869a 1–d 6; 872b 4–c 6. Ein Sklave hat bei Totschlag lediglich dann nicht die Todesstrafe zu erwarten, wenn er einen anderen Sklaven in Notwehr tötet oder ebenso einen Freien und dieser ihm vor seinem Ableben in Anwesenheit von Zeugen vergibt. 41

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

sicherlich als einen Rückschritt gegenüber dem damaligen athenischen Recht ansehen, so wie es Morrow tut.47 Im Übrigen zeigt sich, dass Platons Gesetze fast immer auf denen seiner Heimatstadt aufbauen, wenn auch die Strafzumessungen bei ihm deutlich strenger gehandhabt werden und Sklaven mit gänzlich anderem Maß gemessen werden als Freie. Dies hat zur Folge, dass Sklaven bei Platon einen deutlich geringeren Rechtsschutz genießen als es in Athen üblich war, wohingegen die rechtliche Stellung von Fremden wesentlich verbessert wird. Letztlich spiegelt sich in dieser Zuspitzung jedoch nur die klare Abgrenzung des durch den begehrlichen Seelenteil dominierten sklavischen vom vernunftgeleiteten herrschenden Prinzip wider. Nur in einer Gesellschaft, die Rechte und Pflichten nicht wesentlich in einer kosmisch fundierten Seelendisposition verankert, können, nach Platon, die gleichen Gesetze für alle gelten. Im Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung erschiene ihm dies aber als zutiefst ungerecht.

IV. Der Sklave als Gegenstand von Handel und Eigentum Das Problem, eine Rechtfertigung zu finden, über einen anderen Menschen als Besitz zu verfügen, welches zumindest äußerlich betrachtet ein wesentliches Merkmal des institutionellen Sklaven ist, wird in den platonischen Dialogen nicht thematisiert. Dem Einwand, dass die Seele als göttliches Prinzip ja höchstens einem Gott gehören kann, würde Platon wahrscheinlich mit dem Hinweis begegnen, dass der Sklave sich psychologisch ja nicht mal selbst gehört und dadurch dem Göttlichen in ihm völlig entrückt ist, so dass erst durch das logistikÎn seines Herrn die Brücke zwischen dem Sklaven als Menschen und den Göttern wieder geschlagen wäre. Die Sklaven der Nomoi sind immer in Privatbesitz, selbst wenn sie für öffentliche Arbeiten herangezogen werden.48 Lediglich im erzieherischen Bereich werden von Platon an einer Stelle auch „Diener der Polis (pülewò oœketw= n)“ erwähnt, deren Vorkommen aber eine Ausnahme zu sein scheint, falls es sich hierbei überhaupt um Sklaven im institutionellen Sinne handelt.49 46 Mit Ausnahme der Vollstreckung eines Todesurteils bei vorsätzlichem Mord durch einen Sklaven, wofür öffentliche Henker (Nomoi 872b 4–c 2) zuständig sind. Der Sinn dieser Vorschrift besteht wahrscheinlich darin, dass Platon Mord als eine Sache der Polis ansieht, die nach einer Sühne durch die öffentliche Hand verlangt, wogegen beispielsweise ein durch einen Sklaven verursachter Unfall mit Todesfolge dem Haushaltsrecht zugerechnet wird, der durch die Angehörigen des Opfers gerichtet werden muss, auch wenn das Gesetz hierfür den Tod vorsieht. 47 G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 47. Morrow vergleicht ausführlich die platonischen Gesetze bezüglich der Sklaven mit den athenischen Verordnungen, so dass auf eine detaillierte Darstellung hier verzichtet werden kann. 48 Vgl. Nomoi 760e 3–761a 3. 49 Nomoi 794c 1.

IV. Der Sklave als Gegenstand von Handel und Eigentum

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Der institutionelle Sklave unterscheidet sich von anderem Eigentum nach Platon nur dadurch, dass er das am schwierigsten zu behandelnde Besitztum ist, weil er sich nicht in die unvermeidliche Unterscheidung von Herr und Sklave fügen will.50 Er empfiehlt deswegen, möglichst gutwillige und tüchtige Sklaven zu besitzen, die nicht dieselbe Sprache sprechen.51 Daraus geht hervor, dass Platon die Kaufsklaven vor den im Kriege gefangenen Sklaven favorisiert, da nur so die unterschiedliche Herkunft der Unfreien gewährleistet werden kann. Auch sollen Kriege nie deswegen geführt werden, um primär den Bedarf an Sklaven zu decken, geschweige denn unter den Hellenen selbst.52 Dieser Bedarf scheint nach Platons Vorstellungen recht groß zu sein, da die Bürger im Gesellschaftsentwurf der Nomoi ja keiner anderen Tätigkeit als der des verantwortlichen Bürgers nachgehen dürfen.53 Der Herr braucht deswegen zur Unterstützung bei allen Arbeiten Sklaven von hinreichender Zahl und Tauglichkeit.54 Wie genau der Nachschub an Sklaven in den Nomoi, von denen ja grundlegend das Funktionieren der Ökonomie und somit die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Polis abhängt, geregelt werden soll, wird nicht zufrieden stellend geklärt. Nomoi 777b 4–c 1. Nomoi 776d 5–7 und 777d 1–2. 52 Das Gebot, wonach Hellenen sich nicht gegenseitig versklaven sollen, findet sich in Politeia 469b 10–13 und 470b 5–d 1. In den Nomoi erfahren wir zu diesem Sachverhalt nichts, doch gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dies im Spätwerk nicht mehr gelten sollte. 53 Nomoi 846d 4–847b 6. 54 Nomoi 778a 6–9. Die geschätzte Anzahl der Sklaven in den Nomoi hat zu vielerlei Vermutungen Anlass gegeben. Als Anhaltspunkt kann die an mehreren Textstellen als konstant festgelegte Zahl der Haushalte von 5040 dienen (vgl. Nomoi 737e; 740b– e; 771c; 877d–e; 919d–e; 923a; 929a). Bei einer angenommenen Familiengröße von vier bis sechs Mitgliedern, ergibt sich so eine Gesamtzahl der Bürger von 20–30.000. Da die gesamte Agrarwirtschaft auf den Landgütern der Bürger in den Händen der Sklaven liegt, dürfte die hierfür notwendige Anzahl von Sklaven der Gesamtzahl der Bürger entsprechen. A. Rameil, Die Wirtschaftsstabilität und ihre Problematik in Platons Gesetzesstaat; Diss. München 1973, S. 8, zählt des Weiteren hierzu noch für jeden Landwirt ein bis zwei der in Nomoi 763a erwähnten Gehilfen und kommt so auf insgesamt 30–40.000 in der Landwirtschaft beschäftigten Sklaven. Hierzu kommen noch die Sklaven der Fremden (Nomoi 853d 5), eine wohl zu vernachlässigende Menge öffentlicher Sklaven (Nomoi 794c 1) und die Haussklaven der Bürger (Nomoi 807e 5–808c 6). Diese Gruppen summieren sich nach Rameil auf nochmals 25–30.000 Sklaven, so dass sich für ihn eine Gesamtanzahl von Sklaven in den Nomoi von 55– 70.000 ergibt. Morrow setzt die Sklavenzahl geringer an. In der Studie über ,Plato’s Law of Slavery‘ (a. a. O., S. 22) wird mit dem Verweis darauf, dass Fremde aufgrund der für sie geltenden Eigentumsbeschränkungen weniger Sklaven als die Bürger besitzen müssten, die Größe der gesamten Sklavenbevölkerung mit ,approximately half the total population‘ angegeben. In seiner großen Gesamtdarstellung der Nomoi (G. R. Morrow, Plato’s Cretan City, Princeton 1960, S. 129) wird diese Zahl konkret mit 27– 30.000 Sklaven benannt. Rameil nimmt an, dass Morrow nicht alle Sklavengruppen berücksichtigt hat. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Trennung von Sklaven in der Landwirtschaft und Sklaven des Hauses bei Morrow nicht immer eindeutig und somit in seiner Zählung nicht einkalkuliert ist. 50 51

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

Wie bereits erwähnt, sieht Platon in einer größeren Menge Kriegsgefangener eines Volkes einen potentiellen Unruheherd für seine Polis. Die daraus logisch resultierende Präferenz für Kaufsklaven findet allerdings keinen Niederschlag in den Zollbestimmungen der Stadt, wo das Handelsgut Sklave, trotz seiner ökonomischen Bedeutung, nicht erwähnt wird.55 Eine natürliche Quelle der Sklavenbeschaffung liegt naturgemäß im Nachwuchs der Sklaven selbst. Kinder von Sklaven gehören immer dem Herrn der Mutter.56 Dies gilt ebenso, wenn der Vater ein Freier oder Freigelassener ist. Ist die Mutter eine Freie, gehört das Kind dem Herrn des Vaters. Nach Platon kann nur ein Kind, das von zwei freien Elternteilen stammt, selbst den Status des Freien beanspruchen.57 Dem Sonderfall, dass ein Herr oder eine Herrin mit den eigenen Sklaven Nachwuchs zeugen, begegnet Platon mit der Verbannung des Kindes und dem unfreien Elternteil, was im günstigsten Falle immerhin einer Freilassung, wenn auch in einem anderen Land, gleichkommt.58 So wie Kinder von Sklaven oder von Freien und Sklaven niemals Bürger der platonischen Polis werden können, kann umgekehrt ein Bürger unter keinen Umständen zum Sklaven degradiert werden. Letztlich ist der platonische Bürger ein Zuchtprodukt, dessen Qualität nicht durch eine Vermischung mit untergeordneten Klassen vermindert werden soll.59 Unter dieser Prämisse kann, nach Platon, das logistikÎn des Bürgers niemals dermaßen durch das ™piqumhtikün geknechtet werden, dass seine Versklavung notwendig wäre. Anderseits folgt daraus auch, dass ein Sklave oder Freigelassener niemals die Anlagen und Voraussetzungen mitbrächte, um vollends als Herr seiner selbst den Ansprüchen, die an einen Bürger gestellt werden, zu genügen. Gleichwohl ist der Bürger der Nomoi ökonomisch vom Sklaven abhängig und auch wenn die platonische 55 Vgl. Nomoi 847b 7–e 1. Die Grundlagen der Ein- und Ausfuhrbestimmungen sind hier freilich nur sehr knapp dargelegt. Die konkreten Anweisungen hierzu delegiert Platon an die zukünftigen Gesetzeswächter, die hierüber Gesetze „in angemessener Form und ausreichender Zahl“ aufstellen sollen. Man sieht hieran, dass Platons ökonomische Interessen weit hinter seinen ethischen Anliegen zurückstehen, auch wenn, wie in diesem Falle, das eine Voraussetzung für das andere ist. 56 Vgl. Nomoi 930d 1–e 3. 57 Das athenische und insbesondere das römische Recht waren diesbezüglich weitaus weniger streng und sahen hier subtile Zwischenstufen vor (vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, a. a. O., S. 90 ff.). 58 Affären zwischen Freien und Sklaven werden von Platon an anderer Stelle (Nomoi 841d 5–e 4) explizit abgelehnt und haben Ehrentzug für den freien Elternteil zur Folge. 59 Hierzu finden sich bereits Vorkehrungen in der Politeia (415b; 459a ff.). In den Nomoi wird dies besonders deutlich an Gesetzen bezüglich der Partnerwahl (772d ff.). In neuerer Zeit wurden die platonischen Argumente im Rahmen der Gentechnikdebatte insbesondere von Peter Sloterdijk in seiner Elmauer Rede ,Regeln für den Menschenpark‘, Frankfurt am Main 1999, wieder aufgegriffen und lösten eine hitzige Debatte aus. Vgl. hierzu Die Zeit 1999, Dossier, Nr. 38.

