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German Pages 344 Year 2019
Lucian Ionel Sinn und Begriff: Negativität bei Hegel und Heidegger
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 140
Lucian Ionel
Sinn und Begriff: Negativität bei Hegel und Heidegger
ISBN 978-3-11-065885-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065980-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065922-1 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2017/18 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und, im Rahmen einer Cotutelle de thèse, von der Universität Strasbourg angenommen wurde. Die Entstehung dieser Arbeit ist vielen Personen, Freunden und Einrichtungen zu verdanken. Zunächst möchte ich dem DAAD für die dreijährige Promotionsförderung danken, die es mir erlaubte, mich auf meine Forschung zu fokussieren. Der AlfredToepfer-Stiftung F.V.S. danke ich für das Europa-Stipendium, das mir als einjähriges Abschlussstipendium gedient hat, und für die großzügige Übernahme der Druckkosten. Der Deutsch-Französischen Hochschule danke ich für die Förderung der Mobilitätskosten im Rahmen des Cotutelle-Verfahrens. Lore Hühn und Gérard Bensussan bin ich für die Betreuung der Arbeit, ihr Vertrauen und ihre dauerhafte Unterstützung sehr dankbar. Für die gründlichen Gutachten der Arbeit, auf deutscher und französischer Seite, und für die Teilnahme an der Verteidigung danke ich sehr Franck Fischbach, Oliver Müller, Gérard Raulet, Magnus Striet und Andreas Urs Sommer. Meinen Freunden Alexander Schmäh, Simon Schüz und Maximilian Tegtmeyer danke ich für die anregenden Diskussionen und hilfreichen Kommentare über die Jahre der Entstehung dieser Arbeit hinweg. Teile der Arbeit haben ebenfalls Louisa Estadieu, Sylvia Gschwend, Alexandra Hertlein, Jan Kerkmann, Robert Pfeiffer, Georg Spoo und Andreas Stafflinger aufmerksam gelesen und kommentiert. Teresa Zauner und Ralf Kretzschmar haben die letzte Fassung des Manuskripts mit großer Sorgfalt und in toller Zusammenarbeit lektoriert. Ihnen allen bleibe ich zutiefst dankbar. An die ProfessorInnen und KollegInnen, die ich im Laufe der Jahre auf Kolloquien und Tagungen in Bonn, Budapest, Frankfurt, Freiburg, Kaiseraugst (Basel), Strasbourg, Tübingen und Wien getroffen habe, danke ich für die Gespräche und die bereichernden Impulse, die sie mir, wissentlich oder unwissentlich, gegeben haben. Den Herausgebern der Quellen und Studien gilt mein Dank für die Aufnahme der Dissertation in dieser Reihe und Serena Pirrotta, Tim Vogel und Anett Rehner für die freundschaftliche Unterstützung im Laufe der Veröffentlichung. Pittsburgh, Oktober 2019
https://doi.org/10.1515/9783110659801-001
Inhalt Einleitung 1 3 Was ist eine Theorie der Negativität? 6 Hermeneutische Koordinaten Die Frage nach der Konstitution von Sinn Die Streitfrage um das Nichts 17 24 Vorgehen und Struktur
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I
32 Begriff, Negativität und Endlichkeit: Heidegger liest Hegel Die Unhintergehbarkeit des Als 36 A Eine Genealogie der Auseinandersetzung um den λόγος 36 45 B Wirklichkeit und Gedachtheit C Das Sein, das Nichts und die ontologische Differenz 48 52 D Begreifen und Aufheben Die Möglichkeit des Als 59 A Lichtung und Abgrund 59 61 B Identität und Transzendentalität C Ding und Welt 67 70 D Logos und Aletheia Das Verschwinden des Als? 75 A Die Aufgabe des Denkens und die Preisgabe des Begriffs 75 79 B Welt und Verbergung C Begriff und Endlichkeit 82
II
Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit 87 Koordinaten des Seins 92 92 A Das Sein als Begriff 99 B Die Grundarten der Verbergung C Die Apriorität des Nichtseins 102 105 Der Zwiespalt des Als 105 A Der regulative Begriff des Phänomens B Das Als als Struktur der Phänomenalität 108 110 C Logos, Vermittlung, Verbergung 116 Weltbedeutsamkeit und Verbergung A Das hermeneutische Als 116 B Was alles welthaft ist: Das Zuhandene und das Gute C Die Latenz der Bedeutsamkeit 126
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VIII
Inhalt
Verstehen, Sinn, Urteil 130 A Verständlichkeit und Begrifflichkeit 130 135 B Urteil und Erkenntnis C Sinn zwischen Artikulierbarkeit und Artikulation D Befindlichkeit zwischen Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit 142 146 E Die Wahrheit: Das Als als solches Nichtigkeit, Möglichkeit, Sinnkonstitution 151 151 A Der Sinn der Endlichkeit B Die Eigentlichkeit als Möglichkeitssinn 155 C Das Nichts als Konstitutionsgrund 157
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161 III Wahrheit und Verbergung Die Transzendentalität der Verbergung 163 163 A Die These über das Geschehen von Sinn B Urteils- und Sachwahrheit 166 C Die Freiheit zum Sinn und die Unfreiheit des Menschen D Die Verbergung der Offenbarkeit als Bedingung des Offenbaren 171 176 Die Translatio der Erde in die Welt 176 A Die neue Auffassung der Welt 178 B Dinghaftigkeit und Bedeutsamkeit C Das Bild und der Tempel 181 D Die Bedeutung der Erde 184 IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie 188 193 Umrisse des Ereignisses 193 A Terminologische Klärungen B Das Projekt der Seinsgeschichte 194 197 C Der Entwurf eines anderen Anfangs des Denkens 199 Die lichtende Verbergung als Konstitution von Sinn A Die Verbergung als Sinngestaltung 199 203 B Das Nichts: Die Nichtreferentialität von Sinn Die Gründung des anderen Anfangs 208 208 A Das Wissen um die Verbergung 211 B Die Bedeutung des Abgrundes C Das Ereignis als Aneignung der Verbergung 213 D Der letzte Gott und die Aufgabe der Bestimmung 215 V
Übergang: Hegel liest Heidegger
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Inhalt
VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe 227 Hegels Kritik an Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft 234 234 A Objektivität und Bestimmung B Verstandeskategorien und Vernunftbegriffe 237 242 C Anschauliche Synthesis und begrifflicher Inhalt 247 D Die Vernunft als sprachliches Vermögen Was alles der Begriff nicht ist 255 A Die Objektivität des Begriffs und der Horizont der Verständlichkeit 255 B Das Unbegreifliche als Motiv der Moderne 260 263 C Das Abstrakte und das Allgemeine D Meinung, Willkür, Trübheit 266 Der Begriff als lebendige Wirklichkeit 268 268 A Die Teleologie des Begriffs B Die Idee des Guten 272 274 C Die Aktualität des Begriffs VII Die Negativität als Konstitution von Sinn 279 285 Die Negativität des Anfangs 285 A Das Nichts als Reichtum von Bestimmungen 291 B Gegebenheit, Vergessenheit, Erinnerung C Der Geltungsbereich der Negativität 296 Darstellung und Konstitution 303 303 A Die drei Ordnungen der Negativität B Die Aufhebung 306 311 C Sinn und Begriff Literaturverzeichnis 317 317 I Siglenverzeichnis A Georg Wilhelm Friedrich Hegel B Martin Heidegger 317 318 C Weitere Siglen II Bibliographie 319 Personen- und Sachregister
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IX
Einleitung Es ist eine verbreitete Auffassung, dass Sinn und Begriff eine grundsätzlich verschiedene Natur haben. Mit dieser Auffassung gehen gemeinhin drei Annahmen einher: (1) Wir können Sinnzusammenhänge verstehen und bedeutsame Erfahrungen machen, ohne diese begrifflich bestimmen zu müssen; (2) die begriffliche Beschreibung von Sinn-Erfahrungen führt diese auf festgefahrene und reduktive Bestimmungsmuster zurück; (3) die begriffliche Bestimmung ist der Natur des Sinns vor allem deshalb unangemessen, weil Begriffe an der Konstitution von Sinn nicht beteiligt, sondern nur Folgeprodukte dieses Konstitutionsprozesses sind. Aus diesen Annahmen folgt, dass unsere Sensibilität für Bedeutsamkeit nicht restlos an unser begriffliches Vermögen gebunden ist. Für diese Auffassung, wonach die Quelle von Sinn nicht begrifflich ist, hat Martin Heidegger argumentiert. Heidegger stützt seine Ansicht auf eine spezifische Konzeption der Art und Weise, in der sich Bedeutungen sprachlich konstituieren: dass nämlich der Grund der Bedeutsamkeit von Sprachausdrücken im Konstitutionsakt derselben in Vergessenheit gerät. Heidegger beschreibt das Entstehen der Sprachausdrücke, die etwas als etwas erscheinen lassen, in dem sie es benennen, als Versammlung. In einem einfachen Wort wird so eine semantische Vielfalt versammelt. Und Worte sind selbstverständlich, insofern diese Versammlung immer schon stattgefunden hat. Den Kern seiner Konzeption bildet aber der Gedanke, dass in einer so versammelten Sinneinheit das, was darin zum Ausdruck kommt, zugleich verborgen wird. Es ist demnach ein Charakteristikum von Sprachausdrücken, dass der Grund ihrer Intelligibilität trotz oder gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit undurchsichtig ist. Vor diesem Hintergrund betrachtet Heidegger den Begriff als das verhärtete Endprodukt des Konstitutionsprozesses von Sinn, das sich dadurch auszeichnet, dass es über die Bedingung und Herkunft der eigenen Bedeutsamkeit keine Rechenschaft mehr ablegt. Begriffe machen es uns leicht, unsere Erfahrung von Welt einzuordnen, aber aufgrund ihres abgeleiteten und selbstgenügsamen Charakters wird ihre Verstrickung in ein historisch gewachsenes ontologisches Paradigma verfestigt und verhüllt. Die vorliegende Arbeit untersucht diese Auffassung kritisch und wird dabei von der gegenteiligen These animiert, dass die Konstitution von Sinn und die begriffliche Artikulation von Bedeutungen wesentlich zusammengehören.¹ Dieser
Die Termini „Sinn“ und „Bedeutung“ werden hier synonym gebraucht. Seit Frege ist die terminologische Unterscheidung zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“ üblich geworden. Dadurch wird die Differenz zwischen dem Begriffsinhalt, der die Art des Gegebenseins eines Gegenstandes https://doi.org/10.1515/9783110659801-002
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Einleitung
Gedanke wird unter Berufung auf Hegel entwickelt und umfasst hauptsächlich drei Thesen: (1) Einfache Gedanken und sinnhafte Erfahrungen sind trotz allen Anscheins nicht selbstständig, sondern beruhen auf einem Netz von konstitutiven Begriffen. Wenn dies eine Bedingung von Sinnhaftigkeit ist, dann sind Gedanken und Erfahrungen, die nicht begrifflich artikuliert werden, semantisch arm; (2) unser Begriffsapparat, welcher jeweils historisch gewachsen und in seiner vorgegebenen Form festgefahren ist, ist von unserem begrifflichen Vermögen zu unterscheiden. Dank diesem Vermögen kann die voreingenommene Form, in der sich unsere Begriffe unmittelbar befinden, überwunden werden, wenn gegebene Sinnzusammenhänge artikuliert werden; (3) die begriffliche Artikulation unserer Erfahrungen ist nicht nachträglich, sondern an der Konstitution von Sinn von vornherein beteiligt. Dies wird nicht nur durch eine gelungene Darstellung von einfachen Bedeutungen erwiesen, sondern auch von der Tatsache bezeugt, dass unsere geistigen Vermögen eine Einheit bilden. Das Grundgerüst der Arbeit bildet somit eine von Hegel informierte Kritik an Heideggers Verständnis von Sinn und Begriff. Den Hintergrund dieser Vorgehensweise bildet nicht so sehr der Umstand, dass Hegel der Autor ist, an dem Heidegger seine Begriffskritik entwickelt, sondern vielmehr die Tatsache, dass Hegel selbst die Unzulänglichkeit selbständiger und isolierter Begriffe in Betracht zieht. Aber gegen eine defätistische und subjektivistische Auffassung von Begriff argumentiert Hegel, dass unser begriffliches Vermögen nicht bloß darin besteht, allgemeine Bestimmungen aufzustellen, sondern primär ein artikulierendes Vermögen bezeichnet, das in der objektiven, natürlichen und geschichtlichen Welt immer schon verankert ist. Dies spricht nicht nur dafür, dass unser begriffliches Vermögen Zugang zur Konstitution von Sinn hat, sondern auch dafür, dass die sprachliche Artikulation – im Gegensatz zur bloßen Benennung – immer schon die Art und Weise mit ausmacht, in der Bedeutungen entstehen. Die Untersuchung geht in Anlehnung daran von der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem semantischen Gehalt und der begrifflichen Artikulation von verständlichen Inhalten aus; sie will so einen Beitrag zum Verständnis leisten, wie
bestimmt, und dem Gegenstand, worauf wir uns beziehen, wenn wir einen Begriff gebrauchen, zum Ausdruck gebracht. Frege verwendet den Terminus „Bedeutung“ nicht nur für die Referenz bzw. die Extension eines Begriffs, sondern auch für den Wahrheitswert eines Satzes. Die Fragestellung, womit sich diese Untersuchung befasst, ist aber auf den Begriffsinhalt eingeschränkt. Im Sinne des intensionalen Gehalts von Sprachausdrücken wird in dieser Arbeit auch der Terminus „semantisch“ gebraucht. Für Frege selbst ist die Frage nach der Konstitution von Sinn nicht entscheidend. Darüber schreibt er: „Der Sinn eines Eigennamens wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehö rt; damit ist die Bedeutung aber, falls sie vorhanden ist, doch immer nur einseitig beleuchtet“ (Frege 1892, 27).
1 Was ist eine Theorie der Negativität?
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sich unser begriffliches Vermögen zur Konstitution von Sinn verhält, angesichts der Tatsache, dass die Form, in der sich unser begrifflicher Apparat zunächst befindet, defizitär ist. Inwiefern dies der Fall ist, wird durch eine Konzeption der Begrifflichkeit erörtert, die hier den Namen „Negativität“ trägt und als Grundlage für die Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen der Philosophie Hegels und der Philosophie Heideggers dient. Im ersten Schritt dieser Einleitung wird die Bedeutung einer Theorie der Negativität eingeführt. Im zweiten Schritt wird darauf aufbauend beschrieben, inwiefern Hegel und Heidegger jeweils eine Theorie der Negativität entwickeln. Ist im Ansatzpunkt von der Konstitution von Sinn die Rede, so ist es erforderlich, den Sinnbereich, dessen Konstitution primär in Frage steht, zu umreißen – d. h. das, was hier unter „Sinn“ gemeint ist, zu bestimmen. Zu diesem Zweck wird im dritten Schritt der Einleitung aufgezeigt, dass sowohl Hegel als auch Heidegger von einer Kritik an einer kantisch inspirierten Auffassung der Erfahrungswelt als Gegenständlichkeit ausgehen, um zu betonen, dass unsere Erfahrung von Welt grundlegend von einem geschichtlich und sprachlich verfassten Sinnhorizont vermittelt ist. Dieser Horizont, den Hegel „Geist“ und Heidegger „Dasein“ nennt, prägt sowohl die Normativität unseres praktischen Handelns als auch die theoretischen Koordinaten unseres Weltverständnisses und die jeweilige Semantik der Gegenständlichkeit. Im vierten Schritt der Einleitung wird erläutert, inwiefern die Problematik des Nichts für das hier ausgetragene Spannungsgespräch zwischen Hegel und Heidegger um das Verhältnis von Sinn und Begriff entscheidend ist. Dabei werden die Grundthesen dieser Studie zusammengefasst. Abschließend wird dargelegt, wie sich diese Studie zur bisherigen Forschung verhält, und die Kapitel der Arbeit eingeleitet.
1 Was ist eine Theorie der Negativität? Der Terminus „Negativität“ wird von Hegel verwendet, um die „Bewegung des Begriffs“ zu bezeichnen (GW 12, 246). Die Negativität soll bei Hegel die Natur unseres unmittelbaren Wissens, die Bewegung der Artikulation von Denkkategorien und die logische Zusammengehörigkeit von begrifflichen Bestimmungen beschreiben und zusammenführen.² Heidegger gebraucht seinerseits den Aus Das Konzept der Negativität soll bei Hegel die Verfassung unserer unmittelbaren Begrifflichkeit und die Wesensart der begrifflichen Darstellung in Zusammenhang bringen. Um diese Relation hier in aller Kürze vorwegzunehmen: Unmittelbare Begriffe sind für Hegel auf Negationen angewiesen, d. h. auf Bestimmungen, die sie auf den ersten Blick ausschließen. Die Artikulation von unmittelbaren Begriffen bringt den übergreifenden Zusammenhang von sich zunächst aus-
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Einleitung
druck „Negativität“, um seine Auseinandersetzung mit Hegel zu betiteln. Dies liegt nicht nur daran, dass Heidegger die ganze Philosophie Hegels auf den Gedanken der Negativität zurückführen zu können glaubt, sondern vornehmlich an der Tatsache, dass Heidegger selbst eine alternative Konzeption der Negativität vorschlägt, die bestimmte Prämissen mit Hegels Sichtweise auf die Verfassung unserer Begrifflichkeit teilt, ihr aber sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie entgegengesetzt ist. Vor diesem Hintergrund soll hier vorläufig ein Konzept der Negativität skizziert werden, das eine gemeinsame Grundlage für die Gegenüberstellung von Hegel und Heidegger bilden kann. Es handelt sich dabei um die Grundzüge einer Theorie der Negativität, die sich durch eine bestimmte Auffassung der Art und Weise, in der sich Sinn konstituiert, auszeichnet. Dieser methodologische Begriff der Negativität dient nicht zuletzt auch der Abgrenzung von drei anderen landläufigen Gebrauchsweisen: erstens von einem deskriptiven Gebrauch, in welchem die Negativität einen mangelhaften Zustand der Natur, der Erkenntnis oder der Geschichte bezeichnet; zweitens von einem inflationären Gebrauch, in welchem die Negativität mit all dem verbunden wird, was gemeinhin negativ ist – der Tod, das Leid, das Ungerechte; drittens vom Gebrauch in der negativen Theologie, wo das Negative als Unverfügbares und Unbegreifbares konnotiert ist.³ Die Grundzüge der anvisierten Theorie der Negativität lassen sich durch zwei Motive umreißen: das Motiv des Zwiespaltes und das Motiv der Latenz. Beide Motive erinnern – ob zufällig oder nicht – an zwei Fragmente Heraklits.⁴ Ein erstes Fragment (B 51) lautet in der von Hölderlin tradierten Kurzform: ἒν διαφέρων ἑαυτῷ, „das Eine in sich selber unterschiedene“.⁵ In Heraklits eigenen Worten und von Diels übertragen sagt das Fragment: „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusammengeht (διαφερόμενον ἑωυτῷι ὁμολεγέει): gegenstrebige Vereinigung (παλίντροπος ἁρμονίη) wie die des Bogens
schließenden Bestimmungen ans Licht und zeigt, dass negative Bestimmungen eigentlich konstitutiv sind. So werden im Prozess der Artikulation vermeintliche Negationen selbst negiert, indem die logische Verbindung von scheinbar selbständigen Begriffen offenbart wird. Zu dieser Deutung des hegelschen Begriffs der Negation vgl. Pippin 2014. Zum Verständnis des Negativen als Nichtseinsollendes vgl. Theunissen 1991. Zur Deutung der Negativität als Unverfügbarkeit vgl. Adorno 2003a, Rentsch 2000. Zur Verbindung der Negativität mit der Erfahrung von Leid und Unrecht vgl. Angehrn 2015. Heraklits Sprüche haben aber hier nur die Funktion einer Analogie. Der Verweis auf Heraklit will an dieser Stelle nicht entscheiden, ob und inwiefern Heraklit Hegels und Heideggers Verständnis der Negativität geprägt hat. Hölderlin 1994, 92: „Das große Wort, das εν διαφερον εαυτῳ, (das Eine in sich selbst unterschiedene), des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe es gefunden war, gabs keine Philosophie“.
1 Was ist eine Theorie der Negativität?
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und der Leier“.⁶ Ein zweites Fragment Heraklits (B 123) lautet: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ. Die Natur liebt es, sich zu verbergen, wie die gängige Übersetzung des Satzes lautet. In diesem Fragment erkennt Heidegger den für sein ganzes Werk maßgeblichen Gedanken, dass Sein „das sich verbergende Entbergen“ ist (GW 9, 301) – dass die Verbergung dessen, was das Erscheinen ermöglicht, das Auftreten der Erscheinung bedingt.⁷ Das Motiv einer zwiespältigen Einheit (διαφερόμενον) und das Motiv einer Verbergung (λήθη), die das Erscheinen des Unmittelbaren bedingt, umreißen die hier anvisierte Bedeutung der Negativität. Inwiefern sich diese Motive bei Hegel und Heidegger ausdrücklich finden, wird im nächsten Schritt dieser Einleitung erläutert. Bis dahin soll festgehalten werden, dass eine Theorie der Negativität zugleich eine Diapheromenologie und eine Alethiologie ist.⁸ Das heißt, dass eine Negativitätstheorie einerseits beschreibt, inwiefern einzelne Begriffe in übergreifende Zusammenhänge gehören, innerhalb derer sie einander zunächst zu widersprechen scheinen.Wenn es sich dabei vor allem um eine besondere Art von Begriffen, die Kant „Ideen“ nennt, handelt,⁹ dann geht es nicht darum, dass Begriffe wie Freiheit und Kausalität, Geist und Natur, Welt und Erde entgegengesetzt sind, sondern darum, dass sich die Bedeutung dieser einzelnen Begriffe aus ihrem vermeintlichen Widerspruch speist. Andererseits betrachtet eine Negativitätstheorie das Geschehen von Sinn im Hinblick auf eine es konstituierende Latenz. So ist die Selbstverständlichkeit, mit der wir von Geist und Natur reden, nur deswegen möglich, weil der Sinn, der in diesen Ausdrücken zum Tragen kommt, bzw. der Grund, warum wir diese Begriffe so und nicht anders verstehen, uns dabei – im Verwenden der Worte – verborgen bleibt. Eine Theorie der Negativität geht somit in groben Zügen von den Hypothesen aus, (1) dass sich das Konstitutivum eines Sinnzusammenhangs oder eines Be-
Diels-Kranz 1956, 162: „οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷι ὁμολεγέει · παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης“. Nach Heideggers Übertragung bedeutet der Spruch: „Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst“ (GA 55, 110).Vgl. GA 55, 138: „Das Sichverbergen verbü rgt, indem es verbirgt“. Jean-Francois Courtine (1990) hat den Terminus der Alethiologie für Heideggers Auffassung der Wahrheit bzw. für seine Deutung der ἀλήθεια eingeführt. Im dritten Schritt der Einleitung („Die Frage nach der Konstitution von Sinn“) wird erläutert, inwiefern der Stellenwert der kantischen Ideen für die Entwicklung von Hegels und Heideggers Philosophie entscheidend ist. Dies hängt mit der Ablehnung eines bestimmten Bildes der Welt als Gegenständlichkeit und der Begrifflichkeit als primär gegenstandsorientiert zusammen. Pirmin Stekeler-Weithofer hat sowohl die Kritik Hegels (Stekeler-Weithofer 1996) als auch Heideggers (Stekeler-Weithofer 2004) an einem vorwiegend physikalischen, gegenstandsfixierten und formallogischen Bild der Erkenntnis und der Welt dargelegt.
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Einleitung
griffs zugunsten seiner Unmittelbarkeit verbirgt, und (2) dass ein Begriff in einem Ausschlussverhältnis zu dem ihn konstituierenden Sinnzusammenhang steht.¹⁰
2 Hermeneutische Koordinaten Hegel und Heidegger bieten jeweils variierende und unter sich konkurrierende Modelle der so umrissenen Negativität. Die Motive des Zwiespaltes und der Latenz erhalten deswegen ihren konkreten Bedeutungsgehalt erst durch die systematische Eingebundenheit in den jeweiligen philosophischen Entwurf. Um zu verdeutlichen, welche Form die skizzierte Negativitätstheorie bei Hegel und Heidegger annimmt, sollen hier einige hermeneutische Koordinaten dieser Arbeit umrissen werden. Heideggers Denken geht von der Frage aus, wie sich die Bedeutsamkeit der menschlichen Welt konstituiert,¹¹ sodass der Gedanke, dass das Erschließen von Sinn „in sich zugleich ein Verbergen“ ist (GW 9, 193), die Grundthese seiner Philosophie ist.¹² Obwohl Heidegger diesen Gedanken zum ersten Mal in Vom Wesen der Wahrheit (1930) formuliert, ist diese Einsicht bereits in Sein und Zeit (1927)
Die so definierte Negativitätstheorie besagt nicht, dass Begriffsbildungen auf Nichtbegriffliches bezogen sind oder dass das Konstitutivum eines Begriffs das Andere des Begriffs ist, wie etwa Hans Blumenberg (2007) argumentiert hat. Laut Blumenberg ist eine Begriffsbildung wesentlich auf Unbegrifflichkeit angewiesen – auf das Abwesende, Entfernte, Vergangene oder Zukünftige: „Der Begriff erlaubt also, Lücken im Erfahrungskontext festzustellen, weil er auf das Abwesende bezogen ist – aber nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen“ (Blumenberg 2007, 76). Mit der Formel der Unbegrifflichkeit wird aber eine ontologische Dichotomie zwischen dem Begrifflichen und seinem Anderen vorausgesetzt. Thomas Sheehan hat neuerdings den Ansatz vertreten, dass Heideggers Philosophie grundsätzlich die Konstitution und die Herkunft von Bedeutsamkeit zum Gegenstand hat: „I try to make sense of Heidegger by showing that his work, both early and late, was not about ‚being‘ as Western philosophy has understood that term for over twenty-five hundred years, but rather about sense itself: meaningfullness and its source“ (Sheehan 2015, xi). Carl Friedrich Gethmann interpretiert diese These Heideggers als „Unverfügbarkeit des Entwurfsgeschehens von Welt“ (Gethmann 1993, 40). Laut Gethmann geht Heideggers Denken von der Frage nach der Konstitutionsweise des apriorischen Horizontes aus, in dem sich unser Verstehen vollzieht – der Horizont, der im modernen Idealismus als transzendentale Subjektivität erfasst worden ist und den Heidegger entsubjektiviert und als Weltgeschehen versteht. Subjekt und Objekt sind für Heidegger nicht zwei ontologische Bereiche, sondern gehören in das Weltgeschehen gemeinsam hinein, das so zugleich constituens und constitutum ist (Gethmann 1993, 64). Heidegger vertritt eine sprachlich-pragmatische Vollzugstheorie der Bedeutung, wonach aber das Geschehen von Sprache selbst unergründlich ist, so Gethmanns Heidegger-Deutung.
2 Hermeneutische Koordinaten
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angelegt.¹³ Dort problematisiert Heidegger nicht nur die reduktive, verdeckende Tendenz des apophantischen Als bzw. des Urteils, insofern das Urteil in Heideggers Augen praktisch erlebte Sinnzusammenhänge auf Kategorien des Vorhandenen zurückführt, sondern auch eine Verbergung im hermeneutischen Als bzw. in der praktischen, originären Erschließung von Sinn. So behauptet er, dass „das Sich-nicht-Melden der Welt“ eine Bedingung für die Begegnung eines einzelnen Seienden ist (SZ, 75). Die Paradoxie der Als-Struktur, zugleich erschließend und verbergend zu sein, macht die strukturelle Bedeutung der Verbergung aus: Der übergreifende Horizont, der das Seiende in seinem Sinn erscheinen lässt, verbirgt sich um dessen Offenbarkeit willen.¹⁴ Die Bedeutung der Verbergung verschiebt sich jedoch in Heideggers Werk und nimmt allmählich eine genetische Konnotation an, wie beispielsweise im Kunstwerkaufsatz (1935/36), in Das Ding (1950), in Logos (1951) und in Was heißt Denken (1952). Diese genetische Auffassung der Verbergung bezieht sich auf die konstitutiven Schichten, die eine Sinneinheit mitgestalten, ohne aber in der so versammelten Einheit manifest zu sein.¹⁵ Die genetische Verbergung prägt Heidegger zufolge die Verfassung des λόγος: Was in der Sinneinheit eines Wortes versammelt wird, verbirgt sich im Ausdruck und wird damit vergessen. Darüber hinaus verbindet Heidegger den Begriff der Verbergung in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) mit den Metaphern der „Abgründigkeit“ und des „Nichts“. Diese Konzeption der Verbergung wird in dieser Studie als Nichtreferentialität von Sinn ausgelegt. Sinn ist für Heidegger nichtreferentiell, indem seine Konstitution weder auf eine empirisch-objektive noch auf eine subjektivtranszendentale Dimension zurückzuführen, sondern schlechthin unergründlich ist. In seinem Spätwerk erweitert Heidegger diese Konzeption der Abgründigkeit auf einen ursprünglichen Erschließungshorizont von Sinn, der, obwohl er unser Verständnis von Welt jeweils geschichtlich vermittelt, selbst nicht vermittelt werden kann. Heidegger nennt diesen Horizont „Lichtung“, wodurch er die griechische ἀλήθεια übersetzt, und behauptet, dass deren „Herz“ bzw. deren Konstitutionsprinzip die λήθη – die Verbergung und die Vergessenheit – ist (GA 14, 88).
Dafür argumentiert das zweite Kapitel dieser Arbeit: „Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit“. In Vom Wesen der Wahrheit (1930) heißt es dahingehend: „Die Entbergung des Seienden als eines solchen ist in sich zugleich die Verbergung des Seienden im Ganzen“ (GA 9, 200). Exemplifizieren lässt sich dieser Gedanke an dem berühmten Beispiel aus Das Ding (1950): Dort bezeichnen die Götter, die Sterblichen, der Himmel und die Erde Aspekte, die die konkrete Semantik des Krugs einmal geprägt haben und die aufgrund ihrer Latenz vergessen wurden.
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Einleitung
Die Verflechtung von Lichtung und Verbergung wird allmählich zum Hauptgegenstand der heideggerschen Philosophie und macht letztlich die Terminologie der ontologischen Differenz – des Seins und des Seienden – hinfällig.¹⁶ Die Aufgabe des Denkens bestehe nun darin, so Heidegger 1962, „Sein so zu denken, dass die Vergessenheit zu ihm gehört“ (GA 14, 37).¹⁷ Trotz des vielfältigen, zuweilen inflationären Gebrauchs des Verbergungsbegriffs visiert Heidegger in der Hauptsache die Paradoxie des Sinngeschehens an, zugleich erschließend und verbergend zu sein – somit die semantische Latenz dessen, was unser Verstehen jeweils vermittelt und nicht den Entzug eines unverfügbaren, personifizierten Seins. Angesichts der umfangreichen Aufgabe, Heideggers Auffassung der Verbergung zu verdeutlichen, scheint es zunächst eine schwere Herausforderung, Hegel in ein Gespräch mit Heidegger zu bringen. Ein nur äußerlicher Grund für dieses Vorgehen besteht darin, dass Heidegger seine wesentlichen Entscheidungen gerade in Abgrenzung von Hegel trifft. Diese Entscheidungen betreffen vor allem das Verhältnis zwischen der Verbergung und ihrer Begreifbarkeit. Wenn die Verbergung die Bildung eines Begriffs prägt, wie kann sie ihrerseits begriffen werden? Wird die Verbergung dadurch, dass sie begriffen wird, nicht verfehlt?¹⁸ Heidegger betont, dass die metaphysische Tradition der Philosophie, deren Vollendung für ihn Hegel darstellt und deren Projekt darin besteht, das Sein auf den Begriff zu bringen, die Paradoxie des Als, zugleich erschließend und verbergend zu sein, nicht zu erfassen vermag. Die Metaphysik denkt das Seiende als solches, aber das „als solches“, „das ᾔ im ὄν ᾔ ὄν“ denkt sie laut Heidegger nicht (GA 6.2, 351– 352). Wenn dieser Mangel an der Begriffsbildung liegt, dann stellt sich die Frage nach dem begrifflichen Umgang mit der Dimension der Verbergung. Auf dieses Dilemma formuliert Heidegger 1962 eine Antwort, welche die entscheidende Rolle
So behauptet Heidegger 1951 in einem Seminar: „Es ist ganz richtig, daß ich die ontologische Differenz (…) heute ganz anders benenne, auch der Sache nach anders sehe. Es ist richtig, daß diese Differenz, dia-phora, dieser Austrag von Sein und Seiendem mit dem zu tun hat, was ich die Lichtung, die Wahrheit, die Unverborgenheit nenne; nicht so, daß Unverborgenheit die Verborgenheit beseitigt, sondern daß sie ihr Wesen davon hat – daß sie davon lebt. Das alpha privativum von aletheia gründet in der letheia“ (GA 15, 438). Vgl. dazu GA 14, 88: Die Lichtung ist „nicht bloße Lichtung von Anwesenheit, sondern Lichtung der sich verbergenden Anwesenheit, Lichtung des sich verbergenden Bergens“. In Heideggers eigenen Worten lautet das Dilemma: „weil aber das volle Wesen der Wahrheit das Unwesen einschließt und allem zuvor als Verbergung waltet, ist die Philosophie als das Erfragen dieser Wahrheit in sich zwiespältig. Ihr Denken ist die Gelassenheit der Milde, die der Verborgenheit des Seienden im Ganzen sich nicht versagt. Ihr Denken ist zumal die Entschlossenheit der Strenge, die nicht die Verbergung sprengt, aber ihr unversehrtes Wesen ins Offene des Begreifens und so in ihre eigene Wahrheit nötigt“ (GA 9, 197).
2 Hermeneutische Koordinaten
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beweist, die Hegel im Hintergrund seines Denkens spielt: Durch die Erfahrung der Verbergung „hebt sich“ die metaphysische Vergessenheit der Verbergung „auf“, so die Worte Heideggers, aber die Verbergung als solche wird nicht aufgehoben, weil sie zum Geschehen von Sinn selbst – zum „Ereignis“ – gehöre (GW 14, 50).¹⁹ Vor diesem Hintergrund trassiert Heidegger in seiner Spätphilosophie eine neue Aufgabe des Denkens, die darin bestehe, die Verbergung als Verbergung aufzubewahren, und die Heidegger mit der klassischen philosophischen Begriffsbildung kontrastiert. Diese Aufgabe verlangt nicht nur, dass Begriffsbildungen aufgrund ihres Schichtaufbaus destruiert werden, sondern auch eine besondere Beachtung dessen, was in der bereits gebrauchten Sprache zum Ausdruck kommt. Hegels Konzeption der Negativität stellt ein einschlägiges Alternativprojekt dar, insofern für Hegel der abstrakte Charakter einzelner Begriffe – und damit der dürftige Charakter der Begriffsbildung – keinen ausreichenden Grund darstellt, um auf die begriffliche Artikulation zu verzichten. Dieser Verzicht führt vielmehr zu einer Verarmung der in Anspruch genommen Inhalte und vertieft damit die Vergessenheit, die man an erster Stelle befürchtet. Dieses Argument Hegels gegen die defätistische Einstellung zum Begriff ist der eigentliche, treibende Grund für die nachfolgende Austragung dieses Streitgespräches mit Heidegger im Zuge dieser Arbeit. Für Hegel beruhen unsere Denkkategorien, Normen und Wissensansprüche auf einem holistisch-inferentiellen Netz von begrifflichen Bestimmungen, welches in der unmittelbaren Gestalt derselben nicht offenbar ist. Die logischen Bestimmungen, welche unsere einfachen, scheinbar selbständigen Gedanken vermitteln, sind in den einzelnen Denk- und Wissensgestalten in Form der Latenz wirksam. In diesem Sinne ist die „Offenbarkeit“ unseres unmittelbaren Wissens „in der Tat Verborgenheit“, so ein Ausdrucks Hegels am Ende der Phänomenologie des Geistes (1807) (GW 9, 428). In der Wesenslogik (1813) artikuliert Hegel diesen Gedanken derart, dass eine Erscheinung von der Verbergung dessen, was die Erscheinung vermittelt, bedingt ist: „Dieses Zugrundegehen der Vermittlung ist zugleich der Grund, aus dem das Unmittelbare hervorgeht“ (GW 11, 326).
Vgl. GA 14, 50: „Die Metaphysik ist Seinsvergessenheit und d. h. die Geschichte der Verbergung und des Entzugs dessen, das Sein gibt. Die Einkehr des Denkens in das Ereignis ist somit gleichbedeutend mit dem Ende dieser Geschichte des Entzugs. Die Seinsvergessenheit ‚hebt‘ sich ‚auf‘ mit dem Entwachen in das Ereignis. Die Verbergung aber, die zur Metaphysik als Grenze gehört, muß dem Ereignis selbst zueigen sein. Das besagt, daß der Entzug, der in der Gestalt der Seinsvergessenheit die Metaphysik kennzeichnete, sich jetzt als die Dimension der Verbergung selbst zeigt. Nur daß jetzt diese Verbergung sich nicht verbirgt, ihr gilt vielmehr mit das Aufmerken des Denkens“.
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Das Verschwinden oder die Verbergung der Vermittlung beschreibt Hegel durch das Konzept der „Negativität“. Im Rahmen der Darstellung seiner Methodologie am Ende der Begriffslogik (1816), wo er den abstrahierenden Charakter unmittelbarer Gedanken erläutert, behauptet Hegel, dass die Bestimmtheit eines Gegebenen „in ihrer Negativität als aufgehobener Vermittlung“ besteht (GW 12, 250). Der Terminus „Negativität“ bezeichnet hier die Tatsache, dass einfache Bestimmungen auf der Abstraktion ihrer Vermittlung beruhen und dass diese Vermittlung im unmittelbaren Wissen als Negation erscheint.²⁰ Für Hegel besteht die Aufgabe der philosophischen Darstellung darin, die impliziten Bestimmungen einer unmittelbaren Wissensgestalt begrifflich zu entfalten und den übergreifenden Zusammenhang von widersprüchlich erscheinenden Kategorien zu enthüllen, d. h. die latente Vermittlung zur begrifflichen Transparenz zu bringen.²¹ Trotzdem ist Hegel gewahr, dass selbst ein übergreifender Begriffszusammenhang als Resultat der Darstellung die Form der Unmittelbarkeit annimmt und somit abstrahierend ist.²² Es liegt somit an der Natur eines einzelnen Begriffs, von seinen Bestimmungen zu abstrahieren. Dies ist aber für Hegel wie bereits erwähnt kein Grund, auf die begriffliche Darstellung zu verzichten, sondern im Gegenteil ein Anlass, unsere einfachen Gedanken immer wieder zu artikulieren und mit der Arbeit am Begriff nicht aufzuhören. Die umrissenen hermeneutischen Koordinaten beider Konzeptionen entsprechen dem methodologischen Ansatz der Negativität, demzufolge sich eine begriffliche Bestimmung oder die sprachliche Als-Struktur dadurch auszeichnet, zugleich erschließend und verbergend zu sein und in einem Ausschlussverhältnis zu ihrer Konstitution – zum logischen Gewebe der vermittelnden Bestimmungen – Da eine mitkonstituierende Bestimmung im unmittelbaren Wissen als Negation manifest ist, hat die begriffliche Darstellung ein immanentes Kriterium, um den Konstitutionszusammenhang von unmittelbaren Bestimmungen zu erschließen. In der Ordnung der Artikulation besteht das Konzept der Negativität in der Aufhebung der Unmittelbarkeit bzw. in der Aufhebung der scheinbaren Selbständigkeit gegebener Begriffe. Stekeler-Weithofer (1992) hat zutreffend Hegels Logik als eine Methodenlehre jeder Bedeutungs- und Sinnanalyse und die Methode selbst als Begriffsanalyse beschrieben. Diese beginnt „bei einem faktischen Gebrauch, den es zunächst zu beschreiben und vielleicht in seiner Bedeutung grob vorab zu skizzieren gilt. Darauf folgt die Kritik, der Aufweis des Problems, eines ‚Widerspruchs‘ oder einfach eines Unverständnisses. Nach einer ‚Zerlegung‘ des Problems in Teile oder ‚Momente‘ besteht der nächste Schritt in der Überführung der vorbegrifflichen, noch umrißartigen, als allzu schlicht oder schlecht kritisierten Verstehens in ein bewußteres und übersichtlicheres Begreifen“ (Stekeler-Weithofer 1992, 17). Hegel formuliert diese Einsicht am Ende der Begriffslogik (1816) explizit: Das Dritte, das Resultat, „das Positive durch Aufheben des Negativen“ ist „ebensosehr Unmittelbarkeit als Vermittlung“ und hat „sich die Form der Unmittelbarkeit wieder gegeben. So ist es nun selbst ein solches, wie das Anfangende sich bestimmt hatte“ (GW 12, 248).
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zu stehen. Im Rahmen dieses Negativitätsansatzes bewegen sich die Fragen, die den Streitpunkt zwischen Hegel und Heidegger ausmachen: Wenn man von der Annahme ausgeht, dass das Konstitutivum von Sinn in Form von Latenz operiert, wie kann man darüber Rechenschaft geben, ob und wie sich diese Latenz enthüllen und artikulieren lässt? Wenn jede begriffliche Bestimmung als solche abstrahierend ist, wenn sie das, was sie erschließt, zugleich in Vergessenheit geraten lässt, vermag das Begreifen dann dieser inhärenten Spannung gewahr zu werden oder sie sogar zu bewältigen? Vermögen also Begriffe die Konstitution von Sinn zu artikulieren oder ist diese hingegen unergründlich? Verkörpert jene Latenz eine nichtbegriffliche Sinnentstehung oder kann, umgekehrt, das Nichtbegriffliche keine Implikation für den semantischen Raum haben? Die Tragweite dieser Fragen wird im vierten Teil der Einleitung weiter beleuchtet. Im nächsten Schritt soll zunächst der Sinnbereich, dessen Konstitution im Fokus dieser Untersuchung steht, präzisiert werden.
3 Die Frage nach der Konstitution von Sinn Es ist das Erbe einer bestimmten Interpretation von Kant, die Frage nach der Konstitution unserer Erfahrungswelt vorwiegend als Frage nach der Konstitution der Gegenständlichkeit zu verstehen. Kants Anliegen, den Geltungsbereich der Naturwissenschaften vom Gebiet der menschlichen Autonomie abzutrennen, um die Selbstständigkeit der praktischen Vernunft zu sichern, hat die Einschränkung der Erkenntnis auf die mögliche Erfahrung zur Konsequenz (Vgl. KdrV, BXXIX). Die mögliche Erfahrung wird ihrerseits auf die anschaulich gegebene und kategorial synthetisierte Gegenständlichkeit bzw. auf den zeiträumlichen Bereich eingegrenzt. Dadurch wird der spekulative Gebrauch unseres Urteilsvermögens untersagt und die kausal-naturalistische Betrachtung der Welt vom praktischen Bereich der menschlichen Freiheit ferngehalten.²³ Das Programm der Transzen-
Kant beschränkt die Erkenntnis nicht nur auf den Bereich der zeiträumlichen Erfahrung, sondern betrachtet auch das epistemische Gebiet als Bereich der Erscheinungen. Die objektiv erkannte Gegenständlichkeit ist dadurch an die Art und Weise gebunden, in der die Gegenstände in unserer zeiträumlich verfassten Sinnlichkeit gegeben werden. Diese Einschränkung ermöglicht es, die Dinge in doppelter Hinsicht zu betrachten – in epistemischer Hinsicht als Erscheinungen, die dem zeiträumlichen Bereich der Kausalität angehören, und in praktischer Hinsicht als Dinge an sich, die als Resultate von freien Zwecksetzungen angesehen werden können. Wenn das Lebewesen Mensch als Erscheinung bzw. als Gegenstand der Erkenntnis „dem Naturgesetze notwendig gemäß“ betrachtet wird, kann er als Ding-an-sich „als frei gedacht“ werden (KdrV, BXXVII).
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dentalphilosophie, Erkenntnis a priori zu begründen, führt daher einerseits zur Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen derjenigen Erfahrung, die in Zeit und Raum angesiedelt ist, und andererseits zum Verbot der Anwendung unserer Verstandeskategorien auf den Bereich, der über das Zeiträumliche hinausgeht – auf den Bereich der Vernunftideen und Weltbegriffe, die für Kant einen rein praktischen und keinen theoretischen Stellenwert haben. Dieses Verbot hat bei Kant vorwiegend eine epistemische Tragweite. Es kommt allein auf die These an, dass die Verstandeskategorien nur in Bezug auf Anschauungen einen objektiven, d. h. erkenntnistheoretischen Gebrauch haben. Die Einschränkung unserer Welterfahrung auf die raumzeitliche Gegenständlichkeit und die Einschränkung unseres Erkenntnisvermögens auf Anschauungen erweckt den Eindruck, dass unsere Denkkategorien primär Wahrnehmungskategorien sind – dass unser begriffliches Vermögen auf Erkenntnisakte und dadurch auf die wahrnehmbare Gegenständlichkeit restringiert ist.²⁴ Vor diesem Hintergrund scheint der regulative Bereich der Ideen unsere Erfahrung von Welt nicht zu vermitteln, sondern dieser zusätzlich und nachträglich hinzukommen, und einer anderen Ordnung – der Ordnung des Willens im Gegensatz zur Ordnung des Begriffs – zuzugehören. Diesem Anschein liegt die Annahme zugrunde, dass unser begriffliches Vermögen nicht die Fähigkeit hat, den Sinn regulativer Ideen zu bestimmen oder zu artikulieren. Damit die Ideen begrifflich bestimmt werden könnten, müssten sie einen synthetisch-anschaulichen Gehalt haben.²⁵ Die Definition einer Idee ist aber gerade diejenige eines Begriffs, dem keine korrespondierende Anschauung zukommt (KdrV, B383–B384). Deshalb scheinen Urteile über ihre Bestimmung schlechthin unmöglich zu sein – nicht nur in theoretisch-epistemischer Hinsicht, sondern auch in semantischer Hinsicht. In diesem Sinne schreibt Kant in der zweiten Deduktion der Kritik der reinen Vernunft: „Unsere sinnliche, und empirische Anschauung kann ihnen [den Begriffen, L.I.] allein Sinn und Bedeutung
Vgl. Stekeler-Weithofer 1996, 307: „Talk about physical things is only one of the many ways we talk about reality. This is at least blurred in Kant’s analysis of his ‚love‘ for physical things. Kant overestimates the range of knowledge that can be expressed in the framework of natural science. There is much more human knowledge that physics can express. (…) It is not the realm of things, and it is by no means the realm of physics or natural science, but our practice of talking and thinking and dealing with experiences and the way we live in the world that is logically and ontologically prior to any (abstract, invariant) knowledge or knowledge-claims“. Wie Kant diesen Gedanken in der Kritik der praktischen Vernunft formuliert, ist kein Urteil über die Ideen möglich, weil Urteilen synthetisch ist und die Synthesis auf Anschauungen angewiesen ist: „man kann dadurch gar nichts über sie synthetisch urteilen, noch die Anwendung derselben theoretisch bestimmen, mithin von ihnen gar keinen theoretischen Gebrauch der Vernunft machen, als worin eigentlich alle spekulative Erkenntnis derselben besteht“ (KpV, A243).
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verschaffen“ (KdrV, B149).²⁶ Wenn dieser Satz isoliert betrachtet wird, dann scheinen Begriffe, die im zeiträumlichen Bereich der Anschauungen kein Korrelat haben, nicht nur keine epistemische Tragweite bzw. keine Bedeutung im fregeschen Sinne, sondern auch keinen Sinn zu haben.²⁷ Dieses reduktive Porträt der kantischen Konzeption von regulativen Ideen verweist auf eine Unzufriedenheit, die als Anstoß für Hegels und Heideggers philosophische Projekte dient. Sie drückt sich einerseits in Heideggers Kritik an der Vorhandenheitsontologie sowie andererseits in Hegels Kritik an der Verstandesphilosophie aus. Beide kritisieren in ihrem Frühwerk eine Auffassung, wonach unser begrifflicher Apparat primär auf das Gegenständliche angewiesen ist und das semantische Netz der Erfahrung von Welt durch raumzeitliche Kategorien konstituiert ist.²⁸ Diese Auffassung kann als Wahrnehmungsparadigma bezeichnet werden. So identifiziert Heidegger in der neukantischen Erkenntnistheorie die kartesische Auffassung der Welt als res extensa, welche die Gegenstände primär in ihren physikalischen, messbaren Eigenschaften betrachtet und dadurch einen konstitutiven, breiteren Horizont von Bedeutsamkeit verfehlt. Hegel zufolge führt die Angewiesenheit der Denkkategorien auf das zeitlichräumlich Gegebene zu der Konsequenz, dass die Philosophie über keine Begrifflichkeit verfügt, um den Bedeutungsgehalt der Vernunftideen und die Verfassung einer geschichtlichen Welt zu artikulieren. Vor diesem Hintergrund zielen Hegels und Heideggers Projekte darauf ab, einen Bereich der Bedeutsamkeit zu konturieren, der sich weder durch Wahrnehmungskategorien konstituiert, aber auch keine Apanage eines selbständigen, praktischen Willens ist. In diesem Bereich, den sie „Geist“, respektive „Welt“ nennen, konstituiert sich unsere Die Aussage ist eine schärfere Formulierung des Gedankens, dass Begriffe ohne Anschauung bzw. „Gedanken ohne Inhalt“ leer sind (KdrV, B 75). Die Angewiesenheit auf das zeiträumlich Gegebene betrifft nicht nur die empirischen Begriffe, sondern auch die synthetischen Urteile a priori beruhen auf reinen Anschauungen von Raum und Zeit. Deshalb vermögen die Urteile a priori nur mathematisch-geometrische und empirische Grundsätze hervorzubringen. Angesichts dieser Problematik würde Kant wohl hingegen argumentieren, dass Ideen ihren Sinngehalt erst in praktischer Hinsicht als Willensbestimmungen erhalten, ohne einen begrifflichen Gehalt haben zu müssen. Ideen wären so Begriffe ohne Begriffsinhalt – rein regulative Prinzipen des Handelns, die in der Praxis verständlich sind, ohne theoretisch bestimmt werden zu müssen. Vor diesem Hintergrund bedarf der Unterschied zwischen dem Sinngehalt und dem Erkenntniswert der Ideen einer ausführlichen Erläuterung. Vgl. dazu Kap. VI dieser Arbeit: „Die Bedeutung der Vernunftbegriffe“. Kant weiß hingegen, dass unsere Erfahrungswelt nicht nur aus wahrnehmbaren Gegenständen besteht, sondern dass „Gedankendinge“ unsere Erfahrung von Welt regulieren, und er hat dementsprechend den regulativen Vernunftideen und den ästhetischen Ideen in der Architektonik seines Systems einen klaren Ort zugewiesen. So handelt es sich bei einem solchen Verständnis um eine kartesische Reduktion von Kant.
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sprachlich-geschichtliche Wirklichkeit – unsere Weltverständnisse, unsere Wissensansprüche und die Normativität unseres Handelns. Hegels Einwand, dass die Vernunft bei Kant ein „leeres, unbestimmtes Denken“ sei, das „nichts [denkt]“ (GW 20, 85), bezieht sich auf den Begriffsinhalt der Vernunftideen, der Hegel zufolge im kantischen Rahmen unartikuliert bleibt.²⁹ Hegel ist der Ansicht, dass Kant es aufgrund seines Fokus auf den epistemischen Gebrauch unseres begrifflichen Vermögens offenlässt, inwiefern unser Denken in die Bestimmung der Vernunftideen involviert ist. Bereits in Glauben und Wissen (1802) stellt Hegel der zeitgenössischen Philosophie die Diagnose, sie tendiere zum Verzicht auf die begriffliche Artikulation der geistigen Angelegenheiten, weil „die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hayn als Hölzer erkennen würde“ (GW 4, 317). Die semantische Spezifizität des „Hains“ dadurch retten zu wollen, dass man den Begriff aufgibt, überlässt laut Hegel den Bedeutungsgehalt des in Anspruch genommenen Phänomens der Willkür und verrät ein reduktives Verständnis des begrifflichen Vermögens. Diese Tendenz der ihm zeitgenössischen Philosophie führt Hegel auf Kants Trennung zwischen Verstand und Vernunft zurück, die Hegel derart versteht, dass die Vernunftideen nicht vom Denken, sondern allein vom Willen bestimmt werden können. Hegel glaubt demnach, dass Kant aufgrund der Einschränkung des erkenntnistheoretischen Gebrauchs der Denkkategorien auf die Erscheinungswelt voraussetzt, dass wir über keine anderen begrifflichen Mittel verfügen, um den Bedeutungsgehalt von Begriffen, die keinen anschaulichen Gehalt haben, zu entfalten.³⁰ In diesem Sinne schreibt Hegel in der Enzyklopädie (1830) in Bezug auf Kants Transzendentale Dialektik: „Der Inhalt des Gedankens fü r sich selbst kommt hier nicht zur Sprache“ (GW 20, 84). Hegels Auseinandersetzung mit dem Sinngehalt der Vernunftbegriffe führt zum Bedürfnis nach einem breiteren diskursiven Vermögen³¹ und zu diesem Zweck zu einem Umdenken des Begriffsinhalts selbst. Hegel löst den begrifflichen Inhalt von seiner Angewiesenheit auf das Anschauliche los und definiert diesen Die Reinheit der kantischen Vernunft steht unter der Bedingung, so Hegel, dass sie „von dem Widerspruche befreit [wird] durch die leichte Aufopferung alles Inhalts und Gehaltes“ (GW 20, 85). Vgl. GW 20, 85: „Es hilft nichts, daß die Wendung gebraucht wird, die Vernunft gerate nur durch die Anwendung der Kategorien in den Widerspruch. Denn es wird dabei behauptet, dieses Anwenden sei notwendig und die Vernunft habe für das Erkennen keine anderen Bestimmungen als die Kategorien“. Dieter Henrich (2003) hat argumentiert, dass der frühe Impetus des hegelschen Denkens in der Kritik an Kants Sollensethik besteht und dass Hegel daraus den Vorsatz fasst, über das „Reflexionssystem“ bzw. über die Begrifflichkeit des Verstandes hinaus ein Vernunftsystem bzw. eine Begrifflichkeit des sittlichen Bereiches zu entwickeln.
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als durchweg begrifflich und – was dies zugleich heißt – als sprachlich, wie das Psychologie-Kapitel in der enzyklopädischen Philosophie des Geistes (1830) erörtert: „Es ist im Namen, dass wir denken“ (GW 20, 460). Dadurch wandelt sich auch der Stellenwert der Vernunftideen: Sie sind keine zeitlosen Gegebenheiten, sondern das Resultat eines logisch verfassten, geschichtlich und gesellschaftlich entwickelten Lebensprozesses (vgl. Brandom 2002; Pippin 2015). Es ist vor dem Hintergrund seines frühen Interesses an der Bedeutung regulativer Begriffe, dass Hegel sein Konzept der Negativität ausarbeitet.³² Deshalb spielen seine Interpretation der griechischen Tragödien und seine Deutung der kantischen Antinomien eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des Negativitätsbegriffs.³³ Seine ursprüngliche Methode der Negativität soll zeigen, wie scheinbar widersprüchliche Positionen der Vernunft – zwischen Freiheit und Sittlichkeit, Sittlichkeit und Recht, Vernunft und Glauben – einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen und in einen übergreifenden Zusammenhang hineingehören. Diese Negativität erkennt Hegel später in der Verfassung der logischen Bestimmungen als solcher, die sich durch den Einschluss gegenteiliger Bestimmungen konstituieren. Heideggers früher philosophischer Antrieb geht seinerseits von einer Kritik am Neukantianismus aus, welche in Sein und Zeit als Kritik an der theoretischen Einstellung gipfelt. Bereits in seiner Habilitationsschrift (1915) beklagt Heidegger die Dürftigkeit der „schematischen Kategorientafel“ in der modernen Erkenntnistheorie, die „den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes“, der ein „wesensmäßig historischer“ sei, nicht zu erfassen vermag (GA 1, 410 – 411). In seiner ersten Freiburger Vorlesung (1919) stellt Heidegger der bloßen Wahrnehmung von vorhandenen Objekten die Begegnung der Dinge entgegen, in der das Ding als das Umweltliche und Bedeutsame erfahren wird. Was derart erfahren wird, beschreibt Heidegger als „welthaft, ‚es weltet‘, was nicht zusammenfällt mit dem ‚es wertet‘“ (GA 56/57, 73). Das Projekt, die Konstitution der Bedeutsamkeit der menschlichen Welt darzustellen, kulminiert in Sein und Zeit. In einem 1927 geschriebenen Brief an Husserl behauptet Heidegger, dass sich die Kernfrage von Sein und Zeit auf die Art und Weise bezieht, in der sich Welt konstituiert.³⁴ Der Begriff der Welt bezieht sich
Zum Argument, dass der Ursprung des hegelschen Denkens in der Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik zu verorten ist, vgl. auch Henrich 1963. Zum Argument, dass der Ursprung des hegelschen Negativitätsbegriffs in seinen Interpretationen der griechischen Tragödien und im Bedürfnis, die ethischen Widersprüche in der Moderne aufzuheben, liegt, vgl. de Boer 2010; Menke 1996; Pippin 1991. Vgl. GA 14, 131: „welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ‚Welt‘ konstituiert? Das ist das zentrale Problem von Sein und Zeit – d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins“.
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auf eine Ganzheit von Bedeutungszusammenhä ngen, die weder auf kategoriale Prädikate reduzierbar noch in der Konstitutionsleistung eines transzendentalen Subjektes gegründet sind. Erst in diesem übergreifenden Sinnhorizont der Welt kann das Seiende als solches bzw. in seinem Sinn erscheinen. Daher ist die Grundfrage des heideggerschen Denkens – die Frage nach dem Sein – als Frage nach der Sinnkonstitution zu verstehen. Unter „Sein“ denkt Heidegger das Sinngeschehen. Selbst in den Beiträ gen zur Philosophie (1936 – 38), wo sein Projekt wichtige Veränderungen erfährt, behauptet er, dass die Frage nach dem Sinn mit der Frage nach der Wahrheit des Seins zusammenfällt: Sie „bleibt meine Frage und ist meine einzige“ (GA 65, 11). Diese Frage soll bestimmen, „was da ‚Sinn‘ benennt“, nämlich „die Offenheit für das Sichverbergen, d. h. die Wahrheit“ (GA 65, 11). Die Bedeutsamkeit der Welt geht – trotz des Vorranges des alltäglichen Hantierens in Heideggers Analyse der Weltlichkeit in Sein und Zeit – nicht in der Zuhandenheit und Zweckmäßigkeit auf (vgl. SZ, 75). Weder das Vorhandene – Steine und Sterne – noch das Zuhandene – Hämmer und Tische – schöpfen das Weltbedeutsame aus. Heidegger assoziiert seinen Weltbegriff zwei Jahre nach Sein und Zeit in Vom Wesen des Grundes (1929) mit Kants Konzept der Vernunftidee und mit Platons Idee des Guten (τό ἀγαθόν). Dies suggeriert, dass der Horizont der Handlungsnormen – das, was durch die Kategorie des Guten reguliert wird – für sein Verständnis der Weltbedeutsamkeit maßgebend ist, selbst wenn Heidegger diesen Horizont nicht als Bereich des Ethischen im klassischen Sinne bezeichnen will. Ab 1930 versteht Heidegger sein Programm als eine Kritik am technischen Paradigma der modernen Welt. Damit wird seine Konzeption der Weltbedeutsamkeit normativ: Einerseits beklagt Heidegger, dass die Moderne über die Endlichkeit, die Geschichtlichkeit und den Möglichkeitscharakter der Welt nicht gewahr ist, andererseits evoziert er im Kontrast zum Paradigma der Technik dichterische und archaische Verständnismöglichkeiten. Diese Tendenz seines Denkens entwickelt sich später in Richtung eines Andenkens an eine abgründige Erschließungsdimension von Sinn, die, obwohl sprachlich konstituiert, begrifflich nicht artikuliert werden kann. So behauptet Heidegger im Seminar zum Vortrag Zeit und Sein (1962), dass das philosophische Denken nicht mehr sagen kann als die Tatsache, dass es Sein gibt. Dieser Satz – es gibt Sein – „weist hinter den theoretischen, allgemeinen abgeblaßten Sinn des bloßen Vorhandenseins, des Vorkommens zurück auf einen Reichtum von Bezügen“ (GA 14, 47). Es ist der Horizont dieses semantischen Reichtums, den Heidegger als zwiespältig und nichtig betrachtet. So deutet er im Brief über den Humanismus (1946) an, in dem er den heraklitischen Satz ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων interpretiert, dass die Ethik im „ursprünglichen“ Sinne durch ein „Nichten“ konstituiert sei, insofern die
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familiären, bedeutsamen Verhältnisse der menschlichen Welt uns befremdlich und unergründlich sind.³⁵ In diesem Zusammenhang grenzt sich Heidegger von Hegels dialektischem Verständnis der Negativität ab: „Weshalb jedoch die Negativität der absoluten Subjektivität die ‚dialektische‘ ist und weshalb durch die Dialektik das Nichten zwar zum Vorschein kommt, aber zugleich im Wesen verhüllt wird, kann hier nicht erörtert werden“ (GA 9, 360). Später behauptet er jedoch im erwähnten Seminar über Zeit und Sein (1962), dass Hegels Begriff der Negativität „mit dem Gedanken der Zerrissenheit zusammenhängen, also (sachlich gesehen) auf Heraklit (διαφέρον) zurückgehen“ könnte (GA 14, 58).Warum der Zusammenhang zwischen der Konstitution von Sinn und dem Nichts zur Streitfrage der Auseinandersetzung mit Hegel wird, soll im Folgenden erläutert werden.³⁶
4 Die Streitfrage um das Nichts Der grundlegende Unterschied zwischen Hegels und Heideggers Herangehensweise an das Verhältnis von Sinn und Begriff zeigt sich am deutlichsten an ihrer jeweiligen Auffassung des Nichts.³⁷ Die Thematik des Nichts hat einen besonderen Stellenwert, insofern sie sowohl die Endlichkeit der menschlichen Existenz als auch die Grenze des menschlichen begrifflichen Vermögens umfasst.
Heidegger übersetzt den heraklitischen Satz wie folgt: „Der (geheuere) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheueren)“ (GA 9, 356). Die Übersetzung deutet darauf hin, dass das, was in der Familiarität unserer Lebenswelt zum Tragen kommt, befremdlich ist – dass das, was uns am nächsten ist, das uns Fernste ist. Heidegger muss dabei zweifelsfrei bewusst gewesen sein, dass das Wort δαίμων auf das Verb δαίω zurückgeht, das sich mit „entzweien“, „zerteilen“ oder „zerreißen“ übersetzen lässt. Ohne jedoch auf diese Etymologie hinzuweisen, behauptet Heidegger in diesem Zusammenhang auf eine durchaus rätselhafte Weise, dass „das Sein selber das Strittige ist. In ihm verbirgt sich die Wesensherkunft des Nichtens“ (GA 9, 359). Inwiefern aber die Ethik mit dem Nichten genau zusammenhängt, erklärt Heidegger an dieser Stelle nicht. Anton F. Koch (2010) hat das Gespräch zwischen Hegel und Heidegger als eine Auseinandersetzung um das heraklitische Motiv des Zwiespalts ausgelegt. Gibt es in Hegels Denken einen logischen Triumph der Identität gegenüber der Differenz, so kann sich laut Heidegger der rätselhafte, für die geschichtliche Welt konstitutive Zwiespalt dem Begriff nicht transparent erschließen. Otto Pöggeler (1995) hat die Auseinandersetzung zwischen Hegel und Heidegger ebenfalls von der Frage nach dem Stellenwert des Nichts her gedeutet. Während das Nichts bei Hegel in das Leben des Geistes „verflochten“ ist, so Pöggeler, betont Heidegger dagegen die Unvermittelbarkeit und die Endlichkeit jeder Weltkonstitution.
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In Hegels Denken ist für unmittelbare Gedanken und Sinnzusammenhänge der Schein kennzeichnend, dass sie selbständig sind und aus dem Nichts entspringen. Das Nichts ist für die Unmittelbarkeit von Sein charakteristisch. Wenn aber die Logik mit der Identität von Sein und Nichts anfängt, dann gilt diese Identität nur, weil das unmittelbare Sein in seiner Selbstverständlichkeit bestimmungslos zu sein scheint. Dieser Schein beruht sodann auf der Abstraktion der impliziten Vermittlungen des Seins, deren Stellvertreter das Nichts ist. Das Nichts besteht daher eigentlich aus einem Reichtum von logischen Bestimmungen, welche eine einfache Gegebenheit vermittelt. Vor diesem Hintergrund ist das Nichts in Hegels Logik der Oberbegriff für alle Arten von vermittelnden Denkbestimmungen, die im unmittelbaren Wissen verschwinden und vom Standpunkt einer selbständigen Kategorie als Negationen erscheinen. Mit anderen Worten, das Nichts ist der Platzhalter für die Totalität der logischen Bestimmungen, die in einer Gegebenheit einbegriffen ist. Das Nichts ist somit für Hegel nicht das radikal Andere des Seins – es ist keine uneinholbare Referenz, worauf Sinn gründen würde, sondern immer schon mit Sinnkonfigurationen besetzt.³⁸ Die Gegebenheit von Sinn scheint grundlos zu sein, diese Grundlosigkeit ist aber nur ein Schleier, hinter welchem eine Vielfalt von konstitutiven Bestimmungen steckt. Dies gilt auch für die Endlichkeit der menschlichen Existenz: Wenn der Tod für das Selbstverhältnis des menschlichen Geistes konstitutiv ist, dann ist der Tod dabei nicht eine abgesonderte, externe und undurchdringliche Quelle von Bedeutsamkeit, sondern immer schon in einem gewissen Verstehen von Tod verstrickt, insofern er einen bestimmten Raum in der Konstitution einer Lebensform – wie etwa im Ahnenkult, in Bestattungsritualen oder in der stoischen, religiösen oder existenzialistischen Deutung der eigenen Sterblichkeit – einnimmt. Gegen diese Auffassung Hegels formuliert Heidegger in seinen Aufzeichnungen zu Hegels Konzeption der Negativität (1938 – 1942) seinen Grundeinwand: Die Negativität werde bei Hegel nur als Kraftstoff des Denkens eingesetzt und dadurch in Positivität aufgelöst.Vor allem mit dem Tod könne Hegel „gar nie ernst werden“, weil „kein Sturz und Umsturz möglich“ sei und alles „aufgefangen und ausgeglichen“, „schon unbedingt gesichert und untergebracht“ werde (GA 68, 24). Weil das Nichts in Hegels Denken in den jeweiligen Negationen, die begrifflich entschlüsselt werden können, aufgeht, urteilt Heidegger schließlich: „Das Nichts gibt es gar nicht“ (GA 68, 24).
Dies hängt mit Hegels Gedanken zusammen, dass der logische Raum kein subjektiv isolierter Bereich ist, der einer gegebenen Realität gegenübergesetzt wäre, sondern mit der objektiven Welt eine Einheit bildet.
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In Heideggers Philosophie hat das Nichts zwei miteinander verbundene Bedeutungen. Das Nichts verweist einerseits auf die Endlichkeit des menschlichen Daseins und in eins damit auf die Endlichkeit des Seins selbst, insofern der sterbliche Mensch der einzige Ort ist, an dem Sein erschlossen wird.³⁹ Das Nichts verweist andererseits auf die bereits eingeführte Nichtreferentialität des Sinns. Dieser Gedanke, den Heidegger besonders in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) entwickelt, besagt, dass die Sprache, die dem Seienden seine Bedeutung verschafft, auf keine Art von Referentialität zurückgeführt werden kann und dass die Bedeutsamkeit einer Welt auf keinem Grund beruht. Der Sinn gründet im Nichts, insofern er deutungslos ist.⁴⁰ Will man dagegen das Seiende – „Pflanze, Tier, Stein und Meer und Himmel“ – ergründen, so fällt es in die Gegenständlichkeit herab (GA 65, 293). Daher ist es für Heidegger entscheidend, diese Nichtreferentialität von Sinn als solche anzuerkennen, damit die semantischen Bezüge einer Welt bewahrt werden und nicht durch einen reduktiven, normativ und kategorial geregelten Rahmen dezimiert werden. Heidegger setzt demnach Hegels Verständnis der Negativität sein Konzept des Nichts als eines unergründlichen Ursprungs von Sinn entgegen. So sei die Frage nach dem Nichts die „einzige Frage“, die niemals gefragt wurde: „Woraus, wenn niemals aus dem Seienden, jemals das Sein seine Wahrheit habe und worein diese zu gründen sei“ (GA 68, 41). Wenn das Nichts über den Bereich des bestimmbaren und vermittelten Seins hinaus auf den abgründigen Erschließungshorizont von Sinn verweist, dann nimmt dieser Gedanke Heideggers später, beispielsweise in Der Satz der Identität (1957) und in Hegel und die Griechen (1959), die Form des Vorranges der ἀλήθεια vor dem λόγος an. Dieser Vorrang besagt, dass jede geschichtliche Konstitution von Sinn unergründlich ist, weil sie das begriffliche Denken immer schon vermittelt, ohne aber von diesem vermittelt werden zu können: „Nicht die Unverborgenheit ist vom Sagen ‚abhängig‘, sondern jedes
In diesem Sinne sind Heideggers Behauptungen in Was ist Metaphysik (1929) zu verstehen, der Mensch sei der „Platzhalter des Nichts“ (GA 9, 118) und „ex nihilo omne ens qua ens fit“ (GA 9, 120). Der Mensch ist angesichts seiner Sterblichkeit der Ort, an dem nichts sein soll und es trotzdem Sinn gibt. Diese Formulierungen radikalisieren die Definition des Daseins in Sein und Zeit (1927) als „das (nichtige) Grundsein einer Nichtigkeit“ (SZ, 285). Durch diese Formel drückt Heidegger zuerst den Gedanken aus, dass sowohl die Geworfenheit des menschlichen Daseins in eine Welt als auch das Entwerfen von Möglichkeiten von Nichtigkeit geprägt sind, da das Dasein nicht die Wahl hat, in eine Welt geworfen zu sein, und durch die Wahl einer Möglichkeit andere vernichtet. Zudem deutet diese Formel auf den Gedanken hin, dass die eigenste Möglichkeit des Menschen, die er nicht abwählen kann und von wo aus er das Möglichsein als solches versteht, der Tod – die Möglichkeit der Unmöglichkeit – ist. Heidegger entwickelt diesen Gedanken auch in einem Kommentar zu Hölderlins Vers „ein Zeichen sind wir, deutungslos“ im Aufsatz Was heißt Denken? (1952). Vgl. GA 7, 135– 142.
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Sagen braucht schon den Bereich der Unverborgenheit. Nur wo diese schon waltet, kann etwas sagbar, zeigbar, vernehmbar werden“ (GA 9, 443). Um diesen Einwand gegen Hegel erheben zu können, macht Heidegger zwei Annahmen: Erstens sei Hegels Philosophie ein subjektiver Idealismus,⁴¹ im Rahmen dessen die Negativität nur den immanenten Zwiespalt zwischen Wissen und Gegenständlichkeit im Bewusstsein zum Ausdruck bringe, wovon sich aber das Denken durch die Darstellung der zwiespältigen Bewusstseinsgestalten loslösen kann, um Gewissheit über das eigene Wissen zu erlangen. Zweitens bestehe die hegelsche Aufhebung – die für das Begreifen entscheidende Operation – in einem neutralisierenden Akt, wodurch das, was auf den Begriff gebracht werden soll, verdrängt und verfehlt wird. Die begriffliche Bewältigung des Negativen instrumentalisiere beispielsweise den individuellen Tod im Namen einer umfassenden Konzeption des allgemein-menschlichen Geistes. Wenn die Begriffsbildung endliche Tatsachen in unendlichen Bestimmungen auffasst, dann soll gegen Hegel die Unhintergehbarkeit der Endlichkeit behauptet werden, so Heidegger. Nicht der Begriff sei „die Macht der Zeit“, wie Hegel es einmal behauptet hat (GW 20, 248), „sondern die Zeit die Macht des Begriffs“ (GA 32, 144).⁴² Die Engführung von Subjektivismus und Begriffsphilosophie hat eine weitreichende Konsequenz, die spätestens der Vortrag Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964) deutlich belegt: Heideggers Ablehnung des Subjektivismus führt zum Verzicht auf die begriffliche Artikulierbarkeit von Sinn.⁴³ Heideggers Verdacht gegenüber dem Begriff ist allerdings bereits in seinen früheren Schriften manifest: Der Begriff reduziert die Bedeutsamkeit auf Eigenschaften der Vorhandenheit und verpflichtet das Phänomen auf die dauerhafte Anwesenheit dessen, was darüber prädiziert werden kann. Trotz der Verschärfung dieser Kritik am Begriff und des damit verbundenen Eindruckes, dass seine Spätphilosophie in „grundlose Mystik“ und in „die Verleugnung der Ratio“ gerät (GA 14, 88), beharrt Heidegger darauf, dass die Implikation seines Spätdenkens kein „Abdanken des Denkens“ ist (GA 14, 63). Seine Konzeption des Nichts soll auf keine radikale Andersheit des Seins, auf kein
Das Sein bedeute bei Hegel die „Vorgestelltheit des unbedingt sich vorstellenden Vorstellens (des Denkens) – die Vernommenheit der Vernunft“ (GA 68, 11). Hans-Georg Gadamer (1968) und Werner Marx (1961) haben diese These Heideggers, Hegels Philosophie sei ein Subjektivismus, eingehend kritisiert. Auf diesen Aspekt der heideggerschen Kritik an Hegel bzw. auf das Verhältnis zwischen Begriff und Zeit ist Karin de Boer (2000) ausführlich eingegangen. Auch Gadamer (1976) hat darauf hingewiesen, dass Heidegger durch die Radikalität seiner Kritik am Subjektiven entscheidende Nuancen einer alternativen Auffassung des Begriffs übersieht.
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Jenseits des Sinns und auf „nichts Mystisches“ verweisen (GA 14, 63). So mahnt Heidegger bereits in Sein und Zeit: „Der Sinn von Sein kann nie in Gegensatz gebracht werden zum Seienden oder zum Sein als tragenden ‚Grund‘ des Seienden, weil ‚Grund‘ nur als Sinn zugänglich wird, und sei er selbst der Abgrund der Sinnlosigkeit“ (SZ, 152). Nichtsdestoweniger bestreitet Heidegger das Vermögen des Begriffs, die Dimension von Endlichkeit und Verbergung, die in der Konstitution von Sinn bestimmend sind, einzuholen. Heideggers Argumente sind eine Variation des Gedankens, dass der Mensch über seine Geworfenheit nicht entscheiden kann – dass der λόγος über das ihn beherrschende geschichtliche Paradigma nicht verfügt. In diesen Termini erfasst er seine Abgrenzung von Hegel in Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik (1957). Wenn das zu Denkende des philosophischen Denkens die λήθη, die Verbergung selbst ist, dann kann das begriffliche Denken die Verbergung nicht erfassen, weil eine auf den λόγος ausgerichtete Philosophie, d. h. eine Philosophie, die das Sinngeschehen ergründen will, zwangsläufig missachtet, dass sie selbst in einem bereits erschlossenen, nicht von ihr selbst entschiedenen Seinsverständnis verfangen ist. Dieses Argument deutet auf die Endstation des heideggerschen Denkweges hin. Trotz der frühen Aufgabe seines Projektes, die inhärente Verbergung in der Erschließung von Sinn aufzufassen, den Begriff des Seins auszubilden (SZ, 6) und das Sein „als Begriff philosophisch [zu] begründen“ (GA 9, 162), gelangt Heidegger in seiner Spätphilosophie zum Verzicht auf den Begriff und, wie er in einer Randbemerkung zum Spätvortrag Zeit und Sein (1962) suggeriert, zur Aufgabe der Als-Struktur – zum „Verschwinden“ des Als.⁴⁴ Es ist diese Grundentscheidung des Spätdenkens Heideggers, die er gerade in Abgrenzung von Hegel trifft, die diese Untersuchung, wie bereits zuvor erwähnt, motiviert. Aus Hegels Perspektive ist die Tatsache, dass unser Verständnis von Welt durch Abstraktion und Vergessenheit charakterisiert ist, kein hinreichender Grund, um auf die begriffliche Artikulation von Sinnzusammenhängen zu verzichten, und kein Argument, dass die Konstitution desselben unbegreifbar wäre. Hegels Hauptargument liegt darin, dass die Endlichkeit unseres Verstehens auf die Grenze der jeweiligen Begriffe zurückzuführen ist, aber nicht in einer prinzipiellen Begrenztheit unseres begrifflichen Vermögens besteht. Dank unseres begrifflichen Vermögens sind wir vielmehr imstande, die Einseitigkeit unseres verhärteten Sprachgebrauchs und unserer festgefahrenen Begrifflichkeit einzu-
Die Randbemerkung bezieht sich auf die Behauptung, der Vortrag spreche nicht in Aussagesätzen, sondern folge „dem Gang des Zeigens“. In der Randbemerkung heißt es: „das Verschwinden des ‚als‘“ (GA 14, 6).
