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German Pages 154 Year 2003
FRAUKE WERNECKE
Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand
Schriften zum Prozessrecht Band 179
Die Einheitlichkeit des europäischen und des nationalen Begriffs vom Streitgegenstand
Von Frauke Wernecke
Duncker & Humblot . Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 200112002 als Habilitation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-11064-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §
Vorwort Gibt es einen Weg, den nationalen Begriff vom "Streitgegenstand" mit dem des "Anspruchs" im Sinne des Europäischen Gerichtshofs in Übereinstimmung zu bringen und auf diese Weise die Leistungs- und Feststellungsklage miteinander zu versöhnen? Die vorliegende Arbeit versucht, den "Streitgegenstand" des Prozessrechts aus seiner Verbindung mit dem materiellen Recht zu bestimmen und ihn auf diese Weise aus der Fixierung auf den Antrag der Klage- oder Rechtsmittelschrift zu lösen. Die von der Verfasserin vollzogene Hinwendung auf das sachliche Recht greift einen fast in Vergessenheit geratenen Gedanken der deutschen Prozessrechtslehre wieder auf, entwickelt ihn weiter und darf gleichlautende Meinungen im österreichischen und französischen Recht für sich in Anspruch nehmen. Die Arbeit ist im Wintersemester 200112002 durch den Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als eine der Habilitationsleistungen der Verfasserin anerkannt worden. Herrn Professor (ern.) Dr. Horst-Eberhard Henke gilt mein Dank für die hilfreiche Durchsicht des Manuskripts. Frauke Wernecke
Inhaltsverzeichnis I.
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.
Der "materiale" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH und die aus ihm zu ziehenden Folgerungen für Art. 21 und 22 EuGVÜ ... . .. ... . . ...... . ... . ...... . ...... . ...... . .... . .. .. .... . . I. Der Rechtsstreit Gubisch . /. Palumbo - Identität des "Anspruchs" bei Leistungs- und negativer Feststellungsklage über dasselbe subjektive Recht? ... .... ........... . . .... ........... .. . . .......... .. ..... 2. Der Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj - die Konkretisierung und Verfestigung des europäischen Anspruchsbegriffs . ........... .. . ... .... 3. Der Rechtsstreit Drouot assurances ./. CMI industrial sites - die einheitliche Reichweite von Rechtskraft und Rechtshängigkeit bei Identität der "Ansprüche" .......... .. ........................ . . . ...... 4. Der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit bei "qualitativer Teilidentität" von Streitgegenständen . .............. . ................. 5. Der Begriff des "Anspruchs" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - eine Zusammenfassung ................. .. ..... . ... 6. Der Anwendungsbereich des Art. 22 EuGVÜ: Die Verbindung von Verfahren mit verschiedenen "Ansprüchen" .. . ............. .. ......
m.
Der nationale, im sachlichen Recht wurzelnde Begriff vom "Streitgegenstand" .. . . . . . . . ..... ... . . ... ... ... .. ...... ... .. . . . . . .... . .. . . . 1. Die Maßgeblichkeit des Antrags nach dem sog. prozessualen Streitgegenstandsbegriff - materiellrechtliche Normenkonkurrenz und Anspruchshäufung ........................................ . ..... 2. Die Identität der Streitgegenstände bei konkurrierenden Leistungs- und negativen Feststellungsklagen ... .. ... ....... ... ... .. ...... .. . .. .. a) Die verschiedenen Gestaltungen des Zusammentreffens von Leistungs- und negativer Feststellungsklage .. ... . ............. . .... b) Die vollständige oder teilweise Identität der Streitgegenstände .... c) Die Folgen der Rechtshängigkeitseinrede - dauernde Unzulässigkeit des später angestrengten Verfahrens? . . ..... .. ...... .. ...... d) Der Gesichtspunkt der Prozessökonomie oder die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen - worin besteht der wesentliche Zweck des Einwandes der Rechtshängigkeit? ................... e) "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" - die grundsätzliche Gleichwertigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage . ... .... . . aa) Genereller Vorrang der Leistungsklage? . ... . ........ .. ... . . bb) Genereller Vorrang der negativen Feststellungsklage? . .. .....
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14 15 34 41 44 47 49 53 55 68 68 70 76 82 83 83 92
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Inhaltsverzeichnis cc) Die Ausnahmen vom Grundsatz der zeitlichen Priorität 98 dd) Die Widerklage als Gewähr für einheitliche und zügige Entscheidungen bei teilweise oder vollständig identischen Streitgegenständen ........................................... 102
IV. Der Vergleich zwischen dem nationalen Begriff des "Streitgegenstandes" und dem europäischen Begriff des "Anspruchs" - eine Bilanz . . . 106 V.
Die "Streitanhängigkeit" des österreichischen, die "litispendance" des französischen und die "lis alibi pendens" des englischen und US-amerikanischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Identität der Klage nach den Erkenntnissen des österreichischen Zivilprozessrechts ............................................... 2. Der Streitgegenstand in der Sicht des französischen Zivilprozessrechts 3. Die Abwehr einer Klage wegen Rechtshängigkeit eines vorangehenden Verfahrens im englischen und US-amerikanischen Recht ............
109 109 116 123
VI. Zusammenfassende Thesen ....................................... . 135 Literaturverzeichnis ................................................... 150
I. Einleitung Die Begriffe des "Streitgegenstandes" bzw. des erhobenen "Anspruchs" sind sowohl im nationalen als auch im europäischen Recht von Bedeutung: Zum einen legen sie die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis fest), zum anderen bestimmen sie die Identität des Rechtsstreits im Verhältnis zu anderen Verfahren2 , entscheiden mithin darüber, ob "eine und dieselbe Sache" bei zwei oder gar mehreren Gerichten anhängig ist. Sollte dies zu bejahen sein, ist es Aufgabe des Prozessrechts, nicht nur sog. Doppeloder Parallelverfahren3 , sondern vor allem unvereinbare Urteile zu vermeiden. 4 I Die Vorschrift des § 308 Abs. 1 ZPO lautet: "Das Gericht ist nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist. Dies gilt insbesondere von Früchten, Zinsen und anderen Nebenforderungen. " P. Böhm, Die Ausrichtung des Streitgegenstandes am Rechtsschutzziel, in: Festschrift für W. Kralik, 1986, Seite 83, 84 f., spricht hier von der "verfahrensinternen bzw. innerprozessualen" Abgrenzungsfunktion des Streitgegenstandes, der sich insoweit als Verhandlungs- und (potentieller) Entscheidungsgegenstand darstelle. 2 Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 85, kennzeichnet diese Wirkung als "verfahrensextern bzw. außerprozessual". 3 Angesprochen ist hier der Gesichtspunkt der sog. Prozessökonomie. Dazu heißt es bei A. Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, 1999, Seite 34: "Das Rechtshängigmachen an mehreren Foren ist nicht mehr durch das Rechtsschutzinteresse gedeckt und bedeutet doppelte Mühen und Kosten der befragten Justizbehörden. " 4 RGZ 160, Seite 338, 344 f.; A. Blomeyer, Beiträge zur Lehre vom Streitgegenstand, in: Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin, 1955, Seite 51, 63; aus europäischer Sicht: M. Wolf, Einheitliche Urteilsgeltung im EuGVÜ, in: Festschrift für K. H. Schwab, 1990, Seite 561, Seite 564 sub 2; W.-D. Walker, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH nationales Recht unter gemeineuropäischem Einfluß, in: ZZP 111 (1998), Seite 429, 437 sub 1 a. Die Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen ist aus den Gesichtspunkten des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit geboten. Bei Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 31, heißt es hierzu in einer idealistischen Ausdrucksweise: "Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß beide Parteien soweit wie möglich den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit gewahrt sehen wollen, und daß sie erwarten, daß ein Verfahren für ihren Rechtsstreit eine Lösung bereitstellt." Nach Ansicht von K. A. Bettermann, Rechtshängigkeit und Rechtsschutzform, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 18, ist eine Mehrzahl von Verfahren mit gleichem Streitgegenstand bereits aus dem Gesichtspunkt des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses auszuschließen.
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I. Einleitung
Für das deutsche Zivilverfahrensrecht bestimmt die Vorschrift des § 261 Abs. 3 ZPO: "Die Rechtshängigkeit hat folgende Wirkungen: 1. während der Dauer der Rechtshängigkeit kann die Streitsache von keiner anderen Partei anderweitig anhängig gemacht werden."
Aus dieser Formulierung wird allgemein geschlossen, dass nur ein, nämlich das zuerst angestrengte Verfahren, zulässig sei; weiteren Prozessen stehe die sog. Rechtshängigkeitssperre entgegen. 5 In dem Übereinkommen der Europäischen Gemeinschaft über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) vom 27. September 19686 in der Fassung des dritten Beitrittsübereinkommens vom 26. Mai 19897 bezwecken die Vorschriften der Artt. 21 und 22, einander widersprechende oder gar unvereinbare UrteileS zu vermeiden. 9 Art. 21 EuGVÜ lautet in der deutschen Fassung: ,,(1) Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht. (2) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig."
Art. 22 EuGVÜ lautet: ,,(1) Werden bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten Klagen, die im Zusammenhang stehen, erhoben, so kann das später angerufene Gericht die Entscheidung aussetzen, solange beide Klagen im ersten Rechtszug anhängig sind. (2) Das später angerufene Gericht kann sich auf Antrag einer Partei auch für unzuständig erklären, wenn die Verbindung im Zusammenhang stehender Verfahren nach seinem Recht zulässig ist und das zuerst angerufene Gericht für beide Klagen zuständig ist.
5 Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 9, formuliert knapp: "Zweck des Rechtshängigkeitseinwandes ist es, den doppelten Aufwand an Zeit, Mühe und Kosten und unter Umständen doppelte, sich widersprechende Urteile zu verhindern." 6 BGBI 72 H, Seite 774. 7 BGBl 94 11, Seite 518. Das dritte Beitrittsübereinkommen wurde anlässlich des Beitritts von Spanien und Portugal zum EuGVÜ unterzeichnet. 8 Auf die Unterscheidung zwischen "unvereinbaren" und einander "widersprechenden" Urteilen wird an späterer Stelle (H.6., Seite 49 f.) einzugehen sein. 9 Die meisten Staatsverträge über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile enthalten Vorschriften, die das Verhältnis von zwei gleichzeitig anhängigen Verfahren regeln; siehe dazu K. D. Kerameus, Zur internationalen Rechtshängigkeit, in: Festschrift für K. H. Schwab, 1990, Seite 257, 259 Fußnote 9.
I. Einleitung
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(3) Klagen stehen im Sinne dieses Artikels im Zusammenhang, wenn zwischen ihnen eine so enge Beziehung gegeben ist, daß eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechenden Entscheidungen ergehen könnten."
Die nationale und die europäische Regelung weisen vom Wortlaut her deutliche Unterschiede auf: Während die Vorschrift des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO anordnet, dass dieselbe "Streitsache" nicht anderweitig anhängig gemacht werden kann, bestimmt Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ bei Klagen wegen "desselben Anspruchs", dass sich das später angerufene Gericht "für unzuständig" zu erklären hat, wenn die Zuständigkeit des sog. Erstgerichts feststeht. 10 Ungeachtet der unterschiedlichen Formulierung entspricht die Erklärung der Unzuständigkeit nach Art. 21 EuGVÜ einer Abweisung der Klage durch das später angerufene Gericht wegen der Unzulässigkeit des Verfahrens nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO, so dass die beiden Vorschriften im Wesentlichen inhaltsgleich sind: Nach beiden Normen ist im Ergebnis das sog. Zweitgericht nicht befugt, über die bereits anderweitig anhängige Sache zu befinden, um miteinander unvereinbare Urteile zu vermeiden. 11 Die Bestimmung des Art. 22 EuGVÜ trifft demgegenüber eine Regelung, die im deutschen Zivilprozessrecht keine unmittelbare Entsprechung hat: Nach der angeführten Vorschrift kann das später angerufene Gericht das Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen aussetzen oder sich auf Antrag einer Partei für unzuständig erklären, wenn die in unterschiedlichen Vertrags staaten erhobenen, im ersten Rechtszug anhängigen Klagen "im Zusammenhang", d.h. in einer so engen Beziehung stehen, dass eine gemein10 Das französische Recht trifft demgegenüber eine dem Übereinkommen nahezu wortgleiche Regelung. Artikel 100 Nouveau Code de Procedure Civile lautet: "Si le meme litige est pendant devant deux juridictions de meme degree egalement competentes pour en connaitre la juridiction saisie en second lieu doit se dessaisir au profit de l'autre si l'une des parties le demande. A defaut, elle peut le faire d'office." - "Wenn der gleiche Rechtsstreit bei zwei gleichermaßen zur Entscheidung berufenen Gerichten anhängig ist, so hat sich das später angerufene Gericht auf Antrag zugunsten des zuerst angerufenen für unzuständig zu erklären. Fehlt der Antrag, kann dies von Amts wegen geschehen." Eine vergleichbare Regelung findet sich in Artikel 39 des italienischen Codice di Procedura Civile; siehe dazu Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 41. 11 Für den Fall, dass zwei Gerichte in verschiedenen Vertragsstaaten über dieselbe Sache unvereinbare Urteile erlassen haben, bestimmt Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ: "Eine Entscheidung wird nicht anerkannt, ... wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen demselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist; ... " Nach den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtsstreit Hoffmann ./. Krieg aus dem Jahre 1988 (Amtl. Slg. 1988, Seite 645) sind Entscheidungen miteinander nicht zu vereinbaren, wenn sich die ausgesprochenen Rechtsfolgen gegenseitig ausschließen (a. a. 0., Seite 668 f.).
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I. Einleitung
same Verhandlung und Urteilsfallung geboten erscheint, "um einander widersprechende Entscheidungen zu vermeiden ".12 Die deutsche Verfahrensordnung ermöglicht nach § 147 ZPO zwar die Verbindung mehrerer bei demselben Gericht anhängiger Prozesse derselben oder verschiedener Parteien, wenn die Ansprüche "in rechtlichem Zusammenhang" stehen oder in einer Klage hätten geltend gemacht werden könnenY Diese Regelung, deren Zweck nach Aussage der Kommentarliteratur l4 die Vermeidung "einander widersprechender Entscheidungen" ist, gestattet indessen keine Zusammenführung von Prozessen, die bei verschiedenen Gerichten anhängig gemacht worden sind. Die Parteien können, mit anderen Worten ausgedrückt, nicht von Amts wegen vor ein einziges Forum gezwungen werden. Die dem später angerufenen Gericht durch Art. 22 EuGVÜ eingeräumte Möglichkeit der Aussetzung eines Verfahrens kommt nach § 148 ZPO in Betracht, wenn die Entscheidung des aussetzenden Gerichts ganz oder zum Teil von dem Bestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzusetzen ist. Die angeführten Regelungen der Artt. 21 und 22 EuGVÜ werfen mehrere Fragen auf: In welcher Weise legt der Europäische Gerichtshof fest, ob in verschiedenen Verfahren "derselbe Anspruch" oder verschiedene "Ansprüche" verhandelt werden?15 Bezieht sich die Gefahr der "Unvereinbarkeit" auf die (hypothetischen) Entscheidungen der Gerichte über die Klagean12 Die Vorschrift des Art. 101 Nouveau Code de Procedure Civile enthält eine dem EuGVÜ deutlich ähnelnde Regelung: ,,s'il existe entre des affaires portees devant deux jurisdictions distinctes un lien tel qu'il soit de l'interet d'une bonne justice de les faire instruire et juger ensemble, il peut etre demande a l'une de ces juridictions de se desaissir et de renvoyer en I' etat la connaissance de I' affaire a l'autre juridiction." - "Wenn zwischen Verfahren, die vor zwei verschiedene Gerichte gebracht worden sind, ein derartiger Zusammenhang besteht, dass es im Interesse einer guten Rechtsprechung wäre, sie gemeinsam zu behandeln und zu entscheiden, kann der Antrag gestellt werden, dass eines der Gerichte sich für unzuständig erklärt und die Sache bei Erhaltung der bisherigen Erkenntnisse an das andere Gericht verweist." 13 Die Verbindung der Verfahren steht im pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts. Sie ist nur ausnahmsweise notwendig, z.B. bei der Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag zugleich mit der über die nachgeholte Prozesshandlung (§ 238 Abs. 1 ZPO), bei der Berufung gegen das ergänzte und das ergänzende Urteil (§ 518 Satz 2 ZPO) und vor allem bei dem Verbund von Scheidungs- und Scheidungsfolgesachen (§ 623 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Weitere Beispiele der Notwendigkeit bei A. BaumbachlW. LauterbachiP. Hartmann, Zivilprozessordnung, 60. Auflage, 2002, § 147 Rdnr. 3. 14 Baumbach/Lauterbach/Hartmann, Zivilprozessordnung, 60. Auflage, Rdnr. 1, in diesem Sinne auch R. Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, 2002, § 147 Rdnr. 1: Ermöglicht werde die einheitliche Verhandlung, Beweisaufnahme und Entscheidung (Hervorhebung durch Verf.).
I. Einleitung
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träge, auf die von den Spruchkörpern (hypothetisch) zuerkannte bzw. versagte Rechtsfolge oder (auch) auf die Beurteilung der gemeinsamen Voraussetzungen unterschiedlicher Rechtsfolgen?!6 Ist trotz der Identität der geltend gemachten "Ansprüche" an Stelle des Verfahrens nach Art. 21 EuGVÜ die Aussetzung einer später anhängig gemachten Klage nach Art. 22 EuGVÜ in Betracht zu ziehen oder ist die zuletzt angeführte Bestimmung nur anzuwenden, wenn über unterschiedliche "Ansprüche" zu befinden ist?!7 Und schließlich: Ist die europäische Festlegung des "Anspruchs" mit dem nationalen Verständnis vom "Streitgegenstand" in Einklang zu bringen!8 oder im Gegensatz dazu " mit den herrschenden deutschen Vorstellungen vom Streitgegenstand schwerlich zu vereinbaren .. !9? Die vorliegende Arbeit wird das im deutschen Recht bisher bestimmende Merkmal des Antrags einer Klageschrift auf seine eigentliche Bedeutung als (bloße) Zusammenfassung des Begehrens zurückführen und die Identität einer Klage durch den vorgetragenen Sachverhalt und das erstrebte Ziel der Klage, in anderer Ausdrucksweise das Interesse des Klägers, bestimmen.2o Damit werden die Begriffe des "Anspruchs" bzw. des "Streitgegenstandes" im deutschen und europäischen Recht auf ein gemeinsames Merkmal zurückgeführt. Die sich anschließende rechtsvergleichende Untersuchung wird erweisen, dass der Begriff des "Streitgegenstandes" in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen auch im österreichischen, französischen und (eingeschränkt) im englischen Recht durch die Verbindung zwischen dem materiellen Recht und den rechtsbegründenden Tatsachen festgelegt ist.
15 Siehe dazu im Einzelnen unten 11.1 ., Seite 16 ff. und 11.2., Seite 34 ff. sowie 11.6., Seite 49 ff. 16 Siehe dazu unten Il.l.d), Seite 31 f. und 11.6., Seite 49 ff. 17 Siehe dazu unten 11.6, Seite 49 ff. , insbesondere Fußnote 154. 18 Siehe dazu eingehend unten III., Seite 53 ff. und IV., Seite 106 ff. 19 So H. Rüßmann, Die Streitgegenstandslehre und die Rechtsprechung des EuGH - nationales Recht unter gemeineuropäischem Einfluß?, in: ZZP 111 (1998), Seite 399. 20 Siehe dazu unten II.1.b)bb), Seite 25.
11. Der "materiale" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH und die aus ihm zu ziehenden Folgerungen für Art. 21 und 22 EuGVÜ Der Europäische Gerichtshof hat sich bisher in zwei Entscheidungen mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob mehrere, von identischen Parteien in verschiedenen Vertragsstaaten erhobene Klagen "denselben Anspruch" mit der Folge betreffen, dass das später angerufene Gericht nach Art. 21 Abs. 1 EuGVÜ das Verfahren aussetzen und sich für unzuständig erklären musste. Zum einen handelt es sich um die Entscheidung in Sachen Gubisch ./. Palumbo aus dem Jahre 198721 , zum anderen um das Urteil in dem Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj aus dem Jahre 1994,z2 Den im Einzelnen zu analysierenden Äußerungen des Gerichts ist zu entnehmen, dass es den Begriff des "Anspruchs" nicht durch den Wortlaut des klägerischen Antrags, d.h. ein ausschließlich formales Kriterium, sondern auf das sachliche Recht bezogen festlegt. 23 Zu untersuchen ist, ob das Gericht aus dem insoweit "materialen" Anspruchsbegriff die zutreffenden Folgerungen für die Anwendung des Art. 21 EuGVÜ einerseits und des Art. 22 EuGVÜ andererseits zieht. In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 199824 hatte sich der Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob die Identität von "Ansprüchen" auch bei fehlender Identität der Parteien gegeben sein kann; er bejaht sie für den Fall, dass die Partei, welche die spätere Klage erhoben hat, von der Bindungswirkung des vom zuerst angerufenen Gericht gefeHlten Urteils erfasst würde. 25 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861 = NJW 1989, Seite 665. Amtl. Slg. 1994 I Seite 5439 = JZ 1995, Seite 616. 23 Der in der deutschen Fassung des Übereinkommens verwendete Ausdruck "derselbe Anspruch" ist nach Auffassung von Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 120 m. w. N., in gleichem Sinne wie der Begriff "Streitgegenstand" zu verstehen; ebenso Walker, ZZP 111, Seite 429, 430: "Der Begriff ,desselben Anspruchs' beschreibt in Art. 21 GVÜ ... den Gegenstand des Verfahrens, den Streitgegenstand. Mit Klagen wegen ,desselben Anspruchs' sind also wie in § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO solche mit identischem Streitgegenstand gemeint." Der Europäische Gerichtshof verwendet freilich nicht den Begriff des "Streitgegenstandes" - möglicherweise, um sich nicht in die Auseinandersetzungen der deutschen Prozessrechtslehre einzumischen. 24 Amtl. Slg. 1998 I, Seite 3075. 21
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1. Der Rechtsstreit Gubisch ./. Palumbo
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1. Der Rechtsstreit Gubisch ./. Palumbo Identität des "Anspruchs" bei Leistungs- und negativer Feststellungsklage über dasselbe subjektive Recht? Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 8. Dezember 1987 lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Gubisch Maschinenfabrik KG hatte vor dem Landgericht Flensburg Klage gegen einen gewissen Giulio Palumbo auf Zahlung des Kaufpreises für eine Federhobelmaschine angestrengt. Das Datum der Rechtshängigkeit dieser Klage steht nicht fest. Am 12. Dezember 1974 - jedoch später als die Klage vor dem Landgericht Flensburg, das über das klägerische Begehren noch nicht entschieden hatte - erhob der Beklagte Palumbo seinerseits Klage vor dem Tribunale in Rom auf Feststellung, dass sein Auftragsangebot vom 28. September 1974 unwirksam sei. Zur Begründung führte er aus, dieses Angebot zurückgenommen zu haben, bevor es der Gubisch KG zugegangen sei?6 Für den Fall, dass das Gericht seinen Standpunkt nicht teile, berief er sich darauf, dass der Vertrag nichtig sei, weil er sich geirrt habe und von der Gubisch KG arglistig getäuscht worden sei. Hilfsweise beantragte er, die "Auflösung" des Vertrags "auszusprechen", weil die Gubisch KG die Lieferfrist nicht eingehalten habe. In der mündlichen Verhandlung vor dem Tribunale wandte die Gubisch KG die Unzuständigkeit des Gerichts ein; sie begründete dies mit ihrer zuvor beim Landgericht Flensburg erhobenen Zahlungsklage. Das Tribunale wies diesen Einwand mit einem Zwischenurteil, gefällt am 4. Juli 197727 , zurück und rechtfertigte seine Zuständigkeit mit der fehlenden Identität des "Anspruchs" in den beiden Verfahren. 28 Gegen dieses Urteil legte die Gubisch KG ein nicht näher bezeichnetes Rechtsmittel, vermutlich die Kassation, bei dem römischen Kassationsgericht, der Corte suprema di cassazione, ein: Die Rechtsstreitigkeiten seien identisch, weil es in beiden Verfahren um den "Inhalt der Rechtsbeziehungen" gehe. Der Antrag auf Zahlung des Kaufpreises konsumiere den Antrag, die Unwirksamkeit des Kaufvertrages festzustellen, "vollständig". Schließlich bestehe ein offensichtliches Bedürfnis, unvereinbare Urteile zu vermeiden, die im andeAmtl. Slg. 1998 I, Seite 3097 Rdnr. 19. Nach deutschem bürgerlichem Recht berief sich Giulio Palumbo darauf, das von ihm abgegebene Angebot wirksam widerrufen zu haben, § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB. 27 Also über zweieinhalb Jahre nach Einreichung der Feststellungsklage bei dem Tribunale. 28 Nach deutschem Verfahrensrecht handelt es sich um ein Zwischenurteil im Sinne des § 280 Abs 2 ZPO. Das Zwischenurteil über die Zulässigkeit der Klage, gefällt nach abgesonderter Verhandlung, ist im Hinblick auf die Rechtsmittel ein Endurteil. 25
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
ren Mitgliedstaat nicht vollstreckt werden dürften. 29 Das Kassationsgericht setzte das Verfahren durch Beschluss vom 9. Januar 1986 aus 30 und legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, wie die Bestimmung des Art. 21 EuGVÜ auszulegen sei 3!: Setze der Begriff "desselben Anspruchs" die Übereinstimmung der Parteien und des "Petitums" sowie der "Causa petendi" voraus oder sei die Vorschrift auch anzuwenden, wenn bei Identität der Parteien in einem Vertragsstaat eine Leistungsklage und in einem anderen Vertragsstaat eine negative Feststellungsklage erhoben worden sei?32 Der Europäische Gerichtshof33 entschied in autonomer Auslegung 34 des Art. 21 EuGVÜ, dass die beim Landgericht Flensburg anhängige Leistungsklage und die in Rom angestrengte negative Feststellungsklage "denselben Gegenstand" aufwiesen. 35 Hierzu stellte das Gericht in einem ersten Schritt 29 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4863. Die deutsche Bundesregierung als Verfahrensbeteiligte (Art. 5 Abs. 1 des Protokolls vom 3. Juni 1971) schloss sich dieser Argumentation an (a.a.O., Seite 4864). 30 Also achtundeinhalb Jahre nach Erlass des Urteils des Tribunale! 31 Es handelte sich um ein Verfahren nach Artt. 177 EGV i. V. m. 20 EuGH Satzg. 32 Die genaue Fragestellung lautet in der deutschen Fassung des Urteils (Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4862): "Umfaßt der Begriff der ,Rechtshängigkeit' im Sinne von Artikel 21 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 auch den Fall, daß eine Partei vor dem Gericht eines Vertrags staates die Feststellung der Unwirksamkeit (oder jedenfalls die Auflösung) eines Vertrags begehrt, während die andere Partei vor dem Gericht eines anderen Vertragsstaates auf Erfüllung desselben Vertrags klagt?" 33 Verfahrenssprache war italienisch (Artt. 29 §§ 1 und 2, 103 EuGH VfO vom 19. Juni 1991; dem in Rede stehenden Verfahren lag die inhaltsgleiche Regelung des Art. 29 §§ 1 und 2 EuGH VfO vom 4. Dezember 1974, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 350 vom 28. Dezember 1974, zugrunde). 34 Die autonome Auslegung wird vom Europäischen Gerichtshof (LTU Lufttransportunternehmen GmbH & Co KG ./. Eurocontrol, Amtl. Slg. 1976, Seite 1541, 1550) definiert als eine "Auslegung, die die Zielsetzungen und die Systematik des Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der innerstaatlichen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt." Siehe dazu im Einzelnen D. Martiny, Autonome und einheitliche Auslegung im Europäischen Internationalen Zivilprozeßrecht, in: RabelsZ 45 (1981), Seite 427, 436 ff. 35 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4874. Für die vertragsautonome Auslegung des Art. 21 EuGVÜ hatte sich auch die Bundesregierung in ihrer Erklärung ausgesprochen (a. a. 0., Seite 4864 sub 2). Zur Methode der Festlegung des "Anspruchs" durch den EuGH äußern sich kritisch Wolf, Festschrift für Schwab 1990, Seite 561, 563 f.; D. Leipold, Internationale Rechtshängigkeit, Streitgegenstand und Rechtsschutzinteresse - Europäisches und Deutsches Zivilprozeßrecht im Vergleich, in: Gedächtnisschrift für P. Arens, 1993, Seite 227, 233 und ZPO-MünchKomm/Gottwald, Art. 21 EuGVÜ Rdnr. 4; im Wesentlichen zustimmend dagegen J. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, 4. Auflage, 1993, Art. 21 Rdnr. 7, Bäumer, Die aus-
1. Der Rechtsstreit Gubisch ./. Palumbo
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fest, dass die deutsche Fassung des Art. 21 EuGVÜ, in der von "Klagen wegen desselben Anspruchs" die Rede ist, im gleichen Sinn auszulegen sei wie die Fassungen in den anderen Sprachen, in denen das später angerufene Gericht das Verfahren auszusetzen und sich für unzuständig zu erklären hat, wenn mehrere Klagen "mit demselben Grund und Gegenstand" anhängig gemacht worden sind. 36 Die französische Fassung des Art. 21 EuGVÜ 37 lautet beispielsweise: "Lorsque des demandes ayant le meme objet et la meme cause sont formees entre les memes parties devant des juridictions d'Etats contraetants differents, la juridiction saisie en second lieu doit, meme d'office, se dessaisir en faveur du tribunal premier saisi. La juridiction qui devrait se dessaisir peut surseoir a statuer si la competence de l'autre juridiction est contestee."
Die Vorschrift bezieht sich mithin nach dem französischen Wortlaut auf " Klagen, die denselben Gegenstand und Grund" haben?8 Sie verwendet damit eine auch dem deutschen Prozessrecht bekannte Formulierung. So lautet die Bestimmung des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZP0 39 : "Die Klageschrift muß enthalten: ... die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs, sowie einen bestimmten Antrag."
"Grundlage" bei der Klagen, so der Europäische Gerichtshof, sei "dasselbe Vertragsverhältnis". Sie beträfen auch "denselben Gegenstand", weil es beiden Parteien um die "Wirksamkeit dieses Verhältnisses" gehe. 4o Der ländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 135 und P. Huber, Fragen zur Rechtshängigkeit im Rahmen des EuGVÜ, in: JZ 1995, Seite 603, 605 sub 4 b. 36 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4875. Der Eintritt der Rechtshängigkeit ist nach dem jeweiligen nationalen Prozessrecht festzulegen: Schlosser-Bericht zum EuGVÜ, abgedruckt bei A. Bülow/K.-H. Böckstiegel/R. Geimer/R.A. Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Band 1, B I 1 a, Nr. 601 sub 182; H. Rüßmann, Negative Feststellungsklage und Leistungsklage im Zeitpunkt der endgültigen Rechtshängigkeit im Rahmen des EuGVÜ - Entscheidungs- und Klärungsbedarf durch den EuGH, in: IPRax 1995, Seite 76, 77 sub 3; a.A. T. Rauscher, Rechtshängigkeit nach dem EuGVÜ, in: IPRax 1985, Seite 317, 321 sub VI: "Daher ist eine autonome Qualifikation nach dem Geist des Abkommens erforderlich und in der Weise vorzunehmen, daß die Wirkung des Art. 21 I EuGVÜ bereits mit Eingang der Klage bei einem nach dem EuGVU zuständigen Gericht eintritt." 37 Veröffentlicht im Journal Officiel de la Republique Fran9aise du 17 janvier 1973, page 677 S.; abgedruckt bei Bülow/Böckstiegel/Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Band 2, Nr. 600. 38 Die italienische Fassung verwendet die Formulierung "damande aventi il medisima aggetta e il medisima titala" (zitiert nach Bülow/Böckstiegel/Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, Band 2, Nr. 600). 39 Hervorhebung durch Verf. 40 In der deutschen Fassung des Urteils (a. a. 0., Seite 4876) heißt es, dass die "auf Vertragserfüllung gerichtete Klage" den Zweck verfolge, den Kaufvertrag über 2 Wemecke
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
"Kernpunkt" beider Klagen sei mithin die Wirksamkeit des Kaufvertrags. Da beide Verfahren "denselben Gegenstand" hätten, dürfe das Tribunale in Rom nicht über die später erhobene Feststellungsklage befinden. Die gegenteilige Auffassung sei nicht mit den Zielen des EuGVÜ zu vereinbaren, das "auf eine Verstärkung des Rechtsschutzes innerhalb der gesamten Gemeinschaft und eine Erleichterung der Anerkennung der in jedem Vertragsstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidungen in jedem anderen Vertragsstaat gerichtet ist,,41: Würde die streitige Frage der Wirksamkeit des Vertrages nicht allein von dem Gericht entschieden, bei dem die Klage auf Erfüllung anhängig ist, so müsste die klagende Partei damit rechnen, dass ihr die Anerkennung einer zu ihren Gunsten ergangenen Entscheidung verweigert würde. 42 Der Gerichtshof vertrat damit - in Übereinstimmung mit der Bundesregierung - die Ansicht, dass es für die Bestimmung der Rechtshängigkeit eines "Anspruchs" nicht entscheidend auf den Wortlaut der Klageanträge, sondern vielmehr darauf ankomme, die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in den Vertrags staaten zu vereinfachen und miteinander unvereinbare Entscheidungen zu vermeiden. 43 Er interpretierte folglich den Begriff "desselben Anspruchs" strikt teleologisch. 44 Die Festlegung des Begriffs des "Anspruchs" steht in deutlichem Widerspruch zu den Ausführungen des Generalanwalts Mancini in den Schlussanträgen, nach dessen Ansicht die beiden Rechtssachen "weder den Gegenstand noch die Grundlage" gemeinsam hätten. 45 Seinen Standpunkt begründete Mancini mit folgenden Wendungen46 : "In beiden Rechtssachen besteht allerdings Streit darüber, ob ein Vertrag besteht und Wirkungen entfaltet; in dem vor dem Gericht in Aensburg anhängigen Rechtsstreit ist dies eine Zwischenfrage oder genauer gesagt eine der Prüfung der Begründetheit der Klage vorgreifliche Frage. In einer derartigen Situation kann die Maschine "wirksam werden zu lassen", während die Klage "auf Feststellung der Unwirksamkeit und Auflösung" ihm gerade ,jede Wirksamkeit nehmen" solle. 41 A. a. 0., Seite 4876. 42 Die hier einschlägige Vorschrift des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ ist in Fußnote 11 wiedergegeben. Siehe dazu Huber, JZ 1995, Seite 603, 608. 43 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4864. Die italienische Regierung hatte dafür plädiert, in Ermangelung eines identischen "Anspruchs" zwischen beiden Verfahren einen "Zusammenhang" im Sinne des Art. 22 EuGVÜ anzunehmen. Sie ging unausgesprochen davon aus, dass die Anwendung der einen oder der anderen Vorschrift von der Bestimmung des "identischen Anspruchs" abhängt. 44 Zur teleologischen, d.h. auf den Sinn gerichteten, Auslegung siehe bereits R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts, 2. Theil, 2. Abteilung, 3. Auflage, 1875, Seite 446. v. Jhering spricht von der "logischen Interpretation" und stellt sie der "grammatischen" gegenüber. 45 Amtl. Slg. 1987, Seite 4861, 4870. 46 A. a. 0., Seite 4870.
1. Der Rechtsstreit Gubisch ./. Palumbo
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man nicht, wie die Bundesregierung dies tut, die Auffassung vertreten, im Sinne des Artikels 21 Absatz 1 sei die Feststellungsklage in der Leistungsklage im wesentlichen enthalten; in prozessualer Hinsicht beantragen die jeweiligen Kläger nämlich Entscheidungen, deren Inhalt und Wirkung völlig voneinander verschieden sind."
Die Behauptung einer "völligen Verschiedenheit" der erstrebten Entscheidungen vennag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil der venneintliche Käufer Palumbo die Feststellung der Nichtigkeit des Vertrags ausschließlich im Hinblick auf seine Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises begehrte. Er befürchtete offensichtlich keine weitere Inanspruchnahme durch die Gubisch KG. 47 Die vom Europäischen Gerichtshof vertretene Auffassung lautet abstrakt fonnuliert: Ist eine Leistungsklage anhängig und erhebt der Beklagte zu einem späteren Zeitpunkt48 eine Klage, um letztlich die Nichtexistenz des mit der Leistungsklage geltend gemachten Anspruchs feststellen zu lassen, so ist die Feststellungsklage unzulässig, weil sie qualitativ in der Leistungsklage enthalten ist: Müsste der Leistungsklage auf der Grundlage des streitigen Rechtsverhältnisses stattgegeben werden, so ist inzident die Feststellung getroffen, dass die vom Beklagten in Abrede gestellte Verbindlichkeit besteht. Wird sie in Ennangelung des Rechtsverhältnisses abgewiesen, ist ein gesondertes Urteil über dessen Nichtbestehen gleichfalls entbehrlich. a) Begehrte der Käufer Palumbo mit der in Rom anhängig gemachten Klage die Feststellung, dass zwischen ihm und der Gubisch KG kein Kaufvertrag bestehe, so war die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen nur mit 47 Hätte Palumbo die negative Feststellungsklage mit der (hinreichend substantiierten) Behauptung anhängig gemacht, die Gubisch KG erhebe außergerichtlich weitere Ansprüche aus dem vermeintlichen Kaufvertrag, wäre die gerichtliche Auseinandersetzung über die gemeinsame Voraussetzung dieser Rechtsfolgen vorweggenommen. Das Gericht in Rom hätte hier - und zwar in Bezug auf die außergerichtliche Inanspruchnahme - über ein vorgreifliches Verhältnis in rechtskraftflihiger Weise zu entscheiden und insoweit über einen anderen "Anspruch" als den auf Zahlung des Kaufpreises zu befinden. Die Urteilsformel hätte - den Erfolg der Klage und die Zulässigkeit der Parallelverfahren unterstellt - in deutscher Formulierung lauten müssen: "Unbeschadet der Entscheidung in dem Verfahren . . . über die Verpflichtung des Klägers zur Zahlung von ... an den Beklagten wird festgestellt, dass zwischen dem Kläger und dem Beklagten kein wirksamer Kaufvertrag besteht." Siehe dazu noch unten III.2.b)aa), Seite 73 ff. (insbesondere Fußnote 270) und III.2.e)bb)(2), Seite 92. Eine einheitliche und gleichzeitige Entscheidung über die gemeinsame Grundlage aller streitigen Ansprüche ließe sich nach deutschem Prozessrecht kraft einer Zwischenfeststellungswiderklage im Sinne des § 256 Abs. 2 ZPO erreichen (RGZ 126, Seite 54, 60; dazu im Einzelnen unten III.2.e)dd), Seite 102 ff.). 48 Zur Festlegung des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit siehe Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 99 ff.
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Ir. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
dem Blick auf die (hypothetische) Fassung des Tenors des Leistungs- und des Feststellungsurteils zu verneinen, denn die Leistungsklage auf Zahlung des Kaufpreises hätte (beispielsweise wegen der vom Beklagten hilfsweise geltend gemachten Einrede der Wandelung oder eines Leasingvertrags) abgewiesen werden können49 ; gleichfalls ist es denkbar, dass die später erhobene negative Feststellungsklage wegen eines geschlossenen Vergleichs mit Ratenzahlung des Käufers erfolglos blieb. 5o Theoretisch wäre es sogar möglich, dass sowohl einer Leistungs- als auch einer negativen Feststellungsklage stattgegeben werden könnte: Der Zahlungsanspruch der Verkäuferin gegen den Käufer könnte - die Anwendbarkeit deutschen Rechts unterstellt - aus einem anderen Verhältnis als dem Kaufvertrag, etwa dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung im Falle einer vollständigen Abnutzung der Sache durch den Käufer (§§ 812 Abs. 1, 818 Abs. 2 BGB), gerechtfertigt sein. 51 b) Verwirklicht sich die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen nach den bisherigen Ausführungen nicht in der Fassung des (hypothetischen) Tenors, d. h. dem Ausspruch der Entscheidung über den Klageantrag, so kann sie nur auf die (hypothetische) Begründung der Urteile bezogen werden, kraft der die zwischen den Parteien streitige Rechtsfolge in Beziehung zum sog. Lebenssachverhalt und zu den darauf anwendbaren materiellrechtlichen Vorschriften gesetzt wird. aa) Die These des Gerichtshofs, dass der streitige "Anspruch" nicht durch den gestellten Antrag fixiert, die Identität von "Ansprüchen" mithin nicht an die Identität der Anträge gebunden sei, scheint in deutlichem Gegensatz zu den Erkenntnissen der deutschen Prozessrechtswissenschaft zu stehen, den Rüßmann mit folgenden Wendungen skizziert52 : "Gubisch/Palumbo hatte eine Problemkonstellation zum Gegenstand, in der es nach geltendem deutschen Zivilprozßrecht nicht zu einer Rechtshängigkeitssperre gekommen wäre. Die Wirksamkeit des Kaufvertrags ist ein bloßes Begründungselement (Präjudizialelement) des Kaufpreisanspruchs. Präjudizialelemente aber nehmen nach der ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers der ZPO weder an der Bestimmung des Streitgegenstandes noch an der Rechtskraft der Entscheidung über den Streitgegenstand teil. Das bringt das Gesetz in § 322 ZPO zum Ausdruck und unterstreicht diese Entscheidung durch die Regelung des § 256 49 Auch nach französischem Zivilprozessrecht findet die Entscheidung des Gerichts ihre konzentrierte Fassung im Urteilstenor. Art. 455 al. 2 NCPC: lautet: "Le jugement enonce la decision sous forme de dispositif." 50 Zutreffend Rüßmann, ZZP 111, Seite 399, 415 Fußnote 64. 51 Rüßmann, a.a.O., Seite 415 Fußnote 65. Die Annahme einer vollständigen Abnutzung der Kaufsache war im konkreten Fall allerdings konstruktiv, weil die Zahlungsklage bereits wenige Monate nach dem behaupteten Abschluss des Vertrages erhoben wurde. 52 Rüßmann, a.a.O., Seite 414 sub V.
1. Der Rechtsstreit Gubisch . /. Palumbo
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Abs. 2 ZPO, wo demjenigen, der eine rechtskraftfähige Entscheidung über ein Präjudizialverhältnis wünscht, der Weg zur Zwischenfeststellungsklage eröffnet wird.,,53
bb) Nach der Deutung der Entscheidung durch Rüßmann stellt die "Wirksamkeit des Kaufvertrags" das gemeinsame "Begründungselement" beider Klagen dar. Diese Interpretation stützt sich auf die wörtliche Formulierung des Europäischen Gerichtshofs54 : " ... die auf Vertragseifüllung gerichtete Klage (ich ergänze: verfolgt) den Zweck, diesen Vertrag (gemeint ist der Kaufvertrag) wirksam werden zu lassen, während die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit und Auflösung ihm gerade jede Wirksamkeit nehmen soll. Kernpunkt beider Rechtsstreitigkeiten ist somit die Wirksamkeit dieses Vertrags. " Indessen sind die im Urteil verwendeten Begriffe der Auslegung bedürftig55 : Der Gerichtshof stellt zwar fest, "Kernpunkt" beider Rechtsstreitigkeiten sei die "Wirksamkeit des Kaufvertrags", führt aber unmittelbar zuvor aus, dass die Leistungsklage "auf Vertragseifüllung " gerichtet sei. 56 Damit ruckt das Gericht die zwischen den Parteien entscheidungserheblichen Tatsachen 57 und die sich aus ihnen ergebende (streitige) Rechtsfolge, deren Voraussetzung in § 433 Abs. 2 BGB geregelt ist58 , in den Mittelpunkt seiner Erwägungen. 59 Diese Rechtsfolge war es, auf die sich auch der spätere Feststellungsantrag des verklagten Käufers be53 Nach der Vorschrift des § 256 Abs. 2 ZPO kann bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung der Kläger durch Erweiterung des Klageantrags, der Beklagte durch Erhebung einer Widerklage beantragen, dass ein im Laufe des Prozesses streitig gewordenes Rechtsverhältnis, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung ganz oder zum Teil abhängt, durch richterliche Entscheidung festgestellt werde. Als Beispiel sei der Fall angeführt, dass A gegen B Schadensersatz aus dem Gesichtspunkt der Verletzung einer Nebenpflicht in Verbindung mit der Haftung für einen Erfüllungsgehilfen geltend macht, weil (sorgfältig ausgewählte und beaufsichtigte) Mitarbeiter des B bei der Anlieferung einer Maschine Gegenstände im Eigentum des A beschädigt haben. Im Verlauf des Prozesses entsteht zwischen den Parteien Streit darüber, ob über die Maschine ein Kaufvertrag wirksam geschlossen worden ist; eine Frage, die im Wege einer Zwischenfeststellungsklage geklärt werden kann, sofern aus der Sicht des Beklagten zu befürchten ist, dass weitere Ansprüche aus dem Kaufvertrag erwachsen [siehe dazu unten I1I.2.e)dd)(1)(a) und (b), Seite 102 und 103]. Wird eine solche Klage erhoben und stellt das Gericht die Wirksamkeit des Vertrages fest, so ist es hierdurch auch in Bezug auf die Entscheidung über den Leistungsantrag gebunden. Darüber hinausgehend haben später angerufene Spruchkörper, beispielsweise im Rahmen einer Klage auf Rückzahlung des Kaufpreises wegen Mangelhaftigkeit der Maschine (§§ 437 Nr. 2, 323, 346 BGB n. F.), den Ausspruch ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. 54 A.a.O., Seite 4876 Rdnr. 16. 55 Im Ausgangspunkt ebenso Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, Seite 227, 244 ff. 56 A. a. 0., Seite 4875 Rdnr. 15. 57 D.h. die Umstände, die den Schluss auf das Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrags gestatteten.
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H. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
zog: Der auf Zahlung in Anspruch genommene Käufer Palumbo vermochte sein Begehren nur damit zu begründen, von der Gubisch KG zu Unrecht auf Zahlung des Kaufpreises in Anspruch genommen zu werden. 6o Nach Ansicht des Gerichts betraf der Rechtsstreit mithin nicht die Verpflichtung von Palumbo zur Zahlung des im Klageantrag bezifferten Geldbetrags, sondern seine Verbindlichkeit zur Zahlung des Kaufpreises. Diese Konkretisierung ließ sich nur über die Verknüpfung des Antrags mit dem Lebenssachverhalt gewinnen. Bei genauer Betrachtung hätte der bei dem italienischen Tribunale angebrachte Klageantrag darauf beschränkt werden können festzustellen, dass der Kläger Palumbo gegenüber der Gubisch KG nicht zur Zahlung des geltend gemachten Betrages verpflichtet sei. 61 Sein Antrag auf Feststellung der 58 Die Zuerkennung des verlangten Betrags aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung wegen vollständiger Abnutzung der rechtsgrundlos erlangten Maschine durch den Beklagten Palumbo (§§ 812 Abs. 1, 818 Abs. 2 BGB) schied aus, weil die Gubisch KG offensichtlich nur solche Tatsachen in den Prozess einzuführen vermochte, die nach ihrer Ansicht den Schluss auf das Vorhandensein der in § 433 BGB festgelegten Voraussetzung: das Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrages, gestatteten (siehe dazu bereits oben Fußnote 51). 59 Unscharf formuliert Rüßmann, ZZP 111, Seite 399, 401: Das Gericht rücke "das einem oder auch verschiedenen Anträgen zugrunde liegende Rechtsverhältnis einschließlich der es konstituierenden Präjudizialelernente" in den Mittelpunkt der Festlegung des Streitgegenstandes. 60 Siehe dazu Fußnote 47. Negative Feststellungsklagen zielen auf die gerichtliche Erkenntnis, dass bestimmte haftungsbegründende Rechtsverhältnisse nicht existieren und also der Beklagte zu Unrecht eine oder mehrere Rechtsfolgen für sich reklamiert. Handelt es sich bei dem festzustellenden Rechtsverhältnis - was durch Auslegung des Antrags zu ermitteln ist - um den von der anderen Seite geltend gemachten Anspruch (siehe dazu sogleich im Text und Fußnote 62), so ist mit der Abweisung der Feststellungsklage unmittelbar auf die Berechtigung des gegnerischen Begehrens zu schließen. Bezieht sich die negative Feststellungsklage auf ein über den streitigen Anspruch hinausgehendes, weiterreichendes Rechtsverhältnis (Bestehen eines Vertrags), trifft das Gericht mit seinem stattgebenden Urteil die verbindliche Entscheidung, dass die verschiedenen Ansprüche - einschließlich des mit der Leistungsklage verfolgten Rechts - nicht aus dem betreffenden Rechtsverhältnis abzuleiten sind. Wird die Klage abgewiesen, ist demgegenüber nur über ein Element der gegnerischen Ansprüche, mit anderen Worten ausgedrückt: über ein "Präjudizialelernent", entschieden. Siehe dazu noch unten III.2.a)aa), Seite 68, III.2.b)aa), Seite 73 sowie die Fußnoten 64 und 75. Zur Auslegung von Parteihandlungen im Prozess siehe allgemein H.-E. Henke, "Ein Mann - ein Wort - Die Auslegung von Prozeßhandlungen, in: ZZP 112 (1999), Seite 397 ff., insbesondere 426 ff. und (außerordentlich knapp) L. Rosenberg/K. H. Schwab/P. Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, 1993, § 65 III, Seite 355 f. 61 Dazu H. Schack, Widersprechende Urteile: Vorbeugen ist besser als Heilen, in: IPRax 1989, Seite 139, 140 sub 4: "Lediglich unterstützend fügt der EuGH ...
1. Der Rechtsstreit Gubisch ./. Palumbo
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"Unwirksamkeit des Kaufvertrags" zielte jedoch bei verständiger, vom Europäischen Gerichtshof vollzogener Würdigung auf die Feststellung, dass ihn im Verhältnis zur KG keine vertraglich begründete Zahlungsverbindlichkeit treffe. 62 Bei Verwendung dieser Formulierung wäre die Frage, ob die Urteile des Landgerichts Flensburg und die des Tribunale in unvereinbarem Gegensatz stehen, unzweifelhaft zu bejahen, wenn das Landgericht Flensburg den Anspruch aus dem Kaufvertrag zuerkannt und das Tribunale in Rom der negativen Feststellungsklage stattgegeben hätte. Dass der Gerichtshof nicht auf die Wirksamkeit des Vertrages, sondern auf die Identität der Rechts/olge abstellt, unterstreicht folgende Formulierung 63 : "Würden in einem Fall wie dem vorliegenden die streitigen Fragen in bezug auf ein und denselben internationalen Kaufvertrag nicht allein von dem Gericht entschieden, bei dem die Klage auf Erfüllung des Vertrags anhängig ist und das als erstes angerufen worden ist, so müßte die auf Erfüllung des Vertrags klagende Partei damit rechnen, daß ihr gemäß Artikel 27 Nr. 3 die Anerkennung einer zu ihren Gunsten ergangenen Entscheidung verweigert würde ... ".
Der Gerichtshof hielt die von dem vermeintlichen Käufer Palumbo später angestrengte Feststellungsklage mithin für unzulässig, weil sie - auf weitgehend dieselben Tatsachen wie die Leistungsklage gegründet - dieselbe Rechts/olge wie das in Flensburg anhängige Verfahren betraf. 64 Für deren Bestimmung ist die (zumindest teilweise vorhandene) Identität der zu behinzu, die spätere Nichtigkeits- bzw. Aufhebungsklage könne man ebensogut als Verteidigungsmittel gegenüber dem ersten Verfahren begreifen. Dieser Nachsatz könnte jedoch der entscheidende sein." 62 Dass Giulio Palumbo mit der negativen Feststellungsklage lediglich die Verteidigung gegen die von der Gubisch KG erhobene Leistungsklage als Angriff formulierte, wird von Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, Seite 227, 229 f., 244 ff., erwogen. Dort heißt es (a. a. 0., Seite 229 f.): "Nach deutscher Auffassung wäre der Rechtshängigkeitseinwand recht eindeutig zu verneinen gewesen. ... Anders wäre es, wenn nach einer Leistungsklage eine Klage auf Feststellung des Nichtbestehens desselben Anspruchs erhoben würde; ihr stünde die Rechtshängigkeit entgegen, weil im Urteil über die Leistungsklage auch über das Bestehen des Anspruchs rechtskraftfähig entschieden wird. Bei der Erörterung des Verhältnisses zwischen Leistungsklage und positiver oder negativer Feststellungsklage muß daher der genaue Gegenstand der Feststellungsklage beachtet werden." Im Anschluss an diese Ausführungen beschäftigt sich Leipold unvermittelt mit der Frage, ob es einer negativen Feststellungsklage nach deutschem Recht am sog. Feststellungsinteresse mangelt, wenn aus dem Kaufvertrag "keine anderen Rechtsfolgen" umstritten sind. Im weiteren Verlauf der Darstellung scheut Leipold eine exakte Festlegung (a. a. 0., Seite 245 f.): "Ob man das Urteil des EuGH im Sinne einer Rechtshängigkeit aufgrund tatsächlicher Befriedigung des Rechtsschutzinteresses im Erstprozeß deuten darf, ist freilich nicht ganz zweifelsfrei. Es kommt darauf an, auf welche Aussagen des EuGH man das entscheidende Gewicht legt. Zugleich werden dadurch auch die Weichen für die Verallgemeinerungsfähigkeit des EuGH-Urteils gestellt. ... " 63 A.a.O., Seite 4876 Rdnr. 18 (Hervorhebungen durch Verf.).
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wertenden Tatsachen und der materiellrechtlichen Anspruchsnormen maßgebend65 ; sie begründet die Gefahr unvereinbarer Schlussfolgerungen. 66 Zutreffend stellt Gottwald fest, dass der "Anspruch" im Sinne des Art. 21 EuGVÜ nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs durch den Streit der Parteien über die Rechtsfolgen eines konkreten Lebenssachverhaltes bestimmt wird. 67 Seine mit dieser Aussage verbundene These, der "Streitgegenstand,,68 werde "in keiner Weise" durch den Antrag festgelegt 69 , ist 64 Mehrere Rechtsstreitigkeiten derselben Parteien können auch dasselbe ,,Rechtsverhältnis " betreffen, etwa wenn eine positive Feststellungsklage und eine vom Beklagten des sog. Erstprozesses erhobene negative Feststellungsklage aufeinanderfolgen und die Parteien in den Verfahren um die rechtliche Grundlage verschiedener einzelner Ansprüche streiten. Während das stattgebende Urteil über die positive Feststellungsklage mittelbar eine Aussage über die streitigen Ansprüche, nämlich über deren Grund, trifft, zielt die negative Feststellungsklage unmittelbar auf die Erkenntnis, dass wegen des Fehlens des streitigen Rechtsverhältnisses aus diesem keine Verbindlichkeiten des Feststellungsklägers erwachsen sind (siehe bereits Fußnote 60). Gestaltungsklagen oder -anträge beziehen sich - insoweit den Leistungsklagen durchaus vergleichbar - auf eine (im untechnischen Sinne häufig "streitige") Rechtsfolge, nämlich die Berechtigung gegenüber dem Beklagten bzw. Antragsgegner, die Gestaltung eines Rechtsverhältnisses durch das Gericht (beispielsweise die Scheidung der Ehe) herbeizuführen (ähnlich Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 86: Gestaltungsrechte als subjektive Rechte auf Rechtsänderung). Siehe dazu noch Fußnote 186. 65 Hierbei ist unerheblich, ob sich die klagende Partei auf die einzelnen materiellrechtlichen Vorschriften berufen hat, wozu sie, ausgedrückt durch die Parömien "da mihi facta, dabo tibi ius" und "iura novit curia", nicht verpflichtet ist. Entscheidend ist allein die hypothetische Würdigung des Sachverhalts durch das später angerufene Gericht; es darf über (zumindest teilweise) identische Tatsachen nicht auf der Grundlage solcher Normen urteilen, auf die auch das sog. Erstgericht seine Entscheidung gründen könnte. 66 Die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen über dieselbe Rechtsfolge besteht nicht nur bei identischen, sondern auch bei einander ausschließenden materiellrechtlichen Normen. Zur Veranschaulichung wandele ich den hier besprochenen Fall dahingehend ab, dass Palumbo (ohne dass dieser Umstand in das Verfahren beim Landgericht Flensburg eingeführt worden ist) die Hobelmaschine abgenutzt hat und das Tribunale in Rom mit dem Antrag anruft, festzustellen, dass er der Gubisch KG keinen Wertersatz aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung schulde. Würde das Tribunale die Klage abweisen, so stünde diese Erkenntnis in unvereinbarem Gegensatz zu dem Urteil des Landgerichts Flensburg, durch das Palumbo zur Zahlung des Kaufpreises verurteilt wird. Um diese Gefahr aufzuheben, ist das Verfahren vor dem Tribunale (zumindest vorübergehend) unzulässig. Zu verschiedenen Verfahren, die auf der Grundlage einander ausschließender Normen zu entscheiden sind, siehe noch Fußnote 77. 67 Streitgegenstandslehre und Sinnzusammenhänge, in: Symposium zu Ehren von K. H. Schwab, 2000, Seite 85, 91 sub 2. a.E. 68 Der Europäische Gerichtshof verwendet diesen Begriff nicht; siehe dazu bereits Fußnote 23.