IV. Der Sklave als Gegenstand von Handel und Eigentum

241

Theorie die Sklaverei als eine besondere Form der Gerechtigkeit aufweist, bleibt dennoch die Frage offen, wie es gerechtfertigt ist, dass die Sklaven als ™piqumhtikün der Polis letztendlich die Grundlage für ein funktionierendes logistikÎn derselben schaffen. Platons Tendenz, wirtschaftliche Fragen zu vernachlässigen, führt somit letztendlich zu einer ethischen Aporie, die bis heute ungelöst bleibt und dazu geführt hat, dass die Sklaverei in offener Form allgemein abgelehnt wird. Wesentlich klarer und eindeutiger als bei den ethischen Grundlagen einer Sklavenökonomie sind die platonischen Gesetze im juristischen Umgang mit dem Eigentum Sklave. Prinzipiell unterscheidet sich der Sklave als Ware durch nichts von anderen Waren oder Besitztümern, es sei denn aufgrund von den bereits dargelegten Sonderfällen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass der Sklave zur Gattung Mensch gehört, wie z. B. die Regelung der Besitzrechte von Kindern zwischen Freien und Sklaven. Mag der Unfreie auch innerhalb des Oikos als Teil der Familie betrachtet werden, so ist seine Stellung als Handelsware auf dem Markt in den Nomoi identisch mit jedem anderen dort gehandelten Artikel. Dem Herrn sind keinerlei Beschränkungen auferlegt, mit seinen eigenen Sklaven zu handeln, außer den Käufer absichtlich über Defizite des Sklaven zu täuschen. Beim Verkauf von Sklaven auf dem Markt gilt, wie bei jeder anderen schadhaften Ware, ein zeitlich befristetes Rückgaberecht, falls sich der gekaufte Sklave als krank an Körper oder Geist herausstellt. Eine unabhängige Kommission von Ärzten und Gesetzeswächtern entscheidet dann über die zu verhängenden Bußgelder oder Reinigungen (falls der gekaufte Sklave ein Mörder ist).60 Als Besitztum haftet der Herr für Schäden, die der Sklave anrichtet bzw. kann für Schäden an seinem Sklaven durch andere entschädigt werden. Wer einen Sklaven tötet oder verletzt, muss an dessen Herrn Schadensersatz leisten. Im ersten Falle kämen noch religiöse Reinigungen hinzu, da die Unbeherrschtheit einer solchen Handlung der Seele Schaden zufügen könnte. Diese sind auch nötig, wenn jemand seinen eigenen Sklaven tötet. Andere juristische Folgen hat der Mord an Sklaven nicht, es sei denn der Totschlag erfolgt im Zorn, wodurch sich der Schadensersatz an den Herrn verdoppelt.61 Wer einen entlaufenen Skla60 Nomoi 915d 7–917b 7. Die Bestimmungen der Nomoi über Kauf und Verkauf auf dem Markt sind sehr ausführlich und detailliert gehalten und somit wahrscheinlich vor allem für die in der Polis lebenden Fremden gedacht, da sich viele dieser Bestimmungen wohl für einen zur Tugend erzogenen Bürger von selbst verstehen dürften. Konkret wird an verschiedenen Stellen hier auf den Sklaven als Handelsgut eingegangen, auch wenn er generell bei allen Regeln über geschäftliche Transaktionen mit einbezogen ist: „Wer gegen Geld entweder Geld oder auch sonst irgendeine lebende oder leblose Ware eintauscht, der soll dem Gesetz gehorsam in jedem Fall nur Unverfälschtes geben und annehmen“ (Nomoi 916d 2–4). 61 Nomoi 865c 3–d 6.

242

§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

ven nicht festnimmt oder fälschlicherweise für ihn als einen Freien bürgt, macht sich des Raubes schuldig und wird ebenfalls mit zweifachem Schadensersatz an den Herrn belangt.62 Dem Sklaven als Gegenstand von Handel und Eigentum kommt also in jedem Falle nur ein materieller Wert zu, dessen Beschädigung durch einen Geldbetrag abgegolten werden kann, aber weiter nicht juristisch gesühnt werden muss. Gelten im häuslichen Rahmen noch gewisse ethische Regeln für die Behandlung von Sklaven, ist ihre Rolle im öffentlichen Bereich der Ökonomie vollends verdinglicht und funktionalisiert.

V. Die Freilassung von Sklaven Ein besonderer Fall im Umgang mit Sklaven ist die Möglichkeit ihrer Freilassung, die entweder durch die öffentliche Hand der Polis oder durch den Herrn des Sklaven verfügt werden kann. Für die erste Variante finden sich drei mögliche Fälle in den Nomoi: Zweimal ergibt sich die Freilassung des Sklaven aus der Weitergabe von Informationen, welche die unrechtmäßige Aneignung von vergrabenen Schätzen (914a 6–9) beziehungsweise die Vernachlässigung von Eltern (932d 3–7) betreffen, ein anderes Mal erfolgt diese, weil der Sklave einen von seinem Kind angegriffenen Elternteil verteidigt hat (881c 2). Diese Art der Belohnung für Anzeigen von Verstößen gegen das öffentliche Recht war auch eine geläufige Praxis im damaligen Athen; und da Platon der Rolle von Informanten in seiner Gesetzespolis ein wesentlich größeres Gewicht beimisst, als es damals üblich war, dürfte die Freilassung von Sklaven auch für andere als die beiden erwähnten Fälle von Informantentum gerechtfertigt sein. Dagegen handelt es sich bei der Unterstützung von durch ihre Kinder in Bedrängnis geratenen Eltern um eine platonische Besonderheit, die sich aus der großen Bedeutung ergibt, welche Platon der Erziehung und damit der Autorität von Vater und Mutter zukommen lässt.63 Eine Freilassung durch die Polis erfordert kein Einverständnis des Herrn des betroffenen Sklaven, doch soll der ihm daraus entstehende materielle Verlust mit einer Aufwandsentschädigung beglichen werden.64 Verfügt der Herr selbst über die Freilassung seines Sklaven, sind ihm die Gründe dafür freigestellt und unterliegen keinen besonderen Beschränkungen, es sei denn der von Platon erwähnten Verpflichtung der Bürger, Gegenstände, Nomoi 914e 3–915a 2. Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 95–96. 64 Vgl. Nomoi 914a 7–8; 932d 5–7. Der Schadensersatz entfällt, wenn der Besitzer des Sklaven von dessen Verhalten profitiert (932d 4–5) oder der Sklave eine Verfehlung seines Herrn zur Anzeige bringt (881c 2–3). Im Übrigen tragen die Beamten der Polis dafür Verantwortung, dass niemand einem aus solchen Gründen Freigelassenen ,etwas antut, um sich wegen der Anzeige an ihm zu rächen‘ (932d 7–8). Die Freilassung ist also unmittelbar mit einem größeren Rechtsschutz verbunden. 62 63

V. Die Freilassung von Sklaven

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die zur Bewirtschaftung der Landgüter notwendig sind, nicht zweckzuentfremden.65 Zwei weitere in der griechischen Antike geläufige Möglichkeiten der Freilassung von Sklaven, den Freikauf und die testamentarische Verfügung, werden von Platon nicht erwähnt. Es ist jedoch zu vermuten, dass er die rein kommerzielle Ausrichtung eines Freikaufes durch den Sklaven selbst abgelehnt hätte. Auch scheint es in den Nomoi keinerlei Bedingungen für Sklaven zu geben, genug Geld anzusammeln, um aus eigenen Kräften einen Freikauf zu ermöglichen, so dass es auch keiner Gesetze bedurfte, um diese Transaktion zu regeln oder zu verbieten. Die testamentarische Verfügung hingegen, die es einem Herrn nach seinem Tode erlaubt, den Sklaven in die Freiheit zu entlassen, unterscheidet sich prinzipiell nicht von einer Freilassung zu Lebzeiten und findet wohl deswegen in den Nomoi keine gesonderte Erwähnung.66 Dem Freigelassenen kommt in der platonischen Gesetzespolis ein eigener Status zu, der ihn deutlich vom Sklaven (dou= loò) und dem Freien (™leýqeroò) unterscheidet, welcher durch den Begriff ,˜peleýqeroò‘ bezeichnet wird.67 Diese Besonderheit der Stellung des Freigelassenen ergibt sich aus dem Umstand, dass er auch nach seiner Freilassung der Macht seines vormaligen Herrn in gewissem Maße ausgeliefert ist. So wird von ihm verlangt, dass er dreimal im Monat seinem früheren Herrn voll und ganz zur Verfügung steht und beim Heiraten dessen Erlaubnis einholt. Des Weiteren darf er nicht reicher als sein ehemaliger Herr werden und auch nicht länger als zwanzig Jahre im Lande bleiben. Wer diesen Vorschriften nicht nachkommt, muss mit seiner neuerlichen Versklavung rechnen.68

65 Auf diese eventuelle Einschränkung macht Morrow (a. a. O., S. 98) aufmerksam und knüpft daran die Vermutung, dass Platons Freilassungsgesetze hauptsächlich die Sklaven der eingewanderten Fremden betreffen. Auch dieser Schluss kann nur gezogen werden, wenn man nicht deutlich zwischen den in der Landwirtschaft beschäftigten Sklaven und den Sklaven des Hauses unterscheidet. 66 Wenn wir der Überlieferung Glauben schenken dürfen, hat Platon selbst in seinem Testament einer Sklavin die Freiheit geschenkt (s. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, III, 41–42). Vgl. hierzu I. Bruns, ,Die Testamente der griechischen Philosophen‘, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für vergleichende Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 1 (1880), S. 1–52. 67 So unterscheidet Platon deutlich, ob eine Sklavin ,mit einem Sklaven (doýlw) oder einem Freien (™leuqÝrw) oder mit einem Freigelassenen (˜peleuqÝrw) geschlechtlichen Verkehr hatte‘ (Nomoi 930d 4–5), auch wenn das Resultat im Endeffekt das gleiche bleibt und ein daraus resultierendes Kind ihrem Herrn zugesprochen wird. 68 Nomoi 915a 3–c 7. Generell hatte auch im damaligen griechischen Recht der Freigelassene gewisse Pflichten gegenüber seinem vormaligen Herrn zu erfüllen, an welche Platon hier anknüpft. Verschärfend kommen bei ihm die Vermögens- und Aufenthaltsbeschränkungen hinzu. Einen schwerwiegenden Rückschritt gegenüber dem athenischen Recht sieht Morrow in den eingeschränkten Möglichkeiten für Freigelassene, sich juristisch gegen ungerechtfertigte Ansprüche ihrer früheren Herren zu wehren (vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 107–110).