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sehen, die ontologischen Annahmen unserer Weltbilder zu erkennen und die geschichtlichen Voraussetzungen unseres Wissens und unserer Normativität offenzulegen.⁴⁵ Ein weiteres Argument Hegels lautet, dass das Unbegreifliche keine Tragweite im Raum des Semantischen haben kann. Dies bedeutet nicht, dass es Nichtbegriffliches nicht gibt. Hegel kritisiert vielmehr diejenigen philosophischen Strategien, die unter Berufung auf das Unbegreifbare begriffliche Ansprüche erheben und Theorien bilden. Dagegen begründet er, dass nichtbegriffliche Phänomene – diejenigen Tatsachen und Erfahrungen, die wir als gegeben anzunehmen geneigt sind – eine Bedeutung erst in einem übergreifenden, begrifflich informierten Erfahrungs- und Verständnishorizont haben.⁴⁶ Die Preisgabe der begrifflichen Entfaltung im Namen eines ausgezeichneten Erfahrungsgehaltes, riskiert hingegen der Unbestimmtheit zu überlassen, was man dabei in Anspruch nimmt. Wenn dem so ist, dann erhalten unsere Erfahrungen ihre gänzliche semantische Tragweite erst dann, wenn sie artikuliert werden. Die alleinstehenden Wissensansprüche und Handlungsnormen kommen erst dann zum Tragen, wenn sie sich realisieren, d. h. wenn sie aus ihrer isolierten Selbstgewissheit heraustreten und ihren gemeinten Inhalt zur Sprache bringen. Dazu schreibt Hegel an einer maßgeblichen Stelle in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes (1807): „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut“ (GW 9, 14). Wenn man sich indessen auf nicht mitteilbare und unartikulierbare, private und ausgezeichnete Erfahrungsgehalte beruft – „auf das Gefühl“, wie Hegel sich oft ausdrückt –, dann streitet man dabei seine Teilhabe am menschlichen Gemeinsinn ab – man „verweigert sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit (GW 20, 444), wie Hegel es formuliert, und „tritt die Wurzel der Humanität mit Füssen“ (GW 9, 47). Dieser Gedanke läuft auf die Hauptthese hinaus, dass erst die begriffliche Artikulation einem Phänomen zu seiner Bedeutung verhilft, dass unser begriff-
Dina Emundts (2018) argumentiert, dass, wenn Hegels Logik die Zusammengehörigkeit von grundlegenden Begriffen explizit macht, diese Begriffsanalyse dann „an alltägliche Verwendungsweisen von Begriffen“ anknüpft (Emundts 2018, 391). Die einfachen Begriffe und Annahmen, die im Prozess der Artikulation von reicheren Begriffen präzisiert werden, finden sich gerade im alltäglichen Sprachgebrauch. Damit muss die philosophische Betrachtung anfangen, wie Hegel an mehreren Stellen behauptet (vgl. GW 20, 18: „In der Tat ist das Denken wesentlich die Negation eines unmittelbar Vorhandenen“). So ist auch das Verständnis unseres individuellen Todes selbst nicht individuell – geschweige denn unbegreiflich. Erst die sprachlich-geschichtliche Gemeinschaft der Menschen ermöglicht dem einzelnen Individuum sein verstehendes Verhältnis zum Tod.
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liches Vermögen nicht nur für die Darstellung verantwortlich, sondern auch in der Entstehung von Sinn mit konstitutiv ist.⁴⁷ Der unmittelbare Bereich der Anschauungen ist mit Sinngehalten deswegen behaftet, weil er immer schon begrifflich vermittelt ist.⁴⁸ Wenn Sinnzusammenhänge begrifflich konstituiert sind, dann sind Begriffe keine bloßen allgemeinen Bestimmungen und aufrufbaren Kategorien, sondern lebendige Prozesse, zu welcher Dynamik es ebenfalls gehört, dass sie feste Formen annehmen, die ihr lebendiges Entstehen verbergen. Diese Dynamik, wodurch die philosophische Darstellung von unmittelbaren Gedanken selbst eine unmittelbare Form annimmt, ist für Hegels Argument zur Einheit von Konstitution und Darstellung und für seine Auffassung vom Kreislauf zwischen Wissen und Logik, Erfahrung und Begriff entscheidend. Die Negativität umfasst nicht nur die Bewegung der logischen Artikulation, wodurch widersprüchliche Begriffe in ihrem Zusammenhang erschlossen werden, sondern auch die Tatsache, dass die Darstellung selbst im Resultat zu einer einfachen, einseitigen Bestimmung wird. Daran zeigt sich nach Hegel, wie unmittelbare Gedanken immer schon entstanden sind: Die begriffliche Artikulation bringt die transzendentale Vergangenheit einfacher Gedanken zum Ausdruck und instanziiert somit gerade die Vermittlung, die im unmittelbaren Wissen verschwunden ist und darin immer wieder verschwindet. Daher darf die philosophische Darstellung bei Hegel in keinem starren Gebilde enden. Seine Negativitätskonzeption verpflichtet vielmehr auf die unaufhörliche Aufgabe, die latenten Bestimmungen von Bewusstseinsgestalten, Wissensansprüchen und Ganzheitstheorien zu entfalten. Wenn dieses Projekt gegen Heideggers Bestimmung des Denkens gewendet wird, dann betrifft diese Kritik an Heidegger nicht nur das Verhältnis zwischen philosophischem Denken und Begriffsbildung, sondern auch die Stellung des Menschen in seiner geschichtlichen Welt. Heideggers Kritik an der Begriffsphilosophie ist mit seiner Ablehnung des modernen Paradigmas der Autonomie, das er auf die technische Ratio zurückführt, wesentlich verbunden.⁴⁹ Weil Heidegger dem begrifflichen Denken die Möglichkeit nicht zugesteht, über seine Geworfenheit in einer geschichtlichen Epoche hinauszugehen, gerät er in ein fatalistisches Bild des menschlichen Handelns, das gegenüber dem Sein – dem Geschehen von Sinn – ohnmächtig sei.
Jean-Luc Nancy beschreibt die hegelsche Negativität als einen Darstellungsprozess, wodurch das unmittelbar Gegebene negiert wird, damit Sinn produziert wird. Das Sein selbst, so die Formulierung Nancys, „c’est de se nier comme être pour devenir sens“ (Nancy 1997, 78). Zur begrifflichen Verfassung der geistigen Welt vgl. Pinkard 2013; Quante 2011; Redding 1996. Zur hegelschen Konzeption der begrifflich informierten Anschauungen vgl. McDowell 2009b. Zu Heideggers Einfluss auf die postmoderne Kritik am technischen Zeitalter und an der modernen Aufklärung vgl. Pippin 1997.
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Hegels Plädoyer für die begriffliche Entfaltung von geistigen Bestimmungen soll hingegen als eine Konzeption der Autonomie verstanden werden, welche die Freiheit an die begriffliche Entfaltung des Bedeutungsgehaltes von normativen Ideen und an die Enthüllung der logischen Voraussetzungen unseres Wissens bindet. Für Hegel gewinnt der Mensch seine Freiheit – trotz seiner epistemologischen Begrenzung und trotz seiner Endlichkeit – erst in der stetigen Selbstauslegung und in der unaufhörlichen Arbeit am Begriff.
5 Vorgehen und Struktur Diese Arbeit vergleicht nicht Hegels und Heideggers Philosophien, sondern versucht, einen systematischen Dialog um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Verstehen und Begreifen zu rekonstruieren. Eines solchen Formats des Streitgesprächs hat sich die Forschungsliteratur in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach bedient. Abgesehen von zahlreichen Rekonstruktionen der heideggerschen Hegel-Interpretation sind die bisherigen systematischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis zwischen Hegel und Heidegger zwei unterschiedliche Pfade gegangen: (1) Heideggers Verhältnis zu Hegel wurde im Hinblick auf mögliche Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten untersucht. Ein maßgebender Wegweiser war dahingehend Hans-Georg Gadamer, der wiederholt auf Heideggers Nähe zu Hegel verwiesen hat. Diese Nähe betreffe „einmal die Hineinnahme der Geschichte in den eigenen philosophischen Ansatz, die Heidegger mit Hegel zu teilen scheint, und zweitens die geheime und undurchschaubare Dialektik, die allen wesentlichen Heideggerschen Aussagen anhafte“ (Gadamer 1968, 230). So hat sich der Versuch, einen gemeinsamen Nenner zu finden, vor allem auf die Geschichtskonzeptionen Hegels und Heideggers bezogen. Einen einflussreichen Forschungsansatz in dieser Richtung hat Michel Haar (1980) in Structures hégeliennes dans la pensée heidéggerienne de l’histoire vorgeschlagen, der den eschatologischen Charakter der Geschichtsbilder Hegels und Heideggers hervorgehoben hat. Über die Thematik der Geschichtlichkeit hinaus wurde das Verhältnis zwischen Hegel und Heidegger auch in Bezug auf ihr jeweiliges Verständnis der Negativität untersucht: Giorgio Agamben (2007) hat in seinen frühen Versuchen Hegels und Heideggers Negativitätskonzepte im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Tod und Sprache in einen Zusammenhang gebracht. (2) Die philosophischen Standpunkte von Heidegger und Hegel wurden als unversöhnlich und als radikal entgegengesetzte philosophische Wege charakterisiert. Dominique Janicaud (1988) hat argumentiert, dass ein Gespräch schlechthin unmöglich sei, weil ihre Standpunkte über Geschichte, Wahrheit und
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die Philosophie selbst diametral entgegengesetzt seien – nur die Idee der „Selbstdarstellung“ des Denkens, so Janicaud, könnte allenfalls einen Dialog ermöglichen. Otto Pöggeler hat ebenso erörtert, dass die Dialektik für Heidegger der „Todfeind der Hermeneutik“ ist und dass Heideggers späte Bestimmung des philosophischen Denkens jede Vermittlung und Begründung von sich abweist (Pöggeler 1995, 157, 164). Liegt der entscheidende Streitpunkt in der Frage der Endlichkeit, wie sich die Forschung einig ist, so betrachten Karin de Boer (2000) und Andreas Großmann (1996) Heideggers Einwand gegen Hegel als unüberbrückbar: „Geschichte lässt sich nicht abschließen, die Zeit nicht im Begriff tilgen, Endlichkeit nicht überspringen“ (Großmann 1996, 238). Das Ziel von Heideggers Kritik an Hegel sei „to recapture the finite, historical, singular, and groundless from Hegel“ (De Boer 2000, 197). Anton Friedrich Koch (2010) hat Hegels und Heideggers widerstreitende Ansätze zur Frage der Negativität hervorgehoben, die er vom heraklitischen Zusammenspiel von Verbergung und Unverborgenheit deutet – auf der einen Seite, den logischen Triumph und die Transparenz des Begriffs bei Hegel; auf der anderen Seite, Heideggers Überzeugung, dass die Herkunft von Bedeutsamkeit nicht objektivierbar und fixierbar, sondern unerschöpflich und unergründbar sei. Die Konzepte der Endlichkeit und der Verbergung umfassen jedoch bei Heidegger nicht bloß das radikal Andere des Denkens, die unüberwindbare Grenze und die radikale Geschichtlichkeit unseres Verstehens. Eine pauschale Hypostasierung der Endlichkeit ist fragwürdig, besonders wenn das Motiv der Endlichkeit mit der menschlichen Ohnmacht gegenüber dem Sein und der Geschichte identifiziert wird. Robert Pippin hat in Heideggerian Historicity and Metaphysical Politics (1997) argumentiert, dass mit der Hypostasierung der Endlichkeit die Tendenz einhergeht, die moderne Aufklärung vom Standpunkt eines historischen Relativismus zu diskreditieren, ein allmächtiges und unbegreifliches Prinzip des Bösen in der Geschichte zu mystifizieren und infolgedessen der menschlichen Vernunft und der Möglichkeit von Autonomie zu misstrauen. Gemäß dieser Auffassung ist der uns familiäre Bereich des λόγος nur eine Version des Seinsverständnisses, welche in der griechischen Antike auf eine kontingente Weise entstanden ist. Diese Tendenz ist zweifelsohne in Heideggers Werk präsent und vor diesem Hintergrund sind auch seine ideologisch motivierten und obskurantistischen, geschichtsphilosophischen Spekulationen über das moderne Zeitalter zu verstehen. Die vorliegende Untersuchung befasst sich jedoch mit einer spezifischen Bedeutung der Endlichkeit und der Verbergung bei Heidegger, die mit seiner Auffassung der Natur des λόγος verbunden ist. Diese Auffassung über eine Dimension der Latenz (λήθη), die in der begrifflichen Konstitution geschichtlicher Weltbedeutsamkeit (ἀλήθεια) enthalten ist, soll systematisch geklärt und vor dem
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Hintergrund einer Nähe zu Hegels Konzept der Negativität und dadurch eines Bedürfnisses der Abgrenzung verstanden werden. Heideggers Philosophie wird daher nicht als ein Gedankenblock in toto genommen, sondern allein in ihrer systematischen Tragweite rekonstruiert – und zwar im Hinblick auf Heideggers Auffassung der Als-Struktur, zugleich erschließend und verbergend zu sein. So darf auch Hegels Philosophie, wovon Heidegger sich abgrenzt, nicht dem landläufigen und vereinfachenden Bild von Hegel überlassen werden, wonach dieser die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis und die Partikularität privater Erfahrungsgehalte im Namen eines universalistischen und reduktiven, dialektisch untermauerten Begriffsapparats versäumt. Die reichlichen Ressourcen, die Hegels Werk über die Verfassung unserer Begrifflichkeit anbietet, müssen für eine Auseinandersetzung mit Heidegger um die Natur des philosophischen Denkens eingesetzt werden. Es handelt sich somit um die systematische Rekonstruktion eines Spannungsgespräches zwischen Sinn und Begriff, das nicht stattgefunden hat und das in einem theoretischen Rahmen geführt wird, welcher diese Auseinandersetzung trotz des geschichtlichen Abstands zwischen den beiden Denkern ermöglichen soll. Die Studie zielt somit weder auf einen Vergleich, der im Versuch, Hegel und Heidegger in eine Nähe zu bringen, bei vordergründigen Analogien bleibt, noch auf eine scharfe Gegenüberstellung, welche diese Philosophien als abgeschlossene und homogene Standpunkte betrachtet. Das Vorgehen der Arbeit lässt sich wie folgt skizzieren: Die Studie beginnt mit den Etappen der Auseinandersetzung Heideggers mit Hegel, um aufzuzeigen, dass diese wesentlich das Verhältnis zwischen Sinn und Begriff bzw. zwischen ἀλήθεια und λόγος betreffen. Heidegger setzt Hegel nicht nur eine radikale Kritik am Begriff, sondern auch eine eigene Konzeption über den zwiespältigen Charakter der Begriffsbildung entgegen. Daraus ergibt sich das Bedürfnis, Heideggers Konzeption über die Verbergung (λήθη) in der Sinnerschließung (ἀλήθεια) näher zu betrachten. Deshalb wird nachfolgend Heideggers Werk in drei Etappen analysiert: Die Auffassung der Als-Struktur und der Konstitution von Welt in Sein und Zeit (1927); die strukturelle und die genetische Bedeutung der Verbergung in Vom Wesen der Wahrheit (1930) und im Ursprung des Kunstwerkes (1935/36); und die Konzeption der „lichtenden Verbergung“ in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38). Im Anschluss an diese umfangreiche Analyse wird eine hegelsche Kritik an den Konsequenzen der heideggerschen Auffassung der begrifflichen Bestimmung formuliert. Um Hegels Kritik zu konturieren, soll aufgezeigt werden, dass Hegel die Fragestellung nach der Konstitution der Weltbedeutsamkeit in eigener Sache formuliert. Zu diesem Zweck wird Hegels Kritik an der kantischen Behandlung der Vernunftideen dargestellt. Hegels Verständnis des Begriffes wird anschließend präzisiert, vom allgemeinen Gebrauch des Wortes differenziert und als ein le-
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bendiges, in der Objektivität verankertes und teleologisch verfasstes Vermögen dargelegt. Im letzten Schritt der Arbeit wird die Negativität als Konstitutionsprinzip der Begrifflichkeit und als methodologischer Grundsatz der Artikulation von Sinnzusammenhängen beschrieben. Diesem Verlauf entspricht die Einteilung der Arbeit in sieben Kapitel. Jedes Kapitel ist in einem gewissen Sinne eigenständig und beginnt deshalb mit einer Einleitung, welche die jeweilige Problematik umreißt. An dieser Stelle genügt daher eine kurze Skizze der einzelnen Kapitel: (I) Im ersten Kapitel werden die Texte herangezogen, in denen Heidegger im Laufe seines Werkes auf Hegel Bezug nimmt: (1) die frühen und vereinzelten Bezugnahmen auf Hegel, deren Interpretationsansatz in der Vorlesung zur Phänomenologie des Geistes (1930/31) und im Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung (1942/43) herauskristallisiert wird; (2) die Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität (1938 – 1942); (3) die späten Vorträge, in denen Heidegger sich gerade dort von Hegel abgrenzt, wo er die Aufgabe des philosophischen Denkens definiert. Dafür sind insbesondere Der Satz der Identität (1957), Hegel und die Griechen (1958), Zeit und Sein (1962) und Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964) maßgeblich. Die Struktur des Kapitels orientiert sich an der Entwicklung der Problematik der Als-Struktur in Heideggers Hegel-Interpretation – von seiner Kritik an der Unhintergehbarkeit des Als bis zur Anspielung auf das Verschwinden des Als in seinem Spätdenken. Am Ende des Kapitels zeichnet sich eine Konzeption der Verbergung ab, die einer Rekonstruktion mit Rekurs auf Sein und Zeit bedarf. (II) Das zweite Kapitel der Arbeit kommentiert Heideggers Sein und Zeit im Ausgang von der Frage nach der Konstitution der Weltbedeutsamkeit. Dieser Kommentar soll vor allem erhellen, inwiefern Heideggers Konzept der Verbergung bereits in Sein und Zeit angelegt ist. Dafür werden vier Hauptthemen von Sein und Zeit behandelt: Das Spannungsverhältnis zwischen Phänomen und Logos, die Analyse der Weltlichkeit, die Konstellation von Verstehen, Auslegung und Befindlichkeit sowie viertens die Bedeutung der Endlichkeit. Diese Untersuchung wird erweisen, inwiefern der Begriff der Verbergung nicht nur mit der theoretischen Einstellung und der Uneigentlichkeit der alltäglichen Existenz in Verbindung steht, sondern auch die Unauffälligkeit der Welt als solcher im jeweiligen Bezug zum einzelnen Seienden betrifft – und somit die Art und Weise, in der sich das hermeneutische Als konstituiert. (III) Im dritten Kapitel wird die erste ausdrückliche Formulierung der Verflechtung von Sinnerschließung und Verbergung in Vom Wesen der Wahrheit (1930) analysiert und die Verschiebung der Bedeutung der Verbergung in
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Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) verfolgt. In Vom Wesen der Wahrheit entwickelt Heidegger eine strukturelle Konzeption der Verbergung: Der übergreifende Horizont der Sinnkonstitution verbirgt sich zugunsten der Offenbarkeit des Konstituierten. In Der Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36) nimmt die Verbergung eine genetische Konnotation an und wird am Verhältnis zwischen Erde und Welt thematisiert: Der Begriff der Erde, der eine gewisse realistisch-naturalistische Konnotation hat, steht für eine ursprüngliche Dimension, die erstens für die Konstitution der menschlichen Welt bestimmend ist, zweitens dabei unsichtbar bleibt, obwohl sie selbst drittens erst und nur in einer Welt als Erde erschlossen wird. (IV) Das vierte Kapitel befasst sich mit den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38), in denen Heidegger die These entfaltet, dass sich geschichtliche Wahrheit als „lichtende Verbergung“ ereignet. Die Analyse abstrahiert von der opaken Rhetorik der Seinsvergessenheit in Heideggers zweitem Hauptwerk und beschränkt sich auf den systematischen Gehalt dieser These. Das Konzept der Verbergung hat hier die Bedeutung, dass die Sinnzusammenhänge der menschlichen Welt im Nichts gründen, insofern sie keinen Anhaltspunkt haben. Die Tragweite dieses Ansatzes, der als Nichtreferentialität des Sinns ausgelegt wird, ist aber nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ, insofern Heidegger den Gedanken des Abgrundes von Sinn für den Entwurf eines neuen Anfangs des Denkens potenziert. Dieser Neuanfang liegt in einem neuartigen Verhältnis des Denkens zum Geschehen von Sinn, das sich gerade durch die Anerkennung und Aufrechterhaltung der konstitutiven Rolle der Verbergung auszeichnet. Dadurch scheint Heidegger jedoch einen produktiven Umschlag von der Erfahrung des Abgrunds in eine Neugründung in Anspruch zu nehmen. Darin erkennt Heidegger selbst eine Annäherung an die hegelsche Figur der Aufhebung, weshalb er sich verpflichtet sieht, von der begrifflichen Aufgabe des philosophischen Denkens radikal Abstand zu nehmen. Dies hat einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung seines Spätdenkens: Die Anerkennung der Verbergung als solcher darf nicht begrifflich vorgehen, weswegen Heidegger dem Begreifen allmählich die dichterische Darstellungsform entgegenstellt. Vor diesem Hintergrund konzipiert Heidegger später auch den sinnkonstituierenden λόγος – die Sprache – als nichtbegrifflich. (V) Das fünfte Kapitel dient dem Übergang zum Hegel-Teil der Arbeit und umreißt eine Kritik an Heideggers Bestimmung des Denkens. Heidegger erkennt im Logozentrismus der abendländischen Metaphysik einen kategorialen Reduktionismus und einen impliziten Subjektivismus. Aus diesem Grund lehnt er schließlich die ontologische und erkenntnistheoretische Begriffsbildung ab. Diese Kritik an der Ontotheologie bzw. am Paradigma,
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dass das, was ist, sich allein im Begriff erschließt, beruht auf einer bestimmten Auffassung des Begriffs, welche zur Signatur einer anti-hegelschen Tradition geworden ist und wonach der Begriff den individuellen Erfahrungsgehalt auf ein allgemeines, logisches Gerüst zurückführt und so seine irreduzible Einzigartigkeit verfehlt. Gegen Heideggers reduktive Auffassung des Begriffs, deren Implikationen kritisch hinterfragt werden, soll Hegels Verständnis der Rolle, die das begriffliche Vermögen in der Konstitution und der Artikulation von Bedeutsamkeit einnimmt, gewendet werden – ein Verständnis, das Hegel gerade in Abgrenzung von den abstrakten und allgemeinen Verstandesbestimmungen erarbeitet. (VI) Infolge dieser Kritik an Heidegger ist es das zentrale Anliegen des sechsten Kapitels, Hegels Verständnis des Begriffs zu umreißen: Erstens im Hinblick auf die Abgrenzung des Begriffs von der kantischen Verstandesbestimmung, zweitens im Hinblick auf die Rückgewinnung der begrifflichen Artikulierbarkeit des normativen Bereichs der Vernunftideen, und drittens im Hinblick auf das aristotelische Verständnis des Begriffs als eines teleologischen, in der objektiven Lebenswelt verwachsenen Vermögens, das unsere Arten von Tätigkeit allgemein begleitet. Die Referenzstellen sind vor allem die Einleitung und das Ideenkapitel der Begriffslogik (1816) sowie der Abschnitt über die kritische Philosophie in der Enzyklopädie (1830). Der erste Teil des Kapitels erläutert Hegels Kritikpunkt an Kants Behandlung der Vernunftbegriffe und die daraus resultierende Konsequenzen – die Neubestimmung des begrifflichen Gehalts als sprachlich und die Forderung nach einem breiteren diskursiven Vermögen. Der zweite Teil des Kapitels umreißt den Raum des Begriffs als Horizont der Verständlichkeit und beschreibt Hegels Kritik an philosophischen Theorien des Nichtbegrifflichen und des Unbegreifbaren. Der dritte Teil thematisiert Hegels Verständnis des Begriffs als einer lebendigen Wirklichkeit – die teleologische Aktualität des Begriffs und den Stellenwert der Idee des Guten in der Verfassung der geistigen Welt. (VII) Im letzten Kapitel wird die Bedeutung der hegelschen Negativität als Konstitutions- und Darstellungsprinzip von Sinnzusammenhängen entfaltet. Dabei wird auf drei Textstellen Bezug genommen, an denen Hegel seine Methodologie erläutert: die Seinslogik (1812), die Vorrede zur Phänomenologie (1809) und das Kapitel zur absoluten Idee in der Begriffslogik (1816). Im ersten Teil des Kapitels wird der operative Begriff der Negation als Stellvertreter für den Horizont der logischen Bestimmungen dargelegt, die in einfachen Kategorien und unmittelbaren Gedanken implizit sind. Der zweite Teil des Kapitels differenziert drei Hinsichten, in welchen Hegel den Begriff der Negativität verwendet – die Ordnung des Wissens, die Ordnung
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der Artikulation und die Ordnung des Logischen. So bezeichnet die Negativität einerseits die Tatsache, dass die konstitutiven Bestimmungen eines gegebenen Sinnzusammenhangs in dessen Unmittelbarkeit verschwinden (die Aufhebung der Vermittlung); andererseits die begriffliche Darstellung der impliziten Vermittlung (die Aufhebung der Unmittelbarkeit); schließlich die Zusammengehörigkeit scheinbar sich ausschließender Begriffe (die Aufhebung der Selbständigkeit). Diese dreifache Struktur soll darauf hinweisen, dass die Ordnung des Logischen die Ordnung des Wissens immer schon vermittelt, obwohl dieser Zusammenhang sich nur in der Ordnung der Artikulation erschließen lässt. In einem weiteren Schritt wird der Begriff der Aufhebung ausdifferenziert: Die Aufhebung bedeutet sowohl das Verschwinden der Vermittlung um der Unmittelbarkeit eines Gedankens willen als auch die Anerkennung der Zusammengehörigkeit von scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen – Anerkennung wodurch das unmittelbare Wissen verwandelt wird, insofern es durch die begriffliche Artikulation in das Licht eines übergreifenden Zusammenhangs von wechselseitigen Verweisungen rückt. Das Kapitel endet mit den hegelschen Hauptthesen über die Bindung zwischen der Konstitution von Sinn und unserem begrifflichen Vermögen. Die Bindung zwischen der Natur unseres Verstehens und der logischen Ordnung der Begrifflichkeit zeigt sich bei Hegel erst in der Artikulation von selbstverständlichen Bedeutungen und vertrauten Denkkategorien. Hegels Konzeption der Negativität ist daher ein Plädoyer für die Artikulation der Bedeutungszusammenhänge, die unsere Welt gestalten. Diese Aufgabe entspringt nicht nur aus der aufklärerischen Verantwortung, die Selbstverständlichkeit unserer Begrifflichkeit und Wissensformen in Frage zu stellen, sondern es handelt sich vielmehr um das Argument, dass die begriffliche Artikulation von Erfahrungsgehalten die semantische Fülle derselben garantiert. Unsere Lebenswelt besteht deshalb aus einer Vielfalt von semantischen Bezügen, weil sie sich immer schon durch die sprachliche Selbstartikulation konstituiert hat. Die Annahme, dass das Begreifen eine inadäquate Übersetzung unserer Erfahrung von Sinn repräsentiert, beruht auf einer Trennung zwischen unserem Vermögen, Sinn zu verstehen, und unserem Vermögen, Sinnzusammenhänge begrifflich zu artikulieren. Dabei wird postuliert, dass der λόγος sich selbst undurchsichtig ist, dass unsere Sprache über die Bedingung und Herkunft seiner Konstitution nicht verfügt und dass das menschliche Verstehen nicht die Ressourcen hat, sich selbst zu ergründen. Es ist aber ein Widerspruch, wie Heidegger zu glauben, dass die Quelle von Sinn dem Ort, an dem Sinn ausgetragen wird, nicht zugänglich ist. Ein vorgegebener Sprachgebrauch kann dem Bereich,
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in dem die Sprache entsteht, nicht fremd sein. Das Entstehen von Sinn und seine Artikulation können nur derselben Welt angehören, so wie Verstehen und Begreifen Akte desselben Geistes sind.Wenn dem so ist, wenn unsere Sensibilität für Bedeutsamkeit und unser begriffliches Vermögen wesentlich verwandt sind, wenn unsere geistigen Vermögen zusammenhängen, dann ist unser begriffliches Vermögen nicht nur imstande, unser implizites Verstehen zu artikulieren und Bedeutungen zu erschließen, sondern auch der Garant von Sinn.
I Begriff, Negativität und Endlichkeit: Heidegger liest Hegel Die Ausgangsfrage der Philosophie Heidegger lautet, wie sich die Bedeutsamkeit der menschlichen Welt konstituiert. Dass uns Steine und Sterne, Hämmer und Tische, Gedichte und Tempel etwas bedeuten, bietet ihm Anlass für denkerisches Staunen und Anstoß zur Frage nach dem Sein. Die Frage, was es heißt, zu sein, ist eins mit der Frage, was es heißt, zu bedeuten.¹ Will man das Phänomen der Welt philosophisch beschreiben, d. h., will man erläutern, wie Seiendes dazu kommt, zu bedeuten, was es bedeutet, so ist die Frage nach dem Stellenwert von Begriffen in der Erfahrung von Welt von Anfang an wesentlich. Dies ist nicht nur deswegen der Fall, weil Begriffe in der theoretischen Artikulation von Bedeutungen unweigerlich involviert sind, sondern auch, weil Begriffe für die Konstitution von Bedeutungen verantwortlich zu sein scheinen – eine Ansicht, die Heidegger im vorherrschenden Neukantianismus seinerzeit erkennt und dessen radikalste Ausprägung er mit Hegel assoziiert. Die Frage, wie sich Begriffe zur Konstitution von Sinn verhalten, bestimmt maßgeblich seine Auseinandersetzung mit Hegel. Im Allgemeinen und vorwegnehmend lässt sich diese Auseinandersetzung derart fassen: Gegen Hegels vermeintlichen Panlogismus beziehungsweise gegen den Anspruch, die Wissensund Lebensformen des natürlichen Bewusstseins, die geschichtlichen Gestalten der menschlichen Welt und das logische Gewebe der Wirklichkeit selbst im Begriff darzustellen, setzt Heidegger einen radikalen Ansatz der Endlichkeit des Seins entgegen. Diesem Ansatz zufolge lässt sich das semantische Netz einer geistigen Welt begrifflich nicht erschöpfend artikulieren, weil der Sinn von Sein, der eine menschliche Welt jeweils durchdringt, nicht begrifflich konstituiert wird, sondern grundlegend auf eine pragmatische, sprachliche und geschichtliche Kontingenz angewiesen ist. Das vorliegende Kapitel untersucht die Entstehung, die Entwicklung und die Tragweite dieser Gegenüberstellung. Einerseits beabsichtigt die Analyse der Stellen, an denen Heidegger auf Hegel im Laufe seiner Arbeit, von seiner Habilitationsschrift (1915) über die Interpretationen der Phänomenologie des Geistes (1930 und 1942) und die Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität (1938 – Heideggers frühere Vorlesungen belegen, dass die Frage nach dem Sein, die Heideggers Werk durchgehend prägt, ihre Herkunft in der Frage nach der Bedeutsamkeit der welthaften Dinge hat. Vor Sein und Zeit (1927) bezeichnet Heidegger das Seiende als das Umweltliche und Bedeutsame. Dieses sei „welthaft“ (GA 56/57, 73). Zum Verhältnis zwischen der Seinsfrage und der Weltbedeutsamkeit vgl. Sheehan 2015. Vgl. auch Kap. II: „Phänomenalität und Verbergung“. https://doi.org/10.1515/9783110659801-003
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1941) bis zu den späteren Vorträgen über die vermeintlich neue Aufgabe des philosophischen Denkens (1957– 1964), Bezug nimmt, aufzuweisen, dass Heideggers Verhältnis zu Hegel durchgehend von der Frage nach der Bedeutung des Begriffs und dessen Funktion in der Konstitution von Welt geprägt ist. Andererseits soll die Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung mit Hegel aufzeigen, dass Heideggers Ansatz der Endlichkeit des Seins nicht bloß eine erkenntnistheoretische Grenze des begrifflichen Denkens hervorhebt, sondern vielmehr auf eine alternative Konzeption von Negativität abzielt, und dass seine Kritik am Stellenwert des Begriffs in der klassischen Philosophie von einer eigentümlichen Auffassung der Natur des Logos begleitet wird. Erst diese Auffassung, die Heidegger in ein Spannungsverhältnis zu Hegel bringt, erschließt den systematischen Kern dieser Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Sinn und Begriff, welche die nachfolgende Untersuchung im Anschluss an dieses Kapitel vertieft und weiterentwickelt. Heidegger versteht seine Auseinandersetzung mit Hegel als ein Ringen um die Bedeutung der Negativität, die er als Grundstellung der hegelschen Philosophie bezeichnet. Der Ausdruck „Negativität“ soll hier – um den Dialog zwischen Hegel und Heidegger zu ermöglichen – prima facie als eine Auffassung verstanden werden, die dem Negativen in der Gestaltung von Sinnzusammenhängen eine maßgebliche Funktion zuspricht. Eine Negativitätstheorie beschreibt so die Art und Weise, in der das, was jeweils als Negatives gilt, an der Konstitution von Sinngehalten beteiligt ist. So stellt der Tod für unser Lebensverständnis, die Andersheit für die Identität, das Nichts für das Sein jeweils eine konstitutive Dimension vor – und nicht bloß eine Grenze oder ein Gegensatz.² Auf die Zusammengehörigkeit und wechselseitige Abhängigkeit von gegensätzlichen Begriffen verweisen auch die werkimmanenten, plastischen Motive der Entzweiung (zwischen Geist und Natur) und der Zerrissenheit (zwischen Gesetz und Leben) bei Hegel, des Streites (zwischen Welt und Erde) und des Zwiespaltes (zwischen Lichtung und Verbergung) bei Heidegger. Heidegger ist der Ansicht, dass Hegel unter „Negativität“ ein bestimmtes Verhältnis des Begriffs zur Erfahrung des Negativen konzeptualisiert. Hegel denke
Damit wird der spezifisch hegelsche Sinn der Negativität eingeführt, unter welche „nicht jene erste Negation, die Grenze, Schranke oder Mangel, sondern wesentlich die Negation des Anderssein zu verstehen ist, die als solche Beziehung auf sich selbst ist“ (GW 11, 77). Andere Auffassungen der Negativität werden beiseitegelassen. Zuvor wurde bereits in der Einleitung auf die Bedeutung des Negativen als das Nicht-sein-Sollende verwiesen, welche dem jungen Hegel zugeschrieben wird (Theunissen 1991, 18). Die Negativität wird auch epistemologisch als Unverfügbarkeit, ethisch als Schuld, ontologisch als Sterblichkeit gedeutet (Rentsch 2000) oder mit der Erfahrung von Leid verbunden (Angehrn 2015).
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nämlich durch die Chiffre der Negativität die Aufhebungskraft des Begriffs. Unter solcher „Aufhebung“ versteht Heidegger die reflexive Neutralisierung des Negativen, die am deutlichsten in jener berühmten Passage in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) zum Ausdruck kommt, wo es heißt, dass das Leben des Geistes sich in der Konfrontation mit dem Tod erhalte und dass das Verweilen beim Negativen dieses ins Sein umkehre (GW 9, 27). Heidegger interpretiert diese Aufhebung derart, dass die Erfahrung des Negativen als eine immanente Angelegenheit des Begreifens erscheint.³ Daraus ergibt sich für Heidegger die kritische Frage, ob die begriffliche Bewältigung des Endlichen nicht die Gefahr einer Instrumentalisierung in sich birgt. Wird der eigene Tod im Namen des Lebens des Geistes nicht heruntergespielt? Ist das produktive Verhältnis zum Negativen nicht ein Unterlaufen des Endlichen? Ist der Begriff der Aufhebung nicht ein trügerischer Machtanspruch des Denkens, das Endliche dadurch zu überspielen, dass es das Endliche als solches begreift?⁴ Diese Fragen nehmen Heideggers Kritik an Hegels Konzeption der Negativität vorweg. Die Kritikpunkte, die das vorliegende Kapitel genealogisch rekonstruiert und die bereits in Heideggers frühem Werk manifest und in seinen Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität (1938 – 1941) gipfeln, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Hegel denkt die Negativität nur im Rahmen der Subjektivität, und zwar als inhärenten Unterschied im Bewusstsein;⁵ (2) Hegel problematisiert das Nichts nicht über den Horizont des begrifflichen Denkens hinaus und stellt deshalb die Frage nach dem Ursprung der Negativität nicht;⁶ (3) Hegel begreift die Negativität nur im Zusammenhang mit der produktiven Positivierung des Negativen bzw. als „‚Energie‘ des unbedingten Denkens“ (GA 68, 14).⁷
Zu Hegels eigenem Verständnis der Aufhebung vgl. Kap. VII.2.B: „Die Aufhebung“. Hegels Begriff der Aufhebung hat eine doppeldeutige Funktion: Einerseits wird ein Begriff in seiner vollen Bedeutung erst dann verstanden, wenn die ihm immanenten, scheinbaren Negationen als scheinbar aufgehoben und als konstitutiv anerkannt werden. Beispielsweise wird das Leben als ein solches erst dann verstanden, wenn es in seinem Verhältnis zum Tod gedacht wird. Andererseits enthält die Aufhebung ein Verwandlungspotenzial, das die begriffliche Anerkennung der konstitutiven Negation in sich birgt: Das Leben, das begreift, dass der Tod konstitutiv für es selbst ist, wird durch diese Bewusstwerdung zu einem geistigen – d. h. zu dem, was es eigentlich ist. Zur Rekonstruktion dieser Kritik Heideggers an Hegel vgl. De Boer 2000; Großmann 1996. Zu Heideggers Interpretation der Phänomenologie des Geistes vgl. Sell 1998. Vgl. Lugarini 2004, 255 – 259; Dahlstrom 2013. Dadurch schließt sich Heidegger an eine breite Kritik an Hegel an, obwohl er selbst vor diesem pauchalen Hegel-Bild warnt (GA 68, 8). Zu dieser landläufigen Kritik an Hegel vgl. Frank 1992; Pippin 1997. Zu Heideggers reduktiver Hegel-Interpretation vgl. W. Marx 1961.
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Diese Einwände gehen auf Heideggers Kritik an der Unhintergehbarkeit der begrifflichen Als-Struktur zurück (I.1). Der von Hegel verfochtenen Unbedingtheit des begrifflichen Denkens setzt Heidegger einen konstitutiven Abgrund jeder geschichtlichen Welt entgegen. Dieser abgründige Horizont, den er ἀλήθεια nennt, vermittelt jeden begrifflichen Sinnhorizont, ohne aber selbst begrifflich vermittelt werden zu können (I.2). Die Vorrangigkeit der ἀλήθεια gegenüber dem λόγος und die damit verbundene Tendenz, auf die Begriffsphilosophie zu verzichten, sind die zentralen Motive, die Heidegger in seinen späteren Vorträgen (1957– 1964) gegen Hegel wendet (I.3). Wie bereits angedeutet, ist Heideggers Kritik an Hegel von seiner eigenen Konzeption der Art und Weise, in der das Nichts bzw. die Endlichkeit des menschlichen Daseins für die Konstitution von Sinn bestimmend ist, informiert.⁸ Vor diesem Hintergrund ist seine Auseinandersetzung mit Hegel, wenn nicht von einer unterdrückten Nähe, so doch vom dringlichen Bedürfnis der Abgrenzung charakterisiert.⁹ Auf den möglichen Berührungspunkt stößt Heidegger selbst in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 1938), wo er die Frage stellt: „Die Innigkeit des Nicht und das Strittige im Sein, ist das nicht die Negativität Hegels“ (GA 65, 264)? Im heraklitischen Motiv des διαφέρον bzw. im Stellenwert der Differenz in der Konstitution von Sinn erkennt Heidegger nicht nur den Streitpunkt mit, sondern auch eine mögliche Annäherung an Hegel.¹⁰ Die Konsequenz dieser für Heidegger unangenehmen Annäherung an Hegel ist nicht nur die allmähliche Verschärfung der Auseinandersetzung, sondern auch die Zuspitzung seiner eigenen Auffassung der Negativität. Diese besteht nicht bloß in der Betonung des radikalen Endlichkeits- und Möglichkeitscharakters der menschlichen Welt,
Otto Pöggeler (1995) hat die verschiedenen Bedeutungen des Nichts bei Hegel und Heidegger geschildert und gezeigt, inwiefern diese Problematik nicht nur die Kritik an Hegel, sondern auch Heideggers philosophisches Projekt anbelangt. Hans-Georg Gadamer (1971a) hat auf das paradoxe Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Heidegger und Hegel verwiesen. Heidegger verbindet 1951 seine Konzeption der ontologischen Differenz mit dem Begriff der διαφορά und behauptet, dass die ontologische Differenz eigentlich als Verflechtung von Lichtung und Verbergung zu denken ist (GW 15, 438). In seinem Heraklit-Aufsatz Logos (1951) bringt er den Ausdruck διαφερόμενον mit dem Gedanken in Verbindung, dass der λόγος „in sich zumal ein Entbergen und Verbergen“ ist (GA 7, 225). Im Seminar über den Vortrag Zeit und Sein (1962) suggeriert er, dass Hegels Begriff der Negativität „mit dem Gedanken der Zerrissenheit zusammenhängen, also (sachlich gesehen) auf Heraklit (διαφέρον) zurückgehen“ könnte (GW 14, 58). Vor diesem Hintergrund ist auch der Aufsatz Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik (1956/57) zu verstehen, wo Heidegger sich von Hegel durch die These abgrenzt, dass die Sache des Denkens für ihn die Differenz als solche, und zwar die Differenz zum Begriff ist – während für Hegel die Sache das Denken als solches ist.
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sondern vielmehr in einer Konzeption der Art und Weise, in der Sinnzusammenhänge konstituiert werden. Als solche ist sie eine Konzeption der Natur des Logos und des Begriffs. Dieser Konzeption zufolge ist dem Sinngeschehen als solchem eine Verbergung zugehörig, insofern das, was in einen einheitlichen Sinnzusammenhang „versammelt“ wird oder was in einen Begriff zusammengebracht wird, selbst in der Verständlichkeit der konstituierten Bedeutung nicht erscheint. Im Anschluss an dieses Kapitel soll die Bedeutung und die Entwicklung dieses Gedankens von seinem Auftakt in Sein und Zeit (1927) bis zu seiner Prägung in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) verfolgt werden.
1 Die Unhintergehbarkeit des Als A Eine Genealogie der Auseinandersetzung um den λόγος Der junge Heidegger verkündet am Ende seiner Habilitationsschrift über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915) eine „prinzipielle Auseinandersetzung“ der „Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe“, als deren Vertreter er sich selbst versteht, mit dem an Fü lle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung, als welches es alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich aufgehoben hat, mit Hegel (GA 1, 410 – 411).
Es handelt sich jedoch um keine Abgrenzung von Hegel. Heidegger glaubt indessen, dass die Aufarbeitung der hegelschen Position erforderlich ist, um den eigenen philosophischen Entwurf bestimmen zu können.¹¹ Dies zeigt sich vor allem am hegelschen Sprachgebrauch, den Heidegger für den Umriss des eigenen Projektes verwendet. Heidegger beklagt sich zuerst über die Dürftigkeit der schematischen Kategorientafel in der modernen Erkenntnistheorie. Das erkenntnistheoretische Subjekt vermöge „den metaphysisch bedeutsamsten Sinn des Geistes“ nicht auszudeuten, welcher Geist als „wesensmäßig historischer“ zu fassen sei (GA 1, 407). Die Aufgabe, vor welche Heidegger sich gestellt sieht, geht zudem von der Frage nach der „Wertgestaltung“ und „Wertgeltung“ aus und
Hegel nimmt in der Habilitationsschrift eine zentrale Stellung ein. So endet die Schrift nicht nur mit dem Namen „Hegel“, sondern wird beispielsweise auch mit einem Zitat aus Hegel eingeleitet: „‚…In Rücksicht aufs innere Wesen der Philosophie gibt es weder Vorgänger noch Nachgänger‘ (Hegel, WWI, 169)“ (GA 1, 193). Zur Faszination des jungen Heideggers für Hegel vgl. Grondin 2003.
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richtet sich sodann auf die mögliche Einheit von philosophischer Erkenntnis und konkreter Lebendigkeit (GA 1, 410). Ausgehend von seiner kritischen Einstellung gegenüber dem Neukantianismus erstrebt der junge Heidegger die philosophische Reetablierung der erfüllten, wertbehafteten Erlebniswelt, die allerdings dem Rationalismus nicht blindlings entgegengesetzt werden darf.¹² Auch in der Formulierung dieses Programms hallt Hegels Sprache wider: Der Geist ist nur zu begreifen, wenn die ganze Fülle seiner Leistungen, d. h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird, mit welcher stets wachsenden Fülle in ihrer philosophischen Begriffenheit ein sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes gegeben ist (GA 1, 408).
Diese Äußerungen zeichnen am Ende der Habilitationsschrift Heideggers nur eine Skizze von seinem philosophischen Programm, sie offenbaren jedoch sein anfängliches Ansinnen, den Bereich der geistigen Erlebniswelt begrifflich zu artikulieren, ohne ihn auf die starren Kategorien eines theoretisch eingestellten Subjektes, das die lebendige Erfahrungswelt als eine bloß wahrnehmbare Gegenstandswelt versteht, zu reduzieren. Dieses Projekt wird erst in Heideggers frühester Freiburger Vorlesung – Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (1919) – deutlich formuliert. Heidegger entwirft hier die Idee einer Philosophie als vor-theoretischer Urwissenschaft, die von der unmittelbaren Lebenswelt ausgeht. Die Lebenswelt sei der phänomenale Boden, aus dem alles Theoretische entspringe. Heidegger beruft sich dabei – gewiss in Anlehnung an Husserls Phänomenologie – auf eine originär gegebene Anschauung der Erlebnisse. Aus der Annahme einer anschaulichen Gegebenheit zieht Heidegger selbst die Konsequenz: „Dann stehen wir mit der Front gegen Hegel, d. h. vor einer der schwierigsten Auseinandersetzungen“ (GA 56/57, 97). Die Auseinandersetzung ist aber ein weiteres Mal zweideutig. Einerseits wirft Heidegger dem Neukantianismus und auch Hegel die „Verabsolutierung des Theoretischen, [des] Logischen“ und der Vermittlung vor (GA 56/57, 97).¹³ Andererseits sieht er das Vorhaben, „der Theoretisierung zu entgehen“, als aussichtslos an: „Es gibt kein unmittelbares Erfassen der Erlebnisse“ (GA 56/56, 101). Diese Anmerkung nimmt einen wichtigen Aspekt der späteren Auseinandersetzung mit Hegel vorweg. Denn trotz aller Kritik an der begrifflichen Vermittlung wird Heidegger in eigener Sache die Möglichkeit der reinen Unmittelbarkeit von Erfah-
Vgl. GA 1, 410: „Philosophie als vom Leben abgelöstes, rationalistisches Gebilde ist machtlos, Mystik als irrationalistisches Erleben ist ziellos“. Vgl. auch GA 56/57, 108: „Hegel: Alles Unvermittelte ist vermittelt“.
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rungsgehalten wiederholt ablehnen. Heidegger vertritt vielmehr im Ganzen seines Werkes einen grundsätzlich hermeneutischen Ansatz, im Rahmen dessen der Vorbehalt gegen jede Berufung auf das Unmittelbare maßgebend ist. Diese vorläufige Anmerkung ist insofern von Belang, als das hier ausgetragene Streitgespräch zwischen Heidegger und Hegel innerhalb eines sprachlich-hermeneutischen Rahmens zu verorten ist. Die Auseinandersetzung soll demnach nicht als eine unüberbrückbare Gegenüberstellung von Vermittlung und Unmittelbarkeit – oder, mit Blick auf die hermeneutische Phänomenologie von Sein und Zeit, von λόγος und φαίνεσθαι – interpretiert werden.¹⁴ Es ist gewissermaßen selbstverständlich, dass eine Philosophie der Lebenswelt unausweichlich antitheoretische Züge hat. Die Hervorhebung der konkreten Lebenswelt führt zwangsläufig zu einer Depotenzierung des Begrifflichen. Heidegger wendet beispielsweise in einer anderen frühen Vorlesung – Grundprobleme der Phänomenologie (1919/1920) – der Dialektik ein, sie sei „blind gegen die Gegebenheit“ (GA 58, 225). Die Dialektik beruhe „auf einer Verwechslung zwischen Gegenstandserfassen und Ausdruck, zwischen Anschauung und Ausdruck“ (GA 58, 226).¹⁵ Obwohl diese allgemeine Kritik am Vorrang des Theoretischen für das Frühwerk Heideggers charakteristisch ist, wird seine Kritik an der theoretischen Einstellung spätestens in Sein und Zeit (1927) viel differenzierter und die Berufung auf die originäre Anschauung, die Heidegger anfangs von Husserl erbt, wird abgedämpft. Diese Entkräftung der Gegebenheit verdankt sich der zentralen Rolle, die Heidegger dem Verstehen – selbst wenn auch in Form des Vorverständnisses und des Vorgriffs – in der Architektonik der Fundamentalontologie zuschreibt. Sein – unmittelbares Sein – gibt es nur im Verstehen von Sein.¹⁶ Die Phänomene werden erst durch die Als-Struktur erschlossen. Auch der Entwurf, die Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit zu entdecken, kann nur Resultat der Beseitigung aller festgefahrenen Verdeckungen und als solches nur
Die Ambiguität des Verhältnisses zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung ist nicht nur für das Frühwerk, sondern auch für das Spätwerk Heideggers bestimmend und prägt auch seine Hegel-Interpretation. Otto Pöggeler zufolge führt Heideggers späte Konzeption des Ereignisses das Denken in einen Ort, der „wie die Spitze des Speers das Äußerste der Ausgesetztheit [ist], das jede Vermittlung von sich abweist“. Heideggers spätes Denken verliert „sich immer mehr ins Nichtmehr-Mitteilbare“ (Pöggeler 1995, 164– 165). Der Text lautet weiter: „Wird das Problem des Verhä ltnisses von Anschauung und Ausdruck gesehen und die Evidenz der Anschauung gesehen, so ist die Dialektik im Kern getroffen. (Das ist ein Hinweis auf die notwendige Auseinandersetzung der Phä nomenologie mit dem Neuhegelianismus.)“ (GA 58, 226). Vgl. SZ, 212: „Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ‚gibt es‘ Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ‚ist‘ auch nicht ‚Unabhängigkeit‘ und ‚ist‘ auch nicht ‚An-sich‘“.
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Resultat einer interpretativen Arbeit sein.¹⁷ Die wesentliche Bedeutung, die der λόγος in Heideggers Hauptwerk annimmt, lässt kaum mehr Raum für eine originäre und reine Gegebenheit. Es wird nicht mehr unterschieden zwischen Phänomen und Logos, sondern zwischen verschiedenen Arten des Als im Bereich der Sprache (vgl. Kap II: „Phänomenalität und Verbergung“). Das Sein wird nur im Seinsverständnis erschlossen. Selbst dieser hermeneutischen Gesinnung gibt Heidegger aber eine radikale, gegen Hegel gerichtete Wendung, die besonders im Spätwerk entfaltet wird. In den Aufzeichnungen zu einem Seminar in LeThor (1969) ist beispielsweise die folgende Überlegung zu finden: Wenn das Sein derart den Menschen braucht, um zu sein, so muß demnach eine Endlichkeit des Seins angenommen werden; daß also das Sein nicht absolut für sich sei, ist der schärfste Gegensatz zu Hegel. Denn wenn Hegel zwar sagt, daß das Absolute nicht ‚ohne uns‘ ist, sagt er es nur auf das christliche ‚Gott bedarf der Menschen‘ hin. Dagegen ist für Heideggers Denken das Sein nicht ohne seine Beziehung zum Dasein (GA 15, 370 – 371).
Dass es Sein nur im menschlichen Sinnhorizont gibt oder dass das Sein auf den Menschen angewiesen ist, bedeutet, dass das, was ist, nur ist, insofern es als das erscheint, was es ist. Der Horizont, in dem die Dinge sind, was sie sind, hat keinen selbständigen Bestand jenseits des Ortes, an dem das Sein als Sein getragen wird. Was Sein ist, manifestiert sich nicht am Menschen als Austragungsort eines selbständigen, über den Menschen hinausgehenden Konstitutionsprozesses, sondern konstituiert sich erst und allein durch die endliche Existenz des Menschen. Und wenn die Dinge als solche welthaft sind, dann sind sie überhaupt nur innerhalb der Welt der sterblichen Menschen. Damit deutet Heidegger die Unhintergehbarkeit des λόγος als Endlichkeit des Seins: Weil das Sein nur im λόγος erschlossen werden kann, ist das Sein auf das Sterbliche angewiesen. Das Sein ist somit der Kontingenz der Art und Weise ausgeliefert, in der sich Weltbedeutsamkeit in der endlichen Existenz konstituiert. Es gibt für Heidegger nicht nur keine Notwendigkeit, dass es menschliche Subjektivität und damit Sinngeschehen gibt, sondern der Ort und das Prinzip der Konstitution von Sinn hat vielmehr keinen autonomen und kategorial rekonstruierbaren Bestand jenseits der Faktizität des endlichen Menschen. Indessen ist Heidegger der Meinung, dass Hegel
Vgl. SZ, 36 – 37: „Die Begegnisart des Seins und der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens muß den Gegenständen der Phänomenologie allererst abgewonnen werden. Daher fordern der Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung. In der Idee der ‚originären‘ und ‚intuitiven‘ Erfassung und Explikation der Phänomene liegt das Gegenteil der Naivität eines zufälligen, ‚unmittelbaren‘ und unbedachten ‚Schauens‘“.
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den λόγος von der Endlichkeit des natürlichen Bewusstseins loszulösen versucht (vgl. Kap I.1.D: „Begreifen und Aufheben“). In den Jahren der schärfsten Konfrontation mit Hegel schreibt Heidegger in Was ist das – die Philosophie? (1955): „Das Sein ist die Versammlung – λόγος“ (GA 11,14). Die Auseinandersetzung mit Hegel kann nicht in Bezug auf eine Gegenüberstellung zwischen begrifflicher Vermittlung und unmittelbarem Erfassen, zwischen λόγος und φαινόμενον erklärt werden. Was die Streitsache ausmacht, ist im Gegenzug die Bedeutung des λόγος. In aller Kürze sei es vorweggenommen: Heidegger interpretiert den griechischen λόγος – im Unterschied zu klassischen Deutungen desselben als Vernunft, Begriff, Ordnung, Gesetz, Denknotwendigkeit – als Sprache, denkt diese aber nicht vom Urteil her („Der Krug ist ein Gefäß“), sondern vom Wort her (Das Wort „Krug“ sammelt in sich mannigfaltige Bedeutungen und Bezüge, welt- und praxisgebundene Erfahrungen). Ferner interpretiert Heidegger das Infinitiv λέγειν nicht nur als „sagen“ und „reden“, sondern vielmehr von „legen“ her als „auslesen“ (lat. legere) und „sammeln“, „verbinden“ und „vorlegen“, „zusammenbringen“ und „offenlegen“ – in seinen Worten, als „zusammen-ins-Vorliegen-bringen“ und „beisammen-vorliegen-Lassen“ (GA 7, 214– 217). Der λόγος nennt einerseits die Versammlung von Mannigfaltigem in Einem und andererseits das Zum-Vorschein-Bringen des so Versammelten durch das Wort. In erster Hinsicht ist der λόγος, wie es in einer Aristoteles-Vorlesung (1931) heißt, „die innere Fügung und Fuge des in Beziehung stehenden Seienden. Λόγος ist das regelnde Gefüge, die Sammlung des unter sich Bezogenen“ (GA 33, 121). In zweiter Hinsicht ist der λόγος Rede, wobei die „Aus-sage über etwas“ – das Urteil – für Heidegger nur eine Weise der Rede repräsentiert (GA 33, 122).¹⁸ Zusammenfassend heißt es in seinem Heraklit-Aufsatz (1951), dass der λόγος „als das reine versammelnde lesende Legen [west]“, dass er „die lesende Lege und nur dieses“ ist (GA 7, 221). Für die spätere Entwicklung der vorliegenden Untersuchung ist es von großer Bedeutung, vorwegnehmend darauf hinzuweisen, dass Heidegger den einenden, versammelnden Charakter des λόγος von der klassischen Vorstellung der Synthesis abgrenzt.¹⁹ Dies hängt mit einem anderen, für ihn zentralen Charakter des λόγος zusammen, den Heidegger als „Bergen“ bezeichnet und der hier kurz skizziert werden darf. Nach dem Vorbild der Traubenlese und der Ährenlese beschreibt Heidegger den Grund, wofür im λόγος Mannigfaltiges ausgelesen und zusammengebracht wird, als Verwahrung desselben (GA 7, 215). Wenn die Versammlung den Sinn hat, das Versammelte unterzubringen und zu Vgl. Kap. II.4: „Verstehen, Sinn, Urteil“. Der λόγος als das Einende sei verschieden „von dem, was man als Verknüpfen und Verbindungen vorzustellen pflegt. Dieses im λέγειν beruhende Einen ist weder nur ein umfassendes Zusammengreifen, noch ein bloß ausgleichendes Verkoppeln der Gegensätze“ (GA 7, 213).
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bergen, dann liegt im Bergen aber auch ein Verbergen: Das so Versammelte wird vertraut, dadurch übersehen und beiseitegelassen (GA 7, 215). Fällt das, was versammelt und verwahrt wird, nicht mehr auf, so wird das Geborgene selbst, gerade insofern es unverborgen und also vertraut ist, verborgen. Dieses Bild veranschaulicht den Zusammenhang zwischen λόγος und ἀλήθεια bzw. der Unverborgenheit, die auf einer inhärenten Verbergung (λήθη) beruht (GA 7, 225). In diesem Sinne ist der λόγος „in sich zumal ein Entbergen und Verbergen“ (GA 7, 225) und erst vor diesem Hintergrund ist laut Heidegger die Synthesis des λόγος richtig zu verstehen.²⁰ Dieser Kerngedanke der heideggerschen Philosophie wird im Laufe der Arbeit sowohl im Hinblick auf seine Entwicklung und Abwandlungen als auch auf seinen systematischen Gehalt näher ausgeführt und untersucht. In den Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität (1938 – 1941) behauptet Heidegger, dass die hegelsche Philosophie in einer neuzeitlichen Fassung des ἐν ἀρχῇ ὁ λόγος gründet. Wogegen sich Heideggers Kritik dabei richtet, ist nicht der grundlegende Stellenwert des λόγος, sondern die neuzeitliche, kartesisch-subjektivistische Ausdeutung desselben, die Heidegger als Grundlage der Philosophie Hegels identifiziert. Die idealistisch-subjektivistische Prägung der hegelschen Auffassung des λόγος bzw. des logischen Bereiches ist in Heideggers Augen verantwortlich für das Überspielen der Endlichkeit menschlicher Existenz. In der Vorlesung zu Hegels Phänomenologie des Geistes (1930/31), wo Heidegger darauf hinweist, dass „die ganze Dimension des Seinsproblems […] fü r ihn [Hegel] als den Vollender der abendländischen Metaphysik orientiert auf den λόγος [ist]“ (GA 32, 92), hebt er die Verbindung zwischen λόγος und Unendlichkeit bei Hegel hervor: Ist dieses Verstehen und Sprechen des Seins, die Sprache, gö ttlich in dem Sinne, daß sie absolut ist? Ist das Verstehen des Seins, so können wir auch sagen, absolvent, und ist das Absolvente das Absolute? Oder ist das, was Hegel als die Absolvenz in der Phänomenologie des Geistes darstellt, nur die verhüllte Transzendenz, d. h. die Endlichkeit? Unsere Auseinandersetzung ist auf diesen Kreuzweg von Endlichkeit und Unendlichkeit gestellt, ein Kreuzweg, nicht ein Gegeneinanderhalten von zwei Standpunkten (GA 32, 92).
Im kantischen Sprachgebrauch würde dieser Gedanke Heideggers lauten, dass, insofern ein Begriff „Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen“ (KdrV, B131) oder „Bewusstsein dieser Einheit der Synthesis“ (KdrV, A 104) ist, das synthetisierte Mannigfaltige in der begrifflichen Einheit gewissermaßen untertaucht. Heidegger bezeichnet seine Deutung von Synthesis als Verflechtung von Verborgenem und Unverborgenem als διαφερόμενον und er assoziert später diesen Terminus, wie bereits erwähnt wurde, auch mit Heigels Negativitätskonzeption (vgl. GA 14, 58).
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Wie im Folgenden erläutert wird, betrifft der Kreuzweg von Endlichkeit und Unendlichkeit den Stellenwert des Begriffs im λόγος. Die Unendlichkeit des Begriffs besteht nicht so sehr in der Unhintergehbarkeit des logisch-sprachlichen Raumes, sondern vielmehr in der im Begreifen implizierten Aufhebung, die Heidegger in der zitierten Passage als „Absolvenz“ bezeichnet.²¹ Es geht somit nicht nur darum, dass für Hegel „jedes Seiende in sich, im Wesen seines Seins, ‚Begriff‘“ ist und dass die Einheit von Begriff und Wirklichkeit „die Grundthese des absoluten Idealismus“ (GA 28, 213) ist, so Heidegger in der Vorlesung über Den Deutschen Idealismus (1929).Vielmehr hinterfragt Heidegger die These, dass der Begriff dank der Kraft, das Einzelne und das Endliche durch allgemeine Bestimmungen zu erfassen, selbst unendlich erscheint – dass die Betrachtung des Endlichen in seiner begrifflichen Allgemeinheit der Endlichkeit entgeht. Vor diesem Hintergrund ist Heideggers früher Impetus zu verstehen, die Endlichkeit des Begriffs hervorzuheben. Es soll gezeigt werden, „daß nicht der Begriff ‚die Macht der Zeit‘ (Enzykl., §258) ist, sondern die Zeit die Macht des Begriffs“ (GA 32, 144). Wird die endliche Zeit als solche begriffen, so wird die Zeit dabei unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit betrachtet. Trotz ihrer grundsätzlichen Endlichkeit ist die begriffene Zeit eine unendliche Bestimmung und der Begriff der Zeit scheint über die wesentliche Vergänglichkeit der Zeit hinauszugehen. Im Gegenzug bedeutet die Vorrangstellung der Zeit gegenüber dem Begriff zugleich die Vorrangigkeit der Endlichkeit vor jeder Art von Unendlichkeit.²² In seiner Vorlesung über Den Deutschen Idealismus (1929) formuliert Heidegger seinen Grundeinwand gegen das idealistische Programm: „Der Endlichkeit Herr werden, sie zum Verschwinden bringen, statt umgekehrt sie auszuarbeiten“ (GA 28, 47). Wenn Hegel sich vornimmt, „alle Endlichkeit und schlechte Unendlichkeit […] zu ü berwinden!“ (GA 28, 47), dann dient die „wahre Unendlichkeit“ dem „einzigen und eigentlichen Interesse der Vernunft“, nämlich der „Aufhebung der Gegensä tze (absolutes Subjekt – absolutes Objekt; Intelligenz – Natur)“ (GA 28, 198). Insofern die Vernunft die Gegensätze überwindet, entgeht ihr aber gerade das, was sie in der Aufhebung bewahren soll – das Endliche als solches. Der Begriff bringt das, was zuerst als zerrissen, negativ und endlich erscheint, unter eine einheitliche, positive und unendliche Bestimmung. Daher gehört laut Heidegger selbst die von Hegel angesprochene „absolute Unruhe“ des Geistes in eine Ruhe hinein, in der „nichts mehr ‚passieren‘ kann“ (GA 32, 33).
Heideggers Deutung der Aufhebung als Absolvenz wird nachfolgend erläutert. Vgl. insbesondere Kap. I.1.D: „Begreifen und Aufheben“. Karin de Boer (2000) interpretiert Heideggers gesamte Auseinandersetzung mit Hegel im Lichte des Verhältnisses zwischen Zeit und Begriff.
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Trotzdem genügt es nicht, Hegels Begriffsphilosophie schlichtweg das Faktum einer unhintergehbaren Endlichkeit entgegenzustellen. Heidegger bemerkt dahingehend, dass die hier zu denkende Endlichkeit auf keinen Fall geeignet erfasst wird, „wenn wir uns nur als endlich zugestehen, wozu Motive und Veranlassungen genug sich aufdrängen“ (GA 28, 232). Die Auseinandersetzung mit Hegel sei deswegen die strengste […], wo es doch leicht und bequem scheinen könnte, gegen das Absolute nun eben die offenbare Endlichkeit unserer selbst auszuspielen. Denn jeder sagt doch, unser Wissen sei Stückwerk. Wir dürfen Hegel nicht für so borniert halten und meinen, daß er das nicht auch gewußt hätte (GA 28, 209).
Gemeinhin wird Hegels absoluter Idealismus als bare Gleichsetzung von Idee und Wirklichkeit gedeutet, was eine leichte Angriffsfläche für die Hegel-Kritik bietet, besonders wenn diese Termini in ihrem alltäglichen Sinne genommen werden. Heidegger warnt vor dieser Vereinfachung: „Hier ist nun die Klippe des Verständnisses. Nimmt man den Sachverhalt so, dann bleiben die alten Begriffe der Wirklichkeit und der Idee stehen; beide werden nur dinglich zusammengeschoben“ (GA 28, 230).Wollte man das von Hegel Intendierte wahrhaft nachvollziehen, so müssten die betreffenden Termini – die Idee und die Wirklichkeit – vom gewöhnlichen Verstand befreit werden. Trotz dieses Ansinnens, Hegels Denken gerecht zu werden, vertritt Heideggers eigene Lesart der Phänomenologie des Geistes, die er vorerst in seinen Vorlesungen zwischen 1928 und 1930 entwirft und in Hegels Begriff der Erfahrung (1942/43) herausarbeitet, einen reduktiven Ansatz. Heidegger sieht Hegels Philosophie als Gipfel des modernen kartesischen Paradigmas der Selbstgewissheit und das dialektische Vorgehen der Phänomenologie als eine Bewegung auf eine Absolution hin. Das Absolute deutet Heidegger als „losgelöst […] von jeder Beziehung auf solches, was es selbst nicht ist“ (GA 28, 208). Die Absolvenz besteht ihrerseits in der „Überwindung der Entzweiung und Zerrissenheit des Bewußtseins“ (GA 32, 107). Das natürliche Bewusstsein wird absolut, insofern es sich seiner inhärenten Entzweiung zur Gegenständlichkeit bewusst wird, sich aus der gegenständlichen Relation loslöst und über sich selbst Gewissheit erhält (vgl. GA 5, 136). Durch die Einordnung des hegelschen Denkens in die Rubrik des modernen, subjektiv-kartesischen Idealismus scheint Heidegger einer gründlichen Auseinandersetzung mit Hegel zu entgehen, obwohl er 1938 Hegels Philosophie beschreibt „als die einzigartige und noch nicht begriffene Forderung einer Auseinandersetzung mit ihr – für jegliches Denken, das nach ihr kommt oder auch nur erst die Philosophie wieder vorbereiten will“ (GA 68, 3). Das Einzigartige der Philosophie Hegels bestehe darin, dass es „über sie hinaus einen höheren
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Standpunkt des Selbstbewußtseins des Geistes nicht mehr gibt“ (GA 68, 4). Wenn die hegelsche Dialektik nicht nur die vergangenen, sondern auch die künftigen Entwicklungen der Philosophie in sich einschließt, dann ist ein übergeordneter Standpunkt „endgültig unmöglich“, so Heidegger. Deshalb muss der Standpunkt der Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie in ihr selbst liegen – „jedoch als der ihr selbst wesensmäßig unzugängliche und gleichgültige Grund verborgen“ (GA 68, 4). Dieser „ursprüngliche Standpunkt“ der Auseinandersetzung, der zugleich die „Grundbestimmung“ der hegelschen Philosophie ausmacht, ist Heidegger zufolge die „Negativität“ (GA 68, 6). Heideggers explizite Beschäftigung mit der hegelschen Negativität datiert jedoch nicht nur auf die Beiträge zur Philosophie (1936 – 38), sondern erste Ansätze finden sich auch bereits in seiner Jugend. So schreibt er 1925 in einem Brief an Jaspers, dass ihm die Verschiedenheit zwischen Sein und Nichts am Anfang der hegelschen Logik „ein großer Haken“ ist (Heidegger/Jaspers 1990, 57). Wie aus der Identität zwischen Sein und Nichts das Werden entspringen soll, scheint ihm „völlig dunkel“ zu sein (Heidegger/Jaspers, 57). In einem weiteren Brief behauptet Heidegger, dass er auf Jaspers’ Rat hin Hegels Logik nun vom Werden her versteht: Das Werden ist die „Aufgehobenheit der Unterschiedenen“ und repräsentiere „das erste Gedachte“ Hegels (Heidegger/ Jaspers, 58). Dennoch erklärt der Begriff des Werdens immer noch nicht, „daß Sein und Nichts das Werden konstituieren“ (Heidegger/Jaspers, 59). In dieser Verlegenheit liege seiner Ansicht nach der Beweis – daß Hegel von Anfang an Leben – Existenz – Prozeß und dergleichen kategorial verfehlt hat. D. h. er sah nicht, daß der überlieferte Kategorienbestand der Ding- und Weltlogik grundsätzlich nicht zureicht – und daß radikaler gefragt werden muß nicht nur nach Werden und Bewegung, Geschehen und Geschichte – sondern nach dem Sein selbst (Heidegger/Jaspers, 59).
Diese Textstelle bekräftigt die Tatsache, dass Heideggers Auseinandersetzung mit Hegel vom eigenen Projekt motiviert ist, den lebendigen, prozessualen, endlichen Charakter der Konstitution menschlicher Existenz kategorial adäquat zu beschreiben und dafür eine entsprechende Begrifflichkeit zu entwickeln, die er in einer frühen Aristoteles-Vorlesung (1921/22) als Kategorien des Lebens bezeichnet.²³ Vor diesem Hintergrund hat Heideggers Auseinandersetzung mit Hegel, wie Dieser Kritikpunkt an Hegel ist insbesondere deshalb so interessant, weil er in ähnlicher Manier von Hegel selbst gegen Kant erhoben wurde: Im Geist des Christentums (1798 – 1800) artikuliert der junge Hegel eine Kritik an den kantischen Kategorien und an deren Unzulänglichkeit, die Lebendigkeit und die Geschichtlichkeit des konkreten sittlichen Lebens zu artikulieren. Auf diese Kritik an Kant geht ein späteres Kapitel der Arbeit ein, insofern sie geradezu den Aus-
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diese einführende und skizzenhafte Genealogie vorerst gezeigt haben soll, zwei Hauptthemen zum Gegenstand: einerseits den Stellenwert und die Natur der Begrifflichkeit, die die Konstitution der Bedeutsamkeit menschlicher Welt artikulieren soll, und andererseits den Stellenwert des Nichts und der Endlichkeit in dieser Konstitution. Innerhalb dieser Auseinandersetzung hängt das Motiv des Nichts und des Negativen mit der Frage nach der Natur des Begrifflich wesentlich zusammen, wie die weiteren Erläuterungen verdeutlichen sollen. Erstens sieht sich Heidegger, angesichts seines Projektes, „das Seyn als das Nichts zu setzen“ (GA 65, 286),²⁴ zu der Frage genötigt, wie seine Konzeption des Zusammenhanges von Nichts und Sein sich zur Negativitätskonzeption Hegels verhält.²⁵ Andererseits wendet Heidegger – besonders im Anschluss an die Beiträge (1936 – 38) – gegen Hegels Konzeption des Nichts ein, dass sie das Nichts nur von der prädikativen Negation her und deshalb nur innerhalb der Gedachtheit bzw. eines subjektiv verfassten λόγος betrachtet. Der Mangel der hegelschen Konzeption liege somit nicht darin, dass die Negativität die Grundstruktur des λόγος bzw. die Konstitution des Begrifflichen ausmacht, sondern umgekehrt darin, dass die Negativität innerhalb des logischen Bereiches verortet wird und als Verhältnis logischer Bestimmungen zu einander konzipiert wird.
B Wirklichkeit und Gedachtheit Der erste Teil der zwischen 1938 und 1942 geschriebenen Aufzeichnungen zu Hegel trägt den Titel: Die Negativität. Eine Auseinandersetzung mit Hegel aus dem Ansatz in der Negativität. Heidegger hat diese Notizen niemals in einem veröf-
gangspunkt unserer Betrachtung der hegelschen Philosophie ausmachen wird (vgl. Kap. VI: „Die Bedeutung der Vernunftbegriffe“). Zum Begriff des Nichts in den Beiträgen zur Philosophie vgl. Kap. IV.2.C: „Das Nichts und die Sinnentstehung“. Die Zentralstellung des Nichts in Heideggers eigener Philosophie ist bereits in Sein und Zeit (1927) manifest: Das Dasein wird dort als „nichtiges Grundsein einer Nichtigkeit“ beschrieben (SZ, 285). Vgl. Kap. II.5: „Nichtigkeit, Möglichkeit, Sinnkonstitution“. Giogio Agamben (2007) ist diesem Vergleich auf die Spur gegangen. Agamben geht von der sinnlichen Gewissheit in Hegels Phänomenologie und Heideggers Konzeption des Da aus und betrachtet das Demonstrativpronomen als paradigmatischen Ort der Negativität: Im „Da“ und im „Dieses“ werde ein Nichtsprachliches ausgesprochen. Agamben überträgt die Dialektik des Demonstrativpronomens auf die menschliche Sprache in ihrem Verhältnis zum Tod – ein Verhältnis, das bei Hegel und Heidegger ein Entstehungsnarrativ des Geistes repräsentiere.
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fentlichen oder vorgetragenen Aufsatz ausformuliert.²⁶ In diesen Aufzeichnungen konzentriert Heidegger die Grundmotive seiner Hegel-Interpretation und konturiert zugleich die entscheidende Differenz seines eigenen Denkens zu Hegel. Zudem prägt diese Abgrenzung die Entwicklung des heideggerschen Werkes ab 1940 maßgeblich. In seiner Interpretation der hegelschen Philosophie geht Heidegger von der Annahme aus, dass die Philosophie sich als Philosophie dadurch auszeichnet, dass sie die Frage nach dem Sein stellt. Heidegger macht diesbezüglich ein paar terminologische Unterscheidungen: Was er als „Sein“ bezeichnet, heißt bei Hegel „Wirklichkeit“. Was Hegel seinerseits unter „Sein“ versteht, nennt er „Gegenständlichkeit“ (GA 68, 10). Die Art und Weise, in der Hegel die Frage nach dem Sein behandelt, drückt sich folglich in seinem Begriff der Wirklichkeit aus. Die Wirklichkeit bedeute für Hegel: Seiendheit als Vorgestelltheit der absoluten Vernunft. Vernunft als absolutes Wissen – unbedingt sich vor-stellendes Vor-stellen und dessen Vorgestelltheit (GA 68, 10).
In dieser komprimierten Formel liegt eine Grundentscheidung der heideggerschen Lesart: Das, was als Seiendes ist, ist nicht nur das, was vorgestellt wird, sondern vielmehr diejenige Vorstellung, die als solche – als Vorstellung – im Vorstellen gewusst wird. Das Wissen um die Vorstellung als solche – d. h. als eine vom Vorgestellten immanent unterschiedene Vorstellung – repräsentiert einen Maßstab der Objektivität bzw. der ontologischen Geltung des Vorgestellten. Die inhärente Reflexion der Vorstellung verleiht dem Seienden Objektivität – selbst dann und besonders dann, wenn die Reflexion um die inhärente Spannung der Vorstellung – bzw. um die Spannung zwischen dem Vorgestellten und der Vorstellung – weiß. Demzufolge bedeutet das Sein bei Hegel „Vorgestelltheit des unbedingt sich vorstellenden Vorstellens (des Denkens) – die Vernommenheit der Vernunft“ (GA 68, 11). Heideggers Deutung reformuliert gewissermaßen die Pointe der kantischen transzendentalen Apperzeption: Der Selbstbezug des Bewusstsein ist kein zusätzlicher Akt eines Bewusstseins von etwas, sondern für dieses Bewusstseins selbst wesentlich konstitutiv. Die Selbstapperzeption ist Konstitutivum jeder bewussten Bezugnahme. Es geht somit nicht so sehr darum, dass der Zugang zum Seienden durch den Akt des Vorstellens gewährleistet wird, sondern vielmehr, dass das Seiende zum Seienden wird, insofern es als Vorgestelltes in der Vor-
Nur der zweite Teil des Bandes – „Erläuterung der ‚Einleitung‘ zu Hegels Phänomenologie des Geistes“ – enthält vorbereitende Skizzen für den Aufsatz Hegels Begriff der Erfahrung (1942) (GA 5, 115 – 208).