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indessen überspitzt: Der Klageantrag fasst den - in der Klageschrift umschriebenen - Gegenstand des Rechtsschutzgesuchs in eine prägnante, mehr oder weniger abstrakte Formulierung 70 ; er trennt ihn damit vom sog. Lebenssachverhalt und löst auf diese Weise auch die Verbindung zu den oft in untechnischer Form wiedergegebenen Normen des materiellen Rechts, auf deren Grundlage über das Klagebegehren zu befinden ist. 71 Er lenkt den Blick des Gerichts auf die das Begehren rechtfertigenden Normen und die entscheidungserheblichen Tatsachen. Handelt es sich um einen Leistungsantrag, so ist ihm zwar ohne weiteres die streitige Rechtsfolge zu entnehmen72 ; ob allerdings ein anderes Verfahren dieselbe Rechtsfolge zum Gegenstand hat, kann stets nur unter Heranziehung der entscheidungserheblichen Tatsachen und der zu erwägenden materiellrechtlichen Vorschriften entschieden werden. 73 Knüpft das Gericht die Identität konkurrierender "Ansprüche" an die zwischen den Parteien streitige, sich auf (zumindest teilweise) identische Tatsachen gründende und aus derselben Norm abzuleitende Rechtsfolge, so legt es den Begriff des "Anspruchs" anhand des sachlichen, nicht formalen Rechts fest. cc) Die Unvereinbarkeit von Entscheidungen wäre mithin anzunehmen, wenn das eine Gericht in seiner Urteilsbegründung aus denselben Tatsachen A.a.O., Seite 91 sub 2 und Seite 93 sub 4. Der Antrag gibt möglichst genau die vom Kläger erbetene Urteilsformel wieder, die Grundlage der Zwangsvollstreckung durch meist nichtrichterliche Organe ist. Siehe dazu Stein/Jonas/Schumann, 21. Auflage, 1996, § 253 Rdnr. 48 und Stein/Jonas/Leipold, 21. Auflage, § 313 Rdnr. 17 ff. Das Verhältnis zwischen der Klageschrift und dem dort gestellten Antrag kennzeichnet eine französische Abhandlung mit dem Bild von Form und Inhalt: "La pretention est vehiculee par la demande. Celle-ci est la forme procedurale de celle-la qui est sa matiere: La pretention, c'est l'objet de la demande." (R. Martin, Le double language de la pretention, Juris-Classeur Periodique, La Semaine Juridique, 1981, 1- Doctrine No. 3024) - "Der Antrag wird von der Klageschrift vor das Gericht befördert. Diese (die Klageschrift) ist die prozessrechtlich vorgeschriebene Form, jener ihr Inhalt. Der Antrag ist die Zusammenfassung der Klage." 71 Diese Aussage gilt auch für den Feststellungsantrag, den es anhand seiner Begründung zu konkretisieren gilt. 72 Ob ein negativer Feststellungsantrag auf den Ausschluss einer bestimmten Rechtsfolge zielt, ist durch Auslegung zu ermitteln. 73 Treffend Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 86: "Streitgegenstand i. S. der ZPO ist ... die Rechtsfolgebehauptung in der Klage .... Damit ist indes der Begriff des Streitgegenstandes noch unvollständig bestimmt, weil mit dem Element der ,Rechtsfolgebehauptung' bloß das materielle Substrat des Verfahrens angesprochen ist. Dies reicht zwar dafür hin, das Objekt zu kennzeichnen, auf das sich die Verfügungsakte (Sachdispositionen) der Parteien im Prozeß beziehen, nicht aber zur Erfüllung der Abgrenzungs/unktion ... " (Hervorhebung durch Verf.; zur der hier erwähnten Abgrenzungsfunktion siehe Fußnote 2). 69
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1I. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
im Hinblick auf dasselbe streitige subjektive Recht74 die entgegengesetzten Folgerungen wie das andere gezogen, d.h. - im Hinblick auf das Verfahren Gubisch . /. Palumbo - das eine Gericht aus dem Kontakt der Parteien auf das Entstehen eines Zahlungsanspruchs, das andere dagegen auf den fehlenden Bindungswillen des Käufers geschlossen hätte. Insoweit verband das Gericht den Begriff des erhobenen "Anspruchs" mit dem materiellen Recht, nicht aber - wie Rüßmann meint - mit bloßen "Präjudizialelementen".75 Gleichartige (etwa auf Zahlung eines bestimmten Geldbetrags gerichtete) Leistungsanträge zielen auf "dieselbe Rechtsfolge", wenn über sie auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, miteinander konkurrierenden76 bzw. einander ausschließenden materiellrechtlichen Normen zu befinden ist. 77 Sollte dagegen über die geltend gemach74 Dies verstanden als Inanspruchnahme einer bestimmten Berechtigung auf der Grundlage eines bestimmten Lebenssachverhalts, die kraft mehrerer, miteinander konkurrierender oder einander ausschließender Normen des materiellen Rechts gerechtfertigt sein kann. Die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen über dasselbe Begehren bezieht sich auf die Verknüpfung der entscheidungserheblichen Tatsachen mit den materiellrechtlichen Vorschriften. 75 A. a. 0., Seite 416. Zutreffend Bettermann, Prozeßrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 33: "Wo der Gläubiger auf Erfüllung eines Anspruchs klagt, dessen Nichtbestehen der Schuldner festgestellt wissen will, da liegt nicht Pr~judizia1ität, sondern Identität der streitigen Rechtsverhältnisse vor." Uber "Präjudizialelemente" wird geurteilt, wenn sich die Rechtserkenntnis auf eine Folge bezieht, die ihrerseits Voraussetzung für mögliche materiellrechtliche Ansprüche zwischen den Parteien (beispielsweise auf Verzugszinsen oder auf Schadensersatz wegen Verletzung einer Nebenpflicht) ist. Zutreffend heißt es bei Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 154 III, Seite 928: "Präjudizialität ist ... gegeben, wenn der Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung zum Tatbestand der im neuen Prozeß geltend gemachten Rechtsfolge gehört (Hervorhebungen durch Verf.). Im vorliegenden Fall wird indessen - legt man den Feststellungsantrag zutreffend aus (sie!) - um dieselbe Rechtsfolge: die Verpflichtung Palumbos zur Zahlung des Kaufpreises, gestritten. 76 Als "Anspruchskonkurrenz" bezeichne ich im Anschluss an R. Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzung und Delikt, 1934, § 2, Seite 16 f., den Umstand, dass mehrere Gesetze, die tatbestandsmäßig auf einen bestimmten Sachverhalt passen, nebeneinander anzuwenden sind und dasselbe Interesse des Antragstellers befriedigen. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, Seite 270 und K. Larenz/M. Wolf, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, 1997, § 18 Rdnr. 35 verwenden hierfür den Begriff der "Anspruchsnormenkonkurrenz" . Nach Ansicht von Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Einleitung Rdnr. 70 und Larenz/Wolf, a.a.O., § 18 Rdnr. 35, sollte man von einem einzigen mehrfach begründeten Anspruch sprechen; m. E. handelt es sich dieselbe Rechtsfolge, die aus verschiedenen, nebeneinander anwendbaren Anspruchsgrundlagen abzuleiten ist. Siehe zum Ganzen Staudinger/Peters, Neubearbeitung 2001, § 195 Rdnr. 18 ff.
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ten Rechtsfolgen auf der Grundlage vollständig verschiedener Tatsachen oder kraft solcher Normen entschieden werden, die weder miteinander konkurrieren noch einander ausschließen, richtet sich das jeweilige Begehren auf unterschiedliche Rechts/olgen; in diesem Fall kumulieren die geltend gemachten Ansprüche in der Hand des Klägers. 78 77 Gründet sich die vom Kläger geltend gemachte Rechtsfolge auf Bestimmungen, die einander in Bezug auf einzelne Voraussetzungen, z. B. im Hinblick auf das Bestehen oder Nichtbestehen der tragenden Rechtsgrundlage, ausschließen, so ist von einer "qualitativen Teilidentität" der Ansprüche auszugehen. Als Beispiel für diese Gestaltung, die man als "alternative Normenkonkurrenz" bezeichnen kann, sei der von Rüßmann (oben Fußnote 51) angeführte Fall aufgenommen, dass der Kläger seinen Zahlungsanspruch einerseits auf einen mit dem Beklagten geschlossenen Kaufvertrag und andererseits auf den Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung stützt: Angenommen, der Kläger hat bei dem zuerst angerufenen Gericht Klage auf Zahlung des Kaufpreises erhoben und gründet sein Begehren in einem zweiten, bei einem anderen (zuständigen) Gericht angestrengten Verfahren auf den Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 812 Abs. 1, 818 Abs. 2 BGB), so ist die später erhobene Klage aus dem Gesichtspunkt einander ausschließender Ansprüche (zumindest bis zum rechtskräftigen Abschluss des "Erstprozesses") grundSätzlich unzulässig (ebenso Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Einleitung Rdnr. 74: "Streitgegenstandseinheit liegt ... vor, wenn der aus einem einheitlichen Lebenssachverhalt hergeleitete Antrag auf sich ge~.enseitig ausschließende materiellrechtliche Anspruchsgrundlagen gestützt wird."). Uber die später erhobene Klage ist freilich - und daher verwende ich den Begriff der "qualitativen Teilidentität" - ausnahmsweise in der Sache zu entscheiden, wenn das zuerst angerufene Gericht die Leistungsklage rechtskräftig mit der Begründung abgewiesen hat, die Parteien hätten - beispielsweise wegen Dissenses - keinen wirksamen Kaufvertrag geschlossen, den Kläger jedoch keine Obliegenheit traf, bereits in den "Erstprozess" alle Tatsachen einzuführen, die das Begehren alternativ hätten begründen können (etwa die vollständige Abnutzung der an den Beklagten übergebenen Sache). Ist das (vorübergehend unzulässige) "Zweitverfahren" auf der Grundlage eines ungeschriebenen Rechtssatzes ausgesetzt worden (siehe dazu Fußnote 121), wird es nach dem rechtskräftigem Abschluss des "Erstprozesses" wieder aufgenommen. Trägt der Kläger in einem und demselben Prozess Tatsachen vor, die geeignet sind, einander ausschließende Ansprüche zu rechtfertigen, handelt es sich nach deutscher Terminologie um die (nach allgemeiner Ansicht zulässige) alternative Begründung seines Begehrens (M. Anders/B. Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 6. Auflage, 1999, Rdnr. 447). 78 Als Beispiel sei angeführt, dass der Käufer K vom Verkäufer V 1.000 Euro verlangt, weil dieser bei der Lieferung der gekauften Sache einen Gegenstand im Eigentum des K beschädigt habe. Kurze Zeit später erhebt K bei einem anderen (zuständigen) Gericht Klage auf Zahlung von 400 Euro, weil der Verkäufer bei der Lieferung nicht nur sein Eigentum beschädigt, sondern ihn auch körperlich verletzt habe. Beide Verfahren zielen nicht auf eine Entscheidung über dieselbe Rechtsfolge, haben mithin unterschiedliche materiellrechtliche Ansprüche zum Gegenstand, weil sie zwar auf denselben materiellrechtlichen Vorschriften beruhen, aber nicht dasselbe Interesse befriedigen. Wären die Verfahren bei demselben Gericht anhängig gemacht worden, handelte es sich nach deutschem Recht um eine objektive Klagehäufung im Sinne des § 260 ZPO.
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Treffen eine Leistungs- und eine negative Feststellungsklage zusammen, bezieht sich der Streit auf dieselbe Rechtsfalge, beispielsweise wie in dem Prozess Gubisch . /. Palumbo auf die Verpflichtung, den Kaufpreis zu bezahlen, wenn die Anträge beider Klagen auf (zumindest teilweise) identischen Tatsachen79 beruhen und im Falle beiderseitigen Ob siegens die Voraussetzungen derselben materiellrechtlichen Bestimmung(en) gleichzeitig bejaht und verneint könnten. Darüber hinaus haben Streitigkeiten im Falle der Umkehrung der Parteirollen denselben Gegenstand, wenn der Beklagte des ersten Verfahrens in einem zweiten Verfahren die Rolle des Klägers einnimmt und auf der Grundlage derselben Tatsachen dieselbe Rechtsfolge für sich beansprucht wie der Kläger des ersten Prozesses oder die Parteien in den verschiedenen Verfahren auf der Grundlage derselben Tatsachen einander materiellrechtlich ausschließende Ansprüche erheben: Es können nicht beide Parteien gleichzeitig Träger desselben subjektiven Rechts 80 oder Inhaber einander ausschließender Rechte 8 ! sein. Mehrere Prozesse haben, mit einer knappen Hätte der Kläger sein Begehren im "Erstprozess" entweder auf den Gesichtspunkt der Eigentums- oder der Körperverletzung gestützt, hätte er eine (unzulässige) sog. Alternativklage erhoben (siehe dazu Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht, 6. Auflage, Rdnr. 448). 79 Dazu zählen auch solche (entscheidungserheblichen) Tatsachen, die zwar nur in den späteren Prozess eingeführt worden sind, aber aus dem Gesichtspunkt der Prozessförderungspflicht (§ 282 Abs. 1 ZPO) bereits im ersten Verfahren hätten vorgetragen werden müssen. Rechtsbegründende Tatsachen, die erst nach der letzten mündlichen Verhandlung im "Erstprozess" entstanden sind, können selbstverständlich zur Grundlage eines neuen Verfahrens gemacht werden. 80 Als Beispiel führe ich den Fall an, dass der Kläger im zuerst angestrengten Verfahren die Herausgabe einer genau bezeichneten Sache verlangt und der Beklagte dieses Begehren in umgekehrter Richtung zum Gegenstand eines Parallelverfahrens macht. Hier ist - bedingt durch die Umkehrung der Parteirollen - gleichfalls eine "qualitative Teilidentität" der Ansprüche anzunehmen: Die gleichzeitige Anerkennung wechselseitiger Herausgabepflichten auf der Grundlage derselben Tatsachen ist ausgeschlossen, so dass die später angestrengte Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit (zumindest vorübergehend) unzulässig ist. Der Beklagte kann allerdings nach deutschem Recht in dem bereits anhängigen Verfahren Widerklage erheben (§ 33 ZPO), weil die Gefahr einander widersprechender Urteile bei gleichzeitiger Verhandlung und Entscheidung konträrer Anträge ausgeschlossen werden darf. Die Zulässigkeit einer Widerklage trotz Identität des Streitgegenstandes ist demgemäß in § 19 Abs. 1 GKG ausdrücklich anerkannt. Die Verurteilung des Klägers des "Erstprozesses" in dem vom Beklagten angestrengten "Zweitprozess" zur Herausgabe der Sache steht nicht in unvereinbarem Gegensatz zur Entscheidung des Erstgerichts, wenn dieses die Klage rechtskräftig abgewiesen oder ihr lediglich kraft des Besitzschutzes (d.h. gewissennaßen "vorläufig" ohne Prüfung eines besseren Rechts zum Besitz) stattgegeben hat. Von diesem Zeitpunkt an kann der Beklagte des abgeschlossenen Verfahrens sein Begehren mit einer selbständigen Klage verfolgen. Ist das (zumindest vorübergehend unzulässige) "Zweitverfahren" auf der Grundlage eines ungeschriebenen Rechtssatzes aus-
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Wendung ausgedrückt, denselben Streitgegenstand, wenn der Kläger des späteren Verfahrens "das - conträre oder contradiktorische - Gegenteil dessen begehrt, was der Kläger des ersten Prozesses vom Gericht erbittet".82 Nach alledem ist festzuhalten, dass sich nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs das später angerufene Gericht nach Art. 21 EuGVÜ für unzuständig zu erklären hat, sofern es über dasselbe subjektive Recht 83 auf der Grundlage von Tatsachen entscheiden müsste, die in den zuerst angestrengten Prozess eingeführt worden sind und auf denen die Entscheidung des früher angerufenen Gerichts hypothetisch beruhen wird. c) Ist die streitige Rechtsfolge aus mehreren, nebeneinander anwendbaren Normen des materiellen Rechts abzuleiten (sog. Anspruchs- oder Anspruchsnormenkonkurrenz)84, so steht, denkt man die Ausführungen des Gerichtshofs weiter, der nach der Leistungsklage erhobenen negativen Feststellungsklage auch dann die anderweitige Rechtshängigkeit entgegen, wenn gesetzt worden (siehe dazu Fußnote 121), wird es nach dem rechtskräftigem Abschluss des Erstprozesses wieder aufgenommen. 81 Bettermann, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 12 Fußnote 13 nennt als Beispiel die Klage (nach geltendem deutschen Recht: den Antrag, § 1564 BGB) eines Ehepartners auf Scheidung und die des anderen auf Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft. 82 Bettermann, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 12. Als "kontradiktorisch" sind einander widersprechende Rechtsfolgen zu bezeichnen, wenn über die entgegengesetzten Begehren der Parteien auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben (gegebenenfalls miteinander konkurrierenden) Norm(en) zu entscheiden ist. Dabei ist eines (aber nur eines!) der Begehren nach dem Maßstab des sachlichen Rechts (zumindest teilweise) berechtigt (Anspruch auf Schadensersatz - Feststellung, dass der Anspruch auf Schadensersatz nicht besteht). Von "konträren" Rechtsfolgen ist zu sprechen, wenn die Parteien gegeneinander Begehren geltend machen, bei denen nach dem Maßstab des sachlichen Rechts aus der Berechtigung des einen unmittelbar auf die mangelnde Berechtigung des anderen zu schließen ist (siehe dazu BGH NJW-RR 1992, Seite 1404: "Schließen sich die beiderseitigen Ansprüche gegenseitig aus, dergestalt, daß die Zuerkennung des einen ... notwendig die Aberkennung des anderen bedingt, sind die Streitgegenstände identisch. "). Beide Verlangen können unbegründet, nicht aber gleichzeitig begründet sein (OLG Hamburg, SeuffArch 38 [1883], Nr. 272, Seite 347: Bejahung des Anspruchs auf restlichen Werklohn - Bejahung des Anspruchs auf Rückzahlung zuviel geleisteten Werklohns; siehe auch Fußnote 80, in der einander entgegengesetzte Klagen auf Herausgabe einer und derselben Sache angeführt sind). In dieser Gestaltung "mögen nacheinander Prozesse geführt werden, deren Nebeneinander unzulässig ist." (Bettermann, a. a. 0., Seite 25). 83 Siehe Fußnote 74. 84 Zum Begriff der Anspruchs- oder Anspruchsnormenkonkurrenz siehe Fußnote
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II. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
sich der Antrag des Feststellungsklägers auf die Nichtexistenz nur eines der streitigen Rechtsverhältnisse beschränkt. 85 Angenommen, der Käufer einer Sache verlangt von dem Verkäufer Schadensersatz wegen eines sog. Mangelfolgeschadens. Die vom Käufer geltend gemachte Rechtsfolge ließe sich - die Anwendbarkeit deutschen Rechts unterstellt - sowohl auf das Vertragsrecht86 als auch auf deliktsrechtliche Bestimmungen87 gründen. Der Verkäufer begehrt mit einer in einem anderen Vertrags staat später erhobenen Klage die eingeschränkte Feststellung, dass er dem Kläger nicht aus dem Gesichtspunkt der Verletzung vertraglich begründeter Pflichten hafte. 88 Hierbei ist allerdings von entscheidender Bedeutung, ob der Feststellungskläger (bezogen auf das angeführte Beispiel: der Verkäufer) seinen Antrag mit einer weiteren Inanspruchnahme seitens des anderen Teils (beispielsweise der Verletzung von Nebenpflichten) zu begründen vermag. Ist dies der Fall, so ist über die Klage des Verkäufers mit Rücksicht auf die anderweitige Inanspruchnahme zu entscheiden. 89 Anders verhält es sich, wenn der Feststellungskläger diese Inanspruchnahme nicht darzulegen vermag; in einer solchen Gestaltung formuliert der Feststellungsantrag nur die Verteidigung gegen die bereits anhängige Leistungsklage. 90 Die Klage ist dementsprechend nach Art. 21 EuGVÜ unzulässig. 91 85 Zu der Frage, wie zu verfahren ist, wenn die Feststellungsklage vor der Leistungsklage anhängig gemacht wird, siehe unten III.2.e)aa), Seite 83 ff. 86 Als Anspruchsgrundlage kommen die Vorschriften der §§ 437 Nr. 3 i. V. m. 280 und 281 BGB n.F. in Betracht (PalandtlPutzo, Ergänzungsband zur 61. Auflage, 2002, § 437 Rdnr. 32 ff. 87 Im Falle einer Eigentumsverletzung beispielsweise auf die Vorschrift des § 823 Abs. 1 BGB. 88 Die grundsätzliche Zulässigkeit einer derartigen Einschränkung des Feststellungsantrags sei hier unterstellt und ist nach deutschem Recht anerkannt (RGZ 126, Seite 234, 237; RGZ 144, Seite 54, 57; BGH NJW 1984, Seite 1556 sub II 1; BGHZ 109, Seite 275, 276 im Hinblick auf die Pfändbarkeit des Arbeitseinkommens wegen einer Forderung aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung; Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 322 Rdnr. 9; Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, 2002, § 256 Rdnr. 7). 89 Siehe dazu Fußnote 47 und - bezogen auf das deutsche Verfahrensrecht - unten III.2.b)aa), Seite 73 ff. (insbesondere Fußnote 270) sowie III.2.e)bb)(2), Seite 92 ff. 90 Der Feststellungskläger hätte seinen Antrag auf Abweisung der Leistungsklage mit dieser (das Gericht selbstverständlich nicht bindenden) Rechtsansicht begründen können. Ist über die Leistungsklage rechtskräftig entschieden, so ist die erneute Beschäftigung eines Gerichts mit der vertraglichen Begründung der Haftung aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie zu vermeiden, weil sie an der vollstreckungsrechtlich bindenden, auf der Grundlage einer mit dem Vertrag konkurrierenden Grundlage der Schadensersatzpflicht (z. B. des Deliktsrechts) nichts zu ändern vermag.
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Zur Verdeutlichung dieser These sei ein Beispiel angeführt: A klagt gegen B auf Herausgabe einer (im Klageantrag genau bezeichneten) Sache und stützt sein Begehren auf Tatsachen, die nach seiner Ansicht den Schluss auf das wirksame Zustandekommen eines Verwahrungsvertrags gestatten. Mit einer später bei einem anderen (zuständigen) Gericht angestrengten Klage beantragt B festzustellen, dass über die betreffende Sache kein wirksamer Verwahrungsvertrag geschlossen worden ist. Begründet B seinen Antrag damit, A mache außergerichtlich weitere vertragliche Ansprüche (beispielsweise den Ersatzanspruch für einen Verzugsschaden oder einen Schadensersatz wegen Beschädigung der Sache aus dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung nach § 280 Abs. I BGB n. F. i. V. m. § 278 BGB) geltend92 , so nähme das Urteil im Feststellungsprozess die gerichtliche Auseinandersetzung über die gemeinsame Voraussetzung dieser Rechtsfolgen, das Zustandekommen des Verwahrungs vertrages, vorweg. Das Gericht hätte hier - und zwar in Bezug auf die außergerichtliche Inanspruchnahme des B - in rechtskraftfähiger Weise über ein vorgreifliches Verhältnis und insoweit mittelbar über andere "Rechtsfolgen,,93 zu entscheiden als die Verpflichtung zur Herausgabe der Sache, gegründet auf die Pflicht des Verwahrers aus § 695 BGB. 94 Die negative Feststellungsklage ist nach europäischem und deutschem Zivilprozessrecht wegen der Verschiedenheit der in Anspruch genommenen Rechtsfolgen zulässig. d) Allein die "gemeinsame Wurzel" zweier Klagen, die sich auf unterschiedliche Rechtsfolgen beziehen, rechtfertigt nach den weiter gedachten Ausführungen des Gerichtshofs nicht die Annahme eines einzigen rechtshängigen "Anspruchs". In einer solchen Gestaltung - die nicht Gegenstand 91 Wollte man - entgegen der Ansicht des Europäischen Gerichtshofe - die Identität der Ansprüche an die Identität der Anträge knüpfen, fehlte es der Feststellungsklage nach deutschem Prozessrecht am sog. Feststellungsinteresse (§ 256 Abs. 1 ZPO). Ließe man die "Aufspaltung" einer einheitlichen Rechtsfolge in die sie tragenden Anspruchsgrundlagen zu, so könnte je nach deren Anzahl eine Vielzahl von negativen Feststellungsklagen angestrengt werden - eine unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie untragbare Konsequenz! 92 Erhebt A nach seinem eigenen Vorbringen außergerichtlich keine weiteren Ansprüche gegen B, so ist der Feststellungsantrag des B nur auf die Verteidigung gegen das Herausgabeverlangen zu beziehen (siehe oben II.1.b)bb), Seite 21 ff., insbesondere Fußnoten 61 und 62). 93 Mit der Feststellungsklage wird hier die Klärung des Rechtsverhältnisses erreicht, das den Grund für die vom Beklagten der Feststellungsklage außergerichtlich geltend gemachten Rechtsfolgen bildet. Siehe dazu bereits Fußnote 64. 94 Eine einheitliche und gleichzeitige Entscheidung über die gemeinsame Grundlage aller streitigen, auf die Vorschriften der Verwahrung gegründeten Ansprüche ließe sich nach deutschem Prozessrecht kraft einer Zwischenfeststellungswiderklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) sichern.
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
des Verfahrens Gubisch .I. Palumbo war - ist das später angerufene Gericht nicht an die Beurteilung durch das "Erstgericht" gebunden. Die Identität einzelner Begründungselemente bei Verschiedenheit der geltend gemachten Rechtsfolgen gestattet es nicht, eines der Verfahren nach Art. 21 EuGVÜ zu "sperren". Beispiel: Der Verkäufer V klagt gegen den Käufer K auf Zahlung des vereinbarten Kaufpreises (§ 433 Abs. 2 BGB). Zu einem späteren Zeitpunkt erhebt K bei einem anderen (zuständigen) Gericht Klage gegen V; er begehrt Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung (§§ 280 Abs. 2 BGB n. F. i. V. m. 433 Abs. 1). Beide Ansprüche haben zwar "dieselbe Wurzel", die Streitigkeiten beziehen sich jedoch auf unterschiedliche Rechtsfalgen; über sie ist auf der Grundlage zwar (zumindest teilweise) identischer Tatsachen, aber verschiedener, nicht auf die Befriedigung desselben Interesses gerichteter Vorschriften zu entscheiden. 95
e) Aus der Sicht des deutschen Verfahrensrechts stellt sich die Frage, ob der Begriff des "Streitgegenstandes" - ebenso wie der europäische Begriff des "Anspruchs" - eine nicht dem Antrag zu entnehmende Rechtsfolge, sondern ein Begehren kennzeichnet, das aus dem Lebenssachverhalt und den für die Entscheidung zu erwägenden materiellrechtlichen Vorschriften abzuleiten ist. Die Einbeziehung materiellrechtlicher Elemente in den Streitgegenstand hätte zur Folge, dass Feststellungen eines Urteils der Rechtskraft fähig wären, die nicht zum Gegenstand einer Zwischenfeststellungsklage nach § 256 Abs. 2 ZPO hätten gemacht werden können, weil sie sich auf eine Rechtsfolge beziehen, die schon den Gegenstand der Hauptentscheidung bildet. 96 Zur Veranschaulichung sei der Fall angeführt, dass jemand kraft einer Leistungsklage die Zahlung eines bestimmten Kaufpreises verlangt und mit sei95 Zielen die Vorschriften nicht auf die Befriedigung desselben Interesses, häufen sich die geltend gemachten Ansprüche, sog. Anspruchshäufung bzw. kumulative Normenkonkurrenz. Siehe zu diesen Begriffen Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr. 26. 96 P. Oertmann, Die Inzidentfeststellungsklage, in: Zeitschrift für deutschen Civilprozeß, Band 22 (1896), Seite 11, 26, führt in diesem Zusammenhang treffend aus: "Strengt A. gegen B. einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 10.000 Mark an, so kann B. nicht widerklagend mit der Inzidentklage eine Feststellung dahin fordern, dass dem A. aus dem zu Grunde liegenden Verhältniss überhaupt kein Recht ihm gegenüber zustehe. ... Durch die Geltendmachung des Anspruchs ... ist die ganze Anspruchsfrage in iudicium deduzirt, und somit würde einer auf das Nichtbestehen dieses angestrengten Anspruches gerichteten Inzidentklage die Einrede der Rechtshängigkeit entgegenstehen. Wird dem Kläger ein bestimmtes Quantum zugesprochen, so ist über den Anspruchsgrund nicht nur in den Entscheidungsgründen gehandelt, sondern es ist eo ipso darüber zugleich unmittelbar entschieden." Siehe dazu noch unten III.2.e)dd)(1)(a), Seite 102.
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nem Begehren gegen den Standpunkt des Käufers durchdringt. Erhöbe der Käufer zu einem Zeitpunkt, da das Leistungsurteil rechtskräftig ist und keine weitere Ansprüche aus dem Vertrag zwischen den Parteien streitig sind, Klage mit dem Antrag festzustellen, dass ein Kaufvertrag zwischen ihm und dem anderen Teil nicht bestehe97 , so wäre diese Klage - die im sog. Erstprozess nicht zum Gegenstand einer Zwischenfeststellungsklage hätte gemacht werden können 98 - nicht nur wegen des mangelnden Feststellungsinteresses im Sinne des § 256 Abs. I ZPO, sondern bereits aus dem Gesichtspunkt entgegenstehender Rechtskraft unzulässig. 99 97 Bei genauer Auslegung zielt der Feststellungsantrag auf das Nichtbestehen einer kaufvertraglichen Verbindlichkeit aus § 433 Abs. 2 BGB. Zur grundsätzlichen Zu lässigkeit eines solchen Antrags führt das Reichsgericht aus (RGZ 126, Seite 234, 237): "Ein ,Rechtsverhältnis' sind auch Forderungsrechte und Ansprüche, die als Ausfluss eines umfassenderen Rechtsverhältnisses erwachsen, wie es ein Vertrag mit sich bringen kann." 98 Prägnant formuliert Oertmann, Zeitschrift für deutschen Civi1prozeß, Band 22 (1896), Seite 11, 27: "Präjudizialität, nicht Identität des Gegenstandes muss zwischen Haupt- und Inzidentklage walten." Präjudizialität ist nur anzunehmen, wenn das Bestehen eines Rechtsverhältnisses als gemeinsame Voraussetzung verschiedener Ansprüche streitig ist, die nicht notwendigerweise alle den Gegenstand des Rechtsstreits bilden müssen [siehe dazu die nachstehende Fußnote und unten III.2.e)dd)(1)(a), Seite 102. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dann allerdings die Teilidentität der Streitgegenstände anzunehmen (siehe dazu unten III.2.b.aa., Seite 73 ff. (insbesondere Fußnote 270) und III.2.e)bb)(2), Seite 92 ff.). 99 Etwas anderes gälte, wenn der vermeintliche Käufer die Nichtigkeit des Kaufvertrags festgestellt wissen will, weil der andere Teil außergerichtlich weitere vertragliche Ansprüche (etwa auf Schadensersatz) gegen ihn erhebt: In diesem Falle würde die gerichtliche Auseinandersetzung über diese Rechtsfolgen durch die feststellende Entscheidung vorweggenommen. Das Gericht würde hier zu einem - und zwar in Bezug auf die außergerichtliche Inanspruchnahme - vorgreiflichen Verhältnis in rechtskraftfähiger Weise Stellung nehmen und insoweit über einen anderen "Anspruch" als den auf Zahlung des Kaufpreises urteilen. Wie hier - bezogen auf die Zwischenfeststellungsklage - RGZ 144, Seite 54, 59 f.: "Wenn demgemäß mit der Hauptklage nur ein einziger Anspruch aus dem Rechtsverhältnis verfolgt wird und es feststeht, daß weitere Ansprüche aus diesem den Parteien nicht erwachsen sind, so fehlt für eine besondere Feststellung des Rechtsverhältnisses die Grundlage, weil durch die Entscheidung auf die Hauptklage bereits rechtskräftig festgestellt wird, ob der einzige aus dem Rechtsverhältnis erwachsene Anspruch aus diesem Rechtsverhältnis gegeben ist oder nicht. Anders liegt es schon, wenn mit der Hauptklage nicht ein einzelner Anspruch, sondern mehrere selbständige Ansprüche aus dem Rechtsverhältnis verfolgt werden ... Alsdann ist nicht ohne weiteres die Bedeutungslosigkeit der begehrten Rechtsfolge dargetan, und zwar deshalb nicht, weil die Möglichkeit - bei einer Stufenklage sogar die Notwendigkeit - besteht, daß über die mehreren Ansprüche nicht einheitlich, sondern in Teilentscheidungen erkannt wird, daß also nicht von vornherein die Rechtsbeziehungen, die sich aus dem Rechtsverhältnis ergeben, in einer einheitlichen rechtskräftigen Entscheidung zur Hauptklage ihre Erledigung finden." (Hervorhebung durch Verf.) Ebenso RGZ 150, Seite 189, 190 f.; RGZ 170, Seite 329, 330; BGH JR 1955, 3 Wemecke
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Bevor die Ähnlichkeit zwischen dem europäischen "Anspruchs-" und dem nationalen Streitgegenstandsbegriff näher untersucht wird, seien die weiteren Urteile des Europäischen Gerichtshofes vorgestellt, die sich mit dem Begriff der Rechtshängigkeit befassen. 2. Der Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj die Konkretisierung und Verfestigung des europäischen Anspruchsbegriffs In einer Entscheidung vom 6. Dezember 1994 100 hatte sich der Europäische Gerichtshof erneut mit der Frage auseinanderzusetzen, ob "ein und derselbe Anspruch" in mehreren Vertragsstaaten anhängig gemacht worden war. Dem Urteil lag folgender - stark vereinfacht wiedergegebener - Sachverhalt zugrunde lO1 : Im September 1988 war in Brasilien eine Bulkladung lO2 Sojaöl, die verschiedenen Eigentümern gehörte, an Bord des Schiffes "Tatry" gebracht worden, das im Dienste eines polnischen Schiffahrtsunternehmens lO3 stand. Ein Teil der Ladung sollte nach Hamburg, ein anderer nach Rotterdam befördert werden. Der Transport wurde auf Rechnung mehrerer Absender durchgeführt, die auch Eigentümer der Ware waren und erfolgte mit getrennten, inhaltsgleichen Konnossementen. Bei der Löschung der Ladung beanstandeten die verschiedenen Eigentümer gegenüber dem Schiffahrtsunternehmen, dass das Sojaöl beim Transport durch Dieselöl oder einen anderen Kohlenwasserstoff verunreinigt worden sei. Am 18. November 1988 erhob das Schiffahrtsunternehmen gegen einige Eigentümer der Ladung bei der Arrondissementsrechtbank Rotterdam Klage auf Feststellung, dass es für die angebliche Verunreinigung des Sojaöls nicht oder zumindest nicht in vollem Umfang haftbar sei. Am 18. September 1989 und am 26. Oktober desselben Jahres strengte das Schiffahrtsunternehmen gegen weitere Eigentümer der Ladung in den Niederlanden Feststellungsklagen mit denselben Anträgen an. Am 15. September 1989 erhoben einige Eigentümer eine Klage auf Leistung von Schadensersatz ("actio in rem") gegen die "Tatry" und das Schiff "Maciej Rataj", das ebenfalls im Eigentum des polnischen Schiffahrtsunternehmens stand. 104 Diese Klage Seite 64; BGH MDR 1979, Seite 746. Siehe zum Ganzen noch unten Seite 1I1.2.e)dd)(l)(a), Seite 102. 100 Amt!. Slg. 1994 I, Seite 5439. 101 Die Einzelheiten sind dem Urteil des Gerichtshofs zu entnehmen (a. a. 0., Seite 5462 ff.). 102 Als "Bulkladung" bezeichnet man eine in der Regel unverpackte Ladung schüttfähiger Massengüter (Brockhaus Enzyklopädie, 20. Auflage). 103 Im Urteil ist von "Schiffseignern" die Rede. Auf die genaue Bezeichnung kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an.
2. Der Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj
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wurde der "Maciej Rataj" in Liverpool zugestellt; das Schiff wurde vom Admiralty Court mit Arrest belegt. Darüber hinaus reichten die Eigentümer für den Fall, dass sich die englischen Gerichte für unzuständig erklärten, am 29. September und am 3. Oktober 1989 Klagen in den Niederlanden ein. Das Schiffahrtsunternehmen beantragte daraufhin beim Admiralty Court, sich nach Art. 21 EuGVÜ, hilfsweise nach Art. 22 EuGVÜ zugunsten des von ihm angerufenen niederländischen Gerichts für unzuständig zu erklären. Der Admiralty Court räumte ein, dass die in England und in den Niederlanden anhängig gemachten Verfahren im Zusammenhang stünden, erklärte sich aber weder für unzuständig noch setzte er das Verfahren aus. Das Schiffahrtsunternehmen legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel zum englischen Court of Appeal ein. Dieser unterbreitete dem Europäischen Gerichtshof im sog. Vorabentscheidungsverfahren nach Artt. 177 EGV, 20 EuGH Satzg unter anderem die Frage, ob Art. 21 EuGVÜ anzuwenden sei, wenn der Schiffseigner in einem Vertrags staat Klage auf Feststellung erhebt, dass er für einen angeblichen Schaden nicht hafte, und die Eigentümer der Ladung später in einem anderen Vertragsstaat von dem Schiffseigner "Schadensersatz wegen fahrlässiger Schädigung und/oder Vertragsverletzung und/oder Pflichtverletzung im Hinblick auf die angebliche Beschädigung ihrer Ladung" gerichtlich fordern. I05 Der Gerichtshof führte aus l06 : "Im Sinne des Artikels 21 des Übereinkommens umfaßt die ,Grundlage' des Anspruchs den Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt wird. 104 Auf ein Seeschiff bezogene Klagen ("actions in rem") können nach englischem Recht gegen das Schiff selbst angestrengt werden. Sie erfreuen sich nach der Darstellung eines englischen Handbuchs des Seerechts einer großen Beliebtheit, weil sie es einem Gläubiger Partei ersparen, eine persönliche Klage gegen den oft in einem anderen Staat wohnhaften Schiffseigner zustellen zu lassen (e. Hili, Maritime Law, Lloyd's List Practical Guides, 4th edition, 1995, page 125 p). Die Zustellung der "action in rem" gegen das von dem Transport nicht betroffene Schiff "Maciej Rataj" beruht auf Section 21 (4) des Supreme Court Act von 1981, abgedruckt bei Hili, op.cit., page 130 ("Arrest of a Ship") und in Halsbury's Statutes of England and Wales, 4th edition, volume 1 (1989, Reissue), page 11 p. In Section 21 (4) heißt es wörtlich: "In the case of any such a claim as is mentioned in section 20 (2) (e) to (r) where - (a) the claim arises in connection with a ship; and (b) the person who would be liable on the claim in an action in personam (,the relevant person') was, when the cause of action arose, the owner ... of the ship, an action in rem may be brought in the High Court against (ii) any other ship of which, at the time when the action is brought, the relevant person is the beneficial owner as respect all the shares in it (der Nutznießer im Hinblick auf alle Anteile an diesem Schiff)." 105 A. a. 0., Seite 5469 f. sub 5. 106 A. a. 0., Seite 5475 f. 3*
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II. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Eine Klage auf Feststellung, nicht haftbar zu sein, wie die im Ausgangsverfahren von den Schiffseignern erhobene Klage, und eine andere Klage, wie die später von den Eigentümern der Ladung aufgrund getrennter, jedoch gleichlautender Beförderungsverträge erhobene Klage, die dieselbe Bulkladung betreffen, die unter denselben Umständen beschädigt wurde, haben demgemäß dieselbe Grundlage. Was den ,Gegenstand' im Sinne des Art. 21 betrifft, so besteht dieser in dem Zweck der Klage .. . . Auf die Frage ist demgemäß zu antworten, daß Artikel 21 des Übereinkommens dahin auszulegen ist, daß eine Klage, die auf . .. Verurteilung (ich ergänze: des Beklagten) zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist, denselben Anspruch betrifft wie eine von diesem Beklagten früher erhobene Klage auf Feststellung, daß er für diesen Schaden nicht haftet."
Das Gericht hielt mithin an der Erkenntnis fest, dass die Leistungs- und die negative Feststellungsklage denselben Anspruch verfolgten, weil sie "dieselbe Grundlage" und "denselben Gegenstand" beträfen. 107 Dies gilt, um die Verbindung zur Rechtssache Gubisch ./. Palumbo herzustellen, unabhängig davon, in welcher Reihenfolge die Prozesse anhängig gemacht worden sind: Würde das mit der negativen Feststellungsklage angerufene Gericht dem klägerischen Begehren stattgeben 108, so dürfte das Gericht, welches über die Leistungsklage zu befinden hat, die Ersatzpflicht nicht mehr bejahen. Im umgekehrten Falle ist nicht anders zu verfahren: Würde die negative Feststellungsklage abgewiesen, dürfte der mit der Leistungsklage verfolgte Ersatz dem Grunde nach nicht mehr versagt werden. 109 Zu untersuchen ist, ob der Gerichtshof die Begriffe der "Grundlage" und des "Gegenstandes" des erhobenen Anspruchs näher bestimmt. 107 A.a.O., Seite 5475 Rdnr. 38 ff. Ebenso wie der Europäische Gerichtshof auch das Reichsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1939 (DR 1939, Seite 1914 rechte Spalte): "Die Parteien streiten u. a. darüber, ob der eingekl. Anspruch bereits früher durch eine negative Feststellungswiderklage rechtshängig geworden ist. In Rspr. und Schrifttum herrscht, soweit ersichtlich, Einmütigkeit darüber, daß durch die Erhebung einer Klage auf Feststellung des Nichtbestehens eines Anspruchs der Anspruch selbst rechtshängig wird . . . Diese Auffassung ist zutreffend." 108 Nach deutschem Verfahrensrecht ist der negativen Feststellungsklage stattzugeben, wenn entweder das Nichtbestehen des streitigen Rechtsverhältnisses bewiesen ist oder seine Existenz unklar bleibt (Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 256 Rdnr. 18 m.w.N.). 109 Zur Zu lässigkeit der negativen Feststellungsklage heißt es in den Schlussanträgen des Generalanwaltes Tesauro (a. a. 0., Seite 5455 sub 23): "Es ist daran zu erinnern, daß die negativen Feststellungsklagen, die übrigens nach den verschiedenen nationalen Verfahrensordnungen zugelassen und in jeder Hinsicht völlig legitim sind, tatsächlichen Bedürfnissen des Klägers entsprechen können. Dieser kann z. B. ein Interesse haben, im Fall der Verschleppung durch die Gegenpartei, im Fall von Zweifeln oder Einwänden eine schnelle gerichtliche Feststellung der Rechte, der Pflichten oder der Verantwortlichkeiten zu erlangen, die sich aus einem bestimmten Vertragsverhältnis ergeben."
2. Der Rechtsstreit Tatry . /. Maciej Rataj
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a) Zum Begriff der "Grundlage" führt er außerordentlich knapp aus 11O : "Im Sinne des Artikels 21 des Übereinkommens umfaßt die ,Grundlage' des Anspruchs den Sachverhalt und die Rechtsvorschrift, auf die die Klage gestützt ist."
Als "Grundlage" sind mithin die dem Urteil zugrundeliegenden Tatsachen und die Rechtsvorschriften zu bezeichnen, welche - die Wahrheit der Tatsachen unterstellt - über die Anerkennung der zwischen den Parteien streitigen Rechtsfolge entscheiden. 111 Damit äußert sich das Gericht zumindest nicht ausdrücklich zu der Frage, wie zu verfahren ist, wenn die von den Gerichten zu erwägenden Vorschriften nicht vollständig, sondern nur teilweise identisch sind. 112 Die Entscheidung über die Rechtshängigkeit "desselben Anspruchs" hätte beispielsweise gefällt werden müssen, wenn sich der Feststellungsantrag (zulässigerweise) nur auf die Nichtexistenz eines bestimmten zum Schadensersatz verpflichtenden Rechtverhältnisses (etwa der vertraglich begründeten Ersatzpflicht) bezogen hätte. l13 In diesem Falle würde, bildlich ausgedrückt, ein und derselbe "Anspruch" zerteilt, und zwar nach Maßgabe der miteinander konkurrierenden, auf die Befriedigung desselben Interesses gerichteten materiellrechtlichen Vorschriften. 114 b) Der "Gegenstand" einer Klage, so fahrt das Gericht fort, bestehe in deren "Zweck"Ys Beide Merkmale der Grundlage und des Zwecks seien im konkreten Fall zu bejahen. An dieser Stelle lässt das Urteil eine genauere Definition des "Zwecks" einer Klage vermissen. Rüßmann 116 stellt hierzu treffend fest: Aa.O., Seite 5475 Rdnr. 39. Nach deutschem Recht bilden nur die rechtsbegründenden Tatsachen den "Grund" des erhobenen Anspruchs. Dazu heißt es bei C. Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 2. Band, Materialien zur Civilprozeßordnung, Erste Abtheilung, 2. Auflage, 1881, Seite 182 zu § 222 des Entwurfs: "Den Grund des erhobenen Anspruchs ... oder den Klagegrund bilden diejenigen Thatsachen, welche nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts an sich geeignet sind, den erhobenen Anspruch als in der Person des Klägers entstanden und zugleich als durch den Beklagten verletzt erscheinen zu lassen - die rechts begründenden Thatsachen " Siehe dazu noch unten m.1.c), Seite 58 ff., insbesondere Fußnote 206. 112 Siehe dazu oben H.l.c), Seite 29. 113 Konsequenterweise hätte der Gerichtshof in dieser Gestaltung erklärt, das später angerufene Gericht habe sich im Hinblick auf die - aus dem Gesichtspunkt der unerlaubten Handlung möglicherweise begründete - Leistungsklage für unzuständig zu erklären. Gegebenenfalls wären die Wirkungen der Rechtshängigkeit zurückzubeziehen, wenn die zunächst unzulässige Leistungsklage nach rechtskräftigem Feststellungsurteil erneut erhoben wird. Siehe zum Ganzen unten II.2.d), Seite 38. 114 Zum Begriff der Anspruchskonkurrenz siehe oben Fußnote 76. 115 A a. 0., Seite 5475 Rdnr. 41. 116 In: ZZP 111 (1998), Seite 399, 405 sub b. 110 111
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
"Damit meint er (d.h. der Gerichtshof) weder das Rechtsschutzziel (Feststellung, Leistung, Gestaltung) noch den Antrag, der nach deutschem Prozeßrecht den Entscheidungsrahmen absteckt ... in dem Verfahren Tatry/Maciej Rataj wird als gemeinsamer Zweck der Feststellungsklagen wie der Leistungsklagen die Entscheidung über das Bestehen einer Schadensersatzhaftung gesehen."
Die Ausführungen von Rüßmann sind zu konkretisieren: Als "Gegenstand" einer Klage ist die zwischen den Parteien streitige Rechtsfolge der Zahlungspflicht wegen der Verunreinigung des Sojaöls zu bezeichnen. c) Der Gerichtshof bestätigt mithin die von ihm in dem vorangegangenen Verfahren Gubisch . /. Palumbo vorgenommene Festlegung, dass mehrere Klagen "denselben Anspruch" zum Gegenstand haben, wenn das später angerufene Gericht auf der Grundlage von (zumindest teilweise) identischen Tatsachen über dieselbe zwischen den Parteien streitige Rechtsfolge urteilen müsste. d) Die vom Gericht gezogene Folgerung, in diesen Gestaltungen handele es sich um "denselben Anspruch" im Sinne des Art. 21 EuGVÜ II7 , begegnet allerdings im Hinblick auf die materiellrechtlichen Auswirkungen Bedenken: Hat die negative Feststellungsklage keinen Erfolg, müsste die später erhobene, kraft der Einrede der Rechtshängigkeit zunächst "gesperrte" Leistungsklage nach Eintritt der Rechtskraft des klagabweisenden Urteils erneut anhängig gemacht werden können. Wäre über sie nach deutschem Recht zu entscheiden, würde die Verjährung erst zu diesem Zeitpunkt unterbrochen (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB n. F.).118 Des weiteren wären erst jetzt die Voraussetzung einer verschärften Haftung, beispielsweise aus dem Gesichtspunkt des sog. Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (§§ 987 Abs. 1, 989 BGB) oder der ungerechtfertigten Bereicherung (§§ 818 Abs. 4, 292 Abs. 1 BGB), erfüllt. Angesichts dieser Auswirkungen erscheint die Anwendung des Art. 21 EuGVÜ zumindest angreifbar: Der Feststellungskläger könnte mit seinem "Vorpreschen" die Unterbrechung der Verjährung und den Eintritt seiner verschärften Haftung verhindern. 117 Dazu heißt es in dem Urteil wörtlich (a. a. 0., Seite 5476 Rdnr. 45): " ... Artikel 21 des Übereinkommens ist dahin auszulegen, daß eine Klage, die auf die Feststellung, daß der Beklagte für einen Schaden haftet, und auf dessen Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz gerichtet ist, denselben Anspruch betrifft wie eine von diesem Beklagten früher erhobene Klage auf Feststellung, daß er für diesen Schaden nicht haftet." 118 Vgl. RGZ 60, Seite 387, 39l. Würde die Verjährung des streitigen Anspruchs durch Erhebung der negativen Feststellungsklage unterbrochen, so wirkte sich die mit dem Prozesskostenrisiko verbundene - Initiative des Feststellungsklägers zu seinen Lasten aus. Eine dem § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB n. F. sinn gleiche Regelung trifft der französische Code civil in Art. 2246: "La citation en justice, donnee meme devant un juge incompetent, interrompt la prescription." - "Die Ladung vor Gericht, auch vor einem unzuständigen Richter, unterbricht die Verjährung."
2. Der Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj
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In diese Richtung weisen die Ausführungen des Generalanwalts Tesauro in der hier behandelten Sache 119 : "Im vorliegenden Fall ... ist der Gegenstand der im Vereinigten Königreich erhobenen Klage (d.h. der Leistungsklage) nicht völlig identisch in der zuvor erhobenen Klage (d.h. der negativen Feststellungsklage) enthalten, da sie ... den Antrag auf Schadensersatz und die Bestimmung von dessen Höhe umfaßt, was nicht Gegenstand des ursprünglich bei dem niederländischen Gericht anhängig gemachten Verfahrens war ... Da das Brüsseler Übereinkommen in Art. 21 keinen automatischen Mechanismus einer Verbindung der Verfahren vorsieht, sondern nur die Unzuständigerklärung des späteren Gerichts, könnte die Anwendung der Bestimmung über die Rechtshängigkeit in solchen Fällen zu einer Rechtsverweigerung führen. . .. Meines Erachtens muß sich daher das später angerufene Gericht, wenn es mit der weiter gefaßten Klage befaßt wird und es nicht möglich ist, den Gegenstand der ersten Klage zu erweitern ... , gemäß Artikel 21 für den Teil des Verfahrensgegenstandes für unzuständig erklären, der als von der Klage erfaßt anzusehen ist, die bei dem zuerst angerufenen Gericht anhängig ist; hinsichtlich des übrigen Verfahrensgegenstandes kann es hingegen, auch in Anwendung des Artikels 21 des Übereinkommens, das Verfahren aussetzen."
Die von Tesauro erwähnte "Rechtsverweigerung" ist zwar nicht zu befürchten, weil selbst bei vollständiger Identität der "Ansprüche" das Recht des Leistungsklägers - sollte die negative Feststellungsklage abgewiesen werden - auf Erlass eines vollstreckbaren Titels außer Frage steht, wobei die Entscheidung über das Leistungsbegehren durch das abgeschlossene Feststellungsverfahren dem Grunde nach verbindlich vorgegeben wäre. 120 Tesauro ist jedoch darin zuzustimmen, dass die Aussetzung des Verfahrens vor dem später angerufenen Gericht dem Interesse des Leistungsklägers besser gerecht würde als die Abweisung der dem Buchstaben des EuGVÜ nach unzulässigen Leistungsklage. Indessen bietet das EuGVÜ - greift man nicht auf ungeschriebene Rechtssätze zurück 12l - keine befriedigende A.a.O., Seite 5451 sub 17 und 18. Zielt die Feststellungsklage auf die Nichtexistenz eines Rechtsverhältnisses, das sich aus der Sicht des Beklagten als Befugnis darstellt, eine bestimmte Leistung (beispielsweise die Lieferung oder Herausgabe einer Sache) zu verlangen, so ist mit der Abweisung der Feststellungsklage von der Berechtigung des gegnerischen Verlangens auszugehen. 121 So andeutungsweise die soeben wörtlich wiedergegebenen Ausführungen des Generalanwalts: " ... hinsichtlich des übrigen Verfahrensgegenstandes kann es hingegen, auch in Anwendung des Artikels 21 des Übereinkommens, das Verfahren aussetzen." Ähnlich Rüßmann, IPRax 1995, Seite 79 sub IV: "Das hat ... zur Folge, daß der später rechtshängig gewordene Leistungsstreit ausgesetzt werden muß, wobei die Rechtsgrundlage für die Aussetzung in Art. 22 EuGVÜ zu finden oder erst noch qua Rechtsfortbildung zu schaffen wäre ..." (Hervorhebung durch Verf.) und die Erklärung der Bundesrepublik Deutschland in dem Verfahren Drouot assurances ./. CMI industrial sites (siehe dazu sogleich sub 11.3. Seite 41 ff.): Es müsse "sichergestellt werden, daß Art. 21 in einer Weise angewandt werde, die die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes berücksichtige. So müsse es, wenn einer Ein119
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Handhabe für ein solches Vorgehen: Nach Art. 22 EuGVÜ ist die Aussetzung des später anhängig gemachten Verfahrens nur gestattet, solange beide Verfahren im ersten Rechtszug anhängig sind. 122 Dementsprechend könnten einander widersprechende Entscheidungen mit verfahrensrechtlichen Mitteln nicht vermieden werden, wenn beispielsweise die negative Feststellungsklage im zweiten und die Leistungsklage im ersten Rechtszug anhängig sind. Bleibt es um der Vermeidung dieser Gefahr willen bei der Anwendung des Art. 21 EuGVÜ, müssten bei erneuter Leistungsklage nach Abschluss des Feststellungsverfahrens die Wirkungen der Rechtshängigkeit auf den Zeitpunkt der Erhebung der ersten Leistungsklage zurückbezogen werden. 123 Die Rechtslage gestaltete sich ähnlich wie im deutschen Verfahrensrecht bei der Anrufung eines Gerichts im falschen Rechtsweg. Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges (§ 17 a Abs. 2 Satz 1 GVG). Nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses wird der Rechtsstreit mit Eingang der Akten bei dem zuständigen Gericht anhängig. Die Wirkungen der Rechtshängigkeit bleiben bestehen (§ 17 b Abs. 1 GVG).
rede der anderweitigen Rechtshängigkeit stattgegeben, die erste Klage aber abgewiesen werde, der Partei, deren zweite Klage von der Einrede betroffen gewesen sei, später möglich sein, ihre Klage vor dem zweiten Gericht wiederaufzunehmen." In diesem Punkt stimmt die Vorschrift des Art. 21 EuGVÜ mit der des § 261 Abs. 3 Nr. I ZPO überein, die keine Möglichkeit der Aussetzung des später anhängigen Verfahrens vorsieht. 122 Der Vorschlag von J.A. Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, 1997, Seite 134 sub 3, die Vorschrift des Art. 22 EuGVÜ teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass nur die Anhängigkeit in der gleichen Instanz erforderlich sei, ist mit dem eindeutigen Wortlaut der Bestimmung nicht zu vereinbaren. In diesem Punkte ablehnend auch die Rezension von T. Pfeiffer, ZZP 112 (1999), Seite 517,518. 123 Zutreffend Rüßmann, IPRax 1995, Seite 76, 79 sub IV 2: "Es muß sichergestellt sein, daß der Anspruchsinhaber seinen Anspruch fristgerecht geltend machen kann." Rüßmann verweist den Beklagten der negativen Feststellungsklage auf die Erhebung einer (Leistungs-)Widerklage (a. a. 0., Seite 79 f. sub 2 a; ebenso ZZP 111, Seite 399, 413), dem damit allerdings ein von ihm nicht gewähltes Forum trotz Zuständigkeit eines anderen Gerichts "aufgezwungen" würde. Die nach deutschem Recht zulässige Leistungswiderklage sichert dem Beklagten demgegenüber das Recht, ohne Verzögerung einen vollstreckbaren Titel zu erwirken; gleichzeitig ist die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen gebannt. Siehe dazu noch unten III.2.e)dd), Seite 102, insbesondere III.2.e)dd)(2), Seite 104.