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

Ebenso wie im damaligen Griechenland, aber im Gegensatz zu den Bestimmungen in Rom, kann ein Freigelassener in den platonischen Nomoi niemals Bürger werden. Seine gesellschaftliche Position als ˜peleýqeroò ähnelt im Wesentlichen, wenn man von seinen besonderen Verpflichtungen dem Herrn gegenüber absieht, der eines in der Polis ansässigen Fremden. Wie die Metöken können die Freigelassenen eine begrenzte Menge Besitz erwerben, aber kein Land. Beider Aufenthaltsrecht ist auf zwanzig Jahre begrenzt und beide sind von der Steuerpflicht befreit. Die einzig ihnen abverlangte Steuer ist „anständiges Betragen“.69 Die Auflagen für Freigelassene legen den Schluss nahe, dass Platon nur sehr halbherzig diese Möglichkeit in Betracht zieht und es stellt sich die Frage, warum er dies dann überhaupt tut. Die Antwort kann nur sein, dass die Freilassung von Sklaven ihm in gewissen Fällen für Herrn und Polis vorteilhaft zu sein scheint, etwa bei der Aufklärung von Verbrechen oder um den Sklaven zu besonderen Leistungen zu motivieren.70 Diese Option dient Platon somit lediglich als politisches Regulativ zur optimalen Umsetzung seiner Gesetze und deren reibungslosem Funktionieren innerhalb der Gesetzespolis. Sklaven, Freigelassene und Metöken haben zwar unterschiedliche Rechte und Pflichten in der platonischen Polis, aber ihre Aufgabe innerhalb des Gesellschaftsgebäudes ist die gleiche und dient einzig und allein dem Funktionieren und der Unabhängigkeit einer von Platon zwar gering geschätzten, aber dennoch für notwendig erachteten Ökonomie.

VI. Zusammenfassung Platons Gesetze bezüglich der Sklaven in den Nomoi dienen vor allem dem Zweck, die Autorität der Herren zu stärken. Das System der Sklavenhaltung in der Gesetzespolis ist demgemäß so organisiert, dass stets die bestmögliche Aufsicht des Herrn über seine Sklaven gewährleistet ist, weswegen Positionen wie der Polissklave oder der unabhängig wirtschaftende Helote von Platon nicht berücksichtigt werden. Hieraus folgt eine stärkere Betonung und Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Herren und Sklaven als es im damaligen Griechenland üblich war. Die absolute Überlegenheit des freien Bürgers über den unfreien Sklaven, wie er theoretisch in den verschiedenartigen Seelendispositionen beider begründet ist, zeigt sich praktisch in einer befehlsorientierten Kommunikation und einer Umgangsweise, welche die gegebenen Hierarchien klar herausstellt. Indes kann der Sklave von einem solchen Herrn eine besonders gerechte Nomoi 850b 3. In diesem Sinne empfehlen auch Aristoteles und Xenophon den Herren, den Sklaven die Freilassung in Aussicht zu stellen, um sich ihrer Loyalität zu versichern. Vgl. Aristoteles, Politik 1330a 33–36; Xenophon, Oikonomikos V, 16. 69 70

VI. Zusammenfassung

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Behandlung erwarten, die Willkür und Übermut ausschließt, auch wenn ihm keine rechtliche Handhabe in den Nomoi gegeben ist, gegen eventuelle Ungerechtigkeiten und Misshandlungen durch seine Herrschaft juristisch vorzugehen, da in einer an den kosmischen Gesetzen orientierten Polis, sich das ™piqumhtikün nicht gegen das logistikÎn stellen kann. Der Sklave ist also ganz auf das ethische Wohlwollen seines Herrn angewiesen, was nach Platon Versicherung genug ist, da der einsichtsvolle Bürger seiner Polis nicht durch ungerechte Handlungen seiner Seele Schaden zufügen wollen wird. Der platonische Gesetzesentwurf geht von dem Idealfall aus, dass sich jeder Polisbewohner an der für ihn angemessenen Stelle im Gesellschaftsgefüge befindet, weswegen einen Freien nie das Sklavenlos ereilen, aber ein Sklave auch nie Bürger mit politischen Aufgaben werden kann. Zwar wird dem Sklaven durchaus die Möglichkeit zugestanden, im ethischen Sinne ein besserer Mensch zu werden, woran der Herr durch die Art der Behandlung seiner Sklaven gar eine gewisse Mitverantwortung trägt, jedoch ist gemäß der platonischen Seelenlehre die Konstitution der Seelenteile des Sklaven nicht völlig umzukehren, so dass das logistikÎn unbeeinflusst vom ™piqumhtikün in der Sklavenseele zur Herrschaft käme. In der Analogie von Seele und Polis steht dem allerdings entgegen, dass die gesamte Wirtschaft des platonischen Gesellschaftsentwurfs von Sklaven getragen wird, und damit das reibungslose Funktionieren der Polis in seinen ökonomischen Grundlagen von der Sklavenarbeit abhängt, d. h. dass das logistikÎn wesentlich auf das ™piqumhtikün angewiesen ist. Zwar wird die unauflösliche Verbundenheit von Geist und Materie, zumindest in dieser Welt, von Platon nie geleugnet, doch erwecken manche Stellen der Nomoi mitunter den Anschein, dass dieser Sachverhalt durch eine übertriebene Betonung der Minderwertigkeit von Sklaven ihren Herren gegenüber heruntergespielt werden soll. Hierzu gehören auch die fortdauernde Entmündigung des Sklaven innerhalb des Oikos als Familienmitglied, die Degradierung des Sklaven zu einem reinen Warenobjekt im Handel, so wie die Androhung körperlicher Züchtigungen auch bei geringsten Vergehen, unter völliger Ablehnung jeglicher mündlichen Zurechtweisung mit Verweis auf das defizitäre logistikÎn des Sklaven. Im Ganzen hat die platonische Gesetzgebung bezüglich der Sklaven nie primär das Wohl oder die Besserung dieser zum Ziel, sondern stets die Freiheit des Herrn von ökonomischen Sachzwängen. Die politische Bedeutung des Sklaven besteht denn auch darin, seinem Herrn die nötige Muße zu verschaffen, ein besserer Mensch zu werden und ihm die erforderliche Zeit freizuhalten, seinem Beruf als Bürger nachzugehen, was im Ganzen dann dem Allgemeinwohl zugute kommt. Damit entspricht Platon den Anschauungen seiner Zeit, ja, spitzt sie gar zu, da bei ihm die gesamte Ökonomie auf den Schultern der Sklaven lastet und diese deswegen noch strenger kontrolliert und gehandhabt werden müssen. Folglich ist die platonische Gesetzgebung eine Adaption der Athener Rechtssprechung und nicht wie oft behauptet von Sparta beeinflusst, allerdings

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§ 5 Die Gesetze über Sklaven in den Nomoi und attisches Recht

mit maßgeblichen Verschärfungen bezüglich der Verordnungen und Strafen für Sklaven.71 Wenn die Unterschiede zwischen dem Eigentum Sklave und dem freien Bürger auch immens sind, ist die Analogie der Verhältnisse Herr/Sklave und Herrscher/Beherrschte dennoch gegeben: Sie besteht in der absoluten Unterordnung bezüglich der geltenden Gesetze, auch wenn diese bei dem ,unverständigen Eigentum‘ Sklave sehr viel strenger ausgelegt werden müssen als bei dem Bürger, der seine Seele durch eine philosophische Erziehung gebildet hat.

71 Vgl. G. R. Morrow, Plato’s Law of Slavery, Urbana 1939, S. 123–127. Morrow zählt sieben Bereiche auf, in denen Platon wesentlich strengere Verordnungen erlässt als im damaligen Athen üblich. Hierzu zählen a) der Status von Personen halbsklavischer Herkunft; b) die Verpflichtungen Freigelassener ihren ehemaligen Herren gegenüber; c) generell strengere Strafen für Sklaven; d) Sklaven, die einen Mord begangen haben, können privat gerichtet werden; e) dem Sklaven kommt nur ein freiwilliger moralischer, aber kein juristischer Schutz zu; f) Morde an Sklaven werden (mit einer Ausnahme) nicht gesetzlich verfolgt und g) das Tempelasyl für Sklaven kommt in den Nomoi nicht vor.

3. Teil

Kosmos

§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos Sowohl in der platonischen Psychologie als auch in seiner politischen Theorie wird die gute, also folglich auch gerechte Seelen- und Gesetzesordnung mit einer größtmöglichen Annäherung an die Strukturen der kosmologischen Prinzipien gleichgesetzt. Hieraus leitet sich somit, wie ausführlich dargelegt wurde, auch die Begründung und Rechtfertigung des Begriffes der Sklaverei bei Platon ab. Die Herrschaft des nou= ò, wie er durch die Philosophenherrscher in der Polis repräsentiert wird, ist nach Platon ebenso Abbild des kosmischen Aufbaus wie die Führungsrolle des logistikÎn in der gesunden Individualseele und die Befehlsgewalt des Herrn gegenüber seinen Sklaven. Der Vernunft gebührt es zu herrschen und alle anderen Elemente, seien es die übrigen Seelenteile oder die restlichen Stände innerhalb der Gesellschaft, haben ihr untertan zu sein und als deren Diener zu gelten. Was sich in Gesellschaft und Individuen bestenfalls als langsamer Prozess in diese Richtung gehend abspielt, wird in Platons Naturphilosophie als unumstößliches Prinzip des kosmischen Gefüges beschrieben. Es ist hier nicht der Platz, auch nur annährend angemessen ausführlich auf das komplexe Gebilde der platonischen Kosmologie einzugehen, dennoch kann diese Arbeit nicht abgeschlossen werden, ohne einige besondere Aspekte des Herrschens und Dienens in der Struktur des platonischen Weltenaufbaus zu beleuchten.1

I. Platons Kritik der vorsokratischen Naturphilosophie Platons Philosophie ist in wesentlichen Punkten als eine Kritik am Materialismus der ionischen Naturphilosophen zu verstehen. In Buch X der Nomoi warnt er vor der mechanistischen Kosmologie der „jüngeren Weisen“2 als auch vor 1 Als weiterführende Literatur zur Naturphilosophie und Kosmologie Platons seien u. a. folgende Werke empfohlen: F. M. Cornford, Plato’s Cosmology, London 1937; N. Fischer, ,Ursprungsphilosophie in Platons Timaios‘, in: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982), S. 247–268; H.-G. Gadamer, Idee und Wirklichkeit in Platons Timaios, Heidelberg 1974; R. D. Mohr, The Platonic Cosmology, New York, 1985; Ch. Mugler, La physique de Platon, Paris 1960; H. Perls, Plato. Seine Auffassung vom Kosmos, Berlin/München 1966; G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, Paderborn 1993; G. Vlastos, Plato’s Universe, Oxford 1975. Vlastos hat 1941 als erster in einem Aufsatz skizziert, wie die Grundlagen des platonischen Denkens zur Sklaverei in der Kosmologie der insbesondere späteren Dialoge zu finden ist. Vgl. G. Vlastos, ,Slavery in Plato’s Thought‘, in: ders., Platonic Studies, Princeton 1981, S. 147–163. 2 Nomoi 886d 4. Die Bezeichnung ,jüngere Weise‘ ist zu verstehen im Kontext mit den von Platon unmittelbar vorher erwähnten älteren Mythendichtern. Bezogen auf

