Die Messias-Sucher : Die Schriftrollen vom Toten Meer und die jüdischen Ursprünge des Christentums 3783121507

Die Schriftrollen vom Toten Meer haben immer wieder für Skandale gesorgt. Unvergessen ist die von vielen gern geglaubte

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Die Messias-Sucher : Die Schriftrollen vom Toten Meer und die jüdischen Ursprünge des Christentums
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*ÖVU 5Vpolis< (Stadt), wie Dion sie nannte, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das Leben in der abgelege­ nen Siedlung Armut, Hunger und Durst bedeutete. Ein bewusst ein­ facher Lebensstil mag es eher gewesen sein, auch wenn Fisch, Fleisch und Geflügel reichlich vorhanden waren. Auf jeden Fall muss sich ihr Ruhm in weiten Teilen des Römischen Reichs - auch dort, wo Männer wie Plinius und Dion lebten - verbreitet haben, so dass selbst nach dem Untergang der Essener über sie berichtet wurde. Plinius und Dion waren nichtjüdische Berichterstatter. Sie be­ schränkten sich auf die Ereignisse am Toten Meer. Andere Verfasser vermitteln uns die Ereignisse der damaligen Zeit aus einer breiteren Perspektive. Sie betonen zwar auch, dass die Siedlung am Toten Meer das Zentrum der Essener war, aber nicht das einzige Siedlungs­ gebiet. Auch andere Ortschaften, Dörfer oder Städte werden mit den Essenern in Verbindung gebracht. Dies wird jedenfalls von zwei zeitgenössischen Autoren angenommen: Philo von Alexandria und Josephus - beides Juden, im Gegensatz zu Plinius und Dion. Philo ist vielleicht der größte jüdische Philosoph der Zweiten Tempel-Pe­ riode. Er war Diplomat, begleitete eine Delegation zu Kaiser Gaius (Caligula) und protestierte gegen die antisemitischen Ausschreitun­ gen in der Stadt (worüber er einen bewegenden Essay schrieb). Er betrachtete das Judentum in Galiläa, Judäa und Samaria aus der Dis­ tanz - nicht nur geographisch. Auch zur jüdisch-hebräischen Kultur hatte er einen gewissen Abstand. Es scheint, dass er, wie viele Juden in der Diaspora, kein Hebräisch sprach und auf die griechische Übersetzung der Bibel, die so genannte Septuaginta’, angewiesen war. Daher löste er den Gordischen Knoten einer hebräischen und griechischen Version der Bibel, indem er sagte, dass beide Schriften göttlich inspiriert seien.10 So dürfen wir annehmen, dass die einzigen ihm bekannten Schriften der Essener die griechisch geschriebenen

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Was die Alten wussten

waren. Einige wurden in der Höhle 4 wiederentdeckt. Auch Kopien dieser Schriften aus der Höhle 4 waren wahrscheinlich schon vor Philos Tod um das Jahr 50 n.Chr. über die Grenzen von Qumran hinaus bekannt. Philo berichtet jedenfalls von Essener-Gemein­ schaften, die sich überall im jüdischen Gebiet ansiedelten:

Einige von ihnen [die Juden in Syro-Palästina], etwa viertausend an der Zahl, werden Essaeer [Essaioi] genannt. Obgleich das im stren­ gen Sinn kein griechisches Wort ist, so könnte es meines Erachtens mit dem Ausdruck »Heiligkeit« verwandt sein. Tatsächlich widmen diese Menschen ihr Leben völlig dem Dienst an Gott. Sie bringen keine Tieropfer dar, sondern halten es für angemessener, ihren Geist rein und heilig zu halten. Auch muss erläutert werden, dass sie in Dörfern leben, dass sie die Städte fliehen, wegen der Gottlosigkeit, die unter den Bewohnern vorherrscht. Sie wissen, dass verschmutzte Luft dort zur Ausbreitung von Epidemien führt, so wie das gesellschaftliche Leben die Seele mit unheilbaren Krankheiten befällt. Manche Essae­ er arbeiten auf dem Feld, andere gehen friedlich ihrem Gewerbe nach, und so tun sie Gutes für sich und ihre Nachbarn. Sie horten kein Silber und kein Gold und besitzen auch keine großen Lände­ reien, um Pacht erheben zu können. Aber sie beschaffen sich, was sie zum täglichen Leben brauchen. Fast allein unter allen Menschen le­ ben sie ohne Güter und ohne Besitz. Sie tun dies, weil sie es so vorzie­ hen und nicht auf Grund vergangener Missgeschicke. So empfinden sie sich als sehr wohlhabend und betrachten Genügsamkeit und Zu­ friedenheit als den wahren Reichtum." Vergebens sucht man unter ihnen Männer, die Pfeil und Bogen, Speere, Schwerter, Helme oder Rüstungen oder Schilde herstellen, kurz, Waffen oder Kriegsmaschi­ nen oder Ausrüstungen. Sie stellen nicht einmal Werkzeuge her, die sich für den Kampf umrüsten ließen. Sie haben nicht die geringste Idee, nicht einmal den Traum einer Vorstellung von Kaufen und Verkaufen oder Seehandel. Sie lehnen alles ab, was sie zur Habgier verleiten könnte.12 Unter ihnen gibt es keine Sklaven, nicht einen. Sie sind alle freie Menschen und helfen sich gegenseitig.13 Philo schreibt noch weiter über die Essener, dann auch über ihre »Philosophie« und andere Aspekte des Essenertums. Wir werden später darauf zurückkommen. In einer anderen Schrift, einer Art

Von Plinius zu Josephus »Apologie« des Judentums, die er für Nichtjuden schrieb, nimmt er den Faden wieder auf und wirft ein neues Licht auf den Lebensstil und die Gewohnheiten der Essener. Zum Ende hin wird der Text zu einer eigenartigen und ausführlichen Schmährede über die gefährli­ chen und subversiven Schmeicheleien von Frauen. Dieser Abschnitt ist im folgenden Zitat ausgelassen:

Sie leben in verschiedenen Städten in Judäa, aber auch in vielen Dör­ fern und in großen Gruppen. Die Aufnahme ist unabhängig von der Rasse (denn Rasse ist im Zusammenhang mit Freiwilligen nicht das passende Wort), sondern hängt ab von der Hingabe und Begeiste­ rung für die Tugend und die leidenschaftliche Liebe zu Menschen ... Unter ihnen gibt es Bauern, die sich besonders gut auf das Säen und Pflanzenanbau verstehen, Hirten, die jegliche Art von Herden hü­ ten, und Bienenzüchter. So müssen sie keinen Mangel an lebensnot­ wendigen Dingen leiden und nicht auf den morgigen Tag warten, der ihnen untadelige Einkünfte bringen möge. Wenn nun ein jeder durch sein Gewerbe Geld verdient hat, so händigt er es einem ge­ meinsam gewählten Mann aus. Sobald dieser das Geld in Händen hat, kauft er, was immer nötig ist, sodass es nie an Nahrung fehlt oder anderen Dingen, die sie brauchen. Von Tag zu Tag teilen sie dasselbe Leben, denselben Tisch und sogar dieselben Vorlieben; alle bevorzu­ gen ein genügsames Leben und hassen Luxus, den sie für eine Plage für Körper und Seele halten ... Klug beugten sie dem größten Hin­ dernis vor, das die Bande der Gemeinschaft sprengen könnte, indem sie die Ehe verboten und zugleich die Praxis der strikten Enthaltsam­ keit anordneten. Tatsächlich nehmen die Essener sich keine Frauen, denn Frauen sind egoistisch, übermäßig eifersüchtig und sehr ge­ schickt darin, die moralischen Werte eines Mannes zu umgarnen und ihn durch ihr ewiges Locken zu verführen ... Das Leben der Essaeer ist wahrhaftig so beneidenswert, dass nicht nur Einzelne, sondern so­ gar große Könige voller Bewunderung für diese Menschen sind. Und sie sind gern bereit, ihren ehrenvollen Eigenschaften durch Gefällig­ keiten und Auszeichnungen zu huldigen.'*

Ein etwas jüngerer Beobachter der Szene war Josephus. Er gilt als ei­ ner der faszinierendsten Charaktere seiner Zeit. Josephus wurde um das Jahr 37 n.Chr. geboren und war ausgebildeter Pharisäer und

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Was die Alten wussten

Priester. Mit einer jüdischen Delegation ging er 64 n. Chr. nach Rom. Dort bewirkte er die Freilassung einiger Priester, die durch falsche Anschuldigungen des Prokurators Felix in Gefangenschaft geraten waren (es war derselbe Felix, der auch Paulus in Caesarea gefangen hielt). Josephus wurde von Zeloten überredet, an der Revolte gegen Rom (66 bis 73) teilzunehmen. Er wurde einer ihrer Anführer in Ga­ liläa, kämpfte zu Pferde in Schlachten nahe Bethsaida, wurde gefan­ gen genommen und sollte hingerichtet werden, als er eine brillante Idee hatte: Er sagte voraus, dass der römische General Vespasian, der ihn gefangen genommen hatte, Kaiser werden würde. Jedenfalls wären seine Überlebenschancen ohne diese »Prophezeiung« gleich null gewesen. Zur allgemeinen Überraschung wurde Vespasian tat­ sächlich im Jahre 69 n.Chr. römischer Kaiser. Er überließ seinem Sohn Titus die Aufgabe, Jerusalem und den Tempel zu zerstören und die jüdischen Aufständischen niederzuschlagen. Josephus wurde der kaiserliche Berater für jüdische Fragen, wobei er sich zum verwöhn­ ten Höfling wandelte. Bis zu seinem Tod ca. 98 n.Chr. lebte er hauptsächlich in Rom. Er nahm den Namen der kaiserlichen Familie an, nannte sich von nun an Josephus Flavius und schrieb historische und autobiographisch geprägte Bücher, darunter den Jüdischen Krieg und die Jüdischen Altertümer. Beide Bücher enthalten unzäh­ lige Einzelheiten über das jüdische Leben, die jüdische Kultur, die Politik und Religion, von früheren Zeiten bis zu den Lebzeiten des Josephus. Sogar Personen aus dem Neuen Testament spielen in den Jüdischen Altertümern eine Rolle: Johannes der Täufer, Kaiphas, Pontius Pilatus, Herodes, Jesus und sein Bruder Jakobus.15 Josephus kannte die Essener scheinbar ziemlich gut. Er behauptete jedenfalls, dass er einige Zeit mit ihnen lebte, bevor er sich entschloss, zu den Pharisäern zu gehen: Etwa im Alter von sechzehn Jahren wollte ich mir persönlich ein Bild über unsere verschiedenen Bewegungen machen. Es sind ihrer drei wie ich schon öfter bemerkte: erstens die Pharisäer, zweitens die Sad­ duzäer und drittens die Essener. Ich dachte, wenn ich alle drei Denk­ schulen kennenlemen würde, könnte ich die beste von ihnen aus­ wählen. Also nahm ich die Aufgabe in Angriff und studierte die drei Lehren mit einigem Fleiß.16 24

Von Plinius zu Josephus

Obgleich er die Essener persönlich kannte - Josephus ist der einzige zeitgenössische Autor, der behauptet, er hätte einige Zeit bei ihnen gelebt -, ist seine Darstellung ihrer Theologie doch durch seine ei­ gene Position im religiösen und politischen Machtspiel vor und während der jüdischen Revolte gefärbt. Wie Philo erwähnt er eine Zahl von etwa viertausend männlichen Essenern, die über das ganze Land verstreut siedelten.17 Solche Quartiere und Ansiedlungen werden in der DamaskusSchrift erwähnt18, und eine Schrift aus Qumran, die nur als Frag­ ment, 4Q 159 (»Vorschriften«, Fragmente 2-4), erhalten blieb, be­ schreibt zumindest eine Siedlung außerhalb von Qumran, der hier ein rechtlicher Rat erteilt wird. Eine Bewegung, die ebenfalls mit den Essenern in Verbindung gebracht wird, sind die »Therapeutae«, die vorwiegend in Ägypten aktiv waren und sowohl Handelsbeziehun­ gen als auch kulturelle Verbindungen zum Römischen Reich hat­ ten.19 Tatsächlich werden Essener oder ihnen nahe stehende Grup­ pen und deren Absplitterungen auch nach ihrem Untergang im jüdischen Kernland noch lange in Ägypten gelebt haben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass 1897 eine frühmittelalterliche Kopie der Da­ maskus-Schrift, die für die Essener so charakteristisch ist, in der Geniza, dem alten Lagerraum für beschädigte oder aussortierte Ma­ nuskripte der Ben Ezra Synagoge in Alt-Kairo, gefunden wurde. Es gibt keinen Grund, warum einzelne Essener nicht auch andere Zen­ tren des Imperiums, etwa Athen und Rom, erreicht haben sollten. Genauso ist es gut möglich, dass sie Regeln und Verordnungen der Essener weiterentwickelten und dass sich Spuren davon in Schrift­ rollen finden lassen.20 Aber diese Frage, so verführerisch sie auch sein mag, geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus. Wenn die Zahl der Hauptgruppe der Essener, die uns Josephus angibt, auch nur annähernd stimmt, dann müssen diese Leute zwangsläufig auch außerhalb von Qumran in anderen Orten gelebt haben; denn die Anzahl der Häuser und der Speiseraum ließen, wie gesagt, nicht mehr als sechzig bis einhundert Einwohner zu, wobei einige For­ scher von bis zu einhundertfünfzig ausgehen.21 Hier ist eine der ein­ schlägigen Aussagen des Josephus:

Was die Alten wussten Die Essener lehnen das Vergnügen als etwas Schlechtes ab. Sie be­ trachten Enthaltsamkeit und die Beherrschung der Leidenschaften als Tugenden. Für sich selbst haben sie die Ehe abgeschafft, sie adop­ tieren aber kleine Kinder von anderen Familien, um sie zu unterwei­ sen. Sie betrachten sie als ihnen zugehörig wie Verwandte und ge­ wöhnen sie daran, gemäß ihren Vorstellungen und Gebräuchen zu leben. Es ist nicht so, dass sie die Ehe generell ablehnen oder die Men­ schen an der Fortpflanzung zu hindern versuchen, sondern dass sie auf der Hut sind vor der Lüsternheit der Frauen, und dass sie über­ zeugt sind, dass keine von ihnen einem Mann treu bleibt. Sie verach­ ten Reichtümer. Ihr Leben in der Gemeinschaft ist bewundernswert. Vergeblich würde man unter ihnen jemanden suchen, der mehr Gü­ ter als ein anderer besäße. In der Tat ist es ein Gesetz, dass diejenigen, die in die Bewegung eintreten, ihr Hab und Gut der Gemeinschaft geben. So gibt es bei ihnen weder die Demütigung durch Armut noch den Stolz auf reichen Besitz. Da sie ihre Güter Zusammenlegen, gibt es für sie - als Brüder - nur einen einzigen, gemeinsamen Besitz ... Sie leben nicht nur in einem Ort; ein paar von ihnen bilden in jeder Stadt eine Kolonie. Überhaupt steht alles, was sie haben, auch den Mitgliedern der Gruppe zur Verfügung, die von woanders herkom­ men, als gehörte es ihnen. Und sie betreten die Häuser von Men­ schen, die sie nie zuvor gesehen haben, als wären sie ihre engsten Freunde. Aus diesem Grund tragen sie nichts bei sich, wenn sie auf Reisen sind. Jedoch sind sie zum Schutz gegen Räuberbanden be­ waffnet. In jeder Stadt versorgt sie der Schatzmeister der Gemein­ schaft, der speziellfür die Gäste verantwortlich ist, mit Kleidung und anderen Notwendigkeiten.11

Diese vier also, Plinius der Ältere, Dion von Prusa, Philo und Josephus, sind unsere Informanten, die zu der Zeit lebten, als die Bewe­ gung der Essener ihren Höhepunkt erreichte. Ihre Schriften basieren auf zeitgenössischen Berichten - trotz der Tatsache, dass die Texte bis auf einen (den von Philo) nach der Zerstörung von Qumran und der Vertreibung der Essener 68 n.Chr. geschrieben wurden. Ob­ gleich wir noch wenig von den umfangreichen Lebensregeln der Es­ sener, ihrer Theologie und ihren Verheißungen sahen, so ergibt sich doch ein erstes Bild mit ein paar wesentlichen Merkmalen: Das 26

Von Plinius zu Josephus

Hauptquartier der Essener lag in der Nähe des Toten Meeres südlich von Jericho und nördlich von En Gedi; während der Regierungszeit von Herodes dem Großen bis zur Zerstörung der Stadt im Jahr 70 n. Chr. gab es ein zweites Zentrum in Jerusalem; die Essener zählten etwa viertausend Menschen, von denen die meisten in Städten und Siedlungen über das ganze Land verteilt waren. Sie lebten in einer eng verknüpften, gut organisierten und weit verzweigten Gemein­ schaft. Einige von ihnen fürchteten die Frauen. Zwar lebte die Pries­ terschaft in Qumran und Jerusalem im Zölibat, doch das trifft wohl nicht auf die ganze Gemeinschaft zu. Bemerkenswert ist, dass die Essener von vielen Juden, aber auch von Nichtjuden für ihre Le­ bensweise bewundert wurden. Was auch immer die Schriftrollen vom Toten Meer und die Ausgrabungen zwischen 1947 und 1956 diesem Bild hinzuzufügen hatten, es sind die Kernpunkte der Infor­ mationen, die schon den Menschen außerhalb der Diaspora vor 50 n.Chr. (Philo von Alexandria) bekannt waren und auch nach 68 n.Chr., dem Jahr der römischen Besetzung Qumrans, bis zum Jahr 1947, als die erste Höhle und die Schriftrollen wiederentdeckt wur­ den, zur Verfügung standen. Autoren späterer Zeit lieferten Einzelheiten aus weniger sicheren Quellen. Einer von ihnen soll hier dennoch erwähnt werden, weil er ein berühmter Sammler von Textmaterialien war, die sonst niemand aufbewahrte. Sein Name war Hippolyt, ein Christ, der von 170 bis 236 n.Chr. lebte. Er war ein hoher Geistlicher in Rom und von 217 bis 222 vielleicht sogar ein »Anti-Bischof« oder Gegenpapst zu Callistus. Sein bedeutendstes Werk, die Widerlegung aller Häresien, umfasst zehn Bücher. Es schien verloren, bis die Bücher 4 bis 10 im neunzehnten Jahrhundert in einem Manuskript auf dem Berg Athos wiederentdeckt wurden. Vermutlich kannte Hippolyt die Arbeiten von Josephus, denn längere Passagen scheinen Paraphrasen der Be­ schreibungen des Jüdischen Krieges und der Altertümer zu sein. Doch hatte er offensichtlich auch Zugang zu anderen Quellen über die Essener, die heute nicht mehr existieren. Hier ein Beispiel für das Bild, das er von den Essenern zeichnete: Sie kommen an einem Platz zusammen, gürten sich mit Leinen, um ihre Scham zu bedecken, und beginnen mit den Waschungen in kal­ 27

Was die Alten wussten tem Wasser. So gereinigt finden sie sich an einer anderen Stätte ein, um gemeinsam ihr morgendliches Mal einzunehmen. Niemand, der anderer Glaubensauffassung ist, darf dieses Haus betreten. Wenn sie in einer bestimmten Anordnung und schweigend ihre Plätze einge­ nommen haben, wird das Brot verteilt. Dazu werden noch andere Dinge gereicht, und jeder erhält genügend davon. Keiner beginnt mit dem Mahl, bevor nicht der Priester das Gebet und den Segen ausgesprochen hat. Nachdem alle gegessen haben, spricht der Priester noch ein Gebet. Und so wie am Anfang stimmen sie auch am Schluss eine Hymne zu Ehren Gottes an.13 Nachdem sie ihre geheiligten Ge­ wänder, welche sie während der Mahlzeit trugen, beiseite gelegt ha­ ben, legen sie in der Vorhalle ihre alten an und beeilen sich, ihren Pflichten nachzukommen. Sie arbeiten bis zum Abend. Dann neh­ men sie wieder ein gemeinsames Essen ein und beten und singen in der gleichen Weise wie vorher. Keiner von ihnen wird je laut schreien oder sonst ein lautes Geräusch verursachen. Sie unterhalten sich ru­ hig und mit Anstand. Ihre Stimmen sind gedämpft, so dass die Stille unter ihnen den Außenstehenden befremden mag. Sie sind stets nüchtern und essen und trinken in Maßen.24

Am Ende seiner Beschreibung hebt er plötzlich eine Lehre der Esse­ ner hervor, die von den nichtjüdischen Autoren Plinius und Dion nicht erwähnt wurde. Allerdings ist auch nicht mit Sicherheit zu sa­ gen, ob sie davon wussten. Auch Philo äußert sich nicht dazu (aus welchem Grund auch immer). Und Josephus, der immer mit einem Auge auf die griechische Mythologie blickt, tut es mit einer Hand­ bewegung ab: Es ist der Glaube der Essener an eine körperliche Auf­ erstehung. Hippolyt schreibt: Auch unter ihnen hat die Lehre der Auferstehung Verbreitung ge­ funden. Sie erkennen an, dass sie im Fleisch wiedergeboren werden und dass das Fleisch unsterblich ist, so wie bereits die Seele unver­ gänglich ist. Sie sind überzeugt: Wenn die Seele vom Körper getrennt wird, wird sie an einen anderen Ort getragen, der von Luft und Licht erfüllt ist, und sie bleibt dort bis zum Tag des Gerichts. Dieser Ort war auch den Griechen vom Hörensagen bekannt, sie nannten ihn die Insel der Glückseligen. Aber es gibt noch viele andere Glaubens­ sätze dieser Menschen, die von den Weisen unter den Griechen ange28

Von Plinius zu Josephus

nommen wurden und so nach und nach deren eigene Meinungen ge­ bildet haben. Denn die Disziplin dieser Männer im Rückblick auf den Glauben an Gott ist älter als bei allen anderen Völkern.15 Hippolyt argumentiert weiter, dass die Griechen, und im Grunde alle Menschen ihre Vorstellungen von der Schöpfung aus jüdischem Ge­ dankengut übernommen hätten. Für ihn waren die Essener so etwas wie eine theologische Avantgarde, die jedoch zugleich an den Lehren der Vorfahren festhielt. Mehr als einhundert Jahre, nachdem die Esse­ ner die Bühne des Weltgeschehens verlassen hatten, war Hippolyt der erste Christ, der die Christen und Essener da für verwandt hielt, wo sie jüdisches Erbe teilten. Im 8. Kapitel werden wir sehen, dass ein Qumran-Fragment aus der Höhle 4 (4Q 521) tatsächlich die Frage der fleischlichen Auferstehung behandelt und damit bestätigt, dass Hippolyt eine verlässliche spätantike Quelle ist. Es handelt sich um einen der faszinierenden Fälle, in denen die Ähnlichkeiten zwischen der »Theologie« der Essener und den Lehren Jesu deutlich werden, die beide auf die gleichen Stellen im Alten Testament zurückgreifen, gegen die Auffassung der priesterlichen Sadduzäer, die nicht an die Auferstehung glaubten (Markus 12,18-27, u.v.m.). Und es gab noch andere, die von den Essenern Kenntnis nah­ men. Die fanatischen Anhänger des messianischen Revolutionärs Bar Kochba, dessen Aufstand 135 n.Chr. zu einer noch schwereren Zer­ störung Jerusalems durch die Römer führte als die Verwüstung im Jahr 70 n.Chr., hatten Verstecke in den Wadis und Höhlen bei Qumran. Beim Anblick der Ruinen der essenischen Gebäude gaben sie ih­ nen den Namen »Festung der Frommen«, im Original: Mezad Chasidim. »Chasid« heißt auch im modernen Hebräisch wörtlich »der Fromme«. Der Hinweis steht in einem der Briefe von Bar Kochba, die zwischen 133 und 135 n.Chr. geschrieben26 und im Wadi Murabba’at gefunden wurden. Die Römer, die 68 n.Chr. Qumran erobert hatten27, hatten diesen kleinen »Außenposten« Mitte der 70-er Jahre des ersten Jahrhunderts verlassen, nachdem auch Masada gefallen war. Und rund sechzig Jahre später fanden nun einige der Bar-Koch­ bar-Kämpfer Unterschlupf in der verlassenen römischen Kaserne, wo zuvor die Essener gelebt hatten. Der Verfasser des Briefes des Wadi Murabba’at teilt dem Empfänger mit, dass er dorthin gehen und

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Was die Alten wussten

auch dort bleiben wolle. Die meisten seiner Gefährten, so schreibt er, seien schon im Kampf gegen die Römer gefallen. Sieben Münzen von Bar Kochba wurden in der Siedlung gefunden, aber es gibt keine An­ zeichen dafür, dass die Höhlen wieder geöffnet und benutzt wurden. Die gewisse Bewunderung für die Essener, die in dem Begriff »Chasidim« gesehen werden kann - und Bar Kochba war selbst ein orthodoxer, frommer Jude -, entstand vielleicht durch eine bleiben­ de Erinnerung: Die Essener hatten während der ersten Revolte einen heroischen Kampf gegen die Römer geführt, der im Jahr 68 n.Chr. mit der Zerstörung ihrer Siedlung in Qumran und 70 n. Chr. in Jeru­ salem endete. Einer von ihnen, Johannes der Essener genannt, war während des Aufstandes der kommandierende General im Gebiet von Thamna gewesen. Auch das zeigt uns, dass die Essener durchaus eine Rolle in der jüdischen Gesellschaft spielten und keine ultraor­ thodoxen Fanatiker waren, die nichts mit der realen Welt zu tun ha­ ben wollten. Johannes fand 67 n.Chr. bei einem fehlgeschlagenen Angriff auf das von den Römern besetzte Ashkalon den Tod. Jose­ phus berichtet, wie andere Essener eher Folter und Tod durch die Römer erlitten, als dem Druck nachzugeben, »ihren Gesetzgeber« (Gott) zu verleumden oder Verbotenes zu essen.28