3. Der Rechtsstreit Drouot assurances ./. CMI
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3. Der Rechtsstreit Drouot assurances ./. CMI industrial sites die einheitliche Reichweite von Rechtskraft und Rechtshängigkeit bei Identität der "Ansprüche" In einem Urteil vom 19. Mai 1998 124 hatte sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob ein später angestrengtes Verfahren über dieselbe Rechts/alge auch dann nach Art. 21 EuGVÜ unzulässig ist, wenn es an der formalen Identität der Parteien mangelt. Der Rechtsstreit war von der französischen Cour de cassation, die über eine Beschwerde gegen eine Entscheidung der Cour d'appel Paris zu befinden hatte, dem Gerichtshof vorgelegt worden. Die Cour d'appel hatte die Klage eines Schiffsversicherers aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit für unzulässig erklärt. Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde l25 : Ein Schiff mit dem Namen "Sequana" hatte im August 1989 in niederländischen Binnengewässern Schiffbruch erlitten. Der Versicherer des Schiffes, die "Drouot Assurances S.A.", hatte das Schiff auf eigene Kosten wieder flottgemacht und dadurch die Bergung der Ladung ermöglicht. Ende August 1989 hatten die "CMI industrial sites" als Eigentümerin der Ladung und der Versicherer der Ladung, ein Unternehmen namens "Protea Assurance", vor der Arrondissementsrechtbank Rotterdam gegen den Schiffseigentümer l26 , einen gewissen Herrn Velghe, Klage erhoben mit dem Antrag festzustellen, dass sie keinen Beitrag zur großen Havarie zu leisten hätten. Im Dezember 1989 hatte dann der Schiffsversicherer, die Drouot Assurances, eine Klage gegen die Eigentümerin der Ladung, die CMI industrial sites, und deren Versicherer, die Protea Assurance, beim Tribunal de commerce Paris angestrengt; er hatte beantragt, die Beklagten zu verurteilen, einen bestimmten Beitrag zur großen Havarie zu leisten. In diesem Verfahren hatten sich die Beklagten mit der Einrede der Rechtshängigkeit verteidigt. Die Cour d'appel hatte den später anhängig gemachten Prozess in zweiter Instanz für unzulässig erklärt; hiergegen richtete sich die Beschwerde des Schiffsversicherers, der Drouot Assurances. 127 Der Europäische Gerichtshof führte aus, dass der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ nicht die formale Identität der ParAmt!. Sig. 1998 I, Seite 3075. A. a. 0., Seite 3078 f. und 3094 ff. 126 In den Schlussanträgen des Generalanwalts Fennelly heißt es (a. a. 0., Seite 3079 sub 8): "In ihrem Urteil vom 29. April 1994 vertrat die Cour d'appel die Auffassung, es sei unstrittig, daß die niederländischen Verfahrens vorschriften einem Versicherungsunternehmen nicht ermöglichten, in einem Rechtsstreit Beteiligter zu sein, in den sein Versicherungsnehmer verwickelt sei." Nach deutschem Verfahrensrecht wäre eine Beteiligung des Schiffsversicherers kraft des Instituts der Nebenintervention (§§ 66 ff. ZPO) zu erwägen gewesen. 127 A. a. 0., Seite 3079 sub 9. 124 125
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
teien voraussetze; entscheidend sei vielmehr, ob das Urteil des sog. Erstgerichts die Parteien des späteren Rechtsstreits binde. Diese Bindungswirkung sei insbesondere anzunehmen, wenn anstelle des Versicherungsnehmers (hier: des Schiffseigentümers Velghe) dessen Versicherer (hier: die Drouot Assurances)128 kraft übergegangenen Rechts klage, ohne dass der Versicherungsnehmer in der Lage sei, auf den Ablauf des Verfahrens Einfluss zu nehmen. In einer solchen Gestaltung seien Versicherer und Versicherungsnehmer als ein und dieselbe Partei im Sinne des Art. 21 EuGVÜ anzusehen. Dazu heißt es in dem angeführten Urteil wörtlich 129: "Gewiß können die Interessen eines Versicherers und seines Versicherungsnehmers hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten so weit übereinstimmen, daß ein Urteil, das gegen den einen ergeht, Rechtskraft gegenüber dem anderen entfalten würde. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn statt des Versicherungsnehmers der Versicherer kraft übergegangenen Rechts klagt oder verklagt wird, ohne daß der Versicherungsnehmer in der Lage wäre, auf den Ablauf des Verfahrens Einfluß zu nehmen. In einem solchen Fall sind Versicherer und Versicherungsnehmer für die Anwendung von Artikel 21 des Übereinkommens als ein und dieselbe Partei anzusehen." Ob eine solche Identität im konkreten Fall anzunehmen war, hatte das vorlegende Gericht zu entscheiden, an das der Rechtsstreit zurückverwiesen wurde. 130 Nach Ansicht des Gerichtshofs gestattet mithin die persönliche bzw. subjektive Reichweite der (hypothetischen) rechtskräftigen Entscheidung 131 über dieselbe Rechtsjolge 132 den Schluss auf die Reichweite der Rechtshängigkeitssperre nach Art. 21 EuGVÜ. 133 128 Dem Sachverhalt des Urteils ist nicht zu entnehmen, ob es sich bei der Versicherung um eine Haftpflicht- oder Kaskoversicherung oder um beides handelt. 129 A. a. 0., Seite 3097 Rdnr. 19. 130 A. a. O. Seite 3098 Rdnr. 23. 131 In der deutschen Prozessrechtsliteratur wird der Ausdruck von den "subjektiven Grenzen der Rechtskraft" verwendet (vg!. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 156, Seite 934 m. w.N.). 132 Dass die konkurrierenden Klagen identische "Ansprüche" betrafen, ergibt sich aus denselben Erwägungen wie in der Sache Tatry . /. Maciej Rataj (siehe oben 11.2., Seite 36 ff.). 133 Diese Begrenzung steht im Einklang mit der Feststellung des Gerichts im Rechtsstreit Tatry ./. Maciej Rataj zu der Frage, inwieweit Art. 21 EuGVÜ die Identität der Parteien voraussetzt (Amt!. Slg. 1994 I, Seite 5439, 5474 Rdnr. 36: "Art. 21 des Übereinkommens (ist) dahin auszulegen ... , daß das später angerufene Gericht in dem Fall, daß zwei Klagen denselben Anspruch betreffen und die Parteien des zweiten Verfahrens nur teilweise mit den Parteien des in dem anderen Vertrags staat früher anhängig gemachten Verfahrens übereinstimmen, nur insoweit verpflichtet ist, sich für unzuständig zu erklären, als die Parteien des bei ihm anhän-
3. Der Rechtsstreit Drouot assurances ./. CMI
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Klagte der Schiffsversicherer aus einem nach Anhängigkeit der Sache auf ihn übergegangenen Recht, so hätte nach deutschem Verfahrensrecht ein rechtskräftiges Urteil im Feststellungsprozess nach § 325 Abs. I ZPO auch gegen ihn als Rechtsnachfolger des Schiffseigentümers gewirkt. 134 Ginge man in Übereinstimmung mit dem römischen 135 und gemeinen Recht 136 davon aus, dass das Verbot, eine rechtskräftig entschiedene Sache erneut vor den Gerichten anhängig zu machen, auf die Rechtshängigkeit als einer Mindestgrenze des Prozessierens zurückwirkt 137 , so wären auch solche Verfahren unzulässig, die sich auf dieselbe Rechtsfolge wie im "Erstprozess" beziehen (im vorliegenden Fall wäre das die Verpflichtung der Eigentümerin der Ladung, CMI, und deren Versicherung, Protea Assurance, zur Leistung eines Beitrags zur großen Havarie) und von oder gegen Parteien erhoben werden, auf die sich die Bindungswirkung des (hypothetischen) Urteils in dem früher anhängig gemachten Verfahren erstreckt. 138 gigen Rechtsstreits auch Parteien des früher anhängig gemachten Verfahrens sind; er steht der Fortsetzung des Verfahrens zwischen den anderen Parteien nicht entgegen." 134 Klagte der Schiffsversicherer im Verhältnis zum Schiffseigentümer als sog. Prozessstandschafter, hätte die rechtskräftige Entscheidung im Feststellungsverfahren bei Zugrundelegung des deutschen Verfahrensrechts gleichfalls gegen ihn gewirkt (Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 325 Rdnr. 30; Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, § 325 Rdnr. 4 m. w. N.). 135 M. Kaser/K. Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, 1996, § 43 I 2, Seite 302 (siehe auch Fußnote 182). 136 G. W. Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Auflage, 1878, Seite 126 Fußnote 48. 137 So Gottwald, Symposium zu Ehren von Schwab, Seite 85, 95: "Streitgegenstand ist auch der potentielle Urteilsgegenstand und der hypothetische Rechtskraftgegenstand. Es liegt deshalb nahe, den Streitgegenstand für Rechtshängigkeit und Rechtskraft gleich zu bestimmen." Die von Gottwald verwendete Formulierung darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bezugspunkte der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft verschieden sind: Die Rechtshängigkeit bestimmt sich nach dem erhobenen, die Rechtskraft nach dem beschiedenen Anspruch. Siehe zur These Gottwalds noch die folgende Fußnote. 138 In den "Erklärungen" des angeführten Urteils heißt es dazu (a. a. 0., Seite 3082 sub 15): "Auch die Bundesrepublik Deutschland ... tritt für einen weiten Begriff ,derselben Parteien' ein ... Es bestehe ein Zusammenhang zwischen den Begriffen ,anderweitiger Rechtshängigkeit' und ,Rechtskraft'; Parteien eines zweiten Verfahrens, die nicht formal identisch mit den in einem ersten Verfahren beteiligten Parteien seien, sollten nur als ,dieselben' angesehen werden, soweit sie von der Bindungswirkung des Urteils des zuerst angerufenen Gerichts eifaßt würden, so daß die Gefahr miteinander unvereinbarer Urteile bestünde, wenn der Einrede nicht stattgegeben würde." (Hervorhebung durch Verf.) Diese Formulierung ist indessen legt man die gegenwärtig überwiegende deutsche Auffassung zugrunde - bezogen auf den Einwand der Rechtshängigkeit zu weitreichend, weil der Einwand der Rechtskraft weiter reicht als der der anderweitigen Rechtshängigkeit (siehe dazu den folgenden Text, insbesondere Fußnote 140).
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II. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Hervorzuheben ist, dass der Gerichtshof den Einwand der Rechtshängigkeit auch in der hier erörterten Entscheidung im Ausgangspunkt an die Identität der streitigen Rechts/olge anknüpft, d.h. an die Verpflichtung des Versicherungsnehmers, einen Beitrag zur großen Havarie zu leisten. 139 Das Urteil gestattet mithin nicht den Schluss, dass dieser Einwand nach Art. 21 EuGVÜ sogar dann begründet sein soll, wenn sich die Rechtskraft der (hypothetischen) Entscheidung im sog. Erstprozess aus dem Gesichtspunkt der materiellrechtlichen Abhängigkeit auf eine Person erstreckt, die als Partei in einem späteren Verfahren über eine andere Rechts/olge beteiligt ist. Den Ausführungen des Gerichts ist beispielsweise nicht zu entnehmen, dass ein Verfahren gegen einen Bürgen aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit (zumindest vorübergehend) unzulässig sein sollte, wenn zu einem früheren Zeitpunkt bei einem anderen (zuständigen) Gericht der Prozess gegen den Hauptschuldner angestrengt worden ist: Das klagabweisende Urteil gegen den Hauptschuldner wirkt zwar - legt man die überwiegende deutsche Rechtsauffassung zugrunde - zugunsten des Bürgen. 140 Die Verfahren beziehen sich aber auf unterschiedliche Rechts/olgen: im ersten wird um die Hauptverbindlichkeit, im zweiten um die (selbständige) Bürgenschuld gestritten. 4. Der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit bei "qualitativer Teilidentität" von Streitgegenständen
a) Die Rechtssache Gubisch ./. Palumbo betraf eine Gestaltung, in der die "Ansprüche" der Verfahren vollständig identisch waren: Das Urteil über den früher anhängig gemachten Anspruch beinhaltete unmittelbar die Entscheidung über den später erhobenen - und damit letztlich - aus dem Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit unzulässigen "Anspruch". So war mit dem Urteil über den kraft der Leistungsklage geltend gemachten Kaufpreisanspruch auch über den späteren Feststellungsantrag, gerichtet auf die Nichtexistenz dieser Forderung, entschieden. 139 Das Gericht betont, dass von einer Identität der Streitgegenstände "insbesondere" dann auszugehen sei, wenn der Versicherer anstelle des Versicherungsnehmers aus abgetretenem Recht klage. 140 BGH NJW 1970, Seite 279; PalandtlSprau, 61. Auflage, § 767 Rdnr. 4. Das stattgebende Urteil gegen den Bürgen soll indessen keine Rechtskraft zu Lasten des Hauptschuldners entfalten (Palandt/Sprau, a. a. 0., § 774 Rdnr. 10). Die Erstreckung der Rechtskraft ist angesichts der Verschiedenheit der Streitgegenstände beider Klagen durchaus zweifelhaft; sie hat zur Folge, dass der Einwand der Rechtshängigkeit nicht so weit reicht wie der der Rechtskraft (siehe dazu die Fußnoten 137 f.).
4. Der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit
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Die vollständige Identität von "Ansprüchen" ist, mit anderen Worten ausgedrückt, zu bejahen, wenn mit dem Abschluss des Erstverfahrens die Entscheidung über die streitige Rechtsfolge des Zweitverfahrens feststeht, und zwar sowohl im Falle des Erfolgs als auch der Abweisung der zuerst erhobenen Klage. Die Folge der vollständigen Identität ist regelmäßig die dauerhafte Unzulässigkeit des Zweitverfahrens. 141 Eine Ausnahme ist nur anzuerkennen, sollte es sich bei dem zuerst angestrengten Verfahren um eine negative Feststellungsklage und bei dem späteren um eine Leistungsklage handeln: Sollte der Feststellungsklage der Erfolg versagt sein, muss dem Beklagten dieses Verfahrens die Möglichkeit eröffnet sein, einen vollstreckbaren Leistungstitel zu erlangen. 142 b) An einer vollständigen Identität der Ansprüche fehlte es dagegen in der Sache Tatry ./. Maciej Rataj: War der negativen Feststellungsklage des Schiffahrtsunternehmens stattzugeben, so stand damit zwar fest, dass die mit der später angestrengten Leistungsklage der Eigentümer der Ladung verfolgten Ersatzansprüche nicht anzuerkennen waren. Die Abweisung der Feststellungsklage gestattete indessen lediglich den Schluss auf die Existenz, nicht aber den Umfang der Haftung. 143 Insoweit bestand keine vollständige Identität, sondern eine qualitative Teilidentität der "Ansprüche". Der Streit zwischen den Parteien bezog sich nicht nur auf den Grund, sondern (vermutlich) auch auf die Höhe der Ersatzverbindlichkeit. Da sich der Europäische Gerichtshof mit der Vermeidung von Parallelprozessen zu befassen hatte, bedurfte es keiner Stellungnahme zu der Frage, ob ein we141 Bei vollständiger Identität der Streitgegenstände hat die Einrede der Rechtshängigkeit, wie es in den Materialien zur Civilprozeßordnung (Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 2. Band, Materialien zur Civilprozeßordnung, Erste Abtheilung, 2. Auflage, Seite 187 zu § 227-233, 244 des Entwurfs) heißt, "denselben Umfang wie die exceptio rei judicatae": Die später erhobene Klage ist von vornherein dauerhaft unzulässig. Ebenso verhält es sich bei Teilklagen (dazu allgemein ZöllerlVollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 322 Rdnr. 44 ff.): Die mit ihnen geltend gemachte Forderung darf anderweitig nicht mehr geltend gemacht werden. Sollte dessenungeachtet mit einer neuen Klage der gesamte Anspruch verfolgt werden, ist sie bezogen auf den mit der Teilklage verfolgten Anspruch (dauerhaft) unzulässig (quantitative Teilidentität der Streitgegenstände). Abweichend ist die prozessuale Situation, wie unter b. und d. dargestellt, bei qualitativ teilidentischen Streitgegenständen zu beurteilen: Die später erhobene Klage darf zwar nicht parallel zum Erstverfahren verhandelt, möglicherweise aber im Anschluss daran weitergeführt werden (siehe Fußnoten 77 und 80 sowie unten III.2.c), Seite 76 ff. 142 Siehe oben II.2.d), Seite 38 f. 143 Die abgewiesene negative Feststellungsklage hatte für die Ersatzansprüche dieselbe Wirkung wie ein (nach deutschem Recht gemäß § 304 ZPO zulässiges) Grundurteil.
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H. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
gen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässiges Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden darf. 144 c) Auch in der Sache Drouot Assurances ./. CMI industrial sites wäre eine sachliche Entscheidung über den Zahlungsanspruch des Schiffsversicherers Drouot Assurances nur im Falle des Misserfolgs der zuvor von der Eigentümerin der Ladung (CMI) angestrengten Feststellungsklage zu treffen: Bei Abweisung der Feststellungsklage war nicht mehr über die Berechtigung des Leistungsbegehrens des Schiffsversicherers (Drouot Assurances) an sich, wohl aber über dessen Höhe zu befinden. Aus einem stattgebenden Feststellungsurteil in dem Prozess gegen den Schiffseigentümer (Velghe) musste dagegen geschlossen werden, dass die Eigentümerin der Ladung keine Zahlung aus dem Gesichtspunkt der großen Havarie zu leisten hatte; die Leistungsk1age war hier dauerhaft unzulässig. d) Die "qualitative Teilidentität" von Ansprüchen ist, wie bereits erwähnt l45 , auch dann zu bejahen, wenn eine und dieselbe Partei verschiedene Verfahren auf der Grundlage von Tatsachen anstrengt, welche die Voraussetzungen einander ausschließender Vorschriften erfüllen und aus diesem Grunde auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet sind. 146 In diesem Fall ist die später erhobene Klage dauerhaft unzulässig, wenn die zuerst angestrengte erfolgreich war. Schließlich ist die "qualitative Teilidentität" von Ansprüchen zu bejahen, wenn die Parteien aufgrund verschiedener Klagen dieselbe Rechtsfolge für sich in Anspruch nehmen, etwa voneinander auf der Grundlage (zumindest) teilweise identischer Tatsachen die Herausgabe derselben Sache verlangen. 147 Die teilweise Identität der "Ansprüche" ergibt sich hier aus dem Umstand, dass das streitige Recht nur einer Partei zustehen kann. Ebenso verhält es sich, wenn die Parteien - wie in Sachen Gubisch . /. Palumbo und Tatry . /. Maciej Rataj - einander ausschließende Rechtsfolgen geltend machen, beispielsweise der eine Teil die Zahlung eines noch ausstehenden Entgelts und der andere Teil die Rückzahlung zuviel entrichteter Beträge verlangt. 148 Mit diesen Gestaltungen der qualitativen Teilidentität von "Ansprüchen" hat sich der Europäische Gerichtshof bisher - wohl nicht zuletzt wegen der 144 Das verkennt Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, Seite 124 sub 3 und Seite 126, nach deren Ansicht Art. 21 EuGVÜ nur eingreift, wenn im sog. Erstverfahren das Rechtsschutzbegehren vollständig befriedigt wird. 145 Siehe Fußnote 77. 146 Zahlung entweder aus einem Vertrag oder aus ungerechtfertigter Bereicherung. Siehe dazu Fußnote 77. 147 Siehe dazu Fußnote 80. 148 Diese Gestaltung lag beispielsweise einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg aus dem Jahre 1883 (SeuffArch 38 [1883], Nr. 272, Seite 347) zugrunde. Siehe dazu bereits Fußnote 82.
5. Der Begriff des "Anspruchs" - eine Zusammenfassung
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geringen praktischen Bedeutung des Instituts - freilich nicht befassen müssen. e) Bei qualitativer Teilidentität ist das sog. Zweitverfahren nach europäischem Verfahrensrecht zumindest vorübergehend unzulässig. Es ist - was der Europäische Gerichtshof nicht erwogen hatte - entweder auszusetzen 149 oder nach rechtskräftigem Abschluss des sog. Erstprozesses erneut anhängig zu machen. Die später erhobene Klage wird dauerhaft unzulässig, wenn das Urteil im zuerst angestrengten Verfahren die Entscheidung des späteren Verfahren in vollem Umfang vorwegnimmt.
5. Der Begriff des "Anspruchs" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - eine Zusammenfassung Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs ist die Identität von "Ansprüchen" nicht anhand der in den unterschiedlichen Verfahren gestellten Anträge zu ermitteln. Für die Feststellung, dass es sich um "denselben Anspruch", d.h. um "denselben Gegenstand und dieselbe Grundlage" handelt, soll vielmehr maßgebend sein, ob "Kernpunkt" beider Prozesse "dasselbe Rechtsverhältnis" ist. 150 Das ist der Fall, wenn das später angerufene Gericht seine Entscheidung über dieselbe streitige Rechtsfolge (Zahlung, Herausgabe einer Sache etc.) treffen müsste. Dies wiederum ist anzunehmen, wenn es auf der Grundlage zumindest teilweise identischer Tatsachen und identischer Normen (wie im Fall Gubisch ./. Palumbo), miteinander konkurrierenden Vorschriften (Vertrag und Delikt) oder einander ausschließenden materiellrechtlicher Bestimmungen (Vertrag und ungerechtfertigte Bereicherung) zu urteilen hätte. Verschiedene "Ansprüche" sind dagegen anzunehmen, wenn die Parteien um verschiedene Rechtsfolgen streiten. Dies ist der Fall, wenn die streitigen Rechte entweder auf verschiedenen Tatsachen gegründet sind oder auf zwar auf (zumindest teilweise identischen) Tatsachen beruhen, jedoch nicht dasselbe Interesse betreffen und aus diesem Grunde nebeneinander stehen bzw. - anders ausgedrückt - kumulieren. Haben die verschiedenen Rechtsfolgen "denselben rechtlichen und tatsächlichen Ausgangspunkt", so ist - was im Folgenden dargestellt werden soll - eine Verbindung der Verfahren nach Art. 22 EuGVÜ zu erwägen.
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Nach deutschem Verfahrensrecht ist die Aussetzung des Verfahrens nach
§ 148 ZPO zu erwägen; siehe dazu eingehend unten III.2.c), Seite 76 ff.
150 Leipold, Gedächtnisschrift für Arens, Seite 227, 246; Huber, JZ 1995, Seite 603, 605 sub 5; Walker, ZZP 111, Seite 429, 434, und Gottwald, Symposium zu Ehren von Schwab, Seite 85, 86 verwenden den unpassenden Begriff der "Kernpunkttheorie" .
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Beispiel: Der Käufer K erhebt gegen den Verkäufer V Klage auf Übereignung der verkauften Sache. Kurze Zeit später strengt er bei einem anderen (ebenfalls zuständigen) Gericht einen weiteren Prozess an und begehrt Schadensersatz wegen verspäteter Lieferung. In bei den Verfahren ist die Begründetheit der Klagen davon abhängig, ob zwischen den Parteien ein Kaufvertrag besteht. Die Wirksamkeit des Vertrags stellt bei "Verschiedenheit" der Ansprüche eine sog. "Vorfrage", d.h. den gemeinsamen Ausgangspunkt der umstrittenen Rechtsfolgen, dar.
Die Vorschrift des Art. 21 EuGVÜ will dagegen miteinander unvereinbare Entscheidungen über dieselbe Rechtsfolge vermeiden. 151 Konkurriert - wie in den vom Europäischen Gerichtshof entschiedenen Gestaltungen - eine Leistungs- mit einer negativen Feststellungsklage, mittels derer der Beklagte des "Erstverfahrens" seine Verteidigung als Angriff vorbringt, so besteht die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen, weil beide Klagen auf der Grundlage derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Vorschriften abgewiesen oder beiden stattgegeben werden könnte. 152 Strengte ein und derselbe Kläger in zwei Vertragsstaaten zwei Leistungsklagen an, so bestünde die hier beschriebene Gefahr bei vollständiger Identität der erhobenen "Ansprüche", weil er in einem Verfahren obsiegen und in dem anderen unterliegen könnte. Sie wäre auch bei teilweiser Identität der "Ansprüche" gegeben, weil beiden - im Verhältnis der Alternativität stehenden und in diesem Sinne auf dieselbe Rechtsfolge gerichteten - Anträgen des Klägers stattgegeben könnte. 153 151 Sollten trotz des Art. 21 EuGVÜ sowohl das zuerst als auch das später angerufene Gericht Urteile fällen und sind diese miteinander unvereinbar, so ist hinsichtlich der Vollstreckung Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zu berücksichtigen. Nach dieser (in Fußnote 11 wörtlich angeführten) Regelung wird ein Urteil nicht anerkannt, wenn es mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist. In diesem Sinne auch der EuGH in dem Verfahren Gubisch ./. Palumbo (a. a. 0., Seite 4876 Rdnr. 18): " ... zweifellos würde die Anerkennung einer in einem Vertragsstaat ergangenen gerichtlichen Entscheidung, durch die die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrags ausgesprochen wird, im ersuchten Staat abgelehnt, wenn eine Entscheidung eines Gerichts dieses Staates vorläge, die die Unwirksamkeit oder die Auflösung desselben ausspricht." 152 Der Europäische Gerichtshof hatte nicht über den Fall zu befinden, dass der Beklagte des Leistungsprozesses zu einem späteren Zeitpunkt eine negative Feststellungsklage erhebt, weil er die weiterreichende Inanspruchnahme durch den Kläger, etwa auf Schadensersatz aus dem Gesichtspunkt der Verletzung vertraglicher Nebenpflichten, befürchtet. Siehe dazu Fußnoten 60 bis 62, 75 und 92 sowie II1.2.a)aa), Seite 68 und III.2.b)aa), Seite 73 ff. 153 Anspruch auf Zahlung desselben Betrags aus einem Vertrag und aus ungerechtfertigter Bereicherung.
6. Der Anwendungsbereich des Art. 22 EuGVÜ
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6. Der Anwendungsbereich des Art. 22 EuGVÜ: Die Verbindung von Verfahren mit verschiedenen "Ansprüchen"
Liest man die Vorschriften der Artt. 21 und 22 EuGVÜ, so stellt sich die Frage, unter welchen Umständen mehrere Klagen "denselben Anspruch" oder mehrere Ansprüchen betreffen, die lediglich "im Zusammenhang" stehen. Um den Anwendungsbereich der Vorschriften voneinander abzugrenzen, wäre es geboten, Art. 22 EuGVÜ als eine Regelung zu verstehen, die eine Verbindung von Verfahren mit verschiedenen "Ansprüchen" ermöglicht. Der Zweck der Vorschrift: eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung zu ermöglichen, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Urteile ergehen, stünde dieser Deutung nicht entgegen. Die Gefahr, dass miteinander nicht in Einklang zu bringende Entscheidungen gefällt werden, besteht nicht nur im Hinblick auf die eine identische Rechtsfolge, sondern auch auf die Beurteilung von gemeinsamen Voraussetzungen verschiedener "Ansprüche".154 Darüber hinaus werden widersprüchliche Entscheidungen gefällt, wenn mehrere Kläger aus denselben Tatsachen gleichartige Rechts/algen herleiten und verschiedene Spruchkörper über deren Voraussetzungen unterschiedlich urteilen. 155 Nach deutschem Verfahrensrecht besteht für die Parteien die Möglichkeit einer Verbindung von Prozessen mit unterschiedlichen Streitgegenständen sowohl bei der Anspruchs- als auch bei der Parteienhäufung: Kraft der Vorschrift des § 260 ZPO kann der Kläger mehrere Ansprüche gegen den Beklagten, "auch wenn sie auf verschiedenen Gründen beruhen", in einer Klage verbinden, wenn für sämtliche Ansprüche dasselbe Prozessgericht zuständig und dieselbe Prozessart zulässig ist. Mehrere Personen können als Streitgenossen gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden, wenn sie hin154 Das verkennt offenbar Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 135 sub f., nach deren - nicht begründeter - Ansicht die Bestimmung des Art. 22 EuGVÜ im Verhältnis zu Art. 21 EuGVÜ einen "Auffangtatbestand" darstellt (ebenso Seite 158). Unklar Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, Seite 91, die den Anwendungsbereich des Art. 21 EuGVÜ als "Obergrenze" des Art. 22 EuGVÜ bezeichnet; im Sinne einer Spezialität des Art. 21 EuGVÜ auf Seite 54: ".Wenn Klagenidentität vorliegt, wird die Regelung des Art. 22 durch die speziellere des Art. 21 verdrängt." Allein angemessen ist indessen der Begriff der "Exklusivität". 155 Beispielhaft seien Schadensersatzansprüche von Fahr- oder Auggästen aus einem gemeinsam erlebten Unglück erwähnt, die im Hinblick auf das Verschulden des Verkehrs- oder Auguntemehmens unterschiedlich beurteilt werden. Ähnlich, aber noch weiterreichend Lüpfert, a. a. 0., Seite 47 : "Das Ziel der Verfahrensökonomie spricht ... dafür, Konnexität immer schon dann anzunehmen, wenn in Verfahren über unterschiedliche Klagen mindestens eine gemeinsame Rechtsfrage oder eine für beide erhebliche, streitige Tatsachenfrage zur Beurteilung steht .. ." (ebenso Seite 49 sub c, Hervorhebung durch Verf.).
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
sichtlich des Streitgegenstandes in Rechtsgemeinschaft stehen oder "aus demselben tatsächlichen oder rechtlichen Grunde" berechtigt oder verpflichtet sind, § 59 ZPO. Eine Verbindung verschiedener Verfahren zum Zwecke der gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung von Amts wegen kommt nach § 147 ZPO in Betracht, wenn mehrere Prozesse derselben oder verschiedener Parteien bei demselben Gericht anhängig sind und die Anspruche, die den Gegenstand der Verfahren bilden, in "rechtlichem Zusammenhang" stehen 156 oder in einer Klage hätten geltend gemacht werden können. Dass die Vorschrift des Art. 22 EuGVÜ Verfahren mit unterschiedlichen "Ansprüchen" erfasst, lässt sich den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in dem bereits dargestellten Verfahren Tatry ./. Maciej Rataj entnehmen. Das Gericht stellt wörtlich fest l57 : "Art. 22 des Übereinkommens ist dahin auszulegen, daß es, wenn einerseits in einem Vertrags staat eine Gruppe von Eigentümern einer Schiffsladung gegen einen Schiffseigner Klage erhebt auf Ersatz eines Schadens, der angeblich an einem Teil der aufgrund getrennter, jedoch gleicher Verträge beförderten Bulkladung entstanden ist, und andererseits in einem anderen Vertragsstaat die Eigentümer eines anderen Teils der Ladung, der unter gleichen Bedingungen und aufgrund von getrennten, jedoch gleichen Verträgen wie den Verträgen zwischen der ersten Gruppe und dem Schiffseigner befördert worden ist, gegen denselben Schiffseigner Klage auf Schadensersatz erheben, für das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen diesen beiden Klagen ausreichend ist, daß bei getrennter Verhandlung und Entscheidung die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht, ohne daß es erforderlich wäre, daß die Gefahr sich gegenseitig ausschließender Rechtsfolgen besteht."
Freilich bedürfen auch diese Darlegungen einer Analyse: Der Gerichtshof bejaht einen "Zusammenhang" im Sinne des Art. 22 EuGVÜ, wenn mehrere Parteien in verschiedenen Verfahren über Rechtsfolgen streiten, die aus denselben oder gleichgelagerten Tatsachen abgeleitet werden. Der Umstand, dass verschiedene subjektive Rechte auf denselben oder zumindest einen gleichgelagerten 158 Sachverhalt gegrundet werden, birgt insoweit das Risiko widersprüchlicher Entscheidungen, als aus den relevanten Tatsachen trotz der gebotenen gleichartigen Beurteilung unterschiedliche Folgerungen gezogen werden. 159 Wegen der fehlenden Parteiidentität ist hier allerdings die Gefahr unvereinbarer Urteile ausgeschlossen: Die angerufenen Gerichte 156 Bäumer, a. a. 0., Seite 159, und Lüpfert, a. a. 0., Seite 98 sub III I, ist zu widersprechen, wenn die Autorinnen ausführen, der Begriff des Zusammenhangs sei dem deutschen Recht "fremd". Bei Lüpfert heißt es demgegenüber auf Seite 24, die Konnexität spiele im deutschen Zivilprozessrecht eine vergleichsweise "geringe Rolle". 157 Amt!. Slg. 1994 I, Seite 5439, 5482. 158 Beispielsweise auf gleichlautende vertragliche Vereinbarungen.
6. Der Anwendungsbereich des Art. 22 EuGVÜ
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können im Rahmen der Begründung ihrer Entscheidung aus denselben Tatsachen keine entgegengesetzten Folgerungen für dasselbe streitige subjektive Recht ziehen. In dem angeführten Urteil wird dies mit der Wendung umschrieben, dass keine "Gefahr sich gegenseitig ausschließender Rechtsfalgen " vorhanden sei. Ebenso wie in den Fällen fehlender Parteiidentität geht es auch bei der Anspruchshäufung nicht darum zu venneiden, dass es zu unvereinbaren Festlegungen derselben Rechtsfolge kommt. 160 Warum aber sollten Verfahren mit verschiedenen Streitgegenständen dem später angerufenen Gericht das Recht zur Aussetzung des Verfahrens geben oder gar die Möglichkeit eröffnen, sich auf Antrag einer Partei für unzuständig zu erklären? In der angeführten Entscheidung heißt es dazu 161: "Art. 22 des Übereinkommens bezweckt ... eine bessere Koordinierung der Rechtsprechungstätigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu verwirklichen und die Inkohärenz von Entscheidungen und den Widerspruch zwischen Entscheidungen zu vermeiden, selbst wenn diese getrennt vollstreckt werden.,,162
Sollten die verschiedenen Gerichte trotz des Art. 22 EuGVÜ Urteile erlassen und fallen diese widersprüchlich aus, so hat dies - anders als bei Parallel verfahren über denselben Streitgegenstand 163 - nach dem strikt ausgelegten Wortlaut des Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ l64 , der auf die Unvereinbarkeit von Entscheidungen abstellt, nicht zur Folge, dass ihnen die Anerkennung nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ zu versagen iSt. 165 159 Vg!. Schack, IPRax 1989, Seite 139 sub 11: " ... der Konflikt zwischen einer inländischen Entscheidung und derjenigen eines anderen GVÜ-Staates soll offensichtlich auch dann zugunsten der inländischen gelöst werden dürfen, wenn der Streitgegenstand nicht identisch ist." 160 Über die Klage auf Zahlung von Schadensersatz und auf die vereinbarte Leistung aus einem und demselben Vertragsverhältnis kann widersprüchlich nur im Hinblick auf die gemeinsame Voraussetzung, nämlich die Wirksamkeit des Vertrags, entschieden werden. Im Übrigen sind Widersprüche nicht denkbar. 161 A. a. 0., Seite 5479 Rdnr. 55. 162 Der Sinn der Aussage, dass "inkohärente", d.h. in keinem Zusammenhang stehende, Entscheidungen (sic!) zu vermeiden seien, erschließt sich mir nicht. 163 Siehe dazu oben 1I.1.b )bb), Seite 21 ff. 164 Der Wortlaut der Vorschrift ist in Fußnote 11 wiedergegeben. 165 Wollte man nach Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ auch solchen Urteilen die Anerkennung versagen, die zwar verschiedene Streitgegenstände betreffen, aber einander im Sinne des Art. 22 EuGVÜ widersprechen, so müsste man über die Vorschrift über ihren Wortlaut hinausreichend anwenden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Bestimmungen der Artt. 21 und 22 EuGVÜ nicht geeignet sind, die Existenz von unvereinbaren bzw. widersprüchlichen Entscheidungen in vollem Umfang auszuschließen. Beispielhaft sei das Verfahren Hoffmann ./. Krieg aus dem Jahre 1988 (Amt!. Slg. 1988, Seite 645) angeführt: Der Europäische Gerichtshof (a. a. 0., Seite 672 sub 3) hielt eine ausländische 4*
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11. "Materieller" Anspruchsbegriff in der Rechtsprechung des EuGH
Das vom Gerichtshof betonte Ziel der "Entscheidungsharmonisierung" erfordert eine möglichst einheitliche Behandlung gleich gelagerter Rechtsstreitigkeiten und die einheitliche Rechtsanwendung im Hinblick auf mehrere, zwischen denselben Parteien streitigen Rechtsfolgen, die von denselben Voraussetzungen abhängen, die, bildlich ausgedrückt, "dieselbe Wurzel" haben. In einer prägnanten Formulierung heißt es bei Lüp!ert I66 : "Während die Rechtshängigkeitsregel geschaffen wurde, um zu verhindern, daß mehrere Verfahren in verschiedenen Vertrags staaten über denselben Gegenstand geführt werden, sind im Falle der Konnexität Klagen mit verschiedenen Streitgegenständen anhängig. Konflikte hinsichtlich der Entscheidungszuständigkeit betreffen bei der Konnexität also nicht das Verfahren insgesamt, sondern nur einzelne, sich überschneidende Aspekte."
Das Ziel, Entscheidungen miteinander in Einklang zu bringen, wird vom Europäischen Recht freilich nicht so hoch bewertet wie das Bestreben, einander logisch ausschließende Aussagen über dieselbe Rechtsfolge zu vermeiden. Dementsprechend trifft Art. 22 EuGVÜ im Vergleich mit Art. 21 des Übereinkommens die schwächere Regelung: Zum einen kommt die Aussetzung des später anhängig gemachten Verfahrens oder die Erklärung der eigenen Unzuständigkeit nur in Betracht, solange die beiden im Zusammenhang stehenden Klagen im ersten Rechtszug anhängig sind, zum anderen steht die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens im Ermessen des Gerichts. 167
Entscheidung (des Familiengerichts Heidelberg), die einen Ehegatten dazu verurteilte, dem anderen ehelichen Unterhalt zu gewähren, im Sinne von Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ mit einer inländischen Entscheidung für vereinbar, kraft der die betreffende Ehe geschieden wurde (hier: einem Versäumnisurteil der Arrondissementsrechtbank Maastricht vom l. Mai 1980). Siehe dazu Schack, IPRax 1989, Seite 139, 141 sub III 3. 166 A. a. 0., Seite 30 f. 167 Dazu heißt es bei Bäumer, Die ausländische Rechtshängigkeit und ihre Auswirkungen auf das internationale Zivilverfahrensrecht, Seite 152 sub f: "Eine weite Auslegung des Art. 21 EuGVÜ kommt dem Ziel des Übereinkommens, unvereinbare Entscheidungen zu vermeiden, entgegen. Art. 22 EuGVÜ kann als Ermessensvorschrift dieser Aufgabe nicht ebenso gut nach kommen."
III. Der nationale, im sachlichen Recht wurzelnde Begriff vom "Streitgegenstand" "Niemand kann ernsthaft annehmen, dass dieser (gemeint ist der vom Europäischen Gerichtshof entwickelte) gemeineuropäische prozessuale "Anspruchs" -begriff die herkömmliche deutsche Streitgegenstandslehre unberührt lassen wird" - diese These Stürners aus dem Jahre 1997 168 lässt vermuten, dass eine deutliche Verschiedenheit zwischen dem europäischen Begriff des "Anspruchs" und des nationalen Begriff des "Streitgegenstandes" besteht. 169 Diese - vielfach geäußerte - Behauptung 170 soll im Folgenden widerlegt werden. Hervorgehoben sei, dass die Zivilprozessordnung sowohl den Begriff des "Streitgegenstandes,,171 als auch den des "Anspruchs"l72 verwendet, um das Begehren des Klägers nach dem Ausspruch einer Rechts/olge 173 zu kennzeichnen. Darüber hinaus spricht das Gesetz vom "Gegenstand des Rechtsstreits,,174 und von der "Streitsache,,175. 168 Der deutsche Prozessrechtslehrer am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Festschrift für G. Lüke, 1997, Seite 829, 836. Stümer fährt polemisch fort: "Jedenfalls ist auch in der Streitgegenstandslehre die Zeit dogmatischer Unschuld und systematischer Konstruktion vorbei - die Arbeiten der früheren und späteren Nachkriegszeit könnten so heute nicht mehr geschrieben werden." 169 Ähnlich, wenn auch zurückhaltender, Rüßmann, ZZP 111 (1998), Seite 399: "Für diesen Bereich (gemeint ist die nach Art. 21 EuGVÜ ausgelöste Rechtshängigkeitssperre) hat der EuGH ... eine Bestimmung des Streitgegenstands vorgenommen, die mit den herrschenden deutschen Vorstellungen vom Streitgegenstand schwerlich zu vereinbaren ist. Die zentrale Frage ... ist die, ob sich aus den Festlegungen des EuGH die Notwendigkeit ergibt, die für das nationale Recht vertretenen Streitgegenstandslehren anzupassen." Zu Rüßmann siehe bereits Fußnote 52. 170 Dazu beispielsweise Walker, ZZP 111 (1998), Seite 429, 433 sub 2: "Der EuGH hat sich in seiner Rechtsprechung zu Art. 21 EuGVÜ keiner der deutschen Streitgegenstandslehren angeschlossen." 171 So in den Bestimmungen der §§ 2, 59, 81, 83, 130 Nr. 1, 253 Abs. 3, 794 Abs. 1 Nr. 1 und 935 ZPO. 172 So in den Bestimmungen §§ 5, 33 Abs. 1, 81, 83, 253 Abs. 2 Nr. 2, 260, 261 Abs. 2, 306, 307 Abs. 1,313 Abs. 2, 322 Abs. 1, 767 Abs. 1, 796 Abs. 3 ZPO. Darüber hinaus versteht die Zivilprozessordnung in einigen Vorschriften (z. B. § 265 Abs. I ZPO) unter "Anspruch" das Objekt des klägerischen Rechtsfolgebegehrens. 173 So ausdrücklich Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Einleitung Rdnr. 60. 174 Vgl. §§ 60, 148 ZPO.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Mit dem Begriff des "Streitgegenstandes" schuf sich die erste reichseinheitliche Ci vilprozeßordnung vom 30. Januar 1877 ein bisher nicht gekanntes Instrument, den bürgerlichen Rechtsstreit zu konzentrieren 176, den Umfang d~r Rechtshängigkeit 177 sowie der inneren Rechtskraft 178 verlässlich zu bestimmen und mittels des "Werthes des Streitgegenstandes" einen sicheren Maßstab für die sachliche Zuständigkeit der Gerichte 179 zu gewinnen. Die sich anschließenden Ausführungen sollen erweisen, dass den sog. prozessualen Streitgegenstandslehren, getreu dem römischrechtlichen Verständnis der "eadem res", ein materiellrechtlicher Kern innewohnt. Dementsprechend ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof keinen neuen Begriff des "Anspruchs" entwickelt, sondern einen in der gemeinsamen Tradition des kontinentaleuropäischen Rechts gründenden Begriff wieder aufgenommen hat. Der Einwand der Rechtshängigkeit reicht im nationalen Recht nicht weiter als der der Rechtskraft 18o, d.h. die Gefahr der Unvereinbarkeit von Entscheidungen ist (hypothetisch) auf die rechtskraftfähigen Feststellungen zu beziehen. 181 Diese Erkenntnis galt bereits im römischen Recht: "Bei dieser Vgl. §§ 261 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Die Bestimmung des § 230 CPO entsprach dem geltenden § 253 ZPO: "Die Klageschrift muß enthalten: ... Die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs, sowie einen bestimmten Antrag." 177 § 235 CPO lautete: "Durch die Erhebung der Klage wird die Rechtshängigkeit der Streitsache begründet. Die Rechtshängigkeit hat folgende Wirkungen: 1. Wenn während der Dauer der Rechtshängigkeit von einer Partei die Streitsache anderweit anhängig gemacht wird, so kann der Gegner die Einrede der Rechtshängigkeit erheben. . .. " 178 § 239 CPO: "Urtheile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage oder die Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist ... " 179 § 2 CPO: "Insoweit nach dem Gesetze über die Gerichtsverfassung die Zuständigkeit der Gerichte von dem Werthe des Streitgegenstandes abhängt, kommen die nachfolgenden Vorschriften zur Anwendung." 180 Der Europäische Gerichtshof hatte die Rechtshängigkeit eines "Anspruchs" unabhängig von dem - im EuGVÜ nicht geregelten - Institut der Rechtskraft zu bestimmen. Er stellte ab auf die Gefahr miteinander unvereinbarer Urteile, denen die Anerkennung zu versagen ist (Art. 27 Nr. 3 EuGVÜ). Aber dies ist kein Gesichtspunkt prozessualer Logik, sondern der völkerrechtlichen Zweckmäßigkeit. 181 Gottwald, Symposium zu Ehren von Schwab, Seite 85, 95 (siehe bereits Fußnote 137); besonders prägnant F. Lent, Die Gesetzeskonkurrenz im Bürgerlichen Recht und Zivilprozeßrecht, Band 2: Die prozessuale Bedeutung der bürgerlichrechtlichen Gesetzeskonkurrenz, 1916, Seite 139: "Wo keine Rechtskrafteinrede, da auch keine Rechtshängigkeitseinrede." Ob und inwieweit eine rechtskräftige Festlegung auf ein Verfahren mit einem anderen Streitgegenstand zu erstrecken ist (etwa die Abweisung der Klage gegen den Hauptschuldner auf das Verfahren des Gläubigers gegen den Bürgen; siehe dazu 175 176
1. Materiellrechtliche Nonnenkonkurrenz und Anspruchshäufung
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exceptio (bis de eadem re agere non licet) stellt man ... grundsätzlich auf die res iudicata ab. ,,182 Bezogen auf die Konkurrenz von Leistungs- und Feststellungsklagen hat dies, was im Folgenden darzulegen ist, die vollständige oder zumindest teilweise Identität der Streitgegenstände und damit die Priorität des früher angestrengten Verfahrens zur Folge.
1. Die Maßgeblichkeit des Antrags nach dem sog. prozessualen StreitgegenstandsbegritT materiellrechtliche Normenkonkurrenz und Anspruchshäufung Nach der im deutschen Recht überwiegend vertretenen Ansicht ist als "Streitgegenstand" eines gerichtlichen Verfahrens das Rechtsbegehren des Klägers auf der Grundlage eines bestimmten Lebenssachverhalts zu verstehen (sog. zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff).183 Ein Teil des Schrifttums meint indessen, der "Streitgegenstand" bezeichne allein das Begehren des Klägers l84 ; der zugrundeliegende Tatsachenkomplex ("Lebenssachverhalt") diene lediglich dazu, den gestellten Antrag von anderen gleichartigen abzugrenzen (sog. eingliedriger Streitgegenstandsbegriff). a) Nach beiden Auffassungen ist der Begriff des "Anspruchs", wie ihn die Zivilprozessordnung verwendet, nicht identisch mit dem "Anspruch" des Bürgerlichen Rechts. Diese Erkenntnis soll bereits aus der Existenz der Feststellungs- und der Gestaltungsklage gerechtfertigt sein: Mit der Feststellungsklage werde in der Regel nicht die Feststellung eines Anspruchs, sondern eines "Rechtsverhältnisses" begehrt, und die Gestaltungsklage ziele auf die Veränderung einer "Rechtsposition" durch richterliche Entscheidung. In beiden Gestaltungen verlange der Kläger vom Beklagten mithin kein "Tun oder Unterlassen" im Sinne des § 194 BGB. Darüber hinaus sei die Vervielfältigung von Prozessen nicht zu vermeiden, nähme man im BGH NJW 1970, Seite 279 und ZöllerlVollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 325 Rdnr. 5), kann im vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben (siehe dazu bereits Fußnote 140): Bei Verschiedenheit der Streitgegenstände wäre aus der Erstreckung der Rechtskraft der Rückschluss auf die Einrede der Rechtshängigkeit nicht gestattet. 182 Kaser/Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, § 43 I 2, Seite 302. 183 W. J. Habscheid, Die neuere Entwicklung der Lehre vorn Streitgegenstand im Zivilprozeß, in: Festschrift für K. H. Schwab, 1990, Seite 181, 182 sub I 1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 95 III 2, Seite 532 f.; BGH LM § 253 ZPO Nr. 56; BGH NJW 1983, Seite 388, 389. 184 K. H. Schwab, Der Streitgegenstand im Zivilprozeß, 1954, Seite 183 ff.; kritisch dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 95 III 1, Seite 531 f., und eingehend A. Nikisch, Zur Lehre vorn Streitgegenstand im Zivilprozeß, in: AcP 154 (1955), Seite 269 ff.
III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
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Falle mehrerer miteinander konkurrierender oder einander ausschließender Anspruchsgrundlagen eine Mehrheit von Streitgegenständen an. 185 b) Diese - berechtigten - Einwände gegen die Gleichsetzung des zivilprozessualen Begriffs mit dem bürgerlichrechtlichen "Anspruch" rechtfertigen indessen keine Gegensätzlichkeit bei der Institute, sondern gebieten lediglich, den Begriff des "Anspruchs" im Prozessrecht erweiternd als "Rechtsfolgebegehren" , "Rechtsbegehren" 186, "Rechtsbehauptung" oder "Begehren nach Sachentscheidung" I 87, dies alles bezogen auf die Verwirklichung subjektiver Rechte, zu verstehen. Dieser prozessuale Streitgegenstandsbegriff orientiert sich zwar nicht an den herkömmlichen Einteilungen des Anspruchssystems (Vertrag, Unerlaubte Handlung, Ungerechtfertigte Bereicherung etc.)188, wohl aber an den materiellrechtlichen (sie!) Kategorien der Anspruchsnorrnenkonkurrenz 189, der alternativen Norrnenkonkurrenz 190 und der Anspruchshäufung 191 ; Begriffen, die ihrerseits durch die Identität bzw. Verschiedenheit des zu befriedigenden Interesses geprägt sind 192 und infolgedessen darüber Auskunft geben, ob in verschiedenen Verfahren über einen Streitgegenstand oder mehrere Begehren verhandelt und entschieden wird. 193 185
531 f.
Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 95 III 1, Seite
186 Zutreffend Habscheid, Festschrift für Schwab, Seite 181, 183 sub 2: "Mit der Formulierung ,Rechtsbegehren' (oder Rechtsbehauptung) ist klargestellt, daß der Streitgegenstandsbegriff nicht identisch ist mit dem konkreten Anspruch, oder weiter formuliert: im Prozeß werden nicht nur Ansprüche i. S. des materiellen Rechts eingeklagt, sondern es wird auch Rechtsfeststellung oder ein Gestaltungsklagerecht durchgesetzt." Siehe dazu bereits Fußnote 64. 187 Blomeyer, Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin 1955, Seite 51, 59. 188 Hierzu Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 105: "Um ... die Häufung von Prozessen über die inhaltsgleiche Rechtsfolge aus demselben Lebensvorgang zu vermeiden, hat sich die Bestimmung des Prozeßgegenstandes vom materiellen Anspruchsbegriff emanzipiert und vermochte so die Mehrheit der privatrechtlichen Ansprüche als prozessuale Einheit zu erfassen." 189 Zu diesem Begriff siehe Fußnote 76. 190 Zu diesem Begriff siehe Fußnote 77. 191 Die Anspruchshäufung wird auch als "kumulative Normenkonkurrenz" bezeichnet (siehe dazu bereits Fußnote 95). 192 Treffend Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 107: Es zeige sich "bei näherem Zusehen, daß es bei der Konkurrenzlehre ... nicht um rechtslogische Zuordnungen, sondern um materiellrechtliche Wertungen, uzw um Urteile über die sachliche Gleichwertigkeit" gehe. 193 Lässt sich dieselbe Rechtsfolge aus mehreren materiellrechtlichen Vorschriften ableiten (Fälle der Anspruchsnormenkonkurrenz und der alternativen Normenkonkurrenz), bezeichnet Habscheid, Festschrift für Schwab, Seite 181, 184 die mehrfach begründeten Ansprüche als "Anspruchspositionen". ZöllerlVollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Einleitung Rdnr. 70 spricht in Anlehnung an Larenzl
1. Materiellrechtliche Nonnenkonkurrenz und Anspruchshäufung
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Die Rechtsfolgen miteinander konkurrierender Nonnen zielen auf die Befriedigung desselben Interesses. Auf das materie II rechtliche Verhältnis dieser Anspruchsgrundlagen ist die Vorschrift des § 422 BGB entsprechend anzuwenden 194 : Die Befriedigung des Gläubigers hat das Erlöschen aller gegen denselben Schuldner gerichteten Ansprüche im Sinne des § 194 BGB zur Folge. Da das Gericht gehalten und berechtigt ist, das vom Kläger angebrachte Begehren unter allen einschlägigen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, d.h. alle Nonnen zu erwägen, deren Anwendung sein Interesse befriedigen, sind Doppelprozesse, mit denen der Gläubiger dasselbe Interesse verfolgt, wegen der Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen 195 und aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie zu unterbinden. Zu einer Vervielfältigung der Streitgegenstände kommt es in den Fällen der Anspruchskonkurrenz, wenn man ein veifahrensrechtlich geschütztes Interesse des Klägers an einer doppelten Prozessführung anerkennt und ihm beispielsweise die Möglichkeit eröffnet, einen der miteinander konkurrierenden Ansprüche im Urkunden- oder Wechselprozess zu verfolgen 196 oder neben dem obligatorischen Anspruch ein Pfandrecht durchzusetzen, das Wolf (Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr. 35 und 43) von einem einzigen, mehrfach begründeten Anspruch. 194 In der Sache ebenso, freilich ohne die Vorschrift des § 422 BGB anzuführen: Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr.32. 195 Dass sich der rechtskraftfähige Inhalt eines Leistungsurteils auf die vom Gericht bejahte Rechtsgrundlage des Anspruchs erstreckt, lege ich unten III.2.b), Seite 70 f., dar. Dementsprechend wären beispielsweise Urteile miteinander unvereinbar, von denen das eine der Klage stattgibt, weil aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts von einem Kaufpreisanspruch des Klägers auszugehen sei, während das andere aus denselben Tatsachen die gegenteilige Folgerung zieht und dementsprechend die Klage abweist. 196 Als Beispiel sei der Fall angeführt, dass ein Verkäufer seinen Zahlungsanspruch gegen den Käufer nicht nur auf den Kaufvertrag, sondern auch auf einen vom Käufer ausgestellten Wechsel gründet. Entgegen der Ansicht von W. Henckel, Parteilehre und Streitgegenstand im Zivilprozeß 1961, Seite 262 ff., 277, scheint mir das Merkmal des "einheitlichen Verfügungsobjekts" nicht geeignet zu sein, den Streitgegenstand festzulegen. Nach Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr. 41 begründen beispielsweise die Ansprüche auf Herausgabe derselben Sache aus ungerechtfertigter Bereicherung und kraft des Eigentums (§ 985 BGB) zwei Streitgegenstände, weil der Anspruch aus dem Eigentum nicht abgetreten werden kann. Wie verträgt sich das mit der Erkenntnis, dass die Herausgabe der Sache nur einmal verlangt werden kann und mit der Erfüllung dieser Pflicht alle darauf gerichteten Ansprüche erlöschen? Sollte eine objektive Klagenhäufung im Sinne des § 260 ZPO anzunehmen sein mit der Folge, dass sich der Zuständigkeits- und Gebührenstreitwert verdoppelt?