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§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

deren politischer Vertragstheorie. Das Erste führt zum Zweiten und beides zum Atheismus. Der Grundirrtum besteht, nach Platon, darin, dass die Elemente sich von einer ihnen innewohnenden Kraft getrieben zufällig zusammensetzten und so die Materie bildeten. In anderen Worten heißt das, dass die Natur ein sich selbst regulierendes System und nicht Produkt eines göttlichen Geistes ist. Dieser vorsokratischen Annahme liegt der Gedanke zugrunde, dass die Sphären der Natur (—ýsiò) und der ,Kunst‘ (tÝxnh) grundsätzlich voneinander getrennt sind, wobei der Natur die Priorität zukommt, selbständig gemäß den ihr innewohnenden Prinzipien Energie und Zufall ohne den Einfluss des nou= ò oder sonst irgendeines grundlegenden Geistes die Welt zu verwirklichen. Dahingegen nimmt die tÝxnh nur eine sekundäre, von der —ýsiò abgeleitete Stellung ein, die nichts Originäres hervorbringt und deren Werke keinen ursprünglichen, sondern lediglich einen willkürlichen Realtitätsgehalt beanspruchen können. Dies bedeutet, dass die Politik wie auch die Religion und jede andere Kunst ein spätes Produkt eben jenes Naturprozesses sind, so dass die Gesetze und sittlichen Normen menschlichen Zusammenlebens nicht göttliche Gebote, sondern menschengemachte Vereinbarungen sind. Anstatt die Gesetze von den Göttern abzuleiten, bringen die Gesetze der Menschen die Götter hervor.3 Unter diesen Prämissen bestünde das „richtige Leben“ darin, „dass man die andern beherrscht und nicht dem Gesetz gemäß andern dient (douleoýnta).“4

Um diesen Irrtum zu entkräften, legt uns Platon seine Theorie der Bewegung dar, die in der Erkenntnis mündet, dass nur etwas, das sich aus sich selbst heraus bewegen kann, auch Ursache aller anderen Bewegungen sein kann.5 Dies entspricht aber der Natur der Seele, die hier wie auch an anderen Stellen des platonischen Werkes definiert wird als „die Bewegung, die sich selbst bewegen kann“.6 Da nun nichts ohne Bewegung entstehen kann, ist die Seele in ihrem den Zeitpunkt der Niederschrift der Nomoi sind die hier gemeinten Denker einige Generationen älter. Tatsächlich umfasst das hier referierte Gedankengut einen Zeitraum von fast zweihundert Jahren, nämlich vom frühen sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (Thales) bis zum späten fünften Jahrhundert (Demokrit und Leukipp). Platons Darstellung zielt dabei weniger konkret auf einzelne Philosophen, sondern scheint vielmehr auf einer Zusammenstellung der unterschiedlichen Lehren zu basieren. De Mahieu zu Folge lassen sich hier insbesondere die Gedanken des Empedokles, Anaxagoras und Demokrit, sowie der Sophisten Protagoras, Antiphon, Thrasymachos und Kallikles ausmachen. Vgl. W. de Mahieu, ,La doctrine des athées au Xe livre de Lois de Platon. Essaie d’analyse‘, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 41 (1963), S. 5–24; 42 (1964), S. 16–47. 3 Vgl. Nomoi 889b 1–890a 9. 4 Nomoi 890a 7–9. 5 Vgl. Nomoi 893b 1–895b 7. 6 Nomoi 896a 1–2. Vgl. hierzu Phaidros 245c 2–e 3. Auf diese Stelle nehme ich Bezug in § 2, Kapitel I.1. ,Die Natur der Seele: Selbstbewegung und Unsterblichkeit‘

I. Platons Kritik der vorsokratischen Naturphilosophie

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Wesen als Bewegungsschöpferin, Entstehungsgrund von allem und insbesondere die erste Ursache aller materiellen Bewegung.7 Das wesentliche Argument hierbei ist, dass die Seele ursächlich älter als der Körper sein muss und somit „naturgemäß (katJ —ýsin)“ über diesen herrscht und dieser von ihr beherrscht wird.8 Aus der sich hieraus ergebenden Ordnung im Kosmos geht weiterhin hervor, dass die ursprüngliche Seelenbewegung mit Hilfe der Vernunft vonstatten geht.9 Im Gegensatz zu den Gedanken der ionischen Naturphilosophen gehört für Platon damit die Vernunft nicht in das sekundäre, abgeleitete Gebiet der von den Menschen gemachten tÝxnh, sondern ist die grundlegende Komponente des ursprünglichen Bereiches der —ýsiò. Dieselbe Vernunft erzeugt die kosmische Ordnung und die Gerechtigkeit in Seele und Staat. Die Trennung zwischen Natur und ,Kunst‘ ist damit de facto aufgehoben, da beiden Sphären das gleiche schöpferische Prinzip zugrunde liegt, jedenfalls solange im Bereich der tÝxnh und dort insbesondere in den politischen Angelegenheiten der Bezug zur ursprünglichen Vernunft gewährleistet bleibt. Indem er dies beweisen kann, glaubt Platon, den ionischen Materialismus zerstört und die Seele als ursächliches Prinzip im Kosmos reetabliert zu haben. Die Sterne sind dann keine Steine mehr, sondern haben Seelen und sind göttlich, so wie alles „voll von Göttern“ ist.10 Kosmologie und Religion sind damit nur zwei verschiedene Begriffe für das gleiche schöpferische Prinzip einer zeugenden seelischen Vernunft, die auch im kleineren Maßstab alle menschlichen Belange durchwirkt. Die Verknüpfung zwischen kosmischem Schaffen und politischem Handeln stellt sich im platonischen Denken bevorzugt durch eine der Sklaverei entlehnte Begrifflichkeit dar. Die in der Vernunft gegründeten Hierarchien der politischen Theorie Platons haben ihr Vorbild im strukturellen Aufbau des kosmischen Geschehens.

der vorliegenden Arbeit. Deutlich schließt sich somit also hier der Kreis zwischen Mikro- und Makrokosmos, indem sich erweist, dass dasselbe Prinzip sowohl in der Individualseele wie auch im kosmischen Entstehungsprozess wirksam ist. 7 Vgl. Nomoi 896a 5–e 3. 8 Vgl. Nomoi 896c 1–3. Wie die Hierarchie dieses Herrschaftsverhältnisses zu denken ist, geht aus einer Parallelstelle im Timaios 34c 5–6 hervor, wo, aufgrund der gleichen Argumentation, der Seele die Herrschaft über den Körper zugeschrieben und sie als ,Herrin (despütin)‘ bezeichnet wird. Diese Wortwahl legt die Analogie nahe, dass die Seele über den vernunftlosen Körper herrscht wie der Herr über seine Sklaven. 9 Vgl. Nomoi 896e 8–897d 6. 10 Nomoi 898d 3–899d 4.

252

§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit Bereits in Sokrates’ biographischem Rückblick im Phaidon beschreibt er seine Abkehr von den ionischen Philosophen, weil diese nicht die „richtige Methode“ gehabt hätten. Erst im nou= ò des Anaxagoras habe sich ihm die richtige Methode gezeigt, doch habe der Philosoph selbst sie nicht angewandt. Um die Ursache von etwas zu finden, so beschreibt der platonische Sokrates die richtige Methode, muss man fragen, wie es am besten ist, für etwas zu existieren. Eine zureichende Erklärung der Form und Position der Erde müsste beweisen, dass sie diese bestimmte Form und Position hat, weil es so am besten für sie sei.11 Diese unübliche Auffassung versucht Sokrates durch eine Analogie zu verdeutlichen, indem er nach der Ursache für seinen Gefängnisaufenthalt fragt und zu dem Ergebnis kommt, dass nicht der Körper ihn dort hält, sondern seine Entscheidung, dass es so am besten sei. Nicht die mechanischen Bewegungsabläufe des Körpers sind der Grund dafür, dass er sich im Gefängnis befindet, sondern sein Entschluss, dass es ihm besser und gerechter erscheint, das Urteil des Gerichts anzunehmen und „die Strafe geduldig auszustehen“.12 Dieses Argument wird vom menschlichen Körper auf die Weltordnung übertragen. Die Urelemente, aus denen alles andere hervorgeht, nach welchen bereits die ionischen Naturphilosophen suchten, können für den platonischen Sokrates nicht der zureichende Grund allen Entstehens sein, da die Ursache der Ordnung nicht das Geordnete selbst sein kann, sondern es eine Ursache geben muss, wodurch die Ursache Ursache ist.13 Das „wahre Sein der Dinge“14 ergibt sich nicht aus einem materiellen Kausalitätsgefüge, sondern eben diesem muss eine Idee zugrunde liegen, die die Entfaltung dieser Ordnung als Kosmos ermöglicht und diese auch erkennbar macht. Die Mechanik der kosmischen Abläufe und die dieser zugrunde liegende zielgerichtete Bewegungsursache verhalten sich somit zueinander wie Körper und Seele. Von diesem Verhältnis wurde aber bereits vorher im Dialog festgestellt,

Phaidon 97c 1–e 4. Phaidon 98c 6–99a 5. Ausführlich legt Sokrates diese Gründe im Dialog Kriton dar. Nachdem er sein ganzes Leben sich dafür eingesetzt hat, die Gesetze zu respektieren, kann er sich ihnen im Alter nicht entziehen. In Kriton 50e 2–4 lässt Sokrates die Gesetze selbst zu sich sprechen: „Nachdem du nun geboren, auferzogen und unterrichtet worden, kannst du zuerst wohl leugnen, dass du nicht unser warst als Abkömmling und Sklave (dou= loò), du und deine Vorfahren?“ Sokrates statuiert an sich selbst also ein extremes Exempel, was es heißt, Sklave des Gesetzes zu sein. Er erkennt die Gesetze, nach denen er verurteilt worden ist, an, auch wenn er das Gerichtsverfahren für zweifelhaft hält und sich am Ende der Verhandlung für unschuldig erachtet. 13 Vgl. Phaidon 99b 2–c 1. 14 Phaidon 99e 5–6. 11 12

II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit

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„dass, solange Leib und Seele zusammen sind, die Natur ihm gebietet, zu dienen (douleýein) und sich beherrschen zu lassen (årxesqai), ihr aber, zu herrschen (årxein) und zu regieren (despüzein).“15