Ein Zwischenspiel: Zölibat oder Ehe? Wenn wir die Lebensformen einer Bewegung verstehen wollen, hilft es stets, den Betroffenen selbst zuzuhören. Die folgenden Kapitel werden uns hierzu viele Beispiele liefern. An dieser Stelle wollen wir einen Blick auf eines der wichtigsten und ältesten Schriftstücke wer­ fen, die Damaskus-Schrift (CD)29, in der Lager erwähnt werden und Städte, in denen die Mitglieder der Gemeinschaft lebten.30 Die erste dieser Stellen, CD 7,6-7, fügt einen weiteren interessanten Aspekt hinzu: Offensichtlich war es den Essenern, die außerhalb des Zen­ trums von Qumran lebten, freigestellt, zu heiraten und Kinder zu bekommen: »Und wenn sie dort nach den Landesgesetzen leben, heiraten und Kinder bekommen, so sollen sie nach dem Gesetz (Gottes) handeln und in Übereinstimmung mit den Regeln über ver­

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Ein Zwischenspiel: Zölibat oder Ehe? bindliche Gelöbnisse, nach der Regel des Gesetzes, die da sagt [Numeri/4. Mose 30,17]: >Zwischen einem Mann und seiner Frau und zwischen einem Vater und seinem Sohn.« Die Aussage der Damaskus-Schrift steht im Widerspruch zu den Notizen von Plinius dem Alteren, der schrieb, dass die Essener ohne Frauen lebten. Sie widerspricht auch Philo von Alexandria, der be­ hauptete, die Essener hätten die Ehe verboten, weil dem weiblichen Charakter nicht zu trauen sei. Und sie widerspricht auch Josephus, der die Essener im Wesentlichen als ausgesprochen zölibatär be­ schrieb, aber auch eine Gruppe der Essener kannte, von der er schrieb: »Obgleich sie in ihren Gewohnheiten, Sitten und Gebräu­ chen mit den anderen übereinstimmen, so waren sie doch darin von diesen getrennt, denn sie glauben, dass Menschen, die nicht heiraten, einen wichtigen Bereich des Lebens - die Fortpflanzung der Art ausschließen.«31 Was Josephus wusste, stimmt mit der oben erwähn­ ten Passage der Damaskus-Schrift überein, und zugleich mit einer anderen Aussage der gleichen Schriftrolle, die eine Gemeinschaft der Essener in Jerusalem hervorhebt, in der nur männliche zölibatäre Priester zugelassen waren: »Kein Mann soll in der Stadt des Heilig­ tums mit einer Frau schlafen, denn dies würde die Stadt des Heilig­ tums mit ihrer beider Unreinheit beschmutzen.« (CD i2,i)32 Wenn wir diese Aussagen in einen Zusammenhang bringen wollen, statt sie gegeneinander zu setzen, dann sehen wir, dass es eine Art elitärer und zölibatärer Gruppe von Priestern unter den Essenern gab, die in Jerusalem lebten. Wir sehen aber auch andere, denen die Aussicht auf eine Familiengründung zumindest eine Möglichkeit war. Die strenge Befolgung des zölibatären Elitedenkens mag von Zeit zu Zeit geschwankt haben, doch unser Text und neue archäologische Funde (siehe das 8. Kapitel) lassen vermuten, dass die Bewegung der Essener als solche nicht ausschließlich frauenfeindlich war. Ist es möglich, die verschiedenen Quellen nebeneinander stehen zu lassen? Um es vorwegzunehmen: Der Zölibat ist eine Vorstel­ lung, die den jüdischen Männern von jeher absolut fremd ist. Tatsächlich ist es ein Gebot, das auf die Genesis (1. Mose) zurück­ geht: Männer sollen heiraten und Kinder zeugen. Wenn sich die Da­ maskus-Schrift auf Numeri (4. Mose) 30,17 bezieht, dann deshalb, weil diese Passage der Tora die Erfüllung des ursprünglichen Gebo­

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Was die Alten wussten tes oder mitzvah unterstreicht, es solle »ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhängen und sie werden ein Fleisch sein« (Genesis/1. Mose 2,24). Bis zum heutigen Tag ist die Ehe das erste Gebot der mitzvaot, der Gebote für das Leben als Volk Gottes. Eine Bewegung, die sich selbst als besonders fromm und orthodox betrachtete, muss gute Gründe gehabt haben, das Ge­ bot abzuschaffen oder es zu verändern. Beobachter wie Philo und Josephus, die selbst eine jüdische Erziehung genossen hatten, müs­ sen von diesen Gründen gewusst haben Und für toralesende Juden waren sie nachvollziehbar. Sonst wäre es schwer zu verstehen, warum sie das ungewöhnliche Verhalten weder analysieren noch kritisieren. Der Schlüssel zur Lösung des Problems dürfte in Exodus (2. Mose), dem zweiten Buch der Tora, liegen. Am Berg Sinai ging Moses, einige Tage bevor er die zehn Gebote Gottes empfing, zum Volk Israel und sprach zu ihm: »Seid bereit für den dritten Tag, und keiner rühre eine Frau an.« (Exodus/2. Mose 19,15) Das könnte als ein Gebot interpretiert werden, an den heiligsten Stätten, in der un­ mittelbaren Nähe zu Gott zölibatär zu sein. Wenn die Essener Jeru­ salem, die Heilige Stadt mit ihrem Tempel, als Verkörperung dessen betrachteten, was für Moses und das Volk Israel der Berg Sinai gewe­ sen war, dann wäre der Zölibat ein Weg gewesen, Gott in der Tradi­ tion des Mose zu ehren. Die frühe Damaskus-Schrift gibt in diesem Zusammenhang noch keinen Hinweis auf Qumran, nur Jerusalem wird hervorgehoben. Aber es ist naheliegend genug, dass der innere Kreis der priesterli­ chen Elite, etwa einhundert Menschen, die in Qumran lebten, derar­ tigen Richtlinien folgte. Wenn Qumran Sechacha war, dann konnten sie den Ort leicht als heilige Stätte eigenen Rechts ansehen: Gott gab es seinem Volk, denn es ist in der Liste der Städte genannt, die dem Stamm Juda gehören. (Josua 15,61) Vielleicht waren die Bewohner von Qumran toleranter und erlaubten Familien, in der Nähe zu le­ ben. Aber die Tatsache bleibt, dass alle Regeln und Gebote, die in den Schriftrollen vom Toten Meer gefunden wurden, die Hand­ lungsanweisungen, die dazu dienten, den Kern der Bewegung zu ge­ stalten, nicht ein einziges Mal die Gewohnheiten, Lebensweisen oder Pflichten von Frauen erwähnen. Man muss den Eindruck ha­ ben, dass Frauen in der Gemeinschaft der Schriftrollen überhaupt

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Ein Zwischenspiel: Zölibat oder Ehe?

nicht existierten; und dass Priester unter bestimmten Umständen den Verzicht auf Geschlechtsverkehr forderten, ist in i. Samuel 21,4-5 dokumentiert. Es war, mit anderen Worten, außergewöhn­ lich, aber nicht unbekannt; und wie wir sahen, gab es Situationen, in denen zölibatäres Leben gefordert wurde - oder in denen es den An­ schein hatte, als ob es gefordert würde -, und zwar durch die Heilige Schrift. Allerdings gilt ein wichtiger Vorbehalt: Wir haben keinen Präzedenzfall aus biblischer Zeit, der zeigen würde, dass der Zölibat ein Leben lang galt. Wenn sich die Situation änderte, scheint erwartet worden zu sein, dass man heiratete oder in die bestehende Ehe zurückkehrte. An dieser Stelle lässt der Text von Qumran zwei un­ terschiedliche Richtungen der Interpretation zu: Entweder blieb die priesterliche Elite ein Leben lang in Jerusalem oder Qumran; in die­ sem Fall wären sie nahe bei Gott an einem heiligen Platz geblieben und hätten den fortgesetzen Zölibat in der Tradition von Moses rechtfertigen können; oder sie blieben nur für eine begrenzte Zeit an diesen heiligen Orten (vielleicht für die Dauer der dreijährigen Aus­ bildungszeit) und gingen später in die so genannten »Lager« oder zu anderen Gemeinschaften der Essener im Land, wo es ihnen frei­ stand, zu heiraten - oder zu ihren Frauen zurückzukehren, die sie zurück gelassen hatten, als sie in die »Trainings-Zentren« am Toten Meer und in Jerusalem aufgenommen worden waren. Ein lange unbekanntes Fragment, 4Q Serek ha-Edah (4Q 249c), das erst im Jahr 2001 veröffentlicht wurde (DJD XXXVI), wirft ein neues Licht auf diese Fragen. Es bestätigt das Prinzip des Zölibats in Qumran, scheint aber auch anzuerkennen, dass verheiratete Paare in oder bei Qumran lebten. Jedenfalls mussten Ehepaare, die nach Qumran kamen, Enthaltsamkeit in der Ehe geloben. So schlossen sich Zölibat und Ehe nicht unbedingt aus. Das scheint dem nahe zu kommen, was Paulus den Christen im ersten Brief an die Korinther (1. Korinther 7,29) schreibt: »Fortan sollen auch die, die Frauen ha­ ben, sein, als hätten sie keine.« Die genaue Bedeutung der Worte des Paulus ist unter Neutestamentlern umstritten, und die Publikation des neuen Qumran-Fragments wird noch eine lebhafte Debatte über die praktische Bedeutung der eschatologischen Lehren der Essener und des christlichen Pharisäers Paulus hervorrufen. Philo und Plinius hielten die Essener für völlig enthaltsam; sie

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Was die Alten wussten

schrieben gewissermaßen unter einem optischen Eindruck: Schaute man nach Jerusalem und Qumran, sah man nur Männer im Zölibat. Ein Beobachter oder Berichterstatter muss nicht zwangsläufig er­ kannt haben, dass diese Männer etwa alle drei Jahre ihren Wohnort wechselten. Vielleicht war ihnen auch entgangen, dass außerhalb der beiden geistlichen Zentren noch andere Formen des gemeinschaftli­ chen Lebens praktiziert wurden. Wie wir oben gesehen haben, wuss­ te Josephus, der den Essenern am nächsten war, zumindest, dass die verheirateten Essener nicht den Kern der Elite bildeten, dass sie aber auch nicht eine zweitklassige Ausnahme waren. Seine oben zitierte Beschreibung scheint eine separate, teilweise eigenständige Gruppe innerhalb der Bewegung anzunehmen. Und das mag in der Tat der Eindruck gewesen sein, den er während seiner Zeit als »Auszubil­ dender« im Alter von sechzehn Jahren erhielt. Er blieb nicht lange; stattdessen entschloss er sich zu einer Karriere bei den Pharisäern. Als Lehrling an einem Ort des Zölibats muss die zölibatäre Bruder­ schaft ihm den sichtbaren Eindruck vermittelt haben, dass sie das Wesentliche der Gemeinschaft verkörperte. Und es schien nicht nach seinem Geschmack gewesen zu sein, wie sich herausstellte: Josephus war später vier Mal verheiratet und hatte fünf Söhne. Ist es möglich, Jesus und seine Jünger hier irgendwo unter diese Mitjuden einzuordnen? Jesus lebte uneingeschränkt zölibatär, aber er war ganz sicher kein Frauenfeind. Unter seinen Anhängern gab es Frauen, er ermutigte sie, er ehrte sie und wurde von ihnen geehrt. Im Johannesevangelium ist Maria Magdalena die erste, die dem aufer­ standenen Christus begegnet. Seine Entscheidung gegen die Ehe war keine Entscheidung gegen das Zusammensein mit Frauen. Aber da die Ehe nach biblischer Auffassung der Gründung einer Familie diente, befand sich der Sohn Gottes in einer anderen Kategorie. Vom Standpunkt skeptischer Beobachter her, von Menschen, die ihn wohl als einen Rabbi akzeptierten, nicht aber als den Sohn Gottes oder den Messias, war sein Zölibat jedoch ungewöhnlich. Noch heute wäre ein auf Dauer unverheirateter Rabbiner ein Widerspruch in sich. Doch völlig unmöglich war und ist es nicht. Die Tora und essenische Praxis zu jener Zeit zeigen immerhin, dass es durchaus akzep­ tabel war. Was seine Jünger betrifft, so waren sie, bevor sie sich Jesus anschlossen, verheiratet. Sie verließen ihre Familien auf sein Geheiß 34

Begegnungen mit Essenern

(Lukas 18,28-29). Folglich lebten sie zölibatär. Nach der Auferste­ hung allerdings gingen sie zurück nach Galiläa, zu ihren Familien. Als apostolische Missionare nahmen sie ihre Frauen sogar auf Reisen mit (1. Korinther 9,5). Paulus entwickelte später eine persönliche Lehre, die er bescheiden als seine eigene und nicht »vom Herrn« gegeben beschreibt (1. Korinther 7,25-40): Unverheiratete Männer und Frauen sollten idealerweise unverheiratet bleiben und somit sei­ nem eigenen Beispiel folgen. Paulus ist weit davon entfernt, die Ehe zu verurteilen. Aber er glaubt, und hier begibt er sich ganz in die Nähe der Tora, zum Ereignis in Exodus (2. Mose) 19,15 und zu des­ sen Interpretation durch die Essener, dass zu einem bestimmten ge­ heiligten Zeitpunkt vor dem Ende der uns bekannten Welt (1. Ko­ rinther 7,29-31) die Heirat eine Ablenkung von der Hinwendung zu Gott sein könnte (7,35). Allem Anschein nach folgten seinem Rat aber nur wenige jüdische Christen, trotz seines Vorbilds und trotz der Lehren der Essener, die unter den Juden immerhin weitgehend bekannt waren. Doch wir können verstehen, dass seine Einstellung nicht völlig absurd und für den angeblichen Frauenfeind Paulus ty­ pisch war, wie Kritiker seiner Einstellung zu Frauen und zur Ehe oft annahmen. Seine Haltung hatte zu der damaligen Zeit einen Platz im Gedankengut und den Lebensformen der Juden.