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
einen bevorzugten Rang in der Zwangsvollstreckung einnimmt. 197 Insoweit ist freilich zu untersuchen, ob das besondere Verfahren nur anstelle des ordentlichen Prozesses oder neben ihm soll geführt werden dürfen. 198 Gestattet man Parallelprozesse l99 und wird der Beklagte in den verschiedenen Verfahren zur Leistung verurteilt, so verlagert sich das zu Lasten des Gläubigers wirkende Verbot der Doppelbefriedigung konsequenterweise auf die vollstreckungsrechtliche Ebene: Der mehrfach zur Leistung verurteilte Schuldner vermag seine doppelte Inanspruchnahme mit der Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) abzuwehren?OO Schließlich kann die Vervielfältigung eines ursprünglich einheitlichen Streitgegenstandes (!) kraft einer Vervielfältigung der Gläubiger eintreten: Anerkennt man die isolierte Übertragbarkeit von Ansprüchen, die gemeinsam mit anderen auf die Befriedigung desselben Interesses zielen (beispielsweise der Kaufpreisanspruch und der Anspruch aus einem Wechsel), so lässt die vollzogene Zession (sie!), bedingt durch die Mehrheit der Gläubiger, mehrere Streitgegenstände entstehen. 201 c) Ob ein oder verschiedene, zwischen denselben Parteien anhängige Verfahren denselben Streitgegenstand oder mehrere Streitgegenstände ha197 Die Grundschuld oder Hypothek ermöglicht nicht - anders als die dem dinglichen Recht zugrunde liegende Forderung - die Vollstreckung in das gesamte Vermögen des Schuldners; sie genießt aber einen bevorzugten Rang in der Zwangsversteigerung (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG). 198 Den Anspruch aus dem Wechsel darf der Gläubiger nach wohl überwiegender Ansicht parallel zur allgemeinen, auf das Grundgeschäft gegründeten Leistungsklage im Wechselprozess (§§ 602 ff., 592 ff. ZPO) geltend machen (dazu Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 602 Rdnr. 7 m. w. N.). Die Vervielfaltigung der Verfahren bewirkt die Vervielfältigung der Streitgegenstände. Sie birgt in sich die Gefahr, dass die nicht rechtskraftfähigen Aussagen der Urteile nicht miteinander im Einklang stehen. Für eine Erstreckung der Rechtskraft des klagabweisenden Urteils spricht sich in diesem Zusammenhang Rüßmann (ZZP 111 [1998], Seite 399, 418 sub 2) aus, der seine Lösung als "eleganten Weg und eine Lösung aus einem Guß" bezeichnet. 199 M.E. sprechen die besseren Gründe für die Alternativität der Verfahren; das später angestrengte Verfahren wäre demgemäß mangels Rechtsschutzbedürfnisses bis zur Klärung des zuerst erhobenen Anspruchs einstweilen unzulässig. Indessen muss diese Frage hier nicht weiter vertieft werden. zoo Wird der Zahlungsanspruch im ordentlichen Verfahren sowohl auf den Vertrag als auch auf den Wechsel gegründet, so bleibt es bei der Einheitlichkeit des Streitgegenstandes. In diesem Falle darf wegen anderweitiger Rechtshängigkeit keine zusätzliche Klage im Wechselprozess angestrengt werden (ebenso RGZ 160, Seite 338,345). ZOI Maßgebend ist hier nicht die abstrakte Übertragbarkeit, sondern die vollzogene Abtretung des Rechts. Die Festlegung des Streitgegenstandes knüpft grundsätzlich an die Identität der Parteien an ("eadem personae", siehe dazu Fußnote 244).
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ben, hängt mithin - abgesehen von verfahrensrechtlichen Gründen - davon ab, ob die geltend gemachten Rechtsfolgen das Ergebnis einer Anspruchshäufung sind202 oder sich auf Bestimmungen gründen, die miteinander konkurrieren 203 bzw. einander ausschließen?04 Dies wiederum kann, sofern nicht der Inhalt des Begehrens die Häufung von vornherein verbietet205 , nur auf der Grundlage des sog. Lebenssachverhalts, d. h. der Tatsachen ermittelt werden, welche die einzelnen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. 206 Mit einer anderen Wendung ausgedrückt: Die Aufnahme der entscheidungserheblichen Tatsachen in den prozessualen Begriff des "Anspruchs" dient der Festlegung, ob der Kläger die Befriedigung eines und desselben Interesses im materiellrechtlichen Sinne erstrebt. Einer Bündelung der materiell rechtlichen Ansprüche in Richtung auf die vom Kläger geltend gemachte Rechtsfolge, seinem Interesse, stehen nicht die verschiedenen Verjährungsfristen und Regelung der Beweislast der einzelnen Voraussetzungen entgegen207 : Die Auswahl unter den einzelnen Gesichtspunkten und die eventuelle Verurteilung des Schuldners ist nach dem liquidesten einzelnen Anspruch zu treffen. 208 Gründet sich die Klage auf einen vollständig identischen Sachverhalt, auf den mehrere anspruchsbegründende Normen anwendbar sind (beispiels202 Hierzu Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 107 m. w. N. Den von Böhm entwickelten Begriff vom "dreigliedrigen" Streitgegenstand (a. a. 0., Seite 121 f.) halte ich indessen für überflüssig, ja verwirrend: Er erweckt den Eindruck, der Angabe der rechtsbegründenden Tatsachen komme eine eigenständige und nicht nur eine (im Hinblick auf die anwendbaren Rechtsnormen) dienende Funktion zu. 203 Sog. Anspruchs- oder Anspruchsnonnenkonkurrenz; siehe dazu bereits oben Fußnote 76. Bei Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Auflage 1989, § 14 IV, Seite 268, heißt es treffend: "Der auf dieselbe Leistung gerichtete, mehrfach begründete ... Anspruch ... bildet im Prozeß einen einzigen Streitgegenstand." In der Sache ebenso Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr. 35. 204 Sog. alternative Nonnenkonkurrenz; siehe dazu oben Fußnote 77. 205 Der Kläger kann beispielsweise von dem Beklagten nicht doppelt die Herausgabe ein und derselben Sache verlangen. 206 Zutreffend hebt Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 107, hervor, dass zur Begründung des erhobenen Anspruchs nur solche Tatsachen in Betracht kommen, die "einer entsprechenden rechtlichen Subsumtion (unter Rechtssätze, die diese Rechtsfolge statuieren) zugänglich sind". Da ein Lebenssachverhalt aus sich selbst heraus nicht abgrenzbar sei, lasse sich seine innere Einheit nur unter Heranziehung materiellrechtlicher Gesichtspunkte und Maßstäbe beurteilen (a. a. 0., Seite 106). 207 So aber Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 95 III 4 sowie die dort in Fußnote 13 zitierten Schriftsteller. 208 Lösungsvorschläge bei Staudinger/Peters, Neubearbeitung 2001, § 195 Rdnr. 14 ff., insbesondere Rdnr. 20 ff.; über die Angleichung der verschiedenen Gesichtspunkte Larenz/Wolf, a. a. 0., § 18 Rdnr. 30.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
weise die Verpflichtung zum Schadensersatz aus den Gesichtspunkten der arglistigen Täuschung, § 122 BGB, und des Betruges, § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB), hat man es immer mit einer Anspruchskonkurrenz im Sinne des materiellen Rechts zu tun. 209 Bei tei/weiser Identität der entscheidungserheblichen Tatsachen ist sowohl eine Anspruchshäufung, eine Anspruchsnormenkonkurrenz als auch eine alternative Normenkonkurrenz möglich?1O Als Beispiel führe ich den Fall an, dass der Kläger K vom Beklagten B die Zahlung von 10.000 Euro verlangt. Die erste Variante sei dahingehend gebildet, dass K sein Begehren darauf gründet, sein Kraftfahrzeug an B für 2.000 Euro zum Gebrauch überlassen zu haben. B habe den Mietzins nicht entrichtet und darüber hinaus dem Fahrzeug einen mit 8.000 Euro zu beziffernden Schaden zugefügt. K macht hier auf der Grundlage teilweise identischer Tatsachen (des Vertragsschlusses) kumulierende Ansprüche geltend, von denen der Zahlungsanspruch wegen der Gebrauchsüberlassung auf § 535 BGB und der Schadensersatzanspruch auf das mit der unerlaubten Handlung (§ 823 Abs. 1 BGB) konkurrierende Institut der Pflichtverletzung i. S. d. § 280 BGB n. F. gegründet ist. Es handelt sich um zwei Streitgegenstände, mithin um eine objektive Klagehäufung im Sinne des § 260 ZPO. In einer zweiten Variante begründe K sein Begehren damit, dass B das ihm überlassene Fahrzeug tatsächlich genutzt habe; der Wert der vereinbarten Nutzung, welcher der üblichen entspreche, sei mit 2.000 Euro zu beziffern. Während der Nutzung durch B sei an dem Fahrzeug durch einen Unfall ein Schaden in Höhe von 8.000 Euro entstanden. Wegen der Überlassung des Wagens gründet sich die geltend gemachte Rechtsfolge alternativ auf die Vorschrift des § 535 BGB bzw. - bei Nichtigkeit der Abrede - auf die Bestimmungen der §§ 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Fall, 818 Abs. 1, 818 Abs. 2 BGB. 211 Der hinzutretende Schadensersatzanspruch ist auf das Institut der Pflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB n.F.) oder alternativ auf die Bestimmung der §§ 818 Abs. 4, 292 Abs. 2, 989 BGB zu gründen, jeweils konkurrierend mit der Haftung aus unerlaubter Handlung, § 823 Abs. 1 209 Die Fälle vollständiger Identität der Sachverhalte sind selten genug. Rechtfertigt sich beispielsweise die Verpflichtung zur Herausgabe einer Sache aus den Gesichtspunkten des Eigentums und des Besitzschutzes, so ist die vollständige Identität zu leugnen, weil der Besitzschutz im Verhältnis zur rei vindicatio das zusätzliche Merkmal der verbotenen Eigenrnacht enthält, nicht aber das Eigentum an der Sache voraussetzt. 210 Bei vollständiger Identität der Tatsachen ist - lässt sich die streitige Rechtsfolge aus mehreren Vorschriften ableiten - stets eine Anspruchsnormenkonkurrenz gegeben. 211 Die alternative Normenkonkurrenz ist hier nicht auf vollständig identische Tatsachen gegründet: Der Anspruch aus § 535 BGB hängt nicht von der tatsächlichen Nutzung des Fahrzeugs ab.
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BGB. Das Zahlungsbegehren beinhaltet wiederum zwei Streitgegenstände; die jeweils alternativ konkurrierenden (materiellrechtlichen) Ansprüche gründen sich im Ausgangspunkt auf dieselbe Tatsache: die willentliche Überlassung des Fahrzeugs an B. aa) Ist nach dem prozessualen Streitgegenstandsbegriff zu ennitteln, ob ein einheitlich formulierter Antrag oder mehrere Anträge auf die Befriedigung desselben Interesses des Klägers gerichtet sind, so wird er durch das Konkurrenzverhältnis der vom Gericht zu erwägenden Vorschriften des materiellen Rechts bestimmt. 212 Dies ist der materiellrechtliche Kern aller prozessualen Lehren?13 Ihn lassen beispielsweise die folgenden Ausführungen von K. Hellwig erkennen 214 : "ProzeBgegenstand (Anspruch, Streitgegenstand, Streitsache) ist das vom Kläger behauptete oder geleugnete Rechtsverhältnis, soweit über dies eine rechtskraftfähige Entscheidung gefällt werden soll. Dies bestimmt sich lediglich nach dem Klageantrag .... Lautet der Klageantrag nur auf einen von mehreren Ansprüchen oder auf einen Teil des einheitlichen Anspruchs, so ist das, was nicht eingeklagt worden ist, nicht ProzeBgegenstand."
bb) Die materiellrechtliche Ausrichtung des "Streitgegenstandes" lässt sich auch aus dem Gerichtskostengesetz gewinnen, einer weniger in den Blick fallenden und aus diesem Grunde von den "herrschenden" Meinungen unberührt gebliebenen Materie?lS In der ausführlichen Kommentierung des früheren § 13 GKG 216 durch A. und M. Friedlaende?17 heißt es wörtlich: 212 Insofern treffend Habscheid, Festschrift für Schwab, Seite 181, 183 sub 3: "Denn die prozeBrechtliche Lehre will gerade für eine effektivere Verwirklichung des materiellen Rechts sorgen." 213 Ebenso Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 107: "Auch die zweigliedrige Theorie kommt so besehen um einen unmittelbaren oder mittelbaren Rückgriff auf materiellrechtliche Erwägungen nicht herum." Im Einvernehmen mit Habscheid, Festschrift für Schwab, Seite 181, 193, ist zu betonen, dass diese Erkenntnis keine eigenständige "materiellrechtliche Streitgegenstandslehre" begründet! 214 K. Hellwig, System des ZivilprozeBrechts, 1. Teil, 1912, Seite 109 sub 11 (Hervorhebungen durch Verf.). 215 Siehe dazu auch FuBnote 328. 216 Heute des § 19 GKG, wo es damals wie heute im ersten Absatz der Vorschrift heiBt: "Soweit Klage und Widerklage, welche nicht in getrennten Prozessen verhandelt werden, denselben Streitgegenstand betreffen, sind die Gebühren nach dem einfachen Werte dieses Gegenstandes zu berechnen. Soweit beide Klagen nicht denselben Streitgegenstand betreffen, sind die Gegenstände zusammenzurechnen." 217 Kommentar des Deutschen Gerichtskostengesetzes (1928), Zweiter Abschnitt, §§ 9-15, Rdnr. 68 (Hervorhebung durch Verf.). Aus der heutigen Literatur nenne ich die Kommentare von P. Hartmann/J. A1bers, Kostengesetze, 30. Auflage, 2001, zu § 19 GKG und von Markl/Meyer, Ge-
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
"Ob Klage und Widerklage denselben Gegenstand betreffen oder nicht, ist Tatfrage. Bei der Würdigung ist davon auszugehen, daß es lediglich auf die Verschiedenheit des Streitgegenstandes, nicht etwa auf Verschiedenheit des Rechtsgrundes oder auf Verschiedenheit der in Klage und Widerklage gestellten Anträge ankommt. Verschiedenheit der Streitgegenstände liegt vor, wenn die beiderseitigen Anträge nebeneinander bestehen können, dagegen Identität, wenn die Zuerkennung des einen Anspruchs die Geltendmachung des anderen ausschließt. Dagegen bedingt der Umstand, daß Klage und Widerklage abgewiesen werden können, noch nicht notwendig Verschiedenheit des Streitgegenstandes."
Als Beispiel führt der erwähnte Kommentar eine Entscheidung aus dem Jahre 1881 218 an: Geklagt wurde auf Zahlung eines Kaufpreises in Höhe von 552,10 Mark. Der Beklagte beantragte die Abweisung der Klage, er "retinierte" wegen des Schadensersatzanspruchs aus der unterbliebenen Lieferung von 1.200 Petroleumfässem in Höhe von 600 Mark, abzüglich der Summe von 552, 10 Mark, und machte den Betrag von 47,90 Mark widerklagend geltend. Das Reichsgericht nahm einen einzigen Streitgegenstand an: Der Gegenstand der Klage sei "hier ganz in dem der Widerklage enthalten ".219 Die von Friedländer formulierte Erkenntnis lässt sich auf der Grundlage auch der neueren Rechtsprechung220 knapp so fassen: Schließen in einem Rechtsstreit über Forderungen die Ansprüche von Klage und Widerklage einander dergestalt aus, dass die Zuerkennung des einen die Aberkennung des anderen notwendig bedingt, sind die Streitgegenstände - weil die beiderseitigen Begehren auf den Ausspruch einander entgegengesetzter (konträrer) Rechtsfolgen zielen - identisch. 221 Diese Erkenntnis weist über das Gerichtskostengesetz hinaus auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. richtskostengesetz, 3. Auflage, 1996, ebenfalls zu § 19 GKG, beide mit einer lehrreichen Übersicht über die Rechtsprechung der jüngeren Zeit. Die Motive des Gesetzgebers nennt R. Loening, Die Widerklage im Reichs-Civilprozess, in: ZZP Bd. 4 (1882), Seite 1, 7 Fußnote 5. Loening vertritt aber noch die gemeinrechtliche, heute überholte Bestimmung des Streitgegenstandes allein nach dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch des materiellen Rechts. 218 RGZ 5, Seite 408. 219 Der Entscheidung ist zuzustimmen: Stand dem Kläger nach endgültiger Bescheidung der Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises (sog. Primäranspruch) zu, war der Anspruch des anderen Teils auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung (sog. Sekundäranspruch) ausgeschlossen. 220 OLG Frankfurt, MDR 1961, Seite 332 (Herausgabe eines Kraftfahrzeugs Auslieferung des Kraftfahrzeugbriefs); OLG StuUgart, MDR 1980, Seite 678 (Anspruch auf Gewährleistung - Rückgabe einer Bürgschaftsurkunde wegen Verjährung des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs). Anders dagegen, wenn der Klage auf Herausgabe eines Kraftfahrzeugs die Widerklage auf Zahlung von Werklohn für eine Reparatur entgegengesetzt wird (OLG Hamm, Rechtspfleger 1990, Seite 40). Da der Anspruch auf den Werklohn nicht in dem Anspruch auf Herausgabe "enthalten" ist, hat das Gericht über zwei Streitgegenstände zu befinden.
1. Materiellrechtliche Nonnenkonkurrenz und Anspruchshäufung
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d) Die dargelegten Urteile des Europäischen Gerichtshofs 222 haben das Verdienst, den gedanklichen Zusammenhang zwischen dem Rechtsbegehren einerseits und - vermittelt durch die entscheidungserheblichen Tatsachen den heranzuziehenden Normen des materiellen Rechts in Erinnerung gerufen zu haben: Im Falle der Anspruchshäufung bilden zwei ihrer äußeren Gestalt nach identische, jedoch auf die Befriedigung eines unterschiedlichen Interesses gerichtete Anträge verschiedene Streitgegenstände. 223 Um feststellen zu können, ob eine Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit der "Streitsache" nach § 261 Abs. 3 NT. 1 ZPO unzulässig ist, hat das später angerufene Gericht, ausgehend von dem prozessualen Verständnis des Streitgegenstandes, zu prüfen, ob in dem (von derselben Partei angestrengten) sog. Erstprozess (zumindest teilweise) identische Tatsachen wie im "Zweitprozess" eingeführt worden sind und ob das spätere Verfahren auf der Grundlage solcher Bestimmungen zu entscheiden wäre, die - miteinander konkurrierend - auch das zuerst angerufene Gericht zu erwägen hat oder deren Anwendung im früheren Verfahren aus dem Gesichtspunkt der alternativen Normenkonkurrenz 224 ausgeschlossen wäre. Bei Umkehrung der Parteirollen haben zwei unterschiedlich formulierte Anträge gleichwohl denselben Streitgegenstand, wenn über sie auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, mit221 BGH NJW-RR 1992, Seite 1404 (zum Begriff der konträren Rechtsfolgen siehe Fußnote 82). Amüsant der von dem OLG Köln, JurBüro 1997, Seite 316, entschiedene Fall: Klage auf Zahlung des Restkaufpreises einer Küche im Farbton "manhauan-grün", Widerklage auf Lieferung einer Küche "zinkgrün-metallic". Das OLG bemerkt: "Klar aber war, daß nur eine Küche zu liefern war." 222 Ich verweise auf die Auseinandersetzung mit den Urteilen in den Sachen Gubisch ./. Palumbo (siehe oben Il.l., Seite 15 ff.) und Tatry ./. Maciej Rataj (siehe oben 11.2, Seite 34 ff.). 223 So auch Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Auflage, § 18 Rdnr. 27: "Jeder der eingeklagten Ansprüche bildet im Prozeß einen besonderen Streitgegenstand." Einen (ersten) Ansatz der sich wieder auf das materielle Sicht besinnenden Betrachtungsweise arbeitet Nikisch, AcP 154 (1955), Seite 269, 297 f., heraus. Dort heißt es am Schluss der Rezension der Arbeit von K. H. Schwab: "Der Fehler (ich ergänze: der rein prozessualen Betrachtungsweise) läßt sich venneiden, wenn man im Auge behält, daß nach dem Gesetz der Streitgegenstand gebildet wird von dem materiellen Recht, das der Kläger mit der Klage geltend macht. ... Auch die Art und Weise, wie der mit der Klage erhobene Anspruch zu individualisieren ist, kann nur den Grundsätzen entnommen werden, nach denen im materiellen Recht subjektive Rechte voneinander unterschieden werden, was noch deutlicher würde, wenn die Privatrechtstheorie sich entschließen könnte, ihre Lehre von der Anspruchskonkurrenz in dem angeregten Sinne (d. h. dass derselbe Anspruch unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten begründet sein kann) zu revidieren." 224 Zum Begriff der "alternativen Nonnenkonkurrenz" siehe Fußnote 77.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
einander konkurrierenden 225 oder einander ausschließenden materiellrechtlichen Bestimmungen zu entscheiden ist. Identische Streitgegenstände sind dementsprechend anzunehmen, wenn ein Wechselschuldner wegen fehlender Wechselverbindlichkeit auf Herausgabe des Wechsels und der Wechselgläubiger auf Leistung aus dem Papier klagt: Besteht der Anspruch auf Herausgabe des Wechsels, so schließt er den Zahlungsanspruch aus?26 Es handelt sich mithin um konträre Rechtsfolgen, d.h. um solche Ansprüche, bei denen aus der Annahme des einen auf die Nichtexistenz des anderen zu folgern ist227 : Urteile, die beiden Klagen stattgäben, wären miteinander unvereinbar. Ebenso verhält es sich, wenn ein Hypothekengläubiger vom Hypothekenschuldner einen Teilbetrag der gesicherten Forderung verlangt und der Hypothekenschuldner die Teillöschung der Hypothek mit der Begründung begehrt, die gesicherte Forderung sei um den vom anderen Teil geforderten Betrag zu mindern: Der Anspruch auf Zahlung des streitigen Teilbetrags schließt den Anspruch auf Löschung der Hypothek aus. 228 Auch Urteile, nach denen der Hypothekenschuldner vom -gläubiger die Löschung des Grundpfandrechts und der Hypothekengläubiger vom -schuldner die Duldung der Zwangsvollstreckung verlangen könnte, sprächen konträre Rechtsfolgen aus. 229 225 Im Sinne der sog. Anspruchs- oder Anspruchsnormenkonkurrenz (siehe dazu Fußnote 76). 226 AA RGZ 50, Seite 416, 419 und Bettermann, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 13, der von verschiedenen Streitgegenständen ausgeht und das Bestehen der Forderung nur für eine Vorfrage des Anspruchs auf Herausgabe des Papiers hält. 227 Zum Begriff der konträren Rechtsfolgen siehe Fußnote 82. 228 AA RGZ 54, Seite 49, 51; Bettermann, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 13: Das Recht zur Minderung des Kaufpreises sei lediglich eine Vorfrage des Löschungsanspruchs. Der vom Reichsgericht entschiedene Sachverhalt wies freilich die Besonderheit auf, dass der später erhobene Zahlungsanspruch im Urkundenprozess (§§ 592 ff. ZPO) geltend gemacht wurde. Dieses Verfahren soll dem Kläger dazu verhelfen, seine urkundlich nachgewiesene Forderung auf beschleunigtem Wege zur Vollstreckung zu bringen. Dieser Zweck des Prozesses rechtfertigt es zwar, ausnahmsweise die früher angestrengte Klage auf Herausgabe des Wechsels (deren Begründetheit vom Ausgang des Urkundenprozesses abhängt!) und nicht den später angestrengten Urkundenprozess aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit auszusetzen, nicht aber, den Streitgegenstandsbegriff zu modifizieren. Ein vergleichbarer Sachverhalt liegt einem Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1888 (RGZ 21, Seite 392) zugrunde. Siehe zum Ganzen noch unten III.2.e)cc), Seite 98 ff. 229 Ist die Klage des Grundeigentümers auf Löschung der Hypothek abgewiesen worden, folgt hieraus nicht zwangsläufig, dass einer Klage des Hypothekengläubigers gegen den -schuldner auf Duldung der Zwangsvollstreckung aus § 1147 BGB stattzugeben wäre: Der Anspruch des Hypothekengläubigers kann in seiner Durch-
I. Materiellrechtliche Nonnenkonkurrenz und Anspruchshäufung
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e) Ist die Bestimmung des Streitgegenstandes untrennbar an die entscheidungserheblichen Tatsachen und die auf sie anzuwendenden Normen gebunden, so erweist sich, dass die Vorschrift des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Grundlagen der Festlegung treffend benennt: Die Klageschrift muss, so heißt es dort, "die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs" enthalten. Diese Angaben ermöglichen es dem Gericht, die für die Entscheidung relevanten materiellrechtlichen Normen zu erkennen.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Frage, ob die gerichtliche Entscheidung über eine "Rechtsfolge" beantragt wird, die bereits Gegenstand eines anderweitig rechtshängigen Verfahrens ist, lässt sich nur anhand eines Vergleichs der (aus der Sicht des Gerichts!) entscheidungserheblichen Tatsachen und Normen beantworten, deren Ermittlung durch den vom Kläger gestellten Antrag geleitet wird; insoweit ist der Antrag mitbestimmend. In vergleichbarer Weise bestimmt das französische Zivilprozessrecht für die Festlegung identischer Streitverhältnisse230 : "Premiere approche de la matiere litigieuse Le rapport processuel a un objet et une cause. Les limites de l'autorite de la chose jugee, les conditions de la litispendance sont en outre fonction de l'objet231 et de la cause232 du lien d'instance." "Der erste Schritt hin zur Erforschung des Streitverhältnisses Das Prozessrechtsverhältnis wird durch sein Ziel und seinen Rechtsgrund bestimmt. Die Grenzen der rechtskräftig entschiedenen Sache und die Merkmale der Rechtshängigkeit sind überdies eine Auswirkung des Gegenstandes und des Grundes des Prozessrechtsverhältnisses."
setzung gehemmt sein. Der Bestand des dinglichen Rechts darf freilich zwischen den Parteien aus dem Gesichtspunkt der Teilidentität der Streitgegenstände nicht mehr in Frage gestellt werden, wenn die Klage auf Löschung abgewiesen ist. Insoweit zutreffend BGH LM § 322 Nr. 16: "Dieses Befriedigungsrecht der Beklagten ist dadurch, daß die Klage (i. e. auf Löschung) rechtskräftig abgewiesen wurde, im Verhältnis der Parteien zueinander rechtskräftig festgestellt worden." 230 1. VincentlS. Guinchard, Procedure civile, 25e edition, 1996, no. 514, page 447. 231 Dazu bestimmt Art. 4 Nouveau Code de Procedure Civile: "L'objet du litige est detennine par les pretentions respectives des parties." - "Der Gegenstand des Rechtsstreits wird durch die beiderseitigen Partei anträge festgelegt." 232 Art. 1352 Code Civil: "L'autorite de la chose jugee n'a lieu qu'a l'egard de ce qui fait l'objet du jugement. Il faut que la chose demandee soit la meme; que la demande soit fondee sur la meme cause . . ." - "Die Grenzen der rechtskräftig entschiedenen Sache bestimmen sich nur im Hinblick auf den Gegenstand des Urteils. Es ist dazu erforderlich, dass das Ziel der Klage das gleiche ist und dass es auf denselben Rechtsgrund gestützt wird." 5 Wemecke
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
f) Dass sich die Identität mehrerer Streitgegenstände nach dem Grund und Ziel einer Klage bestimmt, machen bereits die im (klassischen)233 römischen Zivilprozessrecht verwendeten Klageformeln ("actiones") einsichtig, in denen der Kläger sein Begehren zusammenfasst und dem Gerichtsherrn, dem Prätor, zur Verhandlung und Entscheidung unterbreitet.
Heißt der Prätor die Klage gut und überweist er sie zur weiteren Verhandlung an den Laienrichter (den "iudex"), so lautet die Formel, kraft der beispielsweise der Verkäufer vom Käufer die Zahlung des Kaufpreises verlangt und die der Prätor zur Entscheidung des Laienrichters stellt234 : "Quod Aulus Agerius Numerio Negidio hominem Stichum vendidit, qua de re agitur, quidquid ob eam rem Numerium Negidium Aulo Agerio dare facere ex bona fide, eius iudex Numerium Negidium Aulo Agerio condemna, si non paret, absolve." - "In dem Rechtsstreit des Klägers Aulus Agerius 235 gegen den Beklagten Numerius Negidius über den Verkauf des Sklaven Stichus verurteile, Richter in dieser Sache, den Beklagten zur Leistung nach Treu und Glauben. Sollte sich die Klage als nicht begründet erweisen, sprich den Beklagten frei."
Die "causa" des Rechtsstreits wird durch das Verbum" vendidit" bezeichnet; sie ist also der vom Kläger in Anspruch genommene Kaufvertrag. Das Ziel der Klage, die Zahlung des Kaufpreises, wird mit den Verben "dare facere" und dem Attribut "ex bona fide" gekennzeichnet: Der Kaufpreis soll nach Treu und Glauben, beispielsweise im Hinblick auf Ort und Zeit, entrichtet werden. Nicht anders lassen sich der Grund und das Ziel der Klage des Vermieters gegen den Mieter auf Zahlung des Mietzinses 236 , des Auftraggebers gegen den Auftragnehmer auf Ausführung des Auftrags 237 , des Beauftragten gegen den Auftraggeber auf Ersatz seiner Auslagen 238 und des Eigen233 Das Erkenntnis-(Kognitions-)verfahren der Kaiserzeit kennt nur noch den von den Klageformeln befreiten, aufgelockerten Vortrag: "Das Begehren des Klägers wird im Bereich der Kognition nicht in einer formula umschrieben, sondern unmittelbar nach den Regeln des Privatrechts über Grundlage, Inhalt und Umfang des Anspruchs beurteilt" (Kaser/Hackl, a. a. 0., § 73 I, Seite 485). An der Bestimmung der "eadem res" nach Grund und Ziel einer Klage änderte die vergeistigte Form des Vortrags nichts. 234 Die im Folgenden angeführten Formeln sind dem Werk von O. Lenel, Edicturn perpetuum, 3. Auflage, 1927, entnommen. 235 "Aulus Agerius" ist der in den Institutionen des Gaius fingierte Name des Klägers, "Numerius Negidius" der des den Klageanspruch leugnenden Beklagten (commentarius quartus, § 34). 236 Sog. actio locati: "Quod A Agerius N. Negidio fundum locavit .. . quidquid ob eam rem N.N. AA dare facere oportet ex bona fide ... " 237 Sog. actio mandati directa: "Quod A.A N.N. mandavit ... " Das Ziel der obligatorischen Klage wird wiederum mit der Wendung "quidquid ob eam rem N.N. dare facere oportet ex bona fide" umschrieben. 238 Sog. actio mandati contraria: "Quod A.A N.N. mandavit ... "
1. Materiellrechtliche Normenkonkurrenz und Anspruchshäufung
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tümers auf Herausgabe einer Sache gegen den unrechtmäßigen Besitzer239 ermitteln - um nur einige Arten des Gesuchs um Rechtsschutz zu nennen. Die Bezugnahme der Formeln auf den konkreten Entstehensgrund einer Obligation verleitete freilich die gemeinrechtliche Prozessrechtslehre zu der Annahme eines an der "juristischen Individualität" orientierten Streitgegenstandes240 in dem Sinne, dass die einzelne materiellrechtliche Norm mit der im gerichtlichen Verfahren geltend gemachten Rechtsfolge in eins gesetzt wurde. Die von der buchstäblichen Benennung einer "actio" abrückende Deutung sprach das Oberappellationsgericht Lübeck in einer Entscheidung aus dem Jahre 1873 241 aus: "Gesetzt, der Kläger hätte eine reine Delictsklage angestellt, so würde die Klage nicht dadurch unstatthaft werden, wenn in Betreff der Waare irgend ein contractlicher Nexus unter den Parteien, etwa eine Societät, bestanden haben sollte. Zwar würde es ohne Zweifel in solchem Falle dem Kläger freistehen, die ihm von dem Beklagten zugefügte Verletzung242 mittels der Contractsklage zu verfolgen; allein es wäre kein Grund dazu vorhanden, ihn von der Delictsklage auszuschließen."
Ungeachtet dieser - aus der heutigen Sicht der Konkurrenz von Anspruchsnormen - verfehlten gemeinrechtlichen Entwicklung 243 ist festzuhalten, dass bereits nach den Digesten die Identität des "Anspruchs" kraft des Grundes und Gegenstandes der Klage zu bestimmen ist244 : "Neratius libro septimo membranarum. Cum de hoc, an eadem res est, quaeritur, haec spectanda sunt: personae, id ipsum de quo agitur, causa proxima actionis." "Neratius im siebenten Buch der Pergamente. Wenn zu fragen ist, ob eine Klage dieselbe Streitsache verfolgt, sind die folgenden Merkmale zu beachten: der Klagegegenstand, die Parteien und der liquideste Klagegrund. "
239 Sog. rei vindicatio: "Si paret illam rem qua de re agitur ex iure Quiritium Auli Agerii esse ... nisi N.N. AA. restituet, quanti ea res erit, tantam pecuniam N.N. A.A condemna." - "Wenn bewiesen ist, dass die streitige Sache nach dem Recht der römischen Bürger dem Kläger (AA) gehört, dann verurteile den Beklagten (N.N.), der sie nicht herausgibt, zum Ersatz ihres Wertes." 240 Wetzell, System des ordentlichen Civilprozesses, 3. Auflage, § 47 I b ß, Seite 582 ff. Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 85, verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff vom "punktuellen Streitgegenstand". 241 SeuffArch Bd. 27 (1873), Nr. 120, Seite 201. 242 Nach dem Urteilsauszug handelte es sich um eine unberechtigte Verfügung über Waren des Klägers. 243 Dazu Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 105: " ... der Antrieb, einen ,prozessualen Anspruchsbegriff' zu entwickeln, erklärt sich nachweislich aus der Enge der älteren zivilrechtlichen Anspruchslehre. " 244 Dig. 44, 2, 27.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
2. Die Identität der Streitgegenstände bei konkurrierenden Leistungs- und negativen Feststellungsklagen
Nach den bisherigen Ausführungen haben mehrere Klagen identische Streitgegenstände, wenn über die in den Anträgen behaupteten Rechtsfolgen auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Normen des materiellen Rechts zu entscheiden ist. Die Identität besteht freilich nur so weit wie die Rechtskraft der hypothetischen Entscheidungen reicht. Im Verhältnis der Leistungs- zur negativen Feststellungsklage haben die Klagen identische Streitgegenstände, soweit rechtskräftige Aussagen der hypothetischen Urteile in einem am Maßstab des sachlichen Rechts unvereinbarem Gegensatz stehen könnten. Inwieweit dies anzunehmen ist, soll im Folgenden dargelegt werden.
a) Die verschiedenen Gestaltungen des Zusammentreffens von Leistungs- und negativer Feststellungsklage Die Leistungs- und die negative Feststellungsklage können in drei voneinander zu scheidenden Gestaltungen zusammentreffen: aa) Zum einen kann die Feststellung begehrt werden, dass es der Rechtsfolge, die der andere Teil seinerseits gerichtlich für sich in Anspruch nimmt, etwa einem Zahlungsbegehren, an der materiellrechtlichen Grundlage mangele. Das streitige Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO ist in diesem Fall die Befugnis des Feststellungsbeklagten, von dem Feststellungskläger ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu verlangen?45 Würde die negative Feststellungsklage - ihre Zulässigkeit unterstellt rechtskräftig abgewiesen, so stünde die Berechtigung des gegnerischen Begehrens als prozessual nicht mehr angreifbar fest 246 , würde ihr stattgegeben, wäre der gegenteilige Schluss zu ziehen. 247 bb) Zum anderen kann der Feststellungskläger beantragen, dass die vom anderen Teil verlangte Leistung zumindest nicht auf eine bestimmte materiellrechtliche Grundlage, beispielsweise einen Kaufvertrag, zu stützen ist. 248 245 Als Beispiele seien die Urteile BGH GRUR 1962, 360, BGH JR 1988, Seite 374 und BGH NJW 1994, Seite 3107, angeführt. Siehe dazu im Einzelnen unten II1.2.e )aa)(1), Seite 83 ff. 246 Blomeyer, Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin 1955, Seite 51, 57. 247 Nach deutschem Verfahrens recht ist der negativen Feststellungsklage stattzugeben, wenn entweder das Nichtbestehen des streitigen Rechtsverhältnisses bewiesen ist oder seine Existenz unklar bleibt.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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Aus dem stattgebenden Urteil ließe sich - die Zulässigkeit der Feststellungsklage unterstellt - zwar nicht auf die mangelnde Berechtigung des gegnerischen Begehrens schließen. Wohl aber wäre es dem Gericht, das über die auf (zumindest teilweise) dieselben Tatsachen gegründete, zu einem späteren Zeitpunkt erhobene Leistungsklage des Feststellungsbeklagten zu befinden hätte, verwehrt, seinem Antrag auf der Grundlage des Rechtsverhältnisses stattzugeben, dessen Nichtbestehen verbindlich festgestellt worden ist. 249 cc) Schließlich kann sich der (negative) Feststellungsantrag auf ein Rechtsverhältnis beziehen, das eine Voraussetzung für mehrere Rechtsfolgen darstellt, von denen der Feststellungsbeklagte kraft einer Leistungsklage eine einzige oder einzelne gerichtlich geltend macht. In diesem Fall soll, mit einer knappen Formulierung ausgedrückt, das vom Feststellungskläger angerufene Gericht die Nichtexistenz des grundlegenden Rechtsverhältnisses und damit weitergedacht aller sich darauf gründenden Ansprüche aussprechen. Würde sie - ihre Zulässigkeit unterstellt - abgewiesen, stünde damit zwar nicht die Berechtigung des gegnerischen Begehrens fest; allerdings dürfte im Verhältnis der Parteien die Grundlage der verschiedenen Ansprüche nicht mehr in Frage gestellt werden. Insoweit legte das abweisende Feststellungsurteil ein "Präjudizia1element" der Ansprüche verbindlich fest. 250
248 Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, § 256 Rdnr. 7 m. w. N.; a. A. offenbar Habscheid, Festschrift für Schwab, Seite 181, 184: "Nicht die konkrete Behauptung eines materiellen Rechts einer bestimmten Qualität - etwa Kaufpreisanspruch - ist Streitgegenstand, sondern die im Begehren des Klägers eingeschlossene Behauptung eines Rechts auf Zahlung ... , also eines Rechts eines bestimmten Inhalts". 249 Die früher erhobene Feststellungsklage entfaltete dieselben Wirkungen wie eine im Leistungsprozess vom Beklagten angestrengte (negative) Zwischenfeststellungsklage (§ 256 Abs. 2 ZPO). Im Ergebnis ebenso - auf die "Vorgreiflichkeit" des Feststellungsurteils, nicht auf die Teilidentität der Streitgegenstände abstellend - BGH NJW 1995, Seite 2993 und Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, § 322 Rdnr. 20: "Die Rechtskraft steht nicht einer Klage entgegen, die aus dem selben Sachverhalt einen anderen prozessualen Anspruch ableitet, z. B. Leistungsklage nach Rechtskraft des positiven Feststellungsurteils; freilich ist die rechtskräftige Sachabweisung einer Feststellungsklage vorgreiflich für die spätere Leistungsklage." 250 Die früher erhobene Feststellungsklage entfaltete hier bezogen auf den mit der späteren Leistungsklage verfolgten Anspruch dieselben Wirkungen wie eine Zwischenfeststellungswiderklage (§ 256 Abs. 2 ZPO).
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
b) Die vollständige oder teilweise Identität der Streitgegenstände
Die Streitgegenstände der konkurrierenden Verfahren sind entweder vollständig oder teilweise - und dies sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Sinne251 - identisch, weil die Individualisierung des Begehrens des Klägers durch die rechtsbegründenden Tatsachen und die (vom angerufenen Gericht zu erwägenden) materiellrechtlichen Vorschriften auch eine Erstreckung der inneren Grenzen der Rechtskraft zur Folge hat: Entgegen der ganz überwiegend vertretenen Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum ist nicht nur die im Tenor ausgesprochene Entscheidung über das Klagebegehren einem weiteren gerichtlichen Verfahren entzogen 252 ; auch der in den Prozess eingeführte, das Begehren des Klägers abgrenzende Lebenssachverhalt ist einer gegenteiligen rechtlichen Beurteilung (sie!) nicht mehr zugänglich, d.h. ein später angerufenes Gericht darf kein Urteil fällen, dessen rechtskraftfahiger Inhalt eine kontradiktorische oder konträre Rechts/alge zum Gegenstand hat. 253 Darüber hinaus ist das "Zweitgericht" an die Würdigung des "Erstgerichts" gebunden, wenn seine Entscheidung auf den 251 Eine quantitative Teilidentität ist anzunehmen, wenn sich der Feststellungsantrag auf ein Rechtsverhältnis bezieht, aus dem mehrere streitige Ansprüche mit der Leistungsklage verfolgt werden: Das dem Feststellungsantrag stattgebende Urteil würde nicht nur den Schluss auf die Nichtexistenz der mit der Leistungsklage geltend gemachten Ansprüche auf der Grundlage des streitigen Rechtsverhältnisses (und darüber hinaus auf das Nichtbestehen aller weiteren aus dem Verhältnis streitigen, nicht zum Gegenstand des Rechtsstreits gemachten Rechte und Pflichten) gestatten. Insoweit ist der Streitgegenstand der Leistungsklage abgrenzbar, nämlich bezogen auf den einzelnen materiell rechtlichen Anspruch, im Feststellungsantrag enthalten (quantitative Teilidentität), und zwar bezogen auf den Grund der Entstehung (qualitative Teilidentität). Zum Begriff der quantitativen Teilidentität bei Teilbarkeit des Streitgegenstandes siehe die Fußnoten 141 und 267. 252 So beispielhaft ZöllerlVollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 322 Rdnr. 31 bis 33: "Nur der Entscheidungssatz erwächst in Rechtskraft. ... Es gilt also, den Entscheidungssatz von den Urteilselementen abzugrenzen, die nicht in Rechtskraft erwachsen. . .. Nicht rechtskraftfähige Urteilsbestandteile ... Auch abstrakte Rechtsfragen ... , über die das Gericht befinden muß, um zu einer Entscheidung über den Streitgegenstand zu gelangen, sind nicht Gegenstand der rechtskraftfähigen Entscheidung, können also ebenso wie der Tatsachenstoff in einem neuen Prozeß abweichend beurteilt werden ... Das gleiche gilt für die vom Gericht gezogenen rechtlichen Folgerungen." 253 Der in den Prozess eingeführte Lebenssachverhalt ist auch einer ergänzenden rechtlichen Beurteilung derselben Rechtsbehauptung nicht mehr zugänglich, dies freilich nicht wegen der Gefahr unvereinbarer Entscheidungen, sondern aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie (siehe dazu - bezogen auf die Rechtshängigkeitseinrede - Fußnote 90). Als Beispiel sei der - praktisch wohl ausgeschlossene - Fall gebildet, dass einer Zahlungsklage mit der Begründung stattgegeben wird, dem Kläger stehe ein Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung zu. Dem Kläger ist es versagt, in einem zweiten Verfahren die Feststellung zu begehren, dass der Be-
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rechtskräftig bejahten oder verneinten Anspruch aufbaut. Insoweit erwächst - stets bezogen auf das konkrete Rechtsschutzbegehren des Erstprozesses (1) - auch dessen rechtliche Beurteilung in Rechtskraft. In diesem Sinne heißt es in einem Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1929254 , in dem über die Verpflichtung eines Käufers zur Zahlung des Preises von Metalldrahtlampen zu befinden war255 : "Mit den Zahlungsansprüchen, die den Gegenstand der Klage und Hauptwiderklage 256 bilden, ginge ... nach § 322 Abs. 1 ZPO die Entscheidung darüber, welcherlei Lampen der Kläger dem Beklagten zu liefern gehabt hat, nicht in Rechtskraft über, sondern nur der typische Rechtsgrund des Anspruchs (Kauf oder Gesellschaft) ... ".257
Kraft der hier erörterten Wirkung bindet beispielsweise auch die rechtskräftige Entscheidung über einen Herausgabeanspruch, den der Kläger als Eigentümer gegen den Beklagten als Besitzer geltend macht, ein später angerufenes Gericht, das über die Klage auf Zahlung eines bestimmten Geldbetrags aus dem Gesichtspunkt der unrechtmäßig gezogenen Nutzungen (§§ 987, 988, 993 Abs. 1 BGB) zu befinden hat: Hat das zuerst angerufene Gericht der Klage auf der Grundlage des § 985 BGB stattgegeben und ist dieses Urteil in Rechtskraft erwachsen, so darf im zweiten Verfahren zwischen denselben Parteien die Vindikationslage 258 nicht mehr in Frage gestellt werden?59
klagte auch aus dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung i. S. d. § 280 BGB n. F. haftbar sei. 254 RGZ 126, Seite 234. 255 A. a. 0., Seite 237 (Hervorhebung durch Verf.). 256 In dem angeführten Verfahren hatte der verklagte Käufer Hauptwiderklage mit dem Antrag erhoben, den Widerbeklagten (also den Verkäufer) zur Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen. Mit einer weiteren Widerklage hatte er die Feststellung begehrt (§ 256 Abs. 2 ZPO), dass der Verkäufer nach dem Vertrag der Parteien an bestimmte eisenbahnamtliche Listen gebunden und demgemäß verpflichtet gewesen sei, nicht nur die in den Stücklisten genannte Mindestzahl, sondern auch die dort verzeichneten Typen von Lampen zu liefern (a. a. 0., Seite 235). 257 Die vom Gericht verwendete Formulierung ist keinesfalls dahingehend zu verstehen, dass der Kaufvertrag als Rechtsverhältnis im weiteren Sinne rechtskräftig festgestellt wird; die rechtskraftfähigen Aussagen des Urteils über Klage und Hauptwiderklage erstrecken sich lediglich auf Anspruchsgrundlagen, auf die das Gericht seine Entscheidung gründet (beispielsweise § 433 Abs. 2 BGB). 258 Hat das Erstgericht der Herausgabeklage kraft der Vorschrift des § 985 BGB stattgegeben, so ist damit nicht das Eigentum an der Sache festgestellt (Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 322 Rdnr. 36). Sollte der Kläger des "Erstprozesses" beispielsweise zu einem späteren Zeitpunkt gegen den Beklagten eine Schadensersatzklage aus dem Gesichtspunkt der Eigentumsverletzung anstrengen, ergibt sich die Existenz des dinglichen Rechts nicht aus dem Urteil über den Herausgabeanspruch.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Ein weiteres Beispiel für die Erstreckung der Rechtskraft auf den Grund des Rechtsschutzbegehrens bildet der Fall, dass der Beklagte in einem Schadensersatzprozess dazu verurteilt wird, den Kläger von einer bestimmten Verbindlichkeit zu befreien: Er kann gegenüber einer später erhobenen Zahlungsklage keine Einwendungen gegen den Grund seiner Ersatzpflicht erheben. 26o Dass die rechtliche Beurteilung des konkreten Rechtsschutzbegehrens in Rechtskraft erwächst, steht nicht im Widerspruch zur Regelung des § 322 ZPO, nach der Urteile der Rechtskraft nur insoweit fähig sind, als über den durch die Klage oder die Widerklage erhobenen "Anspruch" entschieden ist: Der "Anspruch" umfasst eben die zur Beurteilung des Rechtsbegehrens angewandten materiellrechtlichen Vorschriften. In diesem Sinne formulieren Rosenberg/Schwab/Gottwald treffend 261 : "Der Subsumtionsschluß ist ... Gegenstand des Rechtsstreits .... Als Element des Subsumtionsschlussses nimmt die rechtliche Einordnung dagegen an der Rechtskraft teil, aber eben nur in Verbindung mit dem Subsumtionsschluß. "
Bloße "Vorfragen", d.h. solche Erwägungen, die nicht unmittelbar zum Subsumtionsschluss gehören, sind von der Rechtskraftwirkung indessen nicht erfasst; sie bleiben bei der Entscheidung über andere Rechtsbegehren einer abweichenden Beurteilung zugänglich. Die hier vertretene These, dass den prozessualen Theorien ein materiellrechtlicher Kern anhafte, bedeutet keine "Rückkehr,,262 zur Rechtskraftlehre 259 BGH NJW 1981, Seite 1517 und BGH NJW 1983, Seite 164; zustimmend ZöllerlVollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 322 Rdnr. 27; Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, § 322 Rdnr. 10. Zu betonen ist, dass beide Verfahren verschiedene Streitgegenstände haben, weil die Rechte in der Hand des Klägers (d. h. der Herausgabeanspruch und der Anspruch auf Nutzungsersatz) kumulieren können (siehe dazu oben I1.l.b)cc), Seite 25 f.). Die auf Nutzungsersatz gerichtete Klage wäre mithin - hätte der Kläger sie parallel zur Herausgabeklage angestrengt - nicht aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit (zumindest vorübergehend) unzulässig gewesen. Die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen ist hier hinzunehmen, sofern man die Aussetzung eines Verfahrens nach § 148 ZPO nicht in Betracht zieht (dazu Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 148 Rdnr. 5: "Das Rechtsverhältnis [ich ergänze: von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung abhängt] muss den Gegenstand des anderen Verfahrens bilden, darf dort nicht seinerseits nur Vorfrage sein"). 260 BGH NJW 1991, Seite 2014, 2015. 261 Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 153 II, Seite 922 und § 153 III 4, Seite 924 f. (Hervorhebung durch Verf.). 262 Diese Formulierung ist in Anlehnung an Rüßmann, ZZP 111 (1998), Seite 399, 421 sub VIII gewählt, nach dessen Ansicht ein internationales Prozessrecht, das in den Fragen der Rechtshängigkeit und Rechtskraft auf "das Rechtsverhältnis und die es begründenden Präjudizialelemente abhebt", nicht zu empfehlen sei.
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F. C. v. Savignys, nach dessen Ansicht alle in den Gründen enthaltenen Elemente des Urteils in Rechtskraft erwachsen; eine Sichtweise, die von den Gesetzesverfassern der Civilprozessordnung ausdrücklich abgelehnt wurde. 263
aa) Die Rechtshängigkeitseinrede ist im Verhältnis der Leistungs- zur negativen Feststellungsklage begründet, sofern unvereinbare Entscheidungen zu besorgen sind. Das bedeutet: Ein vom "Erstgericht" rechtskräftig festgestelltes Rechtsverhältnis könnte durch das später angerufene Gericht verneint werden, oder im "Erstprozess" würde einem Leistungs- oder Gestaltungsbegehren auf der Grundlage eines (bezogen auf die konkrete Rechtsfolge verbindlich festgestellten!) Rechtsverhältnisses stattgegeben, dessen Existenz zu einem späteren Zeitpunkt durch das Feststellungsurteil in Abrede gestellt wird?64 Die gerichtliche Feststellung, ein bestimmtes Rechtsverhältnis bestehe nicht, umfasst - wie erwähnt - die Aussage, dass aus ihm keine Rechte und Pflichten erwachsen seien. Aus dem Mangel des Rechtsverhältnisses folgt, schlagwortartig ausgedrückt, als prozessuale Unangreifbarkeit die Nichtexistenz aller aus ihm abgeleiteten Ansprüche. Dementsprechend steht ein Urteil, das eine Leistungspflicht auf der Grundlage eben dieses Rechtsverhält263 Dazu C. Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 2. Band, Materialien zur Civilprozeßordnung, Erste Abtheilung, 2. Auflage, Seite 225 f. zu § 283 des Entwurfs: "Für das gemeine Recht ist unter Vorgang v. Savigny (System des heutigen römischen Rechts VI. S. 350-370, 439-443, 451, 452) die Formel aufgestellt: Die in den Gründen enthaltenen Elemente des Urtheils erwachsen in Rechtskraft. Alles, was der Richter entscheidet, wird rechtskräftig ... Die nach v. Sayignys Vorgange aufgestellte Formel verhütet, daß über dieselbe Rechtsfrage unter denselben Parteien in verschiedenen Prozessen widersprechend entschieden wird, welcher Vorzug nicht hoch genug angeschlagen werden kann, weil sich widersprechende Urtheile im Volke als ein schwerer Uebelstand empfunden werden müssen. Sie führt aber weit über die Aufgabe des einzelnen Prozesses und über die Absicht der Parteien hinaus, welche den Gegenstand ihres Streits im Petitum ausgedrückt und begrenzt haben und in diesem Prozesse nur über diesen Streitpunkt eine richterliche Entscheidung erwarten ... " 264 Das verkennt Rüßmann, der apodiktisch ausführt (ZZP 111, Seite 399, 408 sub III): "Das über den Kaufpreis ergehende Zahlungsurteil steht nicht in einem rechtlich relevanten Widerspruch zu einem Urteil, das das Nichtbestehen des Kaufvertrages feststellt." (Hervorhebung durch Verf.) Treffend heißt es demgegenüber in einem reichsgerichtlichen Urteil aus dem Jahre 1902 (RGZ 50, Seite 416, 417 0: "Diese Wirkungen (gemeint sind die Wirkungen der Rechtskraft) treten ein, einerlei ob der Anspruch in der Folgezeit direkt geltend gemacht oder bekämpft wird, oder ob sein Bestehen oder Nichtbestehen als Voraussetzung eines anderen Anspruchs geltend gemacht wird. ... es kann die Voraussetzung des später erhobenen Anspruches nicht mehr streitig gemacht werden, wenn sie in einem früher rechtskräftig zuerkannten Anspruche, oder in der Nichtexistenz eines früher rechtskräftig aberkannten Anspruches besteht." (Hervorhebung durch Verf.)
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
nisses bejaht, in unvereinbarem Gegensatz zu dem Feststellungsurteil, das diese Pflicht verneint. 265 Zur Veranschaulichung dieser Thesen sei ein Beispiel angeführt: K erhebt bei dem zuständigen Gericht Klage gegen B auf Zahlung von 15.000 Euro. Ein parallel bei einem anderen Gericht durch B angestrengtes Verfahren, in dem er auf der Grundlage desselben Lebenssachverhalts beantragt festzustellen, dass er gegenüber K nicht zur Zahlung von 15.000 Euro verpflichtet sei, ist unzulässig, § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO: Es besteht die Gefahr, dass die Urteilsformeln in unvereinbarem (kontradiktorischem) Gegensatz stehen. Nach rechtskräftiger Entscheidung des sog. Erstgerichts ist ein erneuter Prozess aus dem Gesichtspunkt der entgegenstehenden Rechtskraft unzulässig. 266 Das Beispiel sei dahingehend abgewandelt, dass das sog. Erstgericht der Zahlungsklage mit der Begründung stattgibt, zwischen Kund B sei ein Kaufvertrag zustande gekommen. Nachdem dieses Urteil rechtskräftig geworden ist, erhebt B Klage und begehrt die Feststellung, dass zwischen ihm und K kein Kaufvertrag zustande gekommen sei. Diese Feststellung ist unzulässig, soweit sie den Zahlungsanspruch des K in Frage stellt; sie kann jedoch, bezogen auf weitere zwischen den Parteien streitige Rechtsfolgen (über die auf der Grundlage anderer materiellrechtlicher Vorschriften zu 265 Der Ausspruch über den Feststellungsantrag beinhaltet das konträre Gegenteil des Leistungsurteils: Aus der Nichtexistenz des Rechtsverhältnisses ist auf die Nichtexistenz von Ansprüchen auf der Grundlage eben dieses Rechtsverhältnisses 0) zu schließen, während umgekehrt aus der Existenz des Rechtsverhältnisses nicht gefolgert werden darf, dass der Anspruch noch und gegebenenfalls in welcher Höhe er besteht (sog. qualititative Teilidentität der Streitgegenstände; siehe dazu Fußnote
77).