Die Beziehung zwischen der ordnenden Vernunft des nou= ò und den daraus resultierenden Schöpfungen der Materie entspricht demgemäß dem gleichen Herrschaftsverhältnis wie dem von Herr und Sklave. Die mechanische Ursache, welche die Ionier für die Herrschende halten, ist nach Platon eine Sklaven-Ursache.16 Diese Herleitung im Phaidon kann als erster Hinweis darauf gesehen werden, wie Platons naturphilosophisches Denken der Altersdialoge sich aus seiner Definition des Sklaven speist. Im späteren Dialog Philebos findet sich eine Analyse der kosmischen Entstehungsgeschichte, welche wiederum die Elemente der vorsokratischen Naturphilosophie enthält, um anschließend über diese hinauszugehen. Hierzu nimmt Platon einen Bereich des „Unbegrenzten (åpeiron)“ an, dem er die physischen Eigenschaften der Materie wie heiß und kalt oder feucht und trocken zurechnet.17 Dem gegenüber steht die Kategorie der „Begrenzung (pÝraò)“, des Maßes, der Scheidung in Gleiches und Verschiedenes, wodurch „das Entgegengesetzte aufhört, sich ungleich zu verhalten, und welche durch Einbringung des Gleichmäßigen und Zusammenstimmenden eine Zahl hervorbringt.“18

Aus der Mischung des Unbegrenzten mit dem Begrenzten erzeugt sich schließlich drittens das gewordene Sein „durch die mit der Begrenzung sich ergebenden Maße“.19 Diese drei Kategorien sind nun aber, nach Platon, nur sekundär ursächlich miteinander verknüpft, da sie insgesamt dem Bereich des Werdens angehören, d. h. lediglich „das Werdende und das, woraus wird“20 beschreiben. Diesem wird nun als viertes die eigentliche „Natur des Bewirkenden (poiou= ntoò —ýsiò)“21, das, was „jenes sämtlich bildet (dhmiourgou= n)“,22 zugrunde gelegt. Hier scheint wieder der bereits aus dem Phaidon bekannte ordnungsstiftende nou= ò des Anaxagoras auf, welcher etwas weiter im Dialog als „König des Himmels und der Erden“ bezeichnet und darauf folgend genauer untersucht wird.23 Für das hier zu behandelnde Thema ist es aber von primärer Phaidon 79e 7–80a 2. Vgl. G. Vlastos, ,Slavery in Plato’s Thought‘, a. a. O., S. 154. 17 Vgl. Philebos 25c 5–d 1. Der Bereich des Unbegrenzten entspricht der verabsolutierten Elementarphysik der Vorsokratiker, wie sie ,der Athener‘ in den Nomoi (889b 1–e 2) zusammenfasst. Vgl. hierzu Kapitel I. dieses Abschnitts der vorliegenden Arbeit. 18 Philebos 25d 11–e 2. 19 Philebos 26d 9–11. 20 Philebos 27a 11–12. 21 Philebos 26e 6. 22 Philebos 27b 1. 15 16

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§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

Bedeutung, wie im Philebos, deutlicher noch als im Phaidon, das Verhältnis von kosmischem Werden und zugrunde liegender Ursache beschrieben wird: „Ein anderes also und nicht dasselbe ist die Ursache (aœtßa) und das der Ursache für das Werden Dienende (douleu= on).“24

Die Kausalitätsketten im Bereich des Werdens sind nach Platon nur ausführende Sklaven (douleu= on!) der eigentlich bestimmenden und damit herrschenden, dem Gewordenen zugrunde liegenden Ursache als letztendlicher Ermöglichungsgrund allen Seins. Der nou= ò als kosmisches logistikÎn verfügt als Herr über die zu Materie zu werden begehrenden Sklavenursachen einer unbegrenztbegrenzten Welt des begrenzt Unbegrenzten. Eine detailliertere Darstellung der Aufgabenteilung zwischen ursprünglicher Ermöglichungsursache und abgeleiteter Kausalursache bietet uns der Spätdialog Timaios. Auch hier gibt es eine klare Unterscheidung zweier Arten von Ursachen: „Wer aber Vernunft und Erkenntnis liebt, der muss notwendig zuerst die Ursachen verfolgen, die zur verständigen Natur gehören (æm—ronoò —ýsewò aœtßaò prþtaò); an zweiter Stelle aber erst die, welche zu denen gehören, die, von anderen in Bewegung gesetzt, aus Notwendigkeit (˜nÜgkhò) wieder anderes in Bewegung setzen, so also müssen auch wir verfahren: Wir müssen beide Arten von Ursachen angeben, doch auseinander halten müssen wir diejenigen, welche mit Vernunft Urheber von schönen und guten Dingen sind, und die, welche von der Überlegung im Stich gelassen, jeweils regellos das Zufällige bewirken.“25

Die erste Ursache wird hier und im Folgenden beschrieben als intelligent, göttlich und schöpferisch für alles, was gerecht und gut ist. Die zweite ist notwendig, irrational, zufällig und ordnungslos. Dem hier und andernorts im Dialog die Sekundärursache maßgeblich beschreibenden Begriff der Notwendigkeit kommt durch die Zuordnung der Adjektive ,unvernünftig‘, ,zufällig‘ und ,regellos‘ eine andere Bedeutung zu, als sie uns heutzutage geläufig ist. Zufall und Notwendigkeit schließen sich im antiken Denken nicht aus, da, wie Cornford ausführt,26 für Platon wie auch für Aristoteles das Gegenteil von Zufall nicht die Notwendigkeit, sondern der Zweck ist. Die Dinge geschehen aus einer naturgemäßen, ihnen innewohnenden Notwendigkeit heraus und können im Rahmen einer Verknüpfung mehr oder weniger zufälliger Kausalketten notwendig nicht anders sein als sie sind. Feuer beispielsweise kann nur erhitzen, aber nicht abkühlen und es macht für das Feuer keinen Unterschied, ob es Wasser zum Kochen bringt oder ein Haus in Asche legt. Diese Differenz kommt erst Philebos 28c ff. Philebos 27a 8–9. 25 Timaios 46d 7–e 6. 26 F. M. Cornford, Plato’s Cosmology, London 1937, S. 158–177, insbesondere S. 166 ff. 23 24

II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit

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dann ins Spiel, wenn hinter der Anwendung des Feuers ein zweckgerichteter Wille steht. Der Zufall, der sich aus der wesensimmanenten und damit notwendigen Eigenschaft einer Sache ergibt, kann nur durch einen Zweck aufgehoben werden, der ihr beigemessen wird.27 In dieser Hinsicht ist die Primärursache an die Bedingungen der Sekundärursache geknüpft. Der Demiurg des Timaios, als sinnbildliche Darstellung der kosmischen Vernunft bzw. des nou= ò, legt zwar die waltenden Gesetze des Kosmos fest, doch kann er die Natur der ihm vorgegebenen, ungeordneten, elementaren Vorstufe der Materie nicht wesentlich verändern, so dass der gewordene Kosmos aus einer Wechselwirkung von Primär- und Sekundärursache hervorgeht, wobei das wesentliche Mittel zur Einflussnahme der Vernunft auf die vernunftlose Notwendigkeit die Überredung ist: „Denn das Werden dieser Weltordnung entstand als aus einer Vereinigung von Notwendigkeit und Vernunft gemischt. Indem aber die Vernunft über die Notwendigkeit dadurch herrschte (årxontoò), dass sie sie überredete, das meiste des im Entstehen Begriffenen dem Besten entgegenzuführen, so bildete sich auf diese Weise und indem die Notwendigkeit durch besonnene Überredung (peiqou= ò æm—ronoò) besiegt wurde, am Anfang dieses All.“28

Worauf diese Überredung zielt, wird dann etwas später im Text klar: „[. . .] dass der Gott allerwärts, nachdem sie [die Proportionen] überall dort, wo die Natur der Notwendigkeit sich freiwillig und nach Überredung fügte (pei=ken), von 27 Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes hier noch einige Beispiele in Cornfords eigenen Worten: „Food is a necessary of life: we must have food, if we are to live; but it is not necessary that we should live. If I wish to recover a debt, I may have to sail to Aegina to find my debtor; but nothing compels me to sail. The necessity lies in the links connecting the purposing will at the beginning of the chain with the attainment of the purpose at the end; we need not think of it as extending further in either direction. Reason and will are conditioned by this concatenation of indispensable means. So is it with the craftsman. If I wish to cut wood, I must make my saw of iron, not of wax. Iron has certain properties of its own, indispensable for my purpose. On the other hand, I can take advantage of this very fact to attain my end. I can make use of those properties to cut wood, though the iron in itself would just as soon cut my throat. There is also the necessity residing in the properties themselves and governing their action. Fire has the characteristic power [. . .] of burning heat. Fire can act only in one way; it can heat other things, but not cool them. By virtue of this necessity of the fire’s own nature, its action is so far regular. But just because it acts thus by constraint of its nature, Plato describes such causation as aimless or ,wandering‘. The action is blind and undirected by purpose. If I strike a match to light a fire in my grate and warm myself, I am availing myself of the fire’s power. The fire is indifferent to my purpose and has none of its own. If there is a wooden beam in my chimney, the fire may go on to burn down the house – a result neither foreseen nor desired. Once started by my voluntary action, the process of combustion will go on of itself. I did not ordain that process and it may get beyond my control. Yet, within certain limits I can direct its action into a channel leading to a foreseen and purposed end.“ F. M. Cornford, a. a. O., S. 174. 28 Timaios 47e 5–48a 5.

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§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

ihm mit Sorgfalt hergestellt waren, diese Dinge nach zahlenmäßigem Verhältnis zusammengefügt hat.“29

Der kosmische nou= ò beeinflusst also durch Überredung die kausalen Sekundärursachen, von denen es bereits vorher im Dialog hieß, dass „diese Dinge [. . .] weder irgendein Denkvermögen (lügon) noch eine Vernunft (nou= n) für irgendeine Aufgabe an sich haben;“30

dahingehend, dass diese sich gemäß der rein rationalen Ordnung geometrischer Proportionen verhalten. Die herrschende Vernunft, welche die Führung über ein ausgeprägt defizitäres logistikÎn übernimmt, das nicht in der Lage ist, sich selbst eine höheren Zwecken verbundene zielgerichtete Ordnung zu geben, entspricht genau dem Verhältnis von Herr und Sklave, wie es bei Platon im Bereich der Psyche und daraus folgend der Polis dargestellt wurde. Aus dieser Perspektive wird auch das vom Demiurgen angewandte Mittel der Überredung deutlich als massive Einflussnahme auf die Sekundärursachen, die sich nachdrücklich von einer begründeten Belehrung unterscheiden, welche sich nur an eine ebenbürtige Vernunft richten kann. Die Anfälligkeit des Sklaven für derartige Einflüsterungen und daraus sich ergebende wechselhafte Meinungen wurde bereits als spezifisches Merkmal der Sklavenseele aufgezeigt.31 29 Timaios 57c 5–7. „pei=ken“ ließe sich für unseren Zweck und auch der ursprünglichen Wortbedeutung gemäß besser mit ,dienen‘ übersetzen. Vlastos paraphrasiert diese Stelle sehr frei, aber nicht unzutreffend mit ,. . . makes it a willing slave‘. Vgl. G. Vlastos, ,Slavery in Plato’s Thought‘, a. a. O., S. 156. Dessen ungeachtet ergibt sich für die Primärursache der kosmischen Vernunft eine Determinierung der Schöpfung, welche durch die wesensimmanente Natur der Notwendigkeit bestimmt ist und nicht durch die Überredung aufgehoben werden kann, so wie es auch für den Herrn beim besten Willen unmöglich ist, von seinen Sklaven etwas zu verlangen, das weit über ihre Fähigkeiten hinausgeht. In diesem Sinne stellt auch Cornford, a. a. O., S. 176, fest: „Necessity cannot be wholly persuaded by Reason to bring about the best result conceivable. Reason must be content to sacrifice the less important advantage and achieve the best result attainable. [. . .] in my opinion, the body of the universe is not reduced by Plato to mere extension, but contains motions and active powers which are not instituted by the divine Reason and are perpetually producing undesirable effects.“ Diese unerwünschten Wirkungen können als Ursache des Bösen in der platonischen Kosmogenese angesehen werden und haben ihren Grund in der absoluten Vernunftlosigkeit der materiebildenden Sekundärursachen. Die Bedingung der Möglichkeit des Bösen in der Welt hat somit die gleiche Wurzel wie die Sklaverei und beides kann nur durch den größtmöglichen Einfluss des nou= ò bzw., im menschlichen Bereich, des logistikÎn im Zaum gehalten werden. Zum Problemkomplex des Bösen bei Platon sei auf das Buch von F. P. Hager, Die Vernunft und das Problem des Bösen im Rahmen der platonischen Ethik und Metaphysik (= Noctes Romanae 10), Bern 1963 und den Aufsatz von H. F. Cherniss ,The Sources of Evil according to Plato‘, in: ders., Selected Papers, Leiden 1977, S. 253–260, hingewiesen. 30 Timaios 46d 4. 31 Vgl. § 2, Kapitel II.2. der vorliegenden Arbeit und hier insbesondere Fn. 84. Siehe auch Timaios 51e 3–7. Analog zur Kosmogenese des Timaios werden auch die Gesetzeswächter der Nomoi dazu angehalten, die Strafandrohung des Gesetzes mit der