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stellung erfasst wird. In diesem Sinne ist das Sein selbst – das, was das Seiende als seiend ausmacht – die unbedingte Subjektivität. Der Begriff des Absoluten bedeutet laut Heidegger nichts anderes als „Unbedingtheit des ego cogito certum“ (GA 68, 13). Heideggers Schilderung porträtiert Hegel als direkten Nachfolger von Descartes.²⁷ Wenn Hegels übergreifendes Projekt darin besteht, die Substanz als Subjekt und das Sein als Werden zu erfassen, dann bedeutet das Werden dabei, so Heidegger, „das sich vor-stellende Vor-stellen, Sich-zum-Erscheinen-Bringen“ (GA 68, 12).Wenn etwas wird, insofern es zu sich selbst kommt, dann kommt es zu sich selbst, insofern es begriffen wird. Das Werden ist somit das Zu-sich-selbst-Kommen im absoluten Wissen. Das absolute Wissen nennt kein allmächtiges Wissen, sondern der Ausdruck verweist auf die Tatsache, so Heidegger, dass es Seiendes nur dann gibt, wenn es auf die eine oder andere Weise gewußt ist: „Im Sichdenken allein vermag es zu ‚sein’“ (GA 68, 16). Diese Auslegung, die selbstverständlich Hegel karikiert, dient vor allem Heideggers Projekt der „Seinsgeschichte“, das er in seiner mittleren Schaffensphase entwickelt (vgl. Kap. IV.1.B: „Das Projekt der Seinsgeschichte“). Unter „Seinsgeschichte“ versteht Heidegger die Entwicklung der Grundbedeutung von Sein im Laufe der „abendländischen“ Geschichte, welche auf das griechische Grundverständnis des Seins als Anwesen (φύσις) und des Denkens als Vernehmen (νοῦς) zurückgeht und im modernen technischen Paradigma der selbstsetzenden Subjektivität und der auf Messbarkeit und Auswertbarkeit reduzierten Gegenständlichkeit gipfelt.²⁸ Abgesehen von diesem geschichtsphilosophischen Interesse Heideggers soll aber die Relevanz, die seine Hegel-Interpretation für die Auseinandersetzung um die Bedeutung der Negativität hat, verdeutlicht werden. Diesbezüglich vertritt Heidegger die These, dass Hegel die Negativität lediglich „als Unterschied des Bewußtseins“ begreift (GA 68, 13). Dies liegt daran, dass Hegel die Problematik des Nichts nur im Zusammenhang mit einem „eingeschränkt gefaßten ‚Sein‘“ – bzw. Sein als Subjektivität – und nicht mit dem „wesentlichen Begriff des Seins“ zusammendenken kann (GA 68, 11– 12). Die Negativität vom Standpunkt der Subjektivität her zu denken, bedeutet, so Heidegger, sie im Ausgang von der Kategorie der Andersheit zu erfassen. So sei die
Angesichts dieser Deutung erinnert Gadamer daran, dass Heidegger bereits zu seinen Lebzeiten wiederholt gefragt wurde, „wie er seine überzeugende Kritik am Bewußtseinsidealismus, die mit der Sein und Zeit Epoche gemacht hatte, auch noch gegen Hegels Philosophie des Geistes durchhalten wolle“ (Gadamer 1971a, 90). Otto Pöggeler (1992) hat darauf verwiesen, dass Heideggers Hegel-Lesart vorwiegend im Kontext seiner Technik-Kritik zu verorten ist.
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Negativität hegelscher Prägung nur „in der Gestalt des Andersseins“ zu verdeutlichen (GA 68, 13). Das Anderssein repräsentiert dabei eine im Denken mitinbegriffene Andersheit bzw. eine immanente Differenz im Bewusstsein. Deshalb habe der Begriff der Negativität im Rahmen des absoluten Idealismus nur die folgende Tragweite: Wie von hier aus die völlige Auflösung der Negativität in die Positivität des Absoluten zu ersehen ist. Die ‚Negativität‘ ist die ‚Energie‘ des unbedingten Denkens, weil sie von Anfang an alles Negative, Nichthafte schon drangegeben hat. Die Frage nach dem Ursprung der ‚Negativität‘ ist ohne Sinn und Grund. Die Negativität ist das Fraglose: Negativität als Wesen der Subjektivität. Die Negativität als die Verneinung der Verneinung gründet im Ja zum unbedingten Selbstbewußtsein – der absoluten Gewißtheit als der ‚Wahrheit‘ (d. h. Seiendheit des Seienden) (GA 68, 14).
Heidegger suggeriert an dieser Stelle, dass das Negative bei Hegel nicht nur allein im Denken verortet, sondern vielmehr um des Denkens willen begriffen wird.Was hat es aber mit dem Verweis auf die Positivität und Energie des Denkens auf sich? Heideggers Vorbehalt bezieht sich auf den Verlust des negativen Charakters des Negativen durch die Hineinannahme desselben in das Denken. Der Gedankengang dahinter lautet: Wenn das Negative einen inhärenten Unterschied im Bewusstsein bezeichnet, dann führt die Anerkennung des Zwiespaltes des Bewusstseins zu einer Selbstgewisserung des Selbstbewusstseins. Mit anderen Worten, die Anerkennung des Zwiespaltes des Bewusstseins ermöglicht es der Subjektivität, sich darin zu erhalten und zu bewähren. Aber der Preis für diese Positivität und Selbstgewissheit des Denkens ist die Aufgabe der dafür konstitutiven Einsicht in das Negative. Die reflexive, begriffliche Bewältigung des Negativen neutralisiert somit das Negative, so Heideggers Kritikpunkt. Heidegger verbindet die Bedeutung des Negativen als eines immanenten Unterschieds im Bewusstsein mit der Verfehlung der ontologischen Differenz, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird (I.1.C). Anschließend wird das Kernproblem näher ausgeführt, das die Art und Weise betrifft, in der das Begreifen des Negativen dasselbe produktiv umzuwandeln vermag (I.1.D).
C Das Sein, das Nichts und die ontologische Differenz Heidegger ist der Ansicht, dass Hegels Begriff des Nichts eine „Absage“ an den Unterschied von Sein und Seienden enthält (GA 68, 14). Die am Anfang der Wissenschaft der Logik (1812) aufgestellte Identität zwischen Sein und Nichts soll die Verfehlung dieses Unterschiedes belegen. Wenn Hegel dort das Nichts (als reine Bestimmungslosigkeit) mit dem Sein (als unbestimmte Unmittelbarkeit) identifi-
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ziert, dann verfehlt er laut Heidegger im Ergebnis den abgründigen Unterschied sowohl des Nichts als auch des Seins zum Denken, weil er sowohl das Sein als auch das Nichts vom bestimmenden Denken her begreift. Das Übersehen der ontologischen Differenz gehe somit auf „eine wesensmäßige Voraussetzung der möglichen Ab-solutheit des unbedingten Denkens“ zurück (GA 68, 14). Wenn die Unbedingtheit des Denkens an einem bestimmten Verständnis des Nichts liegt, so Heidegger, dann wird der Vorrang des Denkens erst dann in Frage gestellt, wenn das Nichts in seiner radikalen Verschiedenheit im Verhältnis zum Denken gedacht wird. Diese Argumentation Heideggers soll kurz erläutert werden. Das Nichts bedeutet für Hegel „die bloße Unbestimmtheit und Unvermitteltheit – die Gedankenlosigkeit als solche“ (GA 68, 16). Diesen Sinn des Nichts entnimmt Heidegger dem Anfang der Logik: Das reine Nichts liegt dort im „Un-“ der Unbestimmtheit des Seins. Das Nichts gehört in das Sein hinein, und zwar als dessen Negation bzw. als dessen noch nicht entfaltete Bestimmungen, wie es sich weiter in der Logik erweist. Das Nichts und das Sein sind nicht nur in ihrer anfänglichen Unbestimmtheit identisch, sondern gehören auch in der Entwicklung der Logik zusammen, und zwar in der Form des Verhältnisses einer Bestimmung zu ihrer anderen, scheinbar negierenden Bestimmung. Aufgrund dieser Verflechtung fehlt aber der tatsächliche Unterschied zwischen Sein und Nichts, so Heidegger: Das „Un“ wird nicht radikal genug gedacht. Heidegger schlussfolgert, dass die Negativität bei Hegel „gerade nicht aus dem Nichts und dessen Selbigkeit mit dem ‚Sein‘ zu begreifen“ ist, weil es darin keinen Unterschied gibt (GA 68, 19). Hingegen sei Hegels Begriff der Negativität im Zusammenhang mit der Kategorie der Differenz zu verstehen. Der Begriff des Andersseins bestimmt den eigentlichen Sinn des Negativen bei Hegel. Das wechselseitige Verhältnis zwischen der Kategorie des Einen und der Kategorie des Anderen konstituiert die Kategorie des inhärenten Unterschiedes: Durch das Verhältnis des Einen auf ein Anderes wird das Eine selbst zum Anderen des Anderen. Dadurch verhält es „sich zu sich selbst im Unterschied“ (GA 68, 18). Das Eine bestimmt sich als Eines dadurch, dass es das Anderssein des Anderen ist. Die inhärente Unterscheidung des Einen ist Heideggers Ansicht nach der Ursprung der hegelschen Auffassung der Negativität, welche eine selbständige logische Struktur bezeichnet, die von den beiden Polen der Relation losgelöst ist und diese erst „in ihre Wechselbeziehung bindet“ (GA 86, 18).²⁹ Diese logische Struktur wird ferner mit der inhärenten Unterschei-
Wenn die Negativität bei Hegel absolute Andersheit bedeutet, nämlich „das unbedingte Sichauf-sich-selbst-Beziehen“, dann ist diese Struktur laut Heidegger von den Relata des Verhältnisses unabhängig (GA 68, 19).
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dungsstruktur des Selbstbewusstseins identifiziert, woraus Heidegger die Konsequenz zieht, dass Hegel die Radikalität der ontologischen Differenz nicht begreifen kann, weil er zwar den Unterschied zwischen dem Seienden – als dem Bestimmten und Vermittelten – und dem Sein (oder dem Nichts) – als dem Unbestimmtem und „Un-vermittelbaren“ – kennt (GA 68, 19), die Unterscheidung von Nichts und Sein aber nicht begründen kann (GA 68, 20). Diese Überlegungen beruhen auf Heideggers Annahme, dass die ontologische Differenz nicht in der Gegenüberstellung vom unbestimmten Sein und dem bestimmbaren Seienden liegt, sondern in der Differenzierung des ganzen Bereichs des Seins vom Nichts. Damit wird erst deutlich, so Heideggers Gedanke, inwiefern das Sein als Erschließungshorizont des Seienden unter der Botmäßigkeit des Nichts steht. Dies bedeutet weiterhin, dass das Sein auch Nichts hätte sein können – darin liegt seine Endlichkeit. Und Heidegger mobilisiert diese Konzeption des Nichts gegen die Zentralität des Denkens und in eins damit gegen die Vermitteltheit des Anfangs in der hegelschen Logik. Seiner Lesart zufolge besteht die Unbedingtheit des Denkens darin, dass das Sein in den Koordinaten der Vermittelbarkeit aufgefasst wird: „Der Gesichtskreis der Seinsauslegung ist das Bestimmen und die Vermittlung, genauer das Bestimmen als Vermitteln, d. h. das Denken im Sinne des unbedingten Denkens“ (GA 68, 30). Das Nichts gegen das bestimmende Denken auszuspielen, bedeutet, das Paradigma der Bestimmbarkeit selbst in Frage zu stellen. Im absoluten Idealismus wird „das Vernehmen (νοῦς) zum Denken (λόγος – ratio, Vernunft)“ und das Sein zu dem, was allein im bestimmenden Denken erschlossen werden kann (GA 68, 40). Aus dieser „Fraglosigkeit des Denkens als des Grundvermögens des Menschen“ folgt laut Heidegger die Fraglosigkeit der Negativität, d. h. das Übersehen des radikalen Unterschieds des Nichts (GA 68, 39). Mit dieser Berufung auf die Radikalität des Nichts zielt Heideggers darauf, dass, obwohl das unbedingte Denken die ontologische Differenz ablehnt, das begriffliche Denken doch darauf angewiesen ist. Das zu Denkende ist ein Anderes als das Gedachte, selbst wenn es allein im Gedachten erschlossen ist. Wenn das Denken diesen Sachverhalt annimmt, dann muss es „ein be-dingtes werden […], bedingt durch das ‚Ding‘, das da heißt: das Seiende im Ganzen“ (GA 68, 20). Mit der Absage an die ontologische Differenz übersieht demnach der absolute Idealismus einen vor-konstitutiven Horizont, der der logischen Konstitution des Seins vorangeht und auf welchen das begriffliche Denken sich jeweils immer schon bezieht. Dieser Horizont darf jedoch nicht als vorliegende Gegenständlichkeit verstanden werden, als ob das Verhältnis des Denkens zum Sein ein Verhältnis des Wahrnehmenden zum Wahrgenommenen wäre. Das Nichts, das Heidegger anspricht, ist nicht das Ding an sich im Sinne einer möglichen, menschlich uner-
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kennbaren Konstitution der Realität im Kontrast zur Gegenstandswelt, die der Mensch anschaulich und begrifflich erkennt. Deshalb betont Heidegger, dass das Nichts nicht eine Negation des Seienden – „das Nicht des Seienden“ – ist, sondern ein „Nichts des Seins – das ursprüngliche Nichts“ (GA 68, 29). Das von Heidegger anvisierte Nichts ist so eine Metapher für die Quelle der Konstitution des Sinns – was er „Sein“ nennt und was den Horizont, in dem das Denken sich bewegt, vorbestimmt. Im Zusammenhang behauptet Heidegger, dass die „einzige Frage“, die niemals gefragt wird und uns aus dem vertrauten Aufenthalt in der Welt herausreißen soll, die Frage nach dem abgründigen Ursprung des Seins ist – oder, wie wir es übersetzen wollen, des Sinngeschehens selbst: „Woraus, wenn niemals aus dem Seienden, jemals das Sein seine Wahrheit habe und worein diese zu gründen sei“ (GA 68, 41). Die Lichtung bzw. die Erschlossenheit der Welt soll daher „als Ab-grund“ erfahren werden – als „das Nichts, das nicht nichtig, sondern das eigentliche Schwergewicht, das Seyn selbst“ ist (GA 68, 15). Und vor diesem Hintergrund fordert er einen „Sprung in das Ungegründete“ (GA 68, 41). Durch diese Formeln verweist Heidegger auf seine eigene Negativitätsauffassung, wodurch er versucht, den Zusammenhang zwischen dem Nichts und der Weltbedeutsamkeit, d. h. zwischen der abgründigen Herkunft des Als und der begrifflichen Als-Struktur anzusprechen. Wenn Heidegger das Verhältnis zwischen der Negativität und der ontologischen Differenz problematisiert, formuliert er in Klammern die Frage: „Wie [ist] der Zusammenhang mit dem ‚als‘ [zu verstehen]: etwas als seiend?“ (GA 68, 21). Der Ausdruck „etwas als seiend“ erschließt eine inhärente Spannung zwischen dem Ding, so wie es ist, und dem Ding, so wie es uns erscheint – zwischen Bedeutung und Sinn, zwischen Vorstellung und Vorgestelltem. Auf den ersten Blick liegt der negative Charakter des Als in diesem immanenten Unterschied des Gedachten. Das deutende Als muss aber nicht nur in seinem zwiespältigen Verhältnis zum Gedeuteten gedacht werden, wie Hegel es laut Heidegger tut, sondern auch im Hinblick auf die abgründige Dimension seiner Herkunft. Die Frage ist: Inwiefern hängt das „Nicht“ mit „Ich denke etwas“ zusammen? Wenn man dies derart versteht, dass es sich um eine Entzweiung zwischen dem Gedachten und dem (noch) nicht Gedachten, zwischen dem Gedanken des Denkenden und dem zu Denkenden handelt, dann werden die dabei Unterschiedenen immer schon mit Blick auf ihre Zusammengehörigkeit und somit auf ihre übergreifende Einheit hin gedacht (GA 68, 28 – 29). Wenn aber das Nicht des „Ich denke“ auf das Nichts der Herkunft des Als verweist, wenn das Nichts als „das abgründige Gegen zum Seyn, aber als dieses dessen Wesen“ gedeutet wird (GA 68, 15), dann wird der Unbedingtheit des Denkens ein Ansatz entgegengestellt, den Heidegger hier mit einem Stichwort benennt: „die Endlichkeit des Seins“ (GA 68, 15).
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Mit Heideggers Verständnis des Nichts wird sich diese Arbeit wiederholt auseinandersetzen und seine Tragweite an unterschiedlichen Stellen seines Werkes erläutern. ³⁰ An dieser Stelle soll zunächst die Operationsfigur behandelt werden, die Heidegger an Hegels Konzeption der Negativität am schärfsten kritisiert – die Aufhebung. In den Aufzeichnungen zur Negativität (1938 – 1941) geht Heidegger auf diese Operationsfigur unter Bezugnahme auf die Thematik des Todes ein. Für Hegel bedeutet der Bezug des menschlichen Daseins zum Nichts „nichts anderes als den Tod ertragen und austragen“ (GA 68, 24). Hegel könne mit dem Tod „gar nie ernst werden“, so eine bereits zitierte Stelle, weil „kein Sturz und Umsturz möglich“, sondern alles „aufgefangen und ausgeglichen“ ist (GA 68, 24). Das hegelsche Denken kann die Negativität „doch im Grunde nicht ernst nehmen. Die Los-lösung als Behalten, der vollständige Ausgleich in Allem. – Das Nichts gibt es gar nicht“ (GA 68, 24). Dieser Kritikpunkt Heideggers betrifft das Verwandlungspotenzial des Begriffs in Bezug auf das Negative. Die zitierte Formel „Loslösung als Behalten“ drückt den zwiespältigen Charakter der Aufhebung aus, Überwindung (elevare) und Aufbewahrung (conservare) in einem zu sein. Das Spezifikum des Begriffs der Aufhebung liegt darin, dass der Preis der Selbsterhaltung durch Überwindung und Aufbewahrung die Vertilgung (tollere) ist. Dass das Negative zugunsten der Herausbildung des Geistes aufgehoben wird, bedeutet somit, dass es – das ins Leben verwandelte Negative – seinen negativen Charakter verliert. Diese Kritik, welche die aufhebende Kraft des hegelschen Begriffs zum Gegenstand hat, erläutert Heidegger in seiner Interpretation der Phänomenologie des Geistes, die der folgende Abschnitt zusammenfasst.
D Begreifen und Aufheben Heideggers Kritik an Hegels Konzeption der Negativität richtet sich in der Hauptsache gegen das Philosophem der Aufhebung. Seine Interpretation des hegelschen Negativitätsbegriff, die er zwischen 1938 und 1941 entwickelt, wird im Satz zusammengefasst: „Das absolute Wissen ist absolutes Sicherhalten in der Zerrissenheit, das ist ‚Leben’, Negativität ist daher zugleich Aufhebung“ (GA 68, 28). Inwiefern kann somit der hegelsche Negativitätsbegriff durch den Begriff der Aufhebung verdeutlicht werden? Diese Frage lässt sich durch eine weitere umformulieren und erklären: Inwiefern impliziert die Anerkennung der Zerrissenheit
Vgl. Kap. I.2.C: „Ding und Welt“; Kap. II.5.C: „Das Nichts als Konstitutionsgrund“; Kap. IV.2.C: „Das Nichts und die Sinnentstehung“.
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als inhärenter Struktur des Bewusstseins zugleich die Aufhebung derselben – die Loslösung und die Befreiung vom Zwiespalt? Heideggers Argumentation kann in aller Kürze wie folgt zusammengefasst werden: Wenn der Geist seine inhärente Negativität begreift, dann wird er gerade durch das Begreifen der Zerrissenheit von dieser nicht mehr getroffen, sondern davon absolviert. Das Wissen, das um seine eigene Dürftigkeit weiß, ist bereits dadurch darüber hinausgegangen. Insofern es die eigene Endlichkeit erfährt und durcharbeitet, wird das Wissen davon losgelöst – es wird absolut. Die Aufhebung bezieht sich auf das Andere des Bewusstseins, das sich als ein immanenter Unterschied im Bewusstsein erweist. Das Andere der Vorstellung bzw. der Gegenstand der Vorstellung (das cogitatum der cogitatio) und die Verdoppelung des Bewusstseins im Sich-Vorstellen (ego cogito me cogitare) bezeugen die inhärente Unterscheidung im vorstellenden Subjekt. Die Anerkennung der Immanenz dieses Unterschiedes führt aber, so Heideggers Deutung, zu einer „Aneignung des Wißbaren“ und zur Aufhebung der Andersheit (GA 68, 26). Anzuerkennen, dass die Andersheit zur eigenen Identität gehört, bedeutet, dass man das Andere auf das schon Vertraute zurückführt, es in die Sphäre des bereits Bekannten hereinbringt und dadurch in seiner radikalen Andersheit verharmlost. Die Aneignung des Negativen geht somit mit dem Verlust dessen einher, was angeeignet wird. In den Aufzeichnungen über Hegel (1938 – 1942) schreibt Heidegger dazu: „Dieser Unterschied ist absolute Negativität, sofern er das Unterschiedene als das Andere in seiner Zugehörigkeit zum Einen gerade bejaht und so das Eine selbst erst zum Anderen macht“ (GA 68, 26).³¹ Dieser Kritikpunkt ist das Leitmotiv der heideggerschen Interpretation der Phänomenologie des Geistes. Sie wird in der frühen Vorlesung (1930/31) über Hegels Hauptwerk vorbereitet und im Text Hegels Begriff der Erfahrung (1942) verstärkt. Seine Lesart greift die in der Dialektik involvierte Loslösung der Erkenntnis vom Gegenstandsbezug an. Die dialektische Methode hat laut Heidegger das Ziel, sich selbst durch die Darstellung der Wissensgestalten vom inhärenten Zwiespalt des erscheinenden Wissens loszulösen. Indem ein zwiespältig konsti-
Laut Karin de Boer manifestiert sich für Heidegger in der Gedankenfigur des Selbsterkennens des Geistes in seinem Anderssein die Herrschaft der Anwesenheit: Der Begriff verfehle durch die Forderung der Selbsttransparenz die Endlichkeit seines eigenen zeitlichen Horizontes: „When Hegel tries to sublate every opposition between subject and object, he does this by starting out from the idea that the ‘other’ or the ‘not’ which the subject encounters can be fully appropriated and overcome, at least when knowing itself raises itself to the standpoint of true science. Heidegger for this part tries to do justice to a ‘not’ that precisely demands to be admitted. (…) The ‘it’ that first grants thinking its thoughts and demands to be thought itself is not a result of the concept and therefore cannot be internalized by it“ (De Boer 2000, 244– 245).
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tuiertes Bewusstsein als solches erfahren wird, befreit sich die Artikulation des Zwiespaltes vom inhärenten Unterschied. Diese Befreiung oder Aufhebung findet sowohl auf jeder Stufe der Darstellung des natürlichen Bewusstseins als auch im Hinblick auf die ganze Struktur des zwiespältigen Bewusstseins statt. Heidegger nennt dieses „Sichloslösen von den Gegenständen“ Absolvenz und interpretiert das absolute Wissen als eine von jeder Relation vollständig losgelöste Selbstgewissheit (GA 5, 136). Die Phänomenologie des Geistes vertrete somit einen transzendenten Standpunkt, der den (transzendentalen) Korrelationismus aufhebt und so seine mannigfaltigen impliziten Spannungen herunterspielt. Ob diese Kritik an Hegels Projekt tatsächlich zutrifft, sei zunächst dahingestellt. Von Belang ist vorerst die Art und Weise, in der eine solche Überwindung des Korrelationismus und gleichzeitig damit der konstitutiven Negativität überhaupt denkbar sein könnte. Zu diesem Zweck wird im Folgenden der hermeneutische Leitfaden der heideggerschen Interpretation zusammengefasst: (1) Heidegger stützt seine Lesart auf einem Nebensatz aus Hegels Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, der beiläufig zu verstehen gibt, dass das Absolute schon bei uns sei. Die ganze Phrase Hegels lautet: „Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt näher gebracht werden, ohne etwas an ihm zu verändern, wie etwa durch die Leimrute der Vogel, so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten; denn eine List wäre in diesem Falle das Erkennen, da es durch sein vielfaches Bemühen ganz etwas anderes zu treiben sich die Miene gibt, als nur die unmittelbare und somit mühelose Beziehung hervorzubringen“ (GW 9, 53 – 54). Der Nebensatz steht im Kontext der Kritik Hegels an der Auffassung der Erkenntnis als eines Mittels zur Wahrheit – sei es als Werkzeug oder Medium. Dieses von Hegel kritisierte erkenntnistheoretische Paradigma postuliert einen unhintergehbaren Riss zwischen dem Erkennenden und dem zu Erkennenden. Das betreffende Paradigma ist ein radikaler Konstruktivismus, der zu einem allumfassenden Skeptizismus führt.Weil das Erkennen – das menschliche Mittel zur Wahrheit – als grundlegend subjektiv erfasst wird, kann das Objektive – das einzig Wahre – schlechthin nicht erkannt werden. Diese Unterscheidung repräsentiert für Hegel eine dem natürlichen Bewusstsein immanente Differenzierung und damit eine Bedingung für die selbstständige Prüfung der eigenen Wahrheitsansprüche. Der Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wahrheit, zwischen dem an sich gesetzten Gegenstand und dem für das Bewusstsein erscheinenden Wissen ist vom natürlichen Bewusstsein selbst gesetzt und dadurch dem einheitlichen Bereich der Erkenntnis und des Erkennbaren immanent. In dieser Hinsicht kann diese Unterscheidung als Instrumentarium der phänomenologischen Darstellung der Bewusstseinsgestalten dienen. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass Erkenntnisweisen und Wissensgestalten „subjektive“ Vermittlungen sind, nicht ein Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit,
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sondern gerade der Ort, an dem Wahrheit geschieht bzw. erst geschehen kann. Die zwiespältige Selbstbezüglichkeit des natürlichen Bewusstseins bzw. die Trennung von Wissen und Wahrheit ist gerade die Bedingung für die Überwindung dieser Trennung. Darin besteht die Präsenz des Absoluten „bei uns“: Der Zwiespalt des natürlichen Bewusstseins verbürgt die Möglichkeit der Loslösung von diesem inhärenten Zwiespalt. Indem das Bewusstsein wesentlich einen Begriff von sich selbst hat, d. h. indem cogito immer schon cogito me cogitare ist, ist die Struktur des Selbstbegreifens als Methode der phänomenologischen Darstellung bereits im natürlichen Bewusstsein angelegt. Das absolute Wissen ist von Anfang an in der Subjektivität als solcher verwurzelt. Dies gibt demnach Heidegger Anlass, von einer „Parusie des Absoluten“ in Hegels Ansatz zu sprechen (GA 5, 136). (2) Hegels Erfahrungsbegriff zielt auf die Darstellung des Transzendentalen – des jeweilig zugrundeliegenden Sinnhorizontes, der die Gegenstände in ihrer Bedeutungskonstellation erschließt. Die Definition der Erfahrung in der Phänomenologie des Geistes lautet bekanntermaßen: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als auch an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird“ (GW 9, 60). Der in der phänomenologischen Erfahrung neu entsprungene, wahre Gegenstand repräsentiert in Heideggers Lesart die „Seiendheit“ – das, was das Seiende zu einem solchen bestimmt. Sie bezieht sich, in Hegels Worten, auf die Wahrheit bzw. den Maßstab des Wissens im Kontrast zum unmittelbaren Wissen von Gegenstand. Die Erfahrung soll demnach den transzendentalen Grund des natürlichen Bewusstseins und des erscheinenden Wissens enthüllen und damit den Wahrheitshorizont thematisieren, der hinter der Bühne des Bewusstseins agiert. Kommt dadurch die Gegenständlichkeit, die einen Gegenstand als einen solchen erscheinen lässt, selbst zum Erscheinen, so ist das dabei Erfahrene das Als des Seienden als Seienden. Was dargestellt wird, ist, so Heidegger, „das Erscheinen als das Erscheinende, das ὄν ᾗ ὄν. Im Wort Erfahrung ist das ᾗ gedacht“ (GA 5, 180). Das Als selbst macht somit den Gegenstand der Wissenschaft der Erfahrung aus. (3) Heideggers Lesart verschiebt außerdem den Schwerpunkt der phänomenologischen Darstellung von dem inhaltlichen Als eines bestimmten Wissens auf die transzendentale Als-Struktur als solche. Erst diese macht die Wahrheit des Wissens aus und bestimmt das Wissen als Wissen. Die Wahrheit des Wissens erweist sich folglich als „das Erscheinen des erscheinenden Wissens“ (GA 5, 143). Auf dieses formale Als „läßt sich das natürliche Bewußtsein nicht ein, weil es nur das unmittelbar Vorgestellte, wenngleich nur mit Hilfe dieses ‚als‘ gelten läßt“ (GA 5, 174). Die formale Struktur des Als verweist indessen auf den konstitutiven Zwiespalt des Wissens, insofern der gewusste Gegenstand und das Wissen davon „im ‚als‘ entzweit“ sind (GA 5, 175). Das Als verkörpert die konstitutive Negativität
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des Bewusstseins. Heidegger deutet die Entzweiung des Als daher als eine formalreflexive Struktur aus: Die Unterscheidungsstruktur des Bewusstseins als solche ist der wahre Gehalt der phänomenologischen Erfahrung. Die phänomenologische Darstellung hat somit nicht so sehr den inhaltlichen Sinnhorizont, sondern die Form der zwiespältig konstituierten Als-Struktur zum Gegenstand. Heidegger spitzt seine Auslegung zu und behauptet, dass der in der Erfahrung neu entsprungene Gegenstand „nichts anderes als die Erfahrung selbst“ ist (GA 5, 185). Dadurch wird der reflexive und formal Charakter der phänomenologischen Perspektive verschärft und mit der Formel der „Negation der Negation“ gleichgesetzt: Die formal konzipierte Erfahrung der transzendentalen Als-Struktur verliert den Gegenstandsbezug und lässt die Unterschiede des Bewusstseins „nicht in ihr Eigenes aufkommen“ (GA 5, 175). Warum führt dennoch das Wissen über die AlsStruktur zur Aufhebung der Korrelation? Inwiefern ist die Erfahrung der strukturellen Negativität ein „absolventes Sicherscheinen“ (GA 5, 186)? (4) Heidegger identifiziert den hegelschen Begriff der Erfahrung gänzlich mit der philosophischen Betrachtung. Wenn das Bewusstsein einer „Umkehrung“ bedarf, die seinen transzendentalen Hintergrund aufdeckt, dann ist diese Umkehrung laut Heidegger allein die philosophische Zutat der Erfahrung. In der Einleitung der Phänomenologie behauptet Hegel lediglich, dass die Betrachtung der Umkehrung des Bewusstseins „unsere Zutat“ ist, wodurch die Erfahrungen des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Gegenstand werden (GW 9, 61). Heidegger unterstreicht, dass die Erfahrung dem natürlichen Bewusstsein nicht fremd, sondern in ihm angelegt ist, insofern das Bewusstsein immer schon „für sich selbst sein Begriff“ ist (GA 5, 34). Aber die Erfahrung als Darstellung seiner Wahrheit bzw. seiner Objektivitätsauffassung ist der thematische Vollzug des im Bewusstsein impliziten Selbstbegreifens. Deswegen ist die Umkehrung nicht nur der „Grundzug der Erfahrung“ (GA 5, 188), sondern auch „das Wesen des Menschseins“, so Heidegger in einem seiner Hegel-Seminare (1942) (GA 86, 382). Die philosophische Darstellung wird dadurch zum Ort der Verwirklichung der im Bewusstsein angelegten Struktur. Daraus ergibt sich ferner die Paradoxie, dass, insofern die formale Struktur des Bewusstseins für uns erscheint, der Zwiespalt der Selbstbezüglichkeit aufgelöst wird: Die Vervollkommnung des menschlichen Bewusstseins ist zugleich die Auflösung seines immanenten Zwiespaltes. Und insofern die philosophische Darstellung der Ort ist, an dem die zwiespältige Struktur des Bewusstseins einerseits dargelegt und andererseits aufgehoben wird, ist sie der Ort, an dem sich das Absolute vollzieht. (5) Heidegger interpretiert das Absolute von lat. absolvere her und damit als Loslösung. Das absolute Wissen, so sein Wesensmerkmal, „löst sich aus der Relation zu den Gegenständen los“ (GA 5, 136). Im Absoluten wird keine ausgezeichnete Wissensgestalt erreicht, sondern die Zwiespältigkeit des Wissens bis zu
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ihrer Auflösung hingetrieben. Das absolute Wissen, ohne einen besonderen Wissensinhalt zu haben, bezieht sich lediglich auf die formale Struktur des Wissens und befreit sich dadurch von seiner Zwiespältigkeit. Es geht um eine „Lossprechung“ vom erscheinenden Wissen und um eine Verabschiedung vom Gegenstandsbezug (GA 68, 83).³² Die als unbedingte Selbstgewissheit erfasste Wahrheit erweist sich schließlich als Entbindung von der traditionellen Auffassung der adaequatio rei et intellectus. Das Vorstellen befreit sich so von der „einseitigen Bindung an die Gegenstände“, und die Selbstgewissheit von jeder Korrelation überhaupt (GA 5, 136). (6) Durch die Lossprechung von der Korrelation löst sich das absolute Wissen von der Negativität los. Das Wissen um die Negativität als Struktur des Selbstbewusstseins führt zur Auflösung derselben. Diese Denkfigur kann als reflexive Aufhebung der Negativität bezeichnet werden. Heidegger zufolge zielt die hegelsche Dialektik auf die Absolution von der Trennung zwischen dem Erkennenden und dem zu Erkennenden, die für das endliche Wissen spezifisch ist. Die Flucht vor der Zwiespältigkeit der Korrelation führt aber zu einer rein formalen, leeren Selbstbezüglichkeit. Die Voraussetzung für dieses Projekt liegt, so Heideggers Gedanke, in der Verkennung der radikalen Differenz zwischen dem Erscheinen und der Erscheinung, welche letztlich nichts anderes ist als die Verkennung der ontologischen Differenz. Demnach besteht die Aufhebung – Heideggers Lesart nach – in der Loslösung vom Zwiespalt des Wissens, d. h. von der Spannung der Als-Struktur selbst. Die phänomenologische Erfahrung hat die transzendentale formale Struktur des Wissens selbst zu ihrem Inhalt. Dieser Blickpunkt ermöglicht die Befreiung der phänomenologischen Darstellung von der dem natürlichen Bewusstsein inhärenten Differenz. Das Sich-Begreifen der strukturellen Negativität ist ein SichBefreien von der Zwiespältigkeit des natürlichen Bewusstseins. Die Möglichkeitsbedingung der Erfahrung bzw. die Negativität als Zwiespalt des konstitutiven Als wird im absoluten Wissen aufgelöst. Das absolute Wissen ist daher in Heideggers Auslegung „die Arbeit des Sichbegreifens der unbedingten Selbstgewißheit“ (GA 5, 138). Hegel hat sich gegen eine solche Lesart seines Projektes ausgesprochen. Bereits in der Vorrede zur Phänomenologie wendet er sich gegen eine „Reflexion in das leere Ich“, die sich gegenüber dem Inhalt gleichgültig verhält (GW 9, 42). Hegel wendet gegen die formale Reflexion ein, dass sie „ihre Negativität selbst nicht
In den Notizen zu einem Hegel-Seminar von 1942 schreibt Heidegger: „Absolut – gelöst von der je einseitigen Bezogenheit, sei es die des Bewußtseins, sei es die des Selbstbewußtseins und der bloßen Reflexion“ (GA 86, 491).
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zum Inhalte gewinnt“ (GW 9, 42). In der Enzyklopädie (1930) wiederholt er seine Kritik an einer abstrakten und inhaltlosen Reflexion und betont im Rückblick auf die Phänomenologie des Geistes die Schlüsselstelle des Inhaltes (GW 20, 59). Das absolute Wissen ist keine Verabschiedung von der Korrelation des Wissens, sondern ein Ausdruck für die begriffliche Darstellung der jeweiligen Gestaltung der Korrelation im Lichte einer nichtdualistisch verfassten Welt (GW 9, 423). Das Resultat dieser Darstellung ist nicht die Loslösung vom objektiven Gehalt des Wissens, sondern die Überwindung einer einseitigen, subjektiv-skeptischen Auffassung des Wissens von Welt. Nur das natürliche Bewusstsein vergisst die Erfahrungen der eigenen Widersprüche und Übergänge, als ob „es aus der Erfahrung der früheren Geister nichts gelernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innre und die in der That höhere Form der Substanz“ (GW 9, 433). Die Tatsache, dass sich die phänomenologische Darstellung durch diese Erinnerung auszeichnet, deutet auf den zentralen Stellenwert des Inhalts im Projekt der Phänomenologie, nämlich die ontologische Dichotomie von Wissen und Welt – und nicht die Korrelation des Wissens – zu überwinden. Diese kurze Skizze suggeriert, wie anders Hegel selbst sein Projekt der Phänomenologie des Geistes (1807) versteht.³³ Heideggers Lesart ist aber nicht nur im Hinblick auf ihre Adäquatheit fragwürdig, sondern auch im Hinblick auf ihre Motivation. Heideggers Abgrenzung von Hegel kaschiert und verdrängt – wie oben bereits erwähnt – eine Nähe zu demselben. Dazu bemerkt Hans-Georg Gadamer: Heidegger selbst hat die „transzendentale Selbstauffassung und die Begründung der Stellung der Seinsfrage im Seinsverständnis des Daseins preisgebeben (…). Rückt er damit nicht notwendig in eine neue Nähe zu Hegel, der die Dialektik des Geistes ausdrücklich über die Gestalten des subjektiven Geistes, über Bewußtsein und Selbstbewußtsein hinausgeführt hat“ (Gadamer 1987, 90)? Diese Nähe zu Hegel betrifft einerseits die Depotenzierung der Subjektivität in der Konstitution des menschlichen Weltverständnisses und andererseits die Entwicklung eines Narrativs zur geschichtlichen Bildung desselben. Die Geschichtlichkeit und die Entsubjektivierung sind die genuin hegelschen Motive, die Heidegger in seiner mittleren Schaffensphase teilt.³⁴
Zu einer Kritik an Heideggers subjektivistischer Interpretation der Phänomenologie des Geistes vgl. Fink 1977; W. Marx 1961; Gadamer 1987; Adorno 2003b. Andreas Großmann (1996) hat argumentiert, dass Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte selbst eschatologische Züge erweist: Die Geschichte wird aus einer Zuweisung des Seins auf eine Zukunft und Rettung hin begriffen. Gadamer hat gleichfalls darauf verwiesen, dass Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte „eine innere Folgerichtigkeit“ der Geschichte in Anspruch nimmt und dass die Hoffnung auf die Vervollkommnung der Seinsvergessenheit in Erwartung eines
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Aber trotz dieser scheinbaren Nähe begreift Heidegger das Verhältnis zwischen Denken und Geschichte radikal anders: Obwohl die Epochen des Sinns von Sein geschildert werden können, ist der Grund der Seinsgeschichte selbst uneinholbar. Wie das Seinsverständnis entsteht, gehört in den Abgrund hinein, der es erst ermöglicht. Im folgenden Abschnitt soll Heideggers Gedanke des Abgrundes untersucht werden, da seine Genealogie wesentlich mit der Auseinandersetzung mit Hegel zusammenhängt.
2 Die Möglichkeit des Als A Lichtung und Abgrund Am Ende seiner Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität (1938 – 41) umreißt Heidegger in einem kurzen, aber entscheidenden Passus sein eigenes Verständnis des Verhältnisses zwischen Sein und Nichts, das er als Zusammenhang von Lichtung und Abgrund beschreibt. Der Ausgangspunkt dieser Passage greift die gewöhnliche Auffassung der Vorstellung als Vorstellung von einem Ding als etwas im Lichte seiner Seiendheit auf. Unter „Seiendheit“ ist der kategorialontologische Bereich des artverwandten Seienden gemeint: das Menschsein und das Tier, das Zeug und das Werk, das Gute und das Zweckmäßige. Etwas kann als Zeug vorgestellt werden, wenn es es im Lichte des Zeugseins betrachtet wird. Heidegger spricht dementsprechend von einem Gefüge „von jenem, was in sich einig das ‚von‘, das ‚als‘, und das ‚im Lichte‘ fugbar macht“ (GA 68, 45). Dieses Gefüge beschreibt er als „die ‚Lichtung‘ des Gelichteten, darin das Vorstellende (der Mensch) steht“ (GA 68, 45). Die Lichtung soll von der Seiendheit differenziert werden. Die Lichtung besteht weder im semantischen Als (etwas als etwas) noch im transzendentalen Horizont (als etwas im Lichte von). Die Lichtung ist aber auch nicht die reine Gegebenheit des Gegenständlichen, bevor es im Als vorgestellt wird. Alle diese Dimensionen – das Gegenständliche, das Semantische und das Transzendentale – gehören zusammen in eine übergreifende Konstellation. Diese Konstellation wird erst dann begreifbar, so Heidegger, wenn die selbstverständliche Stellung des Menschen inmitten der Lichtung fragwürdig wird. Die Erfahrung der Lichtung ist auf eine Fragwürdigkeit angewiesen, welche nur solange am Leben gehalten wird, als man anerkennt, dass die Lichtung nicht aus Seiendem „erklärbar“ ist:
anderen Anfangs „eines dialektischen Umschlags ähnelt“ (Gadamer 1971a, 96). Zu der hegelschen Prägung der heideggerschen Konzeption der Geschichtlichkeit vgl. Haar 1980; Gillespie 1984.
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Das ‚von‘, ‚als‘, das ‚im Lichte‘ sind nicht ein ‚Seiendes‘, sind Nichts und doch nicht nichtig, im Gegenteil: ‚wichtig‘ schlechthin, von schwerstem Gewicht, das eigentliche Schwergewicht und das Einzige, worin alles Seiende (und zwar nicht nur als Seiendheit, Gegenständlichkeit) als Seiendes ‚ist‘ (GA 14, 45).
Die Fragwürdigkeit der Lichtung entspringt aus der Frage nach der Möglichkeit des Zusammenhanges zwischen dem Seienden, dem Als und der Seiendheit. Dieser Zusammenhang stellt in Heideggers Augen das Rätsel des Sinngeschehens dar. In dieser Hinsicht bezeichnet die Lichtung zunächst die Grundmöglichkeit von Sinn – die Möglichkeit des „von“, des „als“ und des „im Lichte“. Insofern die Lichtung die dreifache Struktur des Als ermöglicht, ist sie gründend. Insofern sie aber vom Horizont des Seienden aus nicht vermittelt werden kann, ist sie abgründig. Es gibt kein Als, welches die Lichtung zugänglich machen kann. In diesem Sinne ist die Lichtung „der Ab-grund als Grund“: Dieser sei „nie vorfindlich“ und sich „in der Nichtung als Lichtung“ verweigernd (GA 68, 45 – 46). Mit dem Ausdruck „Nichtung“ bezeichnet Heidegger das Ausbleiben eines Grundes im Akt der Gründung – d. h. die Paradoxie eines ursprünglichen Grundes, der kein Grund ist. Will man den Abgrund als einen unverfügbaren Grund verstehen, so wird der Abgrund wiederum als Urgrund personifiziert. Deshalb ist die Ausdeutung des Abgrundes im Rahmen einer negativen Theologie eine Substantivierung desselben. Heidegger beharrt hingegen darauf, die abgründige Lichtung als Un-grund zu verstehen.³⁵ Abgesehen vom Motiv des Abgrundes wird der Begriff der Lichtung noch mit zwei suggestiven Ausdrücken in Verbindung gebracht: (1) An einer Stelle wird die Lichtung als das „Als des Seyns“ beschrieben³⁶ – ein Ausdruck, der mit dem Als der Seiendheit bzw. mit der kategorialen Hinsicht, in welcher etwas als etwas erscheinen kann, kontrastiert. Der Ausdruck „das Als des Seyns“ kann entweder als Möglichkeit des Als überhaupt oder als Nachfolgebegriff des hermeneutischen Als,³⁷ d. h. in aller Kürze als eine realistisch-pragmatische Erschließung von Sinn vor jeder theoretisch-thematischen Bezugnahme darauf, gedeutet werden. Diese Zweideutigkeit zwischen einem (vor‐)transzendentalen Horizont von Möglichkeit und einem unergründlichen Horizont der Konstitution von Sinn begegnet uns bei Diese Denkfigur Heideggers ist sicherlich von Schellings Begriff des Ungrundes in Vom Wesen der Menschlichen Freiheit (1809), aber auch von Meister Eckhart informiert. Die Verwendung des Begriffs „Un-Grund“ statt „Ur-grund“ soll die Substantivierung und Vergegenständlichung eines ursprünglichen Grundes vermeiden. Die Lichtung sei „überallhin offenen Ab-grund 1. des / ‚zu‘ / Seiendem, auch / zu / uns selbst und unseresgleichen, 2. des ‚als‘, was jedes zuletzt und d. h. hier zuerst das Als des Seyns ist“ (GA 68, 46). Vgl. Kap. II.3.A: „Das hermeneutische Als“.
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allen zentralen Konzepten, die den Stellenwert der Herkunft des Als oder des Ursprungs des Sinns in der Spätphilosophie Heideggers einnehmen. (2) Die Verbindung mit dem „Nichts“ ergänzt zudem das Kurzportrait des Lichtungsbegriffs. Das Nichts bedeute nicht die Leere oder ein „letzter Rauch“, sondern „das Reichste“ und die „Mitte, die nicht vermittelt“ werden kann und „daher nie zurückzunehmen“ ist (GA 68, 46). Der Zusammenhang zwischen der Mitte und dem Nichts konstituiert ein Leitmotiv der heideggerschen Philosophie und erinnert an die bedeutsame Stelle im Aufsatz Das Ding (1950), wo die konstitutive Rolle der leeren Mitte des Kruges beschrieben wird: „Die Leere, dieses Nichts am Krug, ist das, was der Krug als das fassende Gefä ß ist“ (GA 7, 170) (vgl. Kap. I.2.C: „Ding und Welt“). So wie die Leere am Krug nicht Nichts, sondern form- und sinngestaltend ist, so ist die Lichtung keine reine Ermöglichung von Sinnstiftung, sondern selbst das, was Sinn konstituiert. Der Lichtungsbegriff verweist somit auf eine originäre Gestaltung von Sinn, die gründend ist, ohne ergründlich zu sein. Was es mit diesem Gedanken, dass das Unergründliche bzw. das Nichts den semantischen Bereich der menschlichen Welt begründet, auf sich hat, soll im Folgenden aufgeklärt werden. Eine solche Aufklärung kann nur gelingen, wenn wir uns von der heideggerschen Terminologie befreien, um das, was darin gedacht – und nicht bloß ausgesagt – wird, zu verstehen, bevor wir es erst hinterfragen können. Entgegen der Ansicht, dass man im Namen der Loyalität gegenüber dem Primärautor den Buchstaben des Primärtextes hegen soll, was letztlich zur Berufung auf Autoritätsargumente führt, können philosophische Texte nicht verstanden werden, wenn sie nicht eigens mitgedacht werden. Mitdenken kann kein Wiederholen sein, sondern erfordert den Einsatz eigener Worte, die man wiederum in keinem Lehrbuch finden kann. An dieser Stelle dient aber unser exegetischer Exkurs dem philosophiehistorischen Hinweis, dass Heideggers Spätphilosophie sich aus der Auseinandersetzung mit Hegel nährt. Dies bezeugen nicht nur die bisher betrachteten Aufzeichnungen zu Hegels Begriff der Negativität, sondern auch die späten Aufsätze. Und die wichtigste Formulierung des Gedankens, dass der transzendentale Horizont von Sinn selbst nicht in den Bereich des Ergründlichen und Begreifbaren gehört, findet sich im Vortrag über den Satz der Identität (1957), auf den wir im folgenden Abschnitt eingehen. 1962 behauptet Heidegger, dass der für seine Spätphilosophie zentrale Begriff des Ereignisses „am deutlichsten im Identitätsvortrag“ exponiert wird (GA 14, 44).
B Identität und Transzendentalität Das Verhältnis von Mensch und Sein bestimmt sich primär nicht als Beziehung zwischen einem Wahrnehmenden und einem Wahrgenommenen. Der Wahrneh-
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mungsakt selbst wird von einem einheitlichen Horizont ermöglicht, der erst bestimmt, wer wahrnimmt, was jeweils wahrgenommen wird und wie wahrzunehmen ist. Was wir allgemein wahrnehmen, ist im strikten Sinne nicht die Präsenz gegenüberliegender Gegenstände, sondern Bedeutungen, die wir sprachlich bezeichnen und an den Gegenständen begreifen. Um etwas als etwas wahrzunehmen, bedarf man nicht nur der rein sinnlichen Empfindung und der kategorialen Beschaffenheit des Gegenstandes, sondern auch eines Begriffes davon, der als solcher geschichtlich und sprachlich konstituiert ist. Alltägliche Wahrnehmung wird von einem geschichtlich-semantischen Horizont mitkonstituiert, worauf die Identität des Wahrgenommenen beruht. Heidegger nennt diesen Horizont „Welt“. Wir sagen von der Welt, dass sie sprachlich und geschichtlich ist, dass sie somit eine menschliche Welt ist. Die Welt ist aber nichts Subjektives, das dem Objektiven nachträglich übergeworfen würde. Im Gegenteil ist der Begriff des Subjektiven selbst – und die damit verbundenen theoretischen Bedenken – Erzeugnis einer bestimmten Welt, so Heidegger. Die Frage, inwiefern der Mensch die Herkunft und die Konstitution der Welt artikulieren kann, ist für Heidegger deswegen äußerst schwierig, weil der Mensch sein Verstehen und sein Artikulationsvermögen dem Sinnhorizont einer jeweiligen Welt verdankt. Die Tatsache, dass es Welt gibt, ist von der Art und Weise, in der es sich jeweils Welt gibt, zu unterscheiden. Heideggers spätere Vorträge (1957– 1964) verschärfen die Problematik des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der Konstitution seiner geschichtlichen Welt. Der Vortrag Der Satz der Identität (1957) ist in diesem Zusammenhang bahnbrechend. Der Vortrag bildet zusammen mit Die Ontotheologische Verfassung der Metaphysik (1956 – 57) – ein Aufsatz, den Heidegger zu einem Seminar über Hegels Logik geschrieben hat – eine Einheit.³⁸ Beide Texte wurden in einem Band mit dem Titel Identität und Differenz gemeinsam veröffentlicht. Ein Jahr später hält Heidegger in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie den Vortrag Hegel und die Griechen (1958), wo er die „Streitsache“ mit Hegel als Frage nach dem Verhältnis zwischen ἀλήθεια und λόγος formuliert. Zu dieser Reihe gehört thematisch auch der Aufsatz
In Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik formuliert Heidegger die wesentlichen Unterschiede seines Denkens zu Hegel. Die zentrale These des Textes, dass eine begriffszentrierte Philosophie das Zu-denkende bzw. die Λήθη nicht zu denken vermag, wurde bereits in der Einleitung angeführt. Ein weiterer Unterschied besteht laut Heidegger darin, dass Hegel in seiner Philosophiegeschichte jedes vergangene Gedachte als Vorstufe des absoluten Denkens ausdeutet, während Heidegger das Ungedachte der früheren Philosophie sucht. So hat Hegels Philosophiegeschichte den Charakter der Aufhebung, während Heidegger vor dem Gedachten einen Schritt zurück macht, um in das Zu-Denkende hineinzutreten. Zur Einseitigkeit der Deutung Heideggers vgl. Janicaud 1988.
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Das Ding (1950), wie Heidegger selbst im Vorwort zur Identität und Differenz hinweist.³⁹ In Das Ding radikalisiert Heidegger seine Ansicht über die begriffliche Artikulierbarkeit der Konstitution von Welt. An einer Stelle heißt es: „Welt west, indem sie weltet. Dies sagt: das Welten von Welt ist weder durch anderes erklä rbar noch aus anderem ergrü ndbar“ (GA 7, 181). Diese tautologische Auffassung der Welt, die zugleich ihre Unerklärbarkeit und Unergründlichkeit behauptet, ist nicht vielsagend. Die konstruktive Tragweite dieser Konzeption wird aber deutlicher, wenn Heideggers Kritik an der Transzendentalphilosophie berücksichtigt wird, Kritik, die unausgesprochen im Mittelpunkt vom Satz der Identität steht. Den Ausgangspunkt des Identitätsaufsatzes bildet der Gedanke einer in der Identität enthaltenen Vermittlung. Heidegger deutet den überlieferten Satz der Identität „A ist A“ derart um, dass er keine Gleichheit zum Ausdruck bringt, weil die Gleichheit ein Verhältnis zwischen zwei unterschiedlichen Termini (A und B) ist, sondern eine „Selbigkeit“. Das Identische bedeute so das Selbe, griechisch τό αὐτό. „A ist A“ heiße somit, dass jedes A „selber dasselbe“ ist (GA 11, 34). In einer Phrase aus Platons Sophistes (254d), wo τό αὐτό in der Dativform ἑαυτῷ vorkommt, erkennt Heidegger den Verweis auf die inhärente Vermittlung im Identischen. So übersetzt er den platonischen Ausdruck αὐτὸ δʹἑαυτῷ ταὐτόν wie folgt: „jedes [ist] selber ihm selbst dasselbe“ (GA 11, 34). So erfasst, impliziert der Grundsatz der Identität nun „eine Vermittelung, eine Verbindung, eine Synthesis: die Einung in eine Einheit“ (GA 11, 34). Trotzdem schreibt er die Einsicht in die Vermittlung der Identität nicht Platon zu, sondern dem Deutschen Idealismus. Die abendländische Philosophie hat „für dieses Hervorscheinen der Vermittelung innerhalb der Identität […] mehr denn zweitausend Jahre“ gebraucht (GA 11, 34). Wenn es somit das Verdienst des „spekulativen Idealismus“ ist, den synthetischen Charakter der Identität erkannt zu haben, dann bleibt es seitdem „dem Denken untersagt, die Einheit der Identität als Einerlei vorzustellen und von der in der Einheit waltenden Vermittlung abzusehen“ (GA 11, 34 – 35). Inwiefern A mit sich selbst selbig ist, hängt aber mit der Bedeutung der Kopula „ist“ zusammen. Nicht nur die synthetisierten Prädikate bestimmen das Eine, sondern auch und zuerst das, was es bedeutet, zu sein. Obwohl die Gegenstände als synthetische Einheiten Vorstellungen sind, denen Prädikate zukommen, liegt jeder synthetischen Einheit laut Heidegger eine übergreifende Bedeutung des Seins zugrunde. Es gibt vor der transzendentalen Apperzeption bzw. vor jeder Operation der Synthesis einen vorausgehenden Zusammenhang
Vgl. GA 11, 29: „Der Satz der Identität blickt voraus und blickt zurück: Voraus in den Bereich, von dem her das gesagt ist, was der Vortrag Das Ding erörtert (siehe Hinweise); zurück in den Bereich der Wesensherkunft der Metaphysik, deren Verfassung durch die Differenz bestimmt ist“.
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zwischen der Vorstellung und dem Seienden, d. h. zwischen der synthetischen Einheit und der Bedeutung von Sein. Mit anderen Worten, das Verhältnis von Mensch und Sein ist immer schon auf eine bestimmte Weise konfiguriert, bevor das einzelne Seiende als synthetische Einheit konstituiert wird. Die Identität des Seienden wird erst dann wahrhaft problematisiert, wenn der übergreifende Horizont, der Geist und Welt in ein bestimmtes Verhältnis setzt und so die synthetische Einheit der Gegenständlichkeit vermittelt, hinterfragt wird. In diesem Sinne versteht Heidegger auch Parmenides’ Satz über die Identität von Denken und Sein: νοεῖν und εἶναι, sind insofern identisch, als sie in das Selbe (τὸ αύτό) gehören. Das Selbe verweist auf den übergreifenden Zusammenhang von Denken und Sein. Das Problem der Identität ist weder allein auf der Seite des Denkens (als Identität und Objektivität der Vorstellung) noch auf der Seite des Seins (als Identität und Objektivität des Gegenständlichen) anzusiedeln, sondern es betrifft die Ebene, die das Sein in einem bestimmten Seinsverständnis erschließt. Diese Ebene vermittelt die Identität von einzelnen Gegenständen, Vorstellungen und Subjekten in einer ursprünglicheren Weise, wie Heidegger wiederholt zu sagen pflegt. Das Selbe, in welchem Denken und Sein zusammengehören, darf somit weder vom Denken her noch vom Sein her allein gedeutet werden. Andernfalls wäre τὸ αύτό von einem Standpunkt her bestimmt, den es selbst immer schon vorbestimmt hat. Zum Verhältnis von Geist und Welt ist daher einzig zu sagen: Weder ist das Sein im Denken gegründet, noch wird das Denken von einem ihm gegenüberstehenden Sein konstituiert. Das ursprüngliche Verhältnis von Denken und Sein beschreibt Heidegger als „Zusammengehörigkeit“ (GA 11, 36). Wenn diese vom „Zusammen“ her gedacht wird, dann bedeutet das Gehören: „zugeordnet und eingeordnet in die Ordnung eines Zusammen, eingerichtet in die Einheit eines Mannigfaltigen, zusammengestellt zur Einheit des Systems, vermittelt durch die einigende Mitte einer maßgebenden Synthesis“ (GA 11, 37). Dieses Paradigma definiert das übergreifende, gemeinsame Prinzip von Geist und Welt, lässt aber die dichotomische Vorbestimmung der Termini unangetastet. Wird dagegen das „Gehören“ betont, so werden die Bestimmungen des Menschen und des Seins offengelassen. In diesem Fall fehlt laut Heidegger der „Boden“ dieses Verhältnisses: Statt verlässlich zu sein, wird der Boden zur Frage (GA 11, 38). Die Tatsache, dass der Boden des Verhältnisses von Sein und Denken ausbleibt, löst die gegenseitige Angewiesenheit des Menschen und des Seins auf einander nicht auf. Der Mensch steht „als das denkende Wesen“ vor dem Sein und dieses ist – in seinem herkömmlichen Sinne als Anwesen – auf den Menschen angewiesen (GA 11, 39). Das Anwesen braucht „das Offene einer Lichtung und bleibt so durch dieses Brauchen dem Menschenwesen übereignet. Dies besagt keineswegs, das Sein werde erst und nur durch den Menschen gesetzt“ (GA 11, 40).
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Umgekehrt bedarf der Mensch einer Lichtung bzw. eines bereits erschlossenen Sinnhorizontes, um das Sein als Anwesen zu erfahren. Diese Gegenseitigkeit und Zusammengehörigkeit wird verfehlt, wenn sie in „Ordnungen und Vermittlungen, sei es mit oder ohne Dialektik“, gedacht wird (GA 11, 40). Um das Verhältnis von Mensch und Sein zu denken, bedarf es vielmehr, so Heidegger, einer Verabschiedung „von der Haltung des vorstellenden Denkens“ und von der Auffassung „vom Menschen als dem animal rationale, das in der Neuzeit zum Subjekt für seine Objekte geworden ist“ (GA 11, 41). Es kommt auf einen „Absprung […] weg vom Sein“ an – bzw. weg vom Grund, „worin jedes Seiende als Seiendes gründet“ (GA 11, 41). Heidegger erläutert die so gedachte, abgründige Zusammengehörigkeit von Mensch und Sein am Beispiel der technischen Welt, worunter er ein geschichtliches Weltverständnis versteht, das, obwohl es nicht in der Verfügungsgewalt des einzelnen Menschen steht, den Menschen auf ein fundamentales Verhalten verpflichtet. In diesem Weltverständnis gilt das Seiende als Hergestelltes und Herzustellendes, der Mensch seinerseits als Erzeuger. So bildet die Technik in Heideggers Verständnis – vor allem nach 1930 – die normative Grundlage, die das menschliche Verhalten stillschweigend auf Messbarkeit, Effizienz und Produktivität anweist. Das moderne Erkenntnis- und Handlungsparadigma verfügt nicht über die Herkunft der darin zum Tragen gekommenen Metaphysik – anders gesagt, diese ist nicht das Resultat einer theoretischen Entscheidung. Der Vorherrschaft der Technik ist sich der moderne Mensch laut Heidegger nicht nur nicht bewusst, sondern er realisiert beharrlich ihren Imperativ im täuschenden Eindruck, dass dabei eine selbstgewählte Weltmöglichkeit vollzogen wird. Heidegger drückt diesen Sachverhalt dergestalt aus, dass der moderne Mensch „den Anspruch des Seins, der im Wesen der Technik spricht“, überhört (GA 11, 43). Unter diesem „Anspruch“ sind die vorherbestimmten Maßstäbe des Handelns zu verstehen. Heidegger drückt diesen Gedanken derart aus: „Unser ganzes Dasein findet sich überall – bald spielend, bald drangvoll, bald gehetzt, bald geschoben –, herausgefordert, sich auf das Planen und Berechnen von allem zu verlegen“ (GA 11, 43). Das Ganze der technischen Handlungs- und Erkenntnismaßstäbe nennt Heidegger „das Ge-stell“ – „der Name für die Versammlung des Herausforderns, das Mensch und Sein einander so zu-stellt“ (GA 11, 44). Die Botmäßigkeit der technischen Welt ist aber keine lesbare Gesetzestafel, die dem menschlichen Subjekt zur Verfügung oder zur Wahl stehen würde, sondern das Ge-stell „geht uns überall unmittelbar an“ und ist „seiender“ als all das, was gesehen, getan und vorgestellt wird, weil es von vornherein jenes ist, „was die Konstellation von Sein und Mensch eigentlich durchwaltet“ (GA 11, 44– 45). Obwohl die technische Gesetzmäßigkeit nicht im Gesichtskreis des Vorstellbaren erscheint, ist es das uns
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Nächste, „weil es uns dem nähert, dem wir gehören“ (GA 11, 46). Und das Walten dessen, dem wir unsichtbar gehören, nennt Heidegger das „Ereignis“. Das Ge-stell selbst repräsentiert somit nur einen Fall des Ereignisses – d. h. eines Weltverständnisses, das unsere unmittelbare Erfahrung von Welt prägt, ohne als solches erfahren zu werden. Das Ge-stell ist „ein Vorspiel dessen, was Er-eignis heißt“ (GA 11, 46). Von Hegel aus gedacht entspricht das, was Heidegger an dieser Stelle beschreibt, dem Begriff des Geistes.⁴⁰ Der Geist bezeichnet den Horizont geschichtlicher Weltauffassungen, der die unmittelbare Erfahrung des Bewusstseins derart vermittelt, dass die Vermittlung dabei als Gegebenheit erscheint. Der Geist bestimmt auf eine unsichtbare Weise die Sichtbarkeit dessen, was uns angeht, und lässt die Gegenständlichkeit in einer bestimmten Bedeutungskonstellation erscheinen.⁴¹ Für Hegel repräsentiert aber der Geist nicht bloß die verborgene Botmäßigkeit einer geschichtlichen Welt, sondern diese kann als solche begriffen werden. Überspitzt formuliert: Der Geist birgt in sich den Trieb zur Selbstauffassung, Selbstartikulation und Selbstüberwindung. Die Welt vollendet sich – und kann sich zugleich überwinden – im Selbstbegreifen. Inwiefern grenzt Heidegger den Begriff des Ereignisses von einer derartigen Auffassung des Geistes ab? Der Terminus „Ereignis“ stammt laut Heidegger etymologisch vom Infinitiv „er-äugen“ – „erblicken, im Blick zu sich rufen, an-eignen“ ab (GA 11, 45). Das Ereignis stellt die Dimension dar, die schon „entschieden“ hat, „wie der Mensch dem Sein vereignet, das Sein aber dem Menschenwesen zugeeignet ist“ (GA 11, 45). In einer definitorischen Aussage heißt es: „Das Ereignis vereignet Mensch und Sein in ihr wesenhaftes Zusammen“ (GA 11, 47). Das Sein wird so in einem bestimmten Verständnis „angeeignet“ und die Bestimmung der Identität ist „Eigentum des Er-eignisses“ (GA 11, 48). Dies bedeutet, dass das, was etwas als etwas in seiner Identität primär ausmacht, nicht die Einheit von Anschauung und Begriff ist, sondern der Horizont, der dieses Zusammen – und das transzendentale, synthetisierende Begriffsinstrumentarium – jeweils vorherbestimmt. Diesen sinnstiftenden Horizont beschreibt Heidegger einerseits als „Abgrund“ und verweist einzig auf seinen wesentlichen Zusammenhang mit der Sprache als dem „Haus des Seins“ (GA 11, 48). Andererseits spielt er darauf an, dass, wenn aber das Ge-stell als Ereignis erfahren wird, „ein Weg frei“ wird, auf dem der Mensch das Seiende „anfänglicher erfährt“ (GA 11, 49). Wenn also der Mensch erkennt, dass seine verstehende Erfahrung von Welt nicht subjektiv be Zu Heideggers Verhältnis zum Begriff des Geistes vgl. Derrida 1987; Gadamer 1976. In Hegels Worten tritt das geistige Wesen „als gegenständliche wirkliche Welt gegenüber“ (GW 9, 238). Nicht nur das Gegenständliche, sondern auch der Selbstbezug des Bewusstseins selbst, sein „Zweck und Ziel“, ist nur Moment des Geistes (Vgl. GW 9, 239).
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stimmt ist, sondern in ein übergreifendes Geschehen von Sinn gehört, vermag er erst dann, sich selbst frei zu bestimmen. Die Erfahrung des Ereignisses soll somit zu einer Befreiung von der Herrschaft der Technik führen. Daraus ergibt sich aber die entscheidende Frage: Was ereignet sich, wenn eine Welt als Welt erfahren wird? Im folgenden Abschnitt soll überprüft werden, ob und inwiefern Heidegger in seinem Aufsatz Das Ding (1950) einen Hinweis darauf gibt.
C Ding und Welt In Das Ding (1950) charakterisiert Heidegger das Ereignis – den Sinnhorizont, der das Verhältnis von Mensch und Sein jeweils erschließt – als das „Welten der Welt“. Der Ausdruck erweckt den Anschein eines undifferenzierten Umgangs mit aller Art von Weltbedeutsamkeit: Jede menschliche Welt ist letztlich eine Welt. Aber ganz im Gegenteil: Nicht jede Welt ist für Heidegger eine wahrhaft „weltende“ – eine „eigentliche“ Welt. Er bemängelt hingegen eine Welt, in der das Ding als Gegenstand gilt – als Gegenstand, „den ein Herstellen zu uns her, uns gegenüber und entgegen stellt“ (GA 7, 169). Eine solche Welt, in der die Dinge zu Gegenständen geworden sind, ist die technische Welt. In Die Kehre (1949) wird die technische Welt als eine „Verweigerung der Welt“ beschrieben: Diese gehe mit einer „Verwahrlosung des Dinges“ einher.⁴² Das technische Paradigma der Gegenständlichkeit entspringt aus den herkömmlichen metaphysischen Maßstäben der Begründbarkeit, der Messbarkeit, der Hergestelltheit und der Bestellbarkeit. Diese Rahmenbedingungen führen zur „Vernichtung des Dinges“ (GA 7, 172). Der so gedachten technischen Welt stellt Heidegger in Das Ding ein Gegenmodell gegenüber, im Rahmen dessen die Dingheit als ein Zusammenkommen von Himmel und Erde, Göttern und Sterblichen geschildert wird. Worin besteht der systematische Gehalt dieser lyrischen Schilderung einer menschlichen Welt? Heidegger versucht in diesem Aufsatz, seinen Gedanken am Beispiel des Kruges zu veranschaulichen, und beginnt mit der Konstatierung, dass das, was den Krug als Krug ausmacht, seine Leere ist – „das Nichts am Krug“ (GA 7, 170). Die Leere des Kruges konstituiert den Krug als Fassendes und bestimmt darum seine Funktion und seinen Gebrauch. Darüber hinaus assoziiert Heidegger mit dem Krug ein breites semantisches Feld: Das Wasser und der Wein, die jeweils auf die Quelle und den Regen, die Trauben und die Sonne verweisen. Der Wein ist ferner Vgl. GA 11, 123: „Aber wir hören noch nicht, wir, denen unter der Herrschaft der Technik Hören und Sehen durch Funk und Film vergeht. Die Konstellation des Seins ist die Verweigerung von Welt als die Verwahrlosung des Dinges. Verweigerung ist nicht nichts, sie ist das höchste Geheimnis des Seins innerhalb der Herrschaft des Gestells“.
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„Trunk für die Sterblichen“, aber auch Trank, der den Göttern zur Weihe gespendet wird (GA 7, 174). Die Strategie dieser anschaulichen Darstellung liegt darin, die aufgeführten, mannigfaltigen Elemente als konstitutive Schichten im Krug versammelt zu sehen. Zu diesem Zweck strukturiert Heidegger diese vielfältigen Schichten in die Konstellation von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttern und nennt sie „Geviert“. Die Bedeutungskonstellation des Gevierts wird weiterhin von der Metaphorik des Schenkens – siehe „Spende“, „Opfer“, „Guß“, „Weihe“ – geprägt (GA 7, 174– 175). Das Schenken soll mit dem rein funktionellen Ausschenken in Gläser kontrastieren. Das Ge-schenk und Ge-viert suggerieren im Ganzen einen Gegenentwurf zum Ge-stell. Auf die Einzelheiten der von Heidegger verwendeten Metaphorik kann hier nicht eingegangen werden, sondern lediglich die Kernpunkte seiner Konzeption des Dinges zusammengefasst werden: (1) Heideggers Beschreibung des Kruges soll zuerst auf einen Überschuss der Bedeutsamkeit der Dinge hinweisen, die sowohl über eine kategorial konstituierte Gegenständlichkeit als auch über die praktische Funktionalität hinausgeht. Dieser Überschuss an Sinn hängt mit einem übergreifenden Netz von Bedeutungen zusammen, welches sinnstiftende Praktiken und Narrative einer Gemeinschaft – siehe „Götter“, „Weihe“, „Ritual“ – umfasst. Innerhalb eines solchen semantischen Netzes ist beispielsweise die Erde kein bloßer Planet, sondern, mit Heideggers Termini, die „nährend Fruchtende“ und die „bauend Tragende“ (GA 7, 179).⁴³ Das, was wir als Natur bezeichnen, ist in diesem Zusammenhang mehr als ein physikalisch erklärbares Phänomen: Natur gehört immer schon in einen Zusammenhang von überschüssigen Bezügen hinein. (2) Stillschweigend schreibt Heidegger den überschüssigen Sinnzusammenhängen den Charakter der Ursprünglichkeit zu. Die Dinge und die Worte bedeuten ursprünglich mehr als sie später zu bedeuten kommen. Dinge sind nicht zuerst vorliegende Gegenstände, die im Nachhinein kosmologisch, dichterisch oder ästhetisch interpretiert werden, sondern sie sind von vornherein in das reiche semantische Netz einer Welt einbezogen. Dementsprechend identifiziert Heidegger das „Geviert“ mit der „Wesensherkunft“ des Dinges (GA 7, 179) und moniert, dass das technische Paradigma durch seine Reduktion der Dingheit auf das Gegenständliche das Ding „aus seinem vormaligen Wesen heraussetzt“ (GA 7, 168).
Der Himmel ist seinerseits „der Sonnengang, der Mondlauf, der Glanz der Gestirne, die Zeiten des Jahres, Licht und Dämmer des Tages, Dunkel und Helle der Nacht, die Gunst und das Unwirtliche der Wetter, Wolkenzug und blauende Tiefe des Äthers“ (GA 7, 179 – 180).
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(3) Abgesehen von diesem impliziten Ursprünglichkeitsansatz soll der Begriff des „Gevierts“ vor allem auf den fundamentalen Möglichkeitscharakter der Welt verweisen. Die Welt ist jeweils eine geschichtliche und niemals die einzig mögliche Welt. In diesem Sinne wendet sich Heidegger auch am Ende des Textes Der Satz der Identität (1957) gegen die Auffassung, die „das Aktuelle (…) für das allein Wirkliche“ hält (GA 11, 49). Der Vortrag Die Frage nach der Technik (1953) zielt ebenfalls darauf, die τεχνή als nur eine Weise der Hervorbringung der Dinge und der Erschließung der Welt aufzuzeigen. Die technische Welt zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie ihren eigenen Möglichkeitscharakter verdeckt.⁴⁴ Die Betrachtung des Hains als Hölzer, um mit Horaz‘ und später Hegels Sinnbild zu sprechen,⁴⁵ ist somit nur eine Möglichkeit und keineswegs die Entdeckung der wahren Natur der Dinge, wie, so Heideggers Ansicht, das naturwissenschaftliche Weltbild es glauben könnte. (4) Heideggers Entwurf beschränkt sich aber nicht auf den Möglichkeitscharakter der Welt, sondern betont auch deren konstitutive Negativität. Die Zentralstelle der Leere im Wesen des Kruges deutet bereits auf die maßgebliche Rolle des Nichts in der Sinnkonstitution. Zudem verschärft Heidegger diesen Ansatz, indem er den Tod – das Nichts des Daseins – ins Zentrum der Weltbedeutsamkeit setzt. Eine Welt „weltet“ auf eine eigentliche Weise erst dann, wenn die Menschen sich als Sterbliche erfahren: Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich. Der Tod ist der Schrein des Nichts, dessen nämlich, was in aller Hinsicht niemals etwas bloß Seiendes ist, was aber gleichwohl west, sogar als das Geheimnis des Seins selbst. Der Tod birgt als der Schrein des Nichts das Wesende des Seins in sich. Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins. Die Sterblichen nennen wir jetzt die Sterblichen – nicht, weil ihr irdisches Leben endet, sondern weil sie den Tod als Tod vermögen. Die Sterblichen sind, die sie sind, als die Sterblichen, wesend im Gebirg des Seins. Sie sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein (GA 7, 180).
Wo das Gestell „herrscht, vertreibt es jede andere Möglichkeit der Entbergung. Vor allem verbirgt das Ge-stell jenes Entbergen, das im Sinne der ποίησις das Anwesende ins Erscheinen hervor-kommen läßt“ (GA 7, 28). Das Gestell ist somit nicht bloß eine mögliche Welt, sondern eine solche, die die Welt als solche verbirgt: „So verbirgt denn das herausfordernde Ge-stell nicht nur eine vormalige Weise des Entbergens, das Her-vor-bringen, sondern es verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d. h. Wahrheit ereignet“ (GA 7, 28). Die Wendung wird hier Hegels Glauben und Wissen (1802) entnommen (GW 4, 317), sie stammt allerdings von Horaz: „Virtutem uerba putas et lucum ligna [Die Tugend hältst Du für ein Wort und einen Hain für Holz]“ (Horace 1994, 64).
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Das Sein wird als Sein allein von den Sterblichen erschlossen. Die Endlichkeit der Menschen konstituiert die Bedeutsamkeit einer Welt. Deshalb wird der Horizont des Seins erst durch das Verhältnis zum Nichts eröffnet. Wenn aber diese Endlichkeit als solche angenommen und angeeignet wird, dann wird auch die Welt als eine solche wahrhaft erfahren: Sie wird das, was sie eigentlich ist. In diesem Sinne endet Das Ding mit dem Satz: „Erst die Menschen als die Sterblichen erlangen wohnend die Welt als Welt. Nur was aus Welt gering, wird einmal Ding“ (GA 7, 184). Diese Formel steht exemplarisch für Heideggers eigenen Negativitätsansatz. Die Welt ist eine eigentliche, wenn sie im Ausgang von der Endlichkeit des Daseins verstanden und konstituiert wird. Die Anerkennung der Endlichkeit erklärt allerdings noch nicht, was es eigentlich bedeutet, dass das Nichts als Quelle der Sinnkonstitution agiert. Erst der Zusammenhang zwischen dem Motiv des Nichts und der Verbergung, die Heidegger als Grundeigenschaft des Logos betrachtet, macht seinen Gedanken deutlicher.⁴⁶ Wenn Heidegger die Frage nach der Konstitution von Welt durch die Anspielung auf Götter, Sterbliche, Himmel und Erde behandelt, dann stellt sich die Frage nach der begrifflichen Artikulierbarkeit dieser Konstitution und nach der Rolle des Begriffs in der Entstehung von Bedeutsamkeit. Ist der Überschuss an Sinn, der das Spezifikum der Weltbedeutsamkeit ausmacht, sprachlich, aber nicht begrifflich verfasst? Lässt sich der Reichtum der Bedeutungszusammenhänge begrifflich darstellen? Diese Frage macht die entscheidende Streitsache zwischen Heidegger und Hegel aus und wird in Heideggers Aufsatz Hegel und die Griechen (1958) formuliert.
D Logos und Aletheia Im Vortrag Hegel und die Griechen (1958) entfaltet Heidegger das Streitgespräch mit Hegel als eine Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen λόγος und ἀλήθεια. Heidegger vertritt hier die These, dass das in der abendländischen Philosophie begriffene Sein „als Anwesenheit nur west, insofern die άλήθεια schon waltet“ (GA 9, 444). Die ἀλήθεια, hier als Sache des Denkens hypostasiert, hat einen ontologischen Vorrang vor dem, was die abendländische Philosophie als Sein denkt – und sie bleibt dieser Philosophie, deren Vollendung Hegel für Heidegger repräsentiert, verwehrt. Heidegger zufolge zeigt sich diese Vergessenheit in
Im hier betrachteten Aufsatz Das Ding heißt es lediglich, dass die Nähe des Dinges sich verbirgt (GA 7, 179). Auch den „Göttern“ kommt das „verborgene Walten“ zu (GA 7, 180).