Zutreffend das OLG München in: Mugdan/Falkrnann, Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte auf dem Gebiete des Zivilrechts, Band 21 (1910), Seite 62, 63: "Bei der Identität des Streitgegenstandes ... ist nicht so sehr auf den Wortlaut der gestellten Anträge zu sehen, als vielmehr ... zu ennitteln, ob beide Ansprüche nebeneinander bestehen können oder ob mit der Zuerkennung des einen Anspruchs der andere fällt. Hier beansprucht der Kläger die Herausgabe verschiedener Sachen; die Widerklage will dagegen die Nichtigkeit der Verträge, auf die sich die Klage stützt, festgestellt wissen ... Danach ist, soweit es sich um die Sachen handelt, die Klage nur dann begründet, wenn die Widerklage unbegründet ist ... die ... in der Klage und in der Widerklage gestellten Anträge stehen einander negierend gegenüber, sie schließen sich gegenseitig aus." Nach den hier verwendeten Begriffen begehrten der Kläger und der Widerkläger den Ausspruch konträrer Rechtsfolgen (siehe dazu Fußnote 82). Das Oberlandesgericht ging demgegenüber von kontradiktorischen Rechtsfolgen aus, weil es (unzutreffend) annahm, dass aus der Unbegründetheit der Leistungsklage unmittelbar auf die Begründetheit der Feststellungsklage zu schließen sei (a. a. 0., Seite 63). 266 Das Beispiel behandelt die unter III.2.a)aa), Seite 68, angeführte Konstellation.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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entscheiden wäre und die damit in einem gerichtlichen Verfahren andere Streitgegenstände bildeten) ausgesprochen werden. Der Streitgegenstand des Feststellungsverfahrens ist mithin, was seine Zulässigkeit betrifft, aufzuteilen 267 : Die Klage ist insoweit unzulässig, als sie den kau/rechtlichen Zahlungsanspruch berührt 268 ; dieser Teil der Klage ist nicht zu bescheiden. 269 Die Urteilsformel sollte dementsprechend lauten: "Unbeschadet einer Entscheidung in dem Verfahren ... über die Verpflichtung des Klägers zur Zahlung von ... an den Beklagten wird festgestellt, dass ein wirksamer Kaufvertrag zwischen dem Kläger und dem Beklagten nicht besteht. ,.270
Erhebt umgekehrt B zunächst die negative Feststellungsklage und wird diese Klage rechtskräftig abgewiesen, so darf das später angerufene Gericht, das über den Zahlungsanspruch des K zu entscheiden hat, das Zustandekommen des Kaufvertrags als Grundlage dieses Anspruchs nicht mehr in Frage stellen. 267 Da hier Teile des Streitgegenstandes "abgetrennt" werden können, verwende ich den Begriff der quantitativen Teilidentität. Zum Begriff der qualitativen Teilidentität siehe die Fußnoten 77 und 79. 268 Näheres dazu bei A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht - Erkenntnisverfahren, 2. Auflage, 1985, § 88 III 2, Seite 47l. Die Feststellung, zwischen den Parteien sei kein Kaufvertrag zustande gekommen, wäre mit der Ableitung des von K geltend gemachten Zahlungsanspruchs aus der Bestimmung des § 433 Abs. 2 BGB nicht in Einklang zu bringen. 269 In der Sache Gubisch ./. Palumbo war die Feststellungsklage in vollem Umfang unzulässig, weil der Kläger Palumbo keine über den Kaufpreis hinausreichende Inanspruchnahme durch die Gubisch KG darzulegen vermochte. Siehe dazu oben II.l.b)bb), Seite 21 und bereits Fußnote 47. 270 Siehe dazu bereits Fußnote 47. Ebenso verhält es sich, wenn jemand einen bestimmten Anspruch aus einem Vertragsverhältnis gerichtlich geltend macht und der Beklagte seinerseits Klage mit dem Antrag erhebt, den betreffenden Vertrag "aufzuheben" oder dessen Nichtigkeit festzustellen - Sachverhalte, mit denen sich das Oberappellationsgericht Wiesbaden im Jahr 1849 (Seuff Arch 10 [1856], Nr. 292, Seite 421) und das Reichsgericht im Jahr 1890 (RGZ 26, Seite 367) zu befassen hatten. Ist nach dem Vortrag des Klägers des später angestrengten Verfahrens - worüber die angeführten Entscheidungen leider keine Auskunft geben - nicht auszuschließen, dass mehrere Ansprüche (also nicht nur die von dem anderen Teil klageweise erhobene Forderung) aus dem vermeintlichen Vertrag umstritten sind, so haben die Verfahren nur teilweise identische Streitgegenstände. Ist der später erhobenen Klage stattzugeben, so hat dies - die Parallelität der Verfahren unterstellt - nach der hier vertretenen Auffassung "unbeschadet einer Entscheidung im Erstverfahren" zu geschehen. Ein Unterschied ist freilich im Hinblick auf die Verteilung der Verfahrenskosten (§ 91 ff. ZPO) zu machen: Während der Feststellungskläger nach rechtskräftigem Abschluss des Leistungsverfahrens mit seinem alle streitigen Ansprüche umfassenden Feststellungsantrag teilweise unterlegen ist (§ 92 ZPO), geht die auf einen Ausschnitt der streitigen Rechte beschränkte Feststellung im Falle der Parallelität der Verfahren nicht zu seinen Lasten (siehe dazu Fußnote 338).
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
bb) Bei konkurrierenden Leistungsklagen besteht die Gefahr, dass dasselbe subjektive Recht konträr beurteilt wird. Als Beispiel sei der Fall angeführt, dass der Käufer K gegen den Verkäufer V auf Rückzahlung der von ihm geleisteten Kaufpreisraten und V gegen K auf Zahlung der noch ausstehenden Beträge klagt. Würde der Klage des K gegen V aus dem Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung (§ 812 Abs. 1 Satz 1, 1. Fall BGB) und der des V gegen K kraft der Vorschrift des § 433 Abs. 2 BGB stattgegeben, so würden konträre Rechtsfolgen ausgesprochen: Die Anerkennung der bereicherungsrechtlichen Erstattungspflicht des V schlösse die vertragliche Zahlungspflicht des K aus. 271 Um unvereinbare Urteile zu verhindern, ist die gleichzeitige Verhandlung vor verschiedenen Gerichten und Spruchkörpern auszuschließen. 272 Unterliegt K in dem von ihm angestrengten Prozess der Rückzahlung der Kaufpreisraten, weil das Gericht von der Wirksamkeit des Kaufvertrags ausgeht, so spricht das "Zweitgericht" keine konträre Rechtsfolge aus, wenn es die Kaufpreisklage des V mit der Begründung abweist, der mit K geschlossene Kaufvertrag sei nichtig: Die Existenz des Zahlungsanspruchs des V ist aus der Sicht des Zweitgerichts keine zwingende Folge der Nichtexistenz des Rückzahlungsanspruchs des K; der Rückzahlungsanspruch kann nach den Regeln über das Erlöschen der Schuldverhältnisse, insbesondere durch die Erfüllung (§ 362 BGB) oder einen Erlass (§ 397 BGB), aufgehoben sein!273 Da die Nichtigkeit des Kaufvertrags im "Erstprozess" nicht verbindlich festgestellt wurde, beurteilen die Gerichte lediglich eine Vorfrage unterschiedlich. c) Die Folgen der Rechtshängigkeitseinrede dauernde Unzulässigkeit des später angestrengten Verfahrens?
Ist der später angestrengte Prozess auf Dauer unzulässig, wenn mehrere Verfahren denselben Streitgegenstand haben? Die Rede ist hier insbesondere von den Gestaltungen, in denen der Kläger des Zweitprozesses das "conträre Gegenteil,,274 von dem verlangt, was 271 Die Rechtskraft des Urteils bezöge sich nicht nur auf die Rechtsfolge der Zahlungs- bzw. Erstattungspflicht, sondern auch auf die diese Folge tragenden Rechtsnormen, im konkreten Fall die Vorschriften der §§ 433 und 812 BGB. Siehe dazu Fußnote 77. 272 Sind die Verfahren bei demselben Gericht, jedoch verschiedenen Spruchkörpern anhängig, ist ihre Verbindung nach § 147 ZPO zu erwägen. 273 Von konträren Rechtsfolgen ist die Rede, wenn aus der Existenz des einen Anspruchs ohne weiteres auf die Nichtexistenz des anderen Anspruchs geschlossen werden kann. Siehe Fußnote 82. 274 Siehe dazu Fußnote 82.
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der Kläger des Erstprozesses für sich beansprucht. Begehrt wird beispielsweise die Herausgabe einer genau bezeichneten Sache, die der Beklagte widerklagend oder durch eine bei einem anderen Gericht angebrachte Klage für sich in Anspruch nimmt. 275 Sofern die Rechtshängigkeitseinrede bezweckt, miteinander unvereinbare Urteile zu vermeiden, steht einer gerichtlichen Entscheidung über den sog. Zweitprozess nichts entgegen, wenn diese Gefahr - bezogen auf den rechtskraftfahigen Inhalt des Urteils - nicht mehr besteht. Dementsprechend müsste die Entscheidung über die später erhobene Klage - sofern sie nicht auf das kontradiktorische Gegenteil der ersten Klage zielt und daher grundsätzlich unzulässig ist276 - solange ausgesetzt werden, bis anhand des rechtskräftigen Urteils im "Erstprozess" festgestellt werden kann, ob das Risiko unvereinbarer Entscheidungen entfallen ist. 277 Indessen wird dieses Vorgehen von der Rechtsprechung nicht und im Schrifttum nur von wenigen Stimmen erwogen 278 ; stattdessen wird aus der Rechtshängigkeitseinrede auf die dauerhafte Unzulässigkeit eines Verfahrens geschlossen. Vereinzelt wird die Aussetzung des später erhobenen Verfahrens sogar ausdrücklich abgelehnt. So behauptet Bettermann in prägnanter Knapp-
heit279 :
"Die anderweitige Rechtshängigkeit eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses begründet grundsätzlich nicht den Einwand der Rechtshängigkeit, sondern kann nur Siehe dazu Fußnote 283. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist anzuerkennen, wenn es sich bei der zweiten Klage um eine Leistungsklage handelt: Wird die zuerst erhobene negative Feststellungsklage abgewiesen, ist dem Leistungskläger ein Vollstreckungstitel zu gewähren (siehe dazu oben 1I.2.d), Seite 38). Möglicherweise ist auch noch der exakte Umfang des festgestellten Anspruchs, beispielsweise die Höhe einer Schadensersatzverbindlichkeit, zu bestimmen; in diesem Fall ist von einer teilweisen Identität der Streitgegenstände auszugehen (siehe dazu bereits oben II.4.b), Seite 45). 277 A.A. - ohne jede Begründung (sie!) - Blomeyer, Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin 1955, Seite 51, 69: "Das Ruhenlassen und die Aussetzung des zweiten Prozesses (dürfte) nicht das richtige Hilfsmittel sein, um kollidierende Entscheidungen in derselben Sache zu hindern." 278 So SteinlJonas/Schumann, Zivilprozeßordnung, 21. Auflage, § 256 Rdnr. 126 (Schumann nimmt allerdings verschiedene Streitgegenstände wegen verschiedener Anträge an); wie Schumann SteinlJonas/Roth, 22. Auflage, § 148 Rdnr. 27 und E. Hemnann, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 22.1.1987 (Az: I ZR 230/85) in: JR 1988, Seite 374, 376, 377. 279 Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 10. Ebenso Seite 33 f.: "Es geht nicht an, § 148 ZPO auch auf die Fälle von Prozessen mit gleichem Streitgegenstand, bei denen lediglich die Rechtsschutzfonn verschieden ist, anzuwenden. Die Präjudizialität ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung der Aussetzung." Siehe dazu noch unten III.2.c) bb) bis dd), Seite 79 ff. 275
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
den Antrag auf Aussetzung rechtfertigen; § 148 und § 263 II Ziff. 1 ZPO können niemals in Konkurrenz zueinander treten."
aa) Die anderweitige Rechtshängigkeit der Streitsache wird als "Prozesshindernis" bezeichnet, bei dessen Vorliegen - so lässt sich den Kommentierungen zur Zivilprozessordnung entnehmen - die "Klage ohne Rücksicht auf ihre sachliche Begründetheit durch ,Prozeßurteil' als unzulässig abzuweisen ist ". 280 Indessen ist diese Formulierung auf die vollständige Identität zweier Streitgegenstände zugeschnitten, d.h. auf den Fall, dass über das spätere Rechtsschutzbegehren kraft des Urteils über die erste Klage gleichgültig, wie dieses ausfällt! - in vollem Umfang mitentschieden wird. 281 Diese Situation ist jedoch bei Verfahren, die auf den Ausspruch kontradiktorischer Rechtsfolgen zielen, nicht ausnahmslos 282 und bei solchen, die konträre Rechtsfolgen zum Gegenstand haben, nie gegeben: Zielen die Klagen auf den Ausspruch konträrer Rechtsfolgen, so bestimmt erst die konkrete Entscheidung über die frühere Klage darüber, ob die später erhobene einer sachlichen Beurteilung aus dem Gesichtspunkt der entgegenstehenden Rechtskraft endgültig entzogen oder ob über sie zu verhandeln und gegebenenfalls zu entscheiden ist. 283 Bettermann 284 ist zuzustimmen, der ausführt, die Rechtshängigkeitseinrede sei beim Zusammentreffen einer Scheidungsklage285 mit einer Klage auf Herstellung der ehelichen Gemeinschaft gerechtfertigt, weil es notwendig sei, den Erlass zweier miteinander unvereinbarer Urteile zu verhüten. Eine solche Kollisionsgefahr bestehe nach Eintritt der Rechtskraft nicht Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 253 Rdnr. 9 und 19 a. Siehe dazu Fußnote 141. Erhoben ist beispielsweise die Klage auf Zahlung des Kaufpreises für eine Maschine, vor einem anderen Gericht dagegen auf Feststellung, dass ein Kaufvertrag nicht geschlossen sei. 282 Die Ausnahme bildet folgender Fall: Der Kläger begehrt die Feststellung, dass der von dem Beklagten geltend gemachte Anspruch nicht besteht. Hier ist - die Gleichwertigkeit der Klagen unterstellt (siehe dazu eingehend unten III.2.e), Seite 83 ff.) - bei Abweisung der negativen Feststellungsklage über die später erhobene Leistungsklage zu urteilen, um dem Leistungskläger einen vollstreckbaren Titel zu gewähren. Sollte durch das Feststellungsurteil lediglich das Bestehen, nicht aber der exakte Umfang des streitigen Anspruchs festgestellt worden sein, ist er im Verfahren über die Leistungsklage festzulegen. 283 Verlangt beispielsweise der Kläger des sog. Erstprozesses die Herausgabe einer bestimmten Sache und gibt das angerufene Gericht der Klage statt, so ist die von der Gegenpartei anhängig gemachte Klage, mit der der Beklagte des "Erstprozesses" seinerseits die Herausgabe der im Streit befindlichen Sache verlangt, "gegenstandslos", d.h, sie ist aus dem Gesichtspunkt entgegenstehender Rechtskraft ohne weiteres abzuweisen. 284 Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 24 f. 285 Nach geltendem Recht handelt es sich um den Antrag auf Scheidung. Siehe zu diesem Beispiel bereits Fußnote 81. 280
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2. Die Identität der Streitgegenstände
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mehr; die Abweisung der Scheidungsklage und die Zuerkennung der Herstellungsklage bildeten keinen Gegensatz. Wörtlich heißt es hierzu: "Nacheinander mögen zwei Prozesse geführt werden können, deren Nebeneinander unzulässig ist. Nur der umgekehrte Schluss ist statthaft: wo der zweite Prozeß nach dem ersten unzulässig ist, da ist er es erst recht neben ihm."
bb) Dessenungeachtet wird die Aussetzung des später anhängigen Verfahrens kraft des Einwandes der Rechtshängigkeit kaum erwogen. Die Vorschrift des § 148 ZP0 286 wird vielmehr auf die Fälle beschränkt, in denen die Begründetheit der Klage im auszusetzenden Verfahren vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Dementsprechend wird der Begriff der "Präjudizialität" nicht auf die Zulässigkeit, sondern ausschließlich auf die Begründetheit des suspendierten Verfahrens bezogen; er wird, mit einer anderen Formulierung ausgedrückt, allein im Sinne einer materiellrechtlichen Abhängigkeit verstanden. So heißt es bei Rosenberg/Schwab/Gottwald287 : "Präjudizialität ist ... gegeben, wenn der Inhalt der rechtskräftigen Entscheidung zum Tatbestand der im neuen Prozeß geltend gemachten Rechts/olge gehört."
Die Gefahr miteinander unvereinbarer Urteile berührt indessen die Zulässigkeit des ausgesetzten Verfahrens; die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses in dem anderen anhängigen Rechtsstreits kann zur Folge haben, dass über die Klage im ausgesetzten Verfahren aus dem Gesichtspunkt entgegenstehender Rechtskraft sachlich nicht zu befinden ist. Die Verknüpfung zwischen den Verfahren findet also auf der prozessualen, nicht auf der materiellrechtlichen Ebene statt. Sie steht einer Anwendung des § 148 ZPO nicht entgegen: Nach dem Wortlaut der Vorschrift288 setzt die Suspendierung lediglich voraus, dass die Entscheidung in dem auszusetzenden Rechtsstreit von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches den Gegenstand eines anderen anhängigen Prozesses bildet. cc) Dass die Aussetzung eines von mehreren Verfahren aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit nicht in Betracht gezogen wird, mag seine Ursache auch in der - sieht man einmal von Teilklagen ab 289 286 Die angeführte Vorschrift lautet: "Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei." 287 Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 154 III, Seite 928 (Hervorhebung durch Verf.). Zum Begriff der "Präjudizialität" siehe bereits Fußnote 75. 288 Er ist in Fußnote 286 wiedergegeben.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Vernachlässigung der Teilidentität von Streitgegenständen haben. Die "Präjudizialität" scheint stets mit der vollständigen Verschiedenheit der Streitgegenstände verbunden zu sein, so dass die Anwendung des § 148 ZPO bei teilweiser Identität der Verfahrensgegenstände nicht in Betracht gezogen wird. Dementsprechend führt beispielsweise Bettermann 290 aus: "Das Gesetz muß ... wörtlich verstanden werden. Es geht nicht an, § 148 auch auf die Fälle von Prozessen mit gleichem Streitgegenstand, bei denen lediglich die Rechtsschutzform verschieden ist, anzuwenden. Die Präjudizialität ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung der Aussetzung. Der Zweck der Aussetzung ist nicht der gleiche wie derjenige, der dem Verbot der Wiederholung eines bereits anhängigen Rechtsstreits zugrunde liegt. Gemeinsam ist dem Institut der Aussetzung wie demjenigen der Rechtshängigkeitseinrede ... nur der prozeßökonomische Gesichtspunkt ... Aber darüber hinaus verfolgen die Vorschriften über ... die Rechtshängigkeit noch ein weiteres Ziel: die Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen, die Vermeidung der Rechtsverwirrung. Dies Problem der Urteilskollision, die Kollision erkennender Staatsakte überhaupt, kann nur dort auftauchen, wo in beiden Verfahren die gleiche Streitfrage zu entscheiden ist, und zwar als Hauptfrage."
Die Beschränkung der Vorschrift des § 148 ZPO auf "Präjudizialität" bei vollständiger Verschiedenheit der Streitgegenstände ist indessen willkürlich, weil auch sie der "Entscheidungsharmonie,,291, d.h. der Vermeidung von Urteilen dient, die miteinander nicht in Einklang zu bringen sind. So führt das Reichsgericht in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1901 292 und 1910293 aus, die Bestimmung solle verhüten, dass in zwei nebeneinander anhängigen Prozessen widersprechende Entscheidungen über "dieselben Streitpunkte" ergingen; eine Situation, die sich gerade bei der Beurteilung teilweise oder ausnahmsweise 294 sogar vollständig identischer Rechtsfolgen
289 Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 261 Rdnr. 10; Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 322 Rdnr. 47 f. m. w.N. Bei Greger (a. a. 0.) heißt es: "Teilklage ... begründet selbst bei Zwischenurteil über den Grund (insofern Identität) keine Rechtshängigkeit der Restforderung. " (Hervorhebung durch Verf.) Damit ist wohl gemeint, dass mit der Erhebung der Teilklage die materiellrechtlichen Wirkungen der Rechtshängigkeit im Hinblick auf die Restforderung (Unterbrechung der Verjährung etc.) nicht eintreten. Eine davon zu unterscheidende Frage ist jedoch, ob die Restforderung neben der Teilforderung bei einem anderen Gericht eingeklagt werden darf oder - was m. E. zu bejahen ist die zweite Klage kraft der Einrede der Rechtshängigkeit (zumindest vorübergehend) unzulässig ist. 290 Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 33 f. 291 Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 148 Rdnr. 1. 292 RG JW 1901, Seite 120 Nr. 3. 293 RG JW 1910, Seite 581 Nr. 17.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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zwischen denselben Parteien durch verschiedene Gerichte einstellen kann,z95 dd) Daher besteht kein zwingender Grund, die Aussetzung von Verfahren aus dem Gesichtspunkt anderweitiger Rechtshängigkeit aus dem Anwendungsbereich des § 148 ZPO auszuschließen. Die eingeschränkte Geltung dieser Vorschrift lässt sich auch nicht aus dem in § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO ausgesprochenen Verbot ableiten, eine bereits anhängige Streitsache bei einem anderen Gericht erneut anzubringen: Die Bestimmung des § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO gestattet den Schluss auf die dauerhafte Unzulässigkeit des "Zweitprozesses" nur, wenn über seinen Gegenstand kraft des (hypothetischen) Urteils im "Erstprozess" in vollem Umfang mitentschieden wird. Die Unzulässigkeit des "Zweitprozesses" folgt bei nur teilweiser Identität des Streitgegenstandes aus dem fehlenden Rechtsschutzbedürfnis des "Zweitklägers". Bei teilweiser oder - ausnahmsweise 296 - vollständiger Identität der Streitgegenstände ist das durch § 148 ZPO eingeräumte Ermessen des Gerichts, die Aussetzung des Zweitverfahrens anzuordnen, freilich "auf Null" zu reduzieren, sofern die Gefahr, dass die zu fällenden Urteile bezogen auf ihre rechtskraftfähige Aussage miteinander unvereinbar sind, auf andere Weise nicht zu beheben ist. In diesem Falle würde das Gebot der Entscheidungsharmonie in besonderer Weise verletzt.
294 Eine Ausnahme liegt vor, wenn die negative Feststellungsklage abgewiesen wird, weil ein der Höhe nach bestimmter Anspruch (etwa auf Zahlung des vereinbarten Kaufpreises) besteht: Die spätere Leistungsklage ist zu bescheiden, damit der Leistungskläger einen vollstreckbaren Titel erhält. Siehe dazu bereits Fußnote 276 und oben II.2.d), Seite 38 f. 295 Setzt man für die Anwendung des § 148 ZPO die vollständige Verschiedenheit der Streitgegenstände voraus und verlangt man gleichzeitig, dass das Rechtsverhältnis, von dessen Bestehen bzw. Nichtbestehen die Entscheidung im auszusetzenden Verfahren abhängt, nicht nur Vorfrage. sondern Gegenstand des anderen Prozesses ist (in diesem Sinne Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23 . Auflage, § 148 Rdnr. 5 m. w. N.), so hat die Vorschrift nach der hier vertretenen Ansicht keinen Anwendungsbereich mehr, sofern nicht das streitige Rechtsverhältnis zwischen einer Partei und einem Dritten besteht. Dass es sich bei § 148 ZPO um eine Bestimmung handelt, die nicht nur die Gefahr miteinander - gemessen an der rechtskraftfähigen Aussage (sie!) - unvereinbarer Urteile bannt, sondern darüber hinausreichend die Harmonisierung von Entscheidungen in Verfahren mit teilweise identischen Streitgegenständen gewährleistet, lege ich unten III.2.e)bb)(2)(a), Seite 93 f., dar. 296 Siehe die vorstehende Fußnote.
6 Wemecke
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
d) Der Gesichtspunkt der Prozessökonomie oder die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen - worin besteht der wesentliche Zweck des Einwandes der Rechtshängigkeit?
Wie bereits eingangs dieser Untersuchung erwähnt, soll der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit nicht nur den Erlass miteinander unvereinbarer Urteile verhindern, sondern darüber hinaus gewährleisten, dass sich nicht mehrere Gerichte nebeneinander mit einer und derselben Sache befassen. 297 Dieser prozessökonomische Aspekt verleitet häufig zu der Annahme, nur ein Gericht sei zur Entscheidung über eine und dieselbe Sache berufen 298 ; sie ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn durch die (hypothetische) Entscheidung über eine der Klagen - unabhängig davon, wie sie ausfällt in vollem Umfang über das anderweitig angebrachte Rechtsschutzbegehren befunden wird. In dieser Gestaltung wäre die Fortführung beider Verfahren eine unwirtschaftliche Inanspruchnahme der Justiz. Indessen beschränkt sich der Einwand der Rechtshängigkeit nicht auf diese Gestaltungen, weil das Gebot, kollidierende Entscheidungen zu vermeiden, weiter reicht als prozessökonomische Erwägungen: Es ist auch dann zu verwirklichen, wenn die (hypothetische) Entscheidung über die eine Klage das anderweitig angebrachte Rechtsschutzbegehren nicht von vornherein gegenstandslos und damit dauerhaft unzulässig werden lässt. Um in diesem Falle den Einklang der Entscheidungen zu gewährleisten, ist über die verschiedenen Klagen nacheinander zu befinden; die später zu entscheidenden Verfahren sind auszusetzen. Während also der Grundsatz der Prozessökonomie die Verhandlung und Entscheidung desselben Anspruchs vor einem und demselben Gericht fordert, steht das Verbot unvereinbarer Entscheidungen einer Mehrzahl von Prozessen nicht entgegen, sofern keine vollständige Identität der Rechtsschutzbegehren besteht. Führte man nun den Einwand der Rechtshängigkeit allein auf den Gesichtspunkt der Prozessökonomie zurück, so müsste man ihn auf die Gestaltungen reduzieren, in denen die Entscheidung über das später angebrachte Begehren durch die im Erstverfahren gefällte gegenstandslos, das Zweitverfahren mithin dauerhaft unzulässig würde. Durch diese Verengung des Anwendungsbereichs nähme man den Erlass widersprüchlicher EntscheidunSiehe oben 1., Seite 9. Bezeichnend etwa Blomeyer, Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin 1955, Seite 51, 69: "Während nun bei gleicher Klagart die zuerst erhobene Klage den Altersvorrang hat, wirkt sich die verschiedene Klagart in einem anderen Rangverhältnis der Klagen aus: Jeweils nach den Grundsätzen der Prozeßökonomie ist oder wird eine der kollidierenden Klagen unzulässig." (Hervorhebung durch Verf.). 297 298
2. Die Identität der Streitgegenstände
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gen in allen Fällen in Kauf, in denen die erhobenen Ansprüche nur teilweise identisch sind; ein Ergebnis, das dem Streben nach Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zuwiderliefe. Prozessökonomische Erwägungen vermögen mithin die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen nicht vollständig auszuschließen. Der wesentliche Zweck des Einwandes der Rechtshängigkeit ist jedoch, so lässt sich zusammenfassend formulieren, ausnahmslos solche Entscheidungen zu vermeiden, die in ihrer rechtskraftfähigen Aussage miteinander nicht in Einklang zu bringen sind. e) "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" - die grundsätzliche Gleichwertigkeit von Leistungs- und negativer Feststellungsklage
aa) Genereller Vorrang der Leistungsklage? Der Annahme (vollständig oder teilweise) identischer Streitgegenstände mit der Folge, dass das früher anhängig gemachte Verfahren das spätere sei es dauerhaft, sei es vorübergehend299 - unzulässig werden lässt, könnte der Vorrang einer Klageart entgegengehalten werden. So wird insbesondere von der Rechtsprechung, aber auch von weiten Teilen des Schrifttums die Auffassung vertreten, die später erhobene Leistungsklage lasse das "rechtliche Interesse" an der Feststellung im Sinne des § 256 ZPO entfallen. 300 (1) Der Vorrang der Leistungsklage soll zunächst für den Fall gelten, dass eine negative Feststellungsklage einer auf das kontradiktorische Gegenteil zielenden Leistungsklage vorangeht. Hier könnte zwar - wie bereits mehrfach erwähneo l - die Aussetzung des Verfahrens über die später erhobene Leistungsklage erwogen werden, um dem Leistungskläger im Falle der Abweisung der Feststellungsklage einen vollstreckbaren Titel zu gewähren; ein Vorgehen, welches das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof freilich nicht in Betracht ziehen. Sie sind vielmehr der Auffassung, durch
299 Ist die Leistungsklage nach der Feststellungsklage erhoben, so muss dem Kläger im Falle der Abweisung der negativen Feststellungsklage auch bei vollständiger Identität der Streitgegenstände die Möglichkeit eröffnet sein, einen vollstreckbaren Titel zu erlangen. Siehe dazu bereits - bezogen auf das Verfahren Tatry ./. Maciej Rataj - oben II.2.d), Seite 38 sowie Fußnote 276. 300 RGZ 71, Seite 68, 73, BGH NJW 1994, Seite 3107 f. sub 11 lund 2 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; unter Betonung der Ausnahmen: BGHZ 18, Seite 22, 41; 99, Seite 340, 341; BGH NJW 1973, Seite 1500, NJW-RR 1990, Seite 1532; NJW 1991, Seite 1061, 1062. Siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 93 III, 1 c und IV 2, Seite 522 f. und Seite 524 f.; Zöller/ Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 256 Rdnr. 7 d; W. Zeiss, Zivilprozeßrecht, 9. Auflage, 1997, § 42 11 3 b bb Rdnr. 283 (jeweils m.w.N). 301 Siehe Fußnote 299. 6*
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
die Erhebung der Leistungsklage werde die negative Feststellungsklage obgleich früher als die Leistungsklage erhoben - unzulässig. In einer wettbewerbsrechtlichen Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1961 heißt es bezeichnend302 : "Der Beklagte begehrt mit seiner vor dem Landgericht Bochum erhobenen Klage lediglich die Feststellung, daß er die von der Klägerin festgesetzten Endverbraucherpreise für ihre Trockenrasierer nicht einzuhalten brauche oder - mit anderen Worten - daß ihm die Klägerin nicht verbieten könne, ihre Trockenrasierer unter den von ihr festgesetzten Endverbraucherpreisen zu vertreiben, - die Klägerin dagegen begehrt mit ihrer vor dem Landgericht Hamburg erhobenen Klage die über die bloße Feststellung dieses streitigen Rechtsverhältnisses hinausgehende, die zwangsweise Durchsetzung ihres Anspruchs ermöglichende Verurteilung des Beklagten zur Unterlassung des Vertriebs ihrer Trockenrasierer unter den von ihr festgesetzten Preisen. Da der Klageantrag bei der Klage der Klägerin ein anderer ist als bei der des Beklagten, der Streitgegenstand der beiden Klagen also nicht derselbe ist 303 , und da ferner das Klagebegehren der Klägerin über das hinausgeht, was sie mit der Abweisung der Klage des Beklagten erreichen könnte, fehlt es an den in § 263 Abs. 2 Nr. 2 ZP0 304 bestimmten Voraussetzungen für die hier vom Beklagten erhobene Einrede der Rechtshängigkeit. ,,305
In gleicher Weise bejahte bereits das Reichsgericht den Wegfall des rechtlichen Interesses an der Feststellung des streitigen Rechtsverhältnisses im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO, wenn der Beklagte in diesem Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt eine Leistungsklage über "denselben Anspruch" erhebt. 306 302 GRUR 1962, Seite 360, 362 sub 2 (Hervorhebungen durch Verf.). Ein vergleichbarer Sachverhalt liegt einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1987 (JR 1988, Seite 374 mit Anm.E. Hemnann) zugrunde. 303 Wie hier BGH NJW 1994, Seite 3107, 3108 sub 2: "Es entspricht ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung, daß die hierfür erforderliche Identität der Streitgegenstände nicht besteht ... ". Anders - freilich ohne Begründung - BGH JR 1988, Seite 374, 375: "Wie bereits das Reichsgericht ... ausgeführt hat, sollen durch den grundsätzlichen Vorrang des Leistungsverfahrens gegenüber dem Feststellungsverfahren mit gleichem Streitstoff nämlich sowohl widerstreitende Entscheidungen der Gerichte als auch ... mehrere parallele Verfahren über denselben Streitgegenstand vermieden werden." (Hervorhebung durch Verf.) 304 § 261 Abs. 3 Nr. 1 der gültigen Fassung der Zivilprozessordnung. 305 Ebenso BGH NJW 1994, Seite 3107, 3108: Es entspreche ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung, dass Leistungsklage und negative Feststellungsklage nicht denselben Streitgegenstand haben, weil das durch den Klageantrag bestimmte Rechtsschutzziel der Leistungsklage über den Streitgegenstand der Feststellungsklage hinausgeht. 306 Grundlegend RGZ 71, Seite 68, 73: "Vielmehr muß für die Fälle der negativen Feststellungsklage anerkannt werden, daß ein des Rechtsschutzes fähiges und bedürftiges Interesse des Klägers an der Sachentscheidung auf die Feststellungsklage überhaupt entfällt, und deshalb die trotzdem aufrecht erhaltene Klage abzuweisen ist, nachdem der Gegner die entsprechende positive Klage auf Leistung er-
2. Die Identität der Streitgegenstände
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(a) Warum, so lautet die Frage des unvoreingenommenen Betrachters, zieht der Bundesgerichtshof - und dies gerade im Hinblick auf die von ihm angenommene Verschiedenheit der Streitgegenstände!307 - die Aussetzung des später erhobenen Verfahrens nicht in Erwägung? Die Antwort soll sich aus dem Gebot der Prozessökonomie ergeben: Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs geht die Feststellungsklage gewissermaßen in der Leistungsklage auf, und zwar in der Weise, dass durch das Leistungsurteil - gleichgültig, wie es ausfällt - auch über die Existenz oder Nichtexistenz des festzustellenden Unterlassungsanspruchs entschieden wird. Die Feststellungsklage soll ausnahmsweise - wiederum aus prozessökonomischen Gründen - zulässig bleiben, wenn sie in dem Zeitpunkt entscheidungsreif ist, in dem die Leistungsklage nicht mehr einseitig zurückgenommen werden kann. 308 (b) Die Argumentation des Gerichts ist auf den ersten Blick bestechend, weil der Feststellungskläger kein über den Leistungsantrag hinausreichendes Rechtsschutzziel ins Feld zu führen vermag. Sie verliert indessen an Überzeugungskraft, wenn man sich die Konsequenzen für den Feststellungskläger bewusst macht: Ihm wird durch die Aberkennung des Feststellungsinteresses das von ihm - zulässigerweise - gewählte Forum309 genommen. Er trägt die Kosten der unzulässigen Klage (§ 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO), und zwar auch dann, wenn die Leistungsklage des anderen Teils zu einem späteren Zeitpunkt abgewiesen wird und sich auf diese Weise die Berechtigung seines Standpunktes erweist. Darin liegt eine Entwertung seines Rechtsschutzbegehrens, die - sieht man einmal vom Rechtsrnissbrauch ab - einer rechtfertigenden Grundlage entbehrt.310 Die Bevorzugung der Partei, welche die Leistungsklage erhoben hat, ist parteiisch und somit auch rechtshoben und, wie hinzuzufügen ist, soweit fortgeführt hat, daß sie nicht mehr ohne Einwilligung des Beklagten - also des Feststellungsklägers - zurückgenommen werden kann." Im Ergebnis ebenso bereits RGZ 40, Seite 362, 364 [zu dieser Entscheidung siehe unten III.2.e)aa)(2)(b), Seite 89 f.]. 307 Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Streitgegenstände trotz formaler Verschiedenheit der Anträge in vollem Umfang identisch: Die Leistungsklage wäre im Falle der Unbegründetheit der Feststellungsklage nur noch zu bescheiden, um einen Vollstreckungstitel zu schaffen. 308 BGH JR 1988, Seite 374, 375 sub 11 1 a. 309 Dazu treffend Rüßmann, ZZP 111 (1998), Seite 399, 413: "Hat er (gemeint ist der Leistungskläger) sich aber eines Anspruchs berühmt, ohne Klage in dem ihm genehmen Gerichtsstand zu erheben, dann darf er sich nicht darüber beschweren, daß der Beklagte ihn ernst nimmt und ihm in Ausnutzung der für beide Seiten gegebenen Wahlmöglichkeiten bei der Bestimmung des Gerichtsstandes zuvorkommt. Ein unerlaubtes forum shopping kann darin nicht gesehen werden." 310 Die Prozessfreudigkeit mancher Parteien erklärt R. v. Jhering, Der Kampf ums Recht, 1872, Seite 13, mit den Untugenden der Rechthaberei, der Lust am Streit und dem Drang, sein Mütchen am Gegner zu kühlen. Eine eher humoristische
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
politisch falsch: Die Rollenzuweisung zwischen dem "unwilligen, die Erfüllung seiner Verpflichtungen verschleppenden" Feststellungskläger und dem Leistungskläger "handelnd in einer gerechten Sache" beruht auf einer Konstruktion. Da die Motive, die eine Prozesspartei veranlassen, das Gericht anzurufen, vielgestaltig und für den Richter kaum zu ergründen sind, darf auch dem Feststellungskläger zugute gehalten werden, dass er sich gegen ungerechtfertigte Forderungen eines "drängelnden", ihn mit der angedrohten Klage verunsichernden Gegners erwehrt? 11 Ist die Motivsuche mithin willkürlich, bleibt nur die gerecht-formale Lösung der Konkurrenz von Leistungs- und Feststellungsklage: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst ("prior tempore potior processu"). In diesem Zusammenhang seien die Schlussanträge des Generalanwaltes Tesauro in dem oben312 erörterten Verfahren Tatry ./. Maciej Rata/ 13 erwähnt, in denen es treffend heißt314 : "Es ist daran zu erinnern, daß die negativen Feststellungsklagen, die übrigens nach den verschiedenen nationalen Verfahrensordnungen zugelassen und in jeder Hinsicht völlig legitim sind, tatsächlichen Bedürfnissen des Klägers entsprechen können. Dieser kann z. B. ein Interesse haben, im Fall der Verschleppung durch die Gegenpartei, im Fall von Zweifeln oder Einwänden eine schnelle gerichtliche Feststellung der Rechte, der Pflichten oder der Verantwortlichkeiten zu erlangen, die sich aus einem bestimmten Vertragsverhältnis ergeben."
Hinzuzufügen ist, dass die Anrufung eines bestimmten Gerichts (zulässigerweise) auch dadurch motiviert sein kann, sich dessen, dem eigenen Standpunkt vorteilhafte, Rechtsprechung zu sichern. (c) Um der Kostenfolge des § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu entgehen, ist es dem Feststellungskläger nach einigen Stimmen gestattet, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären; das entfallende Rechtsschutzbedürfnis wird hier als "erledigendes Ereignis" bewertet. 315 In diesem Falle ist allerdings zweifelhaft, ob die vorzeitige Beendigung des Feststellungsverfahrens noch prozessökonomischen Gesichtspunkten entspricht?16 Stimmt der Beklagte der Erledigungserklärung zu, hat das Gericht nach Schilderung der Ursachen von Prozessen findet sich in der Schrift von V. Wagner, Die Lust am Prozeß, 1985. 311 Hieraus ergibt sich das Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO, das nicht nachträglich "wegzufallen" vermag. 312 Siehe oben 11.2., Seite 34 ff. 313 Amtl. Slg. 1994 I, Seite 5439. 314 A. a. 0., Seite 5455 sub 23. 315 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 93 IV 2 mit Verweisung auf RG SeuffArch. Band 83 (1929), Nr. 173; OLG Köln JW 1929, Seite 3258, 3259. 316 Zum Folgenden siehe Herrmann, JR 1988, Seite 374, 376 ff.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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§ 91 a ZPO über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Da das Gericht den hypothetischen Prozessausgang, d.h. die Zulässigkeit und Begründetheit der Klage, zu ermitteln hat, soweit dies nach dem Stand des Verfahrens möglich ist, wird die Beschäftigung zweier Gerichte mit dem gleichen Streitstoff nicht verhindert. 317 Immerhin würden widerstreitende Entscheidungen über den streitigen Anspruch insoweit vermieden, als der Beschluss des Gerichts nur über die Kosten, nicht über die Sache ergeht. Eine Sachentscheidung muss indessen gefällt werden, sollte der Feststellungsbeklagte der Erledigungserklärung nicht zustimmen; in diesem Fall setzt der Ausspruch der Erledigung voraus, dass die Klage im Zeitpunkt der Erledigung zulässig und begründet war?18
Nach alledem ist festzustellen: Mit der Anerkennung des Vorrangs der später angebrachten der Leistungsklage ist nicht gewährleistet, dass sich nur ein Spruchkörper mit einer und derselben Rechtsfolge befasst. Der Gewinn aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie ist mithin gering zu veranschlagen. 319 Vor diesem Hintergrund ist die Verweigerung einer Sachentscheidung im früher anhängig gemachten Prozess nicht zu rechtfertigen?20 (2) Der Vorrang der Leistungsklage wird jedoch von der Rechtsprechung nicht nur angenommen, wenn die negative Feststellungsklage einer auf das kontradiktorische Gegenteil zielenden Leistungsklage vorangeht, sondern 317 Dieses Ziel würde nur durch das Festhalten am Klageantrag - die Klage würde dann durch Prozessurteil abgewiesen - oder durch die Rücknahme der Klage erreicht (zutreffend Herrmann, a. a. 0., Seite 377 sub 2 a). 318 Zutreffend Herrmann, a. a. O., Seite 377 sub 2 b. Zustimmend OLG Stuttgart, WRP 1992, Seite 513, 516; dieses Urteil ist allerdings durch den Bundesgerichtshof wegen seiner vom Oberlandesgericht abweichenden Meinung über den Vorrang der Leistungsklage aufgehoben worden (BGH NJW 1994, Seite 3107). 319 Daher nicht überzeugend Blomeyer, Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin 1955, Seite 51, 69, der apodiktisch ausführt: "Während ... bei gleicher Klageart die zuerst erhobene Klage den Altersvorrang hat, wirkt sich die verschiedene Klagart in einem anderen Rangverhältnis der Klagen aus: Jeweils nach den Grundsätzen der Prozeßökonomie ist oder wird eine der kollidierenden Klagen unzulässig." 320 Ebenso Herrmann, a. a. 0., Seite 377 sub 3: "Dieser kurze Streifzug, der die Konsequenzen der vom Bundesgerichtshof vertretenen Ansicht verdeutlichen soll, mag gezeigt haben, daß die Postulate, die mit dem Vorrang der Leistungsklage angestrebt werden, nicht oder nur beschränkt verfolgbar sind." Im Ergebnis ebenso Bettermann, Prozessrechtliche Abhandlungen Heft 16 (1949), Seite 6, 32: "Die richtige Konsequenz ist ... die, daß der Gi., dem der Sch. mit der negativen Feststellungsklage zuvorgekommen ist, mit seiner Leistungsklage warten muß, bis über die Feststellungsklage rechtskräftig entschieden ist." Im Verlauf der weiteren Ausführungen befürwortet Bettermann die "Zurückstellung der Leistungsklage bis zur Entscheidung über die Feststellungsklage"; zu der Frage, nach welcher Vorschrift die Leistungsklage auszusetzen sei, äußert er sich freilich nicht.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
selbst dann, wenn sich der zeitlich früher angebrachte Feststellungsantrag auf ein Rechtsverhältnis bezieht, aus dem mehrere Rechtsfolgen erwachsen können, von denen der Feststellungsbeklagte als Leistungskläger jedoch nur eine einzelne oder mehrere gerichtlich geltend macht. (a) Als erstes Beispiel für diese Gestaltung sei ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1890321 gewählt, in dem es heißt: "Nach dem Tode des H. K. ist eine Erbauseinandersetzung zwischen dessen Witwe, der Klägerin, für sich und namens ihrer minderjährigen Kinder einerseits, und der erstehelichen Tochter des Erblassers ... andererseits zustande gekommen, in welcher der letzteren ein Hofgut gegen die Verpflichtung überwiesen wurde, ihrer Stiefmutter eine lebenslängliche Rente und an die Erbmasse eine vom 1. April 1883 mit 4 Prozent zu verzinsende Abfindung von 29.395 M zu zahlen. Mit einer im April 1889 bei dem Landgerichte zu Metz erhobenen Klage begehrte die Klägerin als Nutznießerin (i. e. als Nießbraucherin) der Erbmasse die zweijährigen Zinsen dieser Abfindungssumme bis 1. April 1889 mit 2.351 Mark. Die beklagten Eheleute haben der Klage die prozeßhindemde Einrede der Rechtshängigkeit entgegengesetzt, weil über den gleichen Rechtsanspruch zwischen den Parteien ein Rechtsstreit bei dem Landgericht zu Hildesheim schwebe. Die jetzigen Beklagten haben nämlich bei letzterem Gerichte im Dezember 1886 gegen die Witwe K. eine auf Betrug und Irrtum gestützte Klage mit dem Antrag erhoben, daß auf Kosten der Beklagten die Erbauseinandersetzungsverträge vom 21.128. März 1884 wieder aufzuheben 322 seien."
Das Reichsgericht hat die Einrede der Rechtshängigkeit nicht anerkannt. Sie setze die "Identität der Parteien und des zur richterlichen Entscheidung gestellten Anspruchs nach seinem Grunde und Gegenstande (eadem personae, eadem questio, eadem causa)" voraus. Im vorliegenden Falle fehle es an der "Identität der zur richterlichen Entscheidung gestellten Ansprüche". Der Argumentation des Gerichts ist im Ausgangspunkt zuzustimmen: Bei lebensnaher Deutung war im angeführten Fall davon auszugehen, dass sich die Parteien über verschiedene Rechtsfolgen aus den Erbauseinandersetzungsverträgen uneins waren. Das Urteil über die negative Feststellungsklage hätte mithin die Grundlage für die Lösung aller zwischen den Parteien ausgetragenen Streitigkeiten geschaffen. 323 Dementsprechend war eine RGZ 26, Seite 367. Ich gehe davon aus, dass die "jetzigen Beklagten" zuvor die Feststellung des Nichtbestehens eines Erbauseinandersetzungsvertrags beantragt, mithin eine negative Feststellungsklage erhoben hatten. 323 Für die Zulässigkeit der später erhobenen Feststellungsklage spricht sich Leipold, Gedächtnisschrift für Arens 1993, Seite 227, 245 aus: " ... sofern aus dem Vertrag, um dessen Wirksamkeit es geht, noch andere Rechtsfolgen umstritten sind, etwa wenn neben der im ersten Verfahren eingeklagten Verbindlichkeit noch weitere Ansprüche gegen den Kläger des zweiten Verfahrens behauptet werden, ... würde 321
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2. Die Identität der Streitgegenstände
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vollständige Identität der Streitgegenstände zu verneinen. Ihre Übereinstimmung im Sinne einer quanitativen Teilidentität der beiderseitigen Begehren 324 lag indessen - was das Reichsgericht nicht erwog - insoweit vor, als aus der Nichtigkeit der Erbauseinandersetzungsverträge unmittelbar auf die Nichtexistenz des mit der Leistungsklage verfolgten Anspruchs der Witwe auf die Zinsen hätte geschlossen werden müssen. In diesem Punkte bestand die Gefahr miteinander unvereinbarer (konträrer) Urteile: Der Fortfall der Auseinandersetzungsvereinbarung schloss sämtliche Ansprüche der Witwe aus.
Dessenungeachtet räumte das Reichsgericht nicht der früher erhobenen Feststellungsklage, sondern der später anhängig gemachten Leistungsklage den Vorrang ein. (b) In gleicher Weise urteilte das Gericht in einem Verfahren aus dem Jahre 1897325 . Es hatte über die Klage eines Verpächters zu entscheiden, der die Räumung eines Rittergutes durch die verklagten Pächter verlangte. Der Verpächter begründete sein Begehren damit, dass er den Pachtvertrag wegen "irrationaler Bewirtschaftung" des Gutes durch die Pächter Anfang Dezember 1897 gekündigt habe. Die Klage wurde den Beklagten am 24. Dezember 1896 zugestellt. Eine Woche vorher, am 17. Dezember 1896, hatten die Pächter ihrerseits Klage auf Feststellung erhoben, dass die Kündigung des Pachtvertrags unwirksam sei?26 Trotz des zeitlichen Vorangangs der Feststellungsklage sprach sich das Reichsgericht für die Zulässigkeit der Räumungsklage aus, weil mit ihr ein von der Feststellungsklage "verschiedener Anspruch" verfolgt werde. Geht man auch in diesem Fall davon aus, dass verschiedene Rechte und Pflichten aus dem Pachtvertrag im Streit waren, so war die vollständige Identität der Streitgegenstände zwar zu vemeinen. 327 Die Leistungsklage hätte aber - die Gleichwertigkeit der Klagen unterstellt - wegen der Gefahr konträrer Urteile zumindest vorübergehend für unzulässig erklärt werden das Rechtsschutzinteresse des Klägers der Feststellungsklage in vollem Umfang nur durch eine rechtskraftfähige Entscheidung über den Feststellungsantrag erreicht, so daß die Rechtshängigkeitssperre nicht eingreifen könnte." Nach Ansicht von Leipold stünden das Leistungs- und das Feststellungsurteil allerdings nicht in unvereinbarem Gegensatz, weil das Bestehen des Rechtsverhältnisses nur eine Vorfrage des Anspruchs auf Leistung darstellte. Nach der hier vertretenen Auffassung würden die Nichtexistenz eines Rechtsverhältnisses und die Zuerkennung eines Anspruchs gerade aufgrund dieses Rechtsverhältnisses nicht in Einklang zu bringen sein (siehe oben III.2.b), Seite 70 ff.). 324 Der einzelne Anspruch ist hier nur ein Teil des Bündels von Rechten, das die negative Feststellungsklage insgesamt leugnet. Siehe dazu Fußnote 251. 325 RGZ 40, Seite 362. 326 Der Klageantrag war vermutlich auf die Feststellung gerichtet, dass der Pachtvertrag fortbestehe.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
müssen. Das Reichsgericht rechtfertigt demgegenüber den Vorrang der Leistungsklage mit folgenden Wendungen: "Würde durch die Erhebung der Feststellungsklage auch die gerichtliche Geltendmachung einer fälligen Leistung verhindert, so würde der Berechtigte durch die Anstellung jener Klage häufig sehr benachteiligt werden können. Das Berufungsgericht hält dies für unrichtig, weil der Leistungsanspruch bei erhobener Feststellungsklage widerklagend geltend gemacht werden könne. Ist dies aber zulässig, so muß der Berechtigte auch eine besondere Klage erheben können, da es keine gesetzliche Vorschrift giebt, nach welcher jemand, der zur Einklagung einer Leistung berechtigt ist, verpflichtet wäre, dies nur im Wege der Widerklage zu tun."
Die Argumentation des Gerichts vermag nicht zu überzeugen, weil sie die Gefahr einander widersprechender Urteile außer Acht lässt. Die These, ein Anspruch, der kraft einer Widerklage verfolgt werden dürfe, könne auch zum Gegenstand eines selbständigen Prozesses gemacht werden, ist unzutreffend: Das Gericht verkennt hier, dass die Identität der Streitgegenstände bei der Verbindung von Klage und Widerklage - im Gegensatz zu unverbundenen Verfahren - kein Verfahrenshindernis begründet, weil die Einheitlichkeit der Entscheidungen gewährleistet ist. Dass Klage und Widerklage denselben Streitgegenstand haben können, ergibt sich aus der Regelung des § 19 Abs. 1 GKG, welche lautet: "In einer Klage und in einer Widerklage geltend gemachte Ansprüche, die nicht in getrennten Prozessen verhandelt werden, werden zusammengerechnet ... Betreffen die Ansprüche ... denselben Gegenstand, ist nur der Wert des höheren Anspruchs maßgebend. ,,328
(c) Die Teilidentität der Streitgegenstände hat regelmäßig zur Folge, dass die nicht als Widerklage erhobene Leistungsklage auszusetzen ist, bis über den zu einem früheren Zeitpunkt anhängig gemachten (negativen) Feststellungsantrag entschieden ist. Die von Rüßmann329 vertretene These, dass der Leistungskläger sein Begehren kraft einer Widerklage im Rahmen des Feststellungsprozesses zu 327 Die Identität der Streitgegenstände, so das Reichsgericht (a. a. 0., Seite 365), folge nicht daraus, dass "der Feststellungsprozeß die Anticipation eines Streites über das rechtliche Fundament eines künftigen Leistungsprozesses sei." 328 Ein eigenständiger ,,kostenrechtlicher Streitgegenstandsbegriff' ist jedoch nicht anzuerkennen (siehe dazu oben III.1.c)bb), Seite 61 f.). Treffend heißt es bei Friedländer/Friedländer, Kommentar zum Deutschen Gerichtskostengesetz, 1928, §§ 9-15 Rdnr. 68: "Verschiedenheit der Streitgegenstände liegt vor, wenn die beiderseitigen Ansprüche nebeneinander bestehen können, dagegen Identität, wenn die Zuerkennung des einen Anspruchs die Geltendmachung des anderen ausschließt. Dagegen bedingt der Umstand, daß Klage und Widerklage abgewiesen werden können, noch nicht notwendig Verschiedenheit des Streitgegenstandes." Ebenso RGZ 145, Seite 164, 166 f. 329 In: ZZP 111, Seite 399, 413 und IPRax 1995, Seite 76, 79 f. sub IV 2 a.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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verfolgen habe, wenn die Verhandlung über eine isolierte Leistungsklage nach rechtskräftiger Beendigung des Feststellungsprozesses nur noch ein "blutleeres" Verfabren 330 darstelle, das zusätzliche Kosten bereite und an dem kein "vernünftiges Interesse" bestehe, vennag nicht zu überzeugen: Dem Leistungskläger würde durch die Beschränkung auf die Widerklage ein ihm zustehendes Forum genommen, und er könnte durch die Erhebung der Feststellungsklage vor ein vom Feststellungskläger gewähltes Gericht gezogen werden. 331 Die Möglichkeit der Widerklage soll indessen die Situation des Widerklägers verbessern, ihn dagegen nicht in der Wabl des Gerichtsstandes beschränken. Lässt sich der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch freilich auf eine andere materiellrechtliche Grundlage als das Rechtsverhältnis gründen, dessen Nichtbestehen festgestellt werden soll, so darf über ihn entschieden werden, weil hier die Gefahr miteinander unvereinbarer Urteilsaussagen entfällt. Wird beispielsweise mit der Feststellungsklage die Erkenntnis begehrt, dass ein bestimmter Vertrag zwischen den Parteien nicht besteht, so kann der später erhobenen, auf Schadensersatz gerichteten Leistungsklage stattgegeben werden, wenn sich der Anspruch zwar möglicherweise aus dem Gesichtspunkt der Verletzung vertraglicher Pflichten ergibt, darüber hinaus aber die Voraussetzungen einer unerlaubten Handlung erfüllt sind: Gründet das mit der Leistungsklage befasste Gericht sein Urteil allein auf die Vorschriften des Deliktsrechts 332, so beseitigt es die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen. 333 Die Möglichkeit, auf die Aussetzung des Verfahrens zu verzichten, begründet indessen keinen Vorrang der Leistungsklage gegenüber der negativen Feststellungsklage: Über letztere ist im Hinblick auf die weiteren zwischen den Parteien streitigen Rechtsfolgen zu befinden.
330 Um ein "blutleeres Verfahren" soll es sich handeln, wenn das Gericht wegen der "Präjudizialität" des Feststellungsurteils nur noch den Leistungsbefehl auszusprechen oder die Klage ohne Sachprüfung abzuweisen hätte. 331 Siehe dazu bereits Fußnote 123. 332 Der Kläger muss in diesem Fall einen Sachverhalt vortragen, der die Subsumtion unter deliktsrechtliche Normen gestattet. Damit ist nicht ausgesagt, dass er das Gericht auf bestimmte materiellrechtliche Vorschriften festzulegen vermag (verneinend ZöllerlVollkommer, Zivilrozessordnung, 23. Auflage, Einl. Rdnr. 84 und § 308 Rdnr. 5, Zöller/Greger, a. a. 0., § 256 Rdnr. 5). 333 Legt die im Leistungsverfahren unterlegene Partei ein Rechtsmittel ein, so ist die rechtliche Prüfungskompetenz der höheren Instanzen vorübergehend eingeschränkt: Sofern ihre Entscheidung von dem Zustandekommen des Vertrags zwischen den Parteien abhängig ist, haben sie das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag auszusetzen.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
(d) Ich fasse zusammen: Die Leistungsklage genießt im Verhältnis zur negativen Feststellungsklage keinen Vorrang. Die später erhobene Leistungsklage ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag auszusetzen, § 148 ZPO. Dies gilt uneingeschränkt für den Fall, dass die Klagen - bezogen auf den mit der Leistungsklage verfolgten Anspruch - auf die Feststellung des kontradiktorischen Gegenteils zielen. Lässt sich der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch allerdings auf andere Normen als das zum Gegenstand der Feststellungsklage gemachte Rechtsverhältnis gründen 334 , so kann das Gericht über dieses Begehren befinden, ohne die Entscheidung im Feststellungsverfahren abwarten zu müssen. bb) Genereller Vorrang der negativen Feststellungsklage? (1) Ist die negative Feststellungsklage später als die Leistungsklage erhoben, genießt sie keinen Vorrang, wenn zwischen den Parteien keine weiteren als die mit der Leistungsklage geltend gemachten Rechts/olgen streitig sind: Mit der Entscheidung über das Leistungsbegehren ist auch über das "Rechtsverhältnis" der Feststellungsklage entschieden; ein weiterreichendes Rechtsschutzbedürfnis des Feststellungsklägers und Beklagten der Leistungsklage besteht nicht. Die negative Feststellungsklage ist mithin dauerhaft unzulässig.