Begegnungen mit Essenern Jesus, seine Jünger, aber auch jemand wie Paulus, der zu dem Zeit­ punkt noch Saulus hieß - oder besser: Sha’ul, der Pharisäer -, könn­ ten den Essenern überall begegnet sein: in Galiläa, Samaria, Judäa oder in und um Jerusalem. Es gab wirklich keinen Grund für sie, nach Qumran zu gehen, um in Erfahrung zu bringen, wer die Essener wa­ ren und was sie lehrten. In neutestamentlicher Zeit waren die Essener in Jerusalem, der »Stadt des Heiligtums«, fest etabliert, so dass sogar ein kleines Stadttor auf dem südwestlichen Hügel nach ihnen be­ nannt wurde. Es hieß das »Tor der Essener«, wie uns Josephus33 be­ richtet. Das Tor wurde wieder ausgegraben.34 Direkt dahinter, auf einer Anhöhe, die man heute den Berg Zion nennt, fand man auffal-

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Was die Alten wussten

lende mikvaoth, Reinigungsbäder, in paralleler Anordnung. Weitere mikvaoth fanden sich in der Nähe, darunter das größte, das bisher außerhalb Qumrans entdeckt wurde. Obwohl solche Reinigungs­ bäder in jüdischen Städten nichts Ungewöhnliches waren, wird ihre Architektur und ihre hohe Zahl und Dichte doch meist als charakte­ ristisch für die Essener interpretiert, die sie für die sehr häufigen tägli­ chen Selbstreinigungen benötigten. Josephus bringt darüber hinaus das Essener-Tor in einen Zusammenhang mit dem nahe gelegenen bethso, der von Historikern als Latrinenanlage außerhalb der Stadt­ mauer identifiziert wurde. Auch diese Anlage entsprach den Bedürf­ nissen der Essener.35 Josephus beschreibt sie in liebevollem Detail. Er erzählt uns, dass es den Essenern untersagt war, am siebten Tag ihre Notdurft zu verrichten, und dass sie an anderen Tagen außerhalb ihrer Siedlung mit Hacken Löcher in den Boden graben mussten. »Dort hocken sie sich hin, bedeckt von ihren Umhängen, um die Strahlen Gottes nicht zu beleidigen. Anschließend schaufeln sie die lose Erde wieder in das Loch ... Obwohl es natürlich ist, sich der Ex­ kremente zu entledigen, sind sie es gewohnt, sich hinterher [in Reini­ gungsbädern] zu waschen, als ob sie sich besudelt hätten.«36 Beim Tor, den mikvaoth und dem bethso zeigen die jüngsten Aus­ grabungen, dass Josephus gut unterrichtet war. Zur Zeit beginnt ein archäologisches Team unter der Leitung von James Strange mit Vor­ bereitungen für weitere Ausgrabungen auf dem Berg Zion unweit der Abtei Hagia Maria Sion, der »Dormitio«. Man sucht nach Häu­ sern, weiteren mikvaoth und anderen Spuren wie Hacken für die Exkremente, die weitere Beweise für die Existenz eines EssenerViertels ganz in der Nähe der urchristlichen Ansiedlungen in Jerusa­ lem liefern könnten. Vor kurzem entdeckte Gräber außerhalb der Mauern des alten Stadtkerns von Jerusalem scheinen die Beziehun­ gen der Essener zur Stadt Jerusalem zu bestätigen: Eine Anzahl männlicher Skelette lag dort in der gleichen Position wie jene, die in Qumran festgestellt wurden. Die Archäologie von Qumran und Jerusalem wird in einem späte­ ren Kapitel behandelt. Eine neuere Entdeckung muss jedoch an die­ ser Stelle erwähnt werden: Wir hatten stillschweigend angenommen, dass Plinius, Philo, Josephus und andere Zeugen wussten, wovon sie sprachen, als sie die Menschen, die in Sechacha lebten, »Esseni« oder 36

Begegnungen mit Essenern

»Essaioi« o.ä. nannten. Falls das Wort etymologisch aus dem Ara­ mäischen chase, »fromm«, abgeleitet werden kann, wie die meisten Sprachwissenschaftler annehmen, dann beschreibt dieser Ausdruck eine Form besonderer Frömmigkeit, so wie etwa die heutigen Be­ griffe »Pietist« und »Pietismus« in Süddeutschland und anderen Tei­ len Europas eine ausgeprägte Form protestantischer Frömmigkeit bezeichnen. In den Schriftrollen vom Toten Meer finden wir jedoch keinen einzigen Hinweis auf diesen Begriff. Kamen die »Essener« ohne einen Namen für sich selbst aus? Obwohl wir ihnen im Neuen Testament begegnen (siehe 7. Kapitel), können wir sie nicht na­ mentlich identifizieren, denn es wird kein Gruppenname erwähnt. Im Übrigen hat sich jene andere Gruppe messianischer Juden, die Christen nämlich, auch nicht selbst einen Namen gegeben. Erst Au­ ßenstehende, Beobachter im fernen Antiochia, prägten den Aus­ druck »Christen«. Sie beobachteten, dass die Anhänger von Jesus in ihm den Messias, griechisch: Christos, sahen. Daher nannten sie die­ jenigen, die ihm folgten, Christianoi, Christusangehörige (Apostel­ geschichte 11,26). Auch die Essener erhielten ihren Namen von außenstehenden Beobachtern, nämlich von Philo und Plinius. Kürzlich veröffentlichte Fragmente aus Qumran lassen jedoch vermuten, dass auch die Essener selbst den Begriff benutzten. Die Fragmente gehören zu einem levitischen Text, der aramäisch ge­ schrieben wurde und aus der Höhle 4 stammt, 4Q Levibar.37 In Zeile 6 heißt es: »Der Name der Frommen wird niemals von ihrem Volk genommen werden.« Man mag dagegen halten, dass »die Frommen« nicht nur im Aramäischen eine ziemlich vage Beschreibung ist, wo­ hingegen »Essener« ebenso wie »Pietisten« eine eindeutige Ablei­ tung ist. Und tatsächlich finden wir in Zeile 7 eine andere Selbstbe­ schreibung der Bewegung: Sie betrachten sich als »die Heiligen aus dem Volk«. Ganz ähnlich, wie sich die frühen Christen als die be­ schrieben, die dem »Weg« folgen, sind das Beschreibungen der Ge­ meinschaft, aber keine wirklichen Eigennamen. 1996 gelang eine sensationelle Entdeckung in der Nähe der Stufen, die zum Plateau der Höhle 7 hinunter führten. Dadurch ergab sich noch eine neue Möglichkeit: Ein Mitglied des Teams von James Strange entdeckte bei Ausgrabungen zwei beschriftete Tonscherben, so genannte ostraca. Die größere war in zwei Teile auseinander gebrochen. Sie 37

Was die Alten wussten

enthielt Textfragmente in hebräischer Schrift, fünfzehn Zeilen, die schwer beschädigt und nur zum Teil erhalten waren. Die Schrift glich der auf den Schriftrollen aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. In dem Text werden verschiedene Leute erwähnt, darunter ein gewisser Honi aus Jericho und sein Diener Hisdai. Die achte Zeile besagt wahrscheinlich, dass dieser Honi seinen Schwur gegenüber der Jachad (zu deutsch: Einung oder Gemeinschaft) erfüllt hat.38 Das Dokument sieht wie ein Vertrag aus, den Honi zur Übereignung ei­ niger seiner persönlichen Besitztümer an die Jachad in Qumran ge­ macht hat. Da Jachad ein gebräuchlicher Ausdruck in den Schriftrol­ len vom Toten Meer ist,3’ könnte man nun annehmen, dass es sich dabei um den eigentlichen Namen der Bewegung handelt. Schließ­ lich haben wir hier das offizielle Schreiben einer Person, die nicht zu den Essenern gehörte und der sie so nennt. Das einzige noch beste­ hende Problem ist die genaue Bedeutung der Zeile 8. Einige For­ scher bestreiten, dass das beschädigte Wort wirklich Jachad zu lesen ist. Vor allem auf dem internationalen Kongress in Jerusalem über die Schriftrollen vom Toten Meer im Sommer 1997 gab es zu diesem Punkt eine heftige Debatte zwischen Norman Golb und Ester Eshel (eine der Herausgeber der ostraca), die die Zuhörerschaft in zwei Lager teilte. Die professionelleren Paläographen scheinen allerdings mit der Deutung von Eshel übereinzustimmen, doch dazu wird in der nahen Zukunft wohl noch mehr veröffentlicht werden. Nehmen wir an, Jachad wäre tatsächlich die Lösung der Frage nach dem wirklichen Namen der Essener, so könnten wir seine Spu­ ren sogar im Neuen Testament finden. In der Apostelgeschichte be­ schreibt Lukas die erste christliche Gemeinde mit dem Begriff koinonia (Apostelgeschichte 2,42-44). Dieses griechische Wort kommt dem hebräischen Jachad so nah wie möglich. An anderen Stellen in der Apostelgeschichte, wie etwa dem Abschnitt 5,1-11, mit denen wir uns später noch ausführlicher beschäftigen, wird klar, dass die Christen in Jerusalem das essenische Modell der Gemeindedisziplin kannten. Und dass sie diesen strengen Standard erreichen mussten, wenn sie ihre Nachbarn davon überzeugen wollten, dass die christli­ che Jachad die wahre ist. Die Ausdrucksweise des Lukas, bereits so früh im Nachfolgeband zum Evangelium, dürfte einen impliziten Anspruch beinhalten: Jachad/Koinonia muss als messianisch verstan­

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Begegnungen mit Essenern den werden. Wir, die Christen - und zugleich noch immer Juden verkünden den einzig wahren Messias, Jesus. Deshalb ist unsere Jachad/die Koinonia, die »Einung«, der man zugehören soll, beson­ ders wenn man ein frommer Jude ist. Nicht viel später, in Apostelge­ schichte 6,7, finden wir allem Anschein nach den Beleg für diese be­ merkenswert erfolgreiche Strategie.40 Wenn nun eine enge Beziehung der Essener zu Jerusalem sowohl durch die Archäologie als auch durch das Studium der Schriften auf­ gezeigt werden kann, was kann, ohne auf die in späteren Kapiteln behandelten Details einzugehen, über die Verbindung essenischer Siedlungen in Qumran mit den Höhlen von Qumran gesagt werden? In der Annahme, dass die Identifizierung von Qumran/Sechacha mit der Siedlung der Essener, von der die antiken Autoren sprechen, überwältigend deutlich ist, stellt sich nun die Frage, wie gut die Be­ weislage für ihre Benutzung der Höhlen ist. Diese Frage mag auf die meisten heutigen Besucher von Qumran absurd wirken, doch die Antwort ist noch immer umstritten. Nicht wirklich ernst zu neh­ mende Theorien, für die es nicht den geringsten archäologischen Hinweis gibt, machen aus Qumran eine Festung oder eine Winter­ villa mit Bewohnern, die nichts von der Bibliothek in den Höhlen mit ihren Schriftrollen gewusst haben sollen. Andere Theorien be­ sagen, dass die Höhlen die Bibliothek des Tempels enthielten. Die Schriftrollen seien dort, nahe dem Toten Meer, vor dem Angriff der Römer auf Jerusalem im Jahr 68 n. Chr. versteckt und aufbewahrt worden - als Qumran noch existierte. Aber dann hätten sich zumin­ dest einige bedeutende Schriften der Sadduzäer finden müssen, der priesterlichen Bewegung, die für den Tempelgottesdienst zuständig war. Bis heute konnte jedoch kein einziger Qumran-Text unzweifel­ haft als sadduzäisch identifiziert werden. Andere wiederum haben bestritten, dass es eine Verbindung zwischen den Essenern und den Höhlen gibt, und haben die Schriftrollen stattdessen als eine Samm­ lung aus verschiedenen Bibliotheken aufgefasst, als eine Art reprä­ sentativer Querschnitt der jüdischen Theologie. Es ist aber praktisch unmöglich, einen Zusammenhang zwischen den Bewohnern von Qumran und den Höhlen zu ignorieren: Die Höhlen 4, 5 und 6 lie­ gen nur einige hundert Meter von der Siedlung, und ihre Eingänge waren sichtbar. Niemand hätte dort hineingehen können, ohne von