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Hegels Auslegung der griechischen Philosophie und der damit einhergehenden Vorrangigkeit des λόγος. Seine Gegenthese lautet in aller Kürze, dass das Anwesen des Seienden – das Sein der Metaphysik – eines ursprünglicheren Horizontes bedarf, den er „Unverborgenheit“ nennt und der vorerst bestimmt, wie Sein – d. h. Sinn von Sein – geschieht. Der Ausdruck ἀλήθεια bzw. „Un-verborgenheit“ deutet die Art und Weise an, in der Sein geschieht – derart, dass das, was es bedeutet, und wie es dazu kommt, einen bestimmten Sinn zu haben, verborgen bleibt. Die Tragweite dieses Ansatzes muss im Ausgang von der Frage nach dem Verhältnis zwischen der ἀλήθεια und dem λόγος verdeutlicht werden. Zur Frage steht, ob die Tatsache, dass die Unverborgenheit des Seins im λόγος – im Sagen und im Begreifen – zugänglich ist, zugleich impliziert, dass die ἀλήθεια durch den λόγος gesetzt wird. In Heideggers Formulierung lautet die Streitfrage, „ob die Entbergung ihren Ort im Geist hat als dem absoluten Subjekt, oder ob die Entbergung selber der Ort ist und in den Ort weist, worin dergleichen wie ein vorstellendes Subjekt erst ‚sein‘ kann, was es ist“ (GA 9, 440). Vor der Untersuchung von Heideggers Behandlung dieser Fragestellung seien kurz die Leitlinien seiner Hegel-Interpretation in diesem Aufsatz zusammengefasst: (1) Hegel repräsentiert die Vollendung der abendländischen Philosophiegeschichte. Er ist der erste, der sie überhaupt als Geschichte begreift, und zwar als „Prozeß des Fortschritts des Geistes zu sich selbst“ (GA 9, 428). Für Hegel ist die Geschichte selbst philosophisch verfasst, insofern das Prinzip des Zusich-selbst-Kommens des Geistes Triebkraft der Geschichte selbst ist. (2) Wenn das, was die Geschichte vorwärtstreibt, das Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes ist, dann ist unter „Geist“ die Struktur der Subjektivität zu verstehen. Die Geschichte vollzieht sich, „wenn die ganze Struktur und Bewegung der Subjektivität des Subjektes entfaltet und diese in das absolute Sichselbstwissen gehoben ist“ (GA 9, 430). In der Vollendung der Geschichte erkennt sich der Geist als dasjenige, was sich selbst von vornherein gesucht hat – dieses Selbstsuchen hat die Bewegung vorangetrieben. Das Vorantreibende ist somit nichts anderes als die Struktur der Selbstbezüglichkeit – in Heideggers Worten, „das sich selbst absolut denkende Denken“, welches das Prinzip des Seins im Ganzen repräsentiert (GA 9, 430). (3) Das Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes ist ein geschichtlicher Prozess, der dialektisch gesteuert wird. Heidegger interpretiert die Dialektik von λέγειν, „Versammeln“, und διά, „durch etwas hindurch“, her. Das Subjekt geht durch seine Vorstellungen hindurch und versammelt diese bei sich. Διαλέγεσθαι bedeutet, dass das Subjekt sich in diesem Prozess als Subjektivität „hervorführt: produziert“ (GA 9, 430). Diese Produktion der Subjektivität geschieht durch drei Stufen: (a) durch den unmittelbaren Bezug auf das Objekt, wo das
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Vorgestellte ohne sein Verhältnis zum wahrnehmenden Subjekt und somit in seiner Allgemeinheit und Abstraktheit betrachtet wird; (b) durch die Anerkennung des Objektes als Objekt für das Subjekt bzw. als vorgestelltes Objekt, als subjektiv vermitteltes Sein; (c) durch eine Synthese, welche „die Vermittlung selber […] als die innerste Bewegung des Subjektes“ erkennt (GA 9, 431). So wird die Vermittlungsstruktur der Subjekt-Objekt-Beziehung in ihrem Ganzen eigentlich subjektiv verfasst. Die verschiedenen Gestalten des Verhältnisses von Subjekt und Objekt kommen erst im Begreifen zu einer (subjektiven) Einheit.⁴⁷ (4) Das dialektische Prinzip erkennt sich am Ende des Prozesses als das entlang der geschichtlichen Entwicklung Agierende. Dies gilt auch für die Geschichte der Philosophie: Ihre Gestalten sind noch nicht als solche erkannt Manifestationen des Geistes. Wenn die Philosophie Descartes‘ die zweite Stufe der Dialektik – die Anerkennung des Objektes als Objekt für ein Subjekt – repräsentiert, dann entspricht die griechische Philosophie der ersten Stufe der Unmittelbarkeit. Das griechische Denken abstrahiert von der subjektiven Vermittlung, obwohl auch dort „das denkende Subjekt am Werk“ ist (GA 9, 433). Daher repräsentieren für Hegel die Grundbegriffe der griechischen Philosophie – Parmenides’ Ἔν, Heraklits Λόγος, Platons Ἰδέα und Aristoteles’ Ἐνέργεια – Gestalten des Geistes, deren subjektive, inhärente Vermittlung aber nicht erkannt wird. So ist Heidegger der Ansicht, dass Hegel bei Parmenides die These findet, dass Sein Gedachheit ist; bei Heraklits den λόγος als Versammlung all dessen, was ist; bei Platon die Vorwegnahme des Begriffs als „Werden zu sich selbst“; und bei Aristoteles die ἐνέργεια als Vorgriff der sich auf sich beziehenden Negativität (vgl. GA 9, 435 – 437). (5) Hegels Gedanke, dass der „innerste ‚Trieb‘“ des Geistes darin besteht, zu sich selbst zu kommen und „sich vom Abstrakten zu lösen“, beruht laut Heidegger auf einer bestimmten Konzeption der Wahrheit als „die absolute Gewißheit des sich wissenden Subjektes“ (GA 9, 438 – 439). Diese Konzeption hat das Vergessen des griechischen Begriffs der ἀλήθεια zu ihrer Voraussetzung: „Ist nicht gerade die Gewißtheit in ihrem Wesen auf die Αλήθεια angewiesen, gesetzt daß wir dieses […] als Entbergung bedenken“ (GA 9, 439)? Jedoch muss Hegel selbst auf die Möglichkeit der Erscheinung Anspruch erheben, wenn
Die Spekulation selbst besteht im Fassen von Entgegengesetztem in einer Einheit. Speculari bedeutet „erspähen, zu Gesicht bekommen, fassen, be-greifen“. Das Spekulative der Dialektik besteht somit Heidegger zufolge im Zusammenbringen der mannigfaltigen Gestalten des Bewusstseins (GA 9, 431).
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der Geist sich selbst erscheinen soll.⁴⁸ Eine selbstgestaltende Subjektivität, in die das Sein restlos hineingenommen wird, versäumt ihre eigene Ermöglichung und kommt zu glauben, dass die vorherige Entbergung ihrer selbst eine von sich selbst gesetzte ist. Folglich kann Hegel „das Sein im griechischen Sinne, das εἶναι nicht aus dem Bezug zum Subjekt loslassen“ (GA 9, 441). Es wäre zu kurz gegriffen, zu meinen, dass der Verweis auf eine vorläufige Unverborgenheit bloß den Vorrang der Gegebenheit gegen die subjektive Vermittlung behauptet. Die Kontrastierung von ἀλήθεια und λόγος ist keine bloße Ausspielung des Seins gegen die Subjektivität. Die ἀλήθεια bezieht sich nicht auf einen leeren, noch nicht vermittelten Horizont, innerhalb dessen etwas erst erscheinen kann. Die ἀλήθεια bezeichnet nicht bloß das Anwesen, sondern vielmehr die Weise, in der Sein bzw. Anwesen geschieht. Vor diesem Hintergrund formuliert Heidegger „die weitere Frage“, ob die Entbergung ihren Ort im Geist hat oder selbst der Ort ist, an dem der Geist eine Gestalt annehmen kann. Selbst wenn die Unverborgenheit nicht im Geiste gründet, ist sie, so Heidegger, nur „für jemand“ (GA 9, 442). Es geht somit nicht so sehr um eine Debatte zwischen Idealismus und Realismus, sondern vielmehr um die Bedeutung des „Idealistischen“: Muß jedoch der Mensch, an den hier gedacht wird, notwendig als Subjekt bestimmt sein? Heißt ‚für den Menschen‘ unbedingt schon: durch den Menschen gesetzt? Beides dürfen wir verneinen und müssen daran erinnern, daß die Αλήθεια, griechisch gedacht, allerdings für den Menschen waltet, der Mensch aber durch den λόγος bestimmt bleibt (GA 9, 442).
Auch in Hegels Denken wird der λόγος jedoch nicht vom Menschen gesetzt: Der Mensch kann die logische Verfassung der Welt begreifen, aber nicht selbst bestimmen. Der Mensch ist somit – sowohl für Hegel als auch für Heidegger – der Austragungsort der Konstitution von Sinn bzw. der Erschließung von Sein. Die eigentliche Streitfrage betrifft somit nicht das Verhältnis von Mensch und Sein, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen ἀλήθεια und λόγος – zwischen der Erschlossenheit von Sein und Denken, zwischen Sinn und Begriff. Für Heidegger ist die ἀλήθεια nicht ohne den Menschen, sie ist aber auch nicht vom λόγος be-
Vgl. die Zusammenfassung dieses Einwandes gegen Hegel bei De Boer 2000, 311: „Every thinking depends on something that it has not brought about itself“.
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stimmt, der jedoch den Menschen immer schon charakterisiert. Heidegger geht auf diese Frage am Ende von Hegel und die Griechen ein:⁴⁹ Nicht die Unverborgenheit ist vom Sagen ‚abhängig‘, sondern jedes Sagen braucht schon den Bereich der Unverborgeheit. Nur wo diese schon waltet, kann etwas sagbar, zeigbar, vernehmbar werden (GA 9, 443).
Die ἀλήθεια repräsentiert keine bloße Offenbarkeit, die den λόγος bedingt, sondern ihr kommt vielmehr eine gestaltende Funktion zu. Es handelt sich nicht um einen leeren Bereich der Präsenz, der vor dem Denken und der Sprache liegt, sondern um die Konstitutionsweise, die dem Denken und der Sprache zugrunde liegt. In diesem Sinne äußert Heidegger seine „Vermutung, daß sogar das ganze Wesen der Sprache in der Ent-bergung, im Walten der ᾿Aλήθεια beruht“ (GA 9, 443). Obwohl dadurch „das rätselhafte Walten“ der ἀλήθεια angesprochen wird, soll man sie dennoch nicht zu „einem phantastischen Weltwesen hypostasieren“ (GA 9, 442– 443). Was ist aber das, was den λόγος durchwaltet, was Sinn erschließt, ohne die Natur des λόγος zu haben? Die ἀλήθεια bezeichnet die Tatsache, dass Sinn derart geschieht, dass er eine Verbergung mit sich trägt. Die ἀλήθεια im Kontrast zum λόγος zu denken, heißt, die konstitutive Verbergung (die λήθη) in der Unverborgenheit (im Verstehen von Sein) zu denken. Es geht nicht um eine Dimension, die sich hinter der Sprache und dem Begrifflichen versteckt, sondern vielmehr um eine strukturelle Paradoxie des λόγος selbst, zugleich entbergend und verbergend zu sein. Heidegger stellt in Hegel und die Griechen die Frage: „Hat das Denken schon den Blickbereich, um auch nur zu vermuten, was sich im Entbergen begibt und gar in der Verbergung, die alles Entbergen braucht“ (GA 9, 442)? Was Heidegger somit gegen Hegel wendet, ist eigentlich die unhintergehbare Verbergung im Sinngeschehen – d. h. die Konzeption einer Paradoxie des λόγος selbst, als solcher verbergend zu sein. Heideggers Begriff der ἀλήθεια ist somit eine Auffassung der Natur des λόγος. Wir erinnern daran, dass Heidegger in Was ist das – die Philosophie? (1955) schreibt: „Das Sein ist die Versammlung – λόγος“ (GA 11,14). Zudem heißt es im Heraklit-Aufsatz (1951): „Der Λόγος ist in sich zumal ein Entbergen und Verbergen. Er ist die ᾿Aλήθεια“ (GA 7, 225 – 226). Trotzdem ist Heideggers Verhältnis zum Stellenwert des λόγος zweideutig, insofern er besonders in seinem Spätwerk dem begrifflichen Denken die Fähigkeit abspricht, den erschließend-verbergenden Charakter des λόγος einzusehen. Der Bereich des λόγος hat aufgrund seines ver-
Der Kontext ist Heideggers Antwort auf den philologischen Vorwurf gegen seine Deutung der ἀλήθεια als Unverborgenheit, demzufolge der Terminus ἀλήθεια bei Homer im Zusammenhang mit Sagen-Formeln auftritt.
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bergenden Charakters eine Tendenz zur Verfestigung, Einseitigkeit und Vergessenheit. Dies manifestiert sich Heidegger zufolge im Paradigma der Anwesenheit, welches die ganze „logische“ Tradition der abendländischen Philosophie prägt: Die Auffassung, dass der λόγος im Begriff und Urteil besteht, dass das, was etwas ist, in Prädikaten von Aussagen aufgeht und somit in vorhandenen, feststellbaren Eigenschaften besteht, übersieht, wie sich der sprachliche Raum von Bedeutung ursprünglich konstituiert; wie die Sprache entsteht und wie Worte Sinnzusammenhänge derart versammelen, dass diese, so Heidegger, begrifflich nicht entfaltet werden können. Dieser Strang der heideggerschen Philosophie mündet in einer radikalen Kritik an der Begriffsphilosophie, deren Konsequenzen im folgenden Unterkapitel näher betrachtet werden.
3 Das Verschwinden des Als? A Die Aufgabe des Denkens und die Preisgabe des Begriffs Heideggers Begriff der ἀλήθεια bezieht sich auf die Art und Weise, in der Sinn geschieht oder in der das Verständnis von Sein geschichtlich konstituiert wird. Dafür verwendet Heidegger auch die Termini „Ereignis“ und „Wahrheit des Seins“, die er in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) als „lichtende Verbergung“ definiert (GA 65, 30). Die These lautet in aller Kürze, dass die Art und Weise, in welcher Sinn (oder Seinsverständnis) geschieht, von einer wesentlichen Verbergung geprägt ist. Diese Verbergung wird auch als ein Zwiespalt in der Erschließung von Sinn beschrieben, der darin besteht, dass das Als zugleich erschließend und verbergend ist. Die späten Vorträge Zeit und Sein (1962) und Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1964) bieten einen guten Einblick in diesen Themenbereich und zugleich die Gelegenheit, den heideggerschen Ansatz gegenüber landläufigen Lesarten zu spezifizieren. Auf den ersten Blick scheint das Ziel dieser Vorträge darin zu bestehen, auf eine originäre Dimension der Erschließung von Sein zurückzuverweisen. So wird das zentrale Motiv dieser Vorträge, der Satz „es gibt Sein“, gemeinhin interpretiert. Trotzdem haben die genannten Texte nicht das reine Erstaunen zum Gegenstand, sondern artikulieren den Zusammenhang des „Ereignisses“ mit der Verbergung. Heidegger bringt hier nicht eine reine, ursprüngliche Offenbarkeit zur Sprache, sondern die Verflechtung von Lichtung und Verbergung. Beide Vorträge gehen von der Frage nach der Sache des Denkens aus, die in Zeit und Sein als „Ereignis“, in Das Ende der Philosophie als „Lichtung“ bezeichnet wird. Die Lichtung ist das, was „Sein und Denken, deren Anwesen zu und für einander erst gewährt“ (GA 14, 84). Ebenso heißt es im ersten Vortrag, dass Sein
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und Zeit einer ursprünglichen Ermöglichung und Zusammenkunft bedürfen, die Heidegger „Ereignis“ nennt.⁵⁰ Über diese Terminologie hinaus ist in diesem Kontext der Verweis entscheidend, dass „die Lichtung nicht bloße Lichtung von Anwesenheit, sondern Lichtung der sich verbergenden Anwesenheit“ ist (GA 14, 88). Ebenso handelt es sich im Fall des Ereignisses um „das sich verbergende Ereignen“ (GA 14, 24). Die Lichtung und das Ereignis nennen also jeweils keine ursprüngliche Offenheit und keinen originären Konstitutionsgrund, sondern sie werden allein im Zusammenhang mit der Verbergung gedacht. Der Grundzug der ἀλήθεια wird ebenso als die ihr innewohnende λήθη beschrieben: „das Sichverbergen, die Verborgenheit“ ist „das Herz der ἀλήθεια“ (GA 14, 88).⁵¹ Die Verbergung darf weder personifiziert noch hypostasiert werden, als ob es sich um den anfänglichen Entzugsakt eines im Verborgenen agierenden Prinzips oder eines ursprünglichen Akteurs handeln würde. Das Erfahren der ἀλήθεια ist „nichts Mystisches, kein Akt der Illumination“ (GA 14, 63). Die Verbergung deutet zudem auf keine reine Abwesenheit, sondern auf eine strukturelle Paradoxie der Erschließung von Sein. Die λήθη in der ἀλήθεια nennt lediglich die Dimension der Latenz in der Konstitution von Sinn. Insofern es aber latent ist, ist das vermutlich Abwesende eigentlich anwesend.⁵² Diese Bedeutung der Verbergung bewährt sich auch in Heideggers Interpretation der Metaphysik. Die Metaphysik erfährt, „was die ἀλήθεια als Lichtung gewährt, nicht was sie als solche ist“ (GA 14, 88). Die Metaphysik begreift das Sein
Heidegger betont in dieser Partie, dass das Sein selbst – der transzendentale Horizont des Seienden – gegeben werden muss. Was Sein ermöglicht, ist ein Es. In diesem Es, das Zeit „reicht“ und Sein „schickt“, „zeigt sich ein Zueignen, ein Übereignen, nämlich von Sein als Anwesenheit und von Zeit als Bereich des Offenen in ihr Eigenes. Was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d. h. in ihr Zusammengehören bestimmt, nennen wir: das Ereignis“ (GA 14, 24). Das Denken, das über die Metaphysik hinausgehen soll, beruht auf der Einsicht, dass der Entzug „zum eigentümlichen des Ereignisses gehören“ muss (GA 14, 27). Heidegger gesteht trotzdem „das Unvermögen, das hier zu Denkende sachgerecht zu denken“ (GA 14, 25). Dem Denken bleibt nur die tautologische Aussage bzw. die „Autophasis“: „Das Ereignis ereignet“ (GA 14, 29). Die Autophasis verweist aber auf „das Älteste des Alten im abendländischen Denken“, „das Uralte, das sich in dem Namen ά-λήθεια verbirgt“ (GA 14, 29). Was sich aber im Namen der ἀλήθεια verbirgt, ist die λήθη. Das Uralte – das Es, das Sein gibt – ist kein Verborgenes, sondern die Verbergung selbst. Jacques Derrida (1972) betont in seinem Kommentar zu Heideggers Verständnis der Anwesenheit, dass es als reines Abwesendes nichts zu denken gäbe. Heideggers Entzugsbegriff stammt vielmehr vom aristotelischen Begriff der στέρησις. Dazu schreibt Heidegger in seinem Kommentar Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1 (1939): „Στέρησις als Abwesung ist nicht einfach Abwesenheit, sondern Anwesung, diejenige nämlich, in der gerade die Abwesung – nicht etwa das Abwesende – anwest“ (GA 9, 296 – 297). Heidegger lehnt die Bedeutung der Verbergung als Abwesenheit ebenfalls in den Beiträgen zur Philosophie ab (GA 65, 340).
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als „Grund (ἀρχή, αἴτιον, Prinzip)“ – als das, „von woher das Seiende als ein solches in seinem Werden, Vergehen und Bleiben als Erkennbares, Behandeltes, Bearbeitetes ist, was es ist und wie es ist“ (GA 14, 69). So wurde in der abendländischen Geschichte das Sein jeweils als „Verursachung des Wirklichen“, als transzendentale Möglichkeit der Gegenständlichkeit, „als dialektische Vermittlung“ und als „der wertsetzende Wille zur Macht“ begriffen (GA 14, 70). Die Metaphysik denkt das Sein „im Gepräge des λόγος“ (GA 11, 65), so Heidegger in der Ontotheologischen Verfassung der Metaphysik (1956/57). Das Sein selbst wird am Anfang der abendländischen Philosophie als „der sich selbst ergründende und begründende Grund“ bestimmt (GA 11, 65). Der Grund (ratio) ist nach seiner Wesensherkunft „der Λόγος im Sinne des versammelten Vorliegenlassens: das Ἓν Πάντα“ (GA 11, 65). Das Sein gilt in der Metaphysik als das Alles einende Eine. Die Aufgabe der Metaphysik ist es, die versammelnde und begründende Einheit des Ganzen zu begreifen.⁵³ Das, was Vieles auf Eines hin greift und es in ein Wort versammelt, ist der Begriff. In diesem Sinne ist die Metaphysik in ihrem Ganzen Logik im hegelschen Sinne: Wir verstehen jetzt den Namen ‚Logik‘ in dem wesentlichen Sinne, der auch den von Hegel gebrauchten Titel einschließt und ihn so erst erläutert, nämlich als den Namen für dasjenige Denken, das überall das Seiende als solches im Ganzen vom Sein als dem Grund (λόγος) her ergründet und begründet (GA 11, 66 – 67).
Der Grund, von welchem her und auf welchen hin die Metaphysik die Anwesenheit deutet, ist aber selbst vorbestimmt – in dem Sinne, dass die Metaphysik darüber nicht entscheidet.Wenn beispielsweise für Hegel die Subjektivität der Ort ist, an dem Sein gesetzt und Anwesenheit vermittelt wird, dann stellt er jedoch die Frage nicht, „inwiefern es Anwesenheit als solche geben kann“ (GA 14, 86 – 87). Würde man diese Frage stellen, so würde man erfahren, dass die Subjektivität eines ermöglichenden Bereiches bedarf – dass, bevor die Anwesenheit in der spekulativen Dialektik „für sich selbst gegenwärtig“ werden kann, es Anwesenheit geben muss (GA 14, 77).⁵⁴ Dass die Metaphysik Onto-theo-logie ist, bedeutet für Heidegger dreierlei: Erstens befasst sich die Metaphysik mit dem Sein im Allgemeinen (mit dem ὄν ᾗ ὄν). Zweitens führt sie das Seiende im Ganzen auf einen ersten Grund bzw. auf den θεός als das höchste Seiende, das für alles Seiende bestimmend ist. Drittens erschließt die Metaphysik die erste Ur-Sache, die ultima ratio im Begriff. Das Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes bedarf laut Heidegger einer „Helle“. Diese Offenheit „gewährt auch dem Gang des spekulativen Denkens erst den Durchgang durch das, was es denkt. Wir nennen diese Offenheit, die ein mögliches Scheinenlassen und Zeigen gewährt, die Lichtung“ (GA 14, 80).
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I Begriff, Negativität und Endlichkeit: Heidegger liest Hegel
Die abendländische Bestimmung des Seins als Anwesen denkt das Sein im Horizont der Sagbarkeit und der Begreifbarkeit. Auf diese Weise wird das Sein selbst – als das Andere des Sagbaren und Begreifbaren – am Ende der Metaphysik zum leersten Begriff, zum schlechthin Abstrakten, das „in das schlechthin Konkrete der Wirklichkeit des absoluten Geistes aufgehoben wird, was im gewaltigsten Denken der neueren Zeit, in Hegels spekulativer Dialektik sich vollzogen hat und in seiner Wissenschaft der Logik dargestellt wird“ (GA 14, 10).⁵⁵ Was dagegen laut Heidegger gedacht werden soll, ist nicht das Sein, das in einem vorbestimmten Horizont der Denkbarkeit erschlossen ist, sondern, wie man seinen Gedanken auslegen könnte, die Denkbarkeit als solche – „die Unverborgenheit des Seins qua Sein“ (GA 14, 36). Wie kann die Anwesenheit als solche gedacht werden, ohne sie, wie in der Metaphysik geschehen, auf einen Grund zurückzuführen? Der letzte Satz des Vortrages Das Ende der Philosophie lautet: „Die Aufgabe des Denkens wäre dann die Preisgabe des bisherigen Denkens an die Bestimmung der Sache des Denkens“ (GA 14, 90).⁵⁶ Das philosophische Denken, das Heidegger fordert, wäre somit ein Denken, das auf Bestimmung verzichtet. Vor diesem Hintergrund beschreibt Heidegger am Anfang des Vortrages Zeit und Sein seine Herangehensweise als einen „Gang des Zeigens“, der nicht „eine Reihe von Aussagesätzen“ ist (GA 14, 6). Eine Randbemerkung zum Ausdruck „Zeigen“ lautet an dieser Stelle: „Sagen: Zeigen – rufendes Nennen (das Verschwinden des ‚als‘)“ (GA 14, 6). Heidegger scheint hier anzudeuten, dass die Überwindung des metaphysischen Begründungsparadigmas das Verschwinden des Als fordert. Im Lichte des bisher Gesagten würde Heideggers Argument darin bestehen, dass die (begriffliche) AlsStruktur die ἀλήθεια auf den Bereich der Bestimmbarkeit und der vertrauten Verständlichkeit zurückführt und somit das jeweils vorherrschende Paradigma der Verständlichkeit bestärkt. Wie wäre aber die ἀλήθεια ohne die Vermittlung der Als-Struktur zu denken? Heidegger geht auf diese Frage in Zeit und Sein ausdrücklich ein: Wenn „die einzige Absicht dieses Vortrags“ darin bestehe, „das Sein selbst als das Ereignis in den Blick zu bringen“, dann ist dabei „auch das scheinbare und stets verfängliche, weil mehrdeutige ‚als‘ zu denken“ (GA 14, 26). Das Als ist verfänglich, weil es das Sein unter einen Begriff bringt. So wurde das Sein in der Geschichte der
Gadamer kritisiert Heideggers Interpretation des hegelschen Seinsbegriffs. Gadamer erwidert, dass Hegel unter Sein nicht bloß das unbestimmte Unmittelbare begreift, sondern vielmehr seine absolute Bestimmtheit, d. h. den vollständigen Sinn von Sein (vgl. Gadamer 1971b, 82– 84). In Zeit und Sein formuliert Heidegger die Aufgabe, „das Sein ohne die Rücksicht auf eine Begründung des Seins aus dem Seienden“ (GA 14, 5), oder, was dasselbe ist, „das Sein ohne das Seiende“ zu denken (GA 14, 41).
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Ontologie als ἰδέα bei Platon, als ἐνέργεια bei Aristoteles oder als absoluter Begriff bei Hegel erfasst. Wenn Heidegger das Sein als Ereignis denkt, dann wird es auf diese Weise „als etwas Anwesendes vorgestellt, während wir doch versuchen, die Anwesenheit als solche zu denken“ (GA 14, 25). Die Anwesenheit als solche zu denken, bedeutet, das Als als solches zu denken. Erst in dieser Hinsicht lässt sich Heideggers Anspruch ernst nehmen, dass die Erfahrung der ἀλήθεια als ἀλήθεια kein „Abdanken des Denkens“ ist (GA 14, 63). Ebenso muss das, was in der ἀλήθεια erfahren wird, kein reines Undenkbares sein. Im Als wird Anwesenheit erschlossen und im Als verbirgt sie sich aber als solche. Dieser Gedanke wird in Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 1946) deutlich artikuliert. Die Metaphysik zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch das Erfassen des Seienden als Seiendes das „als solches“ selbst aus dem Auge verliert. Dies ist aber nicht das Resultat einer Nachlässigkeit, sondern es liegt an der Art und Weise, in der das Seiende als solches erschlossen wird – an der Art, in der Sein geschieht. An einer maßgeblichen Stelle skizziert Heidegger die Verbindung zwischen der Unverborgenheit, der Verbergung und dem Als: Indem [die Metaphysik] das Seiende als solches denkt, streift sie denkenderweise das Sein, um es auch schon zugunsten des Seienden zu übergehen, zu dem sie zurück- und bei dem sie einkehrt. Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ‚als solches‘ selbst bedenkt sie nicht. Im ‚als solches‘ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen. Das ᾔ im ὄν ᾔ ὄν, das qua im ens qua ens, das ‚als’ im ‚Seiendes als Seiendes’ nennen die in ihrem Wesen ungedachte Unverborgenheit. So Bedeutendes birgt die Sprache so unscheinbar in so einfachen Wörtern, wenn sie Worte sind. Das ‚als solches‘ streift nennend die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein. Weil jedoch das Sein selbst ungedacht bleibt, bleibt auch die Unverborgenheit des Seienden ungedacht (GA 6.2, 351– 352).
Das in der Metaphysik ungedachte Sein wird in dieser Passage mit dem Als „als solches“ gleichgesetzt. In diesem Sinne bezeichnet das von Heidegger anvisierte „Sein“ nicht die reine Erschlossenheit des Seienden, sondern die zwiespältige Struktur des Als. Im Zwiespalt des Als, zugleich entbergend und verbergend zu sein, liegt die Paradoxie der Sinnerschlossenheit. Die Aufgabe des Denkens würde dann darin bestehen, den Zwiespalt der erschließenden Als-Struktur zu denken.
B Welt und Verbergung Heideggers Entwurf, die ἀλήθεια als solche zu denken, hat die Verbergung, die jede Erschließung von Sinn prägt, zum Gegenstand. Erst dieser zentrale Gedanke Heideggers steht in sachlicher Auseinandersetzung mit Hegels Konzeption der
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Negativität. Bevor wir auf Heideggers Auffassung der Verbergung ausführlich eingehen, soll im Hinblick auf die späten Vorträge Heideggers geklärt werden, welche Art von Bedeutsamkeit primär von Verbergung geprägt ist. Von welchem „Sein“ spricht Heidegger, wenn er die Verbergung als sein konstitutives Moment bezeichnet? Im Seminarprotokoll zu Zeit und Sein (1962) präzisiert Heidegger die Bedeutung des Satzes „es gibt Sein“. Der Satz „weist hinter den theoretischen, allgemeinen ungeblaßten Sinn des bloßen Vorhandenseins, des Vorkommens zurück auf einen Reichtum von Bezügen“ (GA 14, 47). Das Ereignis, dass es Sein gibt, verweist nicht auf das rohe Faktum der Existenz – sei es des Weltalls, des Lebens auf der Erde oder der Menschen in der Natur –, sondern auf einen Überschuss von Sinn. Dieser Überschuss konturiert die Bedeutsamkeit dessen, was uns angeht. Der von Heidegger angesprochene Reichtum von Bezügen macht eine Welt aus. So wird im Protokoll behauptet, dass die Differenz zwischen Sein und Seiendem besser als „Verhältnis zwischen Welt und Ding“ zu verstehen ist (GA 14, 46). „Es gibt Sein“ besagt demnach: „Es gibt Welt“. Um das semantische Feld des Weltphänomens zu umreißen, gibt Heidegger ein einfaches Beispiel: Im Bach gibt es Forellen. Dieser Satz sei keine bloße Feststellung von einem Sachverhalt, sondern ein Beleg, dass im gewöhnlichen Gebrauch von „es gibt“ „schon der Bezug zum Menschen“ liegt: „Was es gibt, ist nicht bloß vorhanden; es geht vielmehr den Menschen an“ (GA 14, 47). Der Ausdruck „es gibt“ verweise demnach auf das uns Angehende. Deswegen wird das Sein im „es gibt“, so Heidegger, „deutlicher“ als im bloßen Verb „sein“ und „ist“ gedacht (GA 14, 47). Das, was es gibt, sind nicht nur Steine und Sterne, physikalische Gesetze und die organische Natur. Die Scheu und das Fest, den Weinberg und die Brise – so die Themen der in diesem Seminar von Heidegger vorgelesenen Gedichte zur Veranschaulichung seines Weltbegriffes – gibt es ebenso.⁵⁷ Ein Weinberg und ein Hafen sind zwar wahrnehmbar, aber ihre Bedeutung konstituiert sich nicht durch
Heidegger exemplifiziert den Gedanken an den Reichtum von Bezügen anhand von drei Gedichten von Trakl und Rimbaud, die sich dadurch auszeichen, dass einfache Aspekte und Vorkommnisse der menschlichen Lebenswelt aufgezählt werden. Trakls Psalm beginnt beispielsweise mit den Versen: „Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. / Es ist ein Heidekrug, den Nachmittag ein Betrunkener verläßt. / Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. / Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben“ (GA 14, 48). Trakl soll Rimbauds Gedicht Enfance bekannt gewesen sein, dessen dritten Teil Heidegger zitiert: „Au bois il y a un oiseau, son chant vous arrête et vous fait rougir. / Il y a une horloge qui ne sonne pas. / Il y a une fondrière avec un nid de bêtes blanches. / Il y a une cathédrale qui descend et un lac qui monte. / Il y a une petite voiture abandonnée dans le taillis, ou qui descend le sentier en courant, enrubannée. / Il y a une troupe de petits comédiens en costumes, aperçus sur la route à travers la lisère du bois. / Il y a enfin, quand l’on a faim et soif, quelqu’un qui vous chasse“ (GA 14, 48).
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Kategorien der zeiträumlichen Wahrnehmbarkeit. Dinge der menschlichen Welt sind mit Bedeutungen trächtig, die über das Empfindbare und das Messbare, über das Anschauliche und das Kategoriale hinausgehen. Heidegger grenzt sich damit vom kantischen Transzendentalprogramm als Untersuchung der Konstitution von Gegenständlichkeit ab: „Durch den Bezug des Anwesenlassens auf die ἀλήθεια wird die ganze Frage nach dem Sein des Seienden aus der kantischen Fragestellung der Konstitution der Gegenstände herausgenommen“ (GA 14, 56).⁵⁸ Der Begriff des Ereignisses verweist auf das Geschehen von Weltbedeutsamkeit. Seiendes begegnet uns, insofern es Welt gibt. „Aber wie ‚gibt es‘ Welt?“, wie Heidegger bereits in Sein und Zeit fragt (SZ, 97). Das Ereignis von Welt ist wesenhaft unauffällig. In dem, was uns angeht, kommt ein Reichtum von semantischen Bezügen derart zum Tragen, dass dieser Reichtum selbst in unserer unmittelbaren Erfahrung latent ist. Heidegger betont im Seminar zu Zeit und Sein, dass es „immer zu bedenken [ist], daß zum Ereignis wesentlich die Enteignis gehört“ (GA 14, 52). Die „Enteignis“ is ein Ausdruck für die konstitutive Funktion der Verbergung im Sinngeschehen bzw. der λήθη in der ἀλήθεια. Was es gibt, ist „nicht das Verfügbarsein dessen, was es gibt, sondern dieses gerade als ein Unverfügbares, das Angehende als ein Unheimliches, das Dämonische“ (GA 14, 49). Das Dämonische ist eine Anspielung auf Heraklits Vokabel δαίμων. Im Brief über den Humanismus (1947) steht der Begriff des δαίμων im Zusammenhang mit dem ἔθος, dem Aufenthalt des Menschen. Heidegger geht dort auf Heraklits Spruch ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων ein und übersetzt ihn folgendermaßen: „Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes“ (GA 9, 354– 355). Die Anwesenheit Gottes ist aber nichts Außenordentliches. Gerade im Alltäglichen und Unscheinbaren sind die Götter manifest, wie einmal Heraklit am Backofen seinen Besuchern mitteilte: εἶναι γὰρ καὶ ἐνταῦθα θεούς, „Götter wesen auch hier an“ (GA 9, 356). Die Präsenz der Götter hat die Form einer unauffälligen Latenz. Im
In Kants Werk gibt es jedoch eine wesentliche Stelle, die „rücksehend“ im Zusammenhang mit dem ἀληθεύειν zu verstehen sei: Dafür zeugt „im Kant-Buch die Herausstellung der Einbildungskraft“ (GA 14, 56). Das Kant-Buch ist das 1929 veröffentlichte Buch Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3. Der Zusammenhang zwischen der kantischen Einbildungskraft und Heideggers Konzeption der Sinnkonstitution bedarf einer separaten und ausführlichen Ausführung (vgl. Gethmann 1974). Der Zusammenhang zwischen der kantischen Einbildungskraft und dem hier besprochenen Überschuss an Sinn ist auch im Hinblick auf Hegels Behandlung des Verhältnisses zwischen der ästhetischen Idee, dem geistigen Bereich und der begrifflichen Artikulierbarkeit von großer Bedeutung (vgl. dazu Kap.VI.1.E: „Sprachlicher Begriffsinhalt: Die Vernunft als diskursives Vermögen“).
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ἦθος – im banalen Aufenthalt des Menschen – ist das Ungeheuere – die überschüssige Bedeutsamkeit – auf eine verborgene Weise anwesend.⁵⁹ Die Verbergung ist Grundzug des Weltphänomens. Ausgehend von diesem Gedanken bewertet Heidegger selbst sein Hauptwerk Sein und Zeit neu. Die Einsicht von Sein und Zeit bestehe darin, dass in der ganzen Metaphysik zwar das Sein des Seienden gedacht und in den Begriff gebracht, somit auch die Wahrheit des Seienden sichtbar gemacht wurde, daß aber in allen Manifestationen des Seins seine Wahrheit als solche nie zur Sprache gekommen ist, sondern vergessen blieb. Die Grunderfahrung von Sein und Zeit ist somit die der Seinsvergessenheit. Vergessenheit aber heißt hier im griechischen Sinne: Verborgenheit und Sichverbergen (GA 14, 37).
Die Vergessenheit des Seins ist keine Folge der Nachlässigkeit der abendländischen Philosophie, sondern eine Implikation der Erschließung von Sein. Deshalb hat das Denken nun die Aufgabe, „Sein so zu denken, dass die Vergessenheit zu ihm wesentlich gehört“ (GA 14, 37). Die neu definierte Aufgabe des Denkens liegt daher in der Forderung, das Sinngeschehen von der ihm wesentlich zugehörigen Verbergung her zu begreifen (vgl. Kap III: „Gründung und Verbergung“). Um diese Aufgabe zu verstehen, vor allem um ihre Abgrenzung von der hegelschen Begriffsphilosophie nachzuvollziehen, ist es nötig, Heideggers Denken von seinem Anfang an zu untersuchen, um die Bedeutung der Verbergung zu klären. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels soll der Übergang zu Heideggers Konzeption der Verbergung geschafft werden.
C Begriff und Endlichkeit Anzuerkennen, dass die Verbergung eine konstitutive Dimension des Sinngeschehens ist, ist für die heideggersche Bestimmung der Aufgabe des philosophischen Denkens zentral. Es handelt sich um das wesentliche Merkmal des heideggerschen Denkens im Kontrast zur herkömmlichen Metaphysik. Es wäre dementsprechend schwierig, Texte von Heidegger ab 1930 zu finden, die nicht in das Motiv der Aufbewahrung der Verbergung münden: Diese sei der Entbergung – sei im Hinblick auf die φύσις, den λόγος, die Dinge oder die Kunst – inhärent und
Der Einfluss Hölderlins auf diesen Gedanken Heideggers ist entscheidend. Die latente Präsenz der Götter wird gerade durch ihre Abwesenheit gesteigert – ein Gedanke, der mit Heidegger Diagnose der Moderne verbunden ist. Zu Hölderlins Einfluss auf den späten Heidegger vgl. Großmann 1996, 231: „Der Gott ist anwesend, gerade indem er sich entzieht“.
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selbst keine Abwesenheit, sondern „Anwesung, diejenige nämlich, in der gerade die Abwesung – nicht etwa das Abwesende – anwest“ (GA 9, 297).⁶⁰ Welcher Art ist aber eine Verbergung, die sich nicht mehr verbirgt?⁶¹ Wird sie dadurch nicht aufgehoben? Im Seminarprotokoll zu Zeit und Sein (1962) spricht Heidegger diese Problematik an und verwendet dafür selbst den Terminus der Aufhebung. Was im Denken der Verbergung aufgehoben wird, ist die Seinsvergessenheit – nicht aber die Verbergung. Mit der Erfahrung der Verbergung mache das Denken ein „Ende dieser Geschichte des Entzugs [bzw. der Geschichte der Metaphysik, L.I.]. Die Seinsvergessenheit ‚hebt‘ sich ‚auf‘ mit dem Entwachen in das Ereignis“ (GA 14, 50). Dies bedeute aber nicht, dass die Verbergung aufgehoben wird: Die Verbergung aber, die zur Metaphysik als Grenze gehört, muß dem Ereignis selbst zueigen sein. Das besagt, daß der Entzug, der in der Gestalt der Seinsvergessenheit die Metaphysik kennzeichnete, sich jetzt als die Dimension der Verbergung selbst zeigt. Nur daß jetzt diese Verbergung sich nicht verbirgt, ihr gilt vielmehr mit das Aufmerken des Denkens (GA 14, 50).
Heidegger versteht Hegels Operation der Aufhebung als Auflösung. Die Verbergung begrifflich aufzuheben, bedeute demnach, die Verbergung zu verneinen, aufzuhellen und damit zu überwinden. In dieser Überwindung liegt in Heideggers Augen eine Verdrängung und eine Vergessenheit. Deshalb bestimmt er sein eigenes Projekt, die Verbergung als solche aufzubewahren, gegen den Begriff der Aufhebung. Aus hegelscher Perspektive ist diese Abgrenzung allerdings bizarr, da für Hegel das Moment der Aufbewahrung gerade das Eigentümliche der Aufhebung ausmacht. Die Aufhebung der Verbergung würde für Hegel gerade das Aufrechterhalten der Verbergung und die Überwindung der Vergessenheit derselben bedeuten. Die Aufhebung löst das Negative nicht auf, sondern erkennt dieses als konstitutives Element an (vgl. Kap VI.2.B: „Die Aufhebung“).
Der Satz ist dem Kontext entnommen, in dem Heidegger die aristotelische στέρησις in Vom Wesen und Begriff der Φύσις (1939) interpretiert. Vor dem zitierten Satz, demgemäß die στέρησις als Abwesung nicht einfach Abwesenheit ist, gibt Heidegger das folgende Beispiel: „Wir sagen heute z. B.: ‚Das Fahrrad ist weg‘ und meinen dabei nicht nur, es sei fort, sondern wir wollen sagen: es fehlt.Wenn etwas fehlt, dann ist das Fehlende zwar weg, aber das Weg selbst, das Fehlen bringt uns gerade auf und beunruhigt uns deshalb, was alles das ‚Fehlen‘ nur kann, wenn es selbst ‚da‘ ist, d. h. ist, d. h. ein Sein ausmacht“ (GA 9, 296). Ein weiteres Beispiel dafür, dass das Ausbleibende gestaltend ist, lautet: „Wenn der Wein sauer und zu Weinessig wird, dann wird er nicht nichts. Wir sagen zwar: die Sache ist Essig und wollen andeuten, aus ihr sei ‚nichts‘ geworden, nämlich nicht das Erwartete. Im ‚Essig‘ liegt das Ausbleiben, die Abwesung des Weines“ (GA 9, 297). Vgl. zu dieser Frage Agamben 2013.
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Am Ende des Seminars zu Zeit und Sein wird die Frage nach der „Herkunft der Hegelschen Negativität“ aufgeworfen (GA 14, 58). Heidegger äußert hier einen Vorbehalt gegenüber seiner eigenen kritischen Einstellung: In Hegels frühen Schriften und in der Phänomenologie des Geistes scheint „die Negativität des Negativen nicht auf die Reflexionsstruktur des Bewußtseins zurückführbar zu sein“ (GA 14, 58). Stattdessen steht die Negativität bei dem jungen Hegel mit dem Begriff der Lebendigkeit in Zusammenhang, obwohl „der neuzeitliche Ansatz beim Bewußtsein ganz erheblich zur Entfaltung der Negativität beigetragen hat“ (GA 14, 58). Heidegger führt weiter aus: „Die Negation könnte vielmehr mit dem Gedanken der Zerrissenheit zusammenhängen, also (sachlich gesehen) auf Heraklit (διαφέρον) zurückgehen“ (GA 14, 58). Der Rückgang auf Heraklits Motiv ἓν διαφέρον ἐαυτώ ist kein nebensächlicher philologischer Hinweis, sondern eine entscheidende Andeutung.⁶² Die Textstelle ist nicht nur ein hermeneutischer Vorschlag für Hegels Negativitätskonzeption, sondern auch ein Indiz, wie Heidegger selbst die Negativität vom διαφέρον her versteht. Das διαφέρον darf keine rhetorische Wendung bleiben, sondern soll näher bestimmt werden, und zwar als einen Zwiespalt im λόγος. In Heideggers Aufsatz über Heraklits Logos (1951), auf den bereits verwiesen wurde, heißt es: „Die ᾿A-Λήθεια ruht in der Λήθη, schöpft aus dieser, legt vor, was durch diese hinterlegt bleibt. Der Λόγος ist in sich zumal ein Entbergen und Verbergen. Er ist die ᾿Aλήθεια“ (GA 7, 225 – 226). Der λόγος ist bei Heidegger die Erschließung von Sinn. Der λόγος versammelt, so Heidegger, die Anwesenden in ihr Anwesen, was bedeutet, dass der λόγος die Dinge in ihrer Bedeutung erschließt. Um Mannigfaltiges auf Eines zusammenzubringen, muss zuerst gelesen und gesammelt werden. Was durch den λόγος offenbar wird, ist die versammelte Einheit. Aber sowohl das, was im Voraus abgesondert und beiseitegelassen wird, als auch das, was ausgelesen und beigebracht wird, erscheint nicht in der einheitlichen, konstituierten, unverborgenen Gestalt. In diesem Sinne sagt Heidegger: Indem der λόγος entbirgt, verbirgt er zugleich. Was der λόγος verbirgt, ist gerade das, was in einer Sinneinheit bzw. im Wort versammelt wird. Das im Wort Versammelte – der Auslese- und Konstitutionsprozess – erscheint in der Unmittelbarkeit des Versammelten nicht. Das Unmit-
Das Fragment Heraklits wurde bereits in der Einleitung zitiert: „οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷι ὁμολεγέει · παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης (Diels-Kranz 1956, 162: „Sie verstehen es nicht, wie es (das Eine) auseinanderstrebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier“). Platon verweist ebenfalls in Symposion (187a) auf diesen Spruch Heraklits: „was vielleicht auch Heraklit sagen will, nur drückt er es mit seinen Worten nicht deutlich aus: Das Eine nämlich, sagt er, strebe auseinanderstrebend in sich selbst zusammen, gleich wie die harmonische Fügung des Bogens und der Leier“.
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telbare nährt sich jedoch gerade aus den semantischen Schichten, die nicht erscheinen – aus der λήθη. Dementsprechend bringt der Ausdruck ἀλήθεια den Sachverhalt zum Ausdruck, dass die Unverborgenheit von Verbergung geprägt ist. Die ἀλήθεια bezeichnet somit die Natur des λόγος, Bedeutungen derart hervortreten zu lassen, dass das, was in ihnen mit zum Tragen kommt, verborgen bleibt. Heideggers Konzeption der Verbergung steht in einem wesentlichen Spannungsverhältnis mit dem Stellenwert des Begriffs. Der Begriff ist einerseits selbst erschließend und verbergend zugleich. Indem das Begreifen sich selbst der eigenen Verbergung gewahr wird, kann die Verbergung andererseits derart transparent werden, dass die inhärente Spannung des Begriffs heruntergespielt wird. Für Heidegger bedeutet dies, dass das Begreifen die Endlichkeit des Daseins nicht überbrücken kann. Der heideggersche Ansatz der Endlichkeit besagt, dass, wenn der einzige Ort, an dem der Sinn von Sein erschlossen wird, der sterbliche Mensch ist, dann entsteht und vergeht das Sein, das im λόγος erschlossen wird, mit dem Aufenthalt der Sterblichen. Mit der Vergänglichkeit des Menschen geht der Verlust des Seins einher, das in einer Sprache erschlossen wird. Darin liegt laut Heidegger die Endlichkeit des Seins selbst – und nicht nur des Menschen. In der Begriffsphilosophie erkennt Heidegger so den Anspruch, die Bedeutsamkeit einer Welt auf kategoriale, festgelegte Schemata zu bringen, um sie auf Dauer aufzubewahren.⁶³ Dadurch wird aber der endliche, kontingente Charakter von Sinn überspielt. Liegt aber in dieser Gefahr der Begriffsphilosophie ein ausreichender Grund, um auf den Begriff zu verzichten und im „Namenlosen zu existieren“?⁶⁴ Oder hat das philosophische Denken doch die Fähigkeit, den inhärenten Zwiespalt von Begriffen anzuerkennen, ohne ihn zu verdrängen oder zu überspielen? Ist nicht vielmehr die Arbeit am Begriff – der menschliche Versuch, die eigene Welt zu artikulieren – der einzige Zugang, den der Mensch zu der ei-
Vgl. GA 14, 59: „Insofern für Hegel der Mensch der Ort des Zu-sich-selbst-kommens des Absoluten ist, führt das zur Aufhebung der Endlichkeit des Menschen. Bei Heidegger hingegen wird die Endlichkeit – und zwar nicht nur die des Menschen, sondern die des Ereignisses selbst – gerade sichtbar gemacht“. Der Ausdruck ist Heideggers Brief über den Humanismus entnommen: „Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren. (…) Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt“ (GA 9, 319). Vgl. Kap. IV.3.D: „Der letzte Gott und die Aufgabe der Bestimmung“.
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genen Endlichkeit erhält? Was wäre andernfalls eine Welt, die unbegriffen bliebe?⁶⁵ Um diese Fragen zu beantworten, ist es erforderlich, Heideggers Verständnis der Art und Weise, in der Begriffe gebildet werden, zu rekonstruieren. So soll Heideggers Endlichkeitsansatz auf seine theoretische Grundlage zurückgeführt werden, insofern sein Gedanke der Verbergung möglichst gründlich und präzise verdeutlicht wird. Zu diesem Zweck werden im Folgenden die wichtigen Stellen des heideggerschen Werkes näher betrachtet und zuerst im nächsten Kapitel eine eingehende Analyse von Sein und Zeit unternommen, um nachzuvollziehen, wie Heidegger das Verhältnis zwischen Verstehen und Begreifen konzipiert. Diese Analyse wird zeigen, inwiefern der Gedanke der Verbergung als Spannung der Als-Struktur und als Zwiespalt zwischen φαίνεσθαι und λόγος bereits in Heideggers Hauptwerk angelegt ist.⁶⁶
Gadamer erkennt in Heideggers Vorbehalt gegen den Logos „ein antigriechisches Motiv“, das er von Luther, Meister Eckhard und Augustinus geerbt hat. Das griechische Prinzip des Logos erscheint in dieser Tradition als „eine verfremdende Gewalt, die dem Mysterium des Glaubens angetan wird“. So ist auch Hegels „radikales Durchführen des Logos“ in der Darstellung „der menschlich-geschichtlichen Welt“ ein Beweis der gesteigerten Seinsvergessenheit. Der Logos deutet bei Heidegger auf ein griechisch-metaphysisches Paradigma, das Sein nur im Horizont des Wissens, der Gegenständlichkeit und der Aussagen bzw. im Horizont der begrifflichen Verständlichkeit verortet (vgl. Gadamer 1971a, 94). Erst in Vom Wesen der Wahrheit (1930), das im dritten Kapitel analysiert wird, wird der Gedanke jedoch in aller Deutlichkeit formuliert. Dort heißt es, dass „das Seinlassen“ – die Erschließung von Sinn – „in sich zugleich ein Verbergen“ ist (GA 9, 193). Im Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36) erfährt der Gedanke eine wichtige Umdeutung als Streit zwischen Erde und Welt. Er erreicht schließlich seine radikalste Formel in den Beiträgen (1936 – 1938), wo die Wahrheit des Seins als „lichtende Verbergung“ definiert wird, wie das vierte Kapitel der Arbeit erläutert.
II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit Die prominente Ausgangsfrage von Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (1927) zielt auf den Sinn von Sein. Die provisorische Formulierung dieser Frage, nämlich was Sein bedeutet, könnte den Anschein erwecken, dass der Forschungsgegenstand das Sein überhaupt ist – im Sinne der traditionellen Ontologie, welche die Substanz der Dinge oder die Existenz überhaupt zum Gegenstand hat. Die heideggersche Fragestellung setzt jedoch den Akzent nicht so sehr auf das Sein als vielmehr auf den Sinn. Die Frage nach dem Sinn von Sein stellt vor allem darauf ab, wie das, was jeweils ist, zu seiner jeweiligen Bedeutung gelangt. Der Gegenstand der von Heidegger beabsichtigten phänomenologischen Fundamentalontologie ist die bedeutsame Erscheinung von Seiendem – das Wie der Phänomenalität. Und der Terminus „Sein“ steht primär für die Art und Weise, auf die Sinn geschieht.¹ Das Phänomen der Welt verkörpert bei Heidegger die Verflechtung von Sein und Sinngeschehen. Als „Welt“ bezeichnet Heidegger den übergreifenden Horizont von semantischen Bezügen, in dem Seiendes als solches erscheint. Ein Seiendes ist, was es ist, insofern es bedeutet, was es bedeutet. Und seine Bedeutung hängt mit der Konstituierung einer Welt zusammen. In einem 1927 an Husserl geschriebenen Brief erklärt Heidegger dementsprechend: „[W]elches ist die Seinsart des Seienden, in der sich ‚Welt‘ konstituiert? Das ist das zentrale Problem von Sein und Zeit“ (GA 14, 131). Die Art und Weise, in der sich Welt konstituiert, liegt so an der Seinsart des menschlichen Daseins. Dieser Zusammenhang antizipiert entscheidende Charakteristika der Weltbedeutsamkeit: Die Konstitution einer Welt ist einerseits im menschlichen Verstehen eingebettet und andererseits an die Endlichkeit des menschlichen Daseins gebunden.² Der Ansatz, dass Heideggers Frage nach dem Sein als Frage nach der Konstitution und Herkunft der Bedeutsamkeit zu verstehen ist, wurde jüngst von Thomas Sheehan in Making Sense of Heidegger (2015) vertreten. Sheehan ist der Ansicht, dass das „Sein des Seienden“ durch die „Bedeutung des Bedeutsamen“ ersetzt werden kann. Sheehan dokumentiert diese Ersetzbarkeit im ganzen Werk Heideggers und fokussiert sich besonders auf Heideggers frühe Interpretationen von Aristoteles. Sheehan kommt somit das Verdienst zu, einer in der Heideggerexegese sonst üblichen Personifizierung und Hypostasierung des Seins entgegenzutreten. Carl Friedrich Gethmann (1993) hat überzeugend gezeigt, dass Heideggers Denken von der Frage nach der Seinsart dessen, was im modernen Idealismus als transzendentales, weltloses und weltkonstituierendes Ego betrachtet wird, ausgeht. Wenn die klassichen Transzendentalprojekte nach der Konstitution von Welt im Hinblick auf die subjektiven Möglichkeitsbedingungen derselben fragen, bleibt Heidegger zufolge die Frage nach der konkreten Konstitution der transzendentalen Subjektivität selbst aus. Auf diese Weise kommt Heidegger zur Einsicht, dass das weltkonstituierende Subjekt immer schon in der Welt verankert ist, dass der Mensch als Entwurf https://doi.org/10.1515/9783110659801-004
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Heidegger grenzt sein Verständnis der Welt als einer Ganzheit von Bedeutungszusammenhängen von der kartesischen Auffassung der Welt als res extensa, aber auch vom kantischen Erfahrungsbereich der raumzeitlichen Gegenständlichkeit ab. Dass das Seiende als solches in einer Welt auftritt, bedeutet, dass es dabei in seinem vollumfänglichen Sinn zum Tragen kommt und nicht bloß in seiner vorhandenen und wahrnehmbaren Gegenständlichkeit. Der vollumfängliche Sinn eines Hammers etwa ist nicht auf seine objektiv-anschaulichen Eigenschaften zurückzuführen, sondern gehört in ein umfassendes Netz von semantischen Bezügen, zweckdienlichen Praktiken und gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Analyse der Weltlichkeit in Sein und Zeit erweckt allerdings den Eindruck, dass die Weltbedeutsamkeit vorwiegend auf der Pragmatik des alltäglichen Umgangs mit dem Zeug beruht.³ Die Weltbedeutsamkeit geht dennoch in der Zuhandenheit nicht auf (SZ, 75), sondern sie ist von einem semantischen Reichtum geprägt – und nicht zuletzt von einer ethischen oder regulativen Dimension, wie Heidegger in Vom Wesen des Grundes (1929) durch die Verbindung seines Weltbegriffs mit Platons τὸ ἀγαθόν und Kants Vernunftbegriff suggeriert.⁴ Vor diesem Hintergrund betrachtet dieses Kapitel die maßgebliche Rolle, die die Dimension der Verbergung in der Konstitution der Welt bzw. in der Erschlie-
ein geworfener ist und somit von seinen Weltbezügen durch eine transzendentale Reduktion nicht getrennt werden kann. Dadurch hebt Heidegger die Unterscheidung zwischen Ich als konstituierendem Subjekt und der konstituierten Welt auf. Die Welt selbst ist für Heidegger constituens, insofern das transzendentale Ego ein konkret mundanes, ein in der Welt seiendes Dasein ist, so Gethmann. In dieser Hinsicht ist die Welt keine Bestimmung des Seienden, das nicht Dasein ist, sondern Charakter des Daseins selbst. Dies bedeutet einerseits, dass der klassische Begriff der Welt als Bereich der wissenschaftlich erkennbaren Vorhandenheit nur Konstrukt einer bestimmten Weise des In-der-Welt-seins ist, und andererseits, dass „die reine Inblicknahme intentionaler Akte“, d. h. die transzendentale Rekonstruktion subjektiver Kategorien „überlüssig“ ist, „weil das Dasein in seinen Akten immer schon sich selbst – wenn auch unthematisch – versteht und auslegt“ (Gethmann 1993, 27– 28). Dass die Zuhandenheit für die Weltbedeutsamkeit paradigmatisch ist, ist eine der verbreitetsten Annahmen über Sein und Zeit. Heidegger setzt der kartesischen Ontologie der res extensa eine Ontologie des Zuhandenen und dem herkömmlichen Vorrang des Theoretischen den Vorrang der Praxis entgegen. Die Praxis wird dabei vor allem als Hantieren und Herstellen verstanden, wie Romano Pocai bemerkt: „Das Modell für Heideggers Analyse der Welt bildet die vormoderne Arbeitsstätte des Handwerkers“ (Pocai 2001, 55). Im Rahmen der pragmatischen Lesart von Sein und Zeit scheinen auch die anderen Dimensionen des Daseins – etwa das Mitsein oder der Bezug auf den Tod – in das Bedeutungsnetz des Zuhandenen einbezogen zu werden (vgl. Dreyfus 2001). Der Einsicht, dass Heideggers Weltbegriff nicht auf die Dimension des Zuhandenen reduzierbar ist, sondern auf eine grundlegende gesellschaftliche und geschichtliche Normativität unseres Inder-Welt-Seins verweist, ist – im Rahmen einer pragmatistischen Lesart – Robert Brandom am nächsten gekommen (vgl. Brandom 2002a, 324– 347).
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ßung von Sinn spielt. Dieser Gedanke Heideggers wird an vier Stellen in Sein und Zeit analysiert: (a) Im Hinblick auf die Spannung zwischen Phänomen und Logos (§7); (b) im Hinblick auf die Verbergung der Zuhandenheit zugunsten der Performativität des Zuhandenen (§12-§18); (c) im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Verstehen und Auslegung bzw. zwischen dem ursprünglich-erschließenden Als und dem artikulierenden Als (§29-§34); (d) im Hinblick auf den Zusammenhang der Sinnerschließung mit der Endlichkeit des Daseins (§46-§60). Das Kapitel beginnt mit einem einführenden Teil (II.1), in welchem der Zugang zu den erwähnten Themenbereichen vorbereitet und die mannigfaltige Bedeutung der Verbergung vorab gegliedert wird. Der zentrale Gedanke, dass die Art, in der Sinn erschlossen wird, von Verbergung geprägt ist, soll von anderen Arten der Verdeckung und Verstellung, die in Sein und Zeit thematisiert werden, unterschieden werden. Es wird sich erweisen, dass das entscheidende Konzept der Verbergung auf eine Paradoxie des Verstehens bzw. auf einen Zwiespalt des Als hindeutet. Diese These soll hier kurz vorgestellt werden. Die Erschließung von Welt gehört mit dem Verstehen von Sein zusammen. Das Verstehen von Sein ist, wie Heidegger in Vom Wesen des Grundes (1929) schreibt, „die Urhandlung menschlicher Existenz“ (GA 9, 160). Wir sind nicht nur mit einzelnen Gegenstandsbereichen vertraut, also mit all dem, was uns als Seiendes im alltäglichen Verhalten und im Hantieren, im Betrachten und im Urteilen begegnet, sondern haben auch ein Vorverständnis des übergreifenden Ist. Die Bedeutsamkeit der Welt konstituiert sich in mehrfacher Hinsicht im Verstehen – implizit und explizit, praktisch und theoretisch, in Bezug auf das innerweltliche Seiende und auf den übergreifenden Welthorizont. Heideggers Auffassung des erschließenden Verstehens wird in der Regel ausgehend von seiner Kritik am theoretischen Zugang zum Phänomen der Welt erläutert. Im Urteilen – im apophantischen Als – liege demnach die Gefahr der Verstellung der Eigentümlichkeit von welthaften Phänomenen. Heidegger moniert, dass die moderne Erkenntnistheorie von einer bestimmten Auffassung der Washeit ausgeht und das Weltphänomen, das eigentlich im hermeneutischen Als gründet, auf kategoriale Schemata reduziere. Dieses erkenntnistheoretische Paradigma erfasst er als Vorhandenheitsontologie.⁵ Die Betonung der heideggerschen Kritik an der neukantischen Erkenntnistheorie hat aber die Neigung, zu übersehen, dass selbst die alltägliche und Man hat mit Recht betont, dass Heideggers Kritik am Vorrang des Theoretischen auf seiner Aristoteles-Interpretation fußt. Heidegger wendet sein Verständnis der aristotelischen Wahrheitsund Praxisbegriffe sowohl gegen die neukantianische Erkenntnistheorie als auch gegen Husserls Phänomenologie als transzendentalen Idealismus. Vgl. Bowler 2008; Brogan 2005; Gethmann 1993; Volpi 1988.
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praktische Erschließung der Welt – das hermeneutische Als – nicht ohne Zwiespältigkeit ist. So wie es mannigfache Verstehensarten und Weisen des Erschließens gibt, so gibt es auch unterschiedliche Arten des Verschließens. Wie sich die welthaften Dinge im Alltag faktisch konstituieren, ist selbst von einer inhärenten Verbergung geprägt. Der Ausgangspunkt für diese These ist die Beobachtung, dass die Weltbedeutsamkeit nur derart manifest und wirksam ist, dass sie als solche nicht auffällt. An einer entscheidenden Stelle bei Heidegger heißt es dementsprechend: „Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner Unauffälligkeit. Und darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins dieses Seienden“ (SZ, 75). Das An-sich-sein bezieht sich dabei auf das Zuhandene als solches – und analog dazu auf das Welthafte als solches. Die Erschlossenheit von Sinn ist mit der Verbergung ihrer eigenen Erschlossenheit verflochten. Wenn dem so ist, dann ist Heideggers Gedanke, dass dem Geschehen von Sinn (ἀλήθεια) eine inhärente Verbergung (λήθη) zugehört, bereits in Sein und Zeit angelegt.⁶ Obwohl die Verbergung hier keine offenkundige Schlüsselrolle spielt, ist die Paradoxie, dass die Erschließung von Sinn zugleich verbergend ist, eine direkte Folge der Art und Weise, in der Heidegger Sinn, Verstehen und Erschlossenheit denkt. Die Verbergung besteht einzig und allein in der Erschlossenheit von Sinn – nur als Grundzug derselben – und nicht hinter und jenseits derselben. Wenn Heidegger im siebten Paragraphen von Sein und Zeit davon spricht, dass das Phänomen des Seins das ist, was sich verbirgt, dann darf das Sein nicht als Nichtoffenbares personifiziert und hypostasiert werden. Das Sein steht lediglich für die Art und Weise, auf die Welt geschieht, d. h. auf die Bedeutungen konstituiert werden. Das vorliegende Kapitel soll demnach diese These erläutern und begründen: (1) Der Abschnitt „Der Zwiespalt des Als“ (II.2) bezieht sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Phänomen und Logos im siebten Paragraphen des Werkes und argumentiert, dass die Struktur des Als auch für die Phänomene konstitutiv ist. Im Als des Seienden als Seienden ist der Sinn von Sein verankert und in eins damit auch die ontologische Differenz. Die ontologische
Jean-François Courtine (1988) hat argumentiert, dass Heidegger in Sein und Zeit die Zugehörigkeit der Verbergung zur Erschlossenheit noch nicht deutlich erkennt. Courtine ist der Ansicht, dass Heideggers Phänomenologie eine Alethiologie und eine Aphanologie ist: Das Sein sei für ihn gerade das, was nicht erscheint, was nicht offenbar ist. Courtine erkennt die Wichtigkeit des Verbergungsgedankens für Heideggers Philosophie im Ganzen, er vermeidet aber in seiner Darstellung nicht gänzlich die Gefahr der Personifizierung des Seins bzw. der Hypostasierung dessen Entzugs.
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Differenz wird gewöhnlich als Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem verstanden – entweder als Unterscheidung zwischen einem erschließenden Horizont und dem darin Erschlossenen oder als Differenz zwischen dem Phänomen selbst und seiner Gegebenheitsweise. Die Schärfe dieser Unterscheidung zeigt sich aber besonders dann, wenn man sie von der immanenten Differenz im Seinsverständnis selbst her erfasst. Sein wird nur im Verstehen erschlossen, aber jedes Seinsverständnis deutet auf das Sein als sein immanent Anderes. Mit anderen Worten: Obwohl die Phänomenalität erst im Als erschlossen wird, agiert das φαίνεσθαι als eine Spur im ἑρμενεύειν. Das, was sich zeigt, unterscheidet sich immanent von dem, was im Gezeigten erscheint, obwohl das Sich-Zeigende nur im hermeneutischen Horizont erschlossen wird. Diese immanente Differenz zum Phänomen erweist sich als eine konstitutive Paradoxie für die Bedeutsamkeit, die den zwiespältigen Stellenwert des Verstehens, zugleich erschließend und verbergend zu sein, vorwegnimmt.⁷ (2) Diese Paradoxie wird im Abschnitt „Weltbedeutsamkeit und Verbergung“ (II.3) anhand von Heideggers Analyse der Weltlichkeit veranschaulicht. Besonders die Beschreibung des Zuhandenen und seines vorthematischen Verstandenseins steht dabei im Mittepunkt. Die Eigentümlichkeit des Zuhandenen besteht laut Heidegger darin, „in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein“ (SZ, 69). Wenn das Zuhandene nur ein Beispiel für ein bedeutsames Seiendes ist, dann ist es für jeden alltäglichen Umgang mit einem Seienden charakteristisch, dass sich seine Bedeutsamkeit dabei zurückzieht. (3) Der Abschnitt „Verstehen, Sinn, Urteil“ (II.4) entfaltet die Zusammenhänge zwischen dem apophantischen und dem hermeneutischen Als, zwischen dem Verstehen und der Auslegung. Obwohl Heidegger dem hermeneutischen Als die Rolle einer ursprünglichen Sinnerschließung zuschreibt, welche vom apophantischen Als des Urteils modifiziert und auf das Kategoriale reduziert wird, hebt er zugleich hervor, dass das hermeneutische Als in sich immer schon eine Auslegung enthält. Jeder Sinn ist ein in sich gegliederter und jedes
Heidegger selbst kommt später auf diese Einsicht zurück. An einer in der Einleitung bereits zitierten Stelle aus einem Zürcher Seminar von 1951 heißt es: „Es ist ganz richtig, daß ich die ontologische Differenz, weil das Namen und Begriffe aus der Metaphysik sind, daß ich dasjenige, was in dieser Differenz steht, heute ganz anders benenne, auch der Sache nach anders sehe. Es ist richtig, daß diese Differenz, dia-phora, dieser Austrag von Sein und Seiendem mit dem zu tun hat, was ich die Lichtung, die Wahrheit, die Unverborgenheit nenne; nicht so, daß Unverborgenheit die Verborgenheit beseitigt, sondern daß sie ihr Wesen davon hat – daß sie davon lebt. Das alpha privativum von aletheia gründet in der letheia“ (GA 15, 438).
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Verstehen setzt immer schon die Rede voraus. Von hier aus soll das wechselseitige Verhältnis von Sinn und Artikulation und in eins damit der latente Stellenwert der Auslegung im Verstehen und in der Befindlichkeit konturiert werden. (4) Die Zwiespältigkeit des Verstehens hängt in Heideggers Augen mit der Endlichkeit des Verstehens zusammen. Diesen Zusammenhang zu erhellen, stellt eine Herausforderung dar, welcher sich der letzte Abschnitt „Nichtigkeit, Möglichkeit, Sinnkonstituion“ (II.5) zu stellen versucht.⁸ Die Verbindung von Endlichkeit und Verstehen zeigt sich nicht nur in der entscheidenden Rolle, die die Erfahrung des Todes für das eigentliche Selbstverständnis des Daseins spielt, sondern auch in der Art und Weise, in der das Dasein seine Welt im Verstehen konstituiert und trägt – nämlich als „nichtiges Grund-sein einer Nichtigkeit“ (SZ, 305). Indem das Dasein in eine Welt geworfen ist, ist seine Selbstwahl immer schon zunichtegemacht worden. Indem es sich auf Möglichkeiten hin entwirft, vernichtet es zugleich andere Möglichkeiten seiner selbst. Das Verstehen – das Geworfensein und das Sich-Entwerfen des Daseins – ist somit von Nichtigkeit durchdrungen. Der Zusammenhang zwischen der konstitutiven Endlichkeit des Daseins und der inhärenten Verbergung des Verstehens prägt die Entwicklung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit und wird zum Kernpunkt seiner Philosophie.
1 Koordinaten des Seins A Das Sein als Begriff Im späteren Vortrag Mein Weg in die Phänomenologie (1963) berichtet Heidegger, dass Franz Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seins (1862) „Stab und Stecken“ seiner ersten Versuche war, „in die Philosophie einzudringen“ (GA 14, 93). Aristoteles’ Satz τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς schien ihm in einem Spannungsverhältnis mit der Aufgabe der ersten Philosophie zu stehen,
Der Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Verbergung wurde in der Forschung zwar angesprochen, ohne aber sachlich erklärt zu werden (vgl. Oberst 2009; Schaer 2013). Sheehan (2013) notiert, dass der menschliche Verstand bei Heidegger in einem wesentlichen Zusammenhang mit dem Tod steht und dass die Endlichkeit des Daseins die Quelle von Bedeutsamkeit ist. Heidegger eignet sich dadurch Kants Idee der epistemischen Endlichkeit des Menschen an. Im Kant-Buch (1929) lautet ein berühmter Satz: „Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm“ (GA 3, 229). Inwiefern aber die Sterblichkeit des Menschen mit der epistemischen Endlichkeit zusammenhängen soll, ist alles andere als selbstverständlich.
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das Seiende als Seiendes zu betrachten und eine einheitliche Bedeutung des Seins darzulegen (Met. VII (Z), 1028a). Diese Spannung hat den jungen Heidegger zu folgender Fragestellung geführt: „Wenn das Seiende in mannigfacher Bedeutung gesagt wird, welches ist dann die leitende Grundbedeutung? Was heißt Sein?“ (GA 14, 93).⁹ Husserls Logische Untersuchungen (1900 – 1901) boten Heidegger einen wichtigen Anhaltspunkt für seine philosophischen Anfänge: „Der hier herausgearbeitete Unterschied zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung enthüllte sich mir in seiner Tragweite für die Bestimmung der ‚mannigfachen Bedeutung des Seienden‘“ (GA 14, 98). Die kategoriale Anschauung hat für den jungen Heidegger ein Äquivalent für die aristotelische Einheit der Analogie bereitgestellt und die Möglichkeit eröffnet, auf einen einheitlichen Sinn von Sein zuzugreifen.¹⁰
Heidegger geht bereits in seinen früheren Vorlesungen über Aristoteles davon aus, dass der Satz über die mannigfache Bedeutung des Seins nur die Vorbereitung für die Frage nach dem einheitlichen Sinn von Sein ist. Die Einheit des Seins ist keine Substanz und keine oberste Gattung, sondern die „tragende und leitende Grundbedeutung“ des Seins (GA 33, 35 – 45). Indessen sah Franz Brentano die Frage nach dem einheitlichen Sinn von Sein durch den Bezug seiner kategorialen Bedeutungen auf die Substanz beantwortet, trotz seiner mannigfachen anderen Bedeutungen als ὂν κατὰ συμβεβηκός, ὂν ὡς ἀληθές und ὂν δυνάaμει καὶ ἐνεργείᾳ (vgl. Brentano 2014). In den ersten Seiten von Sein und Zeit nimmt Heidegger auf diesen Lösungsversuch Brentanos einen kritischen Bezug. Für eine Erläuterung der Brentano-Rezeption bei Heidegger vgl. Volpi 1976. Die heideggersche Seinsfrage entspringt aus der Verbindung der husserlschen Transzendentalphilosophie mit der aristotelischen Ontologie, wie Gethmann (1993) argumentiert hat. Laut Gethmann verwendet Heidegger den Terminus „Sein“ meistens im Sinne der Struktureinheit in einer Mannigfaltigkeit – wie beispielsweise die „Sorge“ als Sein bzw. Einheit der unterschiedlichen Seinsweisen des menschlichen Daseins. Die Frage nach dem einheitlichen Sinn von Sein betrifft aber nicht nur die Möglichkeitsbedingungen der dem Subjekt gegenüberstehenden Welt, sondern auch die Möglichkeit bzw. die Seinsart des transzendentalen Subjektes selbst. Damit ist Heideggers zwiespältiges Verhältnis zu Husserl verbunden, wie Gethmann ausführlich erklärt. Einerseits bietet Husserls Konzept der kategorialen Anschauung und der eidetischen Variation ein wichtiges Werkzeug, um zu verdeutlichen, inwiefern die Objektivität und die Einheitlichkeit eines Gegenstandes trotz seiner verschiedenen Gegebenheitsweisen möglich ist. In der phänomenologischen Auffassung Husserls ist ein Gegenstand einer jeweiligen, aber nicht jeder Wahrnehmung transzendent. Die phänomenologische Methode zeichnet sich dadurch aus, aufzuzeigen, inwiefern das eidetische Wesen von einem Gegenstand das ist, was bleibt, „wenn das Bewußtsein der Beliebigkeit von Gegebenheitsabwandlungen (eidetische Variation) untersucht wird“ (Gethmann 1993, 19). Andererseits kritisiert Heidegger Husserls Fokus auf die Sicherung der objektiven Geltung logischer und arithmetischer Formen und Husserls Unterscheidung zwischen dem konstituierenden, außerweltlichen Subjekt und dem konstituierten, als gesetzt gedachten Gegenstand. Für Heidegger kann das Bewusstsein nicht unabhängig von seinen lebensweltlichen
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Im Anschluss an Husserl definiert Heidegger die Anschauung in seiner frühen Vorlesung über den Zeitbegriff (1925) als ein „schlichtes Erfassen von leibhaftig Gegebenem, wie es sich zeigt“ (GA 20, 64).Was in der Wahrnehmung „gegeben“ ist, sind nicht nur die sinnlichen Eigenschaften eines Gegenstandes, sondern es wird auch die Erfahrung gemacht, dass es sich mit dem Wahrgenommenen so verhält. Mit dem Gegenstand wird zugleich der Sachverhalt wahrgenommen, dass der Gegenstand so ist. Der Sachverhalt, dass ein Wahrgenommenes zugleich ist, ist aber selbst übersinnlich und nicht wahrnehmbar, wie Husserl bereits betont hatte.¹¹ Das „übersinnliche“ Faktum des Seins wird in der Wahrnehmung mit erfahren, und zwar in der kategorialen Anschauung erschlossen. Für Husserl steht der Terminus „Sein“ hier in engem Zusammenhang mit der Gegebenheitsweise des Gegenstandes. Für den jungen Heidegger verweist aber die kategoriale Anschauung auf das im Wahrnehmungsurteil enthaltene Verbum des Seins selbst: „Unter Sein kann ich mir zunächst nichts denken. Andererseits steht ebensosehr fest: Wir denken das Sein ständig“ (GA 24, 18). Das Sein bedeutet aber keineswegs die nackte Existenz des Gegenstandes. Bereits in der frühen Aristoteles-Vorlesung (1921– 1922) begreift Heidegger das Sein als Sinn von Sein bzw. als Sein „im Hinblick auf die Weise, wie solches ‚Sein‘ faßbar ist: der ‚Seinssinn‘“ (GA 61, 58). Heidegger beschreibt 1963 seinen frühen Weg in die Phänomenologie weiter: „Was sich für die Phänomenologie der Bewußtseinsakte als das sich-selbst-Bekunden der Phänomene vollzieht, wird ursprünglicher noch von Aristoteles und im ganzen griechischen Denken und Dasein als ᾿Aλήθεια gedacht, als die Unverborgenheit des Anwesenden, dessen Entbergung, sein sich-Zeigen“ (GA 14, 99). Was Husserls Phänomenologie als ursprüngliche Gegebenheit in der Anschauung problematisiert, führt Heidegger hier auf den Begriff der ἀλήθεια zurück. Die Idee der Selbstbekundung des Phänomens ist folglich bereits ein „Grundzug des griechischen Denkens, wenn nicht gar der Philosophie als solcher“ (GA 14, 99). Was unter Gegebenheit und Selbstbekundung zu verstehen ist, erläutert Heideg-
Bezügen untersucht werden, weil seine Konstitutionsleistung „im apriorischen Immer-schonausgelegt-sein des Seienden durch das Dasein (als Sorge) im Horizont des Seins“ liegt (Gethmann 1993, 38). Inwiefern Heideggers Philosophie von einer Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie ausgeht, vgl. auch Gethmann 1974. Vgl. Hua XIX, 666: „Das Sein ist nichts im Gegenstand, kein Teil desselben, kein ihm innewohnendes Moment, keine Qualität oder Intensität, aber auch keine Figur, keine innere Form überhaupt, kein wie immer zu fassendes konstitutives Merkmal (…). Wir sprachen jetzt von Gegenstä nden, ihren konstitutiven Merkmalen, ihrem sachlichen Zusammenhang mit anderen Gegenstä nden (…). All das sind aber Wahrnehmbarkeiten, und sie erschö pfen den Umfang mö glicher Wahrnehmungen so, daß hiermit ‚gleich’ gesagt und konstatiert ist, das Sein sei ‚schlechthin‘ nichts Wahrnehmbares“. Vgl. GA 20, 78: „Sein dagegen ist nichts dergleichen, also ist es unsinnlich, nicht real“.
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ger in diesem späten Text nicht. Er formuliert jedoch eine daran anschließende Frage, die ihn zur Seinsfrage gebracht habe: Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als ‚die Sache selbst‘ erfahren werden muß? Ist es das Bewußtsein und seine Gegenständlichkeit, oder ist es das Sein des Seienden in seiner Unverborgenheit und Verbergung (GA 14, 99)?