Ebenso verhält es sich, erstrebt der Kläger die Feststellung, dass der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch nicht auf bestimmte materiellrechtliche Vorschriften, etwa ein Vertragsverhältnis, zu gründen ist. 335 (2) Erheben die Parteien indessen aus dem streitigen Rechtsverhältnis verschiedene Ansprüche, die nicht sämtlich gerichtlich anhängig sind, so ist der Vorrang der negativen Feststellungsklage zu erwägen, weil sie weiter reicht als der Leistungsantrag, mithin ungeachtet des Leistungsurteils beschieden werden muss. Die Gefahr, dass durch das stattgebende Feststellungsurteil das Gegenteil eines Leistungsurteils ausgesprochen wird 336 , lässt sich dadurch vermeiden, dass das Feststellungsurteil "unbeschadet der Entscheidung im Leistungsprozess" ergeht. 337 Das mit der Feststellungsklage 334 Die Streitgegenstände sind in diesem Falle quantitativ und qualitativ (die Verfahren betreffen konträre Rechtsfolgen; siehe dazu Fußnote 82) teilweise identisch. 335 Siehe oben Fußnote 253, in der ausgeführt ist, dass der in den Prozess eingeführte Lebenssachverhalt einer ergänzenden rechtlichen Beurteilung derselben Rechtsbehauptung nicht mehr zugänglich ist. 336 Die Feststellung, dass ein bestimmtes Rechtsverhältnis nicht besteht, beinhaltet die Feststellung, dass aus diesem keine Rechte und Pflichten erwachsen sind. Diese Aussage bildete das kontradiktorische Gegenteil zu der (rechtskraftfähigen!) Aussage des Leistungsurteils, dass der Beklagte eine aus diesem Rechtsverhältnis erwachsene Pflicht zu erfüllen hat.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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befasste Gericht befindet auf diese Weise nicht über den Entstehungsgrund des mit der Leistungsklage verfolgten Anspruchs, sondern über die Grundlage solcher Ansprüche, die im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zum Gegenstand eines Rechtsstreits gemacht worden waren. 338 Als Beispiel sei der Fall angeführt, dass unter den Parteien verschiedene kaufvertragliehe Ansprüche streitig sind, der Klage des Verkäufers auf einen von ihnen, nämlich der Zahlung des Kaufpreises stattgegeben und im später anhängig gemachten Prozess 339 die Nichtigkeit des Kaufvertrags festgestellt wird: Um einander ausschließende Aussagen über das Bestehen des Anspruchs auf Zahlung des Kaufpreises zu vermeiden, ist er aus dem Feststellungsantrag "auszuklammern". (a) Die in die Urteilsformel aufgenommene Einschränkung hat indessen zur Folge, dass eine gespaltene Aussage über ein einheitliches, kraft des Feststellungsurteils rechtskräftig bejahtes oder verneintes Rechtsverhältnis getroffen wird. Dieser Gesichtspunkt hat indessen nichts mit der Unvereinbarkeit der rechtskraftfähigen Aussagen zu tun, lässt sich mithin nicht aus dem Einwand der anderweitigen Rechtshängigkeit ableiten, sondern weist auf einen weiter gefassten Ansatz der "Entscheidungsharmonisierung": Die gemeinsame Grundlage von bereits anhängigen und noch nicht anhängigen Ansprüchen soll einheitlich beurteilt werden?40 Dementsprechend ist in diesen Gestaltungen nach § 148 ZPO nicht das später anhängig gemachte Ver337 Die Rechtskraft des Leistungsurteils erstreckt sich auf den zu- oder aberkannten Anspruch einschließlich seiner rechtlichen Grundlage (siehe oben III.2.b), Seite 70 ff.), nicht jedoch auf die isolierte Aussage über das Bestehen oder Nichtbestehen des zugrundeliegenden Rechtsverhältnisses selbst! 338 Über die - im Verhältnis zum Leistungsantrag weiterreichende - Feststellungsklage ist also mit der Einschränkung zu urteilen, dass über die Berechtigung des mit der Leistungsklage verfolgten Anspruchs nicht zu befinden ist. Die Urteilsformel würde dementsprechend mit der Wendung: .. Unbeschadet der Entscheidung in dem Verfahren ... . " beginnen. Siehe dazu bereits oben III.2.b)aa), Seite 73 f. (insbesondere Fußnote 270) und Fußnote 47. Solange über die Leistungsklage noch nicht rechtskräftig entschieden ist, geht die eingeschränkte Feststellung nicht zu Lasten des Feststellungsklägers im Sinne des § 91 ZPO: Es ist nicht auszuschließen, dass der Leistungsklage aufgrund einer Norm stattgegeben wird, die das Bestehen des streitigen Rechtsverhältnisses nicht voraussetzt. Eine Pflicht des mit der Feststellungsklage befassten Gerichts, bis zur Entscheidung über die Leistungsklage zuzuwarten, besteht indessen nicht: Es hat das Urteil über den Feststellungsantrag kraft seiner Prozessförderungspflicht zu fällen, sobald die Gefahr unvereinbarer Urteile auszuschließen ist. 339 Die Klagen können bei verschiedenen Gerichten anhängig sein, wenn der allgemeine Gerichtsstand (§§ 12 f. ZPO) und der Gerichtsstand des Erfüllungsortes (§ 29 ZPO) nicht identisch sind. 340 Hierbei handelt es sich um die Gestaltungen, die A. Zeuner, Die objektiven Grenzen der Rechtskraft im Rahmen rechtlicher Sinnzusammenhänge, 1961, Seite 75, unter dem Begriff des "Ausgleichszusammenhangs" behandelt.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
fahren über die Feststellungsklage, sondern das über die Leistungsklage auszusetzen. Die gemeinsame Grundlage des mit der Leistungsklage verfolgten Anspruchs und weiterer Rechte bzw. Pflichten wird einheitlich geklärt, wenn der Feststellungskläger sein Begehren im bereits anhängigen Leistungsverfahren zum Gegenstand einer Inzidentwiderklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) macht. Hierzu kann er indessen nicht angehalten werden; andernfalls würde ihm ein Forum entzogen. Entscheidet er sich, ein anderes Gericht als das vom Leistungskläger gewählte anzurufen, geht er das Risiko ein, dass die Existenz des streitigen Rechtsverhältnisses in den verschiedenen Verfahren unterschiedlich beurteilt wird. Der Vorrang des später angestrengten Feststellungsprozesses, d. h. die Aussetzung des zuerst begonnenen Verfahrens über die Leistungsklage nach § 148 ZPO, rechtfertigt sich mithin aus dem praktischen Bedürfnis, verschiedene zwischen den Parteien streitige Rechte auf der Grundlage eines einheitlich beurteilten Rechtsverhältnisses zu bestimmen. Die Entscheidung über die Aussetzung der Leistungsklage steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts. Eine zwingende Pflicht zur Aussetzung anerkennt das Gesetz allerdings in Fällen, in denen das Rechtsverhältnis, aus dem verschiedene Rechte und Pflichten zwischen den Parteien erwachsen, einen personenrechtlichen Status betrifft (§§ 152 ff. ZPO). Hängt beispielsweise die Entscheidung im Unterhaltsrechtsstreit eines Kindes davon ab, ob ein Mann, dessen Vaterschaft im Wege der Anfechtungsklage angefochten wurde, sein Vater ist, so wird das Verfahren über die Unterhaltsklage auf Antrag ausgesetzt (§§ 153 i. V. m. 152 ZPO). Das Gericht kann die Anordnung der Aussetzung freilich wieder aufueben, wenn der (im Hinblick auf verschiedene subjektive Rechte) präjudizielle Rechtsstreit verschleppt und so der Erlass eines Leistungsurteils verzögert wird. Gegebenenfalls wird der Leistungsbeklagte zur Zahlung des Unterhalts verurteilt, obwohl zu einem späteren Zeitpunkt die verwandtschaftliche Beziehung zwischen ihm und dem Unterhaltskläger aufgehoben wird; ein Ergebnis, das vom Gesetz ausdrücklich in Kauf genommen wird. 341 Das Urteil im Anfechtungsprozess müsste hier "ungeachtet der bereits getroffenen Entscheidung im Verfahren über den Unterhaltsanspruch " ergehen. 342 341 Die Rechtskraft des Urteils über den Unterhalt bleibt auch bei entgegengesetztem Ausgang des Statusprozesses unberührt, eine Wiederaufnahme ist nicht möglich (HA. Musielak/Stadler, Zivilprozessordnung, 3. Auflage, 2002, § 155 Rdnr. 2) eine an sich unbegreifliche Konsequenz, die sich nur daraus erklären lässt, dass die Entscheidungsgründe nach heutiger Auffassung nicht in Rechtskraft erwachsen. 342 Zu der hier vorgeschlagenen Einschränkung der Urteilsformel siehe oben III.2.b)aa), Seite 73 f. (insbesondere Fußnote 270) sowie die Fußnoten 47 und 338.
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(b) Dass sich die Aussetzung des Verfahrens über die gemeinsame Grundlage mehrerer streitiger Rechte und Pflichten nicht kraft des Einwandes anderweitiger Rechtshängigkeit rechtfertigen lässt, ist bereits den Digesten zu entnehmen: Im römischen Zivilprozessrecht durfte der Beklagte dem Kläger unter bestimmten Voraussetzungen die Entscheidung des präjudiziellen Verhältnisses aufzwingen, um durch dessen Klärung Rechtsfrieden zwischen den Parteien eintreten zu lassen. Hierbei handelt es sich indessen nicht um die "exceptio rei iudicatae vel in iudicium deductae", sondern die "exceptio quod praeiudicium fundo (hereditati) non fiat", die "Einrede, dass das Eigentum am Grundstück (das Erbrecht) nicht vorweggenommen (nicht präjudiziert) werde." Als Beispiel sei ein Fragment aus dem 9. Buch der Questionen des Africanus angeführt343 : "Africanus libro nono quaestionum: Fundum Titianum possides, de cuius proprietate inter me et te controversia est, et dico praeterea viam ad eum per fundum Sempronianum, quem tuum esse constat, deberi. si viam petarn, exceptionem ,praeiudicium praedio non fiat' utilem tibi fore putavit, videlicet quod non aliter viam mihi deberi probaturus sim, quam prius probaverim fundum Titianum meum esse." "Africanus im 9. Buch der Fallentscheidungen: Zwischen dir und mir ist ein Rechtsstreit über das Eigentum am Titianischen Grundstück anhängig, das du im Besitz hast. Ich behaupte außerdem, dass mir ein Wegerecht zu diesem Grundstück zustehe, das über das unstreitig in deinem Eigentum stehende Sempronische Grundstück führt?44 Nehme ich in diesem Rechtsstreit das Wegerecht in Anspruch, sollst du nach Ansicht Julians (putavit) eine durchschlagende Einrede der Vorentscheidung über das Eigentum haben, weil ich den Beweis, dass ich das Wegerecht besitze, nämlich nicht anders als durch den Beweis des Eigentums am Titianischen Grundstück erbringen kann."
Die Entscheidung des Africanus zwingt den Laienrichter (den iudex), das Verfahren über das Wegerecht bis zur Entscheidung über die Eigentumsfrage aufzuschieben: "exceptio quod praeiudicium fundo non fiat . .. 345 Unterließ der Kläger, das vorgreifliche Verfahren zu betreiben oder verlor er den präjudiziellen Rechtsstreit, war die Klage über die Servitut abzuweisen. 343 Dig. 44. 1. 16. Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die vorgreifliche Klärung des Erbrechts bei einer Klage, die der Erbe gegen einen nach seiner Auffassung nicht berechtigten Käufer von Sachen der Erbschaft angestrengt hat, mit der er deren Herausgabe verlangt (Dig. 5. 3. 25. 17). 344 Der Kläger nimmt in den Begriffen des heutigen bürgerlichen Rechts das mit dem Eigentum des herrschenden Grundstücks als wesentlicher Bestandteil verbundene Wegerecht für sich in Anspruch (§ 1018 BGB bzw. §§ 917, 96 BGB). 345 Einrede, dass das vorgreifliche Rechtsverhältnis über das Eigentum am Grundstück nicht im anhängigen Prozess entscheiden werde; dazu K. Hackl, Praeiudicium im klassischen römischen Recht, 1975, Seite 105 ff.; Kaser/Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, § 33 V, Seite 249.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Der anhängige Rechtsstreit über das Bestehen des Wegerechts geht mithin trotz unterschiedlicher Streitgegenstände der Verfahren 346 - nicht über die vorgreifliche Frage des Eigentums an dem herrschenden Grundstück hinweg, deren Beantwortung der Richter etwa auf den abhängigen Rechtsstreit über die Servitut verschieben durfte, sondern wird bis zur Entscheidung über das Eigentum an dem herrschenden Grundstück ausgesetzt. Nach heutigem Verständnis verbindet die Streitigkeit über das Wegerecht
(§ 1018 BGB bzw. ein Notwegerecht nach § 917 BGB) einerseits und die Herausgabepflicht andererseits (§ 985 BGB) eine gemeinsame Voifrage, die
in keinem der bei den Prozesse rechtskräftig entschieden wird. 347 Aus diesem Grunde wäre nach überwiegender Ansicht die Aussetzung des Verfahrens über die Vindikation nach § 148 ZPO unzulässig. So heißt es in der Kommentierung von Zöller/Greger348 : "Voraussetzung für eine Aussetzung ist, daß die Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit ... vorgreiflich ist für die Entscheidung, die im auszusetzenden Verfahren ergehen soll. Dies ist nur der Fall, wenn im anderen Verfahren über ein Rechtsverhältnis entscheiden wird, dessen Bestehen für den vorliegenden Rechtsstreit präjudizielle Bedeutung hat. Das Rechtsverhältnis muB den Gegenstand des anderen Verfahrens bilden, darf dort nicht seinerseits Vorfrage sein."
Diese Einschränkung ist nicht überzeugend, weil der im vorliegenden Zusammenhang erörterte Aspekt der Entscheidungsharmonisierung gerade über die Identität der Streitgegenstände hinausreicht und dementsprechend nicht am Umfang der Rechtskraft der Entscheidungen teilnimmt. 349 Nach römischem Verständnis genießt mithin die "wichtigere", weil grundlegendere Klage den Vorrang vor der weniger gewichtigen; sie soll nicht "präjudiziert" werden. "Paulus libro primo sententiarum. per minorem causam maiori cognitioni praeiudicium fieri non oportet: maior enim quaestio minorem causam ad se trahit." "Paulus im ersten Buch der Meinungen der Rechtsgelehrten. Der Rechtsstreit über eine Frage von geringerem Gewicht darf nicht zu einer Vorentscheidung über die Hauptfrage führen: Die gewichtigere Frage muss vielmehr die weniger gewichtige in sich aufnehmen. ,,350 346 Dazu eingehend Hack!, Praeiudicium im klassischen römischen Recht, Seite 116 ff., insbesondere Seite 119. Nach den Quellen haben die römischen Juristen eine qualitative Teilidentität von Streitgegenständen nicht erwogen. 347 Zum Umfang der Rechtskraft eines Urteils über den Herausgabeanspruch siehe FuBnote 258. 348 Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 148 Rdnr. 5 (Hervorhebung durch Verf.) 349 Ob der Aspekt der Entscheidungsharmonisierung die Verbindung von verschiedenen Verfahren zwischen denselben Parteien, deren Entscheidung von derselben Vorfrage abhängt, auf europäischer Ebene nach Art. 22 EuGVÜ rechtfertigt, sei dahingestellt.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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(c) Ob diese römischrechtliche Auffassung, die von der Literatur des gemeinen Zivilprozessrechts mittels der "exceptio praeiudicii" aufgenommen wurde 351 , dem geltenden Recht zugrundegelegt werden könnte oder gar sollte, mag dahingestellt bleiben: Die Entscheidung ist jedenfalls unabhängig von der Frage zu fällen, ob der Feststellungsklage im Verhältnis zu einer früher erhobenen Leistungsklage stets der Vorrang gebührt, weil andernfalls Urteile gefällt werden könnten, die bezogen auf ihre rechtskraftfähigen Aussagen in unvereinbarem Gegensatz stünden. (d) Diese Frage ist, um die bisherigen Erkenntnisse zusammenzufassen, zu verneinen: Die später erhobene Feststellungsklage genießt im Verhältnis zu der früher erhobenen Leistungsklage keinen zwingenden Vorrang. Zielt der Feststellungsantrag nur darauf, die Nichtexistenz des Anspruchs festzustellen, der den Gegenstand der Leistungsklage bildet, ist die Feststellungsklage dauerhaft unzulässig und dementsprechend ohne weiteres Zuwarten abzuweisen. Bezieht sie sich auf die Feststellung, dass der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch nicht auf eine bestimmte Rechtsgrundlage (etwa ein Vertragsverhältnis) zu stützen ist, mangelte es der Klage nach rechtskräftigem Abschluss des Leistungsprozesses352 am Rechtsschutzbedürfnis; sie ist aus diesem Grunde gleichfalls abzuweisen. Die Aussetzung des Verfahrens über die Feststellungsklage ist schließlich nicht geboten, wenn es um die Feststellung eines Rechtsverhältnisses geht, aus dem verschiedene zwischen den Parteien streitige Ansprüche zwischen den Parteien entstehen könnten: Die Gefahr, dass miteinander unvereinbare Urteile gefällt werden könnten, kann durch die Einschränkung der Urteilsformel ausgeschlossen. Die Aussetzung des Verfahrens über die zuerst erhobene Leistungsklage bis zur Entscheidung über die später angebrachte Feststellungsklage folgt nicht aus der Rechtshängigkeitseinrede, sondern lässt sich nur mit der HarDig. 5. 1. 54. Wollte man diese Rechtsauffassung in ihrer sehr allgemeinen Formulierung dem geltenden Recht zugrundelegen, wäre die Aussetzung solcher Verfahren nach § 148 ZPO in Betracht zu ziehen, in denen über Ansprüche zu entscheiden ist, die in ihrer Entstehung oder in ihrem Erläschen von dem Rechtsverhältnis abhängen, welches den Gegenstand des anderen Rechtsstreits bildet. Als Beispiel führe ich den Fall an, dass der Gläubiger eines Darlehens bei verschiedenen Gerichten gegen den Hauptschuldner und den Bürgen vorgeht: Das Gericht, das über die Verpflichtung des Bürgen zu entscheiden hat, könnte das Verfahren aussetzen, bis rechtskräftig über das Bestehen die Verbindlichkeit des Hauptschuldners entschieden worden ist. 351 Zur Rangordnung der Verfahren ausführlich, jedoch ohne eine vom römischen Recht abweichende Stellungnahme, Wetzell, System des ordentlichen Civilprocesses, 3. Auflage, § 64: "Die durch die Abhängigkeit einer Klage von einer anderen begründete Ordnung der Cognition". 352 Bis zu diesem Zeitpunkt müsste das später angestrengte Verfahren ausgesetzt werden. 350
7 Wemecke
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
monlSlerung von Entscheidungen über ihre rechtskraftfähige Aussage hinaus rechtfertigen. cc) Die Ausnahmen vom Grundsatz der zeitlichen Priorität Der Vorrang des zeitlich früher anhängig gemachten Verfahrens lässt sich nicht rechtfertigen, wenn eines von ihnen auf eine besonders zügige Entscheidung ausgerichtet ist. Diesen Zweck verfolgt der Urkunden- und Wechselprozess: Es räumt dem Leistungskläger353 die Möglichkeit ein, schneller als im ordentlichen Verfahren einen vollstreckbaren Titel zu erlangen. 354 Diese Beschleunigung wird durch den Ausschluss der Widerklage (§ 595 Abs. 1 ZPO) und vor allem durch die Beschränkung der Beweismittel auf präsente Urkunden und die Parteivernehmung (§§ 592, 593 Abs. 2, 595 Abs. 2 und 3 ZPO) erreicht. Da die Aussetzung eines Urkunden- und Wechselprozesses einer zügigen Entscheidung zuwiderliefe, hat der Grundsatz der zeitlichen Priorität zurückzutreten. (1) Aus diesem Grunde verdient ein Urteil des Reichsgerichts aus dem Jahre 1888355 - freilich nur im Ergebnis! - Zustimmung, dem folgender Sachverhalt zugrundelag: Der Kläger verlangte von der Beklagten im Urkundenprozess die Zahlung seines jährlichen Gehalts von 6.000 Mark. Die Beklagte erhob die Einrede der Rechtshängigkeit, weil sie den Kläger fast ein Jahr zuvor gerichtlich auf Feststellung in Anspruch genommen hatte, dass er als Repräsentant und Betriebsdirektor mit Recht seines Dienstes enthoben und daher nicht mehr befugt sei, aus dem Vertrag Ansprüche auf jährlich 6.000 Mark zu erheben. Da dieses Verfahren noch anhängig sei, so argumentierte die Beklagte, dürfe über die Zahlungsklage nicht entschieden werden.
Das Reichsgericht verwarf den auf die Feststellungsklage gegründeten Einwand der Rechtshängigkeit und führte zur Begründung aus 356 : "Mit der dem Urkundenprozesse vorausgehenden, von der Beklagten angestellten negativen Feststellungsklage werden anticipando die Einwendungen geltend gemacht, deren Ausführungen in dem im Urkundenprozesse ergehenden Urteile vorbehalten werden müßte. Erreicht der Kläger durch die Feststellungsklage ein den Anspruch des Gegners verneinendes rechtskräftiges Urteil, bevor im Urkundenprozesse gegen ihn geklagt wird, so gewinnt er damit allerdings für den Urkundenprozeß eine die Klage beseitigende Einrede. Kann er sich aber nur darauf be353 Der Urkunden-, Wechsel- und Scheckprozess beschränkt sich, seiner Aufgabe entsprechend, auf Leistungsklagen (§ 592 ZPO und Blomeyer, Zivilprozeßrecht Erkenntnisverfahren, 2. Auflage, § 116 I 1). 354 Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Vor § 592 Rdnr. 1 m. W.N. 355 RGZ 21, Seite 392. 356 A.a.O, Seite 393 f. (Hervorhebungen durch Verf.).
2. Die Identität der Streitgegenstände
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rufen, daß er im ordentlichen Verfahren seinen Widerspruch gegen den im Urkundenprozesse erhobenen Anspruch durch Anstellung der Feststellungsklage bereits geltend gemacht habe, so kann er daraus keinen Einwand zur Abwehr eines ihn vorläufig verurteilenden, zur Zwangsvollstreckung geeigneten Urteiles entnehmen, da die Frage, ob seinem Gegner ein Recht auf Erwirkung eines solchen Urteiles zusteht, durch die Anstellung der Feststellungsklage nicht rechtshängig geworden ist. ... Wollte man in einem solchen Falle die Einrede der Rechtshängigkeit für begründet erachten, so würde ... jeder Wechselschuldner durch entsprechende, kurz vor Verfall des Wechsels angestrengte negative Feststellungsklage die Wechselklage beseitigen und den Wechselgläubiger dadurch der ihm durch das Gesetz gewährten Vorteile der Wechselklage berauben können." Das Reichsgericht verneint die Identität der Streitgegenstände, um dem Kläger eine bestimmte Rechtsschutzform zu gewähren, auf deren Vorteile er sonst verzichten müsste. Diese Argumentation vermag schon deshalb nicht zu überzeugen, weil das Gericht selbst betont, dass ein rechtskräftiges, der Klage stattgebendes Feststellungsurteil die spätere Zahlungsklage unzulässig gemacht hätte - und zwar, so lässt sich nur schließen, aus dem Gesichtspunkt der entgegenstehenden Rechtskraft. Demzufolge hatten die Prozesse eben doch denselben Streitgegenstand! Diese Erkenntnis hätte allerdings die Frage nach den Folgen der Rechtshängigkeit der Feststellungsklage aufgeworfen, und der Verdacht liegt nahe, dass das Gericht ihr geradezu intuitiv auswich, weil es nach seinem Verständnis die dauernde Unzulässigkeit des später angestrengten Verfahrens über die Klage aus dem Wechsel hätte aussprechen müssen. Auf diese Weise zäumt das Gericht, bildlich ausgedrückt, das Pferd am Schwanze auf: Um die Klage im Urkundenprozess nicht für unzulässig erklären zu müssen, verneint es die Identität der Streitgegenstände! Stattdessen wäre es gehalten gewesen, die mit der Einrede der Rechtshängigkeit verbundene Folge in Zweifel zu ziehen und der Klage im Urkundenprozess wegen ihres besonderen Zwecks den Vorrang einzuräumen. (2) Dasselbe gilt für eine im Urkundenprozess erhobene Klage aus einer Hypothek357 : Die Klägerin hatte den Teilbetrag von 30.000 Mark einer hypothekarisch gesicherten Forderung in Höhe von 160.000 Mark im Urkundenprozess geltend gemacht. 358 Der Beklagte erhob die Einrede der Rechtshängigkeit mit der Begründung, dass er in einem anderen, zwischen den Parteien in umgekehrter Parteirolle anhängigen Verfahren die Minderung des durch die Hypothek gesicherten Kaufpreises um den gleichen Betrag und die Löschung eines entsprechenden Teils der Hypothek verlangt habe. Das Reichsgericht wies die Einrede zurück; die Ansprüche auf "BezahLung einer Teilhypothek einerseits und der Bewilligung der Löschung andererseits" seien "begrifflich verschieden". 359 357 358 7*
RGZ 54, Seite 49 (aus dem Jahre 1903). Der genaue Antrag ist der angeführten Entscheidung nicht zu entnehmen.
100
III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Im Anschluss an dieses Argument nennt das Gericht den entscheidenden Gesichtspunkt gegen die (zumindest vorübergehende) Unzulässigkeit des später angestrengten Urkundenprozesses 36o: "Letzterer (gemeint ist der Urkundenprozess) soll dem Gläubiger dazu verhelfen, seine urkundlich nachgewiesene Forderung in einem beschleunigten Verfahren vor Erledigung der Sache im ordentlichen Rechtsgange zur Vollstreckung zu bringen. Dieser Zweck würde aber ... vereitelt werden, wenn es im Belieben des Schuldners stünde, der erwarteten Klage des Gläubigers mit der Erhebung einer das Nichtbestehen der Forderung behauptenden Feststellungs- oder Leistungsklage zuvorzukommen und mittels der auf diese Weise gewonnenen Rechtshängigkeitseinrede den Urkundenprozeß lahmzulegen." Dem Reichsgericht ist lediglich im Ergebnis beizupflichten. Der Zweck des Urkundenprozesses rechtfertigte den Vorrang der später anhängig gemachten Leistungsklage trotz identischer Streitgegenstände361 , und die zu einem früheren Zeitpunkt angestrengte Klage auf Löschung eines Teilbetrags der Hypothek war wegen nachträglich eingetretener anderweitiger Rechtshängigkeit zumindest vorübergehend unzulässig. (3) Die anhand der reichsgerichtlichen Urteile entwickelte Erkenntnis gestattet eine Verallgemeinerung: Räumt das Gesetz einer Partei das Recht ein, eine Leistungsklage beschleunigt auf beschränkter Tatsachengrundlage zu betreiben, so darf diese Befugnis nicht dadurch aufgehoben werden, dass die Gegenpartei zu einem früheren Zeitpunkt einen Rechtsstreit angestrengt hat, in dem der gesamte Tatsachenstoff verhandelt werden kann. Klagt beispielsweise der frühere Besitzer einer Sache auf deren Herausgabe mit der Begründung, der andere Teil habe die Herrschaft über sie kraft verbotener Eigenrnacht erlangt (§ 861 BGB)362, so ist die vom anderen Teil zu einem 359 360
A. a. 0., Seite 5I. A. a. 0., Seite 52.
361 Die beiden Klagen machten konträre Rechtsfolgen geltend (siehe dazu Fußnote 82). 362 Stützt der Kläger sein Herausgabeverlangen auf den Gesichtspunkt der verbotenen Eigenrnacht, so ist er nicht gehindert, sein Rechtsbegehren gleichzeitig mit petitorischen Ansprüchen (insbesondere aus § 985 BGB) zu begründen (Palandtl Bassenge, 61. Auflage, § 861 Rdnr. 6). Gelingt es ihm nicht, die verbotene Eigenrnacht durch den Beklagten zu beweisen, ist er hierzu sogar verpflichtet: Die Parteien haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig (§ 138 Abs. 1 ZPO) und frühzeitig (§ 282 Abs. 1 ZPO) abzugeben; eine Ausnahme ist allenfalls im Hinblick auf solche Tatsachen anzuerkennen, die eine alternative Rechtsgrundlage (etwa den bereicherungsrechtlichen Wertersatzanspruch anstelle des Anspruchs auf die vertraglich vereinbarte Gegenleistung) schaffen. Da die Herausgabeansprüche aus § 861 BGB und § 985 BGB auf eine einzige Rechtsfolge zielen und daher in der Hand des Berechtigten nicht nebeneinander bestehen (kumulieren), ist von einem einheitlichen Streitgegenstand auszugehen (zutreffend Palandt/Bassenge, 61. Auflage, § 861 Rdnr. 2 und 17 m. w. N.; a. A. Zöller/ Vollkommer, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Einleitung Rdnr. 70 m. w. N.).
2. Die Identität der Streitgegenstände
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früheren Zeitpunkt angestrengte Klage, mit der dieser die Feststellung beantragt, kraft seines Eigentums nicht zur Herausgabe der betreffenden Sache verpflichtet zu sein, (zumindest vorübergehend) unzulässig: In dem Feststellungsverfahren würde das bessere Recht des Klägers zum Besitz (etwa sein Eigentum) erörtert werden; dies soll aber bezogen auf den Anspruch des früheren Besitzers wegen verbotener Eigenmacht gerade außer Betracht bleiben (§ 863 BGB)?63 Die gleichzeitige Entscheidung über die Leistungs- und die Feststellungsklage vermag der Feststellungskläger hier nur dadurch zu erreichen, dass er sein Begehren im Wege der Widerklage verfolgt, § 256 Abs. 2 ZPO?64 Gibt das Gericht der Herausgabeklage nicht auf der Grundlage des § 861 BGB, sondern des § 985 BGB statt, hat es die Unzulässigkeit der Feststellungswiderklage auszusprechen, weil deren Begehren, nicht zur Herausgabe verpflichtet zu sein, nicht über den (erfolglosen) Antrag auf Abweisung der Herausgabeklage hinausreicht. 365 (4) Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Grundsatz des Vorrangs der früher erhobenen Klage eine Ausnahme erleidet, sofern das später angestrengte Verfahren über eine Leistungsklage auf eine besonders rasche Entscheidung zielt, die zu diesem Zweck auf beschränkter Tatsachengrundlage zu fällen ist. Die beschleunigte Durchführung des späteren Verfahrens darf durch die früher angestrengte Klage nicht in Frage gestellt werden.
363 Der Feststellungsklage mangelt es nicht von vornherein am Rechtsschutzbedürfnis: Das mit ihr geltend gemachte "bessere Recht zum Besitz" kann im Leistungsverfahren nicht als Einwendung vorgebracht werden kann, sofern das Gericht dem Antrag auf Herausgabe kraft der possessorischen Norm (§ 861 BGB) stattgibt. In diesem Falle ist über das Feststellungsbegehren sachlich zu entscheiden, wobei das stattgebende Urteil weder das kontradiktorische noch das konträre Gegenteil des Leistungsbefehls ausspräche. Die Vollstreckung des stattgebenden Leistungsurteils ist freilich bezogen auf den Ausspruch zur Hauptsache (nicht bezogen auf die Kostenentscheidung!) aus dem Gesichtspunkt des treuwidrigen Verhaltens ("dolo facit qui petit quod statim redditurus est") ausgeschlossen (a. A. PalandtlBassenge, 61. Auflage, § 863 Rdm. 3 m. w. N.). Bejaht das mit der Leistungsklage angerufene Gericht rechtskräftig den Herausgabeanspruch des Klägers auf der Grundlage des § 985 BGB, so ist gleichzeitig über das Feststellungsbegehren entschieden; die Feststellungsklage ist abzuweisen. 364 Palandt/Bassenge, 61. Auflage, § 863 Rdm. 3. 365 Siehe dazu sogleich unter III.2.e)dd)(1)(b), Seite 103.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
dd) Die Widerklage als Gewähr für einheitliche und zügige Entscheidungen bei teilweise oder vollständig identischen Streitgegenständen Ist dem Feststellungskläger an einer einheitlichen Beurteilung des streitigen Rechtsverhältnisses oder dem Leistungskläger an einer möglichst zügigen Entscheidung seines Begehrens gelegen, so ist dem Feststellungs- bzw. dem Leistungskläger in der Regel die Möglichkeit gegeben, in dem bereits laufenden Verfahren eine Widerklage auf Feststellung oder Leistung zu erheben. Das Opfer, das er hierfür gegebenenfalls zu erbringen hat, ist der Verzicht auf die Wahl eines von ihm bevorzugten Gerichtsstandes. Die Widerklage kann nicht im Urkunden- und Wechselprozess erhoben werden; andernfalls würde der Zweck dieses Verfahrens: die besonders zügige Herbeiführung einer vorläufigen Entscheidung366 , gefahrdet. Die Erhebung einer Widerklage setzt in diesen Gestaltungen den Grundsatz der zeitlichen Priorität außer Kraft, weil durch die "Verbindung" der Verfahren keine Gefahr besteht, dass miteinander unvereinbare Urteile erlassen werden. (1) Dem Feststellungskläger ist die Erhebung einer Widerklage kraft der Bestimmung des § 256 Abs. 2 ZPO ausdrücklich gestattet. Er kann sie als Beklagter der Leistungsklage im rechtshängigen Verfahren bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung mit dem Ziel anstrengen, dass das zwischen den Parteien der Leistungsklage streitige Rechtsverhältnis367 durch richterliche Entscheidung festgestellt werde. (a) Die Feststellungswiderklage ist freilich nach allgemeiner Ansicht unzulässig, wenn es sich bei dem streitigen Rechtsverhältnis um nichts anderes als um den mit der Hauptklage verfolgten Anspruch handelt?68 Nach Siehe dazu oben III.2.e)cc), Seite 98 ff. Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss das Rechtsverhältnis im Laufe des Prozesses streitig geworden sein. Nach allgemeiner Ansicht genügt es indessen, dass das Rechtsverhältnis im Zeitpunkt der Erhebung der Zwischenklage streitig ist (RGZ 113, Seite 410, 413; 150, Seite 189, 191; 170, Seite 329, 330; Rosenberg/ SchwabIGottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 98 III 3 d, Seite 559. 368 RGZ 126, Seite 234, 237; 144, Seite 54, 58; Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 256 Rdnr. 26 m. w. N. Etwas anderes gilt, wenn mit der Hauptklage mehrere Ansprüche verfolgt werden, und zwar selbst dann, wenn es sich um sämtliche zwischen den Parteien streitigen Rechte handeln sollte: Hier besteht die (freilich eher theoretische) Möglichkeit, dass über die verschiedenen Ansprüche durch Teilurteile erkannt wird, in deren Begründung die Existenz des Rechtsverhältnisses, aus dem die einzelne Befugnisse und Pflichten erwachsen sein sollen, unterschiedlich beurteilt wird (RGZ 144, Seite 54, 59 f.; Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 256 Rdnr. 26 m. w. N.). Siehe dazu bereits Fußnote 99 und sogleich unter (b). 366
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2. Die Identität der Streitgegenstände
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der hier vertretenen Ansicht ergibt sich die Unzulässigkeit aus der vollständigen Identität der Streitgegenstände: Stellt das festzustellende Rechtsverhältnis lediglich den Anspruch dar, der mit der Leistungsklage verfolgt wird, so verlangt der Feststellungskläger den Ausspruch des kontradiktorischen Gegenteils dessen, was der Leistungskläger begehrt?69 Der im Tenor des Urteils enthaltenen Leistungsbefehl besagt, dass vom Bestehen des klageweise geltend gemachten Anspruchs auszugehen ist. 37o Das klagabweisende Urteil gestattet den gegenteiligen Schluss. Dementsprechend ist über den Feststellungsantrag nicht zu befinden. (b) Die Widerklage ist mithin nur zulässig, wenn der Feststellungskläger ein Bedürfnis geltend machen kann, das nicht allein durch das Urteil im Leistungsprozess befriedigt würde?7! Dieses ist der Fall, wenn entweder mit der Hauptklage mehrere Ansprüche verfolgt werden oder nach dem Vortrag des Feststellungswiderklägers nicht auszuschließen ist, dass zwischen den Parteien außergerichtlich noch andere als die mit der Hauptklage verfolgten Ansprüche im Streit sind. 372 Einer Entscheidung über die Feststellungsklage bedarf es freilich nicht, um den Erlass von Leistungsurteilen zu verhindern, deren rechtskraftfähige Inhalte in unvereinbarem Gegensatz zueinander stehen könnten. Die Entscheidung über die Hauptklage beinhaltet keine bindende Aussage über die Existenz des Rechtsverhältnisses, aus dem die Befugnisse des Klägers erwachsen könnten?73 Die Zwischenfeststellungswiderklage rechtfertigt sich, mit einer anderen Wendung ausgedrückt, nicht aus der Gefahr miteinander unvereinbarer Urteile über mehrere Leistungsklagen. 369 Dass als festzustellendes Rechtsverhältnis auch ein einzelner Anspruch in Frage kommt, ist allgemein anerkannt. Siehe dazu bereits Fußnote 88. 370 Zum Leistungsbefehl des Urteils Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Auflage, § 92 I I, Seite 510. 371 RGZ 144, Seite 54, 59; 170, Seite 330, BGHZ 69, Seite 37, 42; Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, § 256 Rdnr. 26. 372 Eine solche Gestaltung lag einem Beschluss des OLG München aus dem Jahre 1909 (OLGZ 21 [1910], Seite 62 f.; siehe dazu bereits Fußnote 265), zugrunde: Der Leistungskläger hatte die Herausgabe von Sachen verlangt, die ihm zur Sicherheit übereignet worden waren. Der Feststellungswiderkläger hatte beantragt, die Nichtigkeit der Verträge festzustellen, auf die sich die Klage stützte, wollte mithin die "Unwirksamkeit der aufgrund dieser Verträge zur Sicherung der Forderungen des Klägers erfolgten Übereignung jener Sachen und einer zum gleichen Sicherungszweck abgetretenen Forderung zu 16.000 Mark dartun" (Hervorhebung durch Verf.). 373 Das Urteil, das der Klage auf Zahlung des Kaufpreises stattgibt, steht bezogen auf seine rechtskraftfähige Aussage (sie!) nicht in unvereinbarem Gegensatz zur späteren Abweisung des Anspruchs des Verkäufers auf Zahlung von Verzugszinsen (§§ 280 Abs. 2 i. V. m. 286 BGB) mit der Begründung, ein Kaufvertrag sei nicht zustande gekommen.
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III. Der nationale Begriff vom "Streitgegenstand"
Anerkennt das Gesetz trotz Rechtshängigkeit des Leistungsprozesses das Interesse des Feststellungsklägers an einer einheitlichen Entscheidung über das Rechtsverhältnis, aus dem die verschiedenen Ansprüche der Gegenpartei erwachsen sein könnten, so geschieht dies aus dem übergeordneten Gesichtspunkt der "Entscheidungsharmonisierung". Die gemeinsam mit der Leistungsklage verhandelte Feststellungswiderklage hat dementsprechend eine weiterreichende Wirkung als die isoliert und im Nachgang zu einer Leistungsklage erhobene Feststellungsklage, über die unabhängig vom Leistungsverfahren nur unter Verwendung einer eingeschränkten Urteilsformee 74 entschieden werden darf. Diese Erkenntnis steht durchaus im Einklang mit der Entstehungsgeschichte der in § 256 Abs. 2 ZP0375 getroffenen Regelung: Wie den Materialien zur Civilprozeßordnung zu entnehmen ist376 , wollten sich die Gesetzesverfasser mehrheitlich einerseits von der Savignyschen Theorie lösen, nach der auch die Entscheidungsgründe in Rechtskraft erwachsen, andererseits aber den Parteien den Parteien ein Mittel an die Hand geben, vermöge eines "besonderen Willensaktes" einen ähnlichen Erfolg herzustellen. 377 (c) Ich fasse zusammen: Die (negative) Zwischenfeststellungswiderklage ermöglicht im Unterschied zur isoliert angestrengten Feststellungsklage die einheitliche Entscheidung über das Bestehen eines Rechtsverhältnisses, aus dem die mit der Hauptklage geltend gemachten Ansprüche erwachsen könnten. Der Beklagte des Leistungsverfahrens hat mithin abzuwägen, ob ihm mehr an einer einheitlichen Beurteilung dieses Rechtsverhältnisses liegt dann hat er die Zwischenfeststellungsklage anzustrengen - oder ob er das Verfahren bei einem anderen als dem mit der Leistungsklage angerufenen Gericht anhängig machen möchte; in diesem Fall hat er den Nachteil in Kauf zu nehmen, dass sein Begehren unter "Ausgrenzung" der Entscheidung im Leistungsverfahren beschieden wird. (2) Hat die Priorität der früher erhobenen Feststellungsklage die Aussetzung des Verfahrens über die später angestrengte und damit vorübergehend unzulässige Leistungsklage zur Folge, so kann die Wiedereröffnung der Verhandlung mit erheblichen zeitlichen Verzögerungen verbunden sein. Will der Kläger des "Zweitverfahrens" diese Verzögerungen vermeiden, so ist es ihm in der Regel 378 möglich, den "Erstkläger" im Wege einer Widerklage auf Leistung in Anspruch zu nehmen. Um dieses Vorteils willen muss er 374 Die Urteilsformel müsste in diesem Falle lauten: "Ungeachtet der Entscheidung in dem Verfahren ... ". Siehe oben III.2.b)aa), Seite 73 f. (insbesondere Fußnote 270) sowie die Fußnoten 338 und 47. 375 § 253 CPO a. F. 376 Ich verweise auf das in Fußnote 263 angeführte Zitat. 377 Oertmann, Zeitschrift für deutschen Civilprozess, Band 22 (1896), Seite 11 f.
2. Die Identität der Streitgegenstände
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freilich auf die Erhebung der Klage bei einem anderen, gleichfalls zuständigen Gericht verzichten. Die (teilweise oder ausnahmsweise vollständige) Identität einer Feststellungs- und einer Leistungswiderklage macht die Leistungsklage nicht unzulässig: Die Gefahr einander widersprechender Urteile darf bei gleichzeitiger Verhandlung und Entscheidung kontradiktorischer oder konträrer Anträge als ausgeschlossen gelten. Die Zulässigkeit einer Widerklage trotz Identität des Streitgegenstandes ist demgemäß in § 19 Abs. 1 GKG anerkannt. 379 (3) Die Widerklage gewährleistet einheitliche und zügige Entscheidungen bei teilweise oder vollständig identischen Streitgegenständen, zwingt den Widerkläger jedoch zum Verzicht auf einen anderweitig eröffneten Gerichtsstand. Sie setzt den bei konkurrierenden Klagen geltenden den Grundsatz der zeitlichen Priorität außer Kraft: Die Gefahr miteinander unvereinbarer Urteile ist kraft der gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung der Verfahren beseitigt.
378 Eine Ausnahme gilt beispielsweise für den Urkunden- und Wechselprozess (§ 595 Abs. 1 ZPO: Unzulässigkeit einer Leistungswiderklage); siehe dazu oben III.2.e)cc), Seite 98 ff. 379 Der Wortlaut dieser Vorschrift ist oben III.2.e)aa)(2)(b), Seite 90, wiedergegeben.
IV. Der Vergleich zwischen dem nationalen Begriff des "Streitgegenstandes" und dem europäischen Begriff des "Anspruchs" - eine Bilanz 1. Der Europäische Gerichtshof hat in den Verfahren Gubisch ./. Palumbo und Tatry . /. Maciej Rataij entschieden, dass bei Umkehrung der Parteirollen die Leistungs- und die negative Feststellungsklage denselben "Anspruch" betreffen und die zeitlich frühere den Vorrang vor der später angestrengten Klage genießt. In beiden Prozessen reichte der Feststellungsantrag nicht weiter als der Leistungsantrag: In der Sache Gubisch ./. Palumbo begehrte der Beklagte und Feststellungskläger bei verständiger Deutung seines Antrags die Feststellung, dass er den mit der Leistungsklage geltend gemachten Kaufpreis für eine Hobelmaschine nicht zu zahlen habe, und in der Sache Tatry ./. Maciej Rataj ging der Schadensersatzklage von Eigentümern der Ladung die Feststellungsklage des Schifffahrtsunternehmens voraus, für die angebliche Verunreinigung der Ladung nicht oder zumindest nicht in vollem Umfang haftbar zu sein. 2. Nach der hier vertretenen Auffassung fielen die Urteile nach deutschem Prozessrecht im Ausgangspunkt nicht anders aus: a) Die Identität der zwischen den Parteien streitigen "Ansprüche" lässt sich auch nach der deutschen prozessualen Lehre vom "Streitgegenstand" nicht allein anhand des Klageantrags oder eines "einheitlichen Lebenssachverhalts" ermitteln; sie ist vielmehr danach zu beurteilen, ob die Parteien auf der Grundlage (zumindest teilweise) derselben Tatsachen um die Anwendung derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Vorschriften streiten. Können die in beiden Verfahren streitigen Rechtsfolgen nebeneinander bestehen (kumulieren), so ist die Identität der Streitgegenstände zu verneinen. Im Fall Gubisch . /. Palumbo bezog sich die Auseinandersetzung allein auf den aus § 433 Abs. 2 BGB abzuleitenden Anspruch auf den Kaufpreis einer Maschine. In der Sache Tatry . /. Maciej Rataj stritten sich die Parteien um die Anwendung solcher Normen, die (gegebenenfalls miteinander konkurrierend) den Schadensersatzanspruch der Eigentümer der Ladung hätten begründen können.
IV. Der Vergleich zwischen "Streitgegenstand" und "Anspruch"
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b) Die Leistungs- und die negative Feststellungsklage sind im Grundsatz gleichwertig. Der Vorrang einer von ihnen kann nur aus verfahrensrechtlichen Gründen gerechtfertigt sein. c) Die nach der Leistungsklage erhobene negative Feststellungsklage ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit (sic!) unzulässig, wenn sie nur das Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs zum Gegenstand hat. Hier ist von einer vollständigen Identität der verschiedenen Rechtsbegehren auszugehen: Die Entscheidung über die Leistungsklage nimmt - gleichgültig, wie sie ausfallt - das Urteil über die Feststellungsklage vorweg. d) Die nach der negativen Feststellungsklage erhobene Leistungsklage ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit gleichfalls - zumindest vorübergehend - unzulässig, sofern der Feststellungskläger nur das Nichtbestehen desjenigen Anspruchs festgestellt wissen will, der mit der Leistungsklage verfolgt wird. Der Gegenstand der konkurrrierenden Klagen ist hier freilich nur teilweise identisch, wenn die Abweisung des Feststellungsbegehrens die Entscheidung über den Leistungsantrag zwar dem Grunde, nicht aber der Höhe nach vorwegnimmt. Die dem Europäischen Gerichtshof vorgelegten Rechtsstreitigkeiten gaben keinen Anlass, sich mit den verschiedenen Formen der Teilidentität von "Ansprüchen" zu befassen. e) Wird die negative Feststellungsklage abgewiesen, ist dem Leistungskläger das Recht auf einen vollstreckbaren Titel einzuräumen. Nach deutschem Prozessrecht ist das Verfahren über die Leistungsklage bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Feststellungsbegehren auszusetzen, § 148 ZPO. Ist die Feststellungsklage erfolgreich, ist die Leistungsklage auf Dauer unzulässig. 3. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes begründen mithin nicht, um eine Formulierung von Rüßmann 380 aufzunehmen, die Notwendigkeit, "die für das nationale Recht vertretenen Streitgegenstandslehren anzupassen ". Es bedarf auch keiner " Übernahme der Kernpunkttheorie " in das deutsche Recht, wie sie beispielsweise Gottwald381 fordert. Vielmehr geben die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs Anlass, die deutschen Auffassungen vom Streitgegenstand auf den sie verbindenden - sachlichrechtlichen - Kern zurückzuführen. 4. Während nach deutschem Recht die Möglichkeit besteht, das Verfahren über die später anhängig gemachte Leistungsklage bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die negative Feststellungsklage auszusetzen (§ 148 ZPO), hat sich das im europäischen Rahmen später angerufene Gericht 380 381
In: ZZP 111, Seite 399 (siehe bereits Fußnote 169). In: Akademisches Symposium zu Ehren von Schwab, Seite 85, 94.
108
IV. Der Vergleich zwischen "Streitgegenstand" und "Anspruch"
nach Art. 21 EuGVÜ für unzuständig zu erklären, sobald die Zuständigkeit des sog Erstgerichts feststeht. Damit wird die europäische Regelung - im Gegensatz zur deutschen Bestimmung des § 148 ZPO - den Interessen des Leistungsklägers im Hinblick auf die Unterbrechung der Verjährung seiner Ansprüche oder die Voraussetzungen einer verschärften Haftung der Gegenpartei nicht gerecht; zum Schutze seiner Interessen ist eine Ergänzung des Art. 21 EuGVÜ um die Möglichkeit der Aussetzung zu erwägen.
v.
Die "Streitanhängigkeit" des österreichischen, die "litispendance" des französischen und die "lis alibi pendens" des englischen und US-amerikanischen Rechts
In einer rechts vergleichenden Übersicht sei abschließend untersucht, nach welchen Merkmalen die Prozessordnungen Österreichs, Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika die Identität einer Klage und ihre Abgrenzung zu anderen Klagen bestimmen. Die im Folgenden gegebene Übersicht schärfe den Blick des deutschen Juristen für die Methode und die Frucht der ausländischen Wissenschaft und Rechtsprechung, um auf diese Weise auch das eigene Recht besser zu erkennen. 1. Die Identität der Klage nach den Erkenntnissen des österreichischen Zivilprozessrechts
Die rechtsvergleichende Betrachtung beginne mit den Ergebnissen der österreichischen Wissenschaft und Praxis, weil diese in der sprachlichen Darstellung, dem System der Begriffe und dem - für den österreichischen Wissenschaftler selbstverständlichen - Bemühen, die deutsche Lehre und Rechtsprechung für das eigene Fach fruchtbar zu machen 382 , dem deutschen Verfahrensrecht am nächsten stehen. a) Der Begriff des "Streitgegenstandes" als Kriterium der Abgrenzung eines anhängigen Verfahrens von konkurrierenden Streitigkeiten wird in der österreichischen Zivilprozessordnung - so wie in der deutschen Prozessordnung 383 - nicht durchgängig und in einem einheitlichen Sinne verwendet: 382 Eine sprechende Bestätigung geben die Literaturverzeichnisse des österreichischen Schrifttums. Beispielhaft erwähnt seien der Abschnitt "Die Streitgegenstandstheorien" in dem Lehrbuch des österreichischen Zivilprozessrechts von H. W. Fasching, 2. Auflage, 1990, Rdnr. 1151, der die Darstellung der Theorien mit dem Satz einleitet: "Die Lehre vom Streitgegenstand wurde vor allem in Deutschland entwickelt und war viele Jahre Schwerpunkt der Prozeßdogmatik." Der "Grundriß des österreichischen Zivilprozeßrechts, Erkenntnisverfahren" von W. H. RechbergerlD.-A. Simotta, 5. Auflage, 2000, widmet dem deutschen Recht sogar einen eigenen Abschnitt: ,,4. Kapitel IV, Die deutsche Lehre", Rdnr. 264. Der im Folgenden behandelte Aufsatz von Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83 ff., zitiert österreichische und deutsche Autoren des Prozessrechts, ohne eine Trennungslinie zwischen ihnen zu ziehen.
110
V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
Sie spricht vom "Streitgegenstand" (§§ 75 Nr. 1384, 226 Abs. 2, 501, 502 Abs. 2 öZPO), dem "Anspruch" (§§ 226 Abs. 1385 ,227, 232 Abs. 2 öZPO) und dem "Klagebegehren" (§§ 226 Abs. 1, 235 Abs. 1, 236 Abs. 1 öZPO), um nur Beispiele zu nennen. Die zahlreichen Varianten des "Streitgegenstandes", welche die österreichische Wissenschaft in den Jahrzehnten seit der Veröffentlichung der "Materialien zu den neuen österreichischen Civilprozessgesetzen" von 1897 entdeckt und entwickelt hat386 , finden ihren Mittelpunkt in den Merkmalen des "Klagebegehrens,,387 und des "Klagegrundes,,388 als "Zentralstücken" des Rechtsschutzgesuchs 389 und - in einer die Wirkung einer Klage betonenden Variante - des "angestrebten Rechtsschutzziels. ,,390 Während das "Klagebegehren" als das alleinige die Identität kennzeichnende Merkmal des Streitgegenstandes nur von den Vertretern der sog. eingliedrigen Auffassung für richtig gehalten wird, ranken sich um den "Klagegrund" - selbstredend neben dem Klagebegehren - eine Vielzahl von Deutungen: den sich zur Anspruchsbegründung eignenden Tatsachenkomplex391 , die "causa debendi,,392, den (materiellen) "Rechtsgrund", auf dem der Klageanspruch beruhe393 , die "Gesamtheit der die Berechtigung des Rechtsschutzbegehrens begründenden Tatsachen"394, die "historischen Tatsachen, an die der Inhalt des Begehrens als Rechtsfolge geknüpft ist"395, der "Kern des (rechtserheblichen) Sachverhalts,,396, die "anspruchsbegrünSiehe dazu oben III, Seite 53 f., Fußnoten 171 und 172. Die angeführte Bestimmung lautet: "Jeder Schriftsatz hat zu enthalten: Nr. 1 die Bezeichnung des Gerichts, dann der Parteien nach Namen (Vor- und Zuname), Beschäftigung, Wohnort und Partei stellung, die Angabe der für die Parteien handelnden Vertreter und die Bezeichnung des Streitgegenstandes ... " 385 Die angeführte Vorschrift lautet: "Die mittels vorbereitenden Schriftsatzes anzubringende Klage hat ein bestimmtes Begehren zu enthalten, die Tatsachen, auf welche sich der Anspruch des Klägers in Haupt- und Nebensachen gründet, im einzelnen kurz und vollständig anzugeben ... " 386 Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83 ff., stellt die skeptische Frage, ob es sich bei dem "Versuch, dem Problem neue Aspekte abzuringen, bloß um eine weitere Variante der herkömmlichen Lehren geht, die nur zur verwirrenden Meinungsvielfalt beträgt, ohne den objektiven Erklärungswert zu erhöhen." 387 Dazu die Angaben bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 87 ff. 388 Dazu Böhm, a. a. 0., Seite 90 ff. 389 So die Fonnulierung von Böhm, a.a.O., Seite 83,87. 390 Böhm, a. a. 0., Seite 83, 109 ff. 391 So die von Böhm, Seite 92 bis 94, berichtete Auffassung des historischen Gesetzgebers. 392 So Sperl bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 94 f. 393 Neumann und Pollak bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 95 f. 394 Petschek bei Böhm, a.a.O., Seite 83, 97. 395 K. Wolff bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 97 f. 383
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1. Identität der Klage im österreichischen Zivilprozessrecht
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denden Tatsachen"397, die "Gesamtheit der anspruchsbegründenden Tatsachen", diese aber in Verbindung mit den verschiedenen Anspruchskonkurrenzen des materiellen Rechts 398 , die "Summe der rechtserzeugenden Tatsachen,,399, schließlich der "objektiv maßgebende (d.h. streiterhebliehe) Sachverhalt,,4°O . Neben diese "zweigliedrige" Auffassung des Streitgegenstands tritt in jüngster Zeit eine "dreigliedrige" Deutung: 401 Da sich der (erwähnte) Klagegrund als ein Tatsachenkomplex nur mit Hilfe von Anspruchsnormen ordnen und als ein "Sinngefüge" erfassen lasse, bedürfe es dreier Bestandteile, um den Streitgegenstand bestimmen: des Klagebegehrens, des Sachverhalts und der den rechtserheblichen Sachverhalt prägenden Normen. Dieser Streitgegenstand richte sich nach seinem Antrag, der Rechtsschutzform und dem (materiellen) Gegenstand des Rechtsschutzes auf eine Entscheidung. Werde er von dieser Aufgabe her verstanden, sei er "wirkungsbezogen". b) Die berichteten Deutungen des Streitgegenstandes werden von den Lehrbüchern des österreichischen Zivilprozessrechts in knappen Zusammenfassungen systematisiert und kommentiert. Der "Grundriß des Erkenntnisverfahrens" von Rechberger/Simotta erkennt in dem "zweigliedrigen" Begriff die in Österreich "hM", von der die Zivilprozessordnung ausgehe. 402 Den Streitgegenstand bildeten das Klagebegehren, d.h. die Rechtsfolgebehaupung, und der Klagegrund, das tatsächliche Fundament des Begehrens. Der Sachverhalt wird in einer engeren Spielart mit den "rechtserzeugenden Tatsachen" gleichgesetzt; in einer weiteren Variante ist er ein "Lebensvorgang", der nach "natürlicher Betrachtung" des in den Prozess eingeführten Geschehens eine Einheit bilde. 403 R. Kralik bei Böhm, a.a.o., Seite 83, 98 f. Novak bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 99. 398 Holzhammer bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 100. Holzhammer unterscheidet die "Gesetzeskonkurrenz", d.h. eine einzige Rechtsfolge aus mehreren Normen, die "Realkonkurrenz", d.h. mehrere Rechtsfolgen aus mehreren Sachverhalten, und die "Idealkonkurrenz", d.h. mehrere Rechtsfolgen aus einander ausschließenden Tatbeständen. Böhm umschreibt den Begriff der "Idealkonkurrenz" als "normverdrängende alternative Konkurrenz". 399 Fasching bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 100 bis 102. 400 Böhm, a. a. 0., Seite 83, 104, mit der wichtigen Ergänzung, dass zur "Begründung" des erhobenen Anspruchs nur "solche Tatsachenkomplexe in Betracht kommen, die einer entsprechenden rechtlichen Subsumtion (unter Rechtssätze, die diese Rechtsfolge statuieren) zugänglich sind, nicht aber verfließende, gestaltlose Tatbestandsmassen" (siehe dazu bereits oben Fußnote 206). Im gleichen Sinne a.a.O., Seite 112 f. und 121. 401 So Böhm, a.a.O., Seite 83,121 ff. 402 5. Auflage, 4. Kapitel, Rdnr. 250 bis 265/1. 403 Rechberger/Simotta, Grundriß des österreichischen Zivilprozeßrechts, Erkenntnisverfahren, Rdnr. 254. 396 397
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
Den "eingliedrigen" Begriff bezeichnet der Grundriss als "vereinzelt vertreten", die Lehre von der "wirkungsbezogenen" Deutung wird nur berichtet. Aufschlussreich ist die in dem "Grundriß" vertretene Verbindung des Streitgegenstandes mit den schon berichteten Konkurrenzen des materiellen Rechts: der Anspruchsgrundlagen- oder Gesetzeskonkurrenz und der (alternativen) Idealkonkurrenz. 404 Der "autonome" Begriff des Europäischen Gerichtshofs wird referierend erwähnt. 405 Das "Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts" von Fasching406 folgt dem "zweigliedrigen" Begriff, bedient sich aber zur Festlegung des "erheblichen" Sachverhalts auch des materiellen Rechts. Diese (überwiegende) Lehre erhalte "verlässliche und überprütbare Grundlagen für die Abgrenzung des Streitgegenstands und versucht so, den Einklang mit den Normen des materiellen Rechts zu wahren".407 Das Verhältnis der Leistungs- zur Feststellungsklage sieht die österreichische Lehre, wenn überhaupt, nur unter dem Gesichtspunkt des "rechtlichen Interesses" an der Feststellung. Die Feststellungsklage sei im Verhältnis zu dem weiterreichenden Mittel des Rechtsschutzes nur ein subsidiärer Behelf. 408 c) So aufschlussreich die Vielfalt der Auffassungen im österreichischen Schrifttum erscheint und so sehr sie den deutschen Juristen an die mannigfachen Spielarten der Lehre vom "Streitgegenstand" erinnert, überprütbare und mit der deutschen Praxis und Wissenschaft vergleichbare Ergebnisse lassen sich in erster Linie durch gerichtliche Entscheidungen gewinnen: Nur durch Darstellung und Analyse möglichst konkreter Gegebenheiten, insbesondere im Zusammenhang mit der Rechtshängigkeit als dem Gegenstand dieser Abhandlung, kann sich der Inhalt von Begriffen wie der "des zweigliedrigen" oder des "wirkungsbezogenen" Streitgegenstandes erschließen. aa) Mit einer Klage, über die der Oberste Gerichtshof im Jahre 1953 zu entscheiden hatte, beantragte der Kläger, die Beklagten "auf Grund einer Verpflichtungs- und Bürgschaftserklärung ... zur Beschaffung eines Motorrades einer bestimmten Type urteilsmäßig zu verhalten.,,409 404 Rechberger/Simotta, a. a. 0., Rdnr. 258 bis 263: "Mehrere Ansprüche - mehrere Streitgegenstände? (Die Klagenkonkurrenz)". 405 Rechberger/Simotta, a. a. 0., Rdnr. 265. 406 2. Auflage, 20. Kapitel, Rdnr. 1143-1166. 407 A.a.O., Rdnr. 1158. 408 Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts, 2. Auflage, Rdnr. 413 und 1101. 409 Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über einen sog. Revisionsrekurs im Beschlussverfahren, Entscheidungen Band 26 (1955), Nr. 204.