II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit

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Schließlich ergibt sich aus dem Begriff der Notwendigkeit eine von Platon wahrscheinlich nicht unbeabsichtigte Assoziation, die einem modernen Leser leicht entgehen kann. Der Gedanke der Notwendigkeit ist in der griechischen Antike eng mit dem Begriff der Sklaverei verknüpft, als eines zufälligen, schicksalhaften Ereignisses, gegen das man sich nicht auflehnen kann, zumal für Platon, der dieses Schicksal an die Idee der Seele knüpft. So schreibt Thomson in seinem Kommentar zur Oresteia des Aischylos: „The ideas of douleia and ananke are almost inseparable in Greek, the word ananke being constantly used to denote both the state of slavery as such, and also the torture to which the slaves were subjected. “32

Das Verhältnis der protoursächlichen kosmischen Vernunft und der vernunftlosen sekundären Ursachen der Materialisation vollziehen sich nach den gleichen Prinzipien, denen auch Herren und Sklaven in der Polis unterliegen. Die Wohlgeratenheit des Gesellschaftsgebildes wird durch die Vernunft des Herrn gewährleistet, der sich die ungeordneten Energien seiner Sklaven zu nutze macht und diesen damit einen Platz innerhalb der Ordnung zuweist, die so überhaupt erst zustande kommt, so wie der Demiurg des Timaios, „indem er die in diesem Bereich vorhandenen Ursachen als dienende (phretoýsaiò) benutzte, selbst jedoch die Wohlgeratenheit bei allem Werdenden zustande brachte.“33

So wie der Herr dem Sklaven Befehle erteilt, damit dieser nicht in Chaos und Unordnung verfällt, überredet der Demiurg, als der weiseste Herr, die Notwendigkeit und macht sie sich zu seinem willigen Sklaven. Die Herrschaft im Kosmos wie die Herrschaft in der Polis sind bei Platon analog gesetzt zu der Herrschaft über den Sklaven. So betrachtet, gibt es in der platonischen Philosophie nur einen wirklich Freien, den Demiurgen, der allerdings wiederum an die ihn selbst ausmachende höchste Vernunft gebunden ist und von ihr abhängt, indem er sie perfekt anwendet. Dies ist platonisch gesprochen das ,Gute‘ selbst, von dem bereits im Phaidon gesagt wird, dass der kosmische nou= ò nur in strenger Ausrichtung und Bezogenheit auf dieses sich konstituieren und die Welt ins Dasein bringen kann.34 Alle davon ausgehenden Ursachen dienen den durch die Überredung zur freiwilligen Annahme durch die Bürger zu verbinden. Vgl. Nomoi 723a 1–d 4. 32 G. Thomson, The Oresteia of Aeschylus, Vol. II, Cambridge 1938, S. 345. Diesen Literaturhinweis habe ich dem Aufsatz von Vlastos ,Slavery in Plato’s Thought‘, S. 155, zu verdanken. 33 Timaios 68e 4–6. Das Wort ,dienen‘ taucht in diesem Zusammenhang bereits schon einmal vorher im Text auf. Nach der mechanischen Darstellung der Funktionsweise des Auges heißt es dort: „All dieses nun gehört zu den Mitursachen, deren sich der Gott bei der Herstellung der Form des Bestmöglichen als Hilfsmittel bedient (phretou= sin)“ (Timaios 46c 7–8). 34 Gemeint ist die Verknüpfung des Guten als des Bestmöglichen, welches als die einheitsstiftende Hauptursache durch die vielgestaltigen Mitursachen zur Ausführung

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§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

kosmische Vernunft aus dem Guten abgeleiteten Gesetzen, denen wiederum die Herrscher in den Poleis, die Philosophen, untertan sind. Diese gebieten hart, aber gerecht über die verschiedenen Stände ihres Volkes, welches ökonomisch auf Arbeitssklaven beruht, zu denen jene gehören, die aus Unfähigkeit vernünftig zu sein, nicht Herr ihrer selbst sein können, so wie die vernunftlose Materie ohne ,göttliche‘ Überredung nicht zu der schönen Ordnung gelangt, durch die sie selbst erst ermöglicht wird. Im Höhlengleichnis der Politeia lag die Betonung auf dem Aufstieg der Seele aus der Höhle zu der Einsicht in die Idee des Guten; im Timaios liegt der Nachdruck auf dem Abstieg der Idee in die noch formlose Realität.35 Die Idee des Guten als Grundbedingung der Leben ermöglichenden Ordnung muss selbst lebendig werden und sich in der Bewegung, die Ausdruck von Lebendigkeit ist, darstellen. Das kosmische Geschehen ist somit Darstellung der Selbstgestaltungsbewegung des Guten als der Primärursache, die dem erkenntnisbegabten Menschen durch die gemäß der ordnungsstiftenden Vernunft beeinflussten Sekundärursachen vermittelt ist: „Demnach muss man zwei Arten von Ursachen unterscheiden, die notwendige und die göttliche; die göttliche aber muss man, um zu einem glückseligen Leben zu gelangen, in allen Dingen suchen, soweit unsere Natur es gestattet, die notwendige aber um jener göttlichen willen, indem man überlegt, dass es ohne diese nicht möglich ist, eben jene, um deretwillen wir uns ernstlich bemühen, für sich allein zu verstehen, noch auch sie zu erfassen, noch ihrer sonst irgendwie teilhaftig zu werden.“36

Die Erkenntnis der notwendigen, d. h. an und für sich zufälligen Ursachen ist die unabdingbare Voraussetzung, in ihnen die Manifestationen einer diesen zugrunde gelegten zweckgerichteten Vernunft zu sehen. Das Glück des Individuums und letztlich auch der Polis hängt von dem Vermögen ab, diese Einsicht in einen von der Vernunft beherrschten Kosmos mit dem eigenen Leben zu harmonisieren. Die menschliche Seele, welche durch das logistikÎn an diesem kommt, wie es Sokrates in seiner Anaxagoraskritik beschreibt. Der demiurgische Gott und das Gute sind demgemäß nicht identisch. Vielmehr ist Gott der Vermittler zwischen Hauptursache und Mitursachen. Vgl. Phaidon 97d 5–99d 3. In diesem Sinne und im Hinblick auf den Dialog Phaidon schreibt Reale: „Die demiurgische Vernunft und ihre strukturellen Beziehungen zum Guten, zum Einen und zum höchsten Maß stellen die Grundlage dar, um die Bildung der Wirklichkeit auf allen Ebenen unter dem Bereich der Ideen zu verstehen, der seinerseits die Bildung des sinnlichen Kosmos in die Wege leitet“ (G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der ,ungeschriebenen Lehren‘, Paderborn 1993, S. 527). 35 Vgl. E. Voegelin, Plato and Aristotle, Order and History Volume Three, Baton Rouge 1957, S. 202: „In the Parable of the Cave the emphasis was on the ascent of the soul from the Cave to the intellection of the Idea; the emphasis has now shifted to the descent and the imposition of the Idea on formless reality.“ 36 Timaios 68e 6–69a 5.

II. Die Herrschaft des ,Nous‘ und die dienende Notwendigkeit

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nou= ò teilhat, aber ebenso aufgrund des ™piqumhtikün mit der Notwendigkeit des ihr wesensimmanenten Zufalles verhaftet ist, hat die Wahl, das Begehrliche in ihr durch ,Überredung‘ notwendig als Sklave anzuerkennen und sich damit eine selbstgemäße Lebensordnung zu geben oder andernfalls in ihrer Ganzheit Sklave in einem nach kosmischen Prinzipien geordneten und in diesem Sinne gerechten Gesellschaftssystem zu sein. Die Sklavenmetapher dient Platon demnach nicht nur dazu, wie Vlastos schreibt,37 die Kosmologie seiner Vorgänger zu überwinden, sondern ist bildhafter Ausdruck des wesentlichen Punktes der platonischen Grundüberzeugung, dass der Kosmos nur durch die Herrschaft der Vernunft existieren kann und dies ebenso für menschliche Gemeinschaften und Individuen gilt, weswegen alles Unvernünftige in diesen Bereichen der Versklavung anheim fällt, wenn diese nicht in regellosem Chaos versinken und damit der kosmischen Ordnung widersprechen sollen. Das Prinzip der Sklaverei ist somit ein essentielles Element der platonischen Kosmogenese, welches im Wechselspiel von Primär- und Sekundärursache gleichsam eine konstitutive Funktion erfüllt und daraus folgend im Rahmen der metaphysischen Psychologie und politischen Theorie Platons die ordnungsstiftende Aufgabe der Begrenzung des Unbegrenzten und der Strukturierung des Unstrukturierten erfüllt.