Durch die Verschiebung der phänomenologischen Frage auf den Bereich der Unverborgenheit verweist Heidegger auf seine frühzeitige Überwindung des Subjektivitätsparadigmas der Phänomenologie Husserls.¹² Der Zusammenhang zwischen Sein und Selbstgegebenheit bleibt dennoch in diesem späten Rückblick Heideggers unerklärt. Die Spannung zwischen der phänomenologischen und der hermeneutischen Tendenz Heideggers treibt sein Denken von Anbeginn an und durchdringt sein ganzes Werk.¹³ Trotz der Idee einer sich zeigenden Phänomenalität im siebten Paragraphen von Sein und Zeit wird der hermeneutische Horizont als eine unhintergehbare Dimension der Phänomenalität dargestellt, und zwar nicht als ein nachträgliches, sondern als ein erschließendes Element der Phänomenalität. Sein gibt es nur im Faktum des Seinsverständnisses – d. h. nur als Sinn von Sein. Würde man hingegen Heideggers Anliegen derart lesen, dass der Sinn von Sein unmittelbar bzw. jenseits einer Vermittlung gegeben sein soll, dann würde dieser Ansatz den wesentlichen Stellenwert des Hermeneutischen überspielen.¹⁴ Sein und Zeit beginnt mit der Annahme, dass das Sein „als Verborgenes das antike Philosophieren in die Unruhe“ geführt hat, dass es aber in Vergessenheit
Heideggers Distanzierung von Husserl wird gewöhnlich mit Heideggers Hervorhebung der faktischen Lebenswelt und der Geschichtlichkeit erklärt. Sowohl der Bereich der Phänomenalität als auch die methodische Herangehensweise an diesen, scheint sich in Heideggers Phänomenologie radikal zu verändern. Dabei wird aber vorausgesetzt, dass Heidegger das phänomenologische Prinzip „zu den Sachen selbst“ unverändert übernimmt und dadurch den Anspruch auf eine originäre Gegebenheit oder auf einen unmittelbaren Zugang zur Erkenntnisquelle fortführt (vgl. Bauer 2010; Eilebrecht 2010). Zu den vielfältigen Aspekten des Verhältnisses zwischen Husserl und Heidegger vgl. Bernet/Denker/Zaborowski 2012. Zum Argument, dass Heidegger sich von Husserls Konzept der originären Anschauung distanziert, vgl. Pöggeler 1983. Für das Projekt von Sein und Zeit sind auch andere systematische Fragestellungen maßgeblich, die auf seine frühen Auseinandersetzungen etwa mit Aristoteles, aber auch mit Kierkegaard, Luther und Paulus zurückgehen (vgl. Pattison 2015). Zu den mannigfaltigen Anstößen für den jungen Heidegger (z. B. Lask, Dilthey, Braig) vgl. Rentsch 2013. Selbst im Rahmen der hermeneutischen Tradition gibt es die Ansicht, dass Heideggers frühes Denken eine Philosophie der Offenbarkeit darstelle, die mit dem dunklen Charakter seines Spätdenkens kontrastiere. Dieser Lesart zufolge gibt es ein direktes, unmittelbares Erschließen des Seienden in der Praxis, dessen „Sein“ die Phänomenologie beschreiben soll (vgl.Volpi 1988).
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geraten und zugleich zur Selbstverständlichkeit geworden ist (SZ, 3). Was den Terminus „Sein“ zuerst kennzeichnet, ist seine Allgemeinheit, seine Undefinierbarkeit und seine Selbstverständlichkeit: Diese Merkmale weisen zugleich seine Ungeklärtheit und Unverständlichkeit auf (SZ, 4). Die unverständliche Selbstverständlichkeit des Seins fungiert indes als der Boden, auf den Heidegger sein Projekt einer Fundamentalontologie aufbaut. Die Frage nach dem Sinn des Seins knüpft an das latente Seinsverständnis an, das wir im Alltag immer schon haben. Das „durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum“ (SZ, 5). Den Sinn von Sein zu erforschen, heißt, zuallererst den Ort dieses durchschnittlichen Seinsverständnisses zu befragen – d. h. den Ort, wo das Sein einen Sinn ergibt, bzw. wo es allein „Sein“ gibt. Der Mensch wird als Da-sein gekennzeichnet, weil die menschliche Existenz gerade der Ort ist, an dem das jeweilige Verstehen von Sein stattfindet. Das „durchschnittliche“ Seinsverständnis ist aber in Heideggers Analyse zugleich der Ort allerlei Missverständnisse. Das Sein wird in seiner alltäglichen Selbstverständlichkeit verstellt und ist immer schon durch begriffliche Deutungen verformt. Selbst wenn Heideggers regulative Idee des Phänomens erfordert, dass sich das Sein von sich selbst her zeigt, ist das Sichzeigen des Seins keine Gunst und kein Erlebnis, sondern Resultat einer Herausarbeitung. Der eigentliche Sinn des Seins soll derart zum Phänomen werden, dass er anhand einer Analyse der alltäglichen Existenz dem Ort entrissen wird, an dem das Sein gerade verborgen, vergessen und verstellt wird: Die Interpretation des durchschnittlichen Seinsverständnisses gewinnt ihren notwendigen Leitfaden erst mit dem ausgebildeten Begriff des Seins. Aus der Helle des Begriffes und der ihm zugehörigen Weisen des expliziten Verstehens seiner wird auszumachen sein, was das verdunkelte, bzw. noch nicht erhellte Seinsverständnis meint, welche Arten von Verdunkelung, bzw. der Behinderung einer expliziten Erhellung seines Seinssinnes möglich und notwendig sind (SZ, 6).
Die Phänomenologie des Alltags soll einerseits das im durchschnittlichen Dasein verborgene Seinsverständnis entschlüsseln, andererseits die Verstellungen und Verdeckungen, die diesem inhärent sind, identifizieren und beseitigen. Die Voraussetzung für ein solches Unternehmen kann aber nur diejenige sein, dass der eigentliche Sinn des Seins im „verdunkelten“ Seinsverständnis verborgen liegt (SZ, 8). Dieser skizzierte Rahmen ergibt eine bemerkenswerte Ambiguität des Vorgehens. Auf der einen Seite sind es die gewöhnlichen Auffassungen des Seins, beispielsweise als Wesen eines Seienden (essentia) oder als reines Existenzfaktum desselben (existentia), die ausgeräumt werden sollen. Auf der anderen Seite soll
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die Fundamentalontologie gerade aus der alltäglichen Existenz und ihren gewöhnlichen, wohl vielfältigen Auffassungen entnommen werden.¹⁵ Diese Ambiguität hängt mit dem Verhältnis zwischen dem Kategorialen bzw. dem Zeitlichen und dem Geschichtlichen zusammen. Im Rahmen von Sein und Zeit soll die Frage nach dem einheitlichen Sinn von Sein im Horizont der Zeitlichkeit verortet werden. Die Zeitlichkeit wird im zweiten Abschnitt des Werkes behandelt, der dem systematischen Bedürfnis gerecht werden soll, „das in der Sorge liegende Seinsverständnis zu Begriff“ zu bringen (SZ, 230). Die begriffliche Umgrenzung des Sinns von Sein bedarf einer Enthüllung der „ursprünglichsten Ganzheit des Seins des faktischen Daseins“ (SZ, 230). Weil die zeitliche Struktur des Daseins dessen Ganzheit erschließen kann, gilt die Zeitlichkeit als transzendentaler Horizont der Seinsfrage. Aber selbst dieser Entwurf Heideggers, der in der Konzeption der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit und in der in den Tod vorlaufenden Entschlossenheit gipfelt, führt zu keiner Artikulation des Sinns von Sein. Das unbeendete Werk endet mit den Fragen: „Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins“ (SZ, 437)? Nach der Analyse des alltäglichen Daseins und dessen zeitlich-transzendentalen Horizontes erweist sich, dass die Zeitlichkeit allein über den Sinn von Sein keine Rechenschaft geben kann. Die Zeitlichkeit ist der daseinsmäßige Rahmen, in welchem ein Seinsverständnis zum Tragen kommt. Die Bestimmung des Seinsverständnisses selbst erweist sich aber als geschichtlich. Die Frage nach der Temporalität des Daseins geht nach Sein und Zeit in die Frage nach der Geschichtlichkeit des jeweiligen Seinsverständnisses über. Die Geschichtlichkeit wiederum bringt Dasein und Sein auf eine grundlegendere Weise in ein Verhältnis und selbst unser jeweiliges Verständnis von Zeit ist geschichtlich bedingt. So kann angesichts der unhintergehbaren Geschichtlichkeit des Sinns von Sein von einer reinen Gegebenheit des Seins nicht mehr gesprochen werden. Die erklärte Aufgabe von Sein und Zeit ist es aber, den Begriff des Seins herauszubilden.¹⁶ Das Sein war „in aller bisherigen Ontologie ‚vorausgesetzt‘,
Die Entfaltung der Fundamentalontologie enthält dabei ihrerseits eine weitere Ambiguität, die mit der Pluralität der verschiedenen aufgestellten Seinsmodi – das Vorhandensein, das Zuhandensein und das Dasein – einhergeht. Das erfragte Sein selbst wird ferner vieldeutig gebraucht – als Sein eines Seienden, als Seinsweise eines gewissen Bereiches von Seienden oder als Sein des Seienden im Ganzen. Vgl. SZ, 6: „Eine Untersuchung über den Sinn von Sein wird diese jedoch nicht zu Anfang geben wollen. Die Interpretation des durchschnittlichen Seinsverständnisses gewinnt ihren not-
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aber nicht als verfügbarer Begriff – nicht als das, als welches es Gesuchtes ist“ (SZ, 8). So steht es am Anfang des Werkes, der Sinn des Seins wird „eine eigene Begrifflichkeit verlangen, die sich wieder wesenhaft abhebt gegen die Begriffe, in denen Seiendes seine bedeutungsmäßige Bestimmtheit erreicht“ (SZ, 6). Zwei Jahre später beteuert Heidegger in Vom Wesen des Grundes (1929), dass das Sein sich „als Begriff philosophisch begründen“ lassen soll (GA 9, 162). Diese Aussagen stehen im Kontrast zu Heideggers nachdrücklicher Kritik an der Erkenntnistheorie und mit seinem grundlegenden Vorbehalt gegenüber der theoretischen Einstellung in Sein und Zeit: „Jeder ursprünglich geschöpfte phänomenologische Begriff und Satz steht als mitgeteilte Aussage in der Möglichkeit der Entartung“ (SZ, 36). Der Begriff enthalte immer die Gefahr, „seine Bodenständigkeit“ zu verlieren und „zur freischwebenden These“ zu werden (SZ, 36). Zudem ist es für das Urteil bzw. das apophantische Als laut Heidegger charakteristisch, Bedeutungszusammenhänge auf Verhältnisse unter Vorhandenheiten zu reduzieren und so die Eigentümlichkeit des Weltphänomens zu verfehlen.¹⁷ Beide Tendenzen von Sein und Zeit, die reine Phänomenalität des Seins und die „Helle des Begriffes“ (SZ, 8), bleiben regulative Ideen des heideggerschen Projektes und konkurrieren stillschweigend miteinander. An der Ambiguität zwischen Begriff und Gegebenheit scheitert Heideggers Philosophie jedoch nicht, sondern kommt erst zu ihrer Sache. Die Sache betrifft die Spannung zwischen Begriff und Phänomen, zwischen ἑρμενεύειν und φαίνεσθαι. Der phänomenale Boden, woraus Bedeutsamkeit entspringt, soll auf den Begriff gebracht werden. Die Begriffsbildung ist aber mit dem Paradigma der Vorhandenheit eng verbunden.¹⁸ Das Sein kann die Helle des Begriffs nicht erhalten, weil das Begreifen, das es erschließen soll, es im Erfassen zugleich verdunkelt. Diese inhärente Verbergung des Sinns im erschließenden Begriff wird allmählich zum Hauptgegenstand des heideggerschen Denkens.¹⁹
wendigen Leitfaden erst mit dem ausgebildeten Begriff des Seins“. Zum Entwurf, die „Einheit des Seinsbegriffs“ herauszubilden, vgl. auch GA 24, 247. Zu Heideggers grundlegender Kritik an der Auffassung, dass die theoretische Einstellung die konstitutive Dimension der Realität ist, vgl. Frede 1993. Hans-Georg Gadamer (1992) hat darauf hingewiesen, dass Heidegger zwischen der theoretischen Einstellung der modernen Naturwissenschaft und dem Paradigma des griechisch verstandenen Logos nicht scharf unterscheidet. Heidegger nimmt die Aufgabe, den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Begriff und der Verbergung zu klären, bereits am Anfang von Sein und Zeit vorweg: „Aus der Helle des Begriffes und der ihm zugehörigen Weisen des expliziten Verstehens seiner wird auszumachen sein, was das verdunkelte, bzw. noch nicht erhellte Seinsverständnis meint, welche Arten der Verdunkelung, bzw. der Behinderung einer expliziten Erhellung des Seinssinnes möglich und notwendig sind“ (SZ, 6).
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B Die Grundarten der Verbergung Im siebten Paragraphen von Sein und Zeit, in dem sowohl die phänomenologische Methode als auch die Natur der Phänomenalität dargelegt werden, wird das Phänomen im eigentlichen Sinne gerade nicht als offenbar beschrieben, sondern als das, „was sich zunächst und zumeist nicht zeigt“ und „was verborgen ist“ (SZ, 35). Dieser Paragraph wird später ausführlicher analysiert (vgl. Kap. II.2. „Der Zwiespalt des Als“). Zunächst ist die konstitutive Rolle entscheidend, welche die Verbergung für das einleitend umrissene Wie der Phänomenalität spielt.Vorläufig soll erläutert werden, was die von Heidegger verwendeten Termini „Verdeckung“, „Verstellung“ und „Verbergung“ bedeuten. Es werden im Folgenden drei Grundarten von Verbergung in Sein und Zeit unterschieden: Die erste gründet in der Alltäglichkeit des Daseins, die zweite im erkenntnistheoretischen Paradigma der Vorhandenheit, die dritte im Vollzug der Bedeutsamkeit als solcher. (1) Die in der Forschung vielbehandelte Uneigentlichkeit des Daseins, die zumeist unter dem Titel „das Man“ angeführt wird, ist eine Form der „Verstellung“ des Seins, die Heidegger als „Verfallen des Daseins“ beschreibt. Das „Verfallen des Daseins“ liegt darin, dass im Alltag die Rede als „Gerede“, das Verstehen als „bloße Neugier“, die Auslegung als „Zweideutigkeit“ manifest sind (§35 – §38). Das „Verfallen des Daseins“ stellt somit keine selbständige Verbergungsart dar, sondern ist auf andere Formen der Verbergung angewiesen. Die Uneigentlichkeit liegt hauptsächlich an der gewöhnlichen Verstehensart, in welcher das Dasein sich von einem allgemeinen und anonymen Subjekt her versteht. Das Dasein versteht sich selbst, wie man sich zumeist versteht – es stirbt, wie man üblicherweise stirbt. So verfehlt es den eigentlichen Bezug zu sich selbst und ist in der „Öffentlichkeit des Man“ verfangen (SZ, 175). Das Verfallen betrachtet Heidegger daher als ein Bündel von negativen Modifikationen der Existenzialien des Verstehens.²⁰ Das Dasein gerät auf diese Weise in eine Entfremdung, „in der sich ihm das eigenste Seinkönnen verbirgt“ (SZ, 178). Das eigentliche Verstehen seiner selbst, das eine latente Möglichkeit des Daseins repräsentiert, bleibt aufgrund der hartnäckigen Selbstgewissheit des alltäglichen Verstehens versperrt. Die Selbstentfremdung selbst ist dem Dasein „durch die öffentliche Ausgelegtheit verborgen“ (SZ, 178). Damit deutet Heidegger darauf hin, dass dem Dasein auch verborgen ist, dass es selbst den eigenen Tod im Rahmen des öffentlichen Geredes über die Heidegger beschreibt die Uneigentlichkeit als „Unbedürftigkeit“ des Verstehens, als „Selbstgewissheit“ des Man und als die Vermeintlichkeit, alles gesehen und verstanden zu haben (SZ, 177). Das Charakteristikum des alltäglichen Verfallens ist so die „die Hemmungslosigkeit des ‚Betriebes‘“, die Fraglosigkeit und das Verfügbarmachen alles Erfahrbaren (SZ, 177– 178).
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Sterblichkeit des Menschen versteht. Darauf stützt Heidegger sein Argument, dass erst die Anerkennung des uneigentlichen Verstehens dem Dasein ein eigentliches Verstehen seiner selbst ermöglicht. Wenn die Entfremdung als solche erfahren wird, so die argumentative Pointe, dann wird das im Dasein selbst geborgene, eigentliche Verstehen erschlossen – dass der eigene Tod seine eigenste, unübertragbare und unhintergehbare Möglichkeit ist. (2) Die alltägliche Uneigentlichkeit des Daseins hängt mit den verbergenden Verstehensmodi zusammen. Die geschilderten Charakteristika der Uneigentlichkeit gründen vor allem im Verständnis des Seins als vorhandener Anwesenheit. Dieses Seinsverständnis verkörpert in Sein und Zeit noch nicht die Erbschaft des technischen Zeitalters, wie es später in Heideggers Werk heißen wird, sondern wird auf die „theoretische Einstellung“ des Daseins und auf eine inhärente Tendenz des apophantischen Als zurückgeführt. Damit wird die zweite Art der Verdeckung angesprochen: Die theoretische Einstellung zeichnet sich laut Heidegger dadurch aus, dass sie den hantierenden Umgang mit dem Seienden suspendiert und die Beschaffenheit derselben in einer bestimmten kategorialen Hinsicht betrachtet. Die theoretische Betrachtungsweise abstrahiert von der Bedeutsamkeit des innerweltlichen Seienden und leitet dessen Sinnhaftigkeit von seinen aufzählbaren oder physikalisch messbaren Eigenschaften her.²¹ Das, was als seiend gilt, ist für die theoretische Einstellung das, was als Vorhandenes vorliegt oder was in einem Urteil als Prädikat aussagbar ist. Aus diesem Grund glaubt Heidegger, dass das Urteilen wesentlich die Tendenz hat, das Zuhandensein in ein Vorhandensein zu übersetzten, insofern der kategoriale Apparat, der dem Urteilen verfügbar ist, auf die Vorhandenheit restringiert ist. Heidegger assoziiert das Vorhandenheitsparadigma mit der kartesianischen Ontologie, welche die Welt primär als res extensa auslegt, und bereitet dadurch die Zurückführung dieser Verbergungsart auf die abendländische Philosophiegeschichte vor, deren „Seinsvergessenheit“ er ab 1930 als eigenständiges Projekt entwickelt.²² (3) Die reduktive Funktion des apophantischen Als, das hermeneutische Als in Termini des Vorhandenseins zu übertragen, hat in der Heidegger-Forschung
Zu Heideggers Kritik am kartesianischen Paradigma vgl. Guignon 1983; Richardson 1986; Olafson 1987. Robert Brandom (2005) hat versucht, Heideggers Kritik am Vorhandenheitsparadigma derart zu formulieren, dass ihre seinsgeschichtlichen Implikationen vermieden werden. Für Brandom dient die Rekontextualisierung vom Zuhandenen auf Vorhandenes durch Urteile dazu, die in der Praxis implizite Bedeutung der Dinge explizit zu machen, um sie anderen mitzuteilen. Die Konsequenz der theoretischen Einstellung liegt so lediglich in der Indifferenz, die der explizite Zugang zu den vorhandenen Eigenschaften des Seienden gegenüber den praktischen Zielen im Umgang mit dem Zuhandenen hat.
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gebührende Aufmerksamkeit erhalten.²³ Dabei wurde jedoch die interne Spannung des hermeneutischen Als selbst und seine spezifische Art der Verbergung nicht ausreichend gewürdigt. Das hermeneutische Als wird gewöhnlich als dasjenige Verstehen interpretiert, das im praktischen Umgang mit den Seienden wirksam ist. Im praktischen Verstehen bzw. in der Bedeutsamkeit des zuhandenen Seienden ist aber eine grundlegende Art der Verbergung angelegt, die Heidegger in der Analyse der Zuhandenheit anschneidet. Wenn das Hantieren in Heideggers Auffassung den phänomenalen Boden repräsentiert, auf dem Seiendes seine Bedeutung erlangt, dann verbirgt sich im praktischen Vollzug das Hantieren als solches. Diese Verbergung ist kein nebensächlicher Aspekt, sondern Bedingung der Zuhandenheit. Man hämmert nur dann, wenn das Hämmern als Hämmern nicht erfahren wird. Diese Unauffälligkeit beschreibt nicht nur eine Charakteristik des Zeugs, sondern vielmehr einen Wesenszug der Weltbedeutsamkeit, sich gerade dort zu verbergen, wo sie zum Tragen kommt. Im Abschnitt „Die Latenz der Bedeutsamkeit“ (II.3.C) wird dieser paradoxe Sachverhalt erläutert, der am Anfang dieses Kapitels durch das folgende Zitat bereits vorweggenommen wurde: „Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner Unauffälligkeit. Und darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins dieses Seienden“ (SZ, 75). Das An-sich-Sein der welthaften Dinge, von welchen das Zeug nur ein Fall ist, besteht im hermeneutischen Als. Wenn diesem eigentümlich ist, sich zu verbergen, um gerade wirksam zu sein, dann ist diese Art der Verbergung viel grundlegender als die Verdeckung im apophantischen Als. Erst vor dem Hintergrund einer inhärenten Verbergung in der konkreten Erfahrung eines Sinnzusammenhangs kann das Desiderat verstanden werden, die Weltbedeutsamkeit als solche bzw. die existenziale Struktur des Daseins zu erschließen. Der Ort, an dem die Konstitution der Bedeutsamkeit als solche erschlossen wird, ist der Austragungsort der eigentlichen Existenzform des Daseins. Heideggers Eigentlichkeitskonzeption spitzt sich in der Aufgabe zu, das Dasein als Seinkönnen, d. h. das Seinkönnen als Seinkönnen zu denken.²⁴
Vgl. Carman 2003. Zu einem Denkansatz im Ausgang von Heideggers Kritik am Vorhandenheitsparadigma vgl. Stekeler-Weithofer 2004. Dieses Motiv von Sein und Zeit, das in den Formeln „die Möglichkeit als Möglichkeit“ und „den Tod als Tod“ ausgedrückt wird, nimmt eine für die Beiträge zur Philosophie maßgebliche Figur vorweg: Dort soll die Erfahrung und Aufrechterhaltung der Verbergung als Verbergung einen anderen Anfang des Denkens stiften. Vgl. Kap. IV.3: „Die Gründung des anderen Anfangs“.
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C Die Apriorität des Nichtseins Heidegger versteht die Aufgabe der Fundamentalontologie zuerst als eine phänomenologische Analytik des menschlichen Daseins, weil dieses der Ort ist, an dem Sein erschlossen wird. Diese Annahme hat Anlass zu einem Anthropozentrismus-Vorwurf gegen Heidegger gegeben, den auch sein Lehrer Edmund Husserl äußerte (vgl. Hua XXVII). In Vom Wesen des Grundes (1929) wehrt sich Heidegger gegen diesen Einwand mit der Bemerkung, dass in Sein und Zeit der Mensch „so ins ‚Zentrum‘ kommt, daß seine Nichtigkeit im Ganzen des Seienden allererst Problem werden kann und muß“ (GA 9, 160). Die angesprochene Nichtigkeit des Menschen meint mehr als seinen Tod. Sie betrifft die Art und Weise, in der sich die menschliche Welt konstituiert.²⁵ Das Existenzial des Verstehens – und in eins damit das Erschließen von Sinnzusammenhängen – beruht nach Heidegger auf einem grundlegenden Verhältnis zur Endlichkeit des Daseins. Die Problematik der Endlichkeit beinhaltet sowohl eine ethische als auch eine ontologische Dimension. Diese Zweideutigkeit prägt die umfangreichen Paragraphen, die Heidegger diesem Themenkomplex widmet (§46 – §60).²⁶ Die Zusammengehörigkeit der beiden Aspekte wird in der Analyse der Angst sichtbar (§40), insofern die Angst nicht nur eine ausgezeichnete Erfahrung ist, die dem individuellen Dasein die Möglichkeit seiner Eigentlichkeit eröffnet, sondern auch eine gründende Erfahrung für das menschliche Dasein überhaupt.²⁷ Die Erfahrung der Angst erschließt für Heidegger den Tod nicht nur als die eigenste Möglichkeit des Daseins, sondern auch als seine höchste Möglichkeit, insofern der Tod die Möglichkeit der Unmöglichkeit des Daseins verkörpert. Die Erfahrung der möglichen Unmöglichkeit wirft das Dasein auf sein eigenstes
Zu der Verbindung von Tod und Sprache vgl. Agamben 2007; Oberst 2009. Zu den zweideutigen Partien, die „mehr oder minder versteckten Antworten auf ethische Fragen“ enthalten, vgl. Luckner 2001. William Blattner (2013) identifiziert vier Herangehensweisen an Heideggers Todesanalyse: (a) Die existenzialistische Lesart, welcher zufolge es Heidegger um die radikale Kontingenz jedes Lebensentwurfes geht. Dafür sei Kierkegaard der zentrale Referenzpunkt; (b) Die Lesart, die den aristotelischen Einfluss auf Heidegger betont. Demnach sei die Konzeption der Eigentlichkeit eine Theorie der praktischen Weisheit (φρόνησις); (3) Eine dritte Herangehensweise hebt die christlichen Quellen der heideggerschen Konzeption hervor – Paulus, Luther und Kierkegaard; (d) Die transzendentale Lesart, der zufolge die Endlichkeit des Daseins Möglichkeitsbedingung für sein Verhalten und Verstehen ist. Blattner selbst interpretiert Heideggers Ansatz der Eigentlichkeit als eine Konzeption der Eigenverantwortung (self-ownership): Es kommt nicht so sehr darauf, das Lebensprojekt anders zu gestalten, sondern das eigene Dasein als ein endliches und eigenes anzunehmen. Zu Heideggers Behandlung des Todes vgl. Buben 2016; Carlisle 2015; Ciocan 2013; Kisiel 1995; Taubes 1975.
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Seinkönnen zurück: Die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit ist eine Konfrontation mit dem eigenen Sein als reiner Möglichkeit. Erst aufgrund dieses Verständnisses seiner selbst als Möglichkeit kann das Dasein sich selbst als endliches Wesen entwerfen. Unter diesem existenziell-ethischen Blickwinkel führt die Erfahrung des Todes zur Anerkennung der Endlichkeit und des Möglichkeitscharakters des Daseins. Das eigentliche Dasein vermag sich dadurch als das, was es ist, zu verstehen und zu entwerfen. Unter einem existenzial-ontologischen Gesichtspunkt zielt Heideggers Behandlung der Nichtigkeit auf die These, dass die Möglichkeit der Unmöglichkeit von vornherein das Verständnis der Möglichkeit als Möglichkeit fundiert. Das Sein im Sinne der Welterschlossenheit ist auf die Unmöglichkeit des Seins, auf das Nichts, angewiesen. Der Gedanke, dass die Möglichkeit der Unmöglichkeit unser Verstehen von Möglichkeiten bedingt, spielt auf eine gewisse Apriorität des Verstehens von Nichts im Verhältnis zur Welterschlossenheit an, eine Apriorität die Heidegger zwei Jahre später durch die Formel „ex nihilo omne ens qua ens fit“ ausdrückt (GA 9, 120). Das Nichts durchdringt das Verstehen von Sein, insofern die Endlichkeit des Daseins den Rahmen der Sinnkonstitution konturiert. In der Angsterfahrung und im „Ruf des Gewissens“ wird diese konstitutive Dimension von Nichtigkeit nur erkannt, ob bewusst oder nicht. Wenn dem so ist, dann geht Heideggers Konzeption der Nichtigkeit über die Endlichkeit des Daseins als Sein-zum-Tode hinaus.Wenn das Da des Seins selbst – der Austragungsort des Sinns von Sein – von Nichtigkeit durchdrungen wird, dann ist das Sein selbst endlich. In Sein und Zeit wird die radikale Endlichkeit des Daseins folgendermaßen zusammengefasst: Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grundsein einer Nichtigkeit (SZ, 285).
Unter Nichtigkeit versteht Heidegger dabei zweierlei: Einerseits die Tatsache, dass das Dasein sein Geworfensein nie wählen kann; andererseits die Tatsache, dass in jeder Wahl von Möglichkeiten zugleich andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Was somit das Selbst entwirft, ist nicht vom Selbst allein bestimmt. Worauf sich das Selbst entwirft, beruht auf der Negation von anderen möglichen Entwürfen. So soll die Frage nach der Endlichkeit das „Sein des Nichtseins“ aufklären, wie in einer späteren Randbemerkung notiert wird (SZ, 444). Dennoch konstatiert Heidegger am Ende der Paragraphen zu dieser Thematik, dass „der ontologische Sinn der Nichtheit dieser existenzialen Nichtigkeit noch dunkel“ bleibt (SZ, 285). Heidegger kritisiert die Selbstverständlichkeit des Nichts in der
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traditionellen Ontologie, insofern diese die Frage nach dem Ursprung des Nichts nicht stellt: Ist es denn aber so selbstverständlich, daß jedes Nicht ein Negativum im Sinne eines Mangels bedeutet? Ist seine Positivität darin erschöpft, daß es den ‚Übergang‘ konstituiert? Warum nimmt alle Dialektik zur Negation ihre Zuflucht, ohne dergleichen selbst dialektisch zu begründen, ja auch nur als Problem fixieren zu können (SZ, 285 – 286)?
Hegel wird hier indirekt angesprochen. Mit dieser Kritik am dialektischen Verständnis des Nichts trifft Heidegger eine implizite Annahme: Das Nichts ist nicht eine Negation, die wie ein Mangel überwältigt und in Positivität umgewandelt werden kann, sondern dem Nichts kommt eine gründende Funktion zu. Die Dialektik instrumentalisiert das Negative, weil dieses als aufzuhebende Negation verstanden wird. Heidegger schreibt indessen dem Nichts eine ursprüngliche Positivität zu. Dadurch rückt er sowohl in die Nähe zu als auch in die Auseinandersetzung mit Hegel. Die Frage nach dem Nichts ist somit bereits in Sein und Zeit der zentrale Streitpunkt seiner Auseinandersetzung mit Hegel – trotz des Anscheins, dass die Behandlung des hegelschen Zeitbegriffes eine größere Rolle spielt.²⁸ Die Thematik der Nichtigkeit ist demnach nicht nur im Hinblick auf die existenzielle Auswertung der Todeserfahrung für die Eigentlichkeit und Entschlossenheit des Daseins von Belang, sondern auch in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Sinnkonstitution. Die Endlichkeit hängt, so Heidegger, mit dem Erschließen der „ursprünglichen und eigentlichen Wahrheit“ zusammen (SZ, 418). Dieser Zusammenhang wird in einem späteren Abschnitt näher betrachtet (II.5), nachdem vorbereitend der systematische Bereich der Frage nach der Konstitution von Sinn in Sein und Zeit umrissen wurde.
Heidegger schreibt Hegel einen vulgären Zeitbegriff zu (vgl. SZ, 428) und erwidert gegen die hegelsche Auffassung des Zusammenhanges von Zeit und Geist, den Heidegger als eine Gegenüberstellung von Nicht-Ich und Begriff interpretiert, dass die Zeit immer schon geistig bzw. daseinsmäßig konstituiert ist: „Der ‚Geist‘ fällt nicht erst in die Zeit, sondern existiert als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit“ (SZ, 436).
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2 Der Zwiespalt des Als A Der regulative Begriff des Phänomens Die meisten Lesarten von Sein und Zeit betonen das Motiv der Offenbarkeit als Kennzeichen des heideggerschen Phänomenbegriffs. Wie es im dafür maßgeblichen Paragraphen 7 heißt, geht der Phänomenbegriff auf das griechische φαίνεσθαι, „sich zeigen“ zurück. So bedeutet φαινόμενον „das, was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare“ (SZ, 28). Der Terminus ist dem Stamm φα- entnommen: φῶς bedeutet „das Licht, die Helle, d. h. das, worin etwas offenbar, an ihm selbst sichtbar werden kann“ (SZ, 28). Daraus resultiert die Definition des Phänomens: „das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare“ (SZ, 28). Seiendes – griechisch τὰ ὄντα – ist das, was sich „in verschiedener Weise, je nach der Zugangsart zu ihm“, von sich selbst her zeigt (SZ, 28). Bei dieser unmittelbaren Bedeutung des Phänomenbegriffs stehenzubleiben und daraus die rasche Konsequenz zu ziehen, dass die phänomenologische Ontologie sich einfach mit dem beschäftigt, was sich von sich selbst aus zeigt, wäre jedoch irreführend. Jede Form des Erscheinens oder der Scheinbarkeit könnte so ohne Weiteres für ein gleichrangiges Offenbares gehalten werden. Heideggers Erläuterung des Phänomenbegriffs zielt hingegen, wie oben bereits erwähnt, darauf, dass das Sich-Zeigen des Phänomens nicht eine reine Offenbarkeit darstellt, sondern gerade durch ein verbergendes Moment charakterisiert ist. Heidegger unterscheidet zunächst vom Phänomen im Sinne des Sich-Zeigens das „Scheinen“ und das „Erscheinen“. Ein Seiendes scheint, wenn es sich nicht als das, was es an ihm selbst ist, zeigt, sondern als ein Anderes. Das Erscheinen besteht darin, dass ein Seiendes sich nicht selbst zeigt, sondern sich an einem Anderen meldet – so wie die Krankheit durch das Symptom. Dieses Andere, das sich faktisch zeigt, ist die Erscheinung von dem, was sich darin meldet. Das sich an einem Anderen Meldende erscheint somit an dieser seiner Erscheinung. Das Scheinen und das Erscheinen werden nicht derart vom Phänomen abgegrenzt, dass dem Phänomen kontrastierend der Charakter der reinen Offenbarkeit zukommen würde. Im Gegenteil: „Erscheinung und Schein sind selbst in verschiedener Weise im Phänomen fundiert“ (SZ, 31). Es ist ein Missverständnis, Heideggers Konzeption der Phänomenalität von einer Gegenüberstellung zwischen dem vermittelten Erscheinen und der reinen Phänomenalität her zu interpretieren. Für die vielschichtige Bedeutung des Phänomenbegriffs stehen sowohl textuelle als auch sachliche Argumente. Ein erstes Argument besteht darin, dass Heidegger am Ende der beschriebenen Differenzierungen die anfangs gegebene
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Definition des Phänomens als formalen Phänomenbegriff bezeichnet.²⁹ Diesem formalen Phänomenbegriff bringt der phänomenologische Begriff des Phänomens die entscheidende Präzisierung ein, dass das Sich-Zeigende weder ein Seiendes noch das Wesen eines Seienden ist. Dadurch wird die gewöhnliche, vergegenständlichende Vorstellung von Offenbarkeit und Sichtbarkeit ausgeräumt. Heidegger spricht von einer „vulgären“ Anwendung des formalen Phänomenbegriffs, wenn „unter dem Sich-zeigenden das Seiende verstanden wird“ (SZ, 31). Zu glauben, dass ein Seiendes sich an ihm selbst zeigt als das, was es ist, ist höchstens ein regulativer Begriff der Phänomenologie. Heidegger vergleicht die Unterscheidung zwischen dem phänomenalen Seienden und dem Phänomen vom Sein mit der kantischen Konzeption von Erscheinung und formuliert daraufhin den phänomenologischen Phänomenbegriff „im Horizont der Kantischen Problematik“: was in den Erscheinungen, dem vulgär verstandenen Phänomen, je vorgängig und mitgängig, obzwar unthematisch, sich schon zeigt, kann thematisch zum Sichzeigen gebracht werden, und dieses Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende (‚Formen der Anschauung‘) sind Phänomene der Phänomenologie (SZ, 31).
Heidegger veranschaulicht diesen Gedanken mit einem Verweis auf Kants „Formen der Anschauung“: Die Zeit und der Raum erscheinen an den wahrnehmbaren Dingen, obwohl zunächst auf eine latente Weise. Raum und Zeit können trotz ihrer vorläufigen Unauffälligkeit rein angeschaut werden.³⁰ Das Phänomen ist in dieser Hinsicht durch ein unthematisches Zeigen charakterisiert und wird durch die Thematisierung wahrhaft zu einem Phänomen. Das Ans-Licht-Bringen des Phänomens des Seins findet jedoch nicht in der Anschauung statt. In diesem Punkt distanziert sich Heidegger von Kant. Das Phänomen der heideggerschen Fundamentalontologie ist kein Seiendes. Zudem ist das Phänomen des Seins keine unmittelbare Evidenz, sondern Resultat eines diskursiven Prozesses. Deshalb stellt sich Heidegger anschließend die Problematik der Zugangsart zum Phänomen und die Frage nach der Vermittlung der Phänomenalität. Die Analyse des Phänomens führt zur Forderung nach der Vgl. SZ, 31: „…das Sich-an-ihm-selbst-zeigende. Bleibt in dieser Fassung des Phänomenbegriffes unbestimmt, welches Seiende als Phänomen angesprochen wird, und bleibt überhaupt offen, ob das Sichzeigende je ein Seiendes ist oder ob ein Seinscharakter des Seienden, dann ist lediglich der formale Phänomenbegriff gewonnen“. Heidegger macht diesen Punkt in Bezug auf Kants Auffassung von Raum und Zeit klar: „Denn offenbar müssen sich Raum und Zeit so zeigen können, sie müssen zum Phänomen werden können, wenn Kant eine sachgegründete transzendentale Aussage damit beansprucht, wenn er sagt, der Raum sei das apriorische Worinnen einer Ordnung“ (SZ, 31).
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Aufklärung des λόγος im Paragraphen §7.B. Es soll nämlich verdeutlicht werden, „in welchem Sinne Phänomenologie überhaupt ‚Wissenschaft von‘ den Phänomenen sein kann“ (SZ, 31). Dem Phänomen kommt demnach keine Sichtbarkeit im gängigen Sinne zu. Die Präsenz des Phänomens ist vielmehr opak und sein Sich-Zeigen erst durch eine Vermittlung zu erwerben: „gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie“ (SZ, 36). Die phänomenologische Methode hat demnach keinen leichten Weg zur Offenbarkeit. Es ist gerade diese Problematik, die die Sache der Phänomenologie ausmacht: Was ist das, was die Phänomenologie ‚sehen lassen‘ soll? Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinn ‚Phänomen‘ genannt werden muß? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht (SZ, 35).
Das Phänomen des Seins ist kein sich zeigendes Seiendes, sondern die grundlegende Art, in der sich Seiendes zeigt. Heidegger bezeichnet diese grundlegende Art als das Sein des Seienden. Es ist das Sein des Seienden, das „in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt“ und „nur ‚verstellt‘ sich zeigt“ (SZ, 35). Wenn das Phänomen kein Seiendes ist, dann hat die phänomenologische Ontologie kein bestimmendes und gründendes Was des Seienden im Ganzen zu ihrem Gegenstand. Das Sein ist – und zwar in einem wesentlichen Sinne – keine Entität. Es ist auch keine verstellte Instanz hinter allem Erscheinen im Sinne eines rätselhaften Substrats.³¹ Das Sein wird auch von keiner andersartigen Weise der Gegebenheit gegenüber dem Scheinen und dem Erscheinen charakterisiert. Das Sein ist allein die Art und Weise, in der Seiendes in einer Welt erschlossen wird. Das Phänomen betrifft nicht das Was, sondern das Wie des Seienden. Bereits am Anfang des siebten Paragraphen schreibt Heidegger, dass der die Phänomenologie „nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser“ charakterisiert (SZ, 27). Wenn das Wie der Phänomenalität, wie die oben zitierte Passage andeutet, von Verbergung durchdrungen ist, inwiefern vermag dann die Verbergung die eigentümliche Art und Weise zu sein, in der sich Seiendes zeigt?
Vgl. SZ, 36: „‚Hinter‘ den Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts anderes, wohl aber kann das, was Phänomen werden soll, verborgen sein“.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
B Das Als als Struktur der Phänomenalität Der vorherige Abschnitt legte dar, inwiefern das von Heidegger anvisierte Phänomen in wesentlicher Verbindung mit der Verbergung steht. Das Scheinen und das Erscheinen sind somit für die Phänomenalität selbst aufschlussreich. Heidegger verweist darauf, dass bereits der griechische Ausdruck φαινόμενον den Sinn des Scheins in sich trägt. Für das Verständnis des Phänomens liegt deshalb „alles daran zu sehen, wie das in den beiden Bedeutungen von φαινόμενον Genannte [das Sichzeigende und der Schein] seiner Struktur nach [meine Hervorhebung, L.I.] unter sich zusammenhängt“ (SZ, 29). Die gemeinsame Struktur des Phänomens und des Scheins wird bereits im nächsten Satz angedeutet: „Nur sofern etwas überhaupt seinem Sinne nach prätendiert, sich zu zeigen, d. h. Phänomen zu sein, kann es sich zeigen als etwas, was es nicht ist“ (SZ, 29). Dieser Satz suggeriert nicht so sehr den ontologischen Vorrang des Phänomens vor dem Schein, sondern formuliert vielmehr auf eine implizite Weise die Grundstruktur der Phänomenalität selbst: Sich-Zeigen ist grundsätzlich Sich-als-etwas-Zeigen. Wenn die Phänomenalität von der Struktur des Als geprägt ist, dann soll gezeigt werden, dass die Als-Struktur nicht nur für den Logos oder für das explizite Verstehen charakteristisch ist, sondern auch für die bedeutsame Phänomenalität der Phänomene, die sich als implizites Verstehen erweisen wird. Der Schein ist zunächst die „privative Modifikation von Phänomen“ (SZ, 29). Scheinhaft kann ein Seiendes sein, indem es sich als ein anderes zeigt. Doch dies ist laut Heidegger nur aufgrund eines putativen Zeigens möglich, in dem sich das Seiende als sich selbst zeigt. Ein ursprüngliches Als geht in einem gewissen Sinne einem scheinhaften Als voraus. Erst in diesem Sinne fundiert das Phänomenale den Schein. Dieses Verhältnis von Phänomen und Schein impliziert aber, dass das Phänomen selbst – das Ursprüngliche – vom Als durchdrungen ist. Der rätselhafte Satz am Ende des siebten Paragraphen – „Wie viel Schein jedoch, so viel ‚Sein‘“ (SZ, 36) – deutet gerade auf diesen Gedanken hin. Der Satz taucht im Kontext der unterschiedlichen Arten der Verdecktheit eines Phänomens auf. Heidegger hebt dabei den Fall hervor, in dem ein zuvor Entdecktes „noch sichtbar [ist], wenngleich nur als Schein“ (SZ, 36). Um überhaupt verborgen zu sein, muss ein zuvor Entdecktes als das, was es ist, zuerst erschlossen worden sein. Der Sinn des rätselhaften Satzes lautet demnach: Solange es Als gibt, selbst im Schein, gibt es Sein. Das Sein gibt es aber nicht wie ein übrig gebliebenes Wahres an einem Scheinbaren. Die Abgrenzung des Phänomens von der kantisch verstandenen Erscheinung soll auch dieses Missverständnis ausräumen. Es sei zunächst erinnert: Die Erscheinung ist „das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch
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etwas, was sich zeigt“ (SZ, 29). Die Erscheinungen sind „nur möglich auf dem Grund eines Sichzeigens von etwas“ (SZ, 29). Was sich an einer Erscheinung meldet, ist dabei, wie im paradigmatischen Fall der Krankheit am Symptom, selbst nicht offenbar. Indessen ist für Kant die Erscheinung nicht nur der Ort, an dem sich ein Anderes zeigt, sondern die Erscheinung tritt vielmehr „an dem selbst Nichtoffenbaren“ bzw. am Ding-an-sich auf und strahlt von diesem aus, „so zwar, daß das Nichtoffenbare gedacht wird als das wesentlich nie Offenbare“ (SZ, 30). Das, was sich im Sichtbaren meldet, das Ding an sich, ist „gerade ständig an ihm verhüllt“, obwohl es das Offenbare bedingt und bestimmt. Die Gegenständlichkeit ist so bei Kant „bloße Erscheinung“ und „meldende Ausstrahlung von etwas, was sich in der Erscheinung verbirgt“ (SZ, 30). Das, was sich in der Erscheinung verbirgt, ist im kantischen Rahmen zugleich das Wesentliche in der Erscheinung. Heideggers Abgrenzung von dem so verstandenen Verhältnis zwischen Erscheinung und Ding-an-sich ist für seine Konzeption des Verhältnisses von Sein und Seiendem höchst relevant, insofern dadurch die Deutung ausgeräumt wird, dass das Sein selbst das wesentlich Nichtoffenbare ist, dessen Ausstrahlung das Seiende wäre. Für Heidegger ist das Phänomen kein absolut Unerfahrbares, sondern die Aufgabe der Phänomenologie besteht gerade darin, das Nichtoffenbare aus der Verstellung herauszuholen und es thematisch ans Licht zu bringen. Selbst wenn das Phänomen des Seins nicht anschaulich vergegenwärtigt werden kann (so wie bei Kant die Noumena in keiner zeiträumlichen Anschauungsweise zugänglich sein können), bedeutet dies nicht, dass das Verborgene unerfahrbar wäre. Im Gegenteil: Phänomen – das Sich-an-ihm-selbst-zeigen – bedeutet eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas. Erscheinung dagegen meint einen seienden Verweisungsbezug im Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, ‚Phänomen‘ ist (SZ, 31).
Das Phänomen wird hier an der Struktur der Erscheinung verdeutlicht. Diese ist ein Phänomen, wenn das, was darin stillschweigend zum Ausdruck kommt, ans Licht gebracht wird. Die ausgezeichnete Begegnisart von etwas liegt somit in der Offenlegung des zunächst Nichtoffenbaren. Heidegger vertritt damit eine hermeneutische Phänomenologie und gibt so den Anspruch auf eine rein-anschauliche Gegebenheit oder auf eine unmittelbar gegebene Evidenz des Seins auf.³²
Christoph Demmerling argumentiert in diesem Sinne, dass selbst die vorprädikative Erschließung des Seienden nicht vorsprachlich ist. Die Rede ermöglicht erst alles Verstehen, selbst wenn die Rede nicht mit der Aussage gleichzusetzen ist. Heideggers Verständnis der Phänome-
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Das Hermeneutische betrifft sowohl die Gegebenheit des Seins als auch die Aufgabe, das verborgene Phänomen des Seins zu enthüllen. Am Anfang des siebten Paragraphen formuliert Heidegger das leitende Prinzip der Phänomenologie auf zwei unterschiedliche Weisen: das eine Mal durch den Ausdruck „von den Sachen selbst“ und das andere Mal durch die Maxime „zu den Sachen selbst“ (SU, 27). Die Devise „von den Sachen selbst“ stößt einerseits auf das Problem der Offenbarkeit, d. h. auf die Frage, wie sich das Sich-Zeigende als und von sich selbst zeigen kann. Die Maxime „zu den Sachen selbst“ deutet andererseits auf die hermeneutische Aufgabe hin, das Phänomen als das, was es ist, erscheinen zu lassen. Wenn aber das Sich-Zeigen kein reines Sich-Offenbaren ist, wenn der λόγος kein schlichtes Vernehmen bedeutet, und wenn die erklärte Aufgabe der Phänomenologie darin besteht, das Unthematische ans Licht zu bringen, dann kommt die wesentliche Funktion des λόγος ins Spiel, der das Problem der Phänomenalität verschärft. Sowohl im Hinblick auf das Sich-Zeigen des Phänomens als auch auf die Auslegung desselben repräsentiert der λόγος eine Durchdringung des im Phänomen angelegten Als. Der Logos und das Phänomen sind nicht gegenüberzustellen, sondern sie sind miteinander verflochten. Einerseits ist das Phänomen wesentlich von der Als-Struktur durchzogen, andererseits steht der Logos der Phänomenologie unter der regulativen Idee des Sich-Zeigens des Phänomens. Wenn das Phänomen unhintergehbar vom Als durchdrungen ist, dann deutet das regulative Sich-Zeigen auf eine unvermeidbare Paradoxie hin: Das Phänomen ist das, was im Logos zum Ausdruck gebracht werden soll, es hat aber keinen anderen Bestand außerhalb des Horizontes des Logos. Die Deutung des Sichtbaren macht dessen eigentliche Sichtbarkeit aus.
C Logos, Vermittlung, Verbergung Das Als steht an der Schwelle zwischen der vorgängigen Erschlossenheit des bedeutsamen Seienden und der Artikulation seiner Bedeutsamkeit. Diese Schlüsselstellung des Als nimmt die Unhintergehbarkeit des hermeneutischen Zirkels vorweg: Den Sinn von etwas zu artikulieren, bedeutet, ein noch nicht artikuliertes Verstehen zu begreifen, obwohl die Artikulation die Verstehensweise
nalität bezieht sich somit nicht auf ein „sprachlos ungegliedertes Leben in seiner blinden Unmittelbarkeit“ (Demmerling 2001, 110).
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bestimmt und sich somit von der impliziten Artikulation differenziert, die dem unmittelbaren Verstehen zugrunde liegt.³³ Obwohl Heidegger in der Einleitung des siebten Paragraphen einen Vorrang des Phänomenologischen vor dem Hermeneutischen vorauszusetzen scheint,³⁴ wird im Passus über den Begriff des λόγος (§7.B.) die Spannung zwischen Logos und Phänomen deutlich. Hier wird der λόγος einerseits als Ort des Offenbarmachens bzw. als erschließende Rede beschrieben, andererseits wird betont, dass der λόγος nicht die primäre Erschließung des Seienden darstellt. Was in der Rede aufgewiesen wird, soll bereits vor der Dimension der Rede unverborgen sein. Wenn aber erst dem λόγος die Funktion zukommt, etwas als etwas sehen zu lassen und dieses als Unverborgenes zu offenbaren (ἀληθεύειν), dann ist es fragwürdig, inwiefern der λόγος auf eine noch ursprünglichere Dimension der Erschlossenheit angewiesen sein kann. Heidegger behauptet am Anfang dieses Passus, dass die eigentliche Bedeutung des λόγος und aller anderen abgeleiteten Konzepte (Vernunft, Urteil, Begriff, Grund, usw.) die „Rede“ ist. Die Rede wird aber später in Sein und Zeit (§34) als „ursprüngliches Existenzial der Erschlossenheit“ beschrieben (SZ, 161). Wenn dem Verstehen die orininäre Erschließung des Seienden als solchen zukommt, dann stellt die Rede von Anfang an die interne Artikulation der Verständlichkeit dar. Selbst das schweigende und nicht geäußerte Verständnis ist latent artikuliert. Das Seiende kann allein im Als der Rede – obwohl nicht notwendigerweise im Als des Urteils – erschlossen werden (vgl. Kap II.4.C: „Der Sinn zwischen Artikulierbarkeit und Artikulation“). Inwiefern kann folglich von einem Als gesprochen werden, das dem Seienden jenseits des Horizontes des λόγος zukommen würde? Heidegger scheint im siebten Paragraphen zu behaupten, dass das, was etwas ursprünglich erschließt, weder das Als des Urteils noch das Als des λόγος sei, sondern „die αἴσθησις, das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas“ (SZ, 33). Im ursprünglichen Sinne entdeckend ist so „das reine νοεῖν, das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen“ (SZ, 33). Wie kann diese Aussage ausgelegt werden, ohne auf die Dichotomie von wahrer Unmittelbarkeit und verdeckender Vermittlung rekurrieren zu müssen?
Heidegger distanziert sich dennoch in §63 vom Ausdruck „Zirkel“ wegen dessen pejorativer Konnotation. Der Einwand gegen den Zirkel verkenne, „daß Seiendes nur dann ‚tatsächlich‘ erfahren werden kann, wenn das Sein schon verstanden, wenngleich nicht begrifflich ist“ (SZ, 315). Günter Figal (1988) betont die Bedingung einer vorsprachlichen Erfahrung der Erscheinung in Heideggers Konzeption des Phänomens. Selbst wenn Phänomene nur sprachlich erschlossen werden können, so Figals Argument, sind sie mit der hermeneutischen, phänomenologischen Erschlossenheit nicht zu verwechseln, sondern selbst faktisch, d. h. phänomenal gegeben.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Die Schwierigkeit liegt zunächst darin, dass Heidegger den λόγος im siebten Paragraphen vorwiegend als Aussage interpretiert. Erst in seinem späteren Werk entwickelt Heidegger eine umfassendere Auffassung des λόγος und der Sprache, die über die unmittelbare Dimension der gesprochenen und geschriebenen Rede hinausgeht. Im Heraklit-Aufsatz Logos (1951) heißt es beispielsweise, dass der λόγος nicht nur das Sprechen des Menschen, sondern vielmehr das ursprüngliche Versammeln des Sinns im Wort bezeichnet. Erst dieses Versammeln ermöglicht das Sprechen. Λόγος ist in diesem Sinne der Inbegriff der Sinnkonstitution: Er bringt das Mannigfaltige in eine Einheit und legt so das Seiende vor.³⁵ Dabei ist der λόγος entbergend und bergend zugleich, da das Mannigfaltige, das in einer einheitlichen Gestalt versammelt wird, selbst im so entstandenen Sinngehalt nicht erscheint (GA 7, 226). In Heideggers Spätdenken entspricht der λόγος der originären Dimension des erschließenden hermeneutischen Als und nicht dem nachträglichen Urteil. Die Sprache nimmt in seinem Spätwerk die wesentliche Rolle ein und wird bereits im Brief über den Humanismus (1947) als „Haus des Seins“ bezeichnet. Die Sprache kommt nicht nur vor aller Rede und vor allem Urteil, sondern auch vor jedem schlichten Vernehmen. Die Sprache gilt so als stiftende Dimension der Phänomenalität selbst: Sie ist „versammelndes vorliegen-Lassen des Anwesenden in seinem Anwesen“ (GA 7, 233). Obwohl diese Gedanken die spätere Verschärfung seines hermeneutischen Ansatzes darstellen, betont Heidegger bereits in Sein und Zeit den konstitutiven Stellenwert der Rede und ist der Ansicht, dass es keine reine Empfindung gibt, dass wir beispielsweise nie bloße Geräusche hören und pure Farben sehen, sondern dass jedes Hören und jedes Sehen ein verstehendes ist (SZ, 164). Heideggers Vorbehalt gegenüber der Aussage muss daher im Zusammenhang mit seiner Kritik am apophantischen Als bzw. am Urteil als einem verdeckenden Zugang zum Weltphänomen verstanden werden. Vor diesem Hintergrund scheint er der Rede im siebten Paragraphen eine das Weltbedeutsame stiftende Funktion abzusprechen. Wiederum hindert diese Kritik am Urteil Heidegger nicht, die Möglichkeit eines originären Sagens gegenüber der verstellenden Rede zu postulieren – d. h. einen möglichen λόγος, in dem man spricht, ohne zu verdecken; eine Phänomenologie, die dem Phänomen sein Sich-Zeigen verschafft. Die drei Grundworte, wodurch Heidegger die Grundbedeutungen des λόγος erläutert, sind ἀποφαίνεσθαι, σύνθεσις und ἀληθεύειν. Bereits die erste Definition des λόγος zeigt die Verflechtung mit dem Phänomen auf: Der λόγος sei ein Of Michael Steinmann (2008) argumentiert, dass Heideggers Auffassung von Logik, Verstehen und Sprache im Ausgang von der kantischen Einheit der Apperzeption betrachtet werden soll. Heidegger bestärke das Prinzip der Synthesis und löse es vom Bezug auf das Bewusstsein los.Vgl. dazu Sturma 2013.
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fenbarmachen (δηλοῦν) und ein aufweisendes Sehenlassen dessen, worüber geredet wird. So soll in der „echten“ Rede „das, was geredet ist, aus dem, worüber geredet wird, geschöpft sein“ (SZ, 32). Daraus ergibt sich die Frage, ob die echte Rede das Phänomen dupliziert oder ob das Phänomen erst innerhalb der Phänomenologie zu einem solchen wird – ob das Sich-Zeigende in der Rede zum SichZeigen gebracht wird. Die Definition der Phänomenologie selbst lautet am Ende des siebten Paragraphen: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (SZ, 34). Ist somit das Sehenlassen des λόγος der Ort, an dem das Sich-Zeigen erst stattfindet? Oder vermag das Phänomen bereits vor dem λόγος erschlossen zu sein? Diese Frage wird an dieser Stelle nicht gelöst, sondern die anderen zwei Termini, die den λόγος definieren, vertiefen die Spannung. Unter σύνθεσις versteht Heidegger nicht die Synthesis als Verknüpfung von Vorstellungen, sondern „das συν hat hier rein apophantische Bedeutung und besagt: etwas in seinem Beisammen mit etwas, etwas als etwas sehen lassen“ (SZ, 33). Erst aufgrund dieser inhärenten Als-Struktur kann der λόγος wahr oder falsch sein, d. h. seine Bedeutung als ἀληθεύειν erfüllen: λόγος als ἀληθεύειν besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, im λέγειν als ἀποφαίνεσθαι aus seiner Verborgenheit herausnehmen und es als Unverborgenes (ἀληθές) sehen lassen, entdecken. Imgleichen besagt ψεύδεσθαι soviel wie Täuschen im Sinne von verdecken: etwas vor etwas stellen (in der Weise des Sehenlassens) und es damit ausgeben als etwas, was es nicht ist (SZ, 33).
Falschheit und Wahrheit sind hier nicht im Rahmen einer Korrespondenztheorie zu verstehen, sondern als ein Verhältnis zwischen λόγος und ἀλήθεια, d. h. zwischen dem, was in der Rede erschlossen wird, und dem, was ursprünglich entdeckt ist. Obwohl der λόγος der Ort sein soll, an dem das Sich-Zeigen stattfindet, ist er zugleich die vermittelnde Als-Struktur, die das Als des Sich-Zeigens wahrhaft oder falsch darlegen kann. Dies setzt aber voraus, dass das Sich-Zeigende nicht erst im λόγος erschlossen wird. Deshalb darf „der λόγος gerade nicht als der primäre ‚Ort‘ der Wahrheit angesprochen werden“ (SZ, 33). Das schlichte Vernehmen allein ist „im reinsten und ursprünglichen Sinn ‚wahr‘ – d. h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann“ (SZ, 33). Mit der AlsStruktur des λόγος ergibt sich die Möglichkeit des Verdeckens, weil er „im Aufweisen auf ein anderes rekurriert und so je etwas als etwas sehen läßt“ (SZ, 34). Die Möglichkeit des Verdeckens scheint an dieser Stelle mit der Als-Struktur verbunden zu sein. Darunter ist aber noch nicht das Als des Urteils gemeint, sondern Heidegger betont, dass die dem λόγος spezifische Verbergung eine eigentümliche ist: „Die ‚Urteilswahrheit‘ aber ist nur der Gegenfall zu diesem Verdecken – d. h. ein mehrfach fundiertes Phänomen von Wahrheit“ (SZ, 34). Die
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
besprochene Verdeckung des λόγος ist demnach nicht die Falschheit der Aussage. Inwiefern steht der λόγος – das Als, welches das Seiende als Seiendes erschließt – unter dem Verdacht, gegenüber dem reinen Vernehmen verdeckend zu sein? Am Ende des Passus formuliert Heidegger den Imperativ, dass der λόγος – diesmal als Vernunft verstanden – „im schlichten Sehenlassen von etwas“ und „im Vernehmenlassen des Seienden“ bestehen soll (SZ, 34). Diese Formel, die auf die Schlichtheit des Vernehmens rekurriert, entspricht dem formalen, regulativen Begriff des Phänomens. Der formale Phänomenbegriff muss aber „zum phänomenologischen entformalisiert werden“ (SZ, 35). Der regulative Begriff des Phänomens wird aber dadurch entformalisiert, dass man einsieht, dass das Phänomen immer schon vom Als durchdrungen ist. Heidegger ist sich der Gefahr eines flachen Unmittelbarkeitsansatzes, der das Phänomen und Erschließung desselben auf eine reine Anschauung zurückführen würde, wohl bewusst. Er betont am Ende des siebten Paragraphen die hermeneutische und explanative Funktion des Logos. Die Begegnung des Seins muss „allererst abgewonnen werden“, und zwar durch „eine eigene methodische Sicherung“ des Zugangs zum Phänomen und des Durchgangs „durch die herrschenden Verdeckungen“ (SZ, 36). Es handelt sich somit um keine Dichotomie zwischen einer ursprünglichen Unmittelbarkeit im reinen Vernehmen und einer nachträglichen Vermittlung des λόγος, welche die Tendenz hätte, jene ursprüngliche Phänomenalität zu verdecken. Eine solche Dichotomie würde geradezu auf dem Paradigma der Übereinstimmung des Urteils mit einer originären Gegebenheit beruhen. Der Terminus „originär“ kann in einem solchen Zusammenhang nur ein regulatives Kriterium für eine Untersuchung der Erschlossenheit von Bedeutsamkeit darstellen.³⁶ Vor diesem Hintergrund beschreibt Heidegger die phänomenologische Herangehensweise als „Auslegung“ (SZ, 37). Dafür steht die programmatische Formulierung der Aufgabe der Phänomenologie: Der λόγος der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des ἑρμηνευειν, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden (SZ, 37).
Das apophantische Als der Phänomenologie soll demnach aufdecken, was das hermeneutische Als der Weltbedeutsamkeit latent enthält. Aber selbst die Beseitigung der Verdeckungen führt zu keiner unmittelbaren Erfahrung des reinen
Vgl. SZ, 36 – 37: „In der Idee der ‚originären’ und ‚intuitiven’ Erfassung und Explikation der Phänomene liegt das Gegenteil der Naivität eines zufälligen, ‚unmittelbaren’ und unbedachten ‚Schauens‘“.
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Sich-Zeigenden zurück. Die Phänomenologie kann die Unhintergehbarkeit des hermeneutischen Als nicht übersehen, sondern die Phänomenalität muss in ihrer Verflechtung mit dem Hermeneutischen erfasst werden: φαίνεσθαι ist unhintergehbar ἑρμηνευειν. Heideggers Erläuterungen zum λόγος können somit nur im Rahmen des Zwiespaltes des Als bzw. der Spannung zwischen φαίνεσθαι und ἑρμενεύειν erklärt werden. Dieser Zwiespalt, den Heidegger allerdings nicht deutlich formuliert, besteht darin, dass das Als zugleich erschließend und verbergend ist.³⁷ Wenn das Als sich als zwiespältiges Medium der Phänomenalität erweist, insofern es all dem, was ist, dessen Offenbarkeit verbürgt, aber derart, dass es sie zugleich verbergen kann, dann wird der Zusammenhang zwischen der Konstitution der Weltbedeutsamkeit und der Dimension der Verbergung im siebten Paragraphen vorbereitet. Ohnehin hat die Verbergung hier nur einen negativen Stellenwert: „Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu ‚Phänomen‘“ (SZ, 36). Es gibt Phänomene, die in dem Sinne verdeckt sind, dass sie „überhaupt noch unentdeckt“ sind (SZ, 36). Ein anderer Sinn der Verbergung ist die Verschüttung: „es war zuvor einmal entdeckt, verfiel aber wieder der Verdeckung“ (SZ, 36). Eine dritte Verbergungsart ist die Verdeckung, wo das bereits Entdeckte „noch sichtbar, wenngleich nur als Schein“ ist (SZ, 36). Diese Verbergungsart ist die „häufigste und gefährlichste“, weil die Täuschungen und Fehlleitungen „besonders hartnäckig sind“ (SZ, 36). Die Verdeckungen können darüber hinaus zufällig oder notwendig sein. Die letzten sind solche, „die in der Bestandart des Entdeckten gründen“ (SZ, 36). Als Beispiel für diese Verbergung nennt Heidegger den bodenlos gewordenen Begriff: Jeder ursprünglich geschöpfte phänomenologische Begriff und Satz steht als mitgeteilte Aussage in der Möglichkeit der Entartung. Er wird in einem leeren Verständnis weitergegeben, verliert seine Bodenständigkeit und wird zur freischwebenden These. Die Möglichkeit der Verhärtung und Ungriffigkeit des ursprünglich ‚Griffigen‘ liegt in der konkreten Arbeit der Phänomenologie selbst (SZ, 36).
Diese Verdeckung liegt somit an der begrifflichen Auslegung. Jede begriffliche Artikulation trägt mit sich die Gefahr, das ursprünglich Begriffene der Vergessenheit, dem Missverständnis und der Gehaltlosigkeit preiszugeben. Heideggers Vorbehalt gegenüber dem Logos entspringt aus der Verknüpfung von Begriff, Auf den Zusammenhang zwischen λόγος und Verbergung verweist Mathias Flatscher (2011): Sprache sei ein a-phänomenales Phänomen und werde bereits im §7 von Sein und Zeit nicht nur als erschließende Dimension, sondern auch als Dimension des Entzugs gedacht. Flatscher versteht aber die Verbergung lediglich derart, dass Sprache „sich einer restlosen Vergegeständlichung entzieht“. Diesen Sachverhalt untersucht Flatscher insbesondere im Spätwerk Heideggers.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Rede und Aussage und er schreibt diese Verbindung der griechischen Ontologie zu: Die Griechen haben kein Wort für Sprache, sie verstanden dieses Phänomen ‚zunächst‘ als Rede. Weil jedoch für die philosophische Besinnung der λόγος vorwiegend als Aussage in den Blick kam, vollzog sich die Ausarbeitung der Grundstrukturen der Formen und Bestandstücke der Rede am Leitfaden dieses Logos. Die Grammatik suchte ihr Fundament in der ‚Logik‘ dieses Logos. Diese aber gründet in der Ontologie des Vorhandenen (SZ, 165).
Die Verdeckungstendenz, die Heidegger dem Begriff und dadurch auch dem Logos zuschreibt, ist auf den reduktiven Charakter der Aussage zurückzuführen. Die Aussage führt das Sinnphänomen auf zugängliche und festlegbare Eigenschaften zurück (vgl. Kap. II.4.B: „Urteil und Erkenntnis“).³⁸ Die Analyse des siebten Paragraphen soll aber bisher gezeigt haben, dass Heidegger das Sich-Zeigen des Phänomens als einen regulativen Begriff der Phänomenalität betrachtet, der im Hinblick auf die Durchdringung des Als korrigiert und entformalisiert wird. Obwohl der Logos dem Phänomen seine Phänomenalität verschaffen soll, wie die Aufgabe der Phänomenologie lautet, schreibt Heidegger dem Logos eine Tendenz zur Verdeckung zu, die der Verbindung zwischen der begrifflichen Artikulation und der Struktur der Aussage verschuldet ist. Die zwiespältige Funktion des Als, Phänomene sichtbar zu machen und diese zugleich zu verdecken, formuliert Heidegger deutlicher im Rahmen seiner Analyse der Weltbedeutsamkeit, wie der nächste Abschnitt aufzeigen soll.
3 Weltbedeutsamkeit und Verbergung A Das hermeneutische Als Eine wichtige These der Daseinsanalytik in Sein und Zeit lautet, dass die Art und Weise, in der uns Seiendes begegnet, an eine Gesamtheit von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen gebunden ist. Die Dinge sind, was sie sind, weil sie in eine Welt hineingehören. Die Welt, die selbst kein innerweltliches Seiendes ist, bestimmt das Seiende „so sehr, daß es nur begegnen und entdecktes Seiendes in seinem Sein sich zeigen kann, sofern es Welt ‚gibt‘“ (SZ, 72). Die Dinge sind seiend nicht, insofern sie isoliert wahrnehmbar oder die Summe aufzählbarer Eigenschaften sind, sondern insofern sie im übergreifenden Horizont der Ver-
Christoph Demmerling zufolge repräsentiert die Orientierung an der Aussage für Heidegger der „Sündenfall im sprachphilosophischen Denken des Abendlands“ (Demmerling 2001, 111).
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ständlichkeit erscheinen, der als holistisches semantisches Netz dem einzelnen Seienden erst Sinnhaftigkeit verleiht. Diesen Horizont bezeichnet Heidegger als „Welt“. Die Bedeutung des heideggerschen Weltbegriffs soll an erster Stelle vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der modernen Erkenntnistheorie und somit im Ausgang von seiner Kritik an der kategorialen Reduktion des Weltphänomens spezifiziert werden. Diese Reduktion führt Heidegger auf die Ansicht zurück, dass die theoretische Einstellung als Seinsart des menschlichen Daseins der primäre Modus des In-der-Welt-Seins ist. In der theoretischen Einstellung wird das Seiende als vorhandene Gegenständlichkeit begriffen und im Hinblick auf seine ausgedehnten, feststellbaren und messbaren Eigenschaften betrachtet.Wird diese Einstellung als primär bzw. konstitutiv angesehen, so wird dabei der Sinn des Seienden als Zusammensetzung gegenüberliegender Eigenschaften gedacht. Heideggers Kritik am erkenntnistheoretischen Standpunkt ist deshalb wesentlich, weil für ihn selbst das Verstehen der fundamentale Modus ist, in der Welt zu sein. In einem dafür maßgeblichen Satz heißt es: „Das Erkennen von Welt (νοεῖν), bzw. das Ansprechen und Besprechen von ‚Welt‘ (λόγος) fungiert als der primäre Modus des In-der-Welt-seins, ohne daß dieses als solches begriffen wird“ (SZ, 59). Diese primäre Erkenntnisart bezeichnet aber für Heidegger nicht das Erfassen einer gegenüberstehenden Welt oder die ausdrückliche, epistemische Bezugnahme eines Subjekts auf ein Objekt. Das In-der-Welt-Sein des Daseins als „‚Beziehung‘ zwischen Seiendem (Welt) und Seiendem (Seele)“ zu verstehen, ist die tiefere Voraussetzung für die irreführende Fragestellung der modernen Erkenntnistheorie, die den Zugang eines isoliert erfassten Subjektes zur äußeren, objektiven Welt problematisiert (SZ, 59). Diese Problemstellung ist nach Heidegger deshalb irreführend, weil sie von der konkreten Konstitutionsweise des menschlichen Verstehens und der bedeutsamen Dinge abstrahiert, die doch gleichursprünglich bzw. auf einander angewiesen und miteinander verflochten sind. Das von Heidegger angesprochene Erkennen ist kein der Welt gegenüberstehender und nachträglicher Akt, wie es sonst im Paradigma einer ausgedehnten, bedeutungslosen Welt, welcher ein Subjekt künstlich hinzukommen würde, gedacht wird. Das Erkennen bzw. das Verstehen von Welt ist für das Weltphänomen mitkonstitutiv. Was die „innerweltlichen Begegnenden“ erschließt bzw. freigibt, „ist nichts anderes als das Verstehen von Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer verhält“ (SZ, 86). Dies bedeutet in der Architektonik von Sein und Zeit, dass die Welt immer schon in einem hermeneutischen Als erschlossen wird. Das hermeneutische Als, das die Bedeutsamkeit der Welt trägt, zeichnet sich dadurch aus, dass es immer schon verstanden wurde. Für Heidegger ist das hermeneutische Als weder auf das kategoriale Urteilsvermögen einer transzendentalen Subjektivität noch auf die
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subjektiv-praktische Auslegung der Gegenständlichkeit zurückzuführen. Das, was etwas als etwas zunächst und zumeist ausmacht, ist nicht bloß eine Leistung eines Erkenntnissubjektes und entspringt auch nicht sprachlos aus der reinen Praxis.³⁹ Das Hantieren selbst bedarf eines vorläufigen Vorverständnisses, insofern jede Tätigkeit sich in einer bereits erschlossenen Welt bewegt. Die Tatsache, dass das Lernen und Durchführen von praktischem Können die Dinge in ihrem hermeneutischen Als – d. h. als das, womit und wozu man etwas tut – aneignet, besagt nicht, dass das rein Praktische ipso facto das hermeneutische Als gründet.⁴⁰ Obwohl Heideggers Analyse der alltäglichen Erfahrungswelt auf das Primat der Zuhandenheit im Phänomen der Welt hinzuweisen scheint, hat diese Beschreibung vielmehr das Ziel, den reduktiven Charakter der Vorhandenheitsontologie zu enthüllen. Die Zuhandenheit vermag aber die Tragweite des Weltphänomens nicht auszuschöpfen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Frage nach der Konstitution der Welt nicht „durch einen Rückgang auf Seiendes“, das uns in der Welt begegnet, beantwortet werden kann, wie Heidegger in einem Brief an Husserl unterstreicht (GA 14, 131). Der heideggersche Begriff der „Welt“ muss daher im Zusammenhang mit der Irreduzibilität des ermöglichenden Sinnhorizontes des Seienden auf das Innerweltliche verstanden werden. Heideggers Erläuterungen über die Weltlichkeit der Welt, über den Vorrang der Zuhandenheit im alltäglichen Dasein und über die Dimensionen der Verweisung, der Dienlichkeit und der Bewandtnis kulminieren in dem Begriff der Bedeutsamkeit. Unter „Bedeutsamkeit“ werden alle Artikulationen der Weltlichkeit zusammengedacht. Die Bezüge, die die transzendentale Struktur der Welt ausmachen, bzw. das Wozu, das Wofür und das Worum-willen, haben das gemeinsame Charakteristikum, dass sie uns als Bedeutungen erschlossen sind: Sie „sind, was sie sind, als dieses ‚Be-deuten‘, darin das Dasein ihm selbst vorgängig sein In-der-Welt-sein zu verstehen gibt“ (SZ, 87). Die Bedeutsamkeit ist „das, was die Struktur der Welt, dessen, worin Dasein als solches je schon ist, ausmacht“
Das ist ein Missverständnis der radikal pragmatischen Lesart von Sein und Zeit. Allerdings schließt die pragmatische Lesart die Unhintergehbarkeit der Verständlichkeit nicht aus. Harrison Hall (1993) plädiert beispielsweise für eine pragmatische Lesart, welcher zufolge es keine letzte Quelle der Bedeutsamkeit, sondern nur Verständlichkeit gibt. Die Pointe liegt für Hall darin, dass der Sinn der praktischen Dinge nicht als expliziter mentaler Gehalt manifest ist. Eine Kritik an der Ansicht, dass die primäre Erfahrung des Daseins nicht begrifflich (nonconceptual) sei, liefert Sacha Golob (2014). Golob argumentiert, dass die Intentionalität in Sein und Zeit primär begrifflich ist, obwohl nicht propositional. Golob teilt ferner die Annahme, dass der Schlüssel zu Heideggers Konzeption in der Als-Struktur liegt und dass die Als-Struktur Heideggers Verständnis von Sinn und von der ontologischen Differenz erschließt.
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(SZ, 87). Sie ist die „existenziale Verfassung des Daseins“, die erst die ontische „Entdeckbarkeit einer Bewandtnisganzheit“ bedingt (SZ, 87). Die Bedeutsamkeit der Welt beruht aber auf dem Verstehen. Diese Annahme entspricht einer Grundthese von Sein und Zeit, dass das Sein nur im Seinsverständnis erschlossen wird (SZ, 212). Diese Bestimmung der Welt erweckt den Eindruck, wie Heidegger bemerkt, dass „das Sein des innerweltlich Seienden in das ‚reine Denken‘ aufgelöst“ wird (SZ, 88) – dieses Verständnis lehnt Heidegger jedoch ab. Wenn es kein Resultat einer theoretischen Leistung ist und in der reinen Praxis nicht aufgeht, ergibt sich das Bedürfnis nach einer Aufklärung der Natur dieses primären Verstehens von Welt. Erst in der Analyse der Konstitution des Da (§29 – §34) geht Heidegger direkt auf das Problem des Verstehens, der Rede und der Auslegung ein (vgl. Kap. II.4: „Verstehen, Sinn, Urteil“). In Vorbereitung dazu soll im Folgenden aber zunächst erstens aufgezeigt werden, inwiefern die Hervorhebung der praktischen Dimension der Bedeutsamkeit die Reichweite des heideggerschen Weltbegriffes nicht erschöpft. Zweitens soll die Verbergung des Weltphänomens thematisiert und dabei gezeigt werden, wie die Verbergung von Welt dem Vollzug des hermeneutischen Als inhärent ist. Diese Paradoxie wird im Anschluss darauf zurückgeführt, dass das Verstehen als solches – sowohl das theoretische als auch das praktische – zugleich erschließend und verbergend ist.