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Die Beklagten erhoben danach ihrerseits eine Klage mit dem Antrag, "den dortigen Kläger zu verurteilen, er sei schuldig anzuerkennen, daß die Verpflichtung des Erstklägers und die Bürgschaftserklärung des Zweit- und Drittklägers nicht zu Recht bestehe. Die Kläger seien bei Abgabe der Verpflichtungs- und Bürgschaftserklärung in einem Rechtsirrtum befangen gewesen, weil sie glaubten, der Erstkläger sei zum Ersatz des Schadens verpflichtet ... "
Der Oberste Gerichtshof bestätigte die von dem Leistungskläger erhobene Einrede der Streitanhängigkeit und führte aus: Die später erhobene Klage sei eine negative Feststellungsklage, die unrichtig in die Form der Leistungsklage gekleidet sei. Es sei davon auszugehen, dass über den Gegenstand des Feststellungsprozesses im Vorprozess mit Rechtskraftwirkung entschieden werde, so dass Identität der Sache anzunehmen und die neue Klage wegen Streitanhängigkeit4JO zurückzuweisen sei. bb) In einem anderen Verfahren beantragte der Kläger die Feststellung, der in der Form eines notariellen Aktes geschlossene Schenkungsvertrag sei wegen Nichteinhaltung des vom Beklagten gemachten Versprechens der Mithilfe auf dem Hof des Klägers aufgehoben. 411 In einer später erhobenen Klage machte der Kläger dasselbe Begehren mit einem leicht geänderten Sachverhalt geltend. Das Oberste Gericht bestätigte die Streitanhängigkeit der (zuerst erhobenen) Sache wegen der "Identität des Klagegrundes". Klagegrund sei das dem Klagsanspruch zugrunde liegende Rechtsverhältnis oder das "Ergebnis einer Schlußfolgerung im Wege der Subsumtion der angeführten bestimmten Tatsachen unter das Gesetz . .. , wobei es auf die rechtliche Bezeichnung des Klägers nicht ankommt."
cc) Ein Urteil des Obersten Gerichtshofes aus jüngerer Zeit bemerkt lakonisch412 : Das spätere Urteil des Obersten Gerichtshofes in Band 40 (1969), Nr. 7, der Amtlichen Sammlung, das die Erhebung einer positiven Feststellungsklage und einer späteren Schadensersatz-(Leistungs-)klage für unbedenklich hält, hatte über den besonderen Sachverhalt zu befinden, dass sich die Ansprüche der konkurrierenden Klagen auf verschiedene Zeiträume bezogen. 410 In der Terminologie der deutschen Prozessordnung (§ 261 Abs. 1 ZPO) bedeutet der Begriff Rechtshängigkeit. 411 Entscheidung über einen Revisionsrekurs, Juristische Blätter 1960, Seite 102. 412 Österreichische Juristen-Zeitung 1986, Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen Nr. 122, Seite 465. Das Urteil befindet über die Zulässigkeit einer Wiederaufnahmeklage, die nur auf "neue Tatsachen" im Rahmen des Streitgegenstandes des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gegründet werden könne. Eine auf den Rechtsgrund des Darlehens gestützte Klage könne deswegen nicht durch Berufung auf einen Kaufvertrag wieder in Frage gestellt werden, weil hier nicht neue "Tatsachen" (zu ergänzen: sondern nur eine andere rechtliche Einordnung) vorgetragen würden. 8 Wemecke
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Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
"Streitgegenstand ist nicht der materiellrechtliche Anspruch, sondern der im Prozeß geltend gemachte Anspruch, das aus dem Privatrechtsverhältnis abgeleitete Begehren. Dieses wird durch den vorgetragenen und vom Gericht festgestellten und rechtlich qualifizierten Sachverhalt bestimmt."
dd) Eine auffallende Unsicherheit kennzeichnet die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes über die zwischen den Parteien streitige Ausübung einer Grunddienstbarkeit: Beziehen sich die einander entgegengesetzten Klagen der Anerkennung einer Grunddienstbarkeit ("actio confessoria") und deren Leugnung ("actio negatoria") auf "dieselbe Sache"? (1) Eine Grundstückseigentümerin hatte beantragt413 : "Der Klägerin steht das dingliche Recht des Fahr- und Gehweges über die über den X-Fluß führende Brücke und die Wegeparzellen zu. Der Beklagte ist schuldig, die Ausübung dieses Fahr- und Gehweges ... zu dulden." "Der Beklagte hatte die Feststellung beantragt, dass dieses Recht nicht besteht und die Klägerin verpflichtet sei, alle Handlungen zu unterlassen, welche sich als Ausübung einer solchen Dienstbarkeit darstellen."
Der Oberste Gerichtshof bestätigte die von der Klägerin erhobene "Einrede der Streitanhängigkeit": Beide Klagen enthielten ein aus "Feststellungs- und Leistungsanspruch zusammengesetztes Begehren." Sie seien auf "demselben Rechtsgrunde aufgebaut" und hätten den gleichen Klaganspruch. Nur wenige Jahre zuvor hatte der Gerichtshof wegen der verschiedenen Folgen einer Klage auf Leugnung und auf Anerkennung der Dienstbarkeit genau entgegengesetzt entschieden: Gegenüber der leugnenden (Feststellungs-) Klage könne der Beklagte widerklagend das behauptete Recht verfolgen, um sich während des Prozesses gegen andere Eintragungen im Grundbuch zu schützen. 414 (2) Wieder zwei Jahrzehnte später entschied der Oberste Gerichtshof über einen in den ausschlaggebenden Merkmalen gleichen Sachverhalt; auch hier war die Leistungsklage (die "actio confessoria") der negativen Feststellungsklage ("actio negatoria") vorangegangen. 415 Dieses Mal verneinte der Oberste Gerichtshof die Streithängigkeit wegen fehlender Gleichheit des Rechtsgrundes: Zwar könne nicht beiden Klagen rechtskräftig stattgegeben werden, "wird aber die eine abgewiesen, so ist die andere weder unstatthaft noch überflüssig .... Der Anspruch der Negatoria ist mit dem Anspruch der Confessoria nun Juristische Blätter 1930, Seite 151. Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes Band 9 (1927), Nr. 243. Die Eintragung der Rechtshängigkeit einer leugnenden Klage und des Abweisungsantrags würde dem sog. Ansprecher nicht nützen. 415 Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivil- und Justizverwaltungssachen, Band 23 (1950), Nr. 225. 413
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nicht ident, sondern entgegengesetzt, beide Ansprüche können zwar nicht gleichzeitig bestehen, die Abweisung des einen schafft aber noch keinen Exekutionstite1 für den anderen ... " (3) Die spätere Entscheidung des Obersten Gerichtshofes übersieht, dass der eine Anspruch das kontradiktorische Gegenteil des anderen darstellt, weil nach dem Maßstab des sachlichen Rechts nur das eine oder das andere Begehren anerkannt werden darf. 416 Die Konkurrenz der beiden Klagen ist hier nicht anders als in dem Fall zu beurteilen, dass einer schuldrechtlichen Klage auf Leistung, beispielsweise auf Zahlung, die negative Feststellungsklage entgegengesetzt wird, dass der geltend gemachte Anspruch nicht bestehe. Dies ist auch der Standpunkt eines letzten Urteils über die streitige Rechtsfrage417 : "Es wäre widersinnig, die Führung zweier Rechtsstreite nebeneinander zuzulassen, bei denen das Begehren der zweiten Klage bei völlig identischem Sachverhalt das begriffliche Gegenteil des ersten Begehrens ist, wie vor allem das Begehren auf Feststellung einer bestimmten Servitut einerseits und das Begehren auf Feststellung des Nichtbestehens einer solchen Servitut andererseits." d) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach der österreichischen Sichtweise der vorzutragende Sachverhalt den (prozessualen) "Anspruch" der Klageschrift "tragen" muss, d.h. er muss so zielgerichtet ausgewählt und zugeschnitten sein, dass sich der Rechtsstreit nicht in einem unkonzentrierten Wechsel der Argumente sowie der Angriffs- und Verteidigungsmittel verliert. Diese Erkenntnis drückt die Lehre von dem "streiterheblichen Sachverhalt" und "wirkungsbezogenen Streitgegenstand" am treffendsten aus. 418 Die meisten der sonst zitierten Stellungnahmen verstehen den Klagegrund allerdings nicht als eine als ungegliederte Tatbestandsmasse, sondern als die "Gesamtheit der die Berechtigung des Rechtsschutzbegehrens begründenden Tatsachen.,,419 Auch die in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gebrauchten Formulierungen tragen den Anforderungen an die Nennung des Streitgegenstandes Rechnung: Der Klagegrund, so der Oberste Gerichtshof in einer der 416 Zum Begriff und den Folgen "kontradiktorischer Rechtsfolgen" siehe oben Fußnote 82. 417 Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes, Band 70 (1997),
Nr. 261.
418 Böhm, Festschrift für Kralik, Seite 83, 112 ff.: "Das Rechtsschutzziel als Begrenzung des Klagegrundes". Ob der auf diese Weise als "Sinngefüge" gestaltete Sachverhalt einen "dreigliedrigen" Begriff des Streitgegenstandes nötig macht, ist zweifelhaft; siehe dazu bereits Fußnote 202. 419 So als Beispiel Petschek bei Böhm, a. a. 0., Seite 83, 97 (zitiert oben Fußnote
394).
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
angeführten Entscheidungen, sei "das Ergebnis einer Schlussfolgerung im Wege der Subsumtion der angeführten bestimmten Tatsachen unter das Gesetz,,420 und schließlich der "rechtlich qualifizierte Sachverhalt. ,,421 Die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus dem Jahre 1997 gebraucht treffend das Argument des "kontradiktorischen Gegenteils", wenn die "actio confessoria" und die "actio negatoria" bei dem Streit über dingliche Rechte an Grundstücken gleichzeitig anhängig gemacht werden und so die "Wesensgleichheit des materiellen Anspruchs" zutage trete. 422 2. Der Streitgegenstand in der Sicht des französischen Zivilprozessrechts Der "Streitgegenstand", in einer auffallenden Übereinstimmung des Ausdrucks beider Sprachen das "objet du litige", findet in Art. 4 des "Nouveau Code de Procedure Civile" (NCPC) vom 1. Januar 1976423 eine gesetzliche Festlegung: "L'objet du litige est determine par les pretentions respectives des parties. Ces pretentions sont fixees par l'acte introductif d' instance et par les conclusions en defense. Toutefois l'objet du litige peut etre modifie par des demandes incidentes lorsque celles-ci se rattachent aux pretentions originaires par un lien suffisant." "Der Streitgegenstand wird durch die gegenseitigen Anträge der Parteien bestimmt. Diese Anträge werden durch die Anträge der Klageschrift und die gegen sie vorgebrachten Verteidigungsmittel festgelegt. Gleichwohl kann der Streitgegenstand durch eine Zwischenfeststellungsklage oder eine Widerklage verändert werden. sofern sich diese den ursprünglichen gestellten Anträgen durch einen zureichenden Zusammenhang einfügen."
a) Die Formulierung des Gesetzes wirft zwei ins Auge fallende Fragen auf: Kann der Streitgegenstand auch durch den Beklagten kraft seiner Anträge und Verteidigungsmittel beeinflusst werden?424 Macht sich der Nouveau Code de Procedure Civile. nach dessen Wortlaut der Streitgegenstand Juristische Blätter 1960, Seite 102. Österreichische Juristenzeitung 1986, Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen Nr. 122, Seite 465. 422 OGH Band 70, Nr. 261. Der Beschluss erwähnt im Zusammenhang mit der Streitanhängigkeit die "rechtserzeugenden Tatsachen". 423 Die Geschichte des französischen Zivilprozessrechts seit dem 16. Jahrhundert zeichnet in eindrücklicher Darstellung das Lehrbuch von Vincent/Guinchard. Procedure civile, 25e edition, nos. 27 et s (page 62 et s), "Sources historiques". 424 So nicht im deutschen Prozessrecht: Der Antrag, die Klage abzuweisen, ist als "rein negativer Gegenantrag" zwar sachbezügen, aber nicht sachbestimmend (Blümeyer, Zivilprozeßrecht - Erkenntnisverfahren, 2. Auflage. § 30 11 1 a), Seite 163. 420 421
2. Streitgegenstand in der Sicht des französischen Zivilprozessrechts
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durch die Partei anträge bestimmt wird, den im deutschen Recht sog. eingliedrigen Begriff zueigen? Sieht man von den auf das Verfahren bezogenen Prozesshandlungen ("actes juridiques") ab, die, wenn überhaupt, nur einen "prozessualen Streitgegenstand" bilden 425 , lässt sich der Einfluss auf den (sachlichen) Streitgegenstand durch die Anträge und Verteidigungsmittel des Beklagten nur für die Erhebung einer Widerklage ("demande reconventionelle") denken. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Formulierung des Art. 4 NCPC sprachlich zwar ansprechend, weil sie die aufeinander bezogenen Positionen der Parteien herausstellt, gedanklich und systematisch jedoch ungenau. 426 b) Der Streitgegenstand wird im französischen Zivilprozessrecht nicht nur durch den Antrag der Klage festgelegt, wie es nach Art. 4 al. 1 NCPC, sprachlich auch in diesem Punkte gewandt, gedanklich aber ungenau, den Anschein hat. Das Lehrbuch des französischen Prozessrechts von Vineent/ Guinehard behandelt zwar den Klagegrund ("la cause"), das "Fundament des Antrags"427, als eine den ganzen Rechtsstreit beherrschende Gegebenheit: "La notion de eause, eomme eelle d'objet, joue un r6le important au long du proces. ,,428 aa) Der Zusammenhang des Antrags mit seiner Grundlage findet sich jedoch nicht in dem Nouveau Code de Procedure Civile, sondern in einem Kapitel des Code civil, betitelt "De la preuve des obligations429 , et eelle du payement", Section III, article 1351, wo es heißt: 425 Der Beklagte rügt beispielsweise die Zulässigkeit der Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit. Die Gegebenheit eines "prozessualen Streitgegenstandes" erörtert, soweit ersichtlich, nur die deutsche Literatur, etwa Blomeyer, Zivilprozeßrecht - Erkenntnisverfahren, 2. Auflage, § 40 II bis III. 426 Die von Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 516, note 2, zitierte Abhandlung von R. Martin "Le double langage de la pretention" (Juris-Classeur Periodique, La Semaine Juridique 1981 I - Doctrine, no. 3024), bleibt einen Aufschluss schuldig: Geleitet von der Verteilung der Aufgaben zwischen der Partei und dem Richter beschäftigt sie sich allein mit dem Inhalt des Klageantrags: Verfolgt dieser lediglich einen wirtschaftlichen oder zwischenmenschlichen Vorteil ("L'avantage economique et social poursuivi" - no. 4, al. 2) oder enthält er nicht auch eine rechtliche Prägung ("une proposition de qualification juridique" - no. 11, al. 2)? 427 VincentiGuinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 519: "La base de la pretention". 428 "Der Begriff des ,Klagegrundes ' spielt eine den ganzen Rechtsstreit beglei tende Rolle." 429 Das rechtskräftige Urteil hat auch nach heutiger französischer Auffassung die Vermutung der Wahrheit für sich: Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 172, page 218: "Le jugement a une valeur legale; une presomption de virile est attachee alui." Diese Ansicht führt im deutschen gemeinen Zivilprozessrecht auf
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
"L'autorite de la chose jugee n'a lieu q'a l'egard de ce qui a fait l'objet du jugement. 11 faut que la chose demandee soit la meme; que la demande soit fondee sur la meme cause; que la demande soit entre les memes parties, et formee par elles et contre elles en la meme qualite." "Die Wirkung der rechtskräftig entschiedenen Sache bezieht sich nur auf den Gegenstand des Urteils. Für diesen Zusammenhang ist erforderlich, dass das Klagebegehren dasselbe sei, dass die Klage von demselben Rechtsgrund getragen worden ist; dass der Rechtsstreit zwischen denselben Parteien und für sie und gegen sie in der gleichen Form des Rechtsschutzes ausgetragen wurde."
In gleichem Sinne wie die zitierten Quellen definiert das Repertoire von Dalloz die Rechtshängigkeit von zwei miteinander konkurrierenden Streitigkeiten durch die Merkmale des gleichen Klagegegenstandes, der gleichen "cause" und derselben Parteien430 : ,,11 y a litispendance lorsque deux jurisdictions egalement competentes sont saisies d'un meme litige, ce qui suppose un litige ayant le meme objet, fonde sur la meme cause et opposant les memes parties." "Die Rechtshängigkeit ist gegeben, wenn zwei übereinstimmend zuständige Gerichtsbarkeiten mit demselben Rechtsstreit befasst sind. Diese Lage setzt voraus, dass der (konkurrierende) Rechtsstreit mit demselben Gegenstand befasst ist, dass er sich auf denselben Rechtsgrund stützt und in ihm dieselben Parteien gegen einander auftreten."
Was ist aber unter der "cause de la demande" zu verstehen, die von VincentlGuinchard als "un concept des plus delicats Cl definir dans le droit procedural" bezeichnet wird431 , ein Merkmal, das auch die ,,RechtshänF. C. v. Savigny zurück, der in seinem "System des heutigen römischen Rechts", Band 6, Seite 261 und 263, das rechtskräftige Urteil mit der ,,Fiktion der Wahrheit" bekleidet, wodurch es "gegen jeden künftigen Versuch der Anfechtung und Entkräftung gesichert wird". Die deutsche Prozessrechtstheorie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sieht die Wirkung der rechtskräftig entschiedenen Sache wesentlich nüchterner: Die sog. prozessuale Rechtskrafttheorie schließt in ihrer rigorosen Spielart des Wiederholungsverbots jede neue Verhandlung und Entscheidung über die festgestellte Rechtsfolge, d.h. in aller Regel den beschiedenen Streitgegenstand, aus (,,ne bis in idem"). Der Begriff der ,,materiellen Rechtskraft" und seine Entwicklung von einer "unwiderlegbaren Vermutung der Wahrheit" bis zum bloßen Verbot einer erneuten Befassung mit derselben Sache ist bei Blomeyer, Zivilprozeßrecht - Erkenntnisverfahren, 2. Auflage, § 88 III, dargestellt. 430 Encyclopedie Dalloz, Repertoire de Procedure Civile, 2e edition, tome III, mise a jour 1996, ,,Litispendance", Generalites. 431 Ibid., § 2 no. 518, page 450: ,,Eines der delikatesten Begriffe des Zivilprozessrechts. " Das Repertoire de Procedure Civile, 2e edition, tome III, mise a jour 1996, spricht sich unter dem Stichwort "Litispendance", no. 7, in einem gleichen, den dogmatischen Gehalt betonenden Sinne aus: ,,La question (i. e. la notion de la cause) est donc le siege de discussions doctrinales, largement academiques en verite. On conviendra d'en retenir que la cause de la demande, au sens du code de procedure civile, consiste dans le fondement juridique de la pretention con~ue
2. Streitgegenstand in der Sicht des französischen Zivilprozessrechts
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gigkeit" und - in einem weiteren Zusammenhang - die "Abhängigkeit" zweier Streitigkeiten voneinander bestimmt?432 Autoren, die den Wortlaut des Gesetzes für ihre Deutung in Anspruch nehmen433 , sehen in der "cause" die Bestimmung, auf die der Kläger seine Klage gründet: "le fondement juridique,,434 oder in einer weniger stringenten Spielart die Voraussetzungen der die Klage tragenden Norm. 435 Auf der anderen Seite stehen die Vertreter der tatsächlichen Grundlagen als des tragenden Teils einer Klage: La cause - "un complexe des taits. ,,436 Die Kritik an dieser Auffassung vom "Lebenssachverhalt" liegt für den deutschen und österreichischen Juristen auf der Hand: Es ist zwar richtig, dass die rechtliche Einordnung der Tatsachen dem Belieben der Parteien entzogen ist. 437 Es ist aber auch richtig, dass sich diese bei überlegter Fascomme l'ensemble des faits juridiquement qualifies sur lesquels le demandeur fait reposer sa pretention." - "Die Frage (d. h. nach der Bedeutung der cause) ist wegen der fehlenden Definition im Code ein Mittelpunkt dogmatischer Auseinandersetzungen, die in Wahrheit weitgehend akademischer Natur sind. Man wird sich aber dahin verständigen können, dass der Rechtsgrund der Klage, so wie ihn der Code de procedure civile begreift, in der rechtlichen Grundlage des Klageantrages zu finden ist, zu verstehen als ein rechtlich geprägter Komplex von Tatsachen, auf die der Kläger seinen Antrag gründet." 432 Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 518: "Elle (i.e. la cause) intervient pour preciser les limites de ce qui a ete juge ou encore pour permettre de deceler s'il y a litispendance ou connexite." - "Auf die causa kommt es an, um die Grenzen der rechtskräftig entschiedenen Sache festzulegen. Überdies erlaubt sie, über die Rechtshängigkeit einer Sache bzw. die Abgängigkeit zweier Streitigkeiten voneinander zu befinden." Zum Begriff der "connexite" siehe auch Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, Seite 57 ff. 433 Art. 565 NCPC: "Les pretentions ne sont pas nouvelles des lors qu'elles tendent aux memes fins que celles soumises au premier juge memes si leur fondement juridique est different." - "Die Anträge des Berufungsklägers sind nicht neu, sofern sie sich auf denselben, dem unteren Richter unterbreiteten Gegenstand richten, selbst wenn sich ihre rechtliche Grundlage ändert." 434 Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 519, 3 d, page 454: "la cause alors est un fondement juridique". 435 VincentlGuinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 519, page 451: "Ie presuppose ou l'hypothese de cette regle" - "Das, was die Regel voraussetzt oder wovon sie ausgeht". 436 VincentlGuinchard, ibid.: "Dans une perspective opposee, la cause serait constituee, par les circonstances de fait invoquees en vue d'etablir le droit subjectif par lequel se traduit juridiquement la pretention soumise au juge; elle se ramenerait ainsi a un complexe de faits." - "In einer entgegengesetzten Sicht wird die cause von den tatsächlichen Umständen gebildet, die zu dem Zweck vorgetragen werden, das subjektive Recht des Klägers zu begründen, aus dem sich der dem Gericht unterbreitete Klageantrag rechtlich ableiten lässt. Dieser Blickpunkt erkennt in der causa einen Tatsachenkomplex. "
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
sung der Klageschrift von den rechtlichen Gesichtspunkten ihres Begehren mindestens unbewusst leiten lassen. Aus diesem Grunde gelangen auch Vincent/Guinchant 38 zu dem Standpunkt:
"On est ainsi enclin a ana1yser 1a cause de la demande comme un ensemble de faits juridiquement qualifies." "Man ist auf diese Weise (i. e. nach Erörterung des Pro und des Contra) geneigt, in dem Klagegrund einen Komplex rechtlich qualifizierter Tatsachen zu sehen. ,,439
Aus der Sicht des französischen Parteivertreters fließt in die Tatsachengrundlage einer Klage immer eine rechtliche Wertung ein: 44o "Le complexe de fait n'est pas une donnee immediate, il est un objet elabore par le demandeur (ou son avocat) a partir d'un modele juridique hypothetique. Alors meme que le demandeur ne qualifie pas sa pretention, il la construit selon une qualification supposee et implicite." "Der Tatsachenkomplex einer Klage ist keine unmittelbar greifbare Gegebenheit, sondern ein juristischer Sachverhalt, ausgearbeitet durch den Kläger (oder seinen Anwalt) auf der Grundlage eines vorausgesetzten rechtlichen Modells. Selbst wenn der Kläger seinen Antrag nicht ausdrücklich auf eine Norm bezieht, konstruiert er ihn doch nach einer stillschweigend vorausgesetzten rechtlichen Qualifikation."
bb) Der Bericht über Urteile der französischen Rechtsprechung, in denen sich die Auffassung vom Streitgegenstand ("objet du litige") des Zivilprozesses widerspiegelt, beginne mit einer Entscheidung des Kassationshofes aus dem Jahre 1898. 44 \ 437 Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 519, 1 b, page 452: "Et il est vrai que pour l'essentiel la qualification est une question de droit soustraite au caprice des particuliers." 438 Vincent/Guinchard, Procedure civile, 25e edition, no. 519,2 c, page 452. 439 Die reservierte Wertung ("On est ainsi enclin ... ") begründet der Autor teils mit dem Schweigen des Nouveau Code de Procedure Civile, teils mit der Unmöglichkeit, die Tat- und die Rechtsfragen eines Prozesses mit Schärfe gegeneinander abzugrenzen (ibid., no. 519 c. 3.: "On ne pourrait sans doute pas se passer de cette distinction commode pour I' esprit; mais ce qui importe surtout, c'est de saisir le passage qui s'opere incessament du fait au droit par la qualification." - "Man kann zweifellos nicht auf diese den Gedankengang förderliche Unterscheidung [i. e. der Rechts- und der Tatfrage] verzichten; was aber vor allem ins Gewicht fällt, ist, den Übergang festzuhalten, der sich kraft der Subsumtion unaufhörlich zwischen dem Sachverhalt und dem Gesetz ereignet.") - ein Argument, das dafür spricht, den Klagegrund als einen rechtlich geprägten Tatsachenkomplex zu definieren. 440 R. Martin, Le double langage de la pretention, Juris-Classeur Periodiqe, La Semaine Juridique 1981 I, Doctrine, no. 3024, 14 a1. 3. 441 Dalloz, Jurisprudence Generale, Recueil Periodique et Critique de Jurisprudence, de Legislation et de Doctrine, 1899, 1ere partie, page 304. Das maßgebende Sammelwerk Encyclopedie Dalloz, Repertoire de Procedure Civile, 2e edition, tome II1, mise a jour 1996, zum Stichwort "Litispendance", Section
2. Streitgegenstand in der Sicht des französischen Zivilprozessrechts
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Ein Ehepaar erhob im Juli 1896 Klage gegen die Arbeitgeber ihres durch einen Arbeitsunfall getöteten, im Alter von 19 Jahren damals noch minderjährigen Sohnes. Sie forderten in der vor dem "tribunal civile" in LilIe angebrachten Klage Schadensersatz in Höhe von 10.000 francs 442 und begründeten die Haftung der Arbeitgeber mit dem schuldhaften Verstoß gegen Schutzbestimmungen zugunsten minderjähriger Arbeiter. Zwei Monate später machten sie vor dem "tribunal de commerce" von Roubaix eine weitere Klage gegen die Arbeitgeber und deren Versicherung anhängig, mit der sie Schadensersatz in Höhe von 12.000 francs begehrten; sie gründeten diesen Anspruch gleichfalls auf die Verletzung von Bestimmungen des Arbeitsschutzes. Die Beklagten wandten die Rechtshängigkeit der Sache ein. Da das Handelsgericht der Einrede nicht stattgab, ging die Sache in die Berufung. Die Cour d'appel von Douai gab der Berufung statt und verwies den Rechtsstreit an das "tribunal civile" in LilIe. Die Kassation des Ehepaares, welche die Verletzung des Art. 171 des damaligen Code de procedure civile443 rügte, war ohne Erfolg. Art. 171 des damals geltenden Code de Procedure Civile besagt: "S'il a ete fonne precedemment, en un autre tribunal, une demande pour le meme objet, ou si la contestation est connexe a une autre cause deja pendante en un autre tribunal, le renvoi pourra etre demande et ordonne." "Ist mit demselben Gegenstand eine Klage bereits vor einem anderen Gericht anhängig gemacht oder steht der Rechtsstreit im Zusammenhang mit einer anderen, bereits vor einem anderen Gericht schwebenden Sache, so kann die Verweisung an das (erste) Gericht beantragt und angeordnet werden."
Im angeführten Fall hatte das Berufungsgericht durch die Verweisung der zweiten Klage an das Erstgericht die Vorschrift des Art. 171 im Ausgangspunkt zutreffend angewendet. Allerdings waren die Parteien in dem Rechtsstreit vor dem Handelsgericht von Roubaix um eine weitere Person, die Versicherung der Arbeitgeber "La Prevoyance", auf der Seite der Beklagten vermehrt, und auch der Gegenstand der ersten Klage war um die Summe von 2.000 francs erhöht. Streng genommen waren weder die cause 444 noch das objet der beiden konkurrierenden Klagen vollständig identisch. Ire, Conditions de la litispendance, § ler "Meme objet et meme cause", zitiert (immer noch maßgebende) Urteile des 19. Jahrhunderts; "fortschrittlicher" in zeitlicher Hinsicht das "Bulletin des arrets de la Cour de Cassation." 442 Das Kassationsurteil gibt nicht an, ob mit dieser Forderung der entgangenen Unterhalt der Eltern und/oder die ihnen erwachsenen Kosten der Beerdigung abgegolten werden sollte. 443 "Decrete le 14 avril 1806 et promulge le 24 avril 1806", wie die Textausgabe von Dalloz, 53. Auflage (1957), verlautbart.
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
Ein Kassationsurteil aus jüngerer Zeit verneint (zutreffend) die Einrede der Rechtshängigkeit bei Verschiedenheit des Rechtsgrundes und des Gegenstandes der konkurrierenden Klagen445: Eine geschiedene Ehefrau hatte ihren früheren Ehemann als Rechtsnachfolgerin von Gläubigern in Anspruch genommen, die sie nach Auflösung der Ehe als Ablösungsberechtigte befriedigt hatte. Der Ehemann wendete gegen die Klage die Rechtshängigkeit eines Prozesses über die Auseinandersetzung von gemeinsamen Rechten der Ehegatten ein. Der Kassationshof bestätigte das Berufungsurteil, das die Einrede der Rechtshängigkeit verworfen hatte: Die geltend gemachte Auseinandersetzung habe ihren Grund in dem ehelichen Verhältnis. Da die Ehefrau die Gläubiger nach der Scheidung und mit dem Ziel eines Erwerbs der Gläubigerrechte durch Surrogation befriedigt habe, hätten die beiden Klagen weder denselben Rechtsgrund noch den denselben Gegenstand. 446 Der Urteilsabdruck verweist auf eine Kassationsentscheidung aus dem Jahre 1856,447 welche die Gründe des Einwandes der Rechtshängigkeit, heute noch gültig, anführt: Es gilt, einander widersprechende Urteile und einen nutzlosen Rechtsstreit zu verhüten. 448 Die Miterbin zur Hälfte des Nachlasses ihres verstorbenen Vaters hatte vor dem "tribunal civil" Klage gegen den anderen Miterben, ihren Bruder, und die Liquidatoren eines zum Nachlass des Vaters gehörenden Bankhauses mit dem Begehren der Rechnungslegung, Liquidation und Teilung des Nachlasses und eines zum Nachlass gehörenden Anteils ihres Vaters an der Gütergemeinschaft mit seiner Ehefrau449 erhoben.
444 Haftung für einen verschuldeten Arbeitsunfall - Versicherung zugunsten eines geschädigten Arbeitnehmers und dessen Angehörigen. 445 Recueil Dalloz Sirey de Doctrine, de Jurisprudence et de Legislation (1974), Sommaires de Jurisprudence, page 11: "Exceptions de Procedure". 446 " ••• d'ou il resulte que les deux actions n'ont ni la meme cause, ni le meme objet." 447 Dalloz, Jurisprudence Generale, Recueil Periodique et Critique de Jurisprudence, de Ugislation et de Doctrine, Annee 1856, partie Iere, page 426 et s. 448 "Attendu que cet apurement fait par la juridiction competente; purra servir plus tard d'element a la liquidation des communaute et succession, devant le tribunal ci vii, mais ne saurait, dans aucun cas, donner Iieu a aucune procedure inutile ni a aucune contrariete de decisions judiciaires." - "In Erwägung, dass die (begehrte) Entlastung durch die zuständige Gerichtsbarkeit später als ein Merkmal der Versilberung der ehelichen Gemeinschaft und des Nachlasses vor dem zuständigen bürgerlichen Gericht zu dienen vermag, veranlasst auf keinen Fall einen nutzlosen Prozess oder die Unvereinbarkeit der gerichtlichen Entscheidungen." 449 Das Kassationsurteil spricht von der "communaute ayant existe entre Grobost et sa veuve".
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
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Die Liquidatoren ihrerseits machten gegen sie vor dem "tribunal de commerce" den Anspruch anhängig, die Abrechnung der Liquidation des Bankhauses anzuerkennen, mit der die Miterbin sie beauftragt hatte. Die Miterbin erhob die Einrede der Rechtshängigkeit, weil das Bankhaus und der Anteil des Vaters an der Gütergemeinschaft mit seiner Ehefrau Teile des Nachlasses seien. Das Berufungsgericht und die Cour de cassation verwarfen die Einrede wegen fehlender Identität der beiden Klagen: Die Klage vor dem "tribunal civil" sei mit dem Ziel der Teilung der Gütergemeinschaft und des Nachlasses erhoben, der vor dem "tribunal de commerce" anhängig gemachte Anspruch der Liquidatoren gründe sich auf ihre Qualität der Miterbin als Auftraggeberin und begehre Abrechnung über die Liquidation des Bankhauses. 45o Durch die Trennung der beiden Klagen verfolgt die Cour de cassation eine andere Methode als der Europäische Gerichtshof: Sie hält es nicht für richtig, zwei kraft der Einheit aller Nachlassgegenstände "zusammenhängende" Ansprüche in einer einzigen Klage so zu verbinden, dass dem später anhängig gemachten Begehren der Liquidatoren die Rechtshängigkeit der zuerst angebrachten Klage entgegenstand. Der Umstand, dass die Parteien nicht identisch waren,451 schien wegen der Verschiedenheit der Klagen keine Rolle zu spielen. 3. Die Abwehr einer Klage wegen Rechtshängigkeit eines vorangehenden Verfahrens im englischen und US-amerikanischen Recht
a) Auch das englische Recht befasst sich mit der Abwehr von Klagen, denen ein anderer Rechtsstreit mit derselben tatsächlichen Grundlage und denselben Rechtsfragen vorangeht, ohne dass bereits eine rechtskräftige Entscheidung über die zuerst erhobene Klage ergangen ist. Der Schlüssel zur Erörterung dieser prozessualen Lage liegt in dem Begriff der "lis alibi (oder lis bis) pendens", also des anderweit (bzw. doppelt) anhängigen Rechtsstreits. 452 450 "Attendu que de cet etat de choses resultaient ... deux actions distinctes, l'une en sa qualite d'heritiere, ayant pour objet le partage des communaute et succession paternelle; l'autre en sa qualite de mandante, ayant pour objet le compte de la liquidation de l'anncienne maison de banque Grobost pere." Das Urteil gebraucht, der damaligen Lehre von der "actio" folgend, nicht den Ausdruck "demande", sondern "action". 451 Im Rechtsstreit vor dem "tribunal de commerce" scheint der Bruder der Miterbin Charles Grobost nicht Partei gewesen zu sein.
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V. Die ,,streitanhängigkeit" des Rechts
aa) Das angeführte Handbuch der "Principles of Civil Procedure" nennt die folgenden Beispielsfalle, in denen eine Partei die Abweisung einer Klage wegen eines ihr vorgehenden Rechtsstreits und auf dieser Grundlage wegen eines Verfahrensmissbrauchs ("abuse of the process") verlangt: 453 A wünscht in England einen Prozess gegen B zu beginnen oder fortzusetzen; A hat jedoch vor einem anderen Gericht bereits B in Anspruch genommen 454 ; oder - A wünscht wiederum einen Prozess in England gegen B zu beginnen oder fortzusetzen; B hat jedoch bereits eine Klage gegen A vor einem ausländischen Gericht erhoben;455 oder - A klagt gegen B vor einem ausländischen Gericht (wobei diese Klage keinen Bezug zu einem späteren (Zweit-) Verfahren in England hat); vor diesem ausländischen Gericht erhebt B in dem von A angestrengten Verfahren Widerklage gegen A und diese Widerklage ist identisch mit der von A in England erhobenen (Zweit-) Klage: auf diese Weise kann sich ein weiterer Fall der rechtshängigen Sache ergeben. 456 bb) In jeder der drei beschriebenen Situationen ist zu beanstanden, dass zwei Spielarten von Prozessen vor den Gerichten ausgetragen werden, die in ihrem Kern dieselben Tat- und Rechtsfragen aufwerfen. Die Bedenken gegen die Häufung lassen sich so zusammenfassen: In Bezug allein auf die unter aa), 1. Fall dargestellten Lage treffen die Kosten der beiden Klagen zu seinem Teil den Beklagten, obwohl er nicht ihr Verursacher ist457 ; in jeder der angeführten Gestaltungen besteht die Ge452 Die englische Literatur des Zivilprozessrechts ist nicht sehr aufschlussreich, vergleicht man sie mit der Fülle der Erörterungen in Deutschland, Österreich und jüngst auch in Frankreich. Die "Principles of Civil Procedure" von N. Andrews, 1994, para. 5-030, stellen das Thema der "Lis alibi pendens" in einigen Leitsätzen dar. Wertvolle Hinweise enthält das umfangreiche Werk von E. Borchard, Declaratory Jugdments, 2nd edition, 1941, page 207 f.: "English origins". Aus der deutschen Literatur sind die knappen Erwähnungen von J. Bunge, Das englische Zivilprozeßrecht (1974), § 44, Nr. 3, Seite 89, und von Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, Seite 104 f., zu nennen. 453 Bunge und Lüpfert, a. a. O. 454 "A wishes to begin, or to continue, English proceedings against B; but A has alreaday commenced proceedings against B in another jurisdiction." 455 "A once more wishes to begin, or to continue, English proceedings against B: but B has already brought an action against A in foreign proceedings; ... " 456 "A brings foreign proceedings against B (this main claim being unrelated to the English subsequent proceedings); in the foreign action, B then counterclaims against A and this counterclaim is identical to the subsequent English action: in this manner another case of lis alibi pendens can arise."
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
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fahr, dass die beiden angerufenen Gerichte unterschiedliche Entscheidungen fällen 458 ; es stellt sich ein der Sache abträgliches Rennen nach dem zuerst ergehenden Urteil ein459 ; es entstehen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen dem Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache und der Abweichung von dem Urteil in einem anderen Verfahren 460 ; als Prinzip und im Allgemeinen ist die Konkurrenz der englischen und der ausländischen Verfahrens ordnungen eine Quelle für Unordnung und Ungerechtigkeit461 • cc) Das Mittel, eine bereits rechtshängige Klage als "missbräuchlich" anzuhalten oder sie abzuweisen, entnimmt der englische Richter den "Rules of the Supreme Court", also den für die höheren Gerichte geltenden Regeln des Verfahrens, die eine gesetzesgleiche Kraft haben. 462 In den zuletzt im Jahr 1983 gefassten Regeln heißt es: 463 ,,19. - (1) Das Gericht kann in jeder Lage des Verfahrens anordnen, dass ein Vortrag oder der Klageantrag mit Versicherung der geltend gemachten Forderung (indorsement) oder Teile davon mit der Begründung zurückgewiesen oder verbessert werden, (d) es sich um einen Missbrauch prozessualer Rechte handelt; es kann nach Lage des Falles anordnen, dass die Durchführung des Verfahrens abgelehnt oder die Klage abgewiesen wird oder ein entsprechendes Urteil ergeht. ,,464 457 "... (restricted to situation a) the cost of two actions will bear hard on the defendant who has initiated neither action." Damit kann der Verfasser nur den Verlust der Prozesses oder die vorübergehende Auslage von Gebühren für den eigenen Anwalt meinen, denn "The costs indemnity rule" besagt: "If you lose, you will be responsible not merely for your own legal costs but you must pay the other side's too." Andrews, Principles of Civil Procedure, no. 13-005, page 393. 458 "... in each of these situations, there is the danger that the two courts could reach different results". 459 " ••• there would be an unseemly race to be the first to judgment." 460 " ••• novel problems relating to estoppel per rem judicatam and issue estoppel, which have not hitherto been exarninded by any English court, might also arise." Zum "issue estoppel" Andrews, Principles of Civil Procedure, no. 17-002, page 503. 461 " ... in general, (concurrence of English and foreign proceedings procedure) is a recipe for confusion and injustice." 462 Walker & Walker, English Legal System, 7th edition (1994), part III, page 284 D: "Procedure in the Queen's Bench Division is govemed by the Rules of Supreme Court. These Rules are delegated legislation, being made by a Rule Cornrnittee under powers conferred formerly by the Judicature Acts and currently contained in section 84 of the Supreme Court Act 1981." - "Das Verfahren vor der Queen's Bench Division folgt den Rules of the Supreme Court. Diese Verfahrensregeln stellen eine übertragene Gesetzgebung dar, verfasst durch ein Rule Cornrnittee auf Grund einer ihm durch die Judicature Acts förmlich verliehene Ermächtigung, gegenwärtig enthalten in Section 84 des Supreme Court Act von 1981." 463 The Rules of the Supreme Court 1965, Supplement No. 42, March 1983, order 18, rule 19 - (1) Striking out Pleadings and indorsements" - "Abweisung von Plädoyers und Bestätigungen erhobener Klagen."
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
dd) Das an erster Stelle zu berichtende Urteil eines englischen Gerichts über die Rechtshängigkeit konkurrierender Klagen entscheidet über die Heuer von Seeleuten, geltend gemacht in zwei Akten vor Kanadischen Gerichten und dem "High Court of the Admiralty" im Jahre 1855. 465 Zwei englische Seeleute, ein Zimmermann und ein zweiter Maat, heuerten zum Dienst an Bord des Segelschiffs "Lanarkshire" am 29. Juni bzw. 1. Juli 1853 in Liverpool an. Der Vertrag sah eine Dienstzeit von zwölf Monaten für die Fahrt von Liverpool nach Baltimore oder einen Hafen von "British North America" und von dort zurück zu einem beliebigen Hafen des Vereinigten Königreichs vor. Die "Lanarkshire" verließ Liverpool mit einer Ladung Salz und Kohle und erreichte Baltimore am 28. August. Nach Löschen der Ladung segelte sie am 3. Oktober nach Quebec. Im St. Lorenz Strom lief sie auf Land auf, so dass sie Quebec erst am 14. November 1853 anlaufen konnte. Bis Mai 1854 war sie dort eingefroren und musste anschließend für Reparaturarbeiten ins Dock. Die Seeleute verrichteten ihren Dienst bis zum 3. Juli 1854. Nach Ablauf der vereinbarten Zeit forderten sie von dem Kapitän ihre Entlassung und ihre Heuer. Beides wurde ihnen mit der Begründung verweigert, sie verließen unberechtigt den Dienst und seien vom Schiff "desertiert". An ihrer Stelle hätte der Kapitän zwei andere Seeleute einstellen müssen. Aus beiden Gründen hätten sie das Recht auf die Heuer verwirkt. 466 Am 17. Juli 1854 verklagte der Zimmermann den Kapitän vor dem "Superior Court of Quebec"; am selben Tage rief der zweite Maat wegen seiner Forderung den "Vice-Admiralty Court of Lower Canada" an. Beide Klagen richteten sich gegen den Kapitän als den legitimen Vertreter der Schiffseigner. Mit der Rückkehr des Schiffs nach England kehrten auch die Seeleute auf eigenen Wegen dorthin zurück. Nunmehr erhoben sie Klagen "in rem" gegen das Schiff67 vor dem "High Court of Admiralty", ohne die in Kanada anhängig gemachten Klagen zurückzunehmen, um die sie sich "Striking out pleadings and indorsements 19. The Court may at any stage of the proceedings order to be struck out or amended any pleading or the indorsement of any writ of action or anything in any pleading or in the indorsement, on the ground - (d) it is otherwise an abuse of the process of the court and mayorder the action to be stayed or dismissed or judgement to be entered accordingly, as the case may be." 465 The "Lanarkshire". The English Reports, Vol. CLXIV, Ecclesiastical, Admiralty, and Probate and Divorce IV (1921), page 380. Eine Kurzfassung enthält das Sammelwerk The Digest, Annotated British, Commonwealth and European Cases, vol. 11 (2), 2nd reissue (1994), Conflict of Laws 10, case no. 3246. 466 Es ist zu vermuten, dass sich der Kapitän auf die Notlage des Schiffs berief, um den Seeleuten die Entlassung abzuschlagen. 467 Zur Klage "in rem" gegen das Schiff siehe oben Fußnote 104. 464
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
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einfach nicht mehr kümmerten. 468 Die Schiffseigner erhoben den Einwand der Rechtshängigkeit, dem der "High Court of Admiralty" stattgab: Das von den Seeleuten gebrauchte Argument, die Klagen "in personarn" gegen den Kapitän in Kanada und "in rem" gegen das Schiff in England seien grundverschieden ("perfectly distinct"), ließ der "High Court of Admiralty" nicht gelten: Der Versuch, mit ihrer verschiedenen Natur zu argumentieren, ziele auf eine Äußerlichkeit. Entscheidend sei, dass sie sich auf denselben Gegenstand, die Heuer, bezögen. 469 Der "High Court" befand: Sollte sich der Einwand der Rechtshängigkeit bewahrheiten, würden die Klagen der Seeleute abgewiesen. 47o Bildet das Recht des Zugriffs auf eine Sache mit der ihm zugrundeliegenden Forderung einen einzigen Streitgegenstand oder mehrere (prozessuale) "Ansprüche", so ließe sich das Urteil des "High Court of Admiralty" auswerten, wenn man es in die begriffliche Sprache des kontinental-europäischen Rechts übersetzt?471 ee) Ein weiteres Urteil des englischen "High Court of Justice, Admiralty Division" aus dem Jahre 1876472 gibt einen Hinweis auf die wenigen Fälle, in denen sich englische Gerichte mit dem Prozesshindemis der "lis alibi pendens" beschäftigten, vor allem aber auf den praktischen Sinn des Verbots, dieselbe rechtshängige Sache zwei Mal vor Gericht zu bringen. Auch in diesem Fall war über eine Kollision zweier Seeschiffe zu befinden, deren Folgen die Eigner vor verschiedenen Gerichten austrugen. Eine italienische Bark, die "Errninia Foscolo" und ein französisches Dampfschiff, die "Delta", stießen im August 1871 in der Straße von Gibraltar zusammen. Der Eigentümer und der Kapitän der "Errninia Foscolo" riefen alsbald das Handelsgericht in Marseille gegen die Eignerin der "Delta" und das Schiff selbst mit dem Begehren an, Schadensersatz zu leisten. 468 Sie argumentierten später, die Klagen in Kanada hätten sich "praktisch erledigt": "The suit has been virtually discontinued." 469 "The distinction attempted to be drawn respecting the nature of the actions, does not appear to me (i. e. the judge) substantial; first, it is clear that all these actions are for the same object, the recovery of wages; and if the wages should be recovered in all the suits, the owners would have to pay the same demand twice, which would be wholly unjust." 470 "The articles (i. e. of the defensive allegation) pleading lis alibi pendens must be admitted; and if proved to the full extend, would bar this action." 471 Für einen einheitlichen Streitgegenstand das oben unter 1I.2., Seite 34 ff.) besprochene Urteil in Sachen Tatry/Maciej Rataij. 472 "The Delta." "The Erminia Foscolo". The Law Reports. Probate Division. In the Admiralty and Ecclesiastical Courts and in the Privy Council. Vol. I (1876), page 93 et seq. Eine Kurzfassung zitiert The Digest, ibid., no. 3244.
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
Ungefahr zu dem selben Zeitpunkt machten auch die Eigentümerin und der Kapitän der "Delta" wegen des erlittenen Schadens eine Klage vor dem Handelsgericht in Marseille anhängig. Im Dezember 1871, nach etlichen auf Antrag der Kläger gewährten Vertagungen, ergingen in Marseille Versäumnisurteile gegen den Eigentümer und den Kapitän der "Erminia Foscolo". Ihre Klagen gegen die Eigentümerin der "Delta" wurden abgewiesen; sie selbst wurden auf Antrag der Gegenseite zum Ersatz der Schäden der "Delta" verurteilt. 473 Die Zwangsvollstreckung, veranlasst durch das Handelsgericht Marseille über den "Court of Appeal" in Genua, verlief im Sande.474 Mit dem Beginn des Jahres 1872 trafen sich die Parteien vor dem englischen "High Court, Admiralty Division".475 Kläger waren dieses Mal der Eigentümer und der Kapitän der "Erminia Foscolo", Widerkläger476 die Eigentümerin und der Kapitän der "Delta". Diese beriefen sich auf die Rechtskraft der zu ihren Gunsten ergangenen (Versäumnis-) Urteile des Handelsgerichts Marseille. Der "High Court" befand: Die über die Sache hinweggehenden Versäumnisurteile haben nicht die Wirkung der "res judicata". Während der Anhängigkeit der Prozesse vor dem Handelsgericht Marseille hätten sich die Eigentümerin und der Kapitän der "Delta" auch vor dem "High Court" auf das Hindernis der "lis alibi pendens" berufen können. Dieser Einwand sei aber mit der Erlass der Versäumnisurteile dahingefallen. 477 473 "After several adjoumments, granted at the request of the master and owner of the "Erminia Foscolo", the said Tribunal of Commerce delivered judgement by default against the plaintiffs in the said suit, and rejected their claim against the daid company, and disrnissed the said company from the suit brought against them as aforesaid." 474 Das Urteil des "High Court of Justice, Adrniralty Division", page 399, berichtet über diesen Punkt: "From the evidence of another witness produced on behalf of the plaintiffs (i. e. the owners of the Erminia Foscolo) it appeared that the judgements of the Tribunal of Commerce at MarseiIIe in favour of the owners of the Delta had not been satisfied." 475 Die internationale Zuständigkeit des "High Court" ergab sich aus dem Ort des Zusammenstoßes: der Straße von Gibraltar als englischem Hoheitsgebiet. 476 "There are cross causes of collision brought originally in the High Court of Adrniralty ... " 477 "As regards the suits against the Erminia Foscolo that was brought by the owners of the Delta while the foreign lis was pending; they cannot be heard, therefore, to object that that lis is a bar to adecision on the merits (d. h. in der Sache) in this suit. The second reason is that the foreign judgements not having been given on the merits of the case, cannot be set up as a bar to adecision on the merits (in der Sache)."
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
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Die Situation am Ende der verwickelten Auseinandersetzung zeigt zwei miteinander unvereinbare Urteile: Das Versäumnisurteil des Handelsgerichts Marseille gegen die Eigentümer der "Erminia Foscolo" und das gegenläufige Urteil des "High Court of Admiralty" gegen die Eigentümerin und den Kapitän der "Delta". Der Widerspruch zwischen ihnen liegt in dem Ausspruch des "High Court": "f must dismiss the suit against the Erminia Foscalo with casts" - dies, obwohl das Handelsgericht Marseille Versäumnisurteile gegen den Eigentümer und den Kapitän der "Erminia Foscolo" auf Ersatz der Schäden der "Delta" erlassen hatte. Wenn auch nach heutiger englischer Doktrin Versäumnisentscheidungen im Prinzip nicht die Autorität eines rechtskräftigen Urteils haben478 , waren die Prozesse vor dem Handelsgericht in Marseille, die englische Auffassung unterstellt, anhängig geblieben, und in Genua lag überdies ein gegen die "Erminia Foscolo" wirksamer Vollstreckungstitel. Sollten sich die Prozesse in Marseille und die Vollstreckung in Genua im Sande verlaufen haben? b) Die begrifflich wenig ausgeformte, eher praktische Regel des englischen Zivilprozessrechts, dass die Konkurrenz zweier Verfahren mit der Leitlinie des Verfahrensmissbrauchs ("abuse of the process") nach Möglichkeit zu unterbinden ist, findet eine gedankliche Entsprechung im US-amerikanischen Zivilprozessrecht, das die Abneigung der englischen Justiz gegen dogmatische Festlegungen teilt. 479 Die "pendency of another action .A80 als die griffigste Beschreibung des Konkurrenzverhältnisses mehrerer Streitsachen fordert im Prinzip keine begriffliche, sondern nur eine flexibel-interessengerechte Lösung: Die unter dem Einfluss des römischen Rechts geprägten Begriffe der "Identität des Rechtsgrundes" und des von den Parteien verfolgten Zieles481 sind nach amerikanischer Auffassung, soweit es sich um Parallelverfahren unter der Gerichtsgewalt desselben Bundesstaates handelt, auf "substantial identity", die "nahezu vorliegende" Übereinstim478 Andrews, Principles of Civil Procedure, no. 9-004, page 205: "Since judgement by default is neither given after consideration of the merits, nor represents even an unequivocal judgement by consent, the scope of res judicata is quite limited." - "Da ein Versäumnisurteil weder nach Verhandlung der Sache gefällt ist noch eine unzweideutige, auf Zustimmung der Parteien beruhende Entscheidung darstellt, ist seine Rechtskraftwirkung beschränkt." Anders nach deutschem Recht: Versäumnisurteile sind als Endurteile der äußeren und inneren Rechtskraft fähig (Baumbach/Lauterbach/Hartmann, Zivilprozessordnung, 60. Auflage, § 322 Rdnr. 69, und Übersicht vor § 330 Rdnr. 16). 479 So die detaillierte Darstellung von N. Schulte, Die anderweitige (ausländische) Rechtshängigkeit im U.S.-amerikanischen Zivilprozessrecht, 2001, Seite 107 ff. 480 Schulte, a. a. 0., Seite 97 zitiert die Ausdriicke "litispendence", "pendency", "pendency of former/prior/another foreign action/suit", "another action pending" und "parallel/multiple proceedings". 481 Siehe oben H.1.d), Seite 31 und IV.2.a), Seite 106.