37 G. Vlastos, a. a. O., S. 156: „The slave metaphor occurs at the very point where Plato turns consciously away from the cosmology of his predecessors.“ Vlastos ist bemüht, die weitreichenden Implikationen seines sehr aufschlussreichen kleinen Aufsatzes zur Sklaverei bei Platon zu begrenzen. So schreibt er in einem Postscript, zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung: „I would not wish to suggest that slavery is the key to Plato’s philosophy. There are many locks in this marvelously complex and delicate mechanism, and I know of no one key, or set of keys, that opens all of them.“ (G. Vlastos, a. a. O., S. 163). Dem zweiten Satz ist zweifelsohne zuzustimmen, jedoch scheint mir die Sklaverei, ausgehend von der Definition, die sie bei Platon hat, nach meinen eigenen Forschungen zu diesem Thema ein Schlüssel zu sein, der auf nahezu alle Türschlösser des platonischen Gedankengebäudes passt, wenn dieser alleine natürlich auch noch nicht den Zugang zu allen Räumen gewährt, womit einige weiterreichende Ausführungen der vorliegenden Arbeit begründet sind. Im Übrigen schreibt Vlastos in seiner Zusammenfassung: „This study does not suggest that Plato deduced his political theory, his psychology, or his cosmology from his concept of slavery. [. . .] What it does suggest is that his view about slavery, state, man, and the world all illustrate a single hierarchic pattern, and that the key to the pattern is his idea of logos [. . .].“ (Ebd., S. 161). Sicherlich hat Vlastos recht, wenn er schreibt, dass Platon die Grundlagen seiner Philosophie nicht von seinem Begriff der Sklaverei hergeleitet hat, sondern von seiner Idee des logos und den daraus folgenden hierarchischen Mustern. Diese werden aber nirgendwo so deutlich wie in ihrer Anwendung auf den Begriff der Sklaverei in den verschiedensten Bereichen und auch die platonische Logoskonzeption gewinnt erst an Kontur durch die Gegenzeichnung des defizitären logistikÎn der sklavischen Seele. Die Realität des Sklavischen ist der notwendige Gegenpol zum Ideal des Philosophenherrschers. Ebenso wie der Kosmos aus der Wechselwirkung von nou= ò und ˜nÜgkh hervorgeht, bedarf die Gesellschaft der Politeia oder die Gesetzespolis der Nomoi des sklavischen Elementes in ihr. Eine Gemeinschaft von Philosophen im platonischen Sinne würde die gesamte politische Theorie Platons überflüssig machen.

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§ 6 Das Prinzip des Dienens im Kosmos

III. Zusammenfassung In Platons Kosmologie zeigt sich die naturphilosophische Zugrundelegung seiner Ethik, indem ein im Kosmos regierendes, übergeordnetes Vernunftprinzip gleichermaßen für den demiurgischen Schöpfergott, den Herrscher in der Polis, den Herrn über den Sklaven und den vernünftigen Seelenteil zur verbindlichen und unaufhebbaren Leitlinie des Handelns wird. Ihre Gemeinsamkeit, aus der sie ihre Autorität beziehen, liegt im Besitz des Logos, der ihnen die Einsicht in die Wirkungsweise des kosmischen nou= ò gewährt und ihnen so ermöglicht, diese Ordnung in den jeweils ihnen zukommenden Bereichen umzusetzen. Umgekehrt ergibt sich aus dem Fehlen dieses Logos bzw. einer fehlerhaften Vernunft die absolute Unterordnung unter dieses Herrschaftsprinzip, so wie die zur Materiebildung strebenden Sekundärursachen der ordnungsstiftenden Primärursache eines sie erst ermöglichenden nou= ò untertan sind und ihm gegenüber lediglich eine dienende Funktion haben. Die Sklaverei ist damit, nach Platon, als kosmisches Prinzip fundiert und gleichsam durch das Wesen und Wirken der Vernunft im Kosmos begründet und gerechtfertigt. Die hierarchischen Muster einer Gesellschaft sind so nicht, wie bei den Vorsokratikern, Ausdruck menschlicher Willkür, sondern Manifestation und Selbstgestaltung des kosmischen Gesetzes, nach welchem sich der Mensch als Herr oder Sklave, gemäß der ihm innewohnenden Seelendisposition, auszurichten hat. Die Wechselwirkung von vernünftiger Protoursache und vernunftloser Kausalursache durch ,Überredung‘ im Kosmos gewährleistet aber ebenso die Ordnung in der Polis, wie dass sie in der Individualseele die Bedingung der Möglichkeit schafft, unvernünftige Bestrebungen des begehrlichen Seelenteils in Einklang mit der Ordnung und Herrschaft des logistikÎn zu bringen. Dem Sklaven in der Polis oder dem ™piqumhtikün der Seele kommt damit eine ebenso tragende Aufgabe zu wie der dienenden Ursache im Laufe der Kosmogenese. Die ordnende Vernunft des Guten bedarf der Materialisierung durch das ungeordnet Vernunftlose, so wie das logistikÎn die regel- und ziellosen Energien des begehrlichen Seelenteils braucht, um die ihm selbstgemäße und der kosmischen Struktur ebenbildliche Ordnung zu errichten. Die Sklaverei als Institution in einem Gesellschaftssystem, welches als Darstellung eines psychischen Gerechtigkeitsmodells in größerem Maßstab begriffen wird, ist dann notwendiger Teil einer sozialen Manifestation mikro- und makrokosmischer Zusammenhänge. Der Begriff des Sklaven ist demnach, für Platon, der notwendige Gegenpol zum lügoò-nou= òKonzept, vor dessen Hintergrund die hierarchischen Muster seines Vernunftbegriffes im seelischen, politischen und kosmischen Bereich erst in Erscheinung treten können.

§ 7 Schluss I. Der platonische Sklave als psychokosmopolitisches Prinzip Erst durch die Zunahme an Importsklaven in Folge der solonischen Abschaffung der Schuldsklaverei der attischen Landbevölkerung durch die aristokratischen Landbesitzer konnte sich ein gemeinschaftlicher Begriff des freien Bürgers im antiken Athen durchsetzen. Dies ging einher mit immer gemäßigteren Formen von Tyrannei bis zur Ausbildung der Demokratie, die allen männlichen Bürgern gleiche politische Rechte ermöglichte. Freilich hatte der Bürger größeren politischen Einfluss, dessen Zeit nicht an das Geldverdienen gebunden war, weil er genug Sklaven hatte, die dies für ihn besorgten. Arbeit galt demnach als etwas Schändliches, da sie von der politischen Mitgestaltung der Polis abhielt, die in dieser Form der Stolz aller Athener war. Das Sklaventum war daher für den Bürger der klassischen Zeit etwas absolut Unabdingbares, da nur so die Errungenschaften des athenischen Volkes in der Praxis gewährleistet waren. Der Sklave gab dem Freien in seinem Selbstverständnis erst Kontur und seinem politischen Handlungsspielraum Gestalt. Arbeit galt als Defizit und war, wenn möglich, Sklavensache. Genau an diesem Punkt setzt Platon in den Nomoi an, wenn er jegliche Form von körperlicher Arbeit und selbst die Ausübung eines Handwerks seinen Bürgern untersagt, da „Staatsbürger Beruf genug ist“. Die ganze Ökonomie ruht auf Sklaven und Fremden in seiner Gesetzespolis, wobei dies allerdings keine notwendige politische Konsequenz der platonischen Philosophie ist, wie das Aussparen des Sklaventhemas in der Politeia zeigt, sondern vielmehr in einem wirtschaftlichen Desinteresse Platons begründet ist, auch wenn dabei das Problem unberücksichtigt bleibt, dass die Freien ökonomisch von den Sklaven abhängig sind. Generell ist die Freiheit der Freien in der im wörtlichen Sinne als Herrschaft der Besten aristokratisch und nicht demokratisch verfassten Gesellschaftsstruktur der Nomoi durch ein komplexes System von Unterordnungsverhältnissen geprägt, an deren Spitze die Herrscher als ,Sklaven des Gesetzes‘ fungieren und wodurch am anderen Ende der Hierarchie, vermittelt durch ihre Herren, auch die Sklaven am Gesetz und der damit verbundenen ordnungsstiftenden Idee des Guten teilhaben. Der platonische Begriff von Freiheit ist durch eine aus Einsicht herbeigeführte freiwillige Unterordnung geprägt, und erst wo eine solche aufgrund einer defizitären Seelendisposition und daraus folgender mangelnder Erkenntnisfähigkeit nicht möglich ist, beginnt im Gesellschaftsauf-

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§ 7 Schluss

bau Platons die Sklaverei als Institution. Gleichwohl sind Sklaven bei Platon immer Barbaren, d. h. Menschen aus nicht griechisch sprechenden Kulturen und nie Bürger mit seelischen Dispositionsdefiziten. Dies ist jedoch keine Inkonsequenz im platonischen Denken, sondern eine Maßnahme zur Sicherung des sozialen Friedens, um die leicht zu missbrauchende Möglichkeit auszuschließen, dass Bürger andere Bürger versklaven können. Statt dessen droht solchen die Verbannung oder im Extremfall der Tod, da sie aufgrund der erhaltenen Erziehung nun als nicht gesellschaftlich integrierbar gelten und sich somit auch nicht zum Sklaven eignen, der ja durchaus in das soziale System des platonischen Gesellschaftsaufbaus eingefügt ist. Diese Überlegungen im Spätwerk waren sicherlich beeinflusst von Platons psychologischen und politischen Beobachtungen an seinen Zeitgenossen, die ihn zu einem viel weiter reichenden Begriff von Sklaverei als allgemein üblich führten, ausgehend von der Sklaverei durch Unwissenheit, der Fron des nicht glückenden Lebens. Der Mensch, der aus mangelnder Selbsterkenntnis nicht Herr seiner selbst ist und dennoch meint, er könne die politischen Geschicke einer Polis mitgestalten, wird so im schlimmsten Fall auch noch sein ganzes Volk in die Sklaverei führen. Hierin gründet Platons Kritik an der Demokratie seiner Zeit und dort wurzelt der politische Unterbau des Höhlengleichnisses. Diese Konzeption des Sklavischen ist Platons eindringlicher Versuch, seine Zeitgenossen auf ihre Selbstversklavung durch Erkenntnisverblendung hinzuweisen, denn kein Grieche wollte Sklave in irgendeiner Weise sein. Gleichzeitig beinhaltet der Sklavenbegriff aber auch die Notwendigkeit der absoluten Unterwerfung unter das kosmische Gesetz, welches sich in den politischen Gesetzen widerspiegeln sollte. In der Erkenntnis, Sklave zu sein, liegt die Befreiung von der Unterwerfung durch Lüge, Zwang, Intrige und allen Falschheiten eines gefesselten Lebens hin zur Freiheit der Erkenntnis des einen, lebens- und ordnungsstiftenden, kosmischen Prinzips, welches alles Schöne, Gute und Wahre ermöglicht und das der Philosoph in seiner Absolutheit bedingungslos anerkennt. Um diesen langen Weg aus der Versklavung allen Bürgern der Gesetzespolis offen zu halten, bedurfte es freilich der Institution der Sklaverei, um zumindest die ökonomischen Grundbedürfnisse der Polis zu gewährleisten. Dieser Widerspruch war aber wahrscheinlich das geringste Problem, welches Platons Zeitgenossen mit seiner Philosophie hatten. Anthropologisch gesehen ist die Sklaverei tief in der platonischen Philosophie verwurzelt, da das Wesen des Sklaven in der Disposition seiner Seelenteile gründet. Sklave im übertragenen Sinne ist jeder, dessen Seele in Unordnung ist, wobei die Merkmale Zwang und Unfreiheit für den freien Bürger mit sklavischer Seele ebenso gegeben sind wie für den sich seiner Lage immerhin bewussten institutionellen Sklaven. Eine weitere Fundierung der Sklaverei als einer Notwendigkeit des Dienens findet sich in Platons kosmologischen Paradigma der dienenden Notwendigkeit, welche in der kosmischen Wohlgeordnet-