B Was alles welthaft ist: Das Zuhandene und das Gute Für einen präziseren Umriss des heideggerschen Weltbegriffs ist nicht nur die Analyse der Weltlichkeit in Sein und Zeit (§12 – §18) maßgeblich, sondern auch die philosophiegeschichtliche Verortung des Weltbegriffs in Vom Wesen des Grundes (1929). Dort wird die Welt mit der kantischen Vernunftidee und mit Platons Idee des Guten in Verbindung gebracht. Zu den welthaften Phänomenen zählen nicht nur die Naturerzeugnisse und die menschlich hergestellten Werkzeuge, sondern auch das ästhetisch und ethisch Erfahrbare in einem breiten Sinne – das Gute und das Schöne, die Scham und die Gerechtigkeit, die Sehnsucht und die Hoffnung. Solche welthaften Phänomene kommen nach Heideggers Verständnis nicht wie angeheftete Wertprädikate der Welt nachträglich hinzu, sondern sind für diese von vornherein konstitutiv.⁴¹
Vgl. SZ, 316: „Künstlich dogmatisch beschnitten ist der thematische Gegenstand, wenn man sich ‚zunächst‘ auf ein ‚theoretisches Subjekt‘ beschränkt, um es dann ‚nach praktischer Seite‘ in einer beigefügten ‚Ethik‘ zu ergänzen“. Die kritische Ansicht, dass Kants Kategorientafel unvollständig ist, weil sie keine Begrifflichkeit für den Bereich des Lebendigen und des Geistes
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Heideggers Analyse der Weltlichkeit in Sein und Zeit scheint indessen den Zweck zu haben, den Vorrang der Zuhandenheit gegenüber der Vorhandenheit hervorzuheben, insofern Heidegger eine umfangreiche Begrifflichkeit mobilisiert, um die phänomenologische Partikularität und den ontologischen Status des Zuhandenseins herauszukristallisieren. Dabei geht Heidegger von der Frage nach der Art und Weise aus, in der sich die „Weltmäßigkeit“ an dem innerweltlichen Seienden zeigt (§16). Der alltägliche Umgang mit den Dingen beweist dahingehend, dass das Seiende immer schon in einen praktischen Zusammenhang hineingehört, da das durchschnittliche Verhalten des Daseins primär im hantierenden Umgang mit „Zeug“ besteht. Vor diesem Hintergrund scheint Heidegger auch die „wertbehafteten Dinge“ vorwiegend vom Zeug her zu interpretieren. Dafür liefert Heidegger ein etymologisches Argument: Wenn die πράγματα im Griechischen von der πρᾱξις stammen, dann sind die Dinge primär Werkzeuge.⁴² Die Zentralität der Zuhandenheit wird aber zunächst dadurch abgeschwächt, dass die Bedeutsamkeit des partikulären Zeuges auf einen überspannenden Verweisungskomplex angewiesen ist. Das Zeug bestimmt sein Wozu nicht von sich selbst aus, sondern es hat eine Bedeutung erst durch seine Zugehörigkeit zu einer „Zeugganzheit“. Heidegger nennt diesen übergreifenden Horizont von Verweisungszusammenhängen „Bewandtnis“ und ordnet das Zuhandene einer vorläufig erschlossenen Weltbedeutsamkeit zu (SZ, 86). Durch den holistischen Charakter der Weltbedeutsamkeit versucht Heidegger, das Weltphänomen nicht als ein vorhandenes „Relationssystem“ zu beschreiben. Ein solches System könnte in seinen Verweisungszusammenhängen formal analysiert werden und dadurch auf Prädikate der Zweckmäßigkeit zurückgeführt werden. Hingegen ist die Welt laut Heidegger kein Kompositum aus zuhandenen Seienden und kein Konglomerat von „Funktionsbegriffen“ (SZ, 88).⁴³ Sein und Zeit präsentiert keine Auffassung, die die Welt vorwiegend in ihrer Funktionalität und Zweckmäßigkeit betrachten würde und die somit gegenüber jeglichem weltanschaulichen, ethischen und ästhetischen Gehalt der Bedeutentwickelt, hat Heidegger auch von Dilthey übernehmen können (vgl. Dilthey 1927, 152– 190). Vgl. dazu Martin 2013. Vgl. SZ, 68: „Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus fü r die ‚Dinge‘: πράγματα, d. i. das, womit man es im besorgenden Umgang (πρᾱξις) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch gerade den spezifisch ‚pragmatischen‘ Charakter der πράγματα im Dunkeln und bestimmten sie ‚zunä chst‘ als ‚bloße Dinge‘. Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug“. Taylor Carman ist diesbezüglich der Ansicht, dass die Rede in der Architektonik von Sein und Zeit gerade für diejenige Bedeutsamkeit steht, die nicht in zweckmäßigen Verhältnissen aufgeht. Die Rede ist nicht bloß sprachlich, sondern „a wider spectrum of irreducibly expressive and communicative comportments that constitute a distinct, nonpurposive dimension of meaning that makes language and semantic phenomena in general possible“ (Carman 2003, 5).
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samkeit neutral wäre.⁴⁴ Im Gegenteil artikuliert dieses Werk Heideggers die Forderung, die Welt daseinsmäßig zu verstehen. Die Welt soll in ihrer existenziellen Bedeutung genommen werden – als das, worin „ein faktisches Dasein als dieses ‚lebt‘“ (SZ, 65). Die öffentliche und die häusliche Welt verkörpern beispielsweise eine solche Welt. Weltlich ist in diesem Sinne nur das Dasein, während die innerweltlichen Seienden weltzugehörig sind. Deshalb konturiert sich Heideggers Weltbegriff durch die Abgrenzung von einer räumlich-kategorialen Bestimmung der Welt.⁴⁵ Die Welt ist demnach kein allumfassender Kosmos, kein allgemeiner Weltraum, in dem die Dinge vorkommen, und auch kein kosmologisches Prinzip der Dinge. Eine derartige Konzeption der Welt, nach welcher sie wie eine ψυχὴ κόσμου die Dinge anordnen würde, stützt sich auf eine räumlich-kategoriale Ontologie, wonach die Welt als ein Seiendes „von nicht daseinsmäßiger Seinsart“ (SZ, 54) vorgestellt wird. Einer solchen Welt würde das menschliche Dasein bloß gegenüberstehen – seine Wesensart als verstehendes Seiendes wäre aber von dieser Welt ausgeschlossen. Das In-der-Welt-Sein des Daseins ist demnach nicht räumlich zu begreifen – vor allem dann nicht, wenn die Räumlichkeit als ein Verhältnis von Vorhandenen zu einander gedacht wird. Das Dasein ist nicht derart in der Welt, wie die Dinge in, mit und innerhalb eines Raumes sein können. Das „In-Sein des Daseins“ bedeutet für Heidegger „innan, wohnen, habitare, sich aufhalten“ (SZ, 54). In der Welt zu sein, besagt somit nicht, dass die Menschen sich innerhalb einer Anhäufung von Seienden befinden, sondern dass sie in der Welt wohnen, mit ihr vertraut sind und sich ihnen Seiendes begegnen lassen. Das Seiende begegnet ihnen, weil mit ihrem Da-sein „schon so etwas wie Welt ihm [dem Menschen] entdeckt ist“ (SZ, 55). Die hier angesprochene Begegnung bezieht sich nicht auf die Wahrnehmung im Sinne des objektiven Vorkommens von etwas, sondern auf die „Tatsächlichkeit des Faktums Dasein“ (SZ, 56), d. h. auf die eigentümliche Art, in der das Dasein in der Welt ist, nämlich so, „daß sich dieses Seiende verstehen kann als in seinem ‚Geschick‘ verhaftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen Welt begegnet“ (SZ, 56). Das Geschick des Daseins liegt nach Heidegger darin, den Sinn des Seins des jeweiligen Seienden zu tragen. Das Seiende begegnet uns in einer Welt, insofern unser Dasein mit Seinsverständnis behaftet ist. Die Welt ist daher daseinsmäßig, insofern die Dinge erst im Verstehen erschlossen werden, und zwar als das, was sie den Menschen bedeuten.
Die nur scheinbare Neutralität der Analytik des Daseins und Heideggers Abwehr von Moral und Ethik hat ebenfalls Dieter Thomä (2001) ausführlich problematisiert. Vgl. SZ, 54– 56; SZ, 101– 113.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Die Annahme, dass Seiendes eines Verstehens bedarf, um seiend zu sein, scheint jedoch den Weltbegriff zu subjektivieren. Eine derartige Erwiderung beruht aber erneut auf dem kartesischen Dualismus, demgemäß dem vorhandenen, materiellen Ding noch eine zusätzliche, anthropologische Bedeutung nachträglich zukomme.⁴⁶ Heidegger erklärt bereits am Anfang von Sein und Zeit, dass der Vorrang des Daseins in seinem Weltbegriff „nichts gemein mit einer schlechten Subjektivierung des Alls des Seienden“ hat (SZ, 14). Das schlechte Subjektivieren bedeutet für ihn so viel wie „in das Belieben des Subjektes gestellt“ (SZ, 227). Zugleich konstatiert Heidegger in der philosophischen Tradition „das Fehlen einer thematischen Ontologie des Daseins, Kantisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjektes“ (SZ, 24). Daher bedarf es einer Abgrenzung von der schlechten Subjektivierung, ohne aber die Apriorität des Daseins auszuräumen. In einer ontologischen Hinsicht gilt vielmehr der Satz: „Welt ist ‚subjektiv‘. Diese ‚subjektive‘ Welt aber ist dann als zeitlich-transzendente ‚objektiver‘ als jedes mögliche ‚Objekt‘“ (SZ, 366). Die Bedeutung dieses Subjektiven soll folglich präzisiert werden. Heidegger spricht von einem „‚subjektiven‘ Apriori des In-der-Welt-seins, das mit einer vorgängig auf ein weltloses Subjekt beschränkten Bestimmtheit nichts zu tun hat“ (SZ, 110). Die im Sinne Heideggers verstandene Subjektivität ist somit nicht „vor“ und unabhängig von der Welt, sondern durch den praktischen Umgang mit der Welt und durch die sprachliche Verankerung in einer Lebenswelt konstituiert. Die Bezüge der Bedeutsamkeit sind nicht vom Denken gesetzt, „sondern Bezüge, darin besorgende Umsicht als solche je schon sich aufhält“ (SZ, 88). Es handelt sich nicht um eine subjektive Konstitution der Gegenständlichkeit, sondern das Dasein lässt das Seiende sein, was es bereits ist – es erschließt das Seiende, wie dieses in einer objektiven Lebenswelt vorentdeckt und vorgängig erschlossen ist. Dies heißt nicht so sehr, dass dem Seienden eine Bedeutung zugeschrieben wird, die es unabhängig von einer menschlichen Deutung auf der objektiven Seite einer Korrelation bereits hat, sondern vielmehr, dass das Verstehen des Seienden auf einem Vorverständnis desselben beruht, das immer schon entstanden ist und als solches übernommen wird. Dieses Immer-schon-erschlossen-sein-lassen beschreibt Heidegger als ein „apriorisches Perfekt“ (SZ, 85).
In einer ähnlichen Weise versteht Robert Brandom Heideggers Impetus gegen die traditionelle Ontologie: „The philosophical tradition treats the factual as the basic form of the real and seeks to explain the normative by adding something, which might generally be called values (…). By contrast, Heidegger treats as primitive a certain kind of social normative articulation and seeks to define the factual as a special case picked out by subtracting something, namely, certain kind of relations to human projects“ (Brandom 2002a, 324).
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In Vom Wesen des Grundes (1929) nimmt Heidegger erneut den Vorwurf des Anthropozentrismus auf und bekräftigt, dass die Welt „zwar subjektiv [ist], aber gerade deshalb nicht als Seiendes in die Innensphäre eines ‚subjektiven‘ Subjektes fällt“ (GA 9, 156).Was die Welt zu einer subjektiven Welt macht, ist vor allem die Tatsache, dass sie um des Daseins willen ist. Das Worumwillen der Welt bestimmt in Sein und Zeit das Woraufhin der Sinnbezüge einer Welt. Versteht das Dasein die Welt immer schon auf sich hin, so besteht die Weltbedeutsamkeit allerdings aus der „Auslegung des menschlichen Daseins in seinem Bezug zum Seienden im Ganzen“ (GA 9, 154). In diesem Sinne ist das Dasein „im Wesen seines Seins weltbildend“ (GA 9, 156). Dies gilt selbst für ein kosmologisches Verständnis der Welt: Wenn sich der griechische Begriff des κόσμος auf das Wie bezieht, „in dem das Seiende, und zwar im Ganzen, ist“, dann wird dieses Wie „relativ auf das menschliche Dasein“ gedacht (GA 9, 140). Diese Textstellen radikalisieren den vermeintlich subjektiven Charakter der Welt derart, dass der Subjektivitätsvorwurf selbst überflüssig wird. Dabei liegt das Argument von Heidegger darin, dass, während die Welt subjektiv verfasst ist bzw. mit dem Dasein zusammenfällt, das Seiende selbst nicht von einem Subjekt gesetzt wird. So beschreibt Heidegger in Vom Wesen des Grundes die Charakteristik der Subjektivität als Transzendenz: „Subjektsein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein“ (GA 9, 136). Was dabei transzendiert wird, ist aber nicht die Welt, sondern das Seiende. Die Transzendenz ist keine Überschreitung des Welthorizontes, sondern im Gegenteil: Das Woraufhin des Überstiegs ist die Welt.⁴⁷ Dementsprechend transzendiert die Weltbedeutsamkeit das Seiende, insofern sie dessen transzendentalen Horizont ausmacht: „Welt als Ganzheit ‚ist‘ kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann“ (GA 9, 155). Die Beschreibung der Welt als eines transzendentalen Horizontes des Seienden zielt auf eine Entsubjektivierung der Transzendentalität.Was die Bedeutsamkeit der Dinge gründet, ist der Welthorizont selbst. Das menschliche Dasein ist nur der Ort dieses Sinngeschehens. Und die Tatsache, dass das Dasein in der Welt ist, besagt, dass das Subjekt selbst von der Welt umfasst ist. Der übergreifende Sinnhorizont der Welt erhält in Vom Wesen des Grundes eine weitere Konnotation, die sich durch die Thematisierung des kantischen Weltbegriffes ergibt. Was Kant unter „Welt“ versteht, erweist die bereits angedeutete Paradoxie: Die Welt ist transzendental und transzendent zugleich. Sie ist eine Totalitätsvorstellung, die aber in der Form einer einzigen Vorstellung nicht
Vgl. GA 9, 139: „Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein.“
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
gegeben werden kann. Die Welt als Transzendentalität der Bedeutsamkeit ist nicht anschaubar und transzendiert deshalb die Grenze der Erkennbarkeit. Diese Totalität – als vorausgesetzte Einheit aller Erscheinungen – geht über den Bereich möglicher Erscheinungen hinaus. Kant nennt diese Art von Totalitätsvorstellungen „Ideen“. Sie sind durch die Natur der Vernunft gegeben, ihnen kommt aber keine mögliche Erkenntnis im Rahmen der Erfahrungswelt zu. Alle Ideen – wie zum Beispiel die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Gottheit – sind für Kant Weltbegriffe (KdrV, B434). Heidegger fasst diesen Gedanken folgendermaßen zusammen: Der Weltbegriff ist demnach diejenige Idee, in der die absolute Totalität der in endlicher Erkenntnis zugänglichen Objekte a priori vorgestellt wird. Welt besagt demnach soviel wie ‚Inbegriff aller Erscheinungen‘ (B 391) (GA 9, 150).
Die Welt ist der Inbegriff des Seienden im Ganzen und macht als solche den Horizont der Verständlichkeit des Seienden aus. Die Welt stößt aber auf die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis, insofern sie selbst nicht begriffen werden kann. Die Welt ist Ausdruck einer unbedingten Totalität, welche die menschliche Erfahrung von weltlichen Dingen annehmen muss. In Heideggers Termini verweist diese Totalität auf den übergreifenden Horizont der Bedeutsamkeit: Das Verstehen von Sein ist die unbedingte Bedingung der Erschließung von Seiendem. Dieser Horizont – die Totalität des Seienden oder das Verstehen von Sein – ist aber selbst unbestimmtbar und unabschließbar. In diesem Sinne ist „der Wesenscharakter des Weltbegriffes“ die Endlichkeit (GA 9, 152). In der Tatsache, dass das, was die Erfahrung von Welt bedingt, selbst nicht erfahren werden kann, obwohl wir es annehmen müssen, besteht die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis. Heidegger zieht keine eindeutige Konsequenz aus seiner Auslegung des kantischen Weltbegriffes. Seine Bezugnahme auf ihn offenbart jedoch, dass der Vorrang der Zuhandenheit in seinem Denken der Weltlichkeit schwindet. Als Welt agiert vielmehr ein übergreifender Sinnhorizont, der obzwar unbedingt, von Endlichkeit gekennzeichnet ist.⁴⁸ Dabei ist nicht nur der Totalitätscharakter des kantischen Weltbegriffs von Belang, sondern auch dessen wesentlicher Zusam-
Von Belang ist in diesem Zusammenhang Heideggers Interpretation der kantischen Einbildungskraft zwei Jahre nach Sein und Zeit: Inwiefern agiert die Einbildungskraft als nichtbegriffliche Konstitution von Bedeutungen? Vgl. dazu Sallis 1990.
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menhang mit den regulativen Ideen: Die menschliche Welt ist eine solche, die von den Ideen des Guten und des Gerechten durchdrungen ist.⁴⁹ Die ethische Färbung der Weltbedeutsamkeit, die in Sein und Zeit einerseits dem Bereich des Existenziellen überlassen wird und andererseits als existenzialer Modus der Eigentlichkeit artikuliert wird, wird in Vom Wesen des Grundes auch durch die Bezugnahme auf Platons Idee des Guten in der Politeia angedeutet (Politeia, 509b). Die durch den Ausdruck ἐπέκεινα τῆς οὐσίας bezeichnete Transzendenz des Guten bestimmt laut Heidegger eine „Urgeschichte“ des philosophischen Denkens (GA 9, 159). Es ist nicht von ungefähr, dass Heidegger in diesem Text Kants Vernunftideen und Platons Idee des Guten, die Heidegger als das Worumwillen der Bedeutsamkeit beschreibt, in einen Zusammenhang bringt und zwar als Bestimmung der Transzendenz der Welt. Τό ἀγαθόν bleibt aber „inhaltlich unbestimmt“, selbst wenn es den primären Charakter der Welt darstellt, und zwar „die Möglichkeit von Wahrheit, Verstehen und Sein“ (GA 9, 160). Das Gute bleibt unbestimmt, weil „Definitionen und Deutungen in dieser Hinsicht scheitern müssen“ (GA 9, 160). Nicht nur „rationalistische Erklärungen“ müssen dahingehend verfehlen, sondern auch „die ‚irrationalistische‘ Flucht zum ‚Geheimnis‘“ (GA 9, 160). Trotz der Unbestimmtheit des Guten, die Heidegger hier verficht, ist τό ἀγαθόν der einheitliche Grund „der Möglichkeit der Wahrheit des Verstehens von Sein“ (GA 9, 160) – d. h. das, im Hinblick worauf und um dessen willen das Sein jeweils verstanden ist und somit das Seiende jeweils Sinn hat. Heideggers Auffassung der Weltbedeutsamkeit ist durch zwei Spannungen geprägt. Die erste liegt in Heideggers Annäherung an und in seinem gleichzeitigen Vorbehalt gegen die Frage nach dem Guten. Der entlang seines Werkes festgebliebene Verzicht auf das überlieferte begriffliche Organon, mit dem die Philosophie auf diese Fragestellung eingegangen ist, bzw. die praktische Vernunft, lässt im Hinterzimmer des heideggerschen Denkens freien Raum für ein willkürliches Ethos, das kaum und selten aufgeklärt wird und vielmehr dadurch einen Gehalt hat, dass es auf einen solchen verzichtet.⁵⁰ Die zweite Spannung betrifft die Artikulierbarkeit des Welthorizontes. Die schwerwiegende Problematik in der Herangehensweise an das Weltphänomen ist der zwiespältige Stellenwert des philosophischen Diskurses selbst. Die Welt ist als transzendentaler Sinnhorizont insofern wirksam, als sie nicht als solche begriffen werden kann. Mit der Welt ist eine konstitutive Verbergung der Welterschlossenheit verbunden – diesen Sachverhalt artikuliert Heideggers bereits in seiner Analyse der Weltlichkeit in Sein und Zeit. Sacha Golob (2014) ergänzt dieses Bild durch eine Betrachtung der Grundbegriffe der Metaphysik (GA 29/30) und durch eine Betonung der Nähe Heideggers zu Kant, und versucht infolgedessen, eine heideggersche Konzeption der Normativität zu entfalten. Zur Kritik am Motiv der Eigentlichkeit vgl. Adorno 2003c.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
C Die Latenz der Bedeutsamkeit Der Ausgangspunkt von Sein und Zeit ist die Annahme, dass die Frage nach dem Sein „in Vergessenheit gekommen“ sei (SZ, 2). Das, „was als Verborgenes das antike Philosophieren in die Unruhe trieb“, ist zur Selbstverständlichkeit geworden und dadurch als solches – als Verborgenes – vergessen worden (SZ, 2).Wie im vorigen Abschnitt II.2 aufgezeigt wurde, ist das Phänomen selbst auf eine verborgene Weise manifest. Die Phänomenologie soll es zum Erscheinen bringen, weil es zunächst – in der familiären Art seiner Präsenz – nicht erscheint. In dem vorliegenden Abschnitt soll nun die Verbindung zwischen dem Weltphänomen und der Verbergung problematisiert werden: Inwiefern ist bereits im hermeneutischen Als der welthaften Dinge eine Verbergungsart angelegt? Wenn Heidegger von der Verbergung des Phänomens spricht, dann ist darunter keine vollständige Vergessenheit oder Verhüllung zu verstehen. Der Sinn von Sein ist „kein völlig Unbekanntes, wenngleich zunächst ganz und gar Unfaßliches“ (SZ, 6). Das Sein ist im durchschnittlichen Seinsverständnis manifest, obwohl es darin auf eine mannigfaltige Weise verdunkelt ist (SZ, 6). Auch die Theorien und Meinungen, die unser Verständnis von Sein bestimmen, bleiben „als Quellen des herrschenden Verständnisses verborgen“ (SZ, 6). Und selbst die „elementare Geschichtlichkeit des Daseins kann diesem verborgen bleiben“ (SZ, 20). Dies gilt auch für das Weltphänomen: Obwohl es nicht als solches erfahren und erkannt wird, ist es in der unmittelbaren Begegnung des Seienden wirksam. Die Aufgabe der Phänomenologie scheint auf den ersten Blick in der Beseitigung der Verdeckungen und in der Enthüllung des latenten Seinsverständnisses zu bestehen. Denn die Beseitigung soll nicht nur das Falsche tilgen, sondern auch das darin enthaltene Wahre enthüllen: „Der phänomenologische Aufweis des Inder-Welt-seins hat den Charakter der Zurückweisung von Verstellungen und Verdeckungen, weil dieses Phänomen immer schon in jedem Dasein in gewisser Weise ‚gesehen‘ wird“ (SZ, 58). Wenn das Weltphänomen dem Dasein „immer schon irgendwie bekannt“ ist (SZ, 58), dann soll sich dieses latente, unthematische Erkennen „gerade sich selbst – als Welterkennen zur exemplarischen Beziehung der ‚Seele‘ zur Welt“ nehmen (SZ, 59). Heidegger beschreibt dieses Immer-schon-bekannt-sein der Welt bzw. das implizite Erkennen von Welt (νοεῖν) als den primären Modus des In-der-Welt-seins. Dieses Erkennen wird aber, insofern implizit, nicht „als solches begriffen“ (SZ, 59). Die Latenz dieses durchschnittlichen Welterkennens bzw. die Verbergung des Weltphänomens ist aber kein Zufall, sondern gründet in der Seinsverfassung des Daseins selbst. Das Seinsverständnis ist nicht allein deswegen verdunkelt, weil sich das Dasein in seiner Alltäglichkeit verliert – auch nicht bloß deswegen, weil es das kartesische Paradigma der Vorhandenheit ererbt hat. Heideggers Be-
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schreibung der Weltlichkeit bezeugt vielmehr, dass die Verbergung der Weltbedeutsamkeit im konkreten Vollzug des In-der-Welt-seins liegt. Das unmittelbare Welterkennen besteht zunächst im alltäglichen und praktischen Verständnis der zuhandenen Dinge. Heidegger wertet diese latente Erkenntnisart der Welt gegenüber einer erkenntnistheoretischen Einstellung auf, weil das Seiende uns primär im „umweltlichen Besorgen“ begegnet: Dieses Seiende ist dabei nicht Gegenstand eines theoretischen ‚Welt‘-Erkennens, es ist das Gebrauchte, Hergestellte und dgl. Als so begegnendes Seiendes kommt es vorthematisch in den Blick eines ‚Erkennens‘, das als phänomenologisches primär auf das Sein sieht und aus dieser Thematisierung des Seins her das jeweilig Seiende mitthematisiert (SZ, 67).
Das dem Hantieren spezifische Verstehen von Welt hat einen Vorrang aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zum Vollzugssinn des zuhandenen Seienden. Was ein Tisch ist, weiß der Tischler am besten. Das hantierende Besorgen hat „seine eigene ‚Erkenntnis‘“, die vom exakten Wissen um die Beschaffenheit des Gegenstandes zu unterscheiden ist (SZ, 67). Trotz dieser Vorrangstellung der praktischen Erkenntnis des Gebrauchten und des Hergestellten kündigt Heidegger bereits am Anfang seiner Analyse der Umweltlichkeit an: „Aber das im Besorgen begegnende Seiende ist in diesem Sein auch vorontologisch verborgen“ (SZ, 68). „Vorontologisch“ verweist dabei auf die unthematische Art und Weise, in der die Dinge alltäglich implizit verstanden, d. h. hier: gebraucht und hergestellt werden. Das praktische Tun enthält ein eigenes Verständnis, das sich in einer ursprünglichen „Nähe“ zum Sein des gebrauchten Seienden befindet: „Je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug“ (SZ, 69). Der praktische und originäre Umgang mit den Dingen ist somit ein Modus des Verstehens.⁵¹ Das Hantieren enthält ein Seinsverständnis, das „in jedem Umgang mit Seiendem ‚lebendig‘ ist“ (SZ, 67). Dennoch ist dieses Verstehen erst insofern wirksam und lebendig, als es zugleich verborgen ist. Denn dem Hantieren – dem primären Modus des Welterkennens – bleibt die eigentümliche Sicht auf das Seiende im Sinnvollzug verborgen. Dies ist zunächst deswegen der Fall, weil das Hantieren kein thematisches Wissen um den Zeugcharakter des Zeuges hat. Es weiß, ohne thematisch zu wissen, es versteht, ohne ausdrücklich zu verstehen:
Robert Brandom (2005) hat diesen Modus des Verstehens „non-subjective epistemic activity“ genannt. Diese besteht in einer praktischen Zueignung von Dingen, wodurch etwas als etwas entdeckt wird.
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Der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang, darin es sich einzig genuin in seinem Sein zeigen kann, z. B. das Hämmern mit dem Hammer, erfaßt weder dieses Seiende thematisch als vorkommendes Ding, noch weiß etwa gar das Gebrauchen um die Zeugstruktur als solche. Das Hämmern hat nicht lediglich noch ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist (SZ, 69).
Die Einsicht darin, was ein Zeug ist, bleibt verschwiegen, solange das Dasein im Modus des Hantierens und des Besorgens ist. Der unthematische und unreflektierte Charakter der praktischen Einsicht ist aber kein nebensächlicher und zusätzlicher Aspekt des Hantierens, sondern gerade Bedingung der Praxis: „Das Eigentümliche des zunächst Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleichsam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein“ (SZ, 69). Ein Zeug vollzieht seinen Sinn als Zeug, wenn es als solches nicht betrachtet wird. Der Gebrauch des Zeuges wird von einer derartigen Selbstverständlichkeit geprägt, dass das Zeug nicht als Zeug erfahren wird. Der Gebrauch des Zeuges als eines solchen wird nicht vom Erkennen des Zeuges als eines solchen begleitet, obwohl der Gebrauch selbst die Bekanntschaft des Zeuges voraussetzt. Das Zeug kommt erst dann zum Tragen, wenn das Als, das ihm zu Grunde liegt und seine Zuhandenheit bestimmt, nicht explizit ist. Wenn dem so ist, dann ist es nicht nur der erkenntnistheoretische Blick, der des Verstehens von Zuhandenheit entbehrt, sondern auch das konkrete Gebrauchen des Zuhandenen ermangelt des thematischen Verstehens der Zuhandenheit. Diese Privation ist aber im phänomenalen Sinne positiv: Die Verbergung des Zeugseins lässt das Zeug zuhanden sein. Die Unauffälligkeit dessen, was das Zuhandene als solches ist, lässt das Zuhandene das sein, was es ist. Die Bedingung des Umgangs mit umweltlichen Dingen liegt in der unthematischen Implizitheit all dessen, was das Umweltliche ermöglicht und konstituiert.Was etwa den Krug als Krug ausmacht, muss im Gebrauch desselben verschwiegen werden. Ein thematischer Umgang mit dem Zeug würde das Hantieren verhindern. Das Thematisieren könnte entweder eine erkenntnistheoretische Stellung einnehmen, die das Zeug als Vorhandenes betrachtet und dessen wahrnehmbare Eigenschaften gliedert, oder eine phänomenologische Beschreibung bedeuten, die den Horizont der Weltlichkeit sichtbar macht, der das Zeug als solches in einer Ganzheit von Bedeutungszusammenhängen erschließt. Die Unauffälligkeit, die der praktischen Erkenntnis eigentümlich ist, wird aber nicht von der theoretischen Einstellung oder von der phänomenologischen Beschreibung her bestimmt, sondern in der Vertrautheit mit der Welt wird ein anderes, dieser spezifisches Verständnis verborgen. Mit anderen Worten: Was im hantierenden Umgang mit den Dingen verborgen wird, ist nicht das, was in einer anderen theoretischen oder phäno-
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menologischen Einstellung erst erschlossen werden könnte, sondern gerade das in der Praxis implizite Weltverständnis. Damit im alltäglichen Besorgen der ‚Umwelt‘ das zuhandene Zeug in seinem ‚An-sich-sein‘ soll begegnen können, müssen die Verweisungen und Verweisungsganzheiten, darinnen die Umsicht ‚aufgeht‘, für diese sowohl wie erst recht für ein unumsichtiges, ‚thematisches‘ Erfassen unthematisch bleiben. Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner Unauffälligkeit. Und darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins dieses Seienden (SZ, 75).
Das An-sich des Zeuges ist die Zuhandenheit. Es ist für das Zuhandene als solches wesentlich, dass seine Bedeutsamkeit verborgen bleibt. Wenn das Zuhandene für das Weltbedeutsame repräsentativ ist und wenn die Unauffälligkeit der Zuhandenheit eine Bedingung des Zuhandenen ist, dann erscheint das Sich-nichtMelden der Welt als Bedingung des Weltbedeutsamen. Das welthafte Ding ist insofern bedeutsam, als seine Welthaftigkeit nicht auffällt. Mit anderen Worten: Die Weltbedeutsamkeit kommt dadurch zum Tragen, dass sie als solche verborgen bleibt. In der Welt zu sein und welthafte Dinge zu erfahren, involviert, die Welt nicht als solche zu erfahren. Und das, was das Verstehen des Umweltlichen bestimmt, entzieht sich dem Verstehen gerade im Erschließen des Umweltlichen. Heideggers Analyse der Weltlichkeit soll die Frage beantworten, „warum das Dasein in der Seinsart des Welterkennens ontisch und ontologisch das Phänomen der Weltlichkeit überspringt“ (SZ, 65– 66). Die Phänomenologie stellt sich aus dieser Perspektive aber nicht nur die Aufgabe, die Arten der Verbergung zu beschreiben, sondern auch, das verborgene Seinsverständnis aufzuhellen. Was aber die Phänomenologie aufweisen soll, muss in der Erfahrung phänomenal ausgewiesen werden. So meldet sich das Phänomen der Welt laut Heidegger in der Störung eines Verweisungszusammenhanges – in der Erfahrung der Beschädigung oder des Zerbrechens eines Zeuges. Wenn das, was gewöhnlich zuhanden ist, sich dem Handeln entzieht, dann wird seine sonst unauffällige Zuhandenheit erfahren: „In solchem Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf“ (SZ, 73). Der Zuhandenheit des Zeuges, die üblicherweise verborgen ist, begegnet man erst dann, wenn der Vollzug der Bedeutsamkeit untersagt wird – wenn das Zeug seiner Zuhandenheit verlustig geht. Die Privation der Zuhandenheit ist somit unter phänomenologischem Gesichtspunkt kein Mangel, sondern sie lässt die latente Bedeutsamkeit zum Vorschein kommen. Dies bedeutet, dass die Welt sich gerade dort meldet, wo eine „Entweltlichung des Zuhandenen“ stattfindet (SZ, 75). Die Entweltlichung erweist sich demnach als Bedingung für die Offenbarung der Welt. Dies bringt aber von Neuem die Problematik des phänomenologischen Verstehens ins Blickfeld: Führt die Störung eines Verweisungszusammenhangs nicht zur theoretischen Einstellung, bzw. zur Betrachtung des Zeuges als eines vor-
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handenen Dinges? Wenn der phänomenologische Blick die Welt erst dann als solche erfahren kann, wenn sie entweltlicht wird, wie ist dann diese hermeneutische Situation von der theoretischen Einstellung zu differenzieren? Nicht nur dem praktischen Verstehen ist eine Verbergungsart inhärent, sondern auch der theoretischen Einstellung ist eine Verstellung zugehörig. Das phänomenologische Verstehen scheint dennoch zu beanspruchen, sowohl über die Verbergung der praktischen Sicht als auch über die Verstellung der theoretischen Einstellung hinausgehen zu können. Inwiefern ist aber das phänomenologische Verstehen von der Verbergung losgelöst? Ist nicht jedes Verstehen als solches erschließend und verbergend zugleich?
4 Verstehen, Sinn, Urteil A Verständlichkeit und Begrifflichkeit Das Verstehen wird in Sein und Zeit als „Grundmodus des Seins des Daseins“ beschrieben (SZ, 143). Bereits in der Analyse der Zuhandenheit heißt es: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. Damit ist der formale Begriff von Existenz angezeigt“ (SZ, 53). Existieren bedeutet bei Heidegger verstehendes Verhalten. Die Erschlossenheit der Weltbedeutsamkeit nennt er auch „Verstehen“ und das Da des Daseins ist „wesenhaft Verstehen“ (SZ, 143). Das Verstehen durchdringt „die ganze Grundverfassung des In-der-WeltSeins“ (SZ, 144). Nicht nur das jeweilige Seiende, sondern auch das Sein selbst wird erst und allein im Verstehen erschlossen.⁵² Heidegger unterstreicht dementsprechend die „Abhängigkeit des Seins, nicht des Seienden, von Seinsverständnis“ (SZ, 212). Insofern das Sein nur im Verstehen erschlossen wird, scheint Sein und Zeit einen idealistischen Standpunkt zu vertreten.⁵³ Selbst wenn diese
Bereits am Anfang des Werkes wird das Sein bezeichnet als „das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist“ (SZ, 6). Das Sein wird selbst vom Verstehen bedingt: „Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ‚gibt es‘ Sein“ (SZ, 212). Infolgedessen muss es auch heißen: „nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich“ (SZ, 212). Für eine idealistische Lesart, welche die sprachliche Konstitution von Bedeutsamkeit betont und das Verhältnis von Verstehen und Sein im Sinne des Prinzips „meaning determines reference“ interpretiert, vgl. Lafont 1994. Eine Kritik an der idealistischen Lesart von Sein und Zeit liefert Taylor Carman, der sie als ein „Procrustean bed of Fregean semantics“ beschreibt (Carman 2013, 87). Carman versucht im Gegenzug, zwischen Ontologie und Semantik zu unterscheiden: Es gebe einen ontologischen Horizont der Verständlichkeit, der wiederum vom ontisch-geschichtlichen Horizont des Verstehens zu differenzieren sei. Dadurch restringiert Carman das Sein auf
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Einordnung eine Berechtigung hat,⁵⁴ erklärt sie dennoch die folgende Frage nicht: Welcher Art ist dieses Verstehen, das das Sein erst erschließt? Heidegger scheint den Verstehensbegriff inflationär zu verwenden. All das, was ist, gibt es, weil es als etwas verstanden wird.Was somit den Grundmodus des Verstehens vorerst spezifiziert, ist die Als-Struktur. Das „als“ ist die „apriorische existenziale Verfassung des Verstehens“ (SZ, 149). Verstehen ist kein reines Aufnehmen, sondern jedes Wahrnehmen ist immer schon vom Als durchdrungen.Wir hören nicht reine Geräusche, sondern den Straßenlärm, die Tastaturanschläge oder den tropfenden Wasserhahn. In der gewöhnlichen Wahrnehmung begegnet uns etwas als etwas. Hingegen ist ein „als-freies Erfassen“ lediglich eine künstliche Umstellung unserer Erfahrung, so Heidegger (SZ, 149). Heidegger unterscheidet aber zwischen dem ausdrücklichen „als“ des Urteils und dem latenten Als des praktischen Verstehens und ist der Ansicht, dass das ursprünglich erschließende Verstehen nicht die Verfassung des Urteils hat.⁵⁵ Diese Annahme, die dem hermeneutischen Als einen konstitutiven Vorrang vor dem apophantischen Als zuschreibt, erhellt aber keineswegs die Erschließungsfunktion des hermeneutischen Als. Heideggers Beschreibung des Verstehens lässt diese Frage immer wieder offen. An einer zusammenfassenden Stelle heißt es: Mit dem Terminus Verstehen meinen wir ein fundamentales Existenzial; weder eine bestimmte Art von Erkennen, unterschieden etwa von Erklären und Begreifen, noch überhaupt ein Erkennen im Sinne des thematischen Erfassens.Wohl aber konstituiert das Verstehen das Sein des Da dergestalt, daß ein Dasein auf dem Grunde des Verstehens die verschiedenen Möglichkeiten der Sicht, des Sichumsehens, des Nurhinsehens, existierend ausbilden kann.
Gegebenheit: Das Sein erscheint als ein reines „es gibt“ gegenüber den Erscheinungen, die hermeneutisch vermittelt sind. Peter Gordon (2013) argumentiert indessen, dass Heidegger einen Idealismus des Geistes kritisiert, um diesen mit einem Idealismus der Praxis zu ersetzen. Heidegger kritisiere demzufolge die Annahme des Neukantianismus, dass jede Bedeutung den Charakter eines logisch-begrifflich konstituierten Zeichens hat und dass Bedeutungen von Gedanken abhängig sind bzw. in einem System von logischen Bezügen gründen. Für Heidegger sei die Bedeutsamkeit der Dinge dagegen durch die menschliche Praxis erschlossen, obwohl die Dinge in ihrer bloßen Vorhandenheit nicht von dieser Erschließung abhängig sind. Heidegger selbst sieht seinen Standpunkt einer idealistischen Position näher als einer realistischen: Sein wird nur im Verstehen erschlossen. Ein derartiger Idealismus lehnt aber keineswegs die Realität des Vorhandenen ab: „Gegenüber dem Realismus hat der Idealismus, mag er im Resultat noch so entgegengesetzt und unhaltbar sein, einen grundsätzlichen Vorrang, falls er nicht als ‚psychologischer‘ Idealismus sich selbst mißversteht“ (SZ, 207). Greg Shirley (2010) argumentiert für den Bruch Heideggers mit dem Paradigma, dem zufolge die Verständlichkeit der Welt im diskursiven Denken gründe, und führt die Bedeutsamkeit auf eine fundamentale, vordiskursive Einheit zurück. Shirley spricht von einem Logos, der der Normativität der Logik nicht unterstellt sei, sondern in der Vertrautheit mit der Welt implizit sei.
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Alles Erklären wurzelt als verstehendes Entdecken des Unverständlichen im primären Verstehen des Daseins (SZ, 336).
Das Verstehen ist kein thematisches Begreifen, aber auch keine diesem entgegengesetzte, eigenartige Erkenntnisweise. Aufgrund dieser Ambiguität des heideggerschen Verstehensbegriffs haben sich zwei maßgebliche Lesarten in der Heidegger-Forschung entwickelt, deren Streitpunkt hauptsächlich das Verhältnis zwischen Verstehen und Auslegung betrifft. Auf der einen Seite behauptet die pragmatische Lesart den Vorrang eines in der Praxis entsprungenen Verstehens.⁵⁶ Die tätige Aneignung von praktischen Kenntnissen – die Geschicklichkeit – erschließe die Dinge primär in ihrer Zuhandenheit. Das Verstehen bedürfe nicht nur keiner Auslegung, sondern enthalte in sich auch keine Als-Struktur im strengen Sinne. Die pragmatische Lesart hebt somit das Primat eines praktischen Wissens hervor, das jeder hermeneutischen Dimension vorausgeht: Die aristotelische φρόνησις, die Heidegger als Umsicht interpretiert, geht der θεωρία, die Heidegger auch Hinsicht nennt, voraus.⁵⁷ Auf der anderen Seite betont die hermeneutische Lesart die Durchgängigkeit der Auslegung in jedem verstehend-erschließenden Weltbezug.⁵⁸ Demnach beruht auch das praktisch-ursprüngliche Verstehen auf der Als-Struktur. Selbst wenn die praktische Konstitution des Sinns das „als“ des Urteils nicht involviert, gibt es kein Verstehen und keine daseinsmäßige Tätigkeit außerhalb des hermeneutisch verfassten Raumes, innerhalb dessen das Verhältnis zwischen dem praktischen, impliziten Als und dem theoretischen, expliziten „als“ den Charakter eines Zirkels hat. Dies bedeutet, dass jedes Verstehen, selbst wenn noch nicht explizit, die Als-Struktur der Auslegung immer schon voraussetzt.⁵⁹
Die pragmatische Lesart wurde maßgeblich von Hubert Dreyfus geprägt. Es gibt laut Dreyfus „a more basic form of intentionality than that of a self-sufficient individual subject directed at the world by means of its mental content. At the foundation of Heidegger’s new approach is a phenomenology of ‚mindless‘ everyday coping skills as the basis of all intelligibility“ (Dreyfus 1991, 3). Vgl. Blattner 2006; Hall 1993; Haugeland 2013; Volpi 1988; Wrathall 2013. Vgl. Grondin 2001; Hoy 1993. Barbara Merker (2009) fasst diese Kontroverse zusammen. Die Frage ist, „ob für Heidegger die Klassifikationen des praktischen Verstehens, Auslegens und Redens bereits implizit begrifflichsprachliche Klassifikationen sind“ und „ob es für das Dasein im Sinne Heideggers vorsprachliche, vorbegriffliche Praktiken gibt“ (Merker 2009, 140 – 141). Gegen die pragmatische Lesart argumentiert Merker auf Brandom bezugnehmend, dass es in Heideggers Konzeption keine unbegriffliche und nicht-linguistische Schicht der Intentionalität gibt. Das Dasein ist laut Merker hingegen ein Wesen, das immer schon über das Vermögen der Thematisierung verfügt.
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Bezieht man diese Interpretationsfrage auf das Verhältnis zwischen Verstehen und Auslegung, so handelt es sich im systematischen Rahmen von Sein und Zeit um ein Scheinproblem. Heidegger behauptet ausdrücklich, dass die AlsStruktur des Verstehens und der Auslegung „ein einheitliches Phänomen darstellt“ (SZ, 151). Jedes praktische Verhalten ist von vornherein eine Auslegung eines Dings als eines Zuhandenen: „Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend“ (SZ, 149). Das Verhältnis zwischen dem hermeneutischen Als und dem apophantischen Als entspricht nicht dem Verhältnis zwischen Verstehen und Auslegung, sondern betrifft vielmehr die Unterscheidung zwischen dem Erschlossensein und dem Erkanntsein. Was Heidegger nämlich mit seiner Unterscheidung anvisiert, ist eine wesentliche Modifikation, die mit dem Übergang vom hermeneutischen Als zum apophantischen Als einhergeht. Die eigentliche Problemstellung Heideggers betrifft somit die Transition von einem ursprünglichen Als zum „Als der Vorhandenheitsbestimmung“ (SZ, 158). Um die Problematik dieser Transition zu verschärfen, betont Heidegger den Stellenwert des ursprünglichen Als: „Erschlossen besagt nicht, als solches erkannt“ (SZ, 134). Es gibt aber unterschiedliche Weisen, etwas als solches zu erkennen. Heideggers kritische Schilderung des apophantischen Als steht im Kontrast zur Möglichkeit einer thematischen Auslegung, die das ursprüngliche Als nicht auf vorhandene Eigenschaften reduziert, sondern „die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen“ kann (SZ, 150). Diese Auslegungsart unterscheidet sich von jenen thematischen Auffassungen, die das Seiende „in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt“ (SZ, 150). Die Tragweite des heideggerschen Projektes betrifft demnach nicht so sehr die Aufwertung eines irreduziblen praktischen Wissens und die Vorrangstellung der φρόνησις über die θεωρία, sondern vielmehr die Möglichkeit, das ursprüngliche Als sachlich angemessen zu entschlüsseln. Inwiefern kann dem ursprünglichen Als eine eigentümliche Begrifflichkeit entsprechen, wenn es gerade Begriffe sind, die das zu Verstehende in das Kategoriale zwingen? Das Projekt von Sein und Zeit soll einerseits „das Sein des innerhalb der Welt vorhandenen Seienden aufweisen und begrifflich-kategorial fixieren“ (SZ, 63). Andererseits kritisiert Heidegger die Überlieferung der antiken Ontologie, wonach der λόγος „als einziger Leitfaden für den Zugang zum eigentlichen Seienden und für die Bestimmung des Seins dieses Seienden fungiert“ (SZ, 154). Die Tatsache, dass in der abendländischen Philosophie die Aussage als primärer Ort der Wahrheit gilt, ist mit dem Seinsproblem „so eng verkoppelt, daß die vorliegende Untersuchung in ihrem weiten Gang notwendig auf das Wahrheitsproblem stößt“ (SZ, 154).
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Die Beziehung zwischen dem konkreten Umgang mit dem Seienden und dem begrifflichen λόγος korrespondiert mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Sinn des Seienden und seiner Artikulation. Diese Spannung würde dennoch bagatellisiert, wenn man sie nur als Hindernis verstünde, dass die Bedeutsamkeit des Seienden in der Aussage und der Vollzugssinn im Begriff nicht aufzugehen vermag. Dagegen schreibt Heidegger: „In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst“ (SZ, 148). Das Verstehen kommt zu sich selbst, wenn es auslegend artikuliert wird. Die eigentliche Problematik der Sinnartikulation betrifft somit nicht ein Unvermögen der Auslegung, sondern einen inhärenten Zwiespalt sowohl im thematischen als auch im unthematischen Verstehen. Für diese inhärente Spannung steht zunächst die Tatsache, dass es keine Sequentialität von Verstehen und Auslegung gibt. Im Gegenteil: „Verständlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Auslegung immer schon gegliedert. Rede ist Artikulation der Verständlichkeit. Sie liegt daher der Auslegung und Aussage schon zugrunde“ (SZ, 161). Das Verstehen ist immer schon in sich artikuliert, selbst wenn es nicht thematisch entfaltet wird. Das stillschweigende Als des unartikulierten Verstehens gibt es nur unter Voraussetzung seiner Artikulierbarkeit – unter Voraussetzung unserer Vertrautheit mit der Artikulation von Sinn. Wenn dem so ist, dann ist die Verbergung des ursprünglichen Als nicht allein dem Urteil und dem apophantischen Als zuzuschreiben, sondern sie liegt vielmehr an einer Paradoxie im Verstehen selbst. Diese Paradoxie bezieht sich auf den Sachverhalt, wie im Folgenden argumentiert wird, dass Sinn von einer inhärenten Artikulation ermöglicht und dennoch in der Artikulation verborgen wird. In den folgenden Abschnitten wird erstens Heideggers Kritik an der theoretischen Einstellung dargestellt. Zweitens wird auf die Frage nach der ursprünglichen Erschließung von Sinn eingegangen. Drittens wird die Funktion der Befindlichkeit in der Konstitution der Welterschlossenheit untersucht, um zu prüfen, ob es bei Heidegger eine Art von Verstehen gibt, das in sich selbst nicht artikuliert ist. Schließlich wird Heideggers Auffassung der Wahrheit im Hinblick auf eine mögliche Art der Auslegung und der Rede untersucht, welche – wie im Fall des Schweigens – über „eine eigentliche und reiche Erschlossenheit seiner selbst“ verfügt (SZ, 165). Dieses Problemfeld bringt den Stellenwert des Verstehens als Entwurf von Möglichkeiten und damit die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zur Sprache. Das eigentliche Verstehen des Daseins erschließt nicht Möglichkeiten, die sein oder auch nicht sein könnten, sondern den ganzen Horizont der Bedeutsamkeit als reines Seinkönnen: Für dieses Verstehen des Daseins verwendet Heidegger in Sein und Zeit den Ausdruck „Wahrheit“.
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B Urteil und Erkenntnis Die theoretische Einstellung kennzeichnet bei Heidegger die Zurückführung dessen, was als Sinnzusammenhang in der Welt erfahren wird, auf ein System von kategorialen Relationen und vorhandenen Eigenschaften: „Theoretisches Hinsehen hat immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet“ (SZ, 138). Involviert die Vorhandenheitsontologie eine „Entweltlichung der Welt“ (SZ, 65), so gründet diese Entweltlichung einerseits in bestimmten weltlichen Verhaltensweisen, andererseits in der überlieferten abendländischen Ontologie, die in der modernen Erkenntnistheorie gipfelt. Der Impetus für Heideggers Kritik an der theoretischen Einstellung stammt aus seiner Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus und auch mit Husserl (vgl. Gethmann 1993; Gordon 2013). Dies ist deswegen von Belang, weil der Terminus „Vorhandenheit“ nicht nur auf die äußerliche Gegenständlichkeit verweist, sondern auch auf die kantisch inspirierte Transzendentalphilosophie anspielt. Der neukantianischen Tradition wirft Heidegger bereits in seinen ersten Vorlesungen vor, dass sie das Phänomen des Sinns in eine dürftige Kategorientafel hineinzwänge und dadurch als zeiträumliche Gegenständlichkeit übersetze (Vgl. Kap. I.1.A: „Die Auseinandersetzung um den λόγος. Eine Genealogie“). Heideggers Kritik der Erkenntnistheorie hat zwei unterschiedliche Aspekte: (1) Einerseits beschreibt er die theoretische Einstellung als ein weltliches Verhalten im Gegensatz zu einer distanzierten Haltung der Welt; (2) Andererseits betrachtet Heidegger die Funktion des Urteils als Modifikation des impliziten, originären Verständnisses des Seienden. (1) Heidegger behandelt bereits am Anfang des Kapitels zur Weltlichkeit der Welt das Problem des Welterkennens (§13). Laut Heidegger zeichnet sich die Erkenntnistheorie einerseits durch ein Weltbild aus, das von den Naturdingen ausgeht sowie diese in ihrer physikalischen Beschaffenheit betrachtet, und andererseits durch die vorausgesetzte Subjekt-Objekt-Spaltung. Der Erkennende wird dabei einer äußerlichen Welt gegenübergestellt, weswegen man in die paradoxe Fragestellung gerät, wie das erkennende Subjekt „aus seiner inneren ‚Sphäre‘ hinaus in eine ‚andere und äußere‘“ gelangen soll (SZ, 60). Trotz aller theoretischen Strategien, diese Schwierigkeit zu lösen, liegt das Hindernis der modernen Erkenntnistheorie aber hauptsächlich daran, dass man im Voraus nicht erklärt, „wie und was dieses Erkennen denn überhaupt sei“ (SZ, 61). Die Trennung zwischen einer äußerlichen und einer innerlichen Sphäre sei von Grund aus verkehrt, weil das Erkennen eigentlich „ein Seinsmodus des Daseins als In-derWelt-sein“ ist und „vorgängig […] in einem Schon-sein-bei-der Welt [gründet]“ (SZ, 61).
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Heidegger ist sich bewusst, dass seine kritische Haltung zur Erkenntnistheorie dem Einwand begegnet, dass er auf eine harmlose Auffassung der Erkenntnis rekurriert, die von vornherein „das Erkenntnisproblem vernichtet“ (SZ, 61). Die Frage nach der Welterkenntnis scheint nämlich aufgelöst zu werden, wenn man sie durch die Feststellung zu beantworten meint, dass wir bereits in und bei der Welt sind.⁶⁰ Wenn die Welt dem Erkennenden nicht gegenübersteht, sondern diesem immer schon vertraut ist, dann scheint sich die Erkenntnis keiner Herausforderung mehr stellen zu müssen. Und die Frage nach der Legitimität der Erkenntnisurteile – wie nämlich das Subjekt seine Subjektivität transzendiert, um das Objekt zu erkennen – wäre dementsprechend von Anfang an aufgelöst, ohne in der Tat gelöst zu werden.⁶¹ Heideggers Anliegen ist aber in der Tat kein epistemologisches. Sein Argument gegen die Subjekt-Objekt-Spaltung beruft sich auf die Quelle, woraus die Grundlage sowohl der empirischen als auch der transzendentalen Erkenntnistheorien entspringt. Um die Welt dem Subjekt gegenüberstehend zu betrachten, bedarf es nämlich einer „Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt“ (SZ, 61). Die Betrachtung des Wahrgenommenen im Hinblick auf seine Beschaffenheit ist ein Modus des In-der-Welt-Seins, nämlich das „Nur-noch-verweilenbei…“ (SZ, 61). Dieses Hinsehen auf das Seiende „in seinem puren Aussehen (εἶδος)“ ist nur dann möglich, wenn das Hantieren, das Handeln und das Besorgen enthalten sind (SZ, 61). Wenn zudem das praktische Besorgen den primären Modus des Umgangs mit der Welt repräsentiert, dann ist die Betrachtung des Seienden (θεωρεῖν) und dessen Bestimmung in Aussagesätzen – bzw. das Vernehmen als „Vollzugsart des Ansprechens und Besprechens von etwas als etwas“ – ein sekundärer, abgeleiteter Modus des In-der-Welt-seins (SZ, 62).
Oder durch die Erinnerung, dass wir bereits in der Wahrheit sind, wie Hegel diesen Gedanken in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes formuliert. Dort thematisiert Hegel das Problem der Erkenntnis von einem ähnlichen Standpunkt aus: Erkenntnis scheint zunächst ein Werkzeug oder ein Mittel zu sein, anhand dessen ein in seiner Internalität verkapseltes Subjekt nach außen heraustreten soll, um die äußerlich vorliegende Wahrheit zu erkennen. Das Subjekt bleibt dabei in der Verlegenheit verfangen, sich über dieses Mittel immer wieder versichern zu müssen und selbst für diese Versicherung das angemessene Werkzeug zu finden. Hegel setzt dieser herkömmlichen Vorstellung die These entgegen, die äußerliche Welt als Maßstab der Wahrheit zu setzen, ist nur die Voraussetzung eines Erkenntnismodus. Bereits dies beweise, dass wir uns schon im Erkennen befinden. Wahrheit ist demnach keine dem Erkennen fremde Wahrheit, sondern ein vom Erkennen vorausgesetzter Maßstab der Erkenntnis. Mit Hegels Worten, das Absolute ist „an und für sich schon bei uns“ (GW 9, 53). Diesen hier von Heidegger selbst formulierten Vorwurf hat Ernst Tugendhat (1967) an ihn gerichtet. Tugendhat hat bekanntermaßen Heidegger die Auflösung des Wahrheitsbegriffes als adaequatio rei et intellectus vorgeworfen. Zur Kritik an Tugendhats Ansatz vgl. Martel 2008.
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Wenn das theoretische Verhalten, das die Übereinstimmung von Vorstellungen mit der Wirklichkeit untersucht, kein Heraustreten aus der Welt, sondern ein Modus ist, in der Welt zu sein, dann muss die innere Sphäre des Subjektes gar nicht verlassen werden, denn das Dasein ist im Vernehmen bereits „als Dasein draußen“ (SZ, 62). Das Erkennen ist, mit Heideggers Worten, kein „commercium des Subjektes mit der Welt, noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt“ (SZ, 62). Ist die Welt bereits erschlossen, so sind wir immer schon im Modus des Erkennens. Das thematische Erkennen ist nichts anderes als ein anderer „Seinsstand zu der im Dasein je schon entdeckten Welt“ (SZ, 62). Heideggers Einwand gegen die Erkenntnistheorie liegt demnach nicht darin, dass die Frage nach der Richtigkeit der Erkenntnisurteile überflüssig ist, sondern bezieht sich auf den methodologischen Ausgangspunkt einer epistemologischen Untersuchung bzw. auf die ontologischen Voraussetzungen des epistemologischen Unterfangens. Die Frage nach der Legitimität einer bestimmten Erkenntnis darf nicht eine Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis von Welt überhaupt sein, d. h. nicht beim abstrakten Standpunkt eines von der Welt losgelösten Subjektes ansetzen, weil dadurch ein Scheinproblem konstruiert wird, das das Erkennen selbst eigentlich hemmt. (2) Heidegger bestimmt das theoretische Verhalten hauptsächlich als Urteilen. Die Reduktion der Weltbedeutsamkeit auf Vorhandenheit hängt deshalb für ihn mit der Struktur des Urteils zusammen. Die im Urteilen ausgebildete Kategorie des Vorhandenen wird auf das Ganze des Seienden übertragen, worin Heidegger den Grundfehler der Erkenntnistheorie identifiziert. Die Weltbedeutsamkeit erscheint in diesem Verständnisparadigma als eine Summe von Vorhandenheitsprädikaten, als ein Netz von Eigenschaften und Funktionen. Heidegger versteht das Urteil primär als Aussage. Die Aussage ist „eine abgeleitete Vollzugsform der Auslegung“ (SZ, 154). Was in der Aussage zum Tragen kommt, ist ein modifiziertes Als des Seienden. Um die Natur des Urteils zu verdeutlichen, muss die Weise geklärt werden, in der „die für das Verstehen und Auslegung konstitutive Struktur des ‚Als‘ modifikabel ist“ (SZ, 154). Die entscheidende Art des Urteils ist die Prädikation. Hierbei unterscheidet Heidegger die Aussage als Aufzeigung (ἀπόφανσις, sehen lassen), die bloß demonstrativ-aufweisend ist, und die Mitteilung, die ein gemeinsames Weitersagen des bereits Aufgezeigten repräsentiert. Die Prädikation sei aber die maßgebliche Aussageform und die Ursache der Reduktion der Bedeutsamkeit auf Vorhandenheit. Heidegger definiert die Prädikation als eingrenzendes Bestimmen und schreibt darüber: Das Bestimmen entdeckt nicht erst, sondern schränkt als Modus der Aufzeigung das Sehen zunächst gerade ein auf das Sichzeigende – Hammer – als solches, um durch die aus-
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
drückliche Einschränkung des Blickes das Offenbare in seiner Bestimmtheit ausdrücklich offenbar zu machen (SZ, 155).
Der Bestimmung von etwas ist die Einschränkung desselben auf eine partikuläre Eigenschaft inhärent. Um eine Eigenschaft festzulegen und hervorzuheben, muss die Aufmerksamkeit den übergreifenden Sinnhorizont aussetzen. Bestimmende Begriffe sind somit auf festlegbare Attribute von vorhandenen Gegenständen beschränkt: „Diese Nivellierung des ursprünglichen ‚Als‘ der umsichtigen Auslegung zum Als der Vorhandenheitsbestimmung ist der Vorzug der Aussage“ (SZ, 158). Durch die Bestimmung übersieht der kategorische Aussagesatz die vorläufige Erschlossenheit der ganzen Weltbedeutsamkeit, die selbst nicht durch Urteilen entsteht: Der ursprüngliche Vollzug der Auslegung liegt nicht in einem theoretischen Aussagesatz, sondern im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeuges, ‚ohne dabei ein Wort zu Verlieren‘. Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden (SZ, 157).
Die ursprüngliche Erschließung von Bedeutsamkeit ist selbst eine Auslegung, obwohl sie kein ausgesprochenes Urteilen ist. So unterscheidet Heidegger, wie bereits erwähnt, das „ursprüngliche Als der umsichtig verstehenden Auslegung (ἑρμηνεία)“ vom apophantischen Als der Aussage (SZ, 158).⁶² Zwischen der im ursprünglichen Als eingehüllten Auslegung und „dem extremen Gegenfall einer theoretischen Aussage“ gibt es Heidegger zufolge Zwischenstufen (SZ, 158), die im Grunde auf verschiedene Arten von λόγος verweisen. Denn nicht jede Rede ist eine reduktive Aussage. Der λόγος, das einheitliche Phänomen des Als, bedeutet, so Heideggers Berufung auf Aristoteles, zugleich Verbinden (σύνθεσις) und Trennen (διαίρεσις). Wenn man von Zwischenstufen spricht, dann kommt es darauf an, wie und was man verbindet und trennt – wie man das „Zusammengenommene zugleich auseinandernimmt“ (SZ, 159):
Aber die Tatsache, dass er die ursprüngliche Konstitution des hermeneutischen Als hier mit dem praktischen Umgang in Zusammenhang bringt, ist, wie bereits erläutert (II.2.B), eine Grenze von Sein und Zeit. Denn sachlich gesprochen kann die Weltbedeutsamkeit nicht in den zuhandenen Dingen aufgehen. Eine solche Annahme würde implizieren, dass der Mensch vorwiegend ein technisches Wesen ist. Das hermeneutische Als geht demnach über die Zuhandenheit, die selbst die Weltbedeutsamkeit auf ein Netz von Funktionen und praktischen Eigenschaften reduzieren würde, hinaus.
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Bleibt das Phänomen des ‚Als‘ verdeckt und vor allem in seinem existenzialen Ursprung aus dem hermeneutischen ‚Als‘ verhüllt, dann zerfällt der phänomenologische Ansatz des Aristoteles zur Analyse des λόγος in eine äußerliche ‚Urteilstheorie‘, wonach Urteilen ein Verbinden bzw. Trennen von Vorstellungen und Begriffen ist (SZ, 159).
Der λόγος ist, wie es in Heideggers späterem Werk heißt, Versammlung von Mannigfaltigem. Das hermeneutische Als hat eine Genesis der Versammlung hinter sich, welche, wenn auseinandergenommen, in ihrer Eigentümlichkeit verloren geht.Wie ist aber im Rahmen von Sein und Zeit die Eigentümlichkeit und die Konstitution des ursprünglich-hermeneutischen Als näher zu verstehen? Schließt der vorprädikative Charakter dieses Als zugleich seine nichtbegriffliche Verfassung, seine Unbegreifbarkeit ein? Und gesetzt, dass dies der Fall wäre: Ist eine vorbegriffliche Auslegung möglich?
C Sinn zwischen Artikulierbarkeit und Artikulation Das hermeneutische Als verweist auf den konstitutiven Horizont der Weltbedeutsamkeit. Dieser lässt sich weder auf eine prädikative und kategoriale Konstitutionsleistung zurückführen noch auf die Zuhandenheit reduzieren. Die Ursprünglichkeit des hermeneutischen Als ist also auch nicht mit der Faktizität des hantierenden Daseins gleichzusetzen, denn die Faktizität selbst bezieht immer schon ein Verständnis des übergreifenden Sinnhorizontes ein, der erst den Umgang mit dem Zuhandenen ermöglicht. Jedes welthafte Ding steht unter der Botmäßigkeit einer anordnenden Weltbedeutsamkeit – eines regulativen Weltbegriffes, um kantisch zu sprechen (vgl. Kap.II.3.B: „Was alles welthaft ist. Das Zuhandene und das Gute“). Das Problem der Weltbedeutsamkeit führt daher zur Frage nach der Konstitution von Sinn. Im §32, der das Verstehen und die Auslegung zum Thema hat, heißt es: „Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält“ (SZ, 151). Verständlichkeit bedeutet hier so viel wie Erschlossenheit. Der Sinn ist der Horizont, in dem die Dinge erschlossen werden – in Heideggers Worten, „das Woraufhin des Entwurfs“, „aus dem her etwas als etwas verständlich wird“ (SZ, 151). Der Sinn ist demnach die ontologisch-apriorische Als-Struktur des Verstehens: „Sofern Verstehen und Auslegung die existenziale Verfassung des Seins des Da ausmachen, muß Sinn als das formal-existenziale Gerüst der dem Verstehen zugehörigen Erschlossenheit begriffen werden“ (SZ, 151). Der Begriff des Sinns scheint aber auf diese Weise – wie der Begriff des Verstehens – inflationär von Heidegger verwendet zu werden. Die Problematik des Sinns konkretisiert sich allerdings in dem Verhältnis zwischen Verstehen und
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Auslegung. Im Anschluss an die zitierte Definition des Sinns behauptet Heidegger: „Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen wir Sinn“ (SZ, 151). An einer anderen Stelle heißt es, dass der Sinn „das in der Auslegung, ursprünglicher mithin schon in der Rede Artikulierbare“ ist (SZ, 161). Im §34, wo das Existenzial der Rede als „Artikulation der Verständlichkeit“ beschrieben wird, schildert Heidegger das Verhältnis zwischen der Artikulation und der Artikulierbarkeit des Verstehens folgendermaßen: „Verständlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Auslegung immer schon gegliedert“ (SZ, 161). Der Sinn ist insofern das im Verstehen Artikulierbare, als er bereits vor der expliziten Auslegung in sich artikuliert ist. Bereits am Anfang vom §33 schreibt Heidegger: „Das in der Auslegung Gegliederte als solches und im Verstehen überhaupt als Gliederbares Vorgezeichnete ist der Sinn“ (SZ, 153). Der Sinn muss als Artikulierbares in sich selbst immer schon gegliedert sein. Diese Gliederung liegt der Artikulierbarkeit des Sinns bereits zugrunde. Damit soll der Sinn die Bindung zwischen der Artikulierbarkeit, die dem Verstehen zugeschrieben wird, und der Artikulation, die mit der Auslegung identifiziert wird, verkörpern. Trotzdem scheint Heidegger nicht der Ansicht zu sein, dass jedem latenten und unthematischen Verstehen eine in sich gegliederte Auslegung inhärent ist. Dazu heißt es: „Auslegung gründet existenzial im Verstehen, und nicht entsteht dieses durch jene“ (SZ, 148). Zudem gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dem „Bedeutungsganzen“ als „das in der redenden Artikulation Gegliederte als solches“ und den „Bedeutungen“, in welchen das Bedeutungsganze aufgelöst wird, wenn es artikuliert bzw. ausgelegt wird (SZ, 161). Dies hängt mit der Unterscheidung zwischen Rede und Auslegung zusammen. Die Rede ist „das existenzial-ontologische Fundament der Sprache“ (SZ, 160), „die Artikulation der Verständlichkeit“ (SZ, 161), und sie liegt „der Auslegung und der Aussage zugrunde“ (SZ, 161). Gegenüber der Artikulation der Auslegung hat somit die Rede einen primären Stellenwert.Wenn „das Bedeutungsganze der Verständlichkeit“ in der Auslegung artikuliert wird, kann es verfehlt werden, gerade weil es dabei vereinzelt zur Sprache kommt. Daher scheinen die Worte, mit denen wir reden, einen anderen Stellenwert zu haben als die Worte, mit denen wir auslegen. Aber trotz dieser Unterscheidung zwischen Rede und Auslegung liegt der Übergang zur Auslegung bzw. das Zu-Wort-Kommen des Sinns bereits in der Rede bzw. in der Natur des Verstehens selbst: Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen. (SZ, 161)
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Der Gedanke, dass Sinn bereits in sich gegliedert bzw. artikuliert ist und der Gedanke, dass die artikulierende Auslegung einen derivativen Charakter hat und auf den artikulierbaren Sinn angewiesen ist, müssen zusammengedacht werden. Heideggers Leitthese kann derart interpretiert werden, dass die Artikulierbarkeit, und nicht die Artikulation, Bedingung der Sinnhaftigkeit ist. Sinn gibt es, weil er, selbst wenn noch nicht artikuliert, artikuliert werden kann – und zwar in einem wesentlichen Sinne. Denn die Artikulierbarkeit beruht auf der Möglichkeit der Artikulation. Unsere Vertrautheit mit dem artikulierten Sinn ermöglicht es uns, Sinn auch dort zu erfahren, wo er nicht artikuliert wird. Diese Interpretation wird in einem Satz bestätigt, der am Anfang vom Paragraphen über Verstehen und Auslegung (§32) steht: Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst (SZ, 148).
Der Sinn kommt als solcher erst zum Tragen, wenn er artikuliert wird. Die Vorstruktur des Verstehens (die Vorhabe, die Vorsicht und der Vorgriff) entfaltet sich in der Als-Struktur der Auslegung und setzt diese voraus. Das Verstehen „birgt in sich die Möglichkeit der Auslegung, das ist der Zueignung des Verstandenen“ (SZ, 160). Die Artikulation eignet sich das Artikulierbare zu, insofern das Verstehen in der Auslegung zu seinem Eigenen kommt. Das Verstehen wird eigentlich, wenn es in der Auslegung angeeignet wird. Das Zu-Wort-Kommen des artikulierbaren Sinns kann jedoch diesen versäumen. Dies geschieht laut Heidegger im Urteilen. Wenn aber das Urteil „ein extremes Derivat der Auslegung“ ist (SZ, 160), gibt es eine andere, eigentliche Art der Auslegung? Kann das ursprünglich-hermeneutische Als derart ausgelegt werden, dass es nicht verstellt und verdeckt wird? Bleibt die Artikulation, die sich dem ursprünglich Verstandenen zueignet, nur eine regulative Möglichkeit, während allein das Schweigen ein echtes Reden repräsentiert? Sein und Zeit zeichnet sich durch das Desiderat aus, eine eigentliche Begrifflichkeit zu entwickeln, die dem hermeneutisch-ursprünglichen Als gerecht wird. Diese Begrifflichkeit soll aus dem Seienden selbst geschöpft werden (SZ, 150). Der Sinn des Seins verlangt „eine eigene Begrifflichkeit […], die sich wieder wesenhaft abhebt gegen die Begriffe, in denen Seiendes seine bedeutungsmäßige Bestimmtheit“ erreicht (SZ, 6).⁶³ Die Exposition des Themenfeldes des Verstehens
In diesem Desiderat wurzelt auch Heideggers Neigung zum sprachlich Ursprünglichen und zum Etymologischen. Vgl. Sallis 1992, 220: „Fundamental meaning, displaced from the metaphysical opposition that has always determined it, is, then, that which is originary about words,
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(§29-§34) endet aber mit der Thematisierung des Schweigens. Bereits früher in Sein und Zeit deutet Heidegger an: „Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden“ (SZ, 157). Daraus ist aber nicht zu schlussfolgern, dass das Schweigen und die Befindlichkeit eine eigentümliche interpretative Fähigkeit darstellen – dass sie eine besondere Auslegungsart verkörpern. Denn nur dort, wo es Worte gibt, kann das Fehlen der Worte etwas bedeuten.⁶⁴ Diesbezüglich behauptet Heidegger: „Nur im echten Reden ist eigentliches Schweigen möglich“ und „um schweigen zu können, muß das Dasein etwas zu sagen haben, das heißt über eine eigentliche und reiche Erschlossenheit seiner selbst verfügen“ (SZ, 165). Das Schweigen ist kein Ort, an dem das Als abwesend ist, sondern eine Art, zu reden, ohne zu sprechen. Das Schweigen kann jedoch, so Heidegger, „eigentlicher ‚zu verstehen geben‘“ (SZ, 164). Bedeutet diese Aussage, dass das Schweigen über ein Verstehen verfügt, das die Auslegung nicht zu artikulieren vermag? Gibt es eine unartikulierte Sinnartikulation? Diese Fragen führen zum Thema der Befindlichkeit, die selbst eine Art der Sinnerschließung zu sein scheint, die der artikulierten Auslegung entgehen würde. Es wird sich aber erweisen, dass der Befindlichkeit „ebenso eine gewisse Auslegbarkeit“ zugrundeliegt (SZ, 160).
D Befindlichkeit zwischen Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit Heidegger beginnt das Kapitel zur Konstellation von Verstehen und Auslegung, Urteil und Rede mit dem Phänomen der Befindlichkeit (§29). Dort scheint er der Befindlichkeit einen Vorrang in der Konstitution von Bedeutsamkeit zuzuschreiben: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffen-
that which, invoked by them, housed in them, lets things originate, come forth into self-showing. The originary in language is nothing other than world, aletheia, the open site of self-showing“. Die Frage, ob es in Heideggers Sicht eine „vorbegriffliche Deutungsleistung“ gibt, stellt auch Christoph Demmerling (2009, 65). Demmerling argumentiert, dass das Aussagen und die explizite Auslegung keine Bedingungen für implizites Verstehen sind. Daraus folgt aber nicht, dass es Verstehen ohne Begriffe gibt. Wir haben die Fähigkeit, Sinnzusammenhänge unbegrifflich zu erfahren, weil wir „die Fähigkeit zum Explizitmachen im Sinne der Artikulation von Propositionen“ haben (Demmerling 2009, 77). Umgekehrt ist die Tatsache, dass Begriffe vom Dasein des Menschen nicht zu trennen sind, kein Grund für die Annahme, „dass alles, was Menschen ausmacht oder bewegt, begrifflich strukturiert ist“ (Demmerling 2009, 76). Nicht alles, was uns als begriffliche Wesen ausmacht, ist begrifflich. Eine gegensätzliche Ansicht ist laut Demmerling ein Fehler, „der entsteht, wenn man die Art und Weise, in der man etwas betrachten kann, auf das Betrachtete überträgt. Was sich artikulieren lässt, was sich in einen Raum von Begriffen stellen lässt, ist darum als solches nicht notwendig begrifflich verfasst“ (Demmerling 2009, 77).
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heit des Daseins“ (SZ, 137). Die Befindlichkeit ist kein bloßes Begleitphänomen des weltbildenden Verstehens, sondern „die Stimmung hat je schon das In-derWelt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf… allererst möglich“ (SZ, 137). Der Ansatz scheint daher einen radikalen Bruch mit der philosophischen Tradition zu implizieren,⁶⁵ insofern die Befindlichkeit ein Ganzes von semantischen Bezügen zu eröffnen und dadurch unsere jeweilige Denkart zu bedingen oder zu bestimmen scheint.⁶⁶ Die Tatsache, dass die Befindlichkeit die Weltoffenheit ermöglicht und bedingt, muss aber nicht besagen, dass sie allein die Weltbedeutsamkeit konstituiert und begründet. Konstitution bedeutet hier Mitkonstitution – ein Terminus, den Heidegger ausdrücklich in diesem Zusammenhang verwendet.⁶⁷ Die Hervorhebung der Befindlichkeit in der Welterschließung zielt somit nicht auf die Zurückführung von Sinnzusammenhängen auf die Willkür des Affektiven. Heideggers Ansatz bezieht sich vielmehr auf die Beteiligung der Befindlichkeit an der Konstitution von Sinn, an welcher das Verstehen und die Auslegung ebenso wesentlich beteiligt sind. Dass die Befindlichkeit die Bedeutsamkeit mitkonstituiert, will zunächst sagen, dass die Bedeutung der Dinge nicht durch ihren Begriff ausgeschöpft wird, sondern auch mit der bestimmten Art und Weise verflochten ist, wie die Dinge uns jeweils bedeuten – woran sie uns erinnern, unter welchen Umständen sie uns begegnen, ob sie uns langweilig erscheinen oder ob sie uns bedrängen (vgl. Ratcliffe 2013). Zudem grenzt Heidegger seine Auffassung der Befindlichkeit von einer traditionell verfassten Affektenlehre ab. Die Stimmungen dürfen nicht als „Affekte und Gefühle“ verstanden werden (SZ, 138). Durch ein solches Verständnis „sinken [die Stimmungen] zu Begleitphänomenen herab“ (SZ, 139). Wenn das Verstehen derart gestimmt ist, dass es nicht lediglich von einer Stimmung begleitet wird, dann besagt Heideggers Ansatz mehr, als dass Gefühle und Affekte unsere Wahrnehmung und Erfahrung affizieren. Wenn die Befindlichkeit aber nicht nur die Färbung einer einzelnen Situation, sondern vielmehr das Ganze des Sinnhorizontes angeht, dann steht sie in einem Spannungsverhältnis mit dem Verstehen. Eine Aussage im §30 akzentuiert diese
Vgl. dazu Freeman 2014. Matthew Ratcliffe (2010) bezeichnet die Stimmungsphänomene im Anschluss an Heidegger als vorintentionale Zustände. Die Stimmungen haben laut Ratcliffe einen Vorrang vor dem Verstehen, weil sie zuvor den möglichen Raum erschließen, in dem anschließend das Verstehen agiert. Das semantische Netz hänge somit von der Befindlichkeit ab, weil diese die Art bestimmt, in der die Dinge uns etwas bedeuten können. Vgl. SZ, 137: „Diese vorgängige, zum In-Sein gehörige Erschlossenheit der Welt ist durch die Befindlichkeit mitkonstituiert“.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Spannung: „Befindlichkeit hat je ihr Verständnis, wenn auch so, daß sie es niederhält“ (SZ, 142). Diese Aussage scheint anzudeuten, dass die Befindlichkeit ein eigenes Verständnis enthält. Wenn der Stimmung ein partikulares hermeneutisches Vermögen zukommen würde, dann hätte sie nicht nur eine Ermöglichungsfunktion, sondern auch eine konstitutive Rolle in Bezug auf Bedeutsamkeit. Die Stimmung würde eine eigentümliche Art von Sinnerschließung verkörpern, die vom Begreifen grundsätzlich zu unterscheiden ist.⁶⁸ Und die radikalste Formulierung dieser Ansicht wäre, dass das Verstehen selbst in der Stimmung gründen würde. Die Hypostasierung der Befindlichkeit als eine selbständige Fähigkeit zu verstehen widerspricht aber Heideggers These, dass der primäre Modus des Inder-Welt-seins das Welterkennen und das Besprechen von Welt (νοεῖν und λόγος) ist. Jede Erschließung von Sinn, selbst die stimmungsmäßige, ist auf die AlsStruktur angewiesen, selbst wenn das darin implizite Als nicht als solches artikuliert wird. Die Stimmungserfahrungen, in denen wir Zusammenhänge zu verstehen glauben, ohne sie artikulieren zu können, sind möglich aufgrund unserer Vertrautheit mit dem auslegenden Verstehen. Vor diesem Hintergrund kann die Befindlichkeit nicht eine gesonderte Verständnisart repräsentieren, welche Bedeutungen erschließen würde, ohne von der Artikulation von Sinn vermittelt zu werden.⁶⁹ Daher müssen Heideggers Überlegungen zur Befindlichkeit vor allem in ihrer kritischen Funktion betrachtet werden. Heideggers Kritik richtet sich auch hier gegen die Annahme der theoretischen Einstellung, sie könne rein rational an die Welt herangehen. Der wissenschaftliche Anspruch auf eine reine Weltbetrachtung beruft sich nicht nur auf Voraussetzungslosigkeit, sondern auch auf Situationsungebundenheit. Durch den Begriff der Befindlichkeit betont Heidegger hingegen, dass Verstehen jeweils beteiligtes Verstehen ist. Die Zugänglichkeit von semantischen Zusammenhängen – auch in der theoretischen Betrachtung von Welt – ist auf eine Situiertheit angewiesen. Diesen Sachverhalt kann man derart ausdrücken, dass jede Verstehensart sich in einer Gestimmtheit befindet. Auch in der theoretischen Einstellung gibt es ein Primat dessen, was das Dasein vor jedem „Erkennen und Wollen“ stimmt (SZ, 136). Die θεωρία ist somit nicht stimmungslos, sondern setzt das „ruhige Verweilen bei…“ voraus (SZ, 138). Selbst die „Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoretischen Erkennens von purem Vorhandenen“ ist von einer bestimmten Befindlichkeit nicht frei (SZ, 136).