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Was die Alten wussten den Bewohnern bemerkt zu werden. Höhle 7, die einzige, die aus­ schließlich griechische Texte auf Papyrus enthielt, lag unterhalb des nördlichen Ausläufers des Plateaus von Qumran. Keiner konnte zu ihr gelangen, ohne den Wohnbereich der Essener zu durchqueren. Überreste der alten Stufen zur Höhle kann man heute noch sehen. Die Höhlen 8, 9 und 10 befinden sich ebenfalls in der Nähe von Qumran. Also bleiben nur die Höhlen 1, 2, 3 und 11, die man unbe­ merkt von den Einwohnern von Qumran hätte betreten können. Da nun die Höhle 4 mit fast zwei Dritteln aller Schriftrollen den größ­ ten Teil der Bibliothek enthielt, ist schon die Tatsache ihrer Nähe zur Siedlung von Qumran ein entscheidendes Argument gegen die Tren­ nung von Bewohnern und Höhlen. Natürlich heißt das nicht, dass alle Texte von den Essenern ge­ schrieben wurden oder dass sie eine monolithische Einheit bilden. Wir werden später sehen, dass einige mit Sicherheit zu Studien­ zwecken »importiert« wurden.41 Andere Texte spiegeln wahrschein­ lich die theologische Entwicklung der Bewegung von ihren Anfän­ gen seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts n.Chr. wider, als die letzten hebräischen und aramäischen Rollen geschrieben wurden. Vielleicht sollten wir uns künftig die Betrachtungsweise eines der besten Kenner von Qum­ ran, des Theologen Frank M. Cross, zu eigen machen, der schon vor Jahren die Sache so treffend auf den Punkt brachte: »Wenn die Leute der Schriftrollen nicht die Essener waren, dann waren es Mitglieder einer ähnlichen Bewegung, die am gleichen Zentrum lebten, in der gleichen Gegend.«42 Mit anderen Worten, die logische Arbeitshypo­ these ist nach wie vor die, dass wir die Menschen, die in Qumran leb­ ten, Essener nennen, und dass sie direkt mit den Schriftrollen und den Höhlen zu tun hatten. Alternative Theorien erinnern an den al­ ten Scherz über die Werke von Shakespeare, die von einer anderen Person mit gleichem Namen geschrieben wurden. Oder, um noch einmal Cross zu zitieren: Gelehrte, die immer noch zögern, die Be­ wohner von Qumran als die Essener (und die Nutzung der Höhlen durch sie) anzuerkennen, begeben sich in eine erstaunliche Lage. Und mit dem spitzen Bleistift des lange leidenden Beobachters schreibt Cross, dass solche Fachleute ...



Begegnungen mit Essenern

»... allen Ernstes vorschlagen, dass zwei große Gruppen unabhängig voneinander kommunistisch-religiöse Gemeinschaften im gleichen Bereich des Toten Meeres bildeten, dass sie beide rund zwei Jahr­ hunderte lang lebten, dass sie beide die gleichen sonderbaren Ansich­ ten hatten, und dass sie ähnlichen oder identischen Ritualen bei Wa­ schungen, Mahlzeiten und geistlichen Zeremonien folgten. Weiterhin müssen diese Gelehrten annehmen, dass eine der Gemeinden, die sorgfältig von antiken Autoren beschrieben wurde, plötzlich ohne Gebäudereste oder auch nur Tonscherben zu hinterlassen von der Bildfläche der Geschichte verschwand, während die andere, syste­ matisch von antiken Autoren ignoriert, ausgedehnte Ruinen und sogar eine große Bibliothek hinterließ

Die neuesten Funde von Yizhak Hirschfeld bei En Gedi, die noch nicht vollständig veröffentlicht wurden,44 haben einige Beobachter zu der fragwürdigen Hypothese veranlasst, dass dort die wirkliche Siedlung der Essener entdeckt wurde und daher die Berichte von Plinius dem Alteren neu interpretiert werden müssten. Seine Esse­ ner, so schlägt Hirschfeld vor, lebten nicht nördlich von En Gedi (d. h. in Qumran/Sechacha), sondern unmittelbar darüber.45 Hirsch­ feld entdeckte etwa fünfundzwanzig Häuser mit einer Grundfläche von zwei mal drei Metern. Von solchen Unterkünften würde man annehmen, dass sie Feldarbeitern am Rande der nahe gelegenen Oase als Wohnungen gedient hatten. Die Zahl der Häuser reicht nicht aus, dass eine Gemeinschaft, so groß wie die der Essener, Platz darin gefunden hätte. Und bisher hat man dort bei En Gedi noch keine Spuren von den charakteristischen mikvaoth gefunden, den zahlreichen Reinigungsbädern, die die Essener für ihre Waschungen benötigten, und wie sie in Qumran und in Jerusalem auf dem Süd­ west-Hügel der Stadt nahe dem Tor der Essener in großer Anzahl nachgewiesen sind. Ungeachtet der Tatsache, dass es keine archäolo­ gischen Hinweise gibt, die die Funde bei En Gedi mit der aktiven Periode der Bewegung in Verbindung bringen würden - sie stam­ men wahrscheinlich aus dem frühen zweiten Jahrhundert, rund vier­ zig bis fünfzig Jahre nach der Zerstörung essenischer Siedlungen durch die Römer und dem Ende der Bewegung -, haben wir auch ein historisches Argument, das man nicht außer Acht lassen sollte: Ei4i

Was die Alten wussten

nige Essener hatten während des Aufstands der Juden gegen die Rö­ mer, der im Jahr 66 n.Chr. begann und mit der Zerstörung Jerusa­ lems und des Tempels 70 n. Chr. und einigen noch bis 74 n. Chr. dau­ ernden römischen Eroberungsmaßnahmen endete, Zuflucht in der südlich gelegenen Festung Masada gesucht. Diese jüdische Bastion fiel 73/74 n.Chr. Die Nationalisten auf Masada kannten die Schrif­ ten der Essener. Fragmente ihrer Texte, darunter die Sabbatlieder,46 wurden unter dem Wenigen entdeckt, das von der Bibliothek auf Masada übriggeblieben war. Von Josephus erfahren wir allerdings auch, dass die Verteidiger von Masada eine Siedlung bei En Gedi überfielen und ihre jüdischen Brüder töteten.47 Es ist kaum denkbar, dass sie das getan hätten, wäre En Gedi das Hauptquartier der Esse­ ner am Toten Meer gewesen. Bruchstückhaft, wie sie sind, können die Quellen, die uns zur Ver­ fügung stehen, natürlich nicht exakt sagen, was in Qumran und Jerusalem geschah. Doch sie ergeben jetzt schon ein vielfarbiges Mosaik einer Gemeinschaft, die sich in diesen beiden Zentren ent­ wickelte und von dort ausbreitete: Qumran und, bis in urchristliche Zeit, der südwestlich gelegene Hügel von Jerusalem. Es war eine Ge­ meinschaft, die eine gewisse Vielfalt von Lebensweisen innerhalb der göttlichen Gesetze zuließ. Dieser letzte Punkt kann sich noch als nützlich erweisen, da er die Möglichkeit von Kontakten zwischen Jesus, den Juden, die ihm zu Lebzeiten und nach seinem Tod und sei­ ner Auferstehung folgten, und den Essenern erweitert. Denn diese Bewegung war trotz des harten Kerns von allen akzeptierter Regeln in ihrem Erscheinungsbild nicht völlig einheitlich. Sogar so essenti­ elle Fragen wie die vom Zölibat im Verhältnis zum Eheleben mit Kindern konnten situationsbedingt unterschiedlich behandelt wer­ den. Wir müssen einen Schritt zurücktreten und das ganze Bild be­ trachten. Die umfassende Frage nach einem Einfluss der Essener auf das frühe Christentum, nach den gemeinsamen Interessen, den pa­ rallelen Strukturen und nach unüberbrückbaren Unterschieden ge­ winnt dann wieder belebende neue Perspektiven.

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II

Schriftrollen und Höhlen bei Jericho Der Fall der frühen Detektive

Die Herkunft des Origenes Keiner der antiken Autoren berichtet ausdrücklich über eine Biblio­ thek der Essener. So kam für viele die Entdeckung der Höhlen mit ihren Schriftrollen 1947 oder 1946 (die Meinungen gehen auseinan­ der) völlig überraschend. Aber eigentlich hätte man mit ihrer Exis­ tenz rechnen können. Im frühen dritten Jahrhundert erwähnte der christliche Philosoph und Bibliothekar Origenes anlässlich seiner Ausgabe des hebräischen und griechischen Alten Testaments, dass er für den hebräischen Text eine Schriftrolle benutzt habe, die in einem Tongefäß in der Nähe von Jericho gefunden worden sei. Sogar im neunten Jahrhundert bezieht sich ein nestorianischer Bischof, Timo­ theus L, wie selbstverständlich auf solche Rollen. Dieses Kapitel berichtet über die Geschichte des »gewonnenen und wieder verloren gegangenen Wissens«. Es versucht, ein allgemei­ nes Bild der archäologischen Forschungen bei Qumran und den Or­ ten am Toten Meer zu entwickeln, in denen die Schriftrollen gefun­ den wurden. Das Geschehen führt uns nach Masada, ins Nachal Chever, zum Wadi Murabba’at und zu anderen bedeutenden Plätzen.

Die Herkunft des Origenes Im Sommer 1997 trafen sich Forscher aus aller Welt in Jerusalem, um das fünfzigjährige Jubiläum der Entdeckung der Höhlen von Qum­ ran zu feiern. Dieser Zeitpunkt war möglicherweise nicht ganz rich­ tig gewählt. Denn die Höhlen waren 1946, vielleicht auch schon ei­ nige Zeit vorher entdeckt worden. Heute nimmt man allgemein an, dass Höhle 1 im November oder Dezember 1946 von den drei Be­ duinen Muhammad ed-Dibh (»der Wolf«), Juma Muhammad und Khalik Musa entdeckt wurden, alle drei vom Stamm der Ta’amireh. Sie nahmen nur einige der Tongefäße und Schriftrollen mit. Die Neuigkeit des Fundes bei Qumran verbreitete sich zunächst nicht öffentlich. Am 25. November 1947 hörte der jüdische Forscher Eleazar Sukenik von den Entdeckungen am Toten Meer und begann seine eigenen Forschungen. Sukenik, der Vater des berühmten Sol­ daten und Archäologen Yigael Yadin, war zu der Zeit Professor für Archäologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dies war

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Schriftrollen und Höhlen bei Jericho sozusagen die Stunde Null der Forschungen über die Schriftrollen vom Toten Meer. Aber ohne die Hilfe der Beduinen dauerte es noch zwei Jahre, bis Soldaten der Arabischen Legion unter der Führung von Hauptmann Akkash el-Zebn die Höhle wiederfanden. Das war am 28. Januar 1949. Diese »Wiederentdeckung der Wiederentdeckung« stand am Be­ ginn ernsthafter archäologischer Arbeiten. Doch sollte nicht uner­ wähnt bleiben, dass die Beduinen den Forschern auch danach mehr­ mals zuvorkamen. In der Tat war es die Wiederentdeckung einer Wiederentdeckung, denn von Schriftrollen und Tongefäßen am nördlichen Ausläufer des Toten Meeres wusste man nachweislich seit dem dritten Jahrhundert n.Chr. Es ist merkwürdig genug, dass die Archäologie die Hinweise aus frühen Quellen nicht wichtig ge­ nug fand, um ihnen nachzugehen. Im Grunde genommen ist die zufällige Entdeckung durch die Beduinen eine Blamage für die klas­ sische Archäologie. Nun weiß man ja, dass durch Zufall oft sensatio­ nelle Entdeckungen gemacht werden, und jeder von uns kennt die Zeitungsartikel, in denen von Bauern oder Bauarbeitern berichtet wird, die auf kostbare Schätze oder alte Mauern stoßen. Aber im Fall der Höhlen vom Toten Meer waren die Hinweise in der Literatur so offensichtlich, dass es schwer fällt, eine Entschuldigung dafür zu finden, dass keine archäologische Expedition unternommen wurde. Alte Quellen weisen auf hebräische Schriftrollen in der Nähe von Jericho hin. Ist es denkbar, dass weder die muslimischen Mächte, die das Land seit dem frühen Mittelalter regierten, noch die pro-ara­ bisch eingestellten christlichen Gelehrten in Jerusalem und Amman ein besonderes Interesse daran hatten, nach solchen jüdischen Do­ kumenten zu suchen? Sie hätten zumindest einen politischen und pseudoreligiösen (wenngleich auch einen entschieden falschen) Be­ weggrund gehabt. Andernfalls ist man geneigt, ihnen Ignoranz und Inkompetenz zu unterstellen. Der »politische« Aspekt war auch nach den ersten Entdeckungen nicht zu leugnen; nur eine Hand voll Schriftrollen, die die Israelis letztendlich erwarben oder in Besitz nahmen, konnten von jüdischen Experten untersucht und schließlich in den Ausstellungen des IsraelMuseums der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der weit­ aus größte Teil, einschließlich Tausender Fragmente aus der Höhle 4,