9 Wemecke
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
mung der mehreren Streitigkeiten, zu erweitem482 ; die Berücksichtigung der Rechtshängigkeit in verschiedenen Bundesstaaten, im Verhältnis zu den Bundesgerichten und zum Ausland steht ausschlaggebend im richterlichen Ermessen, das nach dem Maßstab der "efficiency" der Verfahren zu der Beilegung der Streitigkeiten auszuüben ist. 483 Die hier interessierende Konkurrenz der Leistungs- mit einer (später anhängig gemachten) Feststellungsklage, der "action for a declaratory jugdment", wird anders als im deutschen Prozessrecht flexibel entschieden: Die Feststellungsklage ist zwar im Prinzip unzulässig, wenn das Gericht schon kraft der bereits anhängigen Leistungsklage mit der begehrten Rechtsfolge befasst worden ist. 484 Kann die Feststellungsklage jedoch durch ein zügiges Verfahren einen Rechtsverlust verhindern, sollen beide Klagen - selbstredend nur bis zur Rechtskraft einer der Entscheidungen - ungehindert miteinander konkurrieren. "A declaratory jugdment may not be refused, if the controversy will not necessarily be determined in such suit. Where speedy relief is necessary to the preservation of rights which otherwise may be impaired or lost, courts will entertain an action for a declaratory judgment as to questions which are determinable in a pending action or proceeding between the same parties."485 482 Schulte, Die anderweitige (ausländische) Rechtshängigkeit im U.S.-amerikanischen Zivilprozessrecht, Seite 113 f. 483 Sec. 6 des Uniform Declaratory Jugdment Act, abgedruckt bei Borchard, Declaratory Jugdments, 2nd edition, page 1040: "The court may refuse to render or enter a declaratory jugdment or decree where such jugdment or decree, if rendered or entered, would not terminate the uncertainty or controversy giving rise to the proceeding." - "Das Gericht ist befugt, ein Feststellungsurteil zu verweigern oder in die Verhandlung einer Feststellungsklage einzutreten, wenn eine Verhandlung oder ein Urteil nicht die Unsicherheit oder den Streit als Anlass der Prozessführung beendigen würde." Weiter dazu Schulte, Die anderweitige (ausländische) Rechtshängigkeit im U.S.-amerikanischen Zivilprozessrecht, Seite 152, 157 ff. und vor allem 207 ff. 484 Volume 26, § 22, page 90 des Corpus Juris Secundum: "Where another appropriate action involving the same object matter and issues is already pending when the declaratory judgment proceedings commenced, a declaratory judgment proceeding will not ordinarily be entertained, but the mere pendency of another action between the same parties, without more, is no basis for refusing declaratory relief." - "In dem Falle, dass eine andere zulässige Klage mit demselben Streitgegenstand und Ziel bereits zu dem Zeitpunkt anhängig ist, zu dem eine Feststellungsklage erhoben wird, soll die Feststellungsklage regelmäßig nicht zugelassen werden, während die bloße Anhängigkeit einer anderen Klage zwischen denselben Parteien ohne diese Bedingung nicht die Grundlage für die Abweisung eines feststellenden Verfahrens sein darf." 485 Corpus Juris Secundum, page 91 p: "Eine Feststellungsklage darf wegen der Anhängigkeit eines anderen Rechtsstreits nicht verworfen werden, wenn dieser über die Streitsache nicht mit Notwendigkeit befindet. Ist eine schleunige Entscheidung für die Sicherung von Rechten geboten, die andernfalls beeinträchtigt oder ganz ver-
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
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aa) Ein instruktives Beispiel für die Unzulässigkeit einer Feststellungsklage, erhoben, um eine bereits anhängige Leistungsklage auf Schadensersatz mit der dort vorgeschriebenen Entscheidung durch eine Jury zu unterlaufen, gibt ein Berufungsurteil des "United States Circuit Court of Appeals, Fourth Circuit" vom Jahre 1937. 486 Eine Ehefrau wurde als Insassin eines von ihrem Ehemann gesteuerten Kraftfahrzeugs bei einem Unfall verletzt. Sie nahm ihren Mann als Verursacher auf einen Teilbetrag ihres Schadens von 5.000 Dollar in Anspruch und erzielte ein stattgebendes Urteil. Da die Haftpflichtversicherung des Mannes den Schaden nicht deckte, nahm sie diese ebenfalls in Anspruch. Während der anhängigen Prozesse erhob die Versicherung eine gegen beide Eheleute gerichtete Feststellungsklage, mit der sie ein betrügerisches Zusammenwirken der Eheleute zu ihrem Nachteil geltend machte. Diese Klage wurde mit Billigung des Berufungsgerichts vom District Court abgewiesen. 487 Das Berufungsgericht unterstellte der Feststellungsklägerin, sie wolle den Einwand des Handeins wider Treu und Glauben in diesem Verfahren nur erheben, um die im Schadensersatzprozeß gebotene Entscheidung durch loren wären, werden die Gerichte Feststellungsklagen auch im Hinblick auf Fragen verhandeln, die zwischen denselben Parteien in einer anhängig gemachten Klage oder in einem laufenden Verfahren entschieden werden könnten." 486 Aetna Casualty & Surety Co. v. Quarles et al. , Federal Reporter, 2nd Series, Vol. 92, pp. 321 et s. 487 Das Berufungsurteil führt an der entscheidenden Stelle seiner Begründung aus (no. 11, page 325): "Tbe declaratory judgment was sought under the bill as amended, therefore, merely for the purpose of determining the validity of a defense which the company was asserting in the action against it and which could be equally weIl determined in that action. The granting of the declaratory relief would have meant a piecemeal trying of the controversy without benefit to any one. Under such circumstances the court properly exercised its discretion in refusing to entertain the bill. It is weIl settled that the declaratory judgment should not be invoked merely to try issues or determine the validity of defensing in pending cases." "Die verbesserte Klageschrift (i. e. der Versicherung) beantragte daher ein feststellendes Urteil lediglich zu dem Zweck, die Verteidigung der Versicherung gegen die Klage (i.e. des Versicherungsnehmers und seiner verletzten Ehefrau) zu bestärken. Diese Verteidigung konnte aber in gleicher Weise in dem bereits anhängigen Rechtsstreit vorgetragen werden. Die Zulassung der erhobenen Feststellungsklage hätte zur Folge, dass die Auseinandersetzung zwischen den Parteien stückweise ohne einen Nutzen für irgend jemand beschieden würde. In Anbetracht dieser Prozesslage hat das untere Gericht sein Ermessen, die Feststellungsklage zu verweigern, sachgemäß ausgeübt. Es ist herrschende Meinung, dass eine Feststellungsklage nicht lediglich mit dem Ziel erhoben werden darf, Streitfragen anhängiger Verfahren zu erörtern oder die Verteidigung in diesen auszubauen." 9*
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
eine Jury zu vermeiden. 4gg Es verwarf die Berufung, weil die Leistungsklage den Streitstoff der Feststellungsklage erschöpfe. Der die Sache am besten treffende Leitsatz des Urteils lautet: "Die Zulassung einer Feststellungsklage liegt im fehlerfreien Ermessen des Prozessgerichts, ausgeübt, um die Ziele des ,Federal Dec1aratory Judgment Act,489 zu verwirklichen. Ein solcher Rechtsbehelf sollte jedoch nicht zugelassen werden, um einen Rechtsstreit in kleinen Schritten zu entscheiden und spezielle Streitfragen vor Gericht zu bringen, ohne die Auseinandersetzung im ganzen zu bescheiden oder verfolgt zu dem Ziel, sich in einen bereits anhängigen Rechtsstreit einzumischen. ,,490
bb) Eine weit ausgreifende Auseinandersetzung zwischen dem Inhaber eines Patents und seiner Lizenznehmerin mag das Gesagte unterstützen. 491 Das hier streitige Patent, gewährt im Jahr 1928, schützte eine Maschine und Matrizen zur Herstellung einer Perforation in den Oberteilen von Schuhen. Im darauf folgenden Jahr schloss der Patentinhaber mit den späteren Feststellungsklägem einen Lizenzvertrag, der es ihnen gestattete, in einem 488 "The company seems to think that by asking a declaratory judgment it became entitled to a trial in equity without a jury" (no. 12, 13, p. 325). - "Die Versicherung scheint anzunehmen, dass sie kraft ihrer Feststellungsklage das Recht auf ein Billigkeitsverfahren (i. e. nicht kraft des Comrnon Law!) ohne Mitwirkung einer Jury hätte." Der 7. Zusatz der US.-amerikanischen Verfassung, beschlossen im Jahre 1791, verfügte bei allen Rechtsstreitigkeiten aus dem Common Law mit einem Streitwert von mehr als zwanzig Dollar die Entscheidung durch eine Jury. Das Amendment ist abgedruck bei John R. Vile, Encyc10pedia of Constitutional Amendments, Proposed Amendments and Amending Issues (1996), page 274. 489 Abgedruckt in der Monographie von Borchard, Dec1aratory Jugdments, 2 nd edition, page 1041: "Sec. 274 D (Judicial Code). In cases of actual controversy the courts of the United States shall have power, upon petition, dec1aration, complaint, or other appropriate pleadings to dec1are rights and other legal relations of any interested party petitioning for such dec1aration, whether or not further relief is or could be prayed, and such declaration shall have the force and effect of a final judgment or decree and be revieable as such." - "In den Fällen einer gegenwärtigen Auseinandersetzung haben die Gerichte der Vereinigten Staaten auf Grund eines Antrages, einer Erklärung, einer Klage oder eines anderen zulässigen Vortrags die Befugnis, ohne Rücksicht auf einen anderen Behelf Rechte oder ein anderes Rechtsverhältnis der betroffenen Parteien festzustellen, und ein solcher Ausspruch soll die Kraft und Wirkung eines Endurteils oder einer gerichtlichen Verfügung besitzen und in diesem Sinne auch durch Rechtsmittel angegriffen werden können." 490 Ibid. no. 15 "action: Whether dec1aratory relief shall be granted rests in trial court's sound discretion to be reasonably exercised in furtherance of proposes of Dec1aratory Judgment Act, but remedy should not be accorded to try a controversy by piecemeal, to try particular issues without settling entire controversy, or to interfere with an action already institutes (Jud. Code § 274 d, 28 U.S.c.A. § 400)." 491 Western Supplies Co. et al. V. Freeman et al., Federal Reporter, 2 nd Series, Volume 109 (1940), page 693 s.
3. Abwehr einer Klage im englischen und US-amerikanischen Recht
133
beschränkten Gebiet und zu bestimmten Bedingungen Matrizen herzustellen und zu verkaufen.
In der Folgezeit stellten die Feststellungskläger einen neuen Typ der Maschine in dem Glauben her, sie verletzten nicht das erteilte Patent. Sechs Jahre später verklagte der Patentinhaber die Lizenznehmer auf Zahlung der Lizenzgebühren, er trug außerdem vor, die von den Feststellungsklägern hergestellten Matrizen griffen in sein Patentrecht ein. Dieser nach vier Jahren immer noch anhängige Rechtsstreit kreuzte sich mit einer von den Lizenznehmern später und vor einem anderen Gericht erhobenen Feststellungsklage492 , in der sie geltend machten, durch einen Verzicht des Patentinhabers auf sein Recht493 und die Gewährung neuer Patente unter anderer Bezeichnung sei der Lizenzvertrag erloschen. Sie begründeten die Feststellungsklage mit der Besorgnis, das Gericht des anhängigen Rechtsstreits würde auf die geänderte Situation der Umstellung des streitigen Patents nicht mehr eingehen. Das Gericht der ersten Instanz und das Berufungsgericht wiesen die Feststellungsklage ab: "Wir sind der Auffassung", so die Berufungsrichter494 , "dass eine Feststellungsklage nach dem Declaratory Judgment Act während der Anhängigkeit eines anderen Rechtsstreits zwischen denselben Parteien mit demselben Streitgegenstand vor einem zuständigen Gericht nicht zugelassen werden darf, sofern dieser andere Prozess den Parteien die uneingeschränkte und zügige Bescheidung ihrer Rechte gewährt."
cc) Ein im Jahre 1984 gefälltes Urteil des Supreme Court of Alabama bestätigt diese Rechtsprechung. 495 Wegen der bei einer Überschwemmung erlittenen Schäden an ihrem Eigentum klagten mehrere hundert Geschädigte gegen die Stadtgemeinde Mobile mit dem Vorwurf, die Schäden seien durch ein fehlerhaft angelegtes Abwassersystem verursacht. Während des anhängigen Rechtsstreits erhob die Stadtgemeinde eine Feststellungsklage, mit der sie unter anderem vortrug, ihre Haftung für ein Schadensereignis ("occurrence,,)496 beschränke 492 Auf die Feststellungsklage weist der zweite Leitsatz des Berufungsurteils hin: "Bill by the Western Supplies Company and another against Benjamin W. Freeman and another, for cancellation of a contract, declaratory judgment and other relief. From an order dismissing the bill, plaintiffs appeal." 493 Wegen der Niederlage in einem anderen mit einem anderen Gegner geführten Rechtsstreit. 494 "We are of the opinion, that a suit may not be maintained under the Declaratory Judgment Act when another suit between the same parties, involving the same subject matter, is pending in another court of competent jurisdiction and the parties are thereby enabled to procure a full and immediate adjudication of their rights." 495 Southern Reporter 2 nd Series, Volume 459 (1985), page 836.
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V. Die "Streitanhängigkeit" des Rechts
sich auch bei einer Vielzahl von Klägern auf den Höchstbetrag von insgesamt 100.000 Dollar. Das Oberste Gericht des Staates Alabama verneinte die Zulässigkeit der Feststellungsklage: "This declaratory judgment action was not the proper forum to make the factual determination of what the occurrences were in this case."
dd) Vernachlässigt man den äußeren Rahmen der Prozesse, so stimmen die hier dargestellten amerikanischen Urteile in der Sache und ihrer wesentlichen Argumentation mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Verfahren "Gubisch ./. Palumbo" und "Tatry ./. Maciej Rataj" überein: Befindet das Urteil über eine Leistungsklage auch über das mit einer Feststellungsklage vorgetragene "Rechtsverhältnis", ist das Rechtsschutzbedürfnis des Feststellungsklägers zu verneinen.
496 Die Feststellungsklage konzentrierte sich auf die Bedeutung des Merkmals "occurence" ("Schadensereignis") in dem Statut des Staates Alabama: War das Merkmal des Haftungsstatuts "occurence" auf einen an seinem Vermögen Geschädigten oder auf die Gesamtheit aller durch ein Schadensereignis materiell Geschädigten zu beziehen? Das Oberste Gericht definiert (page 843, no 10): "We hold that for the purpose of § 11-93-2, all injuries that stern from one proximate cause are the result of a single occurence." - "Wir sind der Auffassung, dass für die Anwendung des § 11-93-2 (i. e. des Haftungsstatuts des Staates Alabama) alle Vermögensschäden, die aus einer unmittelbaren Ursache herrühren, das Ergebnis eines einzigen Schadensereignisses sind." Diese Auffassung korrigiert die Meinung der unteren Instanz, dass alle Schäden jeder für sich ("separate occurence", page 837) auf die unmittelbare Ursache zurückzuführen seien.
VI. Zusammenfassende Thesen 1. Der Begriff des "Streitgegenstandes" bzw. des erhobenen "Anspruchs" bestimmt im deutschen und im europäischen Zivilprozessrecht die Grenzen der richterlichen Entscheidungsbefugnis. Er legt ferner die Identität eines Rechtsstreits im Verhältnis zu anderen Verfahren fest, entscheidet mithin darüber, ob "eine und dieselbe Sache" bei zwei oder mehreren Gerichten anhängig ist. Sollte dies zu bejahen sein, ist es Aufgabe des Verfahrensrechts, nicht nur Doppel- oder Parallelverfahren, sondern vor allem unvereinbare Urteile zu vermeiden. 497
2. Die Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen verwirklicht sich nicht allein in der Fassung der Urteilsformel, sie ergibt sich auch aus der Begründung der Urteile, kraft der die zwischen den Parteien streitige Rechtsfolge in Beziehung zum sog. Lebenssachverhalt und den darauf anwendbaren Vorschriften des materiellen Rechts gesetzt wird. 498 3. Der Klageantrag fasst den - in der Klageschrift umschriebenen - Gegenstand des Rechtsschutzgesuchs in eine prägnante, mehr oder weniger abstrakte Formulierung; er trennt ihn damit vom sog. Lebenssachverhalt und löst auf diese Weise auch die Verbindung zu den oft in untechnischer Form wiedergegebenen Normen des materiellen Rechts, auf deren Grundlage über das Klagebegehren zu befinden ist. Er lenkt den Blick des Gerichts auf die das Begehren des Klägers rechtfertigenden Normen und die entscheidungserheblichen Tatsachen.499 4. Knüpft das Gericht die Identität mehrerer Ansprüche an die zwischen den Parteien streitige, sich auf (zumindest teilweise) identische Tatsachen gründende und aus derselben Norm abzuleitende Rechtsfolge, so legt es den geltend gemachten "Anspruch" anhand des sachlichen, nicht des formalen Rechts fest. Die Unvereinbarkeit von Entscheidungen ist mithin anzunehmen, wenn das eine Gericht in seiner Urteilsbegründung aus denselben Tatsachen im Hinblick auf dasselbe streitige subjektive Recht, dieses verstanden als die Inanspruchnahme einer bestimmten Berechtigung, die entgegengesetzten Folgerungen wie das andere gezogen hat. 500 497 498
499
Siehe oben 1., Seite 9 und I11.2.d), Seite 82. Siehe oben Il.l.b), Seite 20 und II.l.b)cc), Seite 25 . Siehe oben I1.l.b)bb), Seite 25 f.
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VI. Zusammenfassende Thesen
5. Gleichartige, etwa auf Zahlung eines bestimmten Geldbetrags gerichtete, Leistungsanträge zielen auf "dieselbe Rechtsfolge", wenn über sie auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Normen des materiellen Rechts zu befinden ist. Soll dagegen über die geltend gemachten Rechtsfolgen auf der Grundlage vollständig verschiedener Tatsachen oder kraft solcher Normen entschieden werden, die weder miteinander konkurrieren noch einander ausschließen, richtet sich das jeweilige Begehren auf unterschiedliche Rechtsfolgen; in diesem Fall kumulieren die geltend gemachten Ansprüche in der Hand des Klägers. 50l 6. Treffen eine Leistungs- und eine negative Feststellungsklage zusammen, bezieht sich der Streit auf dieselbe Rechtsfolge, wenn die Anträge beider Klagen auf (zumindest teilweise) identischen Tatsachen beruhen und im Falle beiderseitigen Obsiegens die Voraussetzungen derselben materiellrechtlichen Bestimmung(en) gleichzeitig bejaht und verneint werden. Darüber hinaus haben Streitigkeiten im Falle der Umkehrung der Parteirollen denselben Gegenstand, wenn der Beklagte des ersten Verfahrens in einem zweiten Prozess die Rolle des Klägers einnimmt und auf der Grundlage derselben Tatsachen dieselbe Rechtsfolge beansprucht wie der Kläger des ersten Prozesses oder wenn die Parteien in den verschiedenen Verfahren auf der Grundlage derselben Tatsachen einander ausschließende materiellrechtliche Ansprüche erheben: Es können nicht beide Parteien Träger desselben subjektiven Rechts oder einander ausschließender Ansprüche sein. Mehrere Prozesse haben, zusammenfassend gesagt, denselben Streitgegenstand, wenn der Kläger des späteren Verfahrens in Bezug auf die in Anspruch genommene Rechtsfolge, die ihr zugrundeliegenden materiellrechtlichen Normen und den sie tragenden Sachverhalt das kontradiktorische oder konträre Gegenteil dessen begehrt, was der Kläger des ersten Prozesses vom Gericht erbittet. 502 7. Als "kontradiktorisch" sind einander widersprechende Rechtsfolgen zu bezeichnen, wenn über die entgegengesetzten Begehren der Parteien auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben (gegebenenfalls miteinander konkurrierenden) Norm(en) zu entscheiden ist. Dabei ist eines (aber nur eines!) der Begehren nach dem Maßstab des sachlichen Rechts (zumindest teilweise) berechtigt.
500 501 502
Siehe oben 1I.1.b)cc), Seite 25 f. Siehe oben 1I.1.b)cc), Seite 27. Siehe oben 1I.1.b)cc), Seite 28 f.
VI. Zusammenfassende Thesen
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Von "konträren" Rechtsfolgen ist zu sprechen, wenn die Parteien gegeneinander Begehren geltend machen, bei denen nach dem Maßstab des sachlichen Rechts aus der Berechtigung des einen unmittelbar auf die mangelnde Berechtigung des anderen zu schließen ist. Beide Verlangen können unbegrundet, nicht aber gleichzeitig begrundet sein. 503 8. Ist die streitige Rechtsfolge aus mehreren, nebeneinander anwendbaren Normen des materiellen Rechts abzuleiten (sog. Anspruchs- oder Anspruchsnormenkonkurrenz), steht der nach der Leistungsklage erhobenen negativen Feststellungsklage auch dann die anderweitige Rechtshängigkeit der Streitsache entgegen, wenn sich der Antrag des Feststellungsklägers auf die Nichtexistenz eines der streitigen Rechtsverhältnisse beschränkt. 504 9. Allein die gemeinsame "Wurzel" zweier Klagen, die unterschiedliche Rechtsfolgen begehren, rechtfertigt nicht die Annahme eines einzigen rechtshängigen "Anspruchs". In einer solchen Lage ist das später angerufene Gericht nicht an die Beurteilung durch das Erstgericht gebunden. Die Identität einzelner Begrundungselemente bei Verschiedenheit der geltend gemachten Rechtsfolgen gestattet es nicht, eines der Verfahren nach Art. 21 EuGVÜ zu "sperren".505 10. Die vollständige Identität geltend gemachter "Anspruche" ist zu bejahen, wenn mit dem Abschluss des Erstverfahrens die Entscheidung über die streitige Rechtsfolge des Zweitverfahrens, und zwar sowohl im Falle des Erfolgs als auch der Abweisung der zuerst erhobenen Klage, feststeht. Die Konsequenz der vollständigen Identität ist regelmäßig die dauerhafte Unzulässigkeit des Zweitverfahrens. 506 11. Grundet sich die vom Kläger geltend gemachte Rechtsfolge auf Bestimmungen, die einander in Bezug auf einzelne Voraussetzungen, z. B. im Hinblick auf das Bestehen oder Nichtbestehen der tragenden Rechtsgrundlage, ausschließen, so ist von einer "qualitativen Teilidentität" der Anspruche, in anderer Formulierung von einer "alternativen Normenkonkurrenz" auszugehen.507 Die qualitative Teilidentität von Anspruchen ist darüber hinaus zu bejahen, wenn die Parteien auf Grund verschiedener Klagen dieselbe Rechtsfolge für sich in Anspruch nehmen, etwa voneinander auf der Grundlage (zumindest) teilweise identischer Tatsachen die Herausgabe derselben Siehe Fußnote 82. Siehe oben Il.l.c), Seite 29 f. 505 Siehe oben II.l.d), Seite 31 f. 506 Siehe oben IIA.a), Seite 44. 507 Siehe oben Fußnote 77. Der Kläger gründet beispielsweise seinen Zahlungsanspruch einerseits auf einen mit dem Beklagten geschlossenen Kaufvertrag und andererseits auf den Gesichtspunkt der ungerechtfertigten Bereicherung. 503
504
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VI. Zusammenfassende Thesen
Sache verlangen. Die (teilweise) Identität der Ansprüche ergibt sich hier aus dem Umstand, dass das streitige Recht nur einer Partei zustehen kann. Ebenso verhält es sich, wenn die Parteien einander ausschließende Rechtsfolgen geltend machen, beispielsweise der eine Teil die Zahlung eines noch aussstehenden Entgelts und der andere die Rückzahlung zuviel entrichteter Beträge verlangt. 508 12. Bei qualitativer Teilidentität der Ansprüche ist das sog. Zweitverfahren nach europäischem Prozessrecht zumindest vorübergehend unzulässig. Es ist entweder auszusetzen oder nach rechtskräftigem Abschluss des Erstprozesses erneut anhängig zu machen. Die später erhobene Klage wird dauerhaft unzulässig, wenn das Urteil im zuerst angestrengten Verfahren die Entscheidung des späteren Verfahrens in vollem Umfang vorwegnimmt. 509 13. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs ist die Identität konkurrierender "Ansprüche" nicht anhand der in den unterschiedlichen Verfahren gestellten Anträge zu ermitteln. Für die Feststellung, dass es sich um "denselben Anspruch", d.h. "denselben Gegenstand und dieselbe Grundlage" einer Klage handelt, soll vielmehr maßgebend sein, ob der "Kernpunkt" beider Prozesse "dasselbe Rechtsverhältnis" ist. Das ist der Fall, wenn das später angerufene Gericht seine Entscheidung über dieselbe streitige Rechtsfolge treffen müsste. Dies wiederum ist anzunehmen, weim es auf der Grundlage zumindest teilweise identischer Tatsachen und identischer Normen, miteinander konkurrierender Vorschriften oder einander ausschließender materiellrechtlicher Bestimmungen zu urteilen hätte. Um "verschiedene Ansprüche" handelt es sich dagegen, wenn die Parteien um verschiedene Rechtsfolgen streiten. Dies ist der Fall, wenn die streitigen Rechte entweder auf verschiedene Tatsachen gegründet sind oder zwar auf (zumindest teilweise identischen) Tatsachen beruhen, jedoch nicht dasselbe Interesse befriedigen und aus diesem Grunde nebeneinander bestehen können (kumulieren).5!O 14. Die Vorschrift des Art. 21 EuGVÜ will miteinander unvereinbare Entscheidungen über dieselbe Rechtsfolge vermeiden. Konkurriert eine Leistungs- mit einer negativen Feststellungsklage, mittels derer der Beklagte des "Erstverfahrens" seine Verteidigung als Angriff vorträgt, so besteht nach europäischem Recht die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen, weil beide Klagen auf der Grundlage derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Vorschriften abgewiesen werden könnten oder beiden stattgegeben werden könnte. 508
509 510
Siehe oben II.4.d), Seite 46. Siehe oben II.4.e), Seite 47. Siehe oben 11.5., Seite 47 f.
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Strengte ein und derselbe Kläger in zwei Vertrags staaten zwei Leistungsklagen an, bestünde die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen bei vollständiger Identität der erhobenen Ansprüche, weil er in einem Verfahren obsiegen und in dem anderen unterliegen könnte. Die Gefahr wäre auch bei teilweiser Identität der Ansprüche zu besorgen, weil beiden im Verhältnis der Alternativität stehenden und in diesem Sinne auf dieselbe Rechtsfolge gerichteten Ansprüchen des Klägers stattgegeben werden könnte. 511 15. Die widersprüchliche Aussage von Entscheidungen besteht im Hinblick auf die unterschiedliche Beurteilung der (gemeinsamen) Voraussetzungen verschiedener Rechtsfolgen. Darüber hinaus werden widersprüchliche Entscheidungen gefallt, wenn mehrere Kläger aus denselben Tatsachen gleichartige Rechtsfolgen herleiten und verschiedene Spruchkörper über deren Voraussetzungen unterschiedlich urteilen. 512 16. Das vom Europäischen Gerichtshof betonte Ziel der "Entscheidungsharmonisierung" erfordert eine möglichst einheitliche Behandlung gleich gelagerter Rechtsstreitigkeiten und die einheitliche Rechtsanwendung im Hinblick auf mehrere, zwischen denselben Parteien streitigen Rechtsfolgen, die von denselben Voraussetzungen abhängen, die, bildlich gesprochen, "dieselbe Wurzel" haben. 513 17. Das Ziel, Entscheidungen miteinander in Einklang zu bringen, bewertet das europäische Recht nicht so hoch wie das Bestreben, einander logisch-begriffliche ausschließende Aussagen über dieselbe Rechtsfolge zu vermeiden. Dementsprechend trifft Art. 22 EuGVÜ im Vergleich zu Art. 21 des Übereinkommens eine schwächere Regelung: Die Aussetzung des später anhängig gemachten Verfahrens oder die Erklärung der eigenen Unzuständigkeit kommt nur in Betracht, solange die beiden im Zusammenhang stehenden Klagen im ersten Rechtszug anhängig sind. 514 18. Der Einwand der Rechtshängigkeit reicht im deutschen Recht nicht weiter als der der Rechtskraft. Demzufolge ist die Gefahr der Unvereinbarkeit von Entscheidungen (hypothetisch) auf die rechtskraftfähigen Feststellungen zu beziehen. Diese Erkenntnis galt bereits im römischen Zivilprozessrecht: Bei der exceptio "bis de eadem re agere non licet" stellte man grundSätzlich auf die "res iudicata" ab. Bezogen auf die Konkurrenz von Leistungs- und Feststellungsklagen hat diese Erkenntnis die vollständige oder zumindest teilweise Identität der Streitgegenstände und damit die Priorität des zuerst angestrengten Verfahrens zur Folge. 515 511 512
513 514
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben 11.5., oben 11.6., oben 11.6., oben 11.6.,
Seite Seite Seite Seite
47 f. 49 f. 52. 52.
VI. Zusammenfassende Thesen
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19. Die berechtigten Einwände gegen die Gleichsetzung des zivilprozessualen mit dem bürgerlich-rechtlichen "Anspruch" rechtfertigen nicht die Gegensätzlichkeit beider Begriffe, sie gebieten lediglich, den Begriff des verfahrensrechtlichen "Anspruchs" in einem weiteren Sinne als "Rechtsfolgebegehren", "Rechtsbegehren", "Rechtsbehauptung" oder "Begehren nach Sachentscheidung", dies bezogen auf subjektive Rechte, zu verstehen. Dieser prozessuale Begriff des "Streitgegenstandes" orientiert sich zwar nicht an den herkömmlichen Einteilungen des Systems der bürgerlich-rechtlichen Ansprüche, wohl aber an den materiellrechtlichen Kategorien der Anspruchskonkurrenz, der alternativen Normenkonkurrenz und der Anspruchshäufung, Begriffen, die ihrerseits durch die Identität (Anspruchsoder Anspruchsnormenkonkurrenz und alternative Normenkonkurrenz) bzw. Verschiedenheit (Anspruchshäufung) des zu befriedigenden Interesses geprägt sind und infolgedessen darüber Auskunft geben, ob in mehreren Verfahren über denselben Streitgegenstand oder verschiedene Begehren verhandelt und entschieden wird. 516 20. Auf das Verhältnis miteinander konkurrierender Ansprüche ist die Vorschrift des § 422 BGB über die Tilgung einer Schuld durch einen Gesamtschuldner entsprechend anzuwenden: Die Befriedigung des Gläubigers hat - bei entsprechender Anwendung der Vorschrift - das Erlöschen aller gegen diesen Schuldner gerichteten (materiellrechtIichen) Ansprüche zur FOlge. 517 21. Da das Gericht gehalten ist, das Begehren des Klägers unter allen einschlägigen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, d.h. alle Normen zu erwägen, deren Anwendung sein Interesse befriedigen, sind verdoppelte Prozesse, mit denen der Gläubiger dasselbe Interesse verfolgt, wegen der Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen und aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie zu unterbinden. 518 22. Zu einer Vervielfältigung der Streitgegenstände kommt es in den Fällen der Anspruchs- bzw. Anspruchsnormenkonkurrenz, wenn man ein verfahrensrechtlich geschütztes Interesse des Klägers an einer doppelten Prozessführung anerkennt, ihm beispielsweise die Möglichkeit eröffnet, einen der miteinander konkurrierenden Ansprüche im Urkunden- oder Wechselprozess zu verfolgen. Hier ist freilich zu prüfen, ob das besondere Verfahren nur anstelle des ordentlichen Prozesses oder neben ihm soll geführt werden dürfen. Gestattet man Parallelprozesse und wird der Beklagte in den verschiedenen Verfahren zur Leistung verurteilt, verlagert sich das Ver515 516 517 518
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben
III., Seite 54. III.l.b), Seite 56 mit Fußnoten 76, 77 und 95. III.l.b), Seite 57. III.l.b), Seite 57.
VI. Zusammenfassende Thesen
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bot der doppelten Befriedigung des Gläubigers auf die Ebene des Vollstreckungsrechts: Der mehrfach verurteilte Schuldner vermag seine doppelte Inanspruchnahme mit der Vollstreckungsgegenklage abzuwehren. Die Vervielfältigung eines ursprünglich einheitlichen Streitgegenstandes kann auch durch Vervielfältigung der Gläubiger eintreten: Anerkennt man die isolierte Abtretung von Ansprüchen, die auf die Befriedigung desselben Interesses zielen, lässt die vollzogene Zession, bedingt durch die Mehrheit der Gläubiger, mehrere Streitgegenstände entstehen. 519 23. Aus der Sicht des deutschen Verfahrensrechts kennzeichnet der Begriff des "Streitgegenstandes" - ebenso wie der europäische Begriff des "Anspruchs" - nicht eine dem Antrag zu entnehmende Rechtsfolge, sondern einen Subsumtionsschluss, der aus dem sog. Lebenssachverhalt und den für die Entscheidung zu erwägenden materiellrechtlichen Vorschriften abzuleiten ist. Ob mehrere zwischen denselben Parteien anhängige Verfahren denselben Streitgegenstand oder mehrere Streitgegenstände haben, hängt mithin von der Eigenart der einzelnen geltend gemachten Rechte ab: Sind die beanspruchten Rechtsfolgen das Ergebnis einer Anspruchshäufung oder gründen sie sich auf Bestimmungen, die miteinander konkurrieren bzw. einander ausschließen? Dies wiederum kann, sofern nicht der Inhalt des Begehrens eine Häufung von vornherein verbietet, nur auf der Grundlage des sog. Lebenssachverhalts, d. h. der Tatsachen ermittelt werden, welche die einzelnen Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Die Aufnahme der entscheidungserheblichen Tatsachen in den prozessualen Begriff des "Anspruchs" dient mithin der Festlegung, ob der Kläger die Befriedigung eines und desselben Interesses im Sinne des materiellen Rechts erstrebt. 520 24. Gründet sich die Klage auf einen vollständig identischen Sachverhalt, auf den mehrere anspruchsbegründende Normen anwendbar sind, liegt eine Anspruchs- oder Anspruchsnormenkonkurrenz im Sinne des materiellen Rechts vor. Bei nur teilweiser Identität der entscheidungserheblichen Tatsachen sind sowohl eine Anspruchshäufung, eine Anspruchsnormenkonkurrenz oder eine alternative Normenkonkurrenz denkbar. Ist zu ermitteln, ob ein einheitlich formulierter Klageantrag oder mehrere Anträge auf die Befriedigung desselben Interesses des Klägers gerichtet sind, so wird er durch das Konkurrenzverhältnis der vom Gericht zu erwä519 520
Siehe oben III.l.b), Seite 58. Siehe oben III.l.e), Seite 58 f.
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VI. Zusammenfassende Thesen
genden Vorschriften des materiellen Rechts bestimmt. Dies ist der materiellrechtliche Kern aller prozessualen Lehren des Streitgegenstandes. 521 25. Die materiellrechtliche Ausrichtung des "Streitgegenstandes" lässt sich auch aus dem Gerichtskostengesetz gewinnen. 522 26. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs haben das Verdienst, den gedanklichen Zusammenhang zwischen dem Rechtsbegehren einerseits und - vermittelt durch die entscheidungserheblichen Tatsachen - den heranzuziehenden Normen des materiellen Rechts in Erinnerung gerufen zu haben: Im Falle der Anspruchshäufung bilden zwei ihrer äußeren Gestalt nach identische, jedoch auf die Befriedigung eines unterschiedlichen Interesses gerichtete Anträge verschiedene Streitgegenstände. 523 27. Um feststellen zu können, ob eine Klage wegen anderweitiger Rechtshängigkeit der "Streitsache" unzulässig ist, hat das später angerufene Gericht, ausgehend von dem prozessualen Verständnis des Streitgegenstandes, zu prüfen, ob in dem (von derselben Partei angestrengten) sog. Erstprozess (zumindest teilweise) identische Tatsachen wie im "Zweitprozess" eingeführt wurden und ob das spätere Verfahren auf der Grundlage solcher Bestimmungen zu entscheiden wäre, die - miteinander konkurrierend - auch das zuerst angerufene Gericht zu erwägen hat oder deren Anwendung aus dem Gesichtspunkt der alternativen Normenkonkurrenz ausgeschlossen ist. Bei Umkehrung der Parteirollen haben zwei unterschiedlich formulierte Anträge gleichwohl denselben Streitgegenstand, wenn über sie auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden materiellrechtlichen Bestimmungen zu entscheiden ist. 524 28. Die Frage, ob die gerichtliche Entscheidung über eine Rechtsfolge begehrt wird, die bereits Gegenstand eines anderweitig rechtshängigen Verfahrens ist, lässt sich nur durch den Vergleich der (aus der Sicht des Gerichts) entscheidungserheblichen Tatsachen und Normen beantworten, deren Ermittlung durch den vom Kläger gestellten Antrag geleitet wird. 525 29. Die Erkenntnis, dass sich die Identität mehrerer Streitgegenstände nach dem Grund und Ziel der Klagen bestimmt, machen bereits die im klassischen römischen Zivilprozessrecht verwendeten Klageformeln ("actiones") einsichtig, in denen der Kläger sein Begehren zusammenfasst und dem Prätor zur Verhandlung und Entscheidung unterbreitet. 526 521 522 523 524 525
Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben oben
III.1.e)aa), Seite 61. III.1.e )bb), Seite 61 f. III.1.d), Seite 63. III.1.d), Seite 63. III.1.e), Seite 65.
VI. Zusammenfassende Thesen
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30. Mehrere Klagen haben identische Streitgegenstände, wenn über die in den Anträgen behaupteten Rechtsfolgen auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen und derselben, miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Normen des materiellen Rechts zu entscheiden wäre. Die Identität besteht nur insoweit, wie die Rechtskraft der hypothetischen Entscheidungen reicht. 527 31. Die Streitgegenstände konkurrierender Verfahren sind entweder vollständig oder teilweise identisch, und dies sowohl im qualitativen, auf den Rechtsgrund bezogenen, als auch im quantitativen, auf die Rechtsfolgen einer Leistungsklage bezogenen, Sinne. Treffen eine Leistungs- und eine negative Feststellungsklage aufeinander, hat die Konkretisierung des Begehrens des Klägers durch die rechtsbegründenden Tatsachen und die entscheidungserheblichen materiellrechtlichen Vorschriften eine Erstreckung der inneren Grenzen der Rechtskraft zur Folge: Nicht nur ist die im Tenor ausgesprochene Entscheidung über das Klagebegehren einem weiteren gerichtlichen Verfahren entzogen; auch der in den Prozess eingeführte Lebenssachverhalt ist einer abweichenden Beurteilung des beschiedenen Begehrens nicht mehr zugänglich. Darüber hinaus ist das "Zweitgericht" an die rechtliche Würdigung des "Erstgerichts" gebunden, wenn seine Entscheidung auf den im früheren Verfahren rechtskräftig beschiedenen Anspruch aufbaut. Insoweit erwächst - bezogen auf das konkrete Rechtsschutzbegehren des Erstprozesses - auch dessen rechtliche Beurteilung in Rechtskraft. 528 32. Das Prozesshindemis der Rechtshängigkeit einer Streitsache bezieht sich auf die vollständige Identität konkurrrierender Streitgegenstände, d.h. auf den Fall, dass das spätere Rechtsschutzbegehren kraft des Urteils über die zuerst erhobene Klage in vollem Umfang beschieden wird. Diese Situation ist indessen bei Verfahren, die über kontradiktorische Rechtsfolgen befinden, nicht ausnahmslos und bei Prozessen über konträre Folgen wegen des ungewissen Ausganges des zuerst angestrengten Prozesses nie gegeben. 529 33. Beschränkt man die Aussetzung eines Rechtsstreits kraft der Vorschrift des § 148 ZPO auf die Fälle vollständiger Verschiedenheit der Streitgegenstände, so verengt man den Anwendungsbereich der Vorschrift ohne zwingenden Grund, dient die genannte Norm doch auch der "Entscheidungsharmonie", d.h. der Vermeidung von Urteilen, die miteinander nicht in Einklang zu bringen sind. Diese unerwünschte Situation tritt ein, wenn 526 527 528 529
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben
III.l.f), Seite 66 f. III.2., Seite 68. III.2.b), 70 f. III.2.c )aa), Seite 78.
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VI. Zusammenfassende Thesen
dieselben Tatsachen durch verschiedene Gerichte in parallelen Prozessen unterschiedlich bewertet werden. Ihre Beurteilung kann sich auf verschiedene, aber auch auf teilweise oder sogar vollständig identische Rechtsfolgen beziehen. Unter dem Begriff der "Abhängigkeit" der Entscheidung im Sinne des
§ 148 ZPO ist nicht nur die materiellrechtliche Vorgreiflichkeit eines
Rechtsverhältnisses, sondern auch - bezogen auf den Einwand der Rechtshängigkeit - die Zulässigkeit eines Zweitverfahrens zu verstehen. 53o
Die Geltung dieser Vorschrift lässt sich schließlich nicht wegen des Verbots bestreiten, eine bereits anhängige Sache vor ein anderes Gericht zu bringen: Dieses Verbot gilt nur, wenn über den Gegenstand eines "Zweitprozesses" kraft des (hypothetischen) Urteils im "Erstprozess" vollständig befunden wird. 53l 34. Ist die Gefahr, dass die zu fällenden Urteile wegen vollständiger oder teilweiser Identität der Streitgegenstände miteinander unvereinbar sind, nicht anders als durch Aussetzung eines Verfahrens zu beheben, so steht diese nicht mehr im Ermessen des Gerichts: Bei einer abweichenden Entscheidung würde das Gebot der Entscheidungsharrnonie in besonderer Weise verletzt. 532 35. Der Einwand, eine Sache dürfe wegen der Rechtshängigkeit desselben Anspruchs nicht mehr verhandelt und beschieden werden, rechtfertigt sich nicht allein aus der sog. Prozessökonornie, d. h. dem Verbot, Rechtsstreitigkeiten zu führen, die, gemessen an den Mitteln und Kräften der Parteien und der Justiz, nicht mehr vertretbar sind. Das Prozesshindernis hat vor allem seinen Grund darin, miteinander unvereinbare Entscheidungen zu verhüten, weil diese die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden stören. Führte man nämlich den Einwand der Rechtshängigkeit allein auf die sog. Prozessökonomie zurück, könnte man nicht den Erlass widersprüchlicher Urteile in den Fällen vermeiden, in denen die erhobenen Ansprüche nur teilweise identisch sind. 533 36. Mit der Anerkennung eines generellen Vorrangs der Leistungsklage auch vor einer zuerst erhobenen negativen Feststellungsklage ist nicht gewährleistet, dass sich nur ein Spruchkörper mit einer und derselben Rechtsfolge befasst, weil auch bei Erledigung einer Feststellungsklage darüber zu entscheiden ist, welche Partei die Kosten des bisherigen Verfahrens trägt. Der Gewinn aus dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie, den der behaup530 531 532 533
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben
III.2.c.)bb) bis dd), Seite 79 ff. 1II.2.c)dd), Seite 8I. III.2.c )dd), Seite 8I. III.2.d), Seite 82.
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tete Vorrang der Leistungsklage mit sich bringt, ist daher zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund ist die verweigerte Sachentscheidung über eine zuerst angebrachte Feststellungsklage nicht zu rechtfertigen. Dementsprechend darf dem Feststellungskläger ein von ihm zulässigerweise gewähltes Forum nicht durch die später angebrachte Leistungsklage wieder genommen werden. 534 37. Die Leistungsklage genießt im Verhältnis zu einer ihr vorangehenden negativen Feststellungsklage keinen Vorrang. Wird sie später als die Feststellungsklage erhoben, ist sie bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Feststellungsantrag auszusetzen, sofern die konkurrierenden Klagen (bezogen auf den mit der Leistungsklage verfolgten Anspruch) den Ausspruch des kontradiktorischen Gegenteils begehren. Lässt sich der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch allerdings auf andere Normen als das zum Gegenstand der Feststellungsklage gemachte Rechtsverhältnis gründen, kann das Gericht über dieses Begehren befinden, ohne die Entscheidung im Feststellungsverfahren abwarten zu müssen. 535 38. Ist die Feststellungsklage später als die Leistungsklage erhoben, genießt sie keinen Vorrang, wenn zwischen den Parteien keine weiteren als die mit der Leistungsklage geltend gemachten Rechtsfolgen streitig sind: Denn mit der Entscheidung über das Leistungsbegehren ist auch über das "Rechtsverhältnis" der Feststellungsklage entschieden; ein weiterreichendes Rechtsschutzbedürfnis des Feststellungsklägers und Beklagten der Leistungsklage besteht nicht. Ebenso verhält es sich, erstrebt der Kläger nur die Feststellung, dass der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch nicht auf bestimmte materiellrechtliche Vorschriften zu gründen ist. 536 39. Erheben die Parteien aus einem streitigen Rechtsverhältnis verschiedene, gerichtlich nicht anhängig gemachte Ansprüche, hat die negative Feststellungsklage, die das Bestehen des Rechtsverhältnisses insgesamt leugnet, den Vorrang, weil sie weiter als der Antrag reicht, einen einzelnen Anspruch zu befriedigen, mithin ungeachtet des Urteils über die Leistungsklage beschieden werden muss. Die Gefahr, dass durch ein stattgebendes Feststellungsurteil das kontradiktorische Gegenteil eines die Klage gutheißenden Leistungsurteils ausgesprochen wird, lässt sich durch einen Vorbehalt in der Urteilsformel vermeiden: Das Feststellungsurteil ergeht "unbeschadet der Entscheidung im Verfahren über die Leistungsklage". Das mit der Feststellungsklage befasste Gericht befindet auf diese Weise nicht über den Entstehungsgrund des mit der Leistungsklage verfolgten Anspruchs, 534 535 536
Siehe oben III.2.e)aa)(1)(a) bis (e), Seite 85 f. Siehe oben II1.2.e )aa)(2)(d), Seite 92. Siehe oben III.2.e)bb)(1), Seite 92.
10 Wemecke
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sondern nur über die Grundlage von noch nicht anhängigen Ansprüchen, ein Vorgehen, das einem weiter gefassten Begriff der "Entscheidungsharmonisierung" dient und sich nicht aus dem Einwand der rechts hängigen Sache ableiten lässt. Die Aussetzung des zuerst begonnenen Verfahrens über die Leistungsklage rechtfertigt sich hier nicht aus dem Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit, sondern nur aus dem Bedürfnis, verschiedene, zwischen den Parteien streitige Rechte auf der Grundlage eines einheitlich beurteilten Rechtsverhältnisses festzulegen. 537 40. Dass sich die Aussetzung des Verfahrens über die gemeinsame Grundlage mehrerer streitiger Rechte und Pflichten nicht aus dem Einwand der Rechtshängigkeit ableiten lässt, ist bereits dem römischen Zivilprozessrecht zu entnehmen. Kraft einer "exceptio quod praeiudicium fundo (hereditati) non fiat", der "Einrede, dass das Eigentum am Grundstück (das Erbrecht) nicht übergangen (nicht präjudiziert) werden dürfe", vermochte der Beklagte dem Kläger die Entscheidung eines vorgreiflichen Verhältnisses aufzwingen, um durch dessen Klärung Rechtsfrieden zwischen den Parteien eintreten zu lassen. Nach römischem Verständnis genießt die "wichtigere", weil grundlegendere Klage den Vorrang vor der weniger gewichtigen; sie soll durch diese nicht "präjudiziert" werden. 538 41. Die später erhobene Feststellungsklage genießt im Verhältnis zu einer ihr vorangehenden Leistungsklage keinen zwingenden Vorrang. Zielt der Feststellungsantrag lediglich darauf, den mit der Leistungsklage verfolgten Anspruch zu leugnen, ist die Feststellungsklage unzulässig und sogleich abzuweisen. Die Aussetzung des Verfahrens über die Feststellungsklage ist nicht zwingend geboten, wenn sie ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand hat, aus dem verschiedene, zwischen den Parteien streitige, jedoch noch nicht anhängig gemachte Ansprüche erwachsen können. Der Gefahr von miteinander unvereinbaren Urteilen über die Feststellungs- und die Leistungsklage kann durch Einschränkung der Urteilsformel über die Feststellungsklage vorgebeugt werden. 539 42. Der Vorrang des zeitlich früher anhängig gemachten Verfahrens lässt sich nicht rechtfertigen, wenn das spätere Verfahren, dessen Gegenstand eine Leistungsklage ist, auf eine besonders zügige Entscheidung mit beschränkter Tatsachengrundlage ausgerichtet ist: Das Recht des Leistungsklä537 538 539
Siehe oben III.2.e)bb)(2) und (2)(a), Seite 92 und 93. Siehe oben III.2.e)bb)(2)(b), Seite 95 f. Siehe oben III.2.e)bb)(2)(d), Seite 97 f.
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gers auf einen beschleunigten Prozess darf nicht dadurch aufgehoben werden, dass die Gegenpartei zu einem früheren Zeitpunkt einen Rechtsstreit anstrengt, in dem der gesamte Tatsachenstoff zu verhandeln ist. Diese Begünstigungen gelten beispielsweise für den Urkunden- und Wechselprozess im Verhältnis zu einer den Anspruch leugnenden Feststellungs- oder Löschungsklage eines Grundpfandrechts und für die Klage auf Herausgabe einer Sache wegen verbotener Eigenrnacht des Beklagten im Verhältnis zu einer die Herausgabepflicht bestreitenden Feststellungsklage. 540 43. Ist dem Feststellungskläger an einer einheitlichen Beurteilung des streitigen Rechtsverhältnisses oder dem Leistungskläger an einer möglichst zügigen Entscheidung seines Begehrens gelegen, so ist dem Feststellungsbzw. dem Leistungskläger in der Regel die Möglichkeit gegeben, in dem bereits anhängigen Verfahren eine Widerklage auf Feststellung oder Leistung zu erheben. Dem Feststellungskläger ist die Erhebung einer Widerklage kraft gesetzlicher Vorschrift ausdrücklich gestattet, § 256 Abs. 2 ZPO. Das Opfer, das der Widerkläger hierfür zu erbringen hat, ist der Verzicht auf die Wahl eines sich anbietenden Gerichtsstandes. 54 ) 44. Die Feststellungswiderklage ist unzulässig, wenn der mit der Leistungsklage verfolgte Anspruch und das streitige Rechtsverhältnis vollständig identisch sind. Denn stellt das festzustellende Rechtsverhältnis den mit der Leistungsklage verfolgten Anspruch dar, verlangt der Feststellungskläger nur das kontradiktorische Gegenteil dessen, was der Leistungskläger begehrt.
Der solchenfalls im Tenor des Urteils enthaltene Leistungsbefehl besagt, dass vom Bestehen des geltend gemachten Anspruchs auszugehen ist. Ein die Klage abweisendes Urteil gestattet den gegenteiligen Schluss. In beiden Fällen ist über den Antrag einer konkurrierenden negativen Feststellungsklage nicht zu befinden. 542 45. Der Feststellungs-Widerkläger muss ein Bedürfnis geltend machen, das nicht allein durch den feststellenden Teil der Leistungsklage befriedigt wird. Nach dem Vortrag des Widerklägers muss die Möglichkeit bestehen, dass zwischen den Parteien der Leistungsklage noch weitere mit dieser nicht verfolgte Ansprüche im Streit sind. 543
540 541 542 543 10*
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben
III.2.e)cc), Seite 98 ff. II1.2.e)dd), Seite 102. II1.2.e)dd)(l)(a), Seite 102. III.2.e )dd)(l )(b), Seite 103 f.
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46. Wenn trotz der Anhängigkeit des Prozesses über eine Leistungsklage der Feststellungs-Widerkläger ein "rechtliches Interesse" an der Verfolgung seines Begehrens hat, rechtfertigt sich dieses nicht aus der Gefahr miteinander unvereinbarer Entscheidungen über mehrere Leistungsklagen, sondern dem übergeordneten Gesichtspunkt der "Entscheidungsharmonisierung". Die gemeinsam mit der Leistungsklage verhandelte Feststellungs-Widerklage hat demzufolge eine weiterreichende Wirkung als eine isolierte und im Nachgang zu einer Leistungsklage erhobene Feststellungsklage. 544 47. Die (ausnahmsweise vollständige) oder (teilweise) Identität einer Feststellungs- und einer Leistungs-Widerklage macht die Leistungsklage nicht unzulässig, sofern die beiden Klagen gleichzeitig verhandelt und beschieden werden. Die Gefahr einander widersprechender Urteile darf hier selbst. bei kontradiktorischen oder konträren Anträgen der Parteien als ausgeschlossen gelten. In diesen Fällen ist der Grundsatz der zeitlichen Priorität einer Klage nicht zu beachten. 545 48. Die Identität der zwischen den Parteien streitigen "Ansprüche" lässt sich auch nach der prozessualen Lehre vom "Streitgegenstand" nicht allein anhand des Klageantrags und eines "einheitlichen Lebenssachverhalts" ermitteln; sie ist vielmehr danach zu beurteilen, ob die Parteien auf der Grundlage (zumindest teilweise) identischer Tatsachen über die Anwendung derselben miteinander konkurrierenden oder einander ausschließenden Vorschriften streiten, die im Verhältnis der sog. Anspruchsgrundlagenkonkurrenz stehen oder einander ausschließen. Können die in mehreren Verfahren streitigen Rechtsfolgen nebeneinander bestehen, ist die Identität der Klagen zu verneinen. Daraus folgt: Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs begründen nicht die Notwendigkeit, die für das nationale deutsche Recht vertretenen Lehren des "Streitgegenstandes" den europäischen Festlegungen anzupassen. Es bedarf auch keiner Übernahme einer sog. Kernpunkttheorie in das heimische Recht. Vielmehr ist es dem Europäischen Gerichtshof zu verdanken, dass die deutschen Theorien vom "Streitgegenstand" auf einen sie mit dem materiellen Recht verbindenden Kern zurückgeführt werden können. 546 49. Die hier entwickelte Darstellung von Rechtsordnungen, die bisher kaum in den Blick der deutschen und europäischen Literatur und Rechtsprechung gefallen sind, zeigt ein buntes Bild. Sie gewinnt gerade in der Auswertung der Judikatur eine den Betrachter ernüchternde Gestalt: Wenn sich auch der Streitgegenstand der kontinentaleuropäischen Rechte, das "objet du litige" in französischer Ausdrucksweise, immer noch aus dem "qua de 544 545 546
Siehe oben III.2.e)dd)(1)(b), Seite 103 f. Siehe oben III.2.e)dd)(2), Seite 104 f. Siehe oben IV., Seite 106 f.
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re agitur" ("id ipsum de quo agitur") und der "causa" des römischen Prozessrechts ableiten lässt, so gestattet das begrifflich weniger geprägte englische und US-amerikanische Recht der "lis alibi pendens" nur einen Vergleich mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs in den Sachen "Gubisch/Palumbo" und "Tatry ./. Maciej Rataj".547
547
Siehe oben V., Seite 109 ff.
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