Das Erschließungvermögen der Befindlichkeit wird gewöhnlich als präreflexive Erfahrung der Welt und des Selbst erfasst. Vgl. Pocai 2001. Vgl. Ionel 2017.
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Daraus ist aber nicht zu schließen, dass die Hervorhebung der Befindlichkeit die Wissenschaft „dem Gefühl auszuliefern“ versucht (SZ, 138). Selbst wenn „die primäre Entdeckung der Welt der ‚bloßen Stimmung‘ überlassen“ zu sein scheint (SZ, 138), grenzt sich Heidegger sowohl vom Verständnis der Stimmung als reinem Anschauen als auch vom Irrationalismus ab.⁷⁰ Dadurch wehrt sich Heidegger gegen eine Auffassung der Stimmung als eine Form der Unmittelbarkeit, in der Sinnzusammenhänge unvermittelt und rein anschaulich gegeben wären. Ein auf Unmittelbarem und Affektivem beruhender Sinngehalt wäre nicht nur willkürlich, sondern auch kein Sinngehalt überhaupt. Diesbezüglich behauptet Heidegger: „Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches“ (SZ, 138). Trotzdem sorgt Heidegger für Irritation, wenn er behauptet: Man würde das, was Stimmung erschließt und wie sie erschließt, phänomenal völlig verkennen, wollte man mit dem Erschlossenen das zusammenstellen, was das gestimmte Dasein ‚zugleich‘ kennt, weiß und glaubt. Auch wenn Dasein im Glauben seines ‚Wohin‘ ‚sicher‘ ist oder um das Woher zu wissen meint in rationaler Aufklärung, so verschlägt das alles nichts gegen den phänomenalen Tatbestand, daß die Stimmung das Dasein vor das Daß seines Da bringt, als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt (SZ, 135 – 136).
Wenn diese Passage so gelesen wird, dass die Stimmung ein besonderes interpretatives Vermögen darstellt, das der Auslegung entgeht und auf Erklärungen nicht reduzierbar ist, dann würde diese Lesart die Zentralität und die Unhintergehbarkeit des Verstehens untergraben. Die Passage nimmt aber vielmehr die Möglichkeit einer ausgezeichneten Stimmung vorweg, die Heidegger später in Sein und Zeit thematisiert. Es handelt sich um die Stimmung, die das Dass des Daseins als solches erschließt und das Ganze des Daseins ins Blickfeld bringt – die Angst. Deshalb endet der Passus zur Befindlichkeit mit der folgenden Erklärung der phänomenologischen Aufgabe: Die phänomenologische Interpretation muß dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen. Sie geht in diesem Erschließen nur mit, um den phänomenalen Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu heben (SZ, 140).
Vgl. SZ, 136: „Um nichts geringer aber ist die Verfälschung der Phänomene, die sie in das Refugium des Irrationalen abschiebt. Der Irrationalismus – als das Gegenspiel des Rationalismus – redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist“.
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Heidegger deutet hier auf ein latentes Verständnis in der Angst bzw. der Stimmung, in der das Dasein als Möglichkeit erschlossen wird. Dieses Verständnis des Daseins als Möglichkeit ist deswegen ursprünglich, weil das Dasein sich selbst immer schon als Möglichkeit versteht (vgl. Kap. II.5: „Nichtigkeit und Möglichkeit“).Wenn die Phänomenologie die Aufgabe hat, das ursprüngliche Verständnis des Daseins auf den Begriff zu bringen, dann hat die Artikulation des ursprünglich Verstandenen bei Heidegger die Bedeutung der Wahrheit.
E Die Wahrheit: Das Als als solches Die Bedeutung der Wahrheit scheint in Sein und Zeit mit der ursprünglichen Welterschlossenheit zusammenzufallen. Wahr zu sein, bedeutet auf den ersten Blick, entdeckt zu sein – bzw. als Sinnzusammenhang in der Welt erschlossen zu sein. Mit seinem Wahrheitsbegriff führt Heidegger ebenfalls die Motive der Erschlossenheit, der Ursprünglichkeit und der Eigentlichkeit entdifferenziert zusammen. Zudem integriert der Paragraph zur Wahrheit (§44) die zentralen Thesen zum Verhältnis zwischen dem Urteilen, dem Weltphänomen und der Bedeutsamkeit in eine einheitliche Konzeption und scheint diese damit zu wiederholen. Trotzdem bekräftigt Heidegger, dass mit dem Wahrheitsbegriff „die Untersuchung […] einen neuen Ansatz [nimmt]“ (SZ, 214). Eine spätere Randbemerkung unterstreicht, dass „hier der eigentliche Ort des einsetzenden Einsprungs in das Da-sein“ ist (SZ, 444). Worin besteht somit die Partikularität dieses Paragraphen und inwiefern erhalten die Begriffe der Erschlossenheit, der Ursprünglichkeit und der Eigentlichkeit eine entscheidende Umprägung durch die Herausarbeitung des Wahrheitsbegriffs? Die Neuheit des §44 besteht in der von Heidegger angedeuteten, obwohl nicht bis zur letzten Konsequenz geführten Zugehörigkeit der Unwahrheit zur Wahrheit, der Verbergung zur Sinnerschlossenheit, der λήθη zur ἀλήθεια. Heidegger definiert die Wahrheit von der griechischen Verbalform ἀληθεύειν her, die er folgendermaßen übersetzt: „aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen“ (SZ, 219). Diese Formel soll „das Wahrsein des λόγος als ἀπόφανσις“ bezeichnen (SZ, 219). Damit wird das Phänomen der Wahrheit wiederum mit dem Stellenwert des Urteils in Beziehung gesetzt. Die Erläuterung zur Bedeutung der Wahrheit hat zunächst das Ziel, auf eine implizite, immer schon vorausgesetzte, obwohl vergessene Dimension im Urteilen zu verweisen: das Seiende ist nämlich in seiner Bedeutsamkeit vor jedem Urteilen und thematischen Erkennen bereits erschlossen. Am Anfang des Paragraphen erinnert Heidegger daran, dass die „frühere Analyse der Weltlichkeit der Welt“ zu folgendem Ergebnis geführt hat: „Die Ent-
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decktheit des innerweltlichen Seienden gründet in der Erschlossenheit der Welt“ (SZ, 220). Diese Erschlossenheit wird ihrerseits „durch Befindlichkeit, Verstehen und Rede konstituiert“ (SZ, 220). Was früher hinsichtlich der existenzialen Konstitution des Da und bezüglich des alltäglichen Seins des Da aufgezeigt wurde, betraf nichts anderes als das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit (…). Dasein ist ‚in der Wahrheit‘. Diese Aussage hat ontologischen Sinn (SZ, 221).
Die Tatsache, dass der Satz „Dasein ist in der Wahrheit“ einen ontologischen Sinn hat, bedeutet, dass die Wahrheit als Phänomen des Sinngeschehens bzw. der Erschlossenheit von Welt gefasst wird. Es handelt sich dabei um eine „nicht-objektivierende Erschlossenheit“ (Tugendhat 1967, 279),⁷¹ insofern dieser Begriff der Wahrheit keine epistemologische Relevanz hat. Die Erwartung, dass ein Wahrheitsbegriff eine epistemologische Implikation haben soll, beruht laut Heidegger auf dem Paradigma der Urteilswahrheit, welches die Wahrheit auf die Richtigkeit der Erkenntnis reduziert und dadurch eine ursprünglichere Dimension des Sinngeschehens verfehlt.⁷² Heideggers Konzeption muss aber mit einem anderen, immanenten Problem konfrontiert werden, welches darin besteht, dass der Ausdruck „Wahrheit“ denselben Gedankengehalt wie die ursprüngliche Welterschlossenheit hat. Daher soll verdeutlicht werden, worin die Eigentümlichkeit des Wahrheitsphänomens besteht.
Tugendhat kritisiert, wie bereits erwähnt, das Zusammenfallen von Wahrheit mit Erschlossenheit in Heideggers Konzeption, weil dadurch der spezifische Sinn von Wahrheit als Richtigkeit des Urteils verloren gehe. Tugendhat trifft die Sache, wenn er Heideggers Phänomenologie als eine Radikalisierung der Frage nach der Möglichkeit der Gegebenheit überhaupt interpretiert: Heidegger erkenne dabei die geschichtliche Dimension der Erschlossenheit und gebe die Letztbegründung aus der Subjektivität auf. Durch die Hypostasierung der Erschlossenheit werden jedoch der Wahrheitsanspruch und der Wahrheitsbezug aufgegeben. Tugendhat misst jedoch Heideggers Entwurf an demjenigen Paradigma, über das Heidegger hinauskommen will: „Daß ein Wahrheitsbegriff auf die Aussagewahrheit paßt, ist die Minimalbedingung, die er erfüllen muß, wenn er überhaupt ein Wahrheitsbegriff sein soll“ (Tugendhat 1967, 331). Heidegger bestreitet aber die Korrespondenzwahrheit nicht, sondern verweist auf einen anderen Sachverhalt: Die Erschlossenheit von Sinn kann nicht durch Übereinstimmung erfolgen, weil die erstere die letztere immer schon bedingt. Die Frage nach der Offenbarkeit betrifft somit einen anderen Bereich als die Frage nach der Übereinstimmung, einen Bereich, den Heidegger deswegen „Wahrheit“ nennt, weil das Geschehen von Sinn die Satzwahrheit ermöglicht. Stephen Mulhall (2013) argumentiert, dass die Frage der Korrespondenzwahrheit im Rahmen der heideggerschen Konzeption nicht auf der Ebene der Satzwahrheit eine Herausforderung darstellt, sondern erst auf der Metaebene der bereits erschlossenen Bedeutsamkeit selbst: „What determines the validity of the framework of meaning if not its correspondence with the essential structures of the reality to which we apply it?“ (Mulhall 2013, 101).
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Der §44 ist in drei Teile aufgegliedert, die erstens den traditionellen Wahrheitsbegriff, zweitens das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und drittens die Seinsart der Wahrheit behandeln. Die zentralen Thesen des Paragraphen lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Die Kritik an der klassischen Korrespondenztheorie der Urteilswahrheit. Heidegger setzt dem selbstverständlichen Sachverhalt, dass Wahrheit auf der Übereinstimmung des Urteils mit dem Gegenstand beruht, das Faktum entgegen, dass der Gegenstand vor dem Urteilen gegeben sein muss. Um auf einen Sachverhalt im Urteil Bezug nehmen zu können, muss dieser in einem Bedeutungsgehalt bereits erscheinen.⁷³ Die Bewährung einer Aussage muss sich ferner an demjenigen Seienden abspielen, worüber geurteilt wird. Dieser Maßstab ist der Urteilswahrheit immanent.⁷⁴ Eine Aussage ist erst dann wahr, wenn sie das Seiende „an ihm selbst entdeckt“ oder wenn sie „das Seiende in seiner Entdecktheit“ erscheinen lässt (SZ, 218). Obwohl das Urteil entdeckend sein soll, um überhaupt wahr zu sein, gehört die ursprüngliche Entdecktheit des Seienden nicht dem Bereich des Urteilens an, sondern geht diesem voraus. In diesem Argument besteht Heideggers unterminierende Lesart der Urteilswahrheit: Das entscheidende Als, das im Als des Urteils zum Ausdruck kommt, ist das Als des Seienden. Heidegger verweist auf diesen urteilsinternen Maßstab der Bewährung der Aussage am Seienden nicht, um die Evidenz eines sich ausweisenden Seienden in Anspruch zu nehmen, sondern um die interne Paradoxie der Urteilswahrheit aufzuzeigen. Das Urteil bewährt sich nur, insofern es auf das verweist, was bereits entdeckt ist. Dahingehend behauptet Heidegger: „Nicht die Aussage ist der primäre ‚Ortʻ der Wahrheit, sondern umgekehrt, die Aussage als Aneignungsmodus der Entdecktheit und als Weise des In-der-Welt-Seins gründet im Entdecken, bzw. in der Erschlossenheit des Daseins“ (SZ, 226). Die Gegebenheit des Seienden deutet daher auf die vorrangige Dimension der Sinnerscheinung und nicht auf eine reine Unmittelbarkeit oder auf die Vorhandenheit des Gegenstandes hin. Die Gegebenheit des Seienden – sein Entdeckt-Sein – besteht nicht in der empirischen
Heidegger erläutert den Fall der Kohärenz-Wahrheit nicht. Ein transzendentales Argument beruht laut Heidegger ebenfalls auf den Grundsätzen, (1) dass der Ort der Wahrheit im Urteil liegt und (2) dass die Wahrheit in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand – selbst wenn mit der Möglichkeit der Gegenständlichkeit als solcher – besteht (vgl. KdrV, B82 – B86). Heidegger zitiert Kant: „Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird“ (KdrV, B350; SZ, 215). Vgl. dazu Lafont 1994. Die Erkenntnis ist wahr, „wenn sich das Erkennen als wahres ausweist. Die Selbstausweisung sichert ihm seine Wahrheit“ (SZ, 217).
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Zugänglichkeit des Wahrnehmbaren, sondern sie ist hermeneutisch.⁷⁵ Die Freistellung des Seienden als eines Seienden spielt nicht auf einen vorliegenden Leerraum an, wo Dinge überhaupt erscheinen können, sondern die originäre Gegebenheit des Seienden – die Wahrheit als dessen Vorentschlossenheit – liegt in der konkret-semantischen Konstituiertheit desselben. (2) Die ursprüngliche Erschlossenheit. Die Wahrheit scheint in einer Selbstreferentialität gefangen zu sein, insofern sie in der originären Welterschlossenheit liegt. Die Frage nach wahrheitstauglichen Urteilen erscheint daher überflüssig. Die objektivierenden Urteile über die Beschaffenheit von Gegenständen können eine Richtigkeit haben, ihnen kommt aber keine Wahrheit zu. Was im strengen Sinne wahr ist, ist nicht die Übereinstimmung der Erkenntnis mit einem wahrnehmbaren Tatbestand, sondern allein die originäre Sinnstiftung – das, was ein Seiendes als Seiendes erschließt.⁷⁶ Der Begriff des Ursprünglichen bezieht sich auf das, was die Konstitution des Sinns ermöglicht. Was das Da des Daseins gründet, sind die Existenziale des Verstehens, der Befindlichkeit und der Rede. Die Existenziale als solche zu erfahren bedeutet, die Ursprünglichkeit zu begreifen.⁷⁷ Wahrheit wird erfahren, wenn ihre transzendentale Bedingung als solche begriffen wird – und letztlich, wenn das Dasein als Seinkönnen erschlossen wird. Die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die Wahrheit der Existenz (SZ, 221).
Dieser Satz taucht im Kontext des Entwurf-Charakters des Daseins auf. Wenn das Dasein sich als eigenes Seinkönnen versteht, befindet sich das Dasein in der „eigentlichen Erschlossenheit“ (SZ, 221). Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit gehören hier zusammen und hängen mit dem Verstehen der Existenz als Seinkön Diese Gegebenheit repräsentiere das, woraufhin intellectus und res von vornherein übereinstimmen sollen, nämlich den idealen Bedeutungsgehalt eines Urteils. Dieser sei aber im faktischen Entdeckt-Sein des Seienden gegründet, d. h. immer schon auf die Weltbedeutsamkeit angewiesen (vgl. SZ, 216). Tugendhat verweist auf die Tendenz in Heideggers Denken, die Ursprünglichkeit der Gegebenheit vorzuziehen und diese als Maßstab für die Eigentlichkeit der so konstituierten Wahrheit anzusehen. Tugendhat zufolge repräsentiert der Maßstab der Gegebenheit noch das husserlsche Erbe in Heideggers Philosophie. Vgl. Tugendhat 1967, 270 – 276. Die Termini „originär“ und „ursprünglich“ haben hier keine zeitlich-historische Konnotation. Es geht nicht um die erste Eröffnung der Seienden und damit um den Vorrang des Früheren und des „Urwüchsigen“. Dass sich der ontologische Sinn des Ursprünglichen in Sein und Zeit zu einer Konzeption des Anfänglichen, des Archaischen und der „Erde“ in Heideggers späterer Philosophie hin verschiebt, hängt mit dem zentralen Stellenwert zusammen, den die Geschichtlichkeit nach Sein und Zeit einnimmt (vgl. Kap. III: „Wahrheit und Verbergung“).
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
nen zusammen. Dieser Zusammenhang beweist, dass Heideggers Wahrheitsbegriff keine Alternative zur klassischen Korrespondenztheorie bietet, weil die Bedeutung dieses Wahrheitsbegriffs gar nicht im Bereich der Epistemologie liegt. Die Wahrheit betrifft vielmehr das Selbstverständnis des Daseins als eines möglichen Entwurfs. Es kommt darauf an, das Seinkönnen als Seinkönnen zu erschließen, weil der Möglichkeitscharakter der Welt zumeist und zunächst verborgen bleibt. (3) Die immanente Verbergung im Wahrheitsgeschehen. Die Erschlossenheit des Weltbedeutsamen ist im Modus des Man – „durch das Gerede, die Neugier und die Zweideutigkeit“ – verstellt und verschlossen (SZ, 222). Allerdings ist das Seiende dabei „nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich – aber im Modus des Scheins“ (SZ, 222). Das Dasein befindet sich in diesem Sinne in der Unwahrheit. Und die Tatsache, dass das Dasein in der Wahrheit ist, besagt, dass es „gleichursprünglich“ in der Unwahrheit ist: Daher muß das Dasein wesenhaft das auch schon Entdeckte gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich zueignen und sich der Entdecktheit immer wieder versichern. Erst recht vollzieht sich alle Neuentdeckung nicht auf der Basis völliger Verborgenheit, sondern im Ausgang von der Entdecktheit im Modus des Scheins (SZ, 222).
Diese Passage drückt Heideggers Vertrauen in das Programm der Fundamentalontologie aus, „das in der Sorge liegende Seinsverständnis zu Begriff“ zu bringen, wie es am Ende des Paragraphen über die Wahrheit heißt (SZ, 230).Wenn das immer schon Entdeckte sich zunächst im Modus des Scheins befindet, dann ist die Wahrheit dem bereits Entdeckten, aber gegen den Schein abzuringen. Dieser Optimismus kontrastiert mit Heideggers späterem Einblick in die wesentliche Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Verbergung – aber auch mit der Gleichursprünglichkeit von Wahrheit und Unwahrheit, die andeutet, dass sowohl jede originäre Entdecktheit als auch jede Neuentdeckung von Verbergung geprägt ist. Ohne die Zugehörigkeit des Scheins zum Phänomen der Wahrheit auszuführen, weist aber Heidegger darauf hin, dass es das „heute nicht grundsätzlich und ausdrücklich überwundene Seinsverständnis des Daseins“ ist, das „selbst das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit [verdeckt]“ (SZ, 225). In der oben zitierten Passage spricht Heidegger von der Aufgabe, sich die Wahrheit gegen die Verstellung zuzueignen. Es handelt sich dabei aber nicht um diese oder jene Wahrheit, die zugeeignet werden soll. Die Wahrheit liegt hier in der Konstitution der Weltbedeutsamkeit und gehört der „wesenhaften Geworfenheit des Daseins in die Welt“ (SZ, 228) an. An dieser Konstitution sind das Verstehen und die Befindlichkeit, die Rede und die Auslegung, die Geschichtlichkeit und die Zeitlichkeit beteiligt. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Auf-
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gabe, sich die Wahrheit zuzueignen, dass das Dasein sich die Konstitution seines Selbst anzueignen hat – dass es der Existenz, so wie sie ist, gewahr werden soll. Wenn die Existenz des Daseins vor allem darin besteht, die Welt verstehend zu erschließen,⁷⁸ dann hat die Aneignung der Wahrheit die Bedeutung, das Verstehen von Welt als solches zu begreifen. Die Aufgabe, die Existenz des Daseins als solche zu erschließen, kommt am klarsten in der Todesanalyse zur Sprache. Heidegger beschreibt dort die Eigentlichkeit als diejenige Existenz, die das eigene Seinkönnen als Seinkönnen erfährt und aufbewahrt. Dieses Motiv nimmt eine spätere Grundfigur des heideggerschen Denkens vorweg: Wenn jedes Erschließen von Sinn zugleich ein Verbergen ist, wie es ab 1930 heißt, dann wird die Erfahrung der Wahrheit darin bestehen müssen, die Verbergung als Verbergung zu erfahren (vgl. Kap. IV: „Gründung und Verbergung“).
5 Nichtigkeit, Möglichkeit, Sinnkonstitution A Der Sinn der Endlichkeit Die Frage nach der Wahrheit des Daseins – nach der Art und Weise, in welcher der Mensch seine Existenz als solche, in ihrem grundlegenden Möglichkeitscharakter, begreifen kann – wird im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit problematisiert. Dieser Abschnitt, betitelt „Dasein und Zeitlichkeit“, geht von zwei Fragestellungen aus. Die erste Frage bezieht sich auf die Möglichkeit, ob das Dasein in seinem „Ganzsein zugänglich werden kann“ (SZ, 234). Das Ganzsein des Daseins meint hier nicht eine biografische Summe von Ereignissen, sondern die Zusammengehörigkeit der Existenziale des Daseins und ihre gemeinsame Wurzel. Die zweite Frage thematisiert, im Anschluss an das im ersten Abschnitt geschilderte Verfallen des alltäglichen Daseins, die mögliche „Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens“ (SZ, 236). Beide Themen, Ganzheit und Eigentlichkeit, hängen mit der Frage nach der Ursprünglichkeit zusammen. Der Abschnitt beginnt mit der Frage: „Was besagt denn überhaupt Ursprünglichkeit einer ontologischen Interpretation“ (SZ, 231)? Heidegger verbindet die Ursprünglichkeit als Leitfaden der Ontologie des Daseins Vgl. SZ, 86: „Wenn dem Dasein wesenhaft die Seinsart des In-der-Welt-seins zukommt, dann gehört zum wesenhaften Bestand seines Seinsverständnisses das Verstehen von In-der-Welt-sein. Das vorgängige Erschließen dessen, woraufhin die Freigabe des innerweltlichen Begegnenden erfolgt, ist nichts anderes als das Verstehen von Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer verhält“.
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einerseits mit der existenzialen Verfassung des Daseins, die in der alltäglichen Existenz verborgen bleibt, andererseits mit der Endlichkeit und Nichtigkeit des Daseins. Die Ursprünglichkeit des Daseins bestehe darin, wie Heidegger argumentieren wird, dass das Dasein „nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs“ ist (SZ, 287). Der Leitfaden der Ursprünglichkeit bringt somit den Zusammenhang zwischen Verstehen und Nichtigkeit bzw. zwischen der Konstitution von Sinn und der Endlichkeit des Daseins zum Ausdruck. Inwiefern hängt aber die Endlichkeit des Daseins mit dem Verstehen von Welt zusammen? Handelt es sich darum, dass das Dasein seine Welt im Lichte des unentbehrlichen Faktums des Todes versteht?⁷⁹ Oder nimmt der Tod selbst in Sein und Zeit eine ontologische Bedeutung an, derart, dass der Todesbegriff nicht so sehr das menschliche Sterben thematisiert, sondern vielmehr auf eine enge Verbindung zwischen der Endlichkeit des menschlichen Verstehens und der Konstitution von Sinn verweist? Heidegger artikuliert die Konstellation der Ursprünglichkeit, der Endlichkeit und der Eigentlichkeit durch die Beschreibung der Phänomene von Angst, Schuld und Gewissen. Trotz des ethischen Nachklangs dieser Motive erklärt Heidegger, dass diese Begriffe nicht ontisch-existenziell, sondern allein in ihrem ontologisch-existenzialen Sinn zu verstehen sind.⁸⁰ Dadurch werden die möglichen Inhalte dieser Erfahrungen neutralisiert und formalisiert.⁸¹ Der Grund, weshalb die ethische Tragweite dieser Motive neutralisiert wird, ist der Fokus auf den transzendentalen Stellenwert der Endlichkeit und der Nichtigkeit (vgl. Blattner 2015). Die Endlichkeit verweist wiederum weder auf die zeitliche noch auf die epistemische Begrenztheit des Daseins, sondern der Tod selbst wird in einem ontologischen Sinn verstanden. Heidegger stellt sich die Aufgabe, den Tod „auf einen rein existenzialen Begriff zu bringen“: „Das Sterben ist keine Begebenheit, sondern ein existenzial zu verstehendes Phänomen“ (SZ, 240). Diese ontologische Neutralisierung des Ethischen gilt auch für das Thema der Eigentlichkeit. Der Modus der Eigentlichkeit besteht vor allem in einer Einsicht in
Zur Frage nach dem Zusammenhang von Tod und Bedeutung vgl. Apel 1978. Vgl. SZ, 248: „Daß in einer existenzialen Analyse des Todes existenzielle Möglichkeiten des Seins zum Tode mit anklingen, liegt im Wesen aller ontologischen Untersuchung“. Die Analyse des Seins-zum-Endes sollte weder über ein Jenseits noch über ein Diesseits des Lebens entscheiden, „als sollten Normen und Regeln des Verhaltens zum Tode zur ‚Erbauung‘ vorgelegt werden“ (SZ, 248). Andreas Luckner (2001) ist trotzdem der Meinung, dass Heideggers Konzeption für ethische Fragestellungen und für eine Konzeption der Eudaimonie fruchtbar gemacht werden kann. Dagegen betont Dieter Thomä (2001), dass in Sein und Zeit Heidegger die Moral und Ethik durch „eine von Nietzsche inspirierte Kritik an lebensfernen Werten“ abweist. Erst später, etwa im Brief über den Humanismus (1946), erhebe Heidegger, so Thomä, rückblickend auf eine ursprüngliche Ethik Anspruch.
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die konstitutive Endlichkeit des Daseins bzw. im Verstehen des Daseins als Seinkönnen. In der Erfahrung der Angst wird dieses Verstehen lediglich bezeugt. Die Erfahrung des Todes hat aus einem existenzialen Standpunkt nur den Stellenwert, dass darin „sich der Möglichkeitscharakter des Daseins am schärfsten enthüllen läßt“ (SZ, 248 – 249). Die Eigentlichkeit wird somit nicht an einen bestimmten Lebensentwurf gebunden, sondern sie besteht im Verstehen des Daseins als Möglichkeit. In diesem Sinne geht mit der existenzialen Begriffsbestimmung des Todes eine „existenzielle Unverbindlichkeit“ einher (SZ, 331). Heidegger führt die ontologische Bedeutung der Endlichkeit im Kontext der Frage nach der Abgeschlossenheit des Daseins ein, die sich ihrerseits mit der Frage nach der Ganzheit des Daseins stellt. Solange das Dasein ist, befindet es sich in „ständiger Unabgeschlossenheit“, weil sein Ende noch nicht da ist (SZ, 236). Die Tatsache, dass das Dasein noch nicht abgeschlossen ist, dass es noch nicht zu Ende ist, macht zunächst seine Endlichkeit aus. Aber die Bedeutung der Endlichkeit geht nicht bloß im Verhältnis des Menschen zu seinem später eintretenden Ende auf, weil dabei die menschliche Existenz von ihrem Ende doch getrennt gedacht wird. Das Ende des Daseins bleibt nicht wie ein verzögertes oder aufgeschobenes Ereignis aus. Ebenso wird das Dasein nicht vollständig und ganz, „wenn sein Noch-nicht sich aufgefüllt hat“ (SZ, 243). Das ausstehende Ende gehört im Gegenteil zur Gegenwart des Daseins, so Heidegger. Das Dasein ist, „solange es ist, je schon sein Noch-nicht“ (SZ, 244). Das Noch-nicht des Daseins bezieht sich nicht auf den Eintritt des Todes, der das Dasein vollenden würde. Die Gegenwart des Endes bedeutet nicht bloß, dass das Dasein, solange es ist, stetig stirbt. Das Noch-nicht ist „überhaupt noch nicht ‚wirklich‘“ (SZ, 243). Der Begriff eines immer schon impliziten, aber nicht realisierbaren Noch-nicht soll auf die konstitutive δύναμις des Daseins hinweisen. Es handelt sich um eine Grundmöglichkeit, die das Dasein immer schon ist, ohne sie verwirklichen zu können. Dieses konstitutive Vermögen des Daseins, noch nicht zu sein, was es immer schon ist, wird im Faktum des Todes bezeugt: Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor (…). Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. Wenn das Dasein als diese Möglichkeit seiner selbst sich bevorsteht, ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen (SZ, 250).
Der Tod ist Inbegriff der Tatsache, dass das Dasein immer schon sein Ende ist oder grundlegend Sein zum Ende ist (SZ, 245). Der Tod bedeutet für Heidegger kein Aufhören, kein Verschwinden und kein Ende des Daseins, er symbolisiert auch nicht die menschliche Vergänglichkeit, sondern als Möglichkeit des Nicht-seinkönnens konstituiert er das Selbstverständnis des Daseins. Die Todeserfahrung
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erschließt nämlich den Möglichkeitscharakter des Daseins, gerade weil er die Möglichkeit der Unmöglichkeit – „die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit“ – verkörpert (SZ, 250). Die Konfrontation mit dem Tod bringt somit einen Umschlag des Verstehens mit sich: In der möglichen Unmöglichkeit erschließt sich die Möglichkeit als solche. Der Tod ist folglich die „ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins“ nicht nur, weil er die „eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit“ ist, sondern vielmehr, weil er die Möglichkeit als Möglichkeit überhaupt verstehen lässt (SZ, 248, 251). Der Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Möglichkeit wird nicht bloß im ausgezeichneten Augenblick erblickt, sondern es handelt sich um ein apriorisches Konstitutionsverhältnis, dessen sich das Dasein zunächst und zumeist nicht bewusst ist. Von seiner Geworfenheit in den Tod will das Dasein nicht wissen, sondern flüchtet stets davor. Diese Geworfenheit „enthüllt sich ihm ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst“ (SZ, 251). Die Angst ist aber nicht so sehr eine einmalige Erfahrung, sondern vielmehr eine Grundbefindlichkeit des Daseins. Diese Doppelbedeutung der Angst erlaubt es Heidegger, das Verständnis der Existenz, das sich in der Angst auftut, als ein latentes Grundverständnis des Daseins anzusehen. Was in der Angst erfahren wird, ist für das Selbstverständnis des Daseins eigentlich immer schon grundlegend. Die Tatsache, dass die Erfahrung der Endlichkeit den Möglichkeitscharakter des Daseins offenbart, verweist auf die Bedingung des Verstehens von Möglichkeit überhaupt. Ist das Verstehen – für Heidegger das Vermögen, Möglichkeiten zu erschließen⁸² – der Ort, an dem Sinn geschieht, so ist die Endlichkeit Bedingung vom Sinngeschehen. Das Dasein hat immer schon ein latentes Verständnis von seiner eigenen Endlichkeit⁸³ und es versteht sich auf eine latente Weise als Seinkönnen.⁸⁴ Aber erst wenn es sich thematisch als endliches Wesen versteht, ist es im eigentlichen Sinne auch mögliches Dasein.
Vgl. SZ, 263: „Zu beachten bleibt, daß Verstehen primär nicht besagt: begaffen eines Sinnes, sondern sich verstehen in dem Seinkönnen, das sich im Entwurf enthüllt“. Heidegger unterstreicht an mehreren Stellen die Latenz dieses Verstehens der eigenen Endlichkeit. Als Beispiel: „Dem Dasein geht es auch in der durchschnittlichen Alltäglichkeit ständig um dieses eigenste, unbezügliche und unüberholbare Seinkönnen, wenn auch nur im Modus des Besorgens einer unbehelligten Gleichgültigkeit gegen die äußerste Möglichkeit seiner Existenz“ (SZ, 255). Heidegger drückt diesen Gedanken auch in Bezug auf die Struktur der Sorge – das Sein des Daseins – aus: „Dieses Strukturmoment der Sorge hat im Sein zum Tode seine ursprüngliche Konkretion“ (SZ, 251).
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B Die Eigentlichkeit als Möglichkeitssinn Für Heidegger zeichnet sich das menschliche Dasein dadurch aus, dass es sich in Hinblick auf Möglichkeiten entwirft, die der einzelne Mensch zunächst von anderen übernimmt. So stellt sich die Frage, inwiefern diese Möglichkeiten dem Einzelnen uneigentlich sind, inwieweit der Mensch seine Möglichkeiten selbst auswählen kann und ob der Mensch somit eine eigentliche Existenz führen kann. Die zugrunde liegende Frage, ob das menschliche Dasein eigentlich existieren kann, bezieht sich bei Heidegger darauf, ob das Dasein seine eigenste Möglichkeit „auch eigentlich verstehen, das heißt sich in einem eigentlichen Sein zu seinem Ende halten“ kann (SZ, 259 – 260). Ein eigentlicher Existenzentwurf lässt das Dasein „als Verstehen des Todes im Sinne des nichtflüchtigen und nichtverdeckenden Seins zu der gekennzeichneten Möglichkeit konstituieren“ (SZ, 260). Auf der einer Seite betont Heidegger, dass das Dasein immer schon durch den Bezug auf die Möglichkeit des Todes konstituiert ist. Auf der anderen Seite erinnert er daran, dass dieser implizite Bezug zunächst noch kein eigentliches Verhältnis zum Tod darstellt. Die eigentliche Existenz zeichnet sich daher dadurch aus, die schon stattgefundene Konstitution des eigenen Daseins als solche – als eine mögliche und endliche – zu verstehen. Die Sorge, die in der Architektonik von Sein und Zeit als Sein des Daseins fungiert, hat laut Heidegger die Tendenz, „die Möglichkeit des Möglichen durch Verfügbarmachen zu vernichten“ (SZ, 261). Die Sorge verhält sich somit zum Möglichen nicht in thematisch-theoretischer Betrachtung des Möglichen als Möglichen und gar hinsichtlich seiner Möglichkeit als solcher, sondern so, daß es umsichtig von dem Möglichen wegsieht auf das Wofür-möglich (SZ, 261).
Hier deutet Heidegger an, dass der unmittelbare Umgang mit dem Seienden dessen Möglichkeitscharakter übersieht, weil das Seiende dabei im Hinblick auf sein bereits vorbestimmtes, festgefahrenes Wofür erfahren wird. Die Tatsache, dass der Möglichkeitscharakter des Seienden verfehlt wird, liegt aber auch und vor allem an der Verdrängung des Todes im Alltag – trotz der allgemeinen Gewissheit des Todes. Heidegger erinnert, dass der Tod für das natürliche Bewusstsein als eine unleugbare Erfahrungstatsache, als ein später irgendwann einmal eintretendes Vorkommnis gilt. Durch diese „scheinbar angstlose Überlegenheit“ der Gewissheit weicht man aber der eigentlichen Todeserfahrung aus (SZ, 258). Die Kritik an dieser Vergessenheit bedeutet wiederum nicht, dass das eigentliche Sein zum Tode eine stetige Vergewisserung über den Tod impliziert. Die Strategie eines auf Dauer gestellten memento mori verrät Heideggers Ansicht
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nach ein „berechnendes Verfügenwollen über den Tod“ (SZ, 261). Um die Möglichkeit des Todes „als solche verstehend zu erschließen“, muss hingegen seine Möglichkeit „ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werden“ (SZ, 261). Das eigentliche Vorlaufen in die Möglichkeit des Todes hat das Charakteristikum, dass es den Tod erst „als Möglichkeit enthüllt“ (SZ, 262). Dieses Vorlaufen ist kein „besorgendes Verfügbarmachen eines Wirklichen, sondern im verstehenden Näherkommen wird die Möglichkeit des Möglichen nur ‚größer‘“ (SZ, 262). Heideggers Argument lautet, dass die Möglichkeit des Todes eine nicht zu verwirklichende Möglichkeit ist, insofern das Eintreten des Todes die Möglichkeit selbst unmöglich macht. In diesem Sinne ist die Möglichkeit des Todes für ihn rein möglich. Trotzdem, obwohl der Tod nie zur erfahrenen Wirklichkeit wird, vermag die Möglichkeit des Todes nicht nicht zu sein. Sie ist vielmehr das Wirkliche schlechthin, weil sie keiner Wahl überlassen ist.Vor diesem Hintergrund erscheint das rein Mögliche nicht nur unmöglich, weil es nie wirklich wird, sondern auch notwendig, weil es nicht nicht sein kann. Die Möglichkeit als solche zu verstehen, bedeutet für Heidegger, die Existenz eigentlich zu verstehen. Er behauptet in diesem Sinne: „Das Vorlaufen erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz“ (SZ, 263). Eigentlich ist das Dasein nur als das, was es immer schon ist – ein rein mögliches, sterbliches Wesen. Heideggers Gedanke zielt somit darauf ab, dass durch das Verstehen dessen, was es bereits ist, das Dasein zugleich vermag, sich eigentlich – als ein endliches Wesen – zu entwerfen. Darüber hinaus, wenn das Dasein sich selbst als reines Möglichsein versteht, erkennt es auch die bestimmte Existenzform des Man, in der es sich immer schon befindet, als eine Möglichkeit. Durch diese Einsicht vermag das Dasein sich bestimmten Möglichkeiten, in die es im Alltag geworfen ist, zu entziehen: „Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten“ (SZ, 264). Dem Seinsmodus des Man kann das Dasein trotzdem nicht gänzlich entgehen. Die Möglichkeiten, die das Dasein im Wissen um sein Möglichsein wählen kann, gibt sich das Dasein nicht selbst, sondern sie sind gesellschaftliche und geschichtliche Normen: „Auch der Entschluß bleibt auf das Man und seine Welt angewiesen“ (SZ, 299). Heidegger geht auf diese Problematik auch im Kontext der Gewissens-Thematik ein (§54), wo er von einer „existenziellen Modifikation des Man“ spricht und auf den früheren §27 verweist, in dem das alltägliche Man beschrieben wird (SZ, 267). Dort steht zur Befreiung vom Man: Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von ‚Welt‘ und Erschließen
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von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst abriegelt (SZ, 129).
Das Wegräumen von Verdunkelungen führt nicht zu einem unbegrenzten Möglichkeitshorizont, den das Dasein souverän ergreifen könnte. Ein solches Verständnis der Eigentlichkeit würde die Endlichkeit des Daseins überspielen.⁸⁵ Heidegger unterstreicht in diesem Sinne, dass in der Eigentlichkeit die zuhandene Welt nicht eine andere wird: „[D]er Kreis der Anderen wird nicht ausgewechselt, und doch ist das verstehende besorgende Sein zum Zuhanden und das fürsorgende Mitsein mit den Anderen jetzt aus deren eigenstem Selbstseinkönnen heraus bestimmt“ (SZ, 298). Die eigentliche Existenz führt zu keiner Isolation des Daseins. Denn auch in der Vereinzelung würde sich das Dasein „vom ‚großen Haufenʻ zurück[ziehen], wie man sich zurückzieht“ (SZ, 127). Heideggers Konzept der Eigentlichkeit fordert demnach keinen Wandel der eigenen Existenzumstände, sondern appeliert auf eine Einsicht in die Endlichkeit und in das reine Möglichsein der Existenz. So lässt sich Heideggers Argument derart zusammenfassen, dass die Freiheit – die vorlaufende Entschlossenheit in den Tod – erst dann eine solche ist, wenn sie der Nichtigkeit des Daseins ins Angesicht schaut.
C Das Nichts als Konstitutionsgrund Die Thematik des eigentlichen Seinkönnens des Daseins führt zur Problematik der Selbstwahl. Wie bereits erwähnt, wird im Modus des Man Wahl der Möglichkeiten von Anonymität charakterisiert, insofern diese Möglichkeiten von unbestimmten anderen übernommen werden. Der Mensch richtet seine Lebensform zunächst nach der Art und Weise, in der man lebt. Vor diesem Hintergrund soll das eigentliche Selbstsein „sich als Nachholen einer Wahl vollziehen“ (SZ, 268). Das Bedürfnis des Selbstseins bzw. der Selbstwahl ist laut Heidegger in „der alltäglichen Selbstauslegung bekannt als Stimme des Gewissens“ (SZ, 268). Im Ruf des Gewissens erschließt sich nach Heideggers Auffassung eine transzendentale Schuld des Daseins, die weder moralisch noch theologisch gedeutet werden darf.⁸⁶ Dieser Begriff der Schuld, den Heidegger „von dem Bezug auf ein Sollen“ ablösen will (SZ, 283), soll im Folgenden erläutert werden.
Das Dasein wird „frei für die eigensten, vom Ende her bestimmten, das heißt als endliche verstandenen Möglichkeiten“ (SZ, 264). Heidegger bezeichnet die Schuld als einen existenzialen Begriff. Dies bedeutet, dass das Dasein, „sofern es je faktisch existiert, auch schuldig ist“ (SZ, 281).
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
Inwiefern ist das Selbstseinkönnen mit dem „eigensten Schuldigsein“ verbunden (SZ, 269)? Das Selbstseinwollen entspringt, so Heidegger, aus einer Erfahrung der Schuld. Der Grund für dieses Schuldigsein ist dennoch keine bestimmte Tat. Die Erfahrung, die Heidegger als „Ruf des Gewissens“ beschreibt, teilt keinen bestimmten Gehalt mit, sondern offenbart uns „streng genommen – nichts“ (SZ, 273). Der Ruf des Gewissens verweist „eindeutig“ auf eine Schuld und trotzdem ist er „in seinem Was unbestimmt und leer“ (SZ, 274): Der Rufer ist in seinem Wer ‚weltlich‘ durch nichts bestimmbar. Er ist das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ‚Daß‘ im Nichts der Welt (SZ, 276 – 277).
Der Gewissensruf verweist das Dasein auf seine Nichtigkeit – auf „das in der Unheimlichkeit auf sich vereinzelte, in das Nichts geworfene Selbst“ (SZ, 277). Heidegger deutet damit an, dass der Gewissensruf kein ideales Seinkönnen seiner selbst erschließt, sondern das Nichts der Welt, in welche es jeweils geworfen ist. Das Nichts des Daseins, wofür das Dasein schuldig ist, ist kein Mangel und keine Privation, könnte man hinzufügen, sondern hat eine konstitutive Funktion sowohl für den Entwurf als auch für die Geworfenheit des Daseins: Die formal existenziale Idee des ‚schuldigʻ bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit (SZ, 283).
Unter Schuld versteht Heidegger die Anerkennung des unhintergehbaren Stellenwerts des Nicht im Entwurf des Daseins und in seinem Geworfensein. Die Nichtigkeit des Daseins besteht erstens darin, dass es seiner eigenen Geworfenheit „nie mächtig werden“ kann, obwohl es „existierend das Grundsein zu übernehmen“ hat (SZ, 284). Das Dasein wählt nicht die Welt, in die es geworfen ist, sondern übernimmt diese, ohne ihr Grund zu sein. Das Dasein ist nicht „Grund seines Seins“, sondern „Sein des Grundes“, insofern es ungefragt diesen austragen muss (SZ, 285). Das Dasein ist sein Geworfensein, ohne dass dieses – die objektive und die geschichtliche Welt – selbstgewählt sei. Dies macht die Nichtigkeit seines Grundes aus: Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein. Dieses Nicht gehört zum existenzialen Sinn der Geworfenheit. Grund-seiend ist es selbst eine Nichtigkeit seiner selbst (SZ, 284).
Die Nichtigkeit des Daseins betrifft zweitens sein Vermögen, sich zu entwerfen. Eine Möglichkeit zu wählen, impliziert zwangsläufig, dass andere Möglichkeiten
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ausgeschlossen werden: „Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig“ (Z, 285). Sich zu entwerfen, bedeutet, stetig andere Möglichkeiten zu vernichten. Das Seinkönnen des Daseins konkretisiert sich somit durch das Nichten des Könnens selbst. Freiheit soll daher im Hinblick auf dieses konstitutive Nichten gedacht werden: „Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen“ (SZ, 285). Die doppelte Verflechtung von Freiheit und Nichts, das eine Mal im Hinblick auf die ausgeschlossenen Möglichkeiten und das andere Mal im Hinblick auf den nicht ausgewählten, jedoch übernommenen Möglichkeitshorizont, bezeichnet Heidegger in Vom Wesen des Grundes (1929) als „ein transzendentales Dokument der Endlichkeit der Freiheit des Daseins“ (GA 9, 165). In Sein und Zeit resultiert aus beiden Bedeutungen der Nichtigkeit der Grundsatz: „Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit“ (SZ, 285). Der ontologische Sinn des Nichts bleibt aber in Sein und Zeit dunkel, wie Heidegger selbst anmerkt (SZ, 285). Die Tragweite der Nichtigkeit des Daseins für die Konstitution von Sinn wird auch in Was ist Metaphysik? (1929) bekräftigt, wo Heidegger den Menschen als Platzhalter des Nichts beschreibt und behauptet, dass das Seiende als Seiendes aus dem Nichts entspringt (vgl. Kap. IV.2.C: „Das Nichts und die Sinnentstehung“). Der Zusammenhang zwischen dem Nichts und der Entstehung von Sinn wird erst in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) entfaltet (vgl. Kap. IV: „Gründung und Verbergung“). In Sein und Zeit endet die Erläuterung zur Nichtigkeit mit einer Fragestellung zum dialektischen Verständnis des Nicht als eines aufzuhebenden Mangels: Ist die „Positivität“ des Nicht „darin erschöpft, daß es den ‚Übergang‘ konstituiert? Warum nimmt alle Dialektik zur Negation ihre Zuflucht, ohne dergleichen selbst dialektisch zu begründen, ja nur als Problem fixieren zu können“ (SZ, 286)? An dieser Stelle geht es Heidegger nicht nur um eine Kritik an der dialektischen Auffassung der Positivität des Nicht bzw. an der Bedeutung des Positiven als „Negation der Negation“, sondern auch um eine angemessene Konzeption der Positivität des Nichts. Wie kann die Funktion des Nichts in der Konstitution der Weltbedeutsamkeit derart positiv begriffen werden, dass das Nichts nicht als eine aufzuhebende Negation verstanden wird? Obwohl die Nichtigkeit in Sein und Zeit ontologisch nicht geklärt wird, thematisiert Heidegger in der Beschreibung eines eigentlichen Existenzentwurfs implizit die Positivität des Nichts. In der eigentlichen Existenz komme es darauf an, die Nichtigkeit, „die zur Möglichkeit seines eigensten Seinkönnens gehört“, „zu übernehmen“ und sich als „nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs“ zu
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II Phänomenalität und Verbergung: Sein und Zeit
verstehen (SZ, 287). Das eigentliche Dasein zeichnet sich dadurch aus, dass es seine transzendentale Schuld annimmt: „es soll nur das ‚schuldigʻ – als welches es ist – eigentlich sein“ (SZ, 287).⁸⁷ Das eigentliche Verstehen der Nichtigkeit ist aber nicht diskursiv, sondern findet für Heidegger im Schweigen statt. Für das eigentliche Verständnis der Endlichkeit ist der „Modus der artikulierenden Rede die Verschwiegenheit“ (SZ, 296). Gegenüber dem „lauten Gerede der Verständigkeit des Man“ kommt der Ruf des Gewissens „aus der Lautlosigkeit der Unheimlichkeit“ und verweist das Dasein „in die Stille seiner selbst zurück“ (SZ, 296). Die Endlichkeit als Wahrheit des Daseins zu verstehen, bedarf Heidegger zufolge keines artikulierenden Verstehens. Das Schweigen repräsentiert nicht nur ein bestimmtes Verhalten des Menschen zur eigenen Endlichkeit, sondern nimmt Heideggers spätere Konzeption einer konstitutiven Verbergung des Sinns vorweg.⁸⁸ Der Grund des verstehenden Entwurfs wird allmählich für Heidegger in dem Sinne nichtig, dass er die Sprache ermöglicht, selbst aber sprachlos ist. Nach Sein und Zeit beschreibt Heidegger die Verbergung als das „Grundgeschehnis“, das geradezu „älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem Seienden“ ist (GA 9, 193 – 195). Die Thematik der Endlichkeit wird von der endlichen Dimension des sterblichen Daseins hin zu der endlichen Erschlossenheit des Seins selbst bzw. des Sinngeschehens verschoben. Wenn der Mensch als Austragungsort des Sinngeschehens endlich ist, dann ist das Sein selbst endlich. Und die Signatur der Endlichkeit des Seins ist in Heideggers Werk der Begriff der Verbergung.
Vgl. SZ, 287: „Das rechte Hören des Anrufs kommt dann gleich dem Sichentwerfen auf das eigenste eigentliche Schuldigwerdenkönnen“. An einer anderen Stelle bezeichnet Heidegger die vorlaufende Entschlossenheit in den Tod als „das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein“ (SZ, 297). Wie bereits am Anfang dieses Kapitels erwähnt, hat Jean-François Courtine argumentiert, dass Heidegger in Sein und Zeit das Phänomen der Wahrheit nicht ausdrücklich im Verhältnis mit der Verbergung (λήθη) problematisiert. Cortine beschreibt aber die Verbergung als einen Entzug des Seins: „L’être se retire certes, mais un tel retrait est précisément retrait de l’être : il appartient à la phénoménalité de l’être de se retirer. C’est la phénoménalité elle-même qui est ‚épochale‘“ (Courtine 1990, 277). Um aber den Gedanken des Entzugs und der Verbergung zu klären soll in erster Linie eine personifizierende Tendenz, die das Sein zu einer höchsten, unverfügbaren Entität macht, vermieden werden.
III Wahrheit und Verbergung In Sein und Zeit (1927) bezeichnet der Begriff der Verbergung die Unauffälligkeit der Bedeutsamkeit. Heidegger führt diesen Sinn der Verbergung paradigmatisch am Beispiel des Zeugs vor: Die Zuhandenheit des Zeugs muss sich verbergen, damit dieses erst zuhanden sein kann. Wie im vorigen Kapitel aufgezeigt wurde, charakterisiert die Verbergung nicht nur das Zuhandene, sondern die Phänomene des menschlichen Verstehens insgesamt. Es ist eine Bedingung der Erscheinung dessen, was wir selbstverständlich erfahren, dass der Sinnhorizont, der das jeweilige Seiende in seiner Bedeutung erscheinen lässt, phänomenal verborgen bleibt.¹ Dies impliziert, dass nicht nur das apophantische Als – das für die theoretische Einstellung spezifische Urteilen – eine Tendenz zur Verdeckung und Reduktion des Bedeutsamen hat, sondern auch das hermeneutische Als – die vortheoretische Sinnerschließung – von einer inhärenten Verbergung geprägt ist. So wurde im vorigen Kapitel ausgewiesen, dass Heideggers Gedanke der Verbergung, der den Hauptgegenstand seines Werkes ab den 1930er Jahren repräsentiert, bereits in Sein und Zeit vorkonfiguriert wird. Heidegger formuliert allerdings erst im Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit (1930), der drei Jahre nach Sein und Zeit konzipiert, aber nicht früher als 1943 veröffentlicht wurde, zum ersten Mal ausdrücklich die These, dass das „Seinlassen“ des Seienden „in sich zugleich ein Verbergen“ ist (GA 9, 193).² Die Tatsache, dass das Motiv der Verbergung ab 1930 in den Vordergrund rückt, hängt mit dem besonderen Stellenwert zusammen, der der Geschichtlichkeit in Heideggers Philosophie allmählich zukommt. Dieser Zusammenhang wird im Wahrheitsaufsatz offenbar: Heidegger beginnt mit einer Umdeutung der überlieferten Konzeption der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus und argumentiert dafür, dass, damit eine Übereinstimmung des Urteils mit dem Sachverhalt stattfinden kann, der Sachverhalt in seiner Bedeutung bereits erschlossen sein muss. Die Problematik der Wahrheit führt zur Frage nach einer originären Konstitution der Bedeutsamkeit, die sich laut Heidegger nicht dem Urteilsver-
Die schärfste Formulierung der Konzeption der Verbergung findet sich in Sein und Zeit in folgender Passage: „Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner Unauffälligkeit. Und darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins dieses Seienden“ (SZ, 75). In einer späteren Randbemerkung zur zitierten Textstelle schreibt Heidegger: „Zwischen [dem] 5. und [dem] 6. [Abschnitt] der Sprung in die (im Ereignis wesende) Kehre“ (GA 9, 193). Die Randbemerkung bezeugt, dass die sogenannte Kehre Heideggers die Einheit von Lichtung und Verbergung zum Gegenstand hat.Vgl. dazu Thomä 2013. Zur Datierung der sogenannten Kehre um 1930 vgl. Arendt 1979; Krell 1986, 104– 107. https://doi.org/10.1515/9783110659801-005
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III Wahrheit und Verbergung
mögen einer transzendental konzipierten Subjektivität verdankt. Sowohl der Maßstab des Urteilens als auch die Sachverhalte, über die geurteilt wird, sind hingegen auf einen geschichtlich konstituierten Sinnhorizont angewiesen. Die Auffassung der Wahrheit als einer originären Sinnerschlossenheit führt daher zur Frage nach dem Ursprung derselben.³ Weil der Ursprung von Sinn aber geschichtlich verstanden wird, übernimmt die Geschichtlichkeit die Rolle der Fundierung des Verstehens von Sein. In diesem Zuge depotenziert Heidegger die Funktion des einzelnen menschlichen Daseins in der Konstitution von Sinn und hebt die Vormachtstellung der Geworfenheit des Menschen in eine geschichtliche Epoche über den individuellen Entwurf hervor.⁴ Das vorliegende Kapitel soll eine Brücke zwischen der Bedeutung der Verbergung in Sein und Zeit (1927) und der radikaleren Auffassung derselben in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) schlagen. In diesem Zeitraum gibt es mannigfaltige Konnotationen der Verbergung in Heideggers Werk. Dazu wird hier vorläufig zwischen einer strukturellen Verbergung und einer genetischen Verbergung unterschieden, während zudem eine personifizierende Auslegung der Verbergung als eines Entzugs des Seins abgelehnt wird.⁵ In Vom Wesen der Wahrheit (1930) hängt die Bedeutung der Verbergung mit einer strukturellen Paradoxie der Sinnkonstitution zusammen: Insofern wir uns auf Bedeutsames beziehen, abstrahieren wir sowohl von seiner Konstitutionsbedingung als auch von seinem Möglichkeitscharakter. Einerseits verbirgt unsere Bezugnahme auf Seiendes den übergreifenden Horizont, der das Seiende ermöglicht. Andererseits erfahren wir im Umgang mit der Welt den Sinn nicht als Sinn und somit als Möglichkeit, sondern als Gegebenheit. Diesem Sachverhalt kommt aber eine Konstitutionsleistung zu: Insofern die Bedeutsamkeit sich als solche verbirgt, ist sie im Bedeutsamen wirksam. In der Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36), die eine wichtige Station auf dem Weg zu den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) markiert,
Zur Verschiebung der Frage nach der Konstitution der Bedeutsamkeit auf die Frage nach der Herkunft derselben vgl. Sheehan 1992. Friedrich-Wilhelm von Herrmann unterstreicht, dass im Vortrag Vom Wesen der Wahrheit der (seins)geschichtliche Schwerpunkt des Denkens Heideggers angebahnt wird. Dadurch verschiebt sich Heideggers Blick von einem transzendentalen Horizont auf einen geschichtlichen und die Geworfenheit gewinnt die Oberhand über den Entwurfscharakter des Daseins. Die Zeitlichkeit als transzendentaler Horizont des Seinsverständnisses wird wiederum auf das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen als Verbergungs- und Entbergungsgeschehen zurückgeführt: „Damit wird das Denken der Seinsfrage zur Frage nach der Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins“ (Von Herrmann 2002, 7). Vgl. zu dieser Ablehnung Kap. I.2.D: „Logos und Aletheia“ und Kap. I.3.A: „Die Aufgabe des Denkens und die Preisgabe des Begriffs“.
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tritt eine andere Semantik der Verbergung auf. Die Verbergung hat hier eine genetische Bedeutung: Die ursprünglichen semantischen Schichten, die zur Gestaltung einer Sinneinheit beitragen, verbergen sich in der so konstituierten Einheit. Das Verhältnis zwischen Lichtung und Verbergung wird im Kunstwerkaufsatz vom Streit zwischen Welt und Erde her begriffen. Die Erde ist nicht nur eine Metapher für die latente Dimension im Bedeutsamen, sondern sie präzisiert auch die Herkunft dieser konstitutiven Latenz: Die Erde gestaltet die Welt mit, obwohl sie der Welt verschlossen bleibt. Die Verbergung hat daher nicht mehr den Sinn der occultatio, sondern vielmehr den der dissimulatio: Die Erde verbirgt sich in der von ihr mitkonstituierten Welt. Heidegger wehrt sich allerdings von einer naturalistischen Deutung seines Ansatzes durch eine hermeneutische Korrektur, insofern er betont, dass die Erde als eine solche einzig und allein in einer Welt erschlossen werden kann. Im Folgenden sollten diese zwei semantischen Tendenzen des Verbergungsbegriffs dargestellt werden. Am Ende dieser Erläuterung wird sich erweisen, dass Heideggers Konzeption der Verbergung nicht nur eine deskriptive Tragweite hat, sondern ihr auch eine gewisse normative Implikation inne ist. Durch die Anerkennung der Verbergung als einer inhärenten Dimension in der Konstitution von Sinn „geschieht“ die Bedeutsamkeit „wesensgerecht“ (GA 9, 198). Daher ergibt sich die Frage, die im Hinblick auf das Projekt der Beiträge und des von Heidegger entworfenen anderen Anfangs des Denkens von zentraler Bedeutung ist: Was geschieht, wenn die Verbergung als solche erfahren und aufrechterhalten wird?
1 Die Transzendentalität der Verbergung A Die These über das Geschehen von Sinn Der 1930 konzipierte Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit markiert die Verwandlung des heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit, insofern sich hier die Koordinaten der mittleren Schaffensphase Heideggers konturieren: die Depotenzierung des menschlichen Daseins in der Konstitution von Sinn und die Akzentverschiebung auf die geschichtliche Herkunft des Seinsverständnisses. Obwohl dieser Text von Heideggers Hauptwerk Abstand nimmt, wird hier die in Sein und Zeit erworbene Einsicht in die Verbindung von Sinnerschließung und Verbergung weiterentwickelt. In Vom Wesen der Wahrheit formuliert Heidegger explizit die These: „Die Entbergung des Seienden als eines solchen ist in sich zugleich die Verbergung des Seienden im Ganzen“ (GA 9, 198). Dieser Satz scheint zu besagen, dass der jeweilige Bezug auf ein einzelnes Seiendes das Ganze des Seienden aus dem Auge verliert. Der Ausdruck „im
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III Wahrheit und Verbergung
Ganzen“ soll jedoch nicht täuschen. Heidegger unterstreicht am Ende des Vortrages, dass es dabei um „das sich verbergende Einzige der einmaligen Geschichte der Entbergung des ‚Sinns‘ dessen [geht], was wir Sein nennen und seit langem nur als das Seiende im Ganzen zu bedenken gewohnt sind“ (GA 9, 200). Das Seiende im Ganzen ist somit Ausdruck für den Sinn des Seins und repräsentiert den übergreifenden Sinnhorizont oder den Grund, der das Seiende in seiner Bedeutung erschließt. Die verkürzte Formel des Gedankens Heideggers lautet: „Das Seinlassen ist in sich zugleich ein Verbergen“ (GA 9, 193). Der Terminus „Seinlassen“ verweist auf denselben Horizont oder Grund, der das jeweilige Seiende als „das Seiende sein [lässt], das es ist“ (GA 9, 188). Formuliert man den Satz um, so besagt er, dass die Erschließung des Als des Seienden zugleich ein Verbergen ist. Bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass die Verbergung nicht bloß als ein Charakteristikum der Offenbarkeit des Seienden, sondern vielmehr als ein „Grundgeschehnis“ beschrieben wird, das geradezu „älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem Seienden“ und „älter auch als das Seinlassen selbst“ ist (GA 9, 193 – 195). Die Grundannahmen dieser Auffassung Heideggers lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Die Urteilswahrheit gründet Heidegger zufolge in einer vorprädikativen Sinnerschlossenheit. Nur aufgrund einer dem Urteil vorangehenden Offenheit kann auf etwas Bezug genommen und über etwas geurteilt werden. Als Wahrheit kann deshalb Heidegger zufolge nur die originäre Offenheit von Sinn bezeichnet werden. Im eigentlichen Sinne des Wortes ist Wahrheit derjenige Bereich, der das Seiende vor jeder Aussage in seinem Sinn bestimmt und den Maßstab jedes Urteilens immer schon gesetzt hat. (2) Die ursprüngliche Sinnerschlossenheit steht nicht in der Verfügung des Menschen. Die Wahrheit waltet „über“ dem Menschen und dieser ist bloß „Eigentum“ eines entbergenden Bereiches, der verborgen bleibt (GA 9, 191). Dies zeigt sich darin, dass der Horizont des Sinns von Sein alltäglich unbestimmt bleibt. Das Seiende im Ganzen erscheint „im Gesichtsfeld des alltäglichen Rechnens und Beschaffens als das Unberechenbare und Ungreifbare“ (GA 9, 193). Was unser unmittelbares Verstehen von Seiendem bestimmt, erscheint somit selbst unbestimmbar. Dieser Zusammenhang drückt ein fragwürdiges Geheimnis aus, so Heidegger, welches jedoch auf nichts Mysteriöses, sondern auf die paradoxe Verflechtung von Sinnerschließung und Verbergung verweist. (3) Die Tatsache, dass dem Sinngeschehen die Verbergung konstitutiv ist, führt eine Vergessenheit herbei, welche die geschichtliche Entwicklung des Seinsverständnisses prägt. Aufgrund der Unbestimmtheit des konstitutiven Sinnhorizontes des Seienden wird dieser als solcher übersehen und verges-
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sen. Diese Vergessenheit, die laut Heidegger das Verhalten und die Erkenntnisweise des abendländischen Menschen grundlegend bestimmt, gipfelt im Paradigma, in dem der Mensch „sich selbst als das Subjekt für alles Seiende zum Maß“ macht (GA 9, 196). (4) Daraus folgt das Bedürfnis nach einem neuartigen Verhältnis zur Erschlossenheit von Sinn, welches sich durch die Anerkennung und Aufrechterhaltung der Verbergung auszeichnet. Heidegger umreißt dadurch ein eigentliches Verständnis der Welt als Welt, welches sich durch das Wissen der Verbergung als Verbergung charakterisiert.⁶ Die Konstellation dieser Annahmen erklärt aber noch nicht den Sinn der Verbergung selbst. Was wird in der Erschließung des Seienden verborgen – das Als des Seienden als Seienden oder die Quelle, woraus das Als entspringt? Im ersten Fall wäre das Verborgene der Sinnhorizont des Seienden selbst und in eins damit sein Möglichkeitscharakter. Seiendes wird als Seiendes erschlossen, insofern andere Verstehensmöglichkeiten ausgeschlossen werden. Weil sich erschlossene Bedeutungszusammenhänge verfestigen, werden sie als die einzige Sinnmöglichkeit erfahren. Vor diesem Hintergrund würde Heidegger für die Anerkennung des Möglichkeitscharakters von Bedeutungen plädieren. Im zweiten Fall würde die Verbergung auf die Genesis der Weltbedeutsamkeit bezogen sein.⁷ An einer Stelle in Vom Wesen der Wahrheit erwähnt Heidegger nebenbei „das erstlich Verborgene“ (GA 9, 194). In diesem Zusammenhang würde Heidegger dafür plädieren, eine Welt aufrechtzuerhalten, d. h. eine überlieferte Sprache zu pflegen, gerade weil die Herkunft von Bedeutsamkeit nicht zugänglich ist. Im Folgenden soll Heideggers Leitgedanke durch ein näheres Herangehen an den Text verdeutlicht werden. Erstens soll Heideggers Kritik an der Urteilswahrheit erläutert werden. Zweitens soll der hier verwendete Begriff der Freiheit ausgedeutet werden. Drittens soll die Konnotation der Verbergung klarer formuliert werden.
Vgl. dazu auch Kap. I.2.C: „Ding und Welt“; Kap. VI.3.A: „Das Wissen um die Verbergung“. Thomas Sheehan tendiert in seiner Interpretation des heideggerschen Werkes dazu, die Verbergung als Unzugänglichkeit der Herkunft der Bedeutsamkeit zu interpretieren. So spricht Sheehan von „the intrinsic hiddenness of appropriation as the finite source of all meaning“ (Sheehan 2011, 53). Dadurch riskiert Sheehan, Heideggers Konzeption anhand der Dichotomie von Präsenz und Unverfügbarkeit zu deuten.
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B Urteils- und Sachwahrheit Gemäß dem überlieferten Wahrheitsbegriff liegt Wahrheit in der Übereinstimmung des Urteils und des Sachverhalts (adaequatio intellectus et res). Heideggers Korrektur an diesem Paradigma setzt an der Tatsache an, dass sowohl der intellectus als auch die res vor jedem Urteilen und vor jedem Weltbezug bereits vorbestimmt sind. Die Vorbestimmung ihrer Bedeutung beschreibt Heidegger als Offenheit des Offenbaren. Die Offenheit ist der Sinnhorizont, in dem das Seiende – auch die Bedeutung dessen, was der Intellekt und der Gegenstand sind – immer schon erschlossen ist. Die Ausgangsfrage und das Ziel des Aufsatzes visieren nicht eine besondere Wahrheit an – sei sie eine praktische oder eine theoretische Wahrheit, eine Wahrheit der Wissenschaft oder der Kunst, des Glaubens oder des Begreifens –, sondern das, „was jede ‚Wahrheit‘ überhaupt als Wahrheit auszeichnet“ (GA 9, 177). Der Untersuchungsgegenstand ist somit die Art und Weise, in der Wahrheit geschieht. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet das Wahre das Wirkliche. „Wirklich“ ist nicht nur das, was existiert, sondern vielmehr das, was echt ist. Das unechte Gold existiert ebenso wie das wahre Gold. Beide sind im Sinne der Existenz wirklich. „Wahr“ bzw. „echt“ ist aber allein das echte Gold. Um wahr zu sein, muss demnach die Sache mit dem, was sie sein soll, übereinstimmen. „Was ein Wahres zu einem Wahren macht“, ist somit die Übereinstimmung der Sache mit sich selbst (GA 9, 179). Diese Übereinstimmung betrifft nicht das Verhältnis zwischen einer Aussage und einem Sachverhalt, sondern die Sache als solche und ihr Verhältnis mit sich selbst. Im Urteil wird dieses Wahre – die Sachwahrheit – nur demonstrativ signalisiert: „Es stimmt. Die Sache stimmt“ (GA 9, 179). Heideggers Strategie besteht darin, die traditionelle Urteilswahrheit auf diese ursprünglichere Bedeutung des Wahren zurückzuführen und diese Bedeutung aus dem Urteilsparadigma immanent herauszuarbeiten. Die Urteilswahrheit hat selbst zwei mögliche Bedeutungen: Wahrheit kann einerseits als „Angleichung der Erkenntnis an die Sache“ und andererseits als „Angleichung der Sache an die Erkenntnis“ verstanden werden (GA 9, 180). Beide Bedeutungen der Urteilswahrheit rekurrieren jedoch, so Heideggers Argument, auf die vorausgesetzte Sachwahrheit. Der Wahrheitsbegriff als Angleichung der Sache an die Erkenntnis entspricht Kants kopernikanischer Wende, wonach die Gegenstände sich nach unserem Erkenntnisapparat richten. Heidegger interpretiert aber das Paradigma der Entsprechung der Sache mit der Erkenntnis nicht im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie, sondern von ihrem mittelalterlichen Ursprung her. Dieser Angleichungsbegriff entspricht nämlich dem christlich theologischen Glauben,
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daß die Sachen in dem, was sie sind und ob sie sind, nur sind, sofern sie als je erschaffene (ens creatum) der im intellectus divinus, d. h. in dem Geiste Gottes, vorgedachten idea entsprechen und somit idee-gerecht (richtig) und in diesem Sinne ‚wahr‘ sind (GA 9, 180).
Die Angleichung der Sache an die Erkenntnis bedeutet im ursprünglichen Sinne die Entsprechung der Sache mit der in Gott enthaltenen Idee. Ist der menschliche Verstand selbst ein ens creatum, so wird die menschliche Erkenntnis ideengerecht, wenn sie ihr Gedachtes an die der Idee entsprechenden Sache angleicht.⁸ Daraus schließt Heidegger, dass das Übereinstimmungsparadigma in seinen Ausprägungen auf der Grundlage basiert, dass sowohl die Sache als auch die Aussage ideengerecht sein müssen. In der mittelalterlichen Ontologie wird demnach die Wahrheit durch die Entsprechung der Sache mit dem intellectum divininum verbürgt. Abstrahiert man vom theologischen Gehalt dieses Paradigmas, so kann die Ideengerechtigkeit – wenn nicht mehr im göttlichen Verstand – allein im menschlichen Verstand gründen: „An die Stelle der theologisch gedachten Schöpfungsordnung rückt die Planbarkeit aller Gegenstände durch die Weltvernunft, die sich selbst das Gesetz gibt“ (GA 9, 179). Die Ideengerechtigkeit nimmt in der modernen Erkenntnistheorie die Gestalt der Berufung auf den gesunden Menschenverstand oder auf das Logische an. Die moderne Erkenntnistheorie charakterisiert sich durch die Voraussetzung, dass die Sache mit ihrem „‚vernünftigen‘ Wesensbegriff“ übereinstimmen soll (GA 9, 181). Diese Voraussetzung hängt aber mit „der ältesten Überlieferung des Denkens“ zusammen, nämlich mit der Idee der Übereinstimmung (ὁμοίωσις) einer Aussage (λόγος) mit einer Sache (πρᾶγμα) (GA 9, 181– 182). Die Richtigkeit der Übereinstimmung kann folglich nur aus „der Art jener Beziehung, die zwischen der Aussage und dem Ding obwaltet“, erklärt werden (GA 9, 183). Dieses für die abendländische Philosophie maßgebende Verhältnis zwischen Aussage und Ding interpretiert Heidegger als Vorstellung: Die Aussage stellt etwas vor und urteilt über das Vor-gestellte. Durch den Bindestrich im „Vor-gestellten“ deutet Heidegger darauf hin, dass dem vorgestellten Ding eine Selbstständigkeit gegenüber der Vorstellung zugesprochen wird. Die Vorstellung ist nicht eine Einbildung, sondern sie lässt als Vor-stellen „das Ding als Gegenstand“ entgegenstehen (GA 9, 184). Dem Gegenstand wird so ein „offenes Entgegen“ zugelassen: Das Erscheinen des entgegenstehenden Dinges „vollzieht sich innerhalb eines Offenen, dessen Offenheit vom Vorstellen nicht erst geschaffen, sondern je nur als Bezugsbereich bezogen und übernommen wird“ (GA 9, 184). Vgl. GA 9, 181: „Die veritas als adaequatio rei (creadae) ad intellectum (divinum) gibt die Gewähr für die veritas als adaequatio intellectus (humani) ad rem (creatam)“.
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Die Offenheit des Dinges, die vor jedem Urteilen vorausgesetzt wird, wird demnach im Übereinstimmungsparadigma selbst angenommen. Jedes Urteilen steht in dieser Offenheit und hält sich „je an ein Offenbares als ein solches“ (GA 9, 184). Erst aufgrund dieses Offenen kann „das Seiende als das, was es ist und wie es ist, sich eigens stellen und sagbar werden“ (GA 9, 184). Wenn die Aussage das Als eines Seienden als das, was es ist, ausspricht, dann wird das Seiende nicht durch das Urteilsvermögen konstituiert. Das Als des Seienden ist hingegen bereits erschlossen und das Urteil richtet sich nach dem bereits erschlossenen Seienden. Vor diesem Hintergrund stellt Heidegger die für das Übereinstimmungsparadigma fundamentale Frage nach dem Maßstab der Richtigkeit des Urteils. Das sich in der Offenheit haltende Verhalten muß eine Vorgabe des Richtmaßes für alles Vorstellen übernehmen. Dies gehört zur Offenständigkeit des Verhaltens. Wenn aber nur durch diese Offenständigkeit des Verhaltens die Richtigkeit (Wahrheit) der Aussage möglich ist, dann muß das, was die Richtigkeit erst ermöglicht, mit ursprünglicherem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten (GA 9, 185).
Heidegger erklärt an dieser Stelle den Stellenwert des Richtmaßes für das Urteil nicht, sondern betont lediglich, dass die ursprüngliche Offenheit selbst das Richtmaß des Urteilens bestimmt. Die Vorentdecktheit der Welt entscheidet auch das, was als Richtigkeit gilt: Wie allein kann dergleichen wie die Leistung der Vorgabe einer Richte und die Einweisung in ein Stimmen geschehen? Nur so, daß sich dieses Vorgeben schon freigegeben hat in ein Offenes für ein aus diesem waltendes Offenbares, das jegliches Vorstellen bindet (GA 9, 185).
Die Richtigkeit des Urteils hat dementsprechend das „Freisein zum Offenbaren eines Offenen“ zu ihrer Bedingung (GA 9, 186). Auf der einen Seite spielt Heidegger damit die Frage nach dem Maßstab der Richtigkeit herunter und weicht dieser Problemstellung auf. Auf der anderen Seite weist er auf die realistische Wurzel bzw. auf die inhärente Objektivität der Urteilskraft hin. Vor diesem Hintergrund betont er, dass es das Freisein zum Offenbaren ist, in dem die Fragestellung und die „Ermöglichung der Richtigkeit“ gründet (GA 9, 185). Der realistische Zug seines Wahrheitsbegriffs wird jedoch durch die Art und Weise, in der Heidegger das Freisein zum Offenbaren beschreibt, abgeschwächt, insofern er dabei die Geschichtlichkeit dieser Freiheit betont.
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C Die Freiheit zum Sinn und die Unfreiheit des Menschen Die Bedeutung der Freiheit im Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit ist ein Oxymoron. Heidegger stellt den Begriff der Freiheit nicht nur der Wahl, der Willkür und der Entscheidung entgegen, sondern erfasst darunter geradezu die Unfreiheit des Menschen in der Konstitution von Sinn. Wenn „die Freiheit […] das Wesen der Wahrheit selbst“ ist, dann bedeutet dies nichts anderes als die Tatsache, dass die Wahrheit nicht dem „Belieben des Menschen“ unterliegt (GA 9, 186). Heidegger leitet die Bedeutung des Terminus „Freiheit“ aus Verbalformen wie Freiräumen, Freigeben, Freihalten her. Dementsprechend bedeutet „Freiheit“ wesentlich „Freilassen“ – ein Terminus, den Heidegger mit dem „Seinlassen“ synonym gebraucht. Sein Freiheitsbegriff hat daher den Sinn von „Freigeben“ und „Offenbarlassen“, sie macht das Seiende in seinem Sinn zugänglich und stellt dieses zum Wahrnehmen frei: „Die Freiheit zum Offenbaren eines Offenen läßt das jeweilig Seiende das Seiende sein, das es ist. Freiheit enthüllt sich als das Seinlassen von Seiendem“ (GA 9, 188). Der Mensch lässt sich auf das Offene ein, insofern das Offene – das Unverborgene (ἀληθής) – bereits gelichtet ist. „Lichten“ bedeutet zugleich „Leichten“.⁹ Das Seiende als das, was es ist, sein- und freilassen, bedeutet, die Präsenz des Seienden zu erleichtern. Die Anwesenheit des Seienden ist insofern leicht, als sie selbstverständlich und bedenkenlos ist. Der Mensch nimmt das bereits Erschlossene mit Leichtigkeit als bereits vorhanden hin, verlässt sich auf das im Wort Erschlossene und liefert sich den vorgegebenen Bedeutungen aus.¹⁰ Der Mensch lässt die in Worten geborgenen Bedeutungen vorliegen, um einen Ausdruck dem späteren Heraklit-Aufsatz (1951) zu entnehmen, in dem Heidegger den λόγος als Vorliegenlassen auslegt. Dadurch kann allerdings der Anschein entstehen, dass das Seinlassen der Seienden in der Freiheit des Menschen bestehen würde und dass die Wahrheit „hier auf die Subjektivität des menschlichen Subjektes hinabgedrückt“ würde (GA 9, 191). Heidegger will gerade das Gegenteil behaupten: Das ursprüngliche Seinlassen steht nicht in der Verfügung der menschlichen Freiheit. Der Sinnerschlossenheit ausgesetzt zu sein, bedeutet nicht, über diese Erschlossenheit entscheiden zu können. Der leichte und bedenkenlose Umgang mit dem Seienden
Heideggers Begriff der Freiheit hängt aber auch mit der Semantik der „Lichtung“ zusammen. Die Lichtung soll nicht nur im Rahmen der Metaphorik des Lichts, sondern auch, wie David Farell Krell argumentiert hat, von „Leichten“ und „Lichten“ her verstanden werden – wie in den Ausdrucksformen „die Anker lichten“, „den Wald lichten“, d. h. freiräumen, freigeben (Krell 1986, 82). Der Mensch setzt sich, in Heideggers Worten, „dem Seienden als einem solchen aus und versetzt alles Verhalten ins Offene“ (GA 9, 189).