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Die Herkunft des Origenes

ging nach Ost-Jerusalem, das zu der Zeit von Jordanien besetzt war. Einige andere, wie etwa die Kupferrolle aus der Höhle 3, wurden sofort nach Amman überführt. Es gehörte zu der Strategie, die jü­ dischen Gelehrten absichtlich vom Zugang zu ihrem Erbe auszu­ schließen. Erst nach der Wiedervereinigung Jerusalems 1967 erhiel­ ten jüdische und nichtjüdische Wissenschaftler freien Zugang zu den Schriftrollen und Fragmenten. Von da an galten als einzige Vorausset­ zung ein solides Grundwissen der Papyrologie, fundierte linguisti­ sche Kenntnisse und die Bereitschaft, das akademische »Copyright« zu akzeptieren. Alle so genannten Skandale angeblich unter Ver­ schluss gehaltener Schriftrollen waren künstlich von Außenseitern wie Robert Eisenman und journalistischen Gefolgsleuten wie Mi­ chael Baigent und Richard Leigh hervorgerufen worden. Es hat nie eine Verschwörung des Vatikans gegeben - oder irgendeinen anderen Versuch, sensibles Material verschwinden zu lassen. Doch war jedem Beobachter mit gesundem Menschenverstand klar, dass das Heraus­ geben der zu entschlüsselnden Texte viel Zeit und viel harte Arbeit benötigen würde. Es gab anfangs nur eine Hand voll Experten, die den ungeheuren Berg an unbekanntem, fragmentiertem Material be­ arbeiten konnten. Sie mussten erst Studenten zu einer neuen Genera­ tion von Wissenschaftlern ausbilden (die seit einigen Jahren voll in die Arbeit integriert sind). Zudem wurden die wirklichen Experten, die jüdischen Wissenschaftler, die ihre Ergebnisse innerhalb von we­ nigen Jahren veröffentlicht hatten, von den Jordaniern und ihrem Komitee bis 1967 von weiteren Arbeiten ausgeschlossen. Als die Isra­ elis schließlich ihre Politik der strikten Beachtung des »Status quo« aus der Zeit vor 1967 aufgaben und kurz nach 1990 die Struktur des Herausgeber-Komitees änderten, dankbar internationalem Druck nachgebend, konnten die Arbeiten entscheidend beschleunigt wer­ den. Währenddessen bleibt das Problem des »Copyright« ungelöst. Raubausgaben von Rollenfragmenten, die qualifizierten Wissen­ schaftlern anvertraut waren, führten zu Gerichtsverhandlungen, wo­ bei der berühmteste Fall Professor Elisha Quimron von der BenGurion Universität des Negev in Beer Sheva betraf, dem eine Entschädigung für eine unautorisierte, vorschnelle Ausgabe einer Qumran-Rolle zugestanden wurde, in die er Jahre mühsamer Arbeit investiert hatte. 47

Schriftrollen und Höhlen bei Jericho Zurück in die frühen Jahrhunderte: Ein Mann namens Origenes erschien auf der internationalen Bühne, der in Alexandria, Caesarea, Athen, Rom und Jerusalem von 18 5 bis 2 5 3 n. Chr. lebte und eine der faszinierendsten Figuren der frühen Kirche war. Mit »früher Kir­ che« ist hier die Christenheit vor der Regierungszeit von Konstantin dem Großen (312-37 n.Chr.) gemeint, die nahezu drei Jahrhunderte einer gefährdeten Entwicklung abschloss. Die Zeit war von immer wiederkehrenden Verfolgungen geprägt, an deren Ende Konstantin dem Christentum den Status einer legalen und sogar bevorzugten Religion gab. Vor ihm waren christliche Aktivitäten in der Öffent­ lichkeit stets riskant, und Origenes selbst war zum Opfer geworden. Während der Verfolgungen unter Kaiser Decius 250-51 n.Chr. wurde er so brutal gefoltert, dass er an den Folgen starb. Zu diesem Zeitpunkt war er ein berühmter Mann, als Direktor der Bibliothek von Caesarea Maritima und Gründer einer Akademie, die so viel Prestige besaß, dass sogar Nichtchristen als Studenten zu seinen Füßen saßen. Origenes war alles andere als orthodox, und die rö­ misch-katholische Kirche lehnte es später ab, ihm den Status eines Kirchenlehrers zuzuerkennen, geschweige denn den eines Heiligen. Der Bischof von Caesarea weihte ihn jedoch zum Presbyter und lud ihn ein, über alle Bücher der Bibel zu predigen. Origenes unternahm weite Reisen, um wichtige Männer wie Hippolyt in Rom zu treffen und um Schriftrollen für seine Bibliothek zu bekommen. In Athen etwa erwarb er eine griechische Übersetzung des Alten Testaments und behandelte seine Textquellen nicht als Geheimnisse. Wir kön­ nen annehmen, dass er auf seine Erfolge stolz war, oder dass er ein­ fach anderen Menschen helfen wollte. Wie dem auch sei, er infor­ mierte seine Leser über einen Fund, der eine völlig neue Perspektive eröffnet hätte, hätte man ihn nur ernst genommen. Zur Fertigstellung seines größten philologischen Werks, der Hexapla - einer aus sechs Teilen oder Kolumnen bestehenden Ausgabe des Alten Testaments -, sammelte er die verfügbaren und zuverlässi­ gen Handschriften. Neben dem hebräischen Text benötigte er noch die Septuaginta, den griechischen Standardtext, der von allen Grie­ chisch sprechenden Juden (einschließlich der Verfasser des Neuen Testaments) seit dem dritten Jahrhundert v.Chr. benutzt wurde. Aber es gab auch rivalisierende griechische Textausgaben, die in

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Die Herkunft des Origenes

manchen jüdischen Kreisen die Septuaginta zu ersetzen begannen. Allein schon die Tatsache, dass die Septuaginta - die Philo von Ale­ xandria von Gott inspiriert genannt hatte1 - das griechische Stan­ dardwerk für die christlichen Gemeinden geworden war, schreckte viele Juden endgültig ab. Die Übersetzungen von Aquila, Symmachus und Theodotion musste Origenes daher ebenfalls hinzuziehen. Zwischen 233 und 245 n.Chr. veröffentlichte er das Alte Testament in sechs Spalten oder Kolumnen (daher der griechische Name Hexapla, die Sechsfache):

Kolumne 1: der hebräische Text; Kolumne 2: der hebräische Text, übertragen in griechische Buchsta­ ben, um eine korrekte Aussprache des Hebräischen zu gewährleisten, damit Leser mit geringen hebräischen Kenntnissen ihn »lesen* konnten;

Kolumnen 3 und 4: die griechischen Übersetzungen von Aquila und Symmachus; Kolumne 3: die Septuaginta; Kolumne 6: Theodotions revidierte Übersetzung der Septuaginta. Origenes erklärte, dass eine der Schriftrollen mit hebräischen und griechischen Texten, die zumindest die Psalmen enthielt (darauf geht er ausdrücklich ein), »während der Regierungszeit von Antioninus, dem Sohn des Severus, in einer Höhle in der Nähe von Jericho« ge­ funden wurde. Diese Aussage liefert uns ein wichtiges Datum, denn Marcus Aurelius Antoninus regierte von 218-222 n. Chr. Zu der Zeit hielt sich Origenes zum Teil in Caesarea und zum Teil in seiner Heimatstadt Alexandria auf, die er im Jahr 215 n.Chr. während der Verfolgungen unter Severus (Caracalla) verlassen hatte. Ein Frag­ ment der Darstellung des Origenes wurde vor einhundert Jahren in Mailand wiederentdeckt und 1901 zum ersten Mal veröffentlicht.2 Es bestätigte, was Euseb, ein Bischof aus Caesarea, in Buch 6 seiner Kirchengeschichte (ca. 324 n.Chr.) gesagt hat: Origenes hatte weitere griechische Übersetzungen für die Psalmen benutzt, und für eine stand ihm eine Schriftrolle zur Verfügung, »die in der Zeit des Anto­ ninus, des Sohnes von Severus, in Jericho (en Iericoi) in einem Ton­

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Schriftrollen und Höhlen bei Jericho gefäß gefunden wurde*.3 Mit anderen Worten, Euseb wusste von Origenes’ eigenem Bericht. Es sieht aber so aus, als gäbe es zwei Unterschiede zwischen den beiden: Origenes bezieht sich auf he­ bräische und griechische Schriftrollen aus dieser Höhle, während Euseb, der von Übersetzungen spricht, nur den griechischen Text erwähnt. Was vielleicht noch wichtiger ist: Die Ortsangaben wei­ chen leicht voneinander ab. War diese Höhle in oder ¿«’Jericho? Forscher wie der Papyrologe Josef Milik und der erste Direktor der Ausgrabungen von Qumran, der Dominikaner Roland de Vaux (1904-71), der über lange Zeit auch Direktor der École Biblique et Archéologique in Jerusalem war, sahen die Möglichkeit, die Höhle des Origines als die erste in Qumran entdeckte zu identifizieren. Das war eine bequeme Lösung. Schließlich ergab die Formulierung des Euseb >in Jericho* wenig Sinn, denn es gibt keine Höhlen ¿n Jericho. Aber aus der Blickrichtung von Norden, von Caesarea, wo Origenes seine Texte schrieb (übrigens nach ihm auch Euseb), war Qumran/Sechacha sicher in der Nähe von Jericho. Wie dem auch sei, Jericho war die am nächsten gelegene Stadt, auf die man sich hätte beziehen können, wollte man die Position der Höhlen von Qumran angeben. Denn zu Zeiten des Origenes war Qumran eine verlassene römische Garnison, die nicht als topographische Referenz getaugt hätte. Aus dieser Tatsache kann allerdings noch nicht der Beweis ge­ schlossen werden, dass >bei Jericho* >in Qumran* bedeutet. Tatsäch­ lich gibt es jedoch Höhlen nahe Jericho, und es gibt auch Höhlen südlich von Qumran im Nachal Chever oder im Wadi Murabba’at wo tatsächlich griechische Schriftrollen des Alten Testaments gefun­ den wurden. Auch diese Orte passen zu der geographischen Angabe des Origenes. Um es deutlich zu sagen: Die ganze Region zwischen Jericho und dem Wadi Murabba’at und sogar noch weiter südlich in Richtung Masada war voller Höhlen, die Gefäße mit Schriftrollen enthielten. Sie mussten nicht unbedingt aus der Zeit vor der Zer­ störung Jerusalems stammen, entstanden jedoch mit Sicherheit vor der Regierungzeit des Antoninus, dem Sohn des Severus. Darüber hinaus berichten Origenes und Euseb sehr nüchtern über eine dieser Höhlen, einfach als Tatsache, ohne die leiseste Spur von Sensations­ lust. Sie scheinen überhaupt nicht überrascht zu sein. Ein oder zwei Schriftrollen mit einem alten hebräischen oder griechischen Text -



Die Herkunft des Orígenes nun gut. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass - zu­ mindest zu jener Zeit - jeder von solchen Dingen wusste. Kann es sein, dass das einer der Gründe ist, warum nur so wenige Texte bis 1946/47 wiederentdeckt wurden? Die meisten Stätten, die in der Kupferrolle der Höhle 3 erwähnt werden, konnten identifiziert wer­ den, aber keiner der Schätze, von denen in den Schriften die Rede ist, wurde bisher gefunden. Falls die Menschen von Verstecken und Höhlen mit Schriftrollen wussten und (einige Forscher nehmen es an) auch Zugang zu mehr Kopien von Schriftrollen, inklusive der Kupferrolle, hatten, als heute erhalten geblieben sind, dann ist das kein Wunder. Schließlich handelt es sich hier um einen Zeitraum von etwa 200 Jahren, nämlich vom Ende der Siedlungen in Qumran bis zur Zeit des Orígenes. Während dieser Periode hätten die Römer, die das Gebiet von 68 bis ins frühe zweite Jahrhundert n.Chr. besetzt hiel­ ten, und alle, die nach ihnen kamen, leicht die Höhlen entdecken können - und sei es auch nur durch Zufall4. Und als ob es darauf angekommen wäre, die moderne Archäologie nochmals zu blamie­ ren, wurden die Wissenschaftler mit einer neuen Quelle der Pein­ lichkeit konfrontiert: Nicht nur Orígenes und Euseb, sondern auch ein anderer wichtiger Zeuge bestätigte 500 Jahre später die Ge­ schichte der Schriftrollen in den Höhlen nahe Jericho. Im Jahre 800 n. Chr., als Karl der Große in Rom durch Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt wurde, erwähnte ein christlicher Bischof »fromme Juden«, die ihm von solchen Höhlen berichtet hatten. Es war die Zeit, als der legendäre Harun al-Rashid (763-809), der Held der Arabischen Nächte, ein abbasidischer Kalif war und Karl den Großen zum Beschützer der christlichen Stätten in Jerusalem machte. Der erwähnte Bischof war Timotheus L, Patriarch der Nestoria­ ner in Seleukeia-Ktesiphon, einer Stadt etwa 60 km nordöstlich des alten Babylon, zu beiden Seiten des Tigris gelegen. Timotheus war ein hoch angesehener gelehrter Theologe und Diplomat. Sein Brief­ wechsel mit dem Kalifen al-Mahdi ist bis heute ein herausragendes Dokument des christlich-muslimischen Dialogs. Er ermutigte mis­ sionarische Aktivitäten in Ländern wie China und Indien und unter­ richtete vorwiegend durch Briefe (etwa zweihundert sind noch er­ halten) über Fragen zum Studium der Bibel, zur Philosophie und

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Schriftrollen und Höhlen beiJericho nestorianischen Theologie. Der Brief, der uns hier am meisten inte­ ressiert, war an Sergius/Mar Sargis, den Metropolitan von Elam, adressiert. Der Brief ist auf chaldäisch geschrieben, einer aramäi­ schen Sprachform, die heute noch in Gebrauch ist. Timotheus infor­ miert seinen Briefpartner über den schwierigen Prozess, die ver­ schiedenen Editionen der Hexapia zu kopieren. Er beschwert sich über die Inkompetenz streitsüchtiger Schreiber und beschreibt seine eigene Rolle als Korrektor. Die Arbeit sei so schwierig, sagt er, dass er beinahe blind davon würde. Und plötzlich erzählt er eine faszinie­ rende Geschichte:

Wzr erfuhren von vertrauenswürdigen Juden, die als Katechumen gerade den christlichen Glauben gelernt hatten, dass vor zehn Jahren Bücher in einer Höhle bei Jericho gefunden wurden. Es heißt, dass der Hund eines arabischen Jägers einem Tier in eine Höhle folgte und nicht zurückkam. Sein Herr suchte ihn und fand eine Höhle zwischen den Felsen mit vielen Büchern darin. Der Jäger ging nach Jerusalem und erzählte anderen Juden von seiner Entdeckung. Viele von ihnen kamen an diesen Ort und fanden die Bücher des Alten Testaments und andere Schriften in Hebräisch vorJ Timotheus betont hier die Rolle der Juden - Beduinen kommen nicht vor. Und obwohl die Geschichte dieser Entdeckung eine Pa­ rallele zur beinahe legendenhaften Beschreibung der Entdeckung von 1946/47 durch die Beduinen aufweist - ein Hund verlor sich in den Hügeln -, so ist sie doch bemerkenswert sachlich und öku­ menisch. Ein christlicher Bischof, der unter einem Kalifen lebt, kümmert sich um konvertierte Juden, die offensichtlich mit ortho­ doxen Juden in Jerusalem in Kontakt bleiben. Der Entdecker der Höhlen war ein Araber, aber er ging nach Jerusalem, um die Juden zu informieren, deren Sprache er wahrscheinlich auf den Rollen er­ kannt hatte. Was für eine Geschichte, und was für eine Lektion! Wo aber sind diese Schriftrollen? In seinem Brief an Sergius/Mar Sargis schreibt Timotheus weiter, was er als nächstes tat. Voller Hoffnung, dass ihm diese Schriftrollen bei der Identifizierung von Quellen einiger Zitate im Neuen Testa­ ment helfen würden, die er nicht im hebräischen Alten Testament finden konnte, fragte er jüdische Informanten. Und tatsächlich sag-

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Die Herkunft des Origenes ten sie ihm, dass solche Quellen in den Texten zu finden seien.6 Einer der Juden erzählte Timotheus, es gäbe >mehr als 200 Psalmen Davids< unter den Texten. Daraufhin schrieb der Bischof an vertrauens­ würdige christliche Kollegen, darunter ein Berater des Königs und der Metropolitanbischof der Stadt Damaskus. Er nahm offenbar an, sie hätten Zugang zu den Schriftrollen.7 Timotheus beklagt sich je­ doch in seinem Brief: »Ich habe nie eine Antwort auf meine Anfrage erhalten, und ich kenne auch keinen geeigneten Mann, den ich schicken könnte. Das brennt in meinem Herzen wie Feuer und schwelt in meinen Knochen.< Von diesen Schriftrollen blieb keine Spur. Falls sie in jüdische Bibliotheken oder in andere Archive ge­ bracht wurden, dann wurden sie sicher durch Kämpfe, Kriege und Zerstörungen vernichtet oder zerfielen einfach, wie die meisten anti­ ken Handschriften, die nicht durch Krüge in Höhlen oder trockene Müll- und Erdhaufen (wie in Ägypten in Nag Hammadi, Oxyrhynchus und anderen Stätten) oder durch vulkanische Lava (wie in Her­ culaneum) geschützt und konserviert wurden. Die hebräische Schriftrolle des Origenes hat die Zeit gleichfalls nicht überdauert, ebensowenig wie die mehr als 30.000 Rollen, die er in seiner wissen­ schaftlichen Bibliothek in Caesarea Maritima zusammengetragen hatte. Ein Detail, auf das sich Timotheus bezieht, bringt uns jedoch zurück nach Qumran. Eine der Besonderheiten der biblischen Schriftrollen, die in Qum­ ran gefunden wurden, sind die verschiedenen Kollektionen zusätzli­ cher Psalmen. Die »Loblieder« (iQH und 4Q 427-33) bestehen aus fünfundzwanzig »Psalmen«. Acht Rollen mit ihnen wurden in Qumran gefunden. Eine Sammlung, die die Psalmen von Josua (4Q 378-79) genannt wird, wurde zweimal gefunden. Weitere psal­ menähnliche Gedichte und Gebete wurden in der Höhle 4 entdeckt (4Q 286-93; 4Q 392-93> 4Q 434-56). Zum Teil sind die Autoren un­ bekannt, andere hingegen, wie David oder Manasse, werden er­ wähnt. Die spektakulärste Entdeckung waren die Fragmente der Schriftrollen mit den »apokryphen Psalmen« (4Q 88; 4Q 380-81; 4Q 448; i iQ 5,22; i iQ 11). Sie weisen nicht nur darauf hin, dass die Ju­ den in der späten Zweiten Tempelperiode ihre klassische Sammlung von 150 Psalmen, die im Tanach* enthalten sind, schöpferisch erwei­ terten, sondern auch, dass drei der Psalmen, die in den Höhlen ent-

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Schriftrollen und Höhlen heiJericho deckt wurden, hebräischen Versionen von Texten entsprechen, die zuvor nur als ein Teil des Alt-Syrischen(l) Psalters bekannt waren, der fünf weitere Psalmen, 151-55, enthält. Es sind 4Q 88, 4Q 448 und 11Q5 mit Psalm 151 (der im Text als ein Psalm >Davids< identifi­ ziert ist), Psalm 154 und Psalm 155. Jedesmal enthielten die Rollen auch andere Texte. 4Q 448 etwa enthält auch das berühmte Gebet für König Jonathan. Aber die interessanteste Beobachtung betrifft die möglichen Zusammenhänge: Die neuen hebräischen Psalmen waren aus der syrisch-christlichen Bibel bekannt. Und es war der syrische Bischof Timotheus I., der von der Entdeckung der Schrif­ trollen bei Jericho, einschließlich einer Vielzahl von Psalmen, be­ richtete. Kann es sein, dass die Syrische Kirche ihre ergänzenden Psalmen derselben Quelle verdankt, die auch hinter der Sammlung aus der Höhle >bei Jericho« steckt? Sollte es so sein, dann könnte eine Linie der christlichen Tradition in der Tat sehr eng mit Qumran ver­ bunden sein. Doch wie gesagt, wir wissen nicht, ob >bei Jericho« in der heutigen Topographie >in Qumran« bedeutet. Es bleibt jedoch durchaus eine ernsthafte Möglichkeit. Hier sind nun zwei Beispiele aus diesen neuen, zusätzlichen Psal­ men. Als Erstes der Anfang des Psalms 151, in dem David, der Hirte, zusammen mit den Bäumen und den Herden den Herrn lobt, der ihn auserwählt hat. Danach folgt das Ende des Psalms 155, der das Vertrauen in den Herrn, den gerechten Richter und Erlöser, beschreibt:

Halleluja. Von David, dem Sohn des Isais. Ich war kleiner als meine Brüder und ich war der jüngste von meines Vaters Söhnen. Und er machte mich zum Hüter seiner Herde und zum Herrscher über seine Kinder. Meine Hände formten ein Instrument, eine Zither meine Finger und ich rühmte Gott. So sagte ich mir: Die Berge zeugen nicht für ihn und die Hügel erzählen nicht von ihm. [Aber] die Bäume stimmen meinen Worten zu und die Herden meinen Taten. 54

Karaiten, Höhlenmenschen und die Juden von Kairo

Denn wer berichtet und wer benennt und wer beschreibt Gottes Werke? Gott sieht alles, hört alles, nimmt alles wahr. Ich vertraue dir, Herr. Ich rief ihn an: >HerrSeptuaginta< erhaltenen und zum Teil in den protes­ tantischen Bibeln, die sich nach dem alten hebräischen Kanon ausrichten, unter die Apokryphen gerechneten Schriften - vor al­ lem die durchaus populären >Judit 6Q 21-31 und 11Q 21-23 hinzu, dann wurden immerhin in allen QumranHöhlen solche Pescharim entdeckt. Es war mit Sicherheit eine der wichtigsten Aufgaben der essenischen Gemeinschaft, die bibli­ schen Bücher auszulegen und dabei, wo immer möglich, die Vor­ bildfigur des »Lehrers der Gerechtigkeit« zu bestätigen.

Diese drei Hauptkategorien, die wir auf der Grundlage der Funde in Höhle i ermittelten, lassen sich in allen elf Höhlen wiederfinden.22 Wir wissen bereits, dass Höhle 4, die große Bibliothekshöhle mit 575 durchgezählten Schriftrollenfragmenten, alles gewissermaßen im Überfluss besaß. Doch auch der Mikrokosmos der Funde in den Höhlen 1, 2, 3,5,6 und 11 reflektiert das Ordnungssystem. In Kapi­ tel 6 werden wir zu überprüfen haben, ob das auch für die eigen­ artige Ausnahmehöhle, die Höhle 7, zutrifft, die Höhle, in der eine für Qumran einzigartige Sammlung von 18 Papyrusfragmenten und einem seitenverkehrt erhaltenen Mergel-Abdruck eines Papyrus entdeckt wurde. Doch schon an dieser Stelle sollte nachvollziehbar sein, dass die Bibliothekare von Qumran ein erkennbares, sinnvolles Ordnungssystem anwandten. Jeder Benutzer einer der Höhlen, je­ des Erstsemester an der »Theologischen Hochschule« von Qumran, konnte sich sofort nach diesem System orientieren und die Texte entsprechend benutzen. Alle Schriften waren erkennbar aufeinander bezogen. Für einen heutigen Christen, der beispielsweise Schriften Thomas von Aquins oder Luthers neben den Büchern der Bibel liest und in ihnen wegweisende Orientierung findet, ist das leicht nach­ I23

zuvollziehen. Ohne kanonischen Status zu besitzen, haben diese Schriften heute in den Kirchen einen ähnlichen Rang, wie ihn die Pseudepigraphen und Apokryphen für die Juden der Qumran-Epoche hatten. Auch die Lektüre von Kommentaren, die manchen heu­ tigen Kanzelpredigern mehr bedeuten als die selbstständige Ausle­ gung der Texte, ist uns nicht fremd. Die Parallelen zwischen damals und heute brauchen wir keineswegs zu übertreiben, um abschlie­ ßend festzuhalten: Das Ordnungssystem der Bibliothek Von Qumran war ebenso umfassend wie anspruchsvoll. Im Mittelpunkt des Koordinatensystems stand die eigene Lehre, die sich nach der Tora, den fünf Büchern Mose, ausrichtete. Aber es war kein exklusives, sondern ein inklusives System. Diese Juden, die das Kommen des Messias und das Ende der Zeiten so sehnsüchtig erwarteten, verbrei­ teten ihr eigenes Schrifttum so intensiv wie möglich, und sie sam­ melten zugleich, was in anderen jüdischen Bewegungen zu ihren ureigenen Themen geschrieben und gelehrt wurde. Das Nebenein­ ander von essenischen und nicht-essenischen Schriften in diesen Höhlen ist kein Widerspruch, sondern eine Notwendigkeit. Gerade die so ungewöhnliche Höhle 7 (aber nicht nur sie) könnte, stellver­ tretend, eine Antwort auf die Frage nach diesem inklusiven Denken und Debattieren geben. Ehe wir diese Stufe erreichen, müssen wir uns noch einer anderen Frage zuwenden, über die viele Regalbretter gelehrter Literatur ge­ schrieben wurden. Es ist eine Frage, die auch zum Verständnis der Beziehungen zwischen den Qumran-Höhlen und den alttestamentlichen Wurzeln des frühen Christentum beiträgt. Wie steht es eigent­ lich um das eine biblische Buch, das - wie alle Welt zu meinen scheint - in Qumran nicht gefunden wurde? Gibt es eine verborgene Botschaft hinter der Abwesenheit des Buches Ester?

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Ester und ihr Gott Der Fall der fehlenden Schriftrollen

Die verzweifelte Suche nach Ester

Wenn die Höhlen von Qumran die Bibliothek einer orthodoxen Be­ wegung waren oder ein Studienzentrum zeitgenössischen jüdischen Denkens, wie kann es dann sein, dass das Buch Ester nicht unter den Schriftrollen gefunden wurde? Das ist eine der wenigen Tatsachen, die beinahe jeder über Qumran weiß, und sie hat zu vielen Spekula­ tionen Anlass gegeben. Mochten die Essener das Purimfest nicht, das sich auf das Buch Ester gründet? Hatten sie Einwände dagegen, dass der Name Gottes in dem Buch offenbar nicht explizit genannt wird? Aber ist es nicht auch das Buch, von dem Maimonides sagt, es werde als einziges zusammen mit der Tora überleben, wenn der Messias kommt? Das Fehlen des Buches Ester ist ebenso rätselhaft wie hilfreich für das Verständnis der Schriftrollen vom Toten Meer. Es ist eine Fallstudie, aus der wir viel über jüdisches Denken lernen können, die uns aber auch hilft, unsere eigenen vorgefassten Mei­ nungen zu revidieren. Die fehlenden Bindeglieder* erzählen ihre ei­ gene Geschichte von der Anwesenheit Gottes in einem Buch des Tanach, in dem er scheinbar nicht erwähnt wird.