I. Der platonische Sklave als psychokosmopolitisches Prinzip

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heit unter der Herrschaft des nou= ò steht und darin das Vorbild für die Individualseele wie auch für den Aufbau der Gesellschaft abgibt. Auf einer ontologischen Ebene ist das Prinzip der Sklaverei damit sowohl psychologisch wie kosmologisch in der platonischen Philosophie verankert und berührt darin alle anderen Aspekte seines Denkens. Die platonische Polis, welche nach dem Seelenmodell entwickelt wird, besteht aus einem sorgfältig durchstrukturierten System von Herrschen und Beherrschtwerden, d. h. im weiteren Sinne aus Herren und Sklaven, wobei die Herren von einer höheren Warte aus betrachtet auch Sklaven oder doch zumindest Diener sind. Platon setzt Verfassungsprinzipien der Verfassung voran. Diese sind, einmal gegeben, unabänderlich und auch die höchsten Herrscher sind diesen unterworfen. Diesbezüglich kommt Platon dem modernen Verfassungsstaat schon recht nahe. Einem alten Athener, der an ein aktives Abstimmungsverhalten gewohnt war, musste dies freilich als eine Entmündigung und Entrechtung der Bürger erscheinen, letztendlich als Gesetzestyrannei. Die Kategorien des Herren und des Sklaven gehen konsequent aus Platons hierarchischer Dialektik hervor. Gleichwohl wird die Sklaverei zumeist nicht unter institutionellen Gesichtspunkten thematisiert, sondern lediglich in Bezug auf die Seele und die daraus resultierenden weit reichenden Implikationen. Die Sklaven als Institution und wirtschaftliches Standbein sind, im Gegensatz zum ontologischen Begriff des Sklavischen, keine notwendige Konsequenz platonischen Denkens, sondern lediglich eine praktikable, nicht weiter hinterfragte Annehmlichkeit. Es ist anzunehmen, dass Platon als aristokratischer Athener seiner Zeit das ethische Problem einer Klasse von Sklaven in einer Gesellschaft schlichtweg übersehen hat. So gibt es denn auch in diesem Punkt einige Ungereimtheiten in seiner Philosophie. Beispielsweise setzt die rechtlich nicht eingeschränkte Machtfülle des Herrn gegenüber dem Sklaven ein so optimistisches Menschenbild voraus, wie es uns von dem sonst in dieser Beziehung eher skeptischen Platon nicht bekannt ist. Platons hoher Erkenntnisanspruch ermöglicht es uns aber, Sklaverei in persönlichen wie politischen und wirtschaftlichen Bereichen auch jenseits einer offiziellen Institution wahrzunehmen und zu erkennen. Die Konzeption des Sklavischen als eines makro- und in Bezug auf die Seele mikrokosmischen Prinzips erlaubt es erst einmal zu verstehen, warum es mannigfaltige Formen der Sklaverei seit Menschengedenken gibt und sie bis in unsere heutige Zeit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und Absichtserklärungen fortbestehen. Auf dieser Grundlage kann dann, nach Platon, zwischen tyrannischen und ausbeuterischen Formen des Sklaventums als offensichtlicher oder kaschierter Unterdrückung zum einen und einer Anwendung des Sklavenprinzips im Sinne einer notwendigen Unterordnung zum Zwecke der Umsetzung einer gerechten psychischen wie

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§ 7 Schluss

politischen Ordnung in Hinblick auf die kosmische Struktur zum anderen unterschieden werden. In der Anerkennung des Sklavischen ist bei Platon Psyche mit Polis und Kosmos in einer Weise verknüpft, die Freiheit erst ermöglicht, indem pervertierte Zwangsverhältnisse im Lichte einer gerechtigkeitsstiftenden Hierarchie bloßgestellt werden. Dieser Prozess mitsamt all seinen politischen Auswirkungen geht, gemäß der platonischen Anthropologie und dem delphischen, von Sokrates zum Leitmotiv erhobenen ,Erkenne Dich selbst‘, vom einzelnen Menschen aus. Als Befreier kann nur auftreten, wer selbst befreit und Herr seiner selbst ist. Gerade die jüngere Geschichte hat wieder gezeigt, wie viel Unheil entsteht, wenn ein Mensch mit sklavischer Seele, die von den Begierden beherrscht wird, zu politischer Macht gelangt. Die Sklaventhematik eröffnet somit nicht nur ein tieferes Verständnis des platonischen Gedankengebäudes, sondern in ihrer weit reichenden Dimension und unüblichen Perspektive auch einen neuen Blick auf uns selbst, unsere Mitmenschen und die politischen Verhältnisse, in denen wir leben.

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Personenverzeichnis Ackrill, John L. 19 Adam, James 182 Aischylos 162, 257 Alexander VI. 40 Alexander von Aphrodisias 20 Alkidamas 32, 33 Allen, Reginald E. 19 Anaxagoras 250, 252–253 Annas, Julia 110, 111 Antiphon 250 Antisthenes 33 Aquin, Thomas von 39 Aristophanes 202 Aristoteles 16, 17, 20, 25, 32–35, 39, 92, 105–108, 110, 128, 132, 181, 201, 213, 215, 225, 234, 244, 254 Aristoxenos 20 Athenaios 29 Augustinus 39 Augustus 37 Austen, Ralph A. 39 Austin, Michel 179 Bärsch, Claus-Ekkehard 107 Bellen, Heinz 14 Bisinger, Josef 219 Böhme, Jakob 149 Bormann, Karl 148 Burn, Andrew Robert 192 Calvert, Brian 176–179, 182, 186, 189 Chadwick, John 29 Cherniss, Harold F. 256 Chrysippos 36 Cook, John Manuel 192 Cornford, Francis M. 249, 254–256 Cushman, Robert E. 119

Davis, David Brion 26 Delacampagne, Christian 14, 26–27, 30, 40, 171–172 Demokritos 250 Despotopoulos, Constantin 177–178, 182–185, 187–188 Detienne, Marcel 14, 161 Diogenes 93 Diogenes Laertios 46, 93, 130, 163, 243 Drakon 30 Edelstein, Ludwig 15, 209–210, 214, 217 Empedokles 250 Epiktetos 36 Erasmus von Rotterdam 42 Ficino, Marsilio 16 Finley, Moses I. 14, 26, 30–31, 37–38, 181 Fischer, Norbert 249 Foucault, Michel 129–132, 136–137 Frede, Dorothea 201 Friedländer, Paul 16, 18, 57, 122, 173 Frisk, Hjalmar 50 Fritz, Kurt von 160 Frutiger, Perceval 57, 62 Frye, Richard N. 192 Gadamer, Hans-Georg 21, 119, 249 Gaiser, Konrad 17, 20 Garlan, Yvon 14, 51 Garnsey, Peter 33, 35 Goethe, Johann Wolfgang 149 Gorgias 33, 120 Graeser, Andreas 18–19, 55 Gschnitzer, Fritz 49–50

Personenverzeichnis Hadot, Pierre 137 Hager, Fritz-Peter 256 Hall, Edith 110 Halperin, David M. 129 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 83 Heidegger, Martin 122, 142, 144, 150 Heinimann, Felix 163 Hermann, Karl Friedrich 17 Hermodoros 20 Herodotos 49, 199 Herzfeld, Ernst 192 Hesiod 23, 111, 159–162, 165–166, 168, 171, 176, 189, 195 Hirzel, Rudolf 160 Höffe, Otfried 124 Hölderlin, Friedrich 144 Homeros 29–30, 111, 198 Hurmence, Belinda 36 Jaeger, Werner 18, 119 Jesus Sirach 28 Julius Cäsar 37 Kahrstedt, Ulrich 47–48 Kant, Immanuel 17 Klees, Hans 13–14, 63, 99, 126, 219 Kolumbus, Christoph 40 Krämer, Hans Joachim 20–21 Kuhn, Helmut 123 Leukippos 250 Levinson, Ronald B. 176, 182, 185–186 Licht, Hans 134–135 Lisi, Francisco L. 163 Locke, John 42 Mactoux, Marie-Madeleine 49 Mahieu, Wauthier de 250 Marx, Karl 44 Meillassoux, Claude 172 Mercier, Louis Sébastien 43 Mittelstraß, Jürgen 119

275

Mohr, Richard D. 249 Montesquieu, Charles-Louis de 42 Morrow, Glenn R. 11–13, 31, 49–50, 99, 126, 178, 181, 213–216, 219, 224, 226, 228–230, 235–240, 242–243, 246 Morus, Thomas 42 Moses 28 Mugerauer, Roland 15 Mugler, Charles 249 Murray, Oswyn 192, 194 Natorp, Paul 18, 119 Nietzsche, Friedrich 150 Oehler, Klaus 18 Olympiodoros 16, 47, 112 Osterhammel, Jürgen 30–31, 41–43 Patterson, Orlando 26 Patzer, Andreas 15 Paulus 38–39 Perikles 30 Perls, Hugo 249 Petronius 37 Philemon 33 Planinc, Zdravko 148, 153 Plotin 16 Plutarch 31, 47–48, 199 Popper, Karl 19, 177, 182 Protagoras 161, 163–164, 169, 250 Pythagoras 20 Reale, Giovanni 249, 258 Reinhardt, Karl 57 Ritter, Constantin 58 Ross, William David 18 Rousseau, Jean-Jacques 42, 170–171 Saint-Pierre, Bernardin de 43 Sandvoss, Ernst 212, 218 Schadewaldt, Wolfgang 20–21, 160 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 115

276

Personenverzeichnis

Schleiermacher, Friedrich 17, 20, 25, 130, 188 Schumacher, Leonhard 14, 66, 104 Scott, John A. 63 Seneca 36 Sextus Empiricus 20 Sigerist, Henry Ernst 66 Simmias 16 Sloterdijk, Peter 240 Smith, Adam 43 Sokrates 15, 45, 51, 55, 57, 63–64, 72– 73, 75, 89–91, 107, 112–113, 130, 136–139, 141–143, 146, 148–149, 151, 153, 155, 163, 173, 175, 179, 182– 184, 218, 252, 258, 264, 270 Solon 30–31, 96, 194, 199, 201, 221, 224, 261 Spaemann, Robert 87 Spartacus 37 Speusippos 16 Stenzel, Julius 18, 119 Stewart, John Alexander 57 Strauss, Leo 19, 133 Swift-Riginos, Alice 112

Theopompos 29 Thomas, Hugh 41 Thomson, George 257 Thukydides 29, 110, 194, 200 Trajan 37

Tacitus 38 Taylor, Alfred Edward 58 Thales 68, 250 Theophrastos 20

Xenokrates 16 Xenophon 50, 244

Vernant, Jean-Pierre 14, 160–161 Vidal-Naquet, Pierre 14, 29–31, 165, 179, 200 Vlastos, Gregory 12–13, 19, 71, 173, 178, 180–183, 185–186, 249, 253, 256–257, 259 Voegelin, Eric 19, 146, 155, 172, 198, 204, 258 Vogt, Joseph 14, 182

88, 111, 188, 176,

Wehrli, Fritz 66 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich v. 17, 46–47, 58 Wild, John 178, 180–181 Will, Edouard 161 Winkler, John J. 129, 134

Zenon (Stoa) 36