Die verzweifelte Suche nach Ester Die Höhlen von Sechacha/Qumran waren eine Bibliothek jüdischen Denkens. Im Zentrum standen die heiligen Schriften, der Tanach. Doch was war die heilige Schrift zur Zeit der Essener? Wenn wir uns heute das hebräische Alte Testament ansehen oder seine vorchristli­ che griechische Übersetzung - die so genannte Septuaginta - oder die römisch-katholischen und protestantischen Ausgaben, dann ist die Antwort jedes Mal eine andere. Und das betrifft sowohl die Anzahl der Schriften als auch ihre Reihenfolge und die Namen, denn die Be­ zeichnung der Texte ist oft sehr unterschiedlich. Es ist hier natürlich nicht möglich, ein Buch im Buch über den >Kanon< des Alten Testa­ ments, seine Herkunft und seine Entstehung zu schreiben. Doch was wir wirklich mit Sicherheit sagen können, ist Folgendes: Die fünf Bücher Mose, Tora genannt, oder griechisch: Pentateuch, waren schon immer das unveränderliche Kernstück der Schriften. Sie waren und sind die heiligsten der heiligen Schriften. Die Entwicklungsge­

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Ester und ihr Gott

schichte dieser Texte, einschließlich des Beweismaterials von Qumran, zeigt uns, dass ihr Inhalt, ihr Stil, das Vokabular und die Syntax vor allen anderen biblischen Texten festgelegt waren. In der hebräi­ schen Bibel folgen nach der Tora die Propheten, die Nebi’im, die in drei Unterkategorien aufgeteilt sind: Josua, Richter, i. und 2. Samuel und i. und 2. Könige (das sind die so genannten ersten Propheten, die Nebi’im Rischonim). An diese schließen sich die späteren Propheten, die Nebi’im Acharonim Jesaja, Jeremia und Hezekiel an. Dann folgen die Zwölf kleinen Propheten (Tree Asar): Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefania, Haggai, Sacharja und Maleachi. Die Schriften der Zwölf kleinen Propheten waren üblicherweise in einer Schriftrolle zusammengefasst. Eine dieser Rollen aus dem er­ sten Jahrhundert n.Chr. wurde in der Nähe von Qumran, im Nachal Chever, gefunden. Die dritte Gruppe der Schriften wird Ketubim ge­ nannt. Sie enthält die Psalmen, Klagelieder, das Hohelied Salomos, die Sprüche, Hiob, Prediger, Rut, 1. und 2. Chronik, Ester, Esra, Nehemia und Daniel. Diese dreizehn Bücher wurden nicht von An­ fang an in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet, aber eine Gruppe erhielt früh einen eigenen Namen und eigene Rollen: die so genannten Megillot oder die Fünf Schriftrollen:

Das Hohelied Salomos, das in der Synagoge beim Passahfest gelesen wird; Rut, zu Schavuot (Pfingsten) vorgelesen; Die Klagelieder, die zu Tischa be’Av, dem neunten Tag des fünften Monats (Juli/August) gelesen werden. Der Tag erinnerte ursprüng­ lich an die Zerstörung von Salomos Tempel durch die Babylonier unter Nebukadnezar im Jahr 568 v.Chr.; später erinnerte er auch an die Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer unter Titus im Jahr 70 n. Chr. Weil der Tag im jüdischen Kalender auch auf das Ende der Revolte von Bar Kochba gegen die Römer fiel (13 5 n. Chr.), und weil Edward I., König von England, am 18. Juli 1290 den Befehl gab, alle Juden aus seinem Reich zu vertreiben (es war das erste Er­ eignis dieser Art in Europa), wird auch dieser Geschehnisse gedacht;

Prediger Salomo (Kohelet), zu Sukkoth (Laubhüttenfest, im Monat September/Oktober, Tischri) in den Synagogen gelesen; 128

Die verzweifelte Suche nach Ester

Ester, vorgelesen zum Purimfest. Purim, heute das beliebteste Volksfest der Juden, wird am 14./15. Adar (Februar/März) gefeiert. Von diesen fünf Büchern wird heute nur noch eines aus der Schrift­ rolle gelesen: Ester.

Obwohl Ester unter den Megillot eine besondere Rolle einnimmt, und zwar überall auf der Welt, wurde es doch nicht unter den Schrift­ rollen vom Toten Meer gefunden. Diese Tatsache ist unbestritten, und sie führte zu zahlreichen Vermutungen und Spekulationen. Warum wurde ausgerechnet Ester nicht gefunden, wenn doch ganze Schriftrollen oder zumindest Teile aller biblischen Texte des »Alten Testaments« zwischen 1947 und 1956 entdeckt werden konnten? Die Frage, warum das Buch Ester fehlt, wurde wohl öfter gestellt als die Frage, warum dagegen bestimmte andere Bücher gefunden wurden. Hatten die Bewohner von Qumran oder die Juden, die die Schriftrol­ len in den Höhlen verwahrten, wirklich theologische Einwände ge­ gen den Inhalt des Buches? War Ester vielleicht zu »fröhlich«, nicht im Hauptteil, in dem wir auch auf eine strenge Gerichtsbarkeit und gelegentlich auf ausgesuchte Grausamkeiten stoßen, aber am Ende, das zur Tradition des überschwänglich gefeierten Purimfestes führte (Ester 9,19; 10,28)? In einem Traktat des Talmud, Megilla 7b, wird ge­ fordert, dass ein Mann während des Purimfestes so viel trinken solle, bis er nicht mehr zwischen Arur Haman (>verflucht sei HamanzusammenzurollenWieviel Prozent dessen, was einst versteckt wurde, ist heute in unserer Hand?< Gewöhnlich war die Antwort: sechzig oder siebzig Prozent. Das ist nicht richtig. Wir besitzen weniger als sechs Prozent von dem, was in den Höhlen versteckt wurde. Hinzu kommt, dass einige biblische Bücher nur in winzigen Fragmenten vorliegen, die leicht zu Staub zerfallen, wenn man sie falsch behandelt.1

Hilfe von einem anderen Ort Um mehr zu erfahren, müssen wir uns mit der Frage nach der Ge­ genwart Gottes in den anderen Schriften befassen. Denn es ist bei weitem nicht sicher, ob das Buch Ester das einzige Buch des bibli­ schen Kanons ist, in dem Gott nicht namentlich erwähnt wird. Die meisten jüdischen Forscher und der überwiegende Teil der christli­ chen Theologen, die sich mit dem Alten Testament auseinander set­ zen, nehmen an, dass er auch in einer anderen Schrift der Megillot

Hilfe von einem anderen Ort nicht erwähnt wird, dem Hohenlied Salomos, dem Shir ha-Shirim. Im Zentrum der Frage steht das Kapitel 8, Vers 6. In der deutschen »Einheitsübersetzung« wird Gott überhaupt nicht erwähnt, wohin­ gegen wir in der Luther-Bibel (rev. 1984) den »Herrn« finden: »Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des HERRN.« Diejenigen, die glauben, Gott wäre gemeint, müssen ihn im Hebräischen shalhebeth-yah sehen. Auf den ersten Blick ist es ziemlich unwahrscheinlich. Die Silbe yah erinnert nicht an die Ab­ kürzung für den Namen Gottes, sondern ähnelt vielmehr dem Su­ perlativ, des stärksten Feuers. Könnte es dennoch sein, dass der Au­ tor des Hohenliedes bewusst mit einer Doppelbedeutung >spielteEs ist das AllerheiligsteDie Welt erlangte ihren höchsten Wert an dem

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Ester und ihr Gott Tag, als Israel das Hohelied Salomos erhielt.«2 Ähnlich gepriesen wurde das >Gott-lose< Buch Ester von dem einflussreichsten jüdi­ schen Denker des Mittelalters, dem verehrten Rambam, auch Maimonides genannt.3 Er lehrte, dass nur sechs Bücher nach dem Kom­ men des Messias bestehen bleiben würden: die fünf Bücher der Tora - und Ester/ Maimonides begründet das nicht weiter, aber ein Motiv dafür könnte das liturgische Format sein: Nur die Tora und Ester wurden (und werden heute immer noch) in der Synagoge aus Schrif­ trollen gelesen. Im frühen Mittelalter hingegen begann man, nach der Einführung der hebräischen Bibel durch die Masoreten im ach­ ten Jahrhundert die biblischen Texte nicht mehr aus Schriftrollen zu lesen, sondern aus einem Kodex, einem »normalen« Buch. Es gab aber auch viele theologische Gründe, die für Ester sprachen: Ein ganzer Abschnitt des Talmud, Megilla, ist Ester und seinem Ge­ brauch gewidmet. Allerdings gab es auch einige Stimmen, die sich gegen das Buch aussprachen. Einmal soll Rav Judah im Namen von Schmu’el erklärt haben, Ester sei nicht von Gott inspiriert. Andere, die sich ebenfalls auf Rabbi Schmu’el beriefen, sagten dagegen, es wäre vom Heiligen Geist (Ruach ha-Kodesh) inspiriert.5 Entgegen dieser rabbinischen Meinung folgen moderne jüdische Theologen der Ansicht des Rav Judah und erklären, Gott würde in dem Buch fehlen, es enthielte weder die Gesetze der Tora noch andere wichtige Dinge wie Gebete, Gnade und Vergebung und die Verhaltensregeln des Kashrut (das koschere Essen und Trinken) und so weiter. Aber offensichtlich stehen diese Dinge auch nicht immer in anderen bibli­ schen Büchern. Wo und wenn sie erwähnt werden, geschieht dies oft indirekt und durch Anspielungen, doch ein zeitgenössischer Leser hätte sie ohne weiteres verstanden.6 Vom Talmud her wird klar, dass orthodoxe Juden diese Dinge in Ester überhaupt nicht vermissten. Die Anwesenheit Gottes unter den Mitgliedern seines Volkes wird in der Megilla, dem Traktat aus dem Talmud, der Ester gewidmet ist, hinreichend verdeutlicht: >Ich verwerfe sie nicht - in den Tagen der Chaldäer, als ich Daniel, Hananja, Misael und Asarja sich für sie erheben ließ. Ich verachte sie nicht - zu der Zeit der Griechen, als ich Schimon, den Verlässlichen, und den Hasmonäer und seine Söhne und Matthias, den Hohen Priester, sich für sie erheben ließ. Als wollte ich sie völlig zerstören -

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Hilfe von einem anderen Ort in den Tagen von Haman, als ich Mordechai und Ester sich für sie erheben ließ ... denn ich bin der Herr, ihr Gott (Megilla i ia).< Vor jeder dieser Aussagen steht ein Zitat aus der Tora, 3. Mose 26,44-45 ~ hier kursiv gesetzt. Die Kombination der Toratexte mit der Ge­ schichte der Juden lässt ganz eindeutig den Schluss zu, dass Morde­ chai und Ester, die Hauptfiguren in der Ester-Rolle, die als Höhe­ punkt der Auflistung genannt werden, als Gottes Agenten gelten, und dass Gott selbst dort mit ihnen ist. Können wir mehr sagen? Gibt es einen Anhaltspunkt irgendwo im Text, an dem wir den versteckten Gott finden können, vielleicht sogar namentlich? Erinnern wir uns daran, wie die Geschichte be­ gann, wie die Historie Persiens, so wie wir sie von den klassischen Autoren (hauptsächlich von Herodot) her kennen, vorausgesetzt wird, und wie sie durch das erzählerische Können des Autors Ge­ stalt annimmt. Der Persische König Ahasveros (Xerxes) gibt ein Fest, aber die Königin Waschti weigert sich, daran teilzunehmen. Warum, wird nicht erzählt. Ahasveros/Xerxes hört auf den Rat sei­ ner Astrologen und verstößt sie. Es folgen die Jahre des Krieges mit den Griechen; die berühmten Schlachten an den Thermopylen und bei Salamis werden geschlagen. Erst viel später, wahrscheinlich um das Jahr 479 v. Chr., findet Ahasveros Zeit, sich eine neue Königin zu suchen. Viele junge Frauen begeben sich in die Hauptstadt, doch am Ende wählt der König Ester, die Jüdin ist, obwohl sie einen persi­ schen Namen trägt (er bedeutet >SternMyrrheLosversteckten< Gottes in den Zeiten der Not zu sehen, ein Thema, das für die Essener, aber auch für alle anderen Juden während ihrer ganzen Geschichte von einiger Bedeutung war. Der entscheidende Abschnitt ist 4,12-14. Mordechai hatte Ester über Hamans Pläne und das Edikt gegen die Juden informiert und sie ge­ beten, >dass sie zum König hingehe und zu ihm flehe und bei ihm Fürbitte tue für ihr VolkSprüche der VäterHa Maqom y’nachem etchem betoch shar aveley zion v’ yerushalayimMordechai befahl dem Eunuchen, der ihm die Nach­ richt von Ester gebracht hatte, ihr zu sagen, sie solle sich mehr um die gemeinsame Sicherheit ihres Volkes kümmern als um ihre eigene. Denn wenn sie es jetzt im Stich ließe, dann käme die Hilfe bestimmt von Gott ...