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verbirgt die Tatsache, dass dessen Bedeutung zuvor erschlossen sein muss. Die Subjektivierung der Wahrheit beruht indessen auf der Voraussetzung, dass die Freiheit „eine Eigenschaft des Menschen“ ist (GA 9, 184). Dagegen kommt es für Heidegger darauf an, „die Erfahrung eines verborgenen Wesensgrundes des Menschen (des Daseins)“ zu machen: Diese Erfahrung versetzt uns in den „ursprünglich wesenden Bereich der Wahrheit“ und in das „noch Unbegriffene der Entborgenheit und der Entbergung des Seienden“ (GA 9, 187– 188). Die Freiheit im Sinne der Leichtigkeit, mit welcher uns das Seiende in seiner jeweiligen Bedeutung begegnet, ist demnach für Heidegger an die Unfreiheit des Menschen gebunden. Wenn die Freiheit in der Entbergung eines übergreifenden Horizontes von Sinn besteht, d. h. in der Bestimmung des Möglichen und des Notwendigen, des Wahren und des Falschen, „dann verfügt nicht das menschliche Belieben über die Freiheit“ (GA 9, 190). Hingegen besitzt diese Entbergung den Menschen, insofern sie „einem Menschentum den alle Geschichte erst begründenden und auszeichnenden Bezug zu einem Seienden im Ganzen als einem solchen gewährt“ (GA 9, 190). Heidegger spezifiziert diesen rätselhaften Gedanken nur, insofern er auf den Zusammenhang zwischen der anfänglichen Erfahrung des Unverborgenen und der dichterischen und denkerischen Deutung desselben anspielt.¹¹ Die eigentliche Erfahrung des Unverborgenen sei zugleich eine Deutung desselben und entscheide das Maß einer Welt bzw. einer darauffolgenden Geschichte.¹² Heidegger suggeriert dahingehend: Wo die Unverborgenheit als solche erfahren wird, „beginnt Geschichte“ (GA 9, 190). Dieses gewagte Geschichtsbild Heideggers, das er an dieser Stelle nur skizziert, hat aber nicht so sehr einen deskriptiven Anspruch, sondern vielmehr eine normative Implikation, die sich für die weitere Entwicklung seines Denkens als maßgeblich erweisen wird. Heidegger ist nämlich der Auffassung, dass die Erfahrung der Unverborgenheit als solcher und in eins damit der dafür konstitutiven Dimension der Verbergung einen neuartigen, transformativen Ausdruck derselben, ja ein er-
Die Aussetzung des geschichtlichen Menschen in die Offenheit fängt laut Heidegger „in jenem Augenblick an, da der erste Denker fragend sich der Unverborgenheit des Seienden stellt mit der Frage, was das Seiende sei. In dieser Frage wird erstmals die Unverborgenheit erfahren“ (GA 9, 189). Später erfährt diese Konzeption eine Verschärfung. Im Spruch des Anaximander (1946) heißt es beispielsweise: „Denken ist das ursprüngliche dictare. Das Denken ist die Ur-dichtung, die aller Poesie voraufgeht“ (GA 5, 328). Es geht um eine „anfängliche Entbergung des Seienden im Ganzen“, welche das Offene „für jegliches Maß eröffnet“ (GA 9, 187). Das Seiende im Ganzen wird in einem Sinn verstanden, das im Nachhinein jeden Bezug auf das Offene bestimmt: „Aus der Weise, wie das ursprüngliche Wesen der Wahrheit west, entspringen die seltenen und einfachen Entscheidungen der Geschichte“ (GA 9, 188).
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neuerndes Verständnis von Sein ermöglicht und dadurch einen geschichtlichen Horizont von Sinn zu stiften vermag. Diese Auffassung Heideggers spiegelt sich in der Verbindung des Freiheitsbegriffs mit dem Bedeutungsfeld des Eigentums und des Eigenen.¹³ Obwohl Heidegger die Etymologie des deutschen Wortes „frei“ nicht erwähnt, verweist dieses auf die indoeuropäische Wurzel prāi-, prī-, „gern haben“, „schonen“, und auf das altindische priyáḥ, „eigen“, „lieb“. Das Wort „Freiheit“ ist auf das althochdeutsche frīhelsī und gotische freihals zurückzuführen, Termini die die Unantastbarkeit des Halses eines freien Menschen – frei, insofern ihm der eigene Hals gehört – ausdrücken (vgl. Pfeifer 1989, 471– 472). Obwohl Heidegger diese Etymologie nicht thematisiert, ist das Motiv des Eigenen in Vom Wesen der Wahrheit entscheidend. Die Lichtung – die originäre Sinnerschließung – bringt das Seiende zu seinem Eigenen und macht es dadurch zum Eigentum einer geschichtlichen Welt. Auch die Verbergung ist mit der Semantik des Eigenen verbunden: Einerseits ist die Verbergung das „Eigenste“ der Wahrheit; andererseits wird eine Welt durch die Verbergung geborgen, d. h. in ihrem Eigenen aufbewahrt.¹⁴ In diesem Sinne behauptet Heidegger, dass die Verborgenheit der ἀλήθεια „das Eigenste als Eigentum“ verwahrt (GA 9, 193). Diese Verbergung steht aber, genauso wie die Wahrheit, nicht in der Verfügung des Menschen.¹⁵ Weil der Mensch nur Eigentum der Freiheit ist, „deshalb kann auch das Unwesen der Wahrheit nicht erst nachträglich dem bloßen Unvermögen und der Nachlässigkeit des Menschen entspringen. Die Unwahrheit muß vielmehr aus dem Wesen der Wahrheit kommen“ (GA 9, 191).
D Die Verbergung der Offenbarkeit als Bedingung des Offenbaren Der Begriff der Verbergung wird in Vom Wesen der Wahrheit durch die Frage nach der Erkennbarkeit des übergreifenden Sinnhorizontes, der das Seiende als solches sein lässt, eingeführt. Heidegger bezeichnet diesen Sinnhorizont als das Seiende
Das Motiv des Eigenen wird für die spätere Konzeption des Er-eignisses zentral sein. Vgl. Kap. IV.3.C: „Das Ereignis als Aneignung der Verbergung“. David Farell Krell berichtet von einem Gespräch mit Heidegger über die Übersetzung des Vom Wesen des Wahrheit ins Englische. In diesem Gespräch habe Heidegger bekräftigt, dass die Verbergung von „Bergen“ (to shelter) her zu verstehen sei (vgl. Krell 1986, 91). Vgl. GW 9, 191: „Weil jedoch die Wahrheit im Wesen Freiheit ist, deshalb kann der geschichtliche Mensch im Seinlassen des Seienden das Seiende auch nicht das Seiende sein lassen, das es ist und wie es ist. Das Seiende wird dann verdeckt und verstellt. Der Schein kommt zur Macht“.
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im Ganzen: „Jedes Verhalten des Menschen ist, ob betont oder nicht, ob begriffen oder nicht, gestimmt und durch diese Stimmung hineingehoben in das Seiende im Ganzen“ (GA 9, 192). Das Seiende im Ganzen bedeutet dabei nicht die Summe allen bekannten Seienden, sondern als unzerlegbare Totalität die semantische, weder subjektiv noch objektiv zu deutende Offenbarkeit des Seienden. Seiendes ist offenbar, insofern diese Offenbarkeit sinnhaft ist. Die Vertrautheit mit dem Offenbaren übersieht aber das Faktum der Offenbarkeit oder, genauer gesagt, die Sinnhaftigkeit dessen, was ist. Dieses Übersehen ist sogar eine Bedingung der Tatsache, dass das Seiende als Seiendes erscheint. Denn Seiendes ist, wenn es selbstverständlich erscheint. Und dies bedeutet, dass die Sinnhaftigkeit des Seienden erst in dieser Selbstverständlichkeit tatsächlich wirksam ist. Die Offenbarkeit des Seienden wirkt und waltet „wesentlicher“ gerade dort, „wo für den Menschen das Seiende wenig bekannt und durch die Wissenschaft kaum und nur roh erkannt ist“ (GA 9, 192). Dort, wo die „Betriebsamkeit des Kennens“ und die „technische Beherrschbarkeit der Dinge“ zum Maßstab des menschlichen Verhaltens geworden sind, wird die Offenbarkeit des Seienden ganz übersehen (GA 9, 192). Die Offenbarkeit verflacht sich „gerade im Platten und Glatten des Alleskennens und Nurkennens“ (GA 9, 192). Dadurch suggeriert Heidegger, dass, wenn das Offenbare im Bekannten verborgen wirkt, es im Erkannten vergessen wird. Die Vergessenheit des Seienden im Ganzen ist auf eine konstitutive Verbergung der Offenbarkeit zurückzuführen. Es handelt sich nicht um eine Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, sondern um eine Verbergung des Seienden im Ganzen. Gerade indem das Seinlassen im einzelnen Verhalten je das Seiende sein läßt, zu dem es sich verhält, und es damit entbirgt, verbirgt es das Seiende im Ganzen (GA 9, 193).
Das Seinlassen hat hier einen transzendentalen Stellenwert und bezeichnet das Geschehen von Sinn. Es ist kein subjektiver Akt, der anders verlaufen könnte, sondern der Akt der Erschließung von Sinn als solcher verbirgt zugleich die Erschlossenheit von Sinn. Wie ist aber dieses Zugleich der Entbergung und der Verbergung zu begreifen, wenn nicht als „ein Herbeizerren gewaltsam ausgedachter ‚Paradoxa‘“ (GA 9, 194)? Um das von Heidegger gedachte Zugleich von Entbergung und Verbergung nachvollziehen zu können, ist es entscheidend, das, was sich in der Erscheinung von Sinnzusammenhängen verbirgt, zu präzisieren. In der unmittelbaren Bestimmtheit von etwas als etwas könnten sich beispielsweise die Bedingungen dieser Bestimmtheit oder die bestimmenden Kategorien bzw. die eingebundenen begrifflichen Bestimmungen verbergen. Heideggers Verbergungsbegriff bezieht
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sich aber weder auf die Bedingungen der Konstitution von Sinn noch auf die impliziten Begriffsbestimmungen eines einzelnen Sinngehaltes. Worauf Heidegger indessen aufmerksam macht, ist das Faktum des Sinngeschehens selbst, das in der unmittelbaren Erfahrung einer Sinngestalt zurücktritt. Ein bestimmtes Seiendes wird als Seiendes wahrgenommen, insofern sich die Tatsache, dass es ein Sinngeschehen ist, verbirgt. Damit geht für Heidegger einher, dass die eigentümliche Sinnkonstitution des Seienden nicht als solche erfahren, sondern – etwa als subjektive Bestimmung oder vorhandene Eigenschaft – missverstanden wird. Die so verstandene Verbergung zeigt sich darin, dass Seiendes als Gegebenes und Vorhandenes wahrgenommen wird. Im selbstverständlichen Umgang mit Seiendem hält sich der Mensch „im Gangbaren und Beherrschbaren“ (GA 9, 195). Obwohl es auch im Gangbaren „Rätsel, Unaufgeklärtes, Unentschiedenes, Fragliches“ gibt (GA 9, 195), wird all das, so Heidegger, nur als Ausnahme und als Vorstufe zum Zugänglichen erfasst. Die Verbergung wird immer wieder überspielt durch die „Umgetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin zum Gangbaren“ (GA 9, 196). Sich hingegen am Geheimnis aufzuhalten, bedeutet aber keine Anerkennung eines Unerkennbaren. Heideggers Rede vom Verborgenen hat nicht das Ziel, ein Unverfügbares zu hypostasieren oder auf die Grenze der menschlichen Erkenntnis hinzuweisen. Im Gegenteil: Als epistemologische Grenze wird die Verbergung gerade dort verstanden, wo sie missverstanden wird: Wo die Verborgenheit des Seienden im Ganzen nur wie eine zuweilen sich meldende Grenze beiher zugelassen wird, ist die Verbergung als Grundgeschehnis in der Vergessenheit versunken (GA 9, 195).
Wenn das Verborgene kein unverfügbares Agens, sondern das Dass des Sinngeschehens ist, dann vertieft die Vergessenheit der Verbergung die Starrheit und die Selbstgenügsamkeit einer konstituierten Welt. Die Tatsache, dass sich das Sinngeschehen als solches verbirgt, impliziert, dass der Möglichkeitscharakter von Sinnzusammenhängen ignoriert wird. Wenn der Mensch die eigene Welt nicht als eine mögliche Welt erfährt, wird er von ihrer Botmäßigkeit beherrscht. Der Mensch übernimmt Zwecke, die er selbst nicht gesetzt hat und deren Herkunft er nicht hinterfragt. Auf diese Weise wird der Mensch, mit Heideggers Worten, „dem Walten des Geheimnisses (…) unterworfen“ (GA 9, 197). Diese Vergessenheit werde noch durchgreifender, wenn der Mensch sich einbildet, dass die Wirklichkeit vom Subjekt gesetzt sei.¹⁶ Dies ist Heideggers zentraler Kritikpunkt am technischen Vgl. GA 9, 193: Der Mensch „vermißt sich, je ausschließlicher er sich selbst als das Subjekt für alles Seien zum Maß nimmt“.
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Weltverständnis in Die Frage nach der Technik (1953): Der Irrtum des technischen Zeitalters bestehe darin, dass die Welt nicht als eine mögliche Welt, sondern als die einzige Wirklichkeit angenommen wird, weswegen die Maßstäbe und die Richtlinien der so erschlossenen Welt nicht in Frage gestellt, sondern aufgrund der Einbildung der Selbstgesetzgebung in ihrer Vorherrschaft bekräftigt werden. Die „Herrschaft“ der Technik, die Heidegger als eine Konstellation von Vorschriften und Maßregeln wie dem Produktivitätszwang, der Effizienz und der Messbarkeit versteht, belegt für ihn die Tatsache, dass die Auswirkungskraft einer bereits bestimmten Welt sich gerade der dem Sinngeschehen konstitutiven Verbergung verdankt.¹⁷ Die Verbergung der Sinnerschlossenheit geht mit der Vergessenheit dieser Verbergung einher. Heidegger denkt diese zwei Momente zusammen und führt die Seinsvergessenheit auf die strukturelle Verbergung im Sinngeschehen zurück. Was im Gangbaren und Zugänglichen vergessen wird, wie er sich ausdrückt, ist gerade die Verflechtung von Entbergung und Verbergung. An einer zentralen Stelle schreibt Heidegger: „Die Verborgenheit versagt der ἀλήθεια das Entbergen und läßt sie noch nicht als στέρησις (Beraubung) zu, sondern bewahrt ihr das Eigenste als Eigentum“ (GA 9, 193). Der Begriff der ἀλήθεια bedeutet nicht die reine Erschlossenheit von Sinn, sondern er drückt gerade die der Erschlossenheit konstitutive Verbergung aus. Die Verbergung in der Erschließung von Sinn liegt daher nicht nur darin, dass das Sinngeschehen nicht als solches erfahren wird, sondern auch darin, dass der Verbergungscharakter des Sinngeschehens – die στέρησις – übersehen wird. Deshalb ist die Vergessenheit der ἀλήθεια zugleich eine Vergessenheit der dem Sinngeschehen konstitutiven Dimension der Verbergung. Die Aufgabe, die Verbergung als solche zu begreifen, ist Heideggers zentrales Anliegen in Vom Wesen der Wahrheit. Dafür wird einerseits eine Denkhaltung erfordert, die das Sinngeschehen als fragwürdig erfährt und so den Möglichkeitscharakter einer Welt entdeckt.¹⁸ Der gemeine Verstand beruft sich indessen „auf die Fraglosigkeit des offenbaren Seienden“ und irrt so in die „Vergessenheit der Verbergung“ (GA 9, 199). Andererseits ist Wiedererinnerung der Verbergung nicht bloß eine philosophische Einsicht, sondern sie hat auch eine normative Implikation: Die Verbergung soll als solche in der Konstitution von Sinn walten
Von Herrmann beschreibt ebenfalls die jeder Welterschließung inhärente Verbergung als ein Vergessen der Tatsache, dass jede Entbergung „eine endliche Weise der Entbergung [ist], in der das Seiende im Ganzen hinsichtlich möglicher anderer Entbergungsweisen verborgen bleibt“ (Von Herrmann 2002, 146 – 147). Vgl. GA 9, 198: „Der Ausblick in das Geheimnis aus der Irre ist das Fragen im Sinne der einzigen Frage, was das Seiende als solches im Ganzen sei“.
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gelassen werden. Heidegger schreibt diesbezüglich: „Die Ansässigkeit im Gängigen ist aber in sich das Nichtwaltenlassen der Verbergung des Verborgenen“ (GA 9, 195). Was ist aber die Implikation dieser Aufrechterhaltung der Verbergung für den Umgang mit Seiendem? Ein einziger textueller Hinweis dahingehend lautet: „Das Seinlassen des Seienden als eines solchen im Ganzen geschieht aber wesensgerecht erst dann, wenn es zuweilen in seinem anfänglichen Wesen übernommen wird“ (GA 9, 198). Hier suggeriert Heidegger, dass das Wissen um die Verbergung – bzw. um das Wesen des Seinlassens – das Geschehen von Sinn „wesensgerecht“ – d. h. als das, was es immer schon ist – geschehen lässt (Vgl. Kap. IV.3.A: „Das Wissen um die Verbergung“). Die Aufgabe des Denkens, die Verbergung als solche zu erfahren und aufzubewahren, stößt jedoch auf eine Paradoxie, die Heidegger am Ende des Vortrages formuliert: Weil aber das volle Wesen der Wahrheit das Unwesen einschließt und allem zuvor als Verbergung waltet, ist die Philosophie als das Erfragen dieser Wahrheit in sich zwiespältig. Ihr Denken ist die Gelassenheit der Milde, die der Verborgenheit des Seienden im Ganzen sich nicht versagt. Ihr Denken ist zumal die Ent-schlossenheit der Strenge, die nicht die Verbergung sprengt, aber ihr unversehrtes Wesen ins Offene des Begreifens und so in ihre eigene Wahrheit nötigt (GA 9, 197).
Das philosophische Denken ist in einer Zwiespältigkeit gefangen: Einerseits soll es die Verbergung als solche aufrechterhalten; anderseits soll es die Verbergung mit der Strenge des Begriffs erschließen. Das Begreifen enthält aber für Heidegger die Gefahr der Aufhebung, die das Geheimnis der Verbergung auflösen würde. Denn insofern die Verbergung an den Tag gebracht bzw. entborgen wird, verliert sie ihren Entzugscharakter. Umgekehrt aber: Sich dem Geheimnis auszuliefern, riskiert den Verzicht auf die Strenge des Begriffs und das Hineinfallen in reines Staunen. Ob das philosophische Denken die Verbergung aufrechtzuerhalten vermag, ohne sie als einen rätselhaften Ursprung anzusehen, und ob es die Verbergung begrifflich erfassen kann, ohne sie aufzuheben, bleibt nach dem Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit ein entscheidendes Dilemma für das ganze heideggersche Werk. Dieses Dilemma wird sowohl Heideggers Auseinandersetzung mit Hegel als auch seine Kritik am Begriff motivieren. Heidegger wird die festlegende Funktion des Begriffs allmählich stärker betonen, insofern das Begreifen der Absicherung einer zur Präsenz gebrachten Erkenntnis – etwa der Verbergung – dient und so die Selbstgenügsamkeit eines selbstgewissen Subjektes und die bestehenden Koordinaten des Verstehens verfestigt. Stattdessen wird Heidegger andere sprachliche Formen suchen, um auf die verborgenen Schichten von Sinn, die begrifflich nicht aufgehen, obwohl sie in Worten enthalten sind, hinzuweisen.
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Die Art und Weise, in der Heidegger die Konstitution von Sinn im Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36) artikuliert, und die Bedeutung, welche die Verbergung in diesem Aufsatz übernimmt, zeigen auf, wie Heidegger den Stellenwert des Begriffs für das menschliche Verstehen von Welt graduell verringert – einerseits dadurch, dass das geschichtliche Subjekt depotenziert wird, zugunsten eines Prinzips der Erde, dem der endliche Mensch überantwortet wird; andererseits dadurch, dass Heidegger gegen die Rolle des Begriffs in der Artikulation unseres Weltverständnisses die Dichtung als eigentliches und stiftendes Prinzip der Sprache darlegt.
2 Die Translatio der Erde in die Welt A Die neue Auffassung der Welt Unter dem Vorwand, das Wesen der Kunst zu problematisieren, erörtert Heidegger im Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36) die Frage nach der Entstehung von Sinn. Die in Sein und Zeit behandelte Frage nach der Konstitution der Welt wird hier als Frage nach der Herkunft welthafter Dinge umformuliert. So beginnt die Abhandlung mit der Frage nach dem Wesen des Dinges. Der Gedankengang soll das Dinghafte „aus dem Werkhaften“ bestimmen und „über das Werk zum Ding“ kommen (GA 5, 25). Die Kunst erweist sich daher nicht nur als ein besonderer Bereich von Gegenständen oder als eine besondere Weise des Wahrheitsgeschehens, sondern sie ist vielmehr der ausgezeichnete Ort, an dem offenbar wird, was ein Ding als solches ist. Die Kunst steht somit für das Ganze des Sinngeschehens.¹⁹ Heideggers Analyse des Kunstwerkes fängt mit der Frage an, wie ein Ding über seine materielle Dinghaftigkeit hinaus die Bedeutung hat, die es hat. Die dafür zuständigen, traditionellen Erklärungsparadigmen – (1) das Ding als Eigenschaftsträger, (2) das Ding als Einheit von mannigfaltigen Empfindungen und (3) das Ding als geformter Stoff – rekurrieren laut Heidegger auf das Muster des Zeugs. Insofern er diese Grundannahme, wonach Dinghaftigkeit von Zeughaftigkeit her zu fassen sei, kritisiert, distanziert sich Heidegger von seiner eigenen Vorgehensweise in Sein und Zeit, wo er die Weltbedeutsamkeit vorwiegend am Leidfaden der Zuhandenheit begreift.
Die zwei Aspekte des Kunstwerkes, einerseits Stellvertreter des Ganzen zu sein, andererseits eine ausgezeichnete Erschließungsweise der Wahrheit darzustellen, steht von vornherein mit Hegels These in Kontrast, das Kunstwerk sei nur ein Ort der Erschließung der Idee, deren angemessene Darstellung aber der Begriff sei. Vgl. dazu Gadamer 1960.
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Dadurch verschiebt sich Heideggers Programm, die Konstitution der menschlichen Welt aufzuklären – eine Verschiebung, die am Sprachregister offenbar ist. So heißt es im Ursprung des Kunstwerkes, dass die Welt von wesenhaften Entscheidungen, die im Werk und im Wort getroffen werden, bestimmt wird. Es wird nämlich über „Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall“ entschieden (GA 9, 28). Das Wort und das Werk stellen zur Entscheidung, „was heilig und was unheilig“, was „würdig“, „groß“ und „edel“, oder eben „klein“ und „flüchtig“ ist (GA 5, 29). Durch diese Entscheidungen werden „das Rechte“ und das „weisende Maß“ bestimmt (GA 5, 30). Das bedeutsame Seiende ist somit im Kunstwerkaufsatz weit entfernt vom Bereich des Zuhandenen. Die Welt geht nicht mehr in der Zweckmäßigkeit der gegenständlichen Erfahrungswelt auf, sondern der hier von Heidegger anvisierte Sinnhorizont ist, kantisch gesehen, dem Bereich der regulativen und der ästhetischen Ideen näher. Das Rechte, das Heilige und das Würdige sind regulative Kategorien des menschlichen Ethos. Die Herausforderung des Ursprungs des Kunstwerkes liegt in der Verbindung der menschlichen Welt – sogar ihrer Herkunft – mit dem Begriff der Erde: „Erde durchragt nur die Welt, Welt gründet sich nur auf die Erde“ (GA 5, 42). Heidegger fordert am Ende der Abhandlung, dass „die Auslegung des Dinghaften der Dinge (…) auf die Zugehörigkeit des Dinges zur Erde gehen“ soll (GA 5, 57). Die Erde bedeutet hier nicht bloß die materielle Grundlage der Dinge, sondern sie sei „das alles Tragende“ (GA 5, 50). Wie im Folgenden gezeigt wird, kann Heideggers Begriff der Erde auf zwei Weisen gedeutet werden: (1) Die Erde ist für die menschliche Welt insofern prägend, als eine menschliche Welt auf einer bestimmten Auffassung der Erde beruht; (2) Die Erde prägt die Konstitution der menschlichen Welt, insofern sie eine eigentümliche Gesetzmäßigkeit hat, welche den Rahmen für die mögliche Entwicklung der Welt bildet.²⁰ Die Auffassung der Erde als einer unergründlichen Anordnung des Sinns vor der sprachlichen Welterschlossenheit wäre ein Stiftungsmythos.²¹ Heidegger mildert den Eindruck einer Ursprünglichkeitsnostalgie dadurch, dass er die Spannung zwischen Erde und Welt hervorhebt und vor allem die These vertritt, dass die Erde als solche erst und allein in einer Welt erschlossen wird. Erst das Werk – und, wie es sich letztlich erweist, das Wort – „lässt die Erde eine Erde sein“ (GA 5, 32). Vor diesem Hintegrund gibt es keinen Sinngehalt der Erde vor und jenseits ihrer sprachlichen, weltimmanenten Erschließung. Selbst wenn die Erde
So behauptet Heidegger beispielsweise: Die Erde „trachtet, tragend-aufragend sich verschlossen zu halten und alles ihrem Gesetz anzuvertrauen“ (GA 5, 51). Zum romantischen Einfluss auf diese Konzeption Heideggers vgl. Vandevelde 2012.
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in der Konstitution der menschlichen Welt mitbestimmend ist, kann sie nicht ohne eine Welt zum Tragen kommen: „Gewiß steckt in der Natur ein Riß, Maß und Grenze und ein daran gebundenes Hervorbringenkönnen, die Kunst. Aber ebenso gewiß ist, daß diese Kunst in der Natur erst durch das Werk offenbar wird, weil sie ursprünglich im Werk steckt“ (GA 5, 58). Trotzdem ist der Vorrang der Ursprünglichkeit in Heideggers Abhandlung offensichtlich. Die Erde ist auch eine Metapher für die anfängliche Bedeutung der Dinge, denn im Anfang sind die Dinge ihrer eigentlichen Bedeutsamkeit näher, so Heideggers Gedanke. Die Kunst soll die Erfahrung der ursprünglichen Bedeutsamkeit der Dinge ermöglichen und auf Dauer stellen: Die Dinge erscheinen im Kunstwerk „einfacher“, „wesentlicher“, „ungeschmückter“, „reiner“ (GA 5, 43). Damit wird alles Seiende „unmittelbarer und einnehmender“ und „das sichverbergende Sein gelichtet“ (GA 5, 43). Im Folgenden werden zuerst die Paradigmen des Dingseins, die Heidegger im Kunstwerkaufsatz kritisch behandelt, dargestellt. In einem zweiten Schritt wird auf Heideggers zwei Kunstwerk-Beispiele und auf ihr Verhältnis mit der Wahrheit bzw. mit der Entstehung von Sinn eingegangen. Im dritten Schritt soll versucht werden, die verwickelte Bedeutung der Erde für die Konstitution von Welt zu verdeutlichen.
B Dinghaftigkeit und Bedeutsamkeit Wenn in Sein und Zeit das Weltbedeutsame vorwiegend vom Zuhandenen her gedacht wird und das semantische Netz der menschlichen Welt als eine Konstellation von instrumentell-praktischen Verweisungen erscheint, signalisiert Heidegger bereits in Vom Wesen des Grundes (1929), dass diese Bestimmung der Welt unzureichend ist, und assoziiert den Weltbegriff mit dem kantischen Vernunftbegriff und mit Platons Idee des Guten (τό ἀγαθόν).²² Der Ursprung des Kunstwerkes greift dieses Problem wieder auf und versucht, die Bedeutsamkeit der weltlichen Dinge vom Charakter des Kunstwerks her zu denken. Ein Kunstwerk scheint zunächst ein vorhandenes Ding zu sein, dem noch etwas Anderes – eine zusätzliche Eigenschaft – anhaftet: „Dieses Andere, was daran ist, macht das Künstlerische aus“ (GA 5, 4). So wird das Kunstwerk gewöhnlich als Allegorie erfasst, insofern es Anderes offenbart (ἄλλο ἀγορεύει) – oder als Symbol, insofern es im Ding noch Anderes zusammenbringt (συμβάλλειν). Diese Auffassung des Kunstwerkes hat laut Heidegger ihre Voraussetzung in
Vgl. Kap II.2.3.B: „Was alles welthaft ist: Das Zuhandene und das Gute“.
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der Auffassung des Dinges als Unterbau, welchem zusätzliche Eigenschaften anhängen. Selbst die Auffassung der Kunst als ästhetische Erfahrung stützt auf dieselbe Voraussetzung: Das Kunstwerk sei ein Ding, dessen zusätzlich künstlerischer Charakter im betrachtenden Subjekt besteht. Die Natur der Kunst lässt sich erst dann erhellen, wenn zuerst die Dinghaftigkeit des Kunstwerkes erklärt wird. Heidegger unterscheidet in der Geschichte der abendländischen Philosophie drei fundamentale Paradigmen zur Natur des Dinges: (1) Das Ding als Träger von Eigenschaften. Das Ding gilt in dieser Tradition als τὸ ὑποκείμενον, „das zum Grunde und immer schon Vorliegende“ (GA 5, 7), um welches herum sich Eigenschaften versammeln. In der römischen Übersetzung wird dieser Begriff des Dinges als subiectum übersetzt.²³ Das Ding als subiectum besteht aus substantia und accidens. Dadurch entspricht es der Struktur des Aussagesatzes, die aus Subjekt und Prädikat besteht. So scheint das Ding vom Urteil her definiert zu werden. Die logische Definition scheint aber das Ding zu überfallen, sie „tut dem Dinghaften der Dinge Gewalt“ an – so „unser Gefühl“ (GA 5, 9). Aufgrund dieser Unzufriedenheit entwickelt sich die moderne, empiristische Deutung des Dingseins, deren Ausformulierung Heidegger der kantischen Philosophie zuschreibt. Diese Deutung beruft sich auf die angesprochene, ironisch eingeführte Gefühlsamkeit: Ist das Gefühl nicht vernünftiger und vernehmender, „weil dem Sein offener als alle Vernunft“ (GA 5, 9)? (2) Das Ding als Einheit einer Empfindungsmannigfaltigkeit bzw. als αἰσθητόν, „das in den Sinnen der Sinnlichkeit durch die Empfindungen Vernehmbare“ (GA 5, 10). Diese Auffassung der Dinghaftigkeit entspricht Kants Theorie der synthetischen Konstitution des Gegenstandes aus mannigfaltig sinnlich Gegebenem. Heidegger kritisiert die dabei vorausgesetzte Sequentialität vom sinnlich Gegebenen zum synthetisierten Gegenstand.Wir vernehmen niemals „einen Andrang von Empfindungen, z. B. Töne und Geräusche, sondern wir hören den Sturm im Schornstein pfeifen, wir hören das dreimotorige Flugzeug (…). Viel näher als alle Empfindungen sind uns die Dinge selbst“ (GA 5, 10). Wir nehmen Dinge nicht wahr, weil wir vorerst Farben und Formen empfinden, sondern wir nehmen immer schon Farben und Formen als einem Ding zugehörig wahr. Obwohl die empiristische Auffassung das Ding „in eine
Heidegger merkt dazu an: „die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit diesem Übersetzen“ (GA 5, 8).
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größtmögliche Unmittelbarkeit“ zu bringen versucht, verschwindet im Primat der Empfindung das Ding selbst.²⁴ (3) Das Ding als geformter Stoff. Diese Auffassung geht davon aus, dass der Stoff (ὕλη) der Dinge immer schon geformt ist (μορφή). Der Ton und die Farbe, die Härte und die Masse gehören immer schon in einen bedeutsamen Zusammenhang hinein. Diese Konzeption beruft sich so „auf den unmittelbaren Anblick, mit dem uns das Ding durch sein Aussehen (εἶδος) angeht“ (GA 5, 11). Das Stoffliche gehört immer schon einem Gegenstand an und soll das Wesen des Gegenstandes konkretisieren, d. h. diesem nützlich sein. Der Zwecksinn des Gegenstandes bestimmt so auch die Wahl und die Formung des Stoffes. Ein derart verstandenes Ding ist allerdings ein Zeug: „Dienlichkeit ist jener Grundzug, aus dem her dieses Seiende uns anblickt“ (GA 5, 13). Die Unterscheidung von Stoff und Form ist laut Heidegger „das Begriffsschema schlechthin für alle Kunsttheorie und Ästhetik“ (GA 5, 12). Denn das Werk selbst wird als „Erzeugnis einer Anfertigung“ gedacht (GA 5, 13) – somit als ein von menschlicher Hand Hergestelltes. Sowohl das Zeug als auch das Kunstwerk stehen im Gegensatz zu dem „eigenwüchsigen und zu nichts gedrängten bloßen Ding“ (GA 5, 14). Während die Selbstgenügsamkeit des bloßen Naturdings auch das Kunstwerk charakterisiert, sind für uns „die nächsten und eigentlichen Dinge“ die Gebrauchsdinge (GA 5, 14). Das Zeug erscheint als halb Ding und halb Kunstwerk und hat dadurch „eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen dem Ding und dem Werk“ (GA 5, 14). Die Zwischenstellung des Zeugs lässt es als Maßgabe alles Seienden fungieren. Das Stoff-Form-Gefüge wird auf das Ganze des Seienden übertragen und dieses wird als „Geschaffenes“ und „Angefertigtes“ erfasst (GA 5, 14). Selbst wenn der Schöpfungsgedanke im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit kraftlos wird, wird das Paradigma der „Anschauung der Welt nach Stoff und Form“ behalten (GA 5, 15). Das Paradigma des angefertigten, zweckmäßigen Dinges liegt so „allem unmittelbaren Erfahren des Seienden“ zugrunde (GA 5, 16). Gegen das vorherrschende Zeug-Paradigma schlägt Heidegger vor, das Ding „auf sich beruhen [zu] lassen“ (GA 5, 16). Dies ist „das Schwerste“, weil, sobald man sich dem Seienden zukehrt, man auf „Sichzurückhalten des bloßen Dinges“ stößt (GA 5, 16). In der Verschlossenheit der Dinge erkennt Heidegger das Charakteristikum der Erde. Was ein Ding eigentlich ausmacht, geht, wie Heidegger es am Beispiel der von Van Gogh gemalten Bauernschuhe zeigen will, über das
Vgl. GA 5, 11: „Während die erste Auslegung des Dinges uns dieses gleichsam vom Leibe hält und zu weit wegstellt, rückt die zweite es uns zu sehr auf den Leib“.
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Vorhandensein und die Zweckmäßigkeit eines Dinges hinaus und verweist auf eine verschwiegene Prägung der Erde.
C Das Bild und der Tempel Im Kunstwerk wird, so Heidegger, „die Eröffnung des Seienden in seinem Sein: das Geschehnis der Wahrheit“ sichtbar (GA 5, 24). Die Wahrheit – hier als Konstitution von Sinn zu verstehen – kann im Kunstwerk auf zweierlei Art geschehen: einerseits als erstmalige Stiftung eines geschichtlichen Sinnhorizontes und andererseits als Enthüllung einer bereits erschlossenen Welt. Diese Ambiguität betrifft auch den Genitiv im Ausdruck „das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“, wodurch Heidegger die Hauptfunktion des Kunstwerkes beschreibt. Der Ausdruck kann einerseits besagen, dass eine bereits erschlossene Wahrheit im Werk dargestellt wird, andererseits andeuten, dass Wahrheit durch das Werk hervorgerufen wird. In Van Goghs Bild Ein Paar Schuhe kommt zum Vorschein, so Heideggers Interpretation, „was das Zeugsein des Zeuges in Wahrheit ist“ (GA 5, 18). In seiner kurzen Auslegung des Bildes konturiert Heidegger die Wahrheit der Bauernschuhe, die er im Bild erkennt, durch folgende Metapher: „die Mühsal der Arbeitsschritte“; „die Einsamkeit des Feldweges“; „der verschwiegene Zuruf der Erde“, „ihr stilles Verschenken“ und „ihr unerklärtes Sichversagen“; „das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes“; „das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes“ (GA 5, 19). Heidegger schließt seine Ausdeutung ab: „Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt ist es behütet“ (GA 5, 19). Die Metaphern deuten darauf hin, dass die Konstitution der menschlichen Welt auf die Koordinaten der Erde bzw. auf die Rahmen des natürlichen Umfeldes angewiesen ist. Die beschriebene Lebenswelt ist nicht ein rein subjektives Konstrukt, das in einem bedeutungsleeren Raum Gestalt annimmt, sondern sie liegt an der Schnittstelle zwischen der Objektivität natürlicher Phänomene und der subjektiven Erfahrung derselben. Für diesen Gedanken gibt Heidegger ein Beispiel in der Vorlesung über Aristoteles‘ Begriff der Kraft (1931), wo er die These kritisiert, dass unsere Naturerfarung allein in der Übertragung subjektiver Erlebnisse auf die Objekte besteht: Es ist nicht willkürlich, so Heideggers Andeutung, dass wir „eine Landschaft heiter, die andere schwermutig nennen; dann gilt es zu fragen, wie denn die Objekte selbst vor der übertragenden Erfassung und Einfühlung solcher Stimmung gegeben sind, welches ihr Objektcharakter sei, daß sie eine solche Übertragung fordern“ (GA 33, 76). Am Ende seiner Interpretation des Van-Gogh-Bildes bezeichnet Heidegger die Wahrheit des Zeugs als „Verläßlichkeit“ (GA 5, 19). Der Ausdruck soll suggerieren, dass die Bäuerin – die Besitzerin der Schuhe – um ihre eigene Welt „ohne Be-
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obachten und Betrachten“ weiß (GA 5, 19). So sei „die Bäuerin durch dieses Zeug eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde“ (GA 5, 19). Der „schweigende Zuruf“ bezieht sich auf die Anforderungen der Agrarwirtschaft, die beispielsweise von den Jahreszeiten abhängig ist.²⁵ Wenn Heidegger in den Ritualen der Agrarwirtschaft die „Geborgenheit“ „der einfachen Welt“ erkennt (GA 5, 20), dann interpretiert er das Eintauchen in die betreffende Lebenswelt als Nähe zur Erde, gerade weil die theoretische Leistung eines normativitätsgebenden Subjektes ausbleibt. Daher ist es abgesehen von der Poetisierung und Romantisierung der agrarischen Lebenswelt von Belang, dass Heidegger diese archaische Welt mit der modern-technischen Welt und der Vorrangstellung der Zweckmäßigkeit kontrastiert. Die agrarische Lebenswelt ist vor jedem zweckmäßigen Bezug auf Dinge von Verlässlichkeit geprägt. Die Dienlichkeit des Zeugs wird erst dann sichtbar, wenn es abgenutzt und verbraucht wird. So erweckt die Abnutzung des Dinges den Anschein, „der Ursprung des Zeuges liege in der bloßen Anfertigung, die einem Stoff eine Form aufprägt“ (GA 5, 20). Wenn die Abnutzung des Zeuges die Verlässlichkeit verschwinden lässt, dann vergleicht Heidegger dieses Phänomen mit der Entwicklung des Dingparadigmas in der abendländischen Geschichte: Wenn die Verlässlichkeit verschwindet und das Ding in seiner reinen Zweckmäßigkeit auftritt, dann gewöhnt sich der Mensch allmählich das Nutzverhalten an und die Bedeutsamkeit der lebensweltlichen Dinge wird graduell auf ihre Funktionalität reduziert, so Heideggers Andeutung. Das Bild von Van Gogh bringt die einfache Lebenswelt des Ackerbaus zum Vorschein. Im Fall des griechischen Tempels – das andere Beispiel, das Heidegger in Kunstwerkaufsatz anführt – handelt es sich hingegen um eine Sinnstiftung. Der griechische Tempel repräsentiert nicht nur ein Kunstwerk, das Wahrheit erschließt, sondern ein Werk, das Wahrheit vielmehr gründet. Die Wahrheit ist dabei im Sinne des Wahrheitsaufsatzes (1930) als die „Unverborgenheit des Seienden (das Seyn)“ zu verstehen – als der grundlegenden Sinnhorizont, der das Seiende in seiner geschichtlichen Bedeutung erscheinen lässt: „Nicht nur das, wonach eine Erkenntnis sich richtet, muß schon irgendwie unverborgen sein, sondern auch der ganze Bereich, in dem dieses ‚Sichrichten nach etwas‘ sich bewegt“ (GA 5, 39). Der griechische Tempel stiftet und trägt eine menschliche Welt. Der Tempel sammelt um sich die Bezüge, „in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines
So schwingt im Schuhzeug „der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Sichverschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes“ mit (GA 5, 19).
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Geschickes gewinnen“ (GA 5, 28). Die Stiftungsfunktion des Tempels besteht vor allem darin, dass er die Götter anwesend sein lässt. Der Tempel kann eine Welt tragen, „so lange als der Gott nicht aus ihm geflohen ist“ (GA 5, 29). Der Tempel „umschließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk“ (GA 5, 27). Die Metapher suggeriert, dass Sinn durch ein Geschehen der Verbergung entsteht, wobei das Verborgene in der Konstitution von Sinn das Bestimmende ist (vgl. Kap. IV.2.B: „Verbergung als Sinngestaltung“). Die Götter werden in der Säulenhalle des Tempels verborgen und verleihen dadurch dem Tempel Bedeutung. Die Götter können aber nicht nur im Tempel, sondern auch im „Sprachwerk“ wohnen. In der Tragödie stellt das Wort zur Entscheidung, „was heilig und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht“ ist (GA 5, 29). Das Werk lässt eine Welt entstehen, insofern es „das Heilige als Heiliges eröffnet“ (GA 5, 30). Wenn die Götter – der Bereich dessen, was als heilig fungiert – das Maß einer Welt bestimmen (GA 5, 32), dann wäre eine gottlose Welt eine weltlose Welt. In diesem Sinne spricht Heidegger vom „Weltentzug“ und „Weltzerfall“ (GA 5, 26). Dies geschehe dann, wenn Kunstwerke in Museen gesammelt und vorgestellt werden. Die lebendige Grundlage einer Welt verschwindet im Museum, weil die Götter aus dem so Dargestellten bereits entflohen sind. Dies bedeutet nicht, dass es ohne Götter keine Sinnerschlossenheit gibt. Im Gegenteil: „Auch das Verhängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt weltet“ (GA 5, 31). Eine Welt ohne Heiliges ist immer noch eine Welt – wenn auch eine heillose.²⁶ Das Entscheidende dabei ist, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, dass die von Heidegger angesprochene Heillosigkeit nicht nur mit der Abwesenheit der Götter, sondern auch mit einem bestimmten Verhältnis des Menschen zur Erde zusammenhängt. Das Beispiel des griechischen Tempels soll aufzeigen, dass erst eine Welt die Erde als solche erschließt. Erst der Tempel zeigt „den Sturm selbst in seiner Gewalt“, bringt „die Weite des Himmels und die Finsternis der Nacht“ und lässt den Baum, das Gras, den Adler und den Stier „allererst hervorkommen“ (GA 5, 28 – 32). Die Erschließung der Erde durch die Welt bezeichnet Heidegger als „Herstellen“, wobei das Herstellen „im strengen Sinne des Wortes zu denken“ ist (GA 5, 32). Der Gedanke, dass die Welt die Erde herstellt, deutet nicht nur an, dass die Welt die Erde in einer bestimmten Bedeutung erscheinen lässt, sondern auch, dass die Welt selbst dieses semantische Potenzial aus der Erde schöpft – dass das, was die
Zum Thema des Heillosen vgl. Heideggers Nietzsches Wort Gott ist tot (1943), GA 5, 209 – 268; Wozu Dichter (1946), GA 5, 269 – 320.
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Welt als Erde hervorbringt, aus der Erde selbst herkommt. Obwohl das Aufgehen (φύσις) der Erde nur aufgrund der Welt möglich ist, lichtet dieses Aufgehen „zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde“ (GA 5, 28). Die so verstandene Erde ist die Dimension, woraus die erschließende Welt selbst entspringt: „Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende“ (GA 5, 28). Die Erde umfasst für Heidegger nicht nur die Bäume und Wälder, den Himmel und das Meer, die in ihrer Bedeutsamkeit im Rahmen einer Welt erschlossen werden, sondern sie bezeichnet auch die Dimension, woraus diese Naturerscheinungen als semantische Phänomene erst entspringen.
D Die Bedeutung der Erde Das Wesen der Erde besteht „nur im Hineinragen in eine Welt“ (GA 5, 57). Obwohl nur die Welt die Erde als solche hervortreten lässt, bestimmt die Erde zugleich das mit, was in einer Welt erschlossen wird. Diesen Doppelcharakter der Erde fasst Heidegger im Satz: „Die Welt gründet sich auf die Erde, die Erde durchragt die Welt“ (GA 5, 35). Die Erde wird demnach nicht nur als Materialität und als Unterlage für die menschliche Welt gedacht, sondern auch als Maßstab der Welterschließung selbst. So ist die Erde als „das alles Tragende“ und sie strebt an, „alles ihrem Gesetz anzuvertrauen“ (GA 5, 50 – 51). Diese Behauptungen deuten darauf hin, dass Heidegger der Erde eine wesentliche Funktion in der Konstitution der Weltbedeutsamkeit zuschreibt. So verbindet Heidegger mit dem Begriff der Erde eine vorhermeneutische Anordnung des Sinns: „Alle Dinge der Erde, sie selbst im Ganzen, verströmen sich in einen wechselweisen Einklang“ (GA 5, 33). Der Satz suggeriert, dass der angesprochene Einklang der Erde – der κόσμος – sich in der anfänglichen Konstitution einer Welt aufdrängt. Vor diesem Hintergrund kann das von Heidegger eingeführte Hineinragen der Erde in die Welt als eine translatio der Erde – einer vorhermeneutischen Ordnung – in die hermeneutische Konstitution von Sinn ausgedeutet werden. Um die Tragweite dieses Gedankens zu erläutern, soll der Zusammenhang des Begriffs der Erde mit dem Begriff der Verbergung verdeutlicht werden. Drei Grundzüge des Verhältnisses zwischen Erde und Verbergung können Heideggers Darstellung im Kunstwerkaufsatz entnommen werden: (1) Die Erde kann nur als das Sichverschließende erschlossen werden: „Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das Sichverschließende“ (GA 5, 33). Mit anderen Worten, die Erde hat innerhalb einer Welt den Stellenwert des Verborgenen und des Undurchdringlichen.
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(2) Bewahrt die Welt den verschlossenen Charakter der Erde, so lässt sie die Erde gerade dadurch tragend und bestimmend sein. Gerade insofern sie als Verborgenes fungiert, wirkt die Erde sinnkonstituierend: Sie „entfaltet sich in eine unerschöpfliche Fülle einfacher Weisen und Gestalten“ (GA 5, 34). (3) Daraus ergibt sich die normative Implikation der heideggerschen Darstellung, die in der Forderung besteht, die Erde als das Verborgene aufzubewahren. Die Erde „zeigt sich nur, wenn sie unentborgen und unerklärt bleibt“ und „wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird“ (GA 5, 33). Dieses Verständnis der Erde setzt Heidegger der „technisch-wissenschaftlichen Vergegenständlichung der Natur“ entgegen, welche die Erde als Energiereservoir und als auszuschöpfendes Erkenntnismaterial betrachtet (GA 5, 33). Die Erde als ein Verborgenes aufzubewahren, bedeutet, die Erde die Welt durchragen zu lassen. Das Hervorbringende – die Welt – hat sich dabei dem Sichverschließenden anzuvertrauen, so Heideggers Worte.²⁷ Jede Entscheidung, die eine Welt anfänglich bestimmt, gründet „auf ein Nichtbewältigtes, Verborgenes, Beirrendes, sonst wäre sie nie Entscheidung“ (GA 5, 42). Wenn sich eine welterschließende Entscheidung auf die Erde beruft oder zu berufen hat, dann geschieht die Stiftung von Bedeutsamkeit als eine verschwiegene translatio der Erde in die Welt.²⁸ Dieser Gedanke Heideggers ist allerdings nur spekulativ und von keinem Argument begleitet – selbst wenn man ihn in seinem reinen philosophischen Gehalt betrachtet und von der möglichen politischen Konnotation abstrahiert, angesichts der Tatsache, dass der Kunstwerkaufsatz in den Jahren 1935 – 36 verfasst wurde. Wie könnte die These, dass die verborgene Erde die Weltbedeutsamkeit prägt, systematisch plausibilisiert werden? Am Ende der Abhandlung stellt Heidegger die Dichtung als die paradigmatische weltbildende Kunst dar: „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird“ (GA 5, 59). Unter Dichtung versteht Heidegger nicht die Poesie, sondern die
Vgl. GA 5, 51: „Die Wahrheit richtet sich im Seienden ein, so zwar, daß dieses selbst das Offene der Wahrheit besetzt. Dieses Besetzen aber kann nur so geschehen, daß sich das Hervorzubringende, der Riß, dem Sichverschließenden, das im Offenen ragt, anvertraut. Der Riß muß sich in die ziehende Schwere des Steins, in die stumme Härte des Holzes, in die dunkle Glut der Farben zurückstellen. Indem die Erde den Riß in sich zurücknimmt, wird der Riß erst in das Offene hergestellt und so in das gestellt, d. h. gesetzt, was als Sichverschließendes und Behütendes ins Offene ragt“. Heidegger spricht ebenfalls von einer „Schenkung“ der Erde, die er als „das Unvermittelte des Anfangs“ beschreibt (GA 5, 64).
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Natur der Sprache selbst. Die Sprache sei „Dichtung im wesentlichen Sinne“ und dadurch die eigentliche Quelle der Bedeutsamkeit (GA 5, 62): Indem die Sprache erstmals das Seiende nennt, bringt solches Nennen das Seiende erst zum Wort und zum Erscheinen. (…) Solches Sagen ist ein Entwerfen des Lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt (GA 5, 61).
Die Sprache bringt das Seiende und damit eine Welt „allererst ins Offene“ (GA 5, 61). Eine frühere Bemerkung im Text gibt einen wichtigen Hinweis auf die Verbindung von Sprache und Erde. Wenn Heidegger von Erdphänomenen spricht, zählt er darunter nicht nur den Fels, die Metalle, die Farben und den Wald, sondern auch das Wort. So wie die Welt den Wald als Wald hervortreten lässt und den Himmel als Himmel erschließt, lässt sie auch „das Wort zum Sagen“ kommen (GA 5, 32): Zwar gebraucht auch der Maler den Farbstoff, jedoch so, daß die Farbe nicht verbraucht wird, sondern erst zum Leuchten kommt. Zwar gebraucht der Dichter das Wort, aber nicht so, wie die gewöhnlich Redenden und Schreibenden die Worte verbrauchen müssen, sondern so, daß das Wort erst wahrhaft ein Wort wird und bleibt (GA 5, 34).
Das Verhältnis von Wort und Sagen entspricht dem Streit von Erde und Welt. Obwohl das Wort erst im Nennen zu einem solchen wird, kommt dem Wort – gegenüber dem Nennen – ein ursprünglicherer Stellenwert zu. In diesem Sinne entspricht das Wort der Dimension der Erde.²⁹ Das Nennen erschließt die Bedeutung des Seienden, aber das Wort bedingt das Nennen, wie die Erde die Welt durchragt. Diese Paradoxie strahlt auf das Verhältnis zwischen Erde und Welt zurück. Entspricht die Erde dem Vorsprachlichen, so hat sie erst im Sprachlichen eine semantische Tragweite.³⁰ Das Sichverschließende, dem sich die Welt anvertraut, hat keine Bedeutung außerhalb der Welt. Wenn die Dichtung „die Sage der Unverborgenheit des Seienden“ ist, dann bringt das entwerfende Sagen zugleich „das Unsagbare als ein solches zur Welt“ (GA 5, 61– 62). Das Unsagbare wird somit erst im Sagen als solches erschlossen. Die Welt hat zwar die Erde zu ihrer Voraussetzung, aber die Erde kann nur insofern der tragende Grund der Welt sein, als sie innerhalb der Welt gedeutet bzw. selbst „gegründet“ wird (GA 5, 63). Anders gesagt: Der verborgene Grund, Frederick Olafson (1993) sieht in Heideggers Annahme, dass das Wort sich selbst Bedeutung verschafft, die Berufung auf eine Natursprache und einen Bruch des Spätdenkens Heideggers mit seinen früheren Sprachauffassungen. Vgl. GA 5, 59: „die Eröffnung des Offenen und die Lichtung des Seienden [geschieht] nur, indem die in der Geworfenheit ankommende Offenheit entworfen wird“.
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worauf die Welt sich beruft, entsteht erst dadurch, dass die Welt sich darauf beruft.³¹ Wenn dem so ist, dann kann die Erde kein selbständiges Maß der Welt liefern. Heidegger schwächt das Primat der Ursprünglichkeit durch die Hervorhebung des verschlossenen Charakters der Erde ab. Die Genesis einer Welt kann nicht ohne Weiteres auf die Erde zurückgeführt werden, weil die Erde sich als Verschlossenes verweigert. Die Unmöglichkeit, die Welt in der Erde zu gründen, trotz der unhintergehbaren Berufung darauf, ist der Gedanke, den Heidegger als Streit zwischen Welt und Erde formuliert. Daraus ergibt sich das für Heideggers Projekt zentrale Motiv der Anerkennung des Verborgenen als Verborgenen. Die Neustiftung einer Welt soll auf der Anerkennung der für die Erschließung von Sinn konstitutiven Verbergung beruhen. Die Kunst zeigt „das einfache factum est“, so Heidegger, „daß Unverborgenheit des Seienden hier geschehen ist und als dieses Geschehene erst geschieht“ (GA 5, 52– 53). Dieses Faktum ist aber nicht nur Gegenstand der ästhetischen Kunstbetrachtung, sondern die Annerkennung desselben ist vielmehr Bedingung jeder anfänglichen Sinnstiftung. Die Bedeutsamkeit als solche zu erfahren, ist Anstoß dazu, Bedeutsamkeit zu stiften: „Wer wahrhaft das Seiende weiß, weiß, was er inmitten des Seienden will“ (GA 5, 55). Die Welt als Welt zu wissen, ermöglicht es, Bedeutsamkeit auf eine eigentliche Weise zu konstituieren: „Wissen als Gesehenhaben ist ein Entschiedensein“ (GA 5, 56). Die Erfahrung des Dass reißt uns aus dem Gewöhnlichen heraus und bringt uns zur Offenbarkeit von Sinn. Dadurch werden wir umstoßen und ver-rückt: „Dieser Verrückung folgen, heißt: Die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln“ (GA 5, 54). Die Verwandlung, die sich durch die Erfahrung der Offenbarkeit von Sinn ergibt, ist eine Neustiftung. Das Sinngeschehen als solches zu erfahren, bedeutet aber für Heidegger, die ihm konstitutive Verbergung als solche zu wissen. Das Wissen um die Verbergung ist der Hauptgegenstand der Beiträge zur Philosophie. Die Gründung eines anderen Anfangs, wie es dort heißt, beruht auf der Anerkennung der Tatsache, dass jedes Geschehen von Wahrheit eine „lichtende Verbergung“ ist.
Diese Figur der gründenden Erde, die erst in der gegründeten Welt als Grund agieren kann, entspricht der setzenden Reflexion in Hegels Wesenslogik. Die Reflexion hat insofern eine äußere Voraussetzung, als sie diese als solche setzt. Vgl. GW 11, 251: „die Reflexion in sich ist wesentlich das Voraussetzen dessen, aus dem sie die Rückkehr ist“. Zum Verhältnis von Hegel und Heidegger im Ausgang von der Problematik der wesenslogischen Reflexion vgl. Dottori 2006.
IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie Heideggers fundamentalontologisches Projekt, die Art und Weise, in der das Seiende zu seiner Bedeutung kommt, zu explizieren, führt, wie in den vorangehenden Kapiteln dargelegt, allmählich zu der Einsicht, dass die Erschlossenheit des Seienden von einer Verbergung begleitet ist. Das Spezifikum von Bedeutungszusammenhängen liegt für Heidegger darin, dass ihre Konstitution gerade in ihrer manifesten Bedeutsamkeit verborgen ist. Einerseits ist der übergreifende, geschichtliche Horizont, innerhalb dessen Sinnzusammenhänge konstituiert werden, im selbstverständlichen Umgang mit der Welt unauffällig. Andererseits liegt es an der synthetischen Natur des Als, dass die vielfältigen Aspekte, die in einer semantischen Einheit versammelt werden, in diesem einheitlichen Als verschwinden und vergessen werden. Die Konstitution von Sinn weist somit in Heideggers Augen einen zwiespältigen Charakter auf. In seinem Sprachgebrauch würde dies heißen: Wenn Sein allein im Sinn erschlossen wird, dann ist der Sinn dasjenige, worin das Sein verborgen wird. Die Phänomenalität des Seins bestimmt sich nicht durch ein reines Sich-Zeigen, sondern durch ihre wesentliche Verbergung. Vor diesem Hintergrund ist das Leitmotiv der Beiträge zur Philosophie (1936 – 38) zu lesen: „Im Sichverbergen west das Seyn“ (GA 65, 342). In Sein und Zeit steht der Begriff der Verbergung im Zusammenhang mit der Alltäglichkeit des Daseins, mit der Verdrängung der Angst und mit der theoretischen Einstellung der Vorhandenheitsontologie. Nach Sein und Zeit werden aber alle Formen von Verdeckung und Verstellung graduell auf einen einzigen Grund zurückgeführt. Das Verdecken ist nicht mehr lediglich eine defizitäre Form des Erschließens, die etwa dem apophantischen Als des Urteils zukommt, sondern das Verstehen selbst ist, insofern es erschließend ist, zugleich verbergend (vgl. Kap III: „Wahrheit und Verbergung“). Der inhärente Zwiespalt des hermeneutischen Als wird so zum Gegenstand der Phänomenologie. Mit anderen Worten, der λόγος wird zum untersuchten φαινόμενον. Die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), zwischen 1936 und 1938 geschrieben und erst 1989 veröffentlicht, sind die Hinterbühne der Philosophie Heideggers, insofern ihre wesentlichen Tendenzen hier aufeinanderstoßen.¹ Das Werk radikalisiert den Ausgang von Sein und Zeit, synthetisiert die mittlere
Otto Pöggeler (1990) hat bekanntermaßen die Beiträge als das eigentliche Hauptwerk Heideggers bezeichnet. https://doi.org/10.1515/9783110659801-006
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Schaffensphase Heideggers und bereitet seine Spätphilosophie vor. Die Beiträge befassen sich in der Hauptsache mit der Frage nach der Art und Weise, in der sich geschichtliche Paradigmen der Wahrheit bzw. des Verstehens von Sein konstituieren. Das Werk entfaltet die These, dass sich geschichtliche Wahrheit als „lichtende Verbergung“ ereignet. Durch diese Formel drückt Heidegger seine Auffassung der Dynamik des sprachlichen Sinngeschehens aus, das er „Ereignis“ nennt. In dieser Weise bestimmt der Begriff der Verbergung den Angelpunkt der Beiträge. Die Verbergung fungiert hier sowohl als tragender Grund der abendländischen Geschichte des Seinsverständnisses als auch als Antrieb eines Neuanfangs des Denkens: Die Anerkennung der Verbergung macht den Impetus einer Neugründung aus. So hat der Verbergungsbegriff nicht nur eine deskriptive Tragweite, sondern spielt auch in den Entwurf eines anderen Anfangs des Denkens hinein.² Diese Neugründung bezieht sich auf ein neuartiges Verhältnis des Denkens zum Sinngeschehen, welches gerade darin besteht, dass die wesentliche Rolle der Verbergung in der Konstitution von Sinn berücksichtigt und bewahrt wird. Heidegger vertritt daher die Ansicht, dass die Anerkennung des Abgrundes als solchen in in eine Neugründung umschlagen soll.³ Wenn der Entwurf eines anderen Anfangs des Denkens sich darauf stützt, dass die Verbergung als solche erfahren wird und dass die Herkunft von Sinn als abgründig anerkannt wird, dann impliziert dieses Argument ein reflexives, dialektisches Aufhebungsmotiv. Darauf hat nicht nur Gadamer (1968) lange vor der Erscheinung der Beiträge verwiesen, sondern Heidegger selbst erkennt darin die Gefahr einer Annäherung an die hegelsche Figur der Aufhebung, worunter er die produktive Anerkennung einer unhintergehbaren Endlichkeit des Denkens versteht (vgl. Kap. I.1.D: „Begreifen und Aufhebung“). Heidegger versichert dahingehend: Die Lichtung der Verbergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Freistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verbergung (GA 65, 352).
Die Annäherung an eine Aufhebungsfigur zwingt Heidegger letztlich zum Verzicht auf die Formel der „Verbergung als Verbergung“ und zum Übergang in seine Spätphilosophie, die sich gegen die aufhebende Kraft des Begriffs wendet und letztlich das „Verschwinden des Als“ fordert (vgl. Kap. I.3: „Das Verschwinden des Als?“).
Zum „revolutionären“ Anliegen des Werkes vgl. Schmidt 2001. Das Motiv des Gründens im Abgrund – gerade als Bedingung des Schaffens – steht laut John Sallis (2001) unter dem Einfluss Nietzsches.
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IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie
Das Ziel der folgenden Überlegungen ist, den Sinn der Verbergung und des Abgrundes zu verdeutlichen. In den Beiträgen handelt es sich nicht nur um die Verbergung eines übergreifenden Horizontes von Bedeutsamkeit in der Erscheinung des einzelnen Seienden, wie es in Vom Wesen der Wahrheit (1930) der Fall ist, auch nicht nur um die Verbergung der konstitutiven Genesis von Bedeutsamkeit, wie im Ursprung des Kunstwerkes (1935 – 36) geschehen, sondern vielmehr um die Selbstreferentialität und Nichtreferentialität der Bedeutsamkeit. Die Tatsache, dass die Bedeutsamkeit einer Welt im Abgrund bzw. im Nichts gründet, will bei Heidegger sagen, dass der Sinn von Seiendem keinen festen Anhaltspunkt hat, sei dieser transzendental, transzendent oder empirisch. Fragt man nach der Herkunft von Sinn, so stößt man auf das Nichts: Die Bedeutsamkeit einer Welt – der semantische Überschuss des Seienden gegenüber der baren Vorhandenheit von Gegenständen – hat keinen Grund.⁴ Der Sinn der welthaften Dinge ist für Heidegger, mit einem Wort Hölderlins, deutungslos. ⁵ Die Tatsache, dass die Bedeutsamkeit einer Welt auf keiner Referentialität beruht, offenbart für Heidegger zugleich die Endlichkeit einer Welt. Wenn eine Welt im Nichts gründet, dann ist das Bestehen der Welt auf dem Spiel. Die Endlichkeit einer Welt kann in dieser Hinsicht auch als Fragilität gedeutet werden.Vor diesem Hintergrund wird Heideggers Rede von der Aufrechterhaltung der Verbergung verständlich. Die Anerkennung der Verbergung als solche, die Heidegger fordert, bedeutet eigentlich, eine endliche Welt zu bewahren. Die mittlere Schaffensphase Heideggers, die mit Vom Wesen der Wahrheit (1930) beginnt und mit dem Satz des Anaximander (1946) endet, ist einerseits durch das systematische Anliegen charakterisiert, Lichtung und Verbergung in eins zu setzen, andererseits von Heideggers Projekt der Seinsgeschichte geprägt.⁶ Diese Unterscheidung verweist auf zwei Grundtendenzen in Heideggers Philosophie. Die erste Tendenz besteht in einer methodischen Darstellung des Sachverhaltes, dass der Reichtum von sprachlich erschlossener Bedeutsamkeit in der Selbstverständlichkeit des Umgangs mit der Welt verborgen und in der begrifflichen Bestimmung von Bedeutungen verdeckt wird. Die zweite Tendenz scheint das Sein als Prinzip der Sinnkonstitution zu verselbständigen, über die Immanenz des λόγος hinauszugehen und eine Sigetik – eine Lehre des Schweigens – als Antwort auf das Sein aufzustellen. Zu diesem Zweck entwickelt Heidegger ein
Zu einer änhlichen Interpretation des Grundgedankens der Beiträge vgl. Scheonbohm 2001. Hölderlin hat Heidegger die Zunge gelöst, so Gadamers (1976) Formulierung. Zum Verhältnis Heideggers zu Hölderlin vgl. Bambach 2013; Großmann 1996; Levin 2005; Pöggeler 1990; StekelerWeithofer 2004. In dieser Schaffensphase sieht sich Heidegger „im Zugwind der Seinsgeschichte“, wie Ute Guzzoni es beschrieben hat (Guzzoni 2009, 8).
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eigentümliches Sprachregister, welches sich auf die Metapher des Zurufs, des Zuhörens und des Zugehörens stützt. Der Mensch wird aufgerufen, seiner Zugehörigkeit zum Sein zu gehorchen. Die Weltbedeutsamkeit selbst entspringt einem Zuspruch des Seins, wie Heidegger es enigmatisch ausdrückt. Die Metaphorik des Gehörs nimmt das spätere Motiv der Gelassenheit und die Vorrangstellung der Dichtung vorweg. Dem Wort wird dabei die Stimme, dem Begriff die Metapher, der Bestimmung die Andeutung vorgezogen. Diese Tendenz der heideggerschen Philosophie, die auf einer kategorischen Kritik am Begriff beruht und sich auf die Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit von Sinnzusammenhängen zu berufen scheint, ist, wie gezeigt werden soll, anfällig für eine hegelsche Kritik. Trotz der divergenten Tendenzen stellen die Beiträge zur Philosophie den einheitlichen Versuch dar, einen fundamentalen Gedanken zu formulieren. Die Grundformel dieses zentralen Gedankens findet sich bereits im einleitenden Kapitel: „Das Sein west in der Wahrheit: Lichtung für das Sichverbergen“ (GA 65, 29). Die Aufgabe der sechs Kapitel des Werkes, die Heidegger „Fügungen“ nennt, besteht darin, „über das Selbe je das Selbe zu sagen“ (GA 65, 82). Aus dieser Aufgabe ergibt sich der repetitive Charakter des Werkes und zugleich die Gefahr für jede Lektüre dieser Schrift, sich in eine in sich geschlossene Selbstreferentialität zu verstricken. Wirft man einen kurzen Blick auf das einleitende Kapitel der Beiträge, so heißt es dort, dass die Frage des Werkes die „Offenheit für das Sichverbergen, d. h. die Wahrheit“ betrifft (GA 65, 11). Die Wahrheit geschieht „als die lichtende Verbergung“ (GA 65, 30), so die allgemeine Antwort auf die „Grundfrage: wie west das Seyn?“ (GA 65, 78).⁷ Die Aufgabe des „anfänglichen Denkens“ besteht darin, „zurück in die Offenheit des Andranges des Sichverbergenden“ zu kehren (GA 65, 15). Dafür bedarf man des „Mutes zum Ab‑grund“ und der „Bereitschaft für die Verweigerung als der Wesung des Seyns“ (GA 65, 27– 28). Diese Wesung des Seins bezeichnet Heidegger auch als „Ereignis“ und das Ereignis selbst als die „ursprüngliche Geschichte“ (GA 65, 32).⁸ Überdies spielt der Begriff der Verweigerung im ganzen Werk eine zentrale, jedoch zweideutige Rolle. Das Ereignis, das im Sichverbergen des Seyns liegt, enthält „die Gefahr der Verweigerung“ (GA 65, 8). Zugleich soll aber die „Verweigerung“ als „Schenkung“ erfahren werden (GA 65, 23). Bereits in den ersten Passagen des Werkes liest man, es komme darauf an, von der Verweigerung zu wissen und „zur Überwindung bereit [zu] sein“ (GA 65, 8).
Die Wahrheit der Wesung des Seyns ist, wie es weiter wörtlich heißt, „die winkend-anklingende Verborgenheit (das Geheimnis) des Ereignisses (die zögernde Versagung)“ (GA 65, 78). Die Geschichte selbst wird als „Bestreitung des Streites von Erde und Welt“ definiert (GA 65, 96). Vgl. Kap. III.2: „Die Translatio der Erde in die Welt“.
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Diese terminologische Konstellation kann nur anhand der einen intendierten, systematischen These, dass Sinn nichtreferentiell ist, entziffert werden. Heideggers Beiträge können nicht werkimmanent ausgedeutet werden, weil dadurch der prophetische Charakter dieses verschlossenen Sprachgebrauchs, die scheinbaren Tautologien und die Undifferenziertheit der Begriffe beibehalten werden.⁹ Der delphische Sprachgebrauch der Beiträge verfolgt zunächst das Anliegen, sich von der Begrifflichkeit der überlieferten Philosophie radikal zu verabschieden. Dieses Anliegen hängt mit der beabsichtigten Überwindung der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, zwischen Wort und Referenz zusammen: „Hier ist das Sein nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses selbst als die Wesung des Seyns“ (GA 65, 4). Diese Behauptung, dass das Sagen kein Urteilen über ein Gesagtes, sondern mit dem zu Sagenden dasselbe ist, spiegelt die Grundthese wider, dass Sinn derart im Sprechen erzeugt wird, dass es nicht auf Referentialität verpflichtet ist. Wenn dem so ist und der λόγος keine andere Ordnung als diejenige eines Sprachgebrauchs hat, dann muss die Frage geklärt werden, warum Heidegger jedoch dazu tendiert, die hermeneutische Immanenz zu brechen. Das vorliegende Kapitel soll diese Zusammenhänge verdeutlichen. Zu diesem Zweck umreißt es erstens die Koordinaten des Werkes: die Theorie der Sinnkonstitution und ihre Terminologie (IV.1.A), das Projekt der Seinsgeschichte (IV.1.B), der Entwurf des anderen Anfangs des Denkens (IV.1.C). Im zweiten Schritt wird die sinngestaltende Funktion der Verbergung entfaltet (IV.2.A) und das Motiv des Nichts als Nichtreferentialität von Sinn ausgelegt (IV.2.B). Im dritten Schritt wird Heideggers Projekt des anderen Anfangs problematisiert: das Wissen um die Verbergung (IV.3.A), die Bedeutung des Abgrundes (IV.3.B), die Aneignung der Verbergung (IV.3.C) und die Aufgabe begrifflicher Bestimmung als Konsequenz dieses Projektes (IV.3.D).
Alexander Schnell (2016) ruft zu einer Entmystifizierung der Beiträge auf. Schnell unterstreicht zu Recht, dass es Heidegger in diesem Werk um eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Ansatz der modernen Philosophie geht. Schnells phänomenologisch orientierte Interpretation des Ereignisses als eines Urphänomens, wodurch sich das Dasein eine Wahrheit des Seins aneignet und das Sein selbst phänomenalisieren lässt, bleibt aber selbst im sprachlichen Gewebe der Beiträge verfangen und macht gerade die Schwäche der heideggerschen Konzeption stark, nämlich die enigmatische Gegebenheit des Seins.
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1 Umrisse des Ereignisses A Terminologische Klärungen Im Brief über den Humanismus (1946) fasst Heidegger den Grundgedanken seiner mittleren Schaffensphase in die Formel: „Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst“ (GA 9, 326). Der Satz besagt einerseits, dass die Sprache der Ort ist, an dem Sinn geschieht – anders gesagt, dass Sein sich als Sinn in der Sprache ereignet. Andererseits spezifiziert die Formel die charakteristische Art und Weise, in der Sinn geschieht – nämlich derart, dass, insofern das Wort ein Seiendes als seiend erschließt, es zugleich verbirgt, was darin zum Ausdruck kommt. Der Begriff „lichtende Verbergung“, der in den Beiträgen zur Philosophie (1936 – 38) federführend ist, kennzeichnet so das Charakteristikum des Sinngeschehens und artikuliert eine Auffassung von Sprache. Am Anfang der Beiträge behauptet Heidegger: Die Frage nach dem ‚Sinn‘, d. h. nach der Erläuterung in Sein und Zeit die Frage nach der Gründung des Entwurfbereichs, kurz nach der Wahrheit des Seyns ist und bleibt meine Frage und ist meine einzige, denn sie gilt ja dem Einzigsten (GA 65, 10).
Diese Frage soll bestimmen, „was da ‚Sinn‘ benennt, das (…), was sie als Frage eröffnet: die Offenheit für das Sichverbergen, d. h. die Wahrheit“ (GA 65, 11). Die Art und Weise, in der sich Sinn ereignet, bezeichnet Heidegger als Wahrheit des Seins, die er wiederholt als „lichtende Verbergung“ definiert.¹⁰ Das Geschehen von Sinn nennt Heidegger „Ereignis“. Dieser Terminus steht bereits in seinem Frühwerk mit der Erfahrung des Weltbedeutsamen in Zusammenhang, welche Heidegger von der theoretisch-physikalischen Betrachtung von Gegenständen abgrenzt.¹¹ Wenn der Sinn das bezeichnet, was das Seiende als Seiendes ausmacht, dann versteht Heidegger, wie bereits zuvor erläutert, unter Seiendem primär nicht das Gegenständliche, sondern sprachlich erschlossene Phänomene. Dieses Verständnis des Seienden, das im Gegenständlichen nicht aufgeht, hängt mit der Bedeutung der Verbergung wesentlich zusammen. Anders gesagt, der
Vgl. GA 65: 61, 70, 189, 258, 308, 342, 344, 356, 367, 380. In der frühen Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem (WS 1915/ 16), wo Heidegger das Seiende als das Umweltliche und Bedeutsame definiert, spricht er vom „Ereignis“ als demjenigen Erleben, das nicht ein Wahrnehmungsvorgang von Objekten, sondern eine eigene Erfahrung der Bedeutsamkeit ist. Im Ereignis sei die Erfahrung nicht ein gleichgültiges Vorkommnis, sondern auf das Selbst verwiesen.Was alles so erfahren wird, ist „welthaft, ‚es weltet‘, was nicht zusammenfällt mit dem ‚es wertet‘“ (Vgl. GA 56/57, 73).
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Begriff der Verbergung wird gerade für diese Auffassung vom nichtobjektivierbaren Sinn sprachlicher Phänomene eingesetzt. Dieser systematische Gehalt der sonst hermetischen und vielschichtigen Beiträge muss von den geschichtsphilosophischen Thesen Heideggers differenziert werden. Die Beiträge sind von der Fragestellung nach der geschichtlichen Entstehung und Entwicklung des abendländischen Seinsverständnisses tief geprägt und entfalten darum eine Auffassung der abendländischen Seinsgeschichte. ¹² Damit verbindet Heidegger auch eine Diagnose der Moderne, die er „Seinsverlassenheit“ nennt. Bevor Heideggers Seinsgeschichte kurz umrissen wird, soll darauf hingewiesen werden, dass die Diagnose der Seinsverlassenheit auf den systematischen Leitgedanken der Verbergung zurückgeht: Daß das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt (GA 65, 111).
Der Terminus „Seyn“ ist kein Name für eine mysterös entzogene Entität, sondern für das Geschehen der Verbergung selbst. Die Textstelle verdeutlicht, dass das, was sich entzieht, die Verbergung ist – diese charakterisiert nicht ein personifiziertes „Seyn“, sondern das Geschehen von Sinn. Vor diesem Hintergrund ist das Seyn, das sich in der Offenbarkeit von Sinn verbirgt, und die Verbergung als Bedingung dieser Offenbarkeit eins und dasselbe. Was Heidegger zu begreifen versucht, ist der Akt des Geschehens von Sinn, dessen strukturelle Konstante die Verbergung ist.
B Das Projekt der Seinsgeschichte Wenn die Beiträge zur Philosophie vom umstrittenen Entwurf einer Seinsgeschichte geprägt sind, dann stellt sich die Frage, inwiefern ein systematisches Herangehen an dieses Werk von Heideggers seinsgeschichtlichem Ansatz abstrahieren kann. Heideggers Konzept der Seinsgeschichte ergibt sich als Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Verstehens von Sein als Anwesen. In Sein und Zeit versucht Heidegger, diese Frage durch eine Analyse der alltäglichen Existenz des Menschen, der theoretischen Einstellung und des gewöhnlichen Verhältnisses zum
Thomas Sheehan (2015) hat ebenfalls argumentiert, dass sich der Schwerpunkt der heideggerschen Philosophie nach Sein und Zeit von der Frage nach der Konstitution der Weltbedeutsamkeit auf die Frage nach der Herkunft derselben verschiebt.
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Tod zu beantworten. Die Konstitution des Sinns von Sein wird dort im Horizont der Zeitlichkeit verortet. Im Anschluss an Sein und Zeit betrachtet Heidegger die Geschichtlichkeit als den maßgeblichen Horizont des Seinsverständnisses. Die Frage nach dem Sinn von Sein kann keine transzendentale Antwort bekommen, sondern sie muss geschichtlich bearbeitet werden.¹³ Die Tatsache, dass wir unter Sein vorwiegend Anwesen verstehen, führt Heidegger nicht mehr wie in Sein und Zeit auf unsere alltägliche oder theoretische Erfahrung von Zeit zurück, sondern auf eine geschichtliche Entwicklung des Seinsverständnisses.¹⁴ Vor diesem Hintergrund entwickelt Heidegger eine vereinheitlichende Interpretation der abendländischen Geschichte der Metaphysik. Er porträtiert einen herabsinkenden Entwicklungsgang der abendländischen Ontologie, im Laufe deren ein ursprünglich Genanntes und Gedachtes allmählich verunstaltet wird und so in Vergessenheit gerät. Die ursprüngliche Nennung des Seins ist laut Heidegger der griechische Ausdruck ἀλήθεια. Wie bereits in den früheren Kapiteln eingehend erläutert wurde, birgt dieser Ausdruck laut Heidegger die Einsicht, dass jedem Erscheinen und jeder Sinnoffenheit ein Geschehnis der Verbergung (λήϑη) innewohnt. Diese ursprüngliche Einsicht wird über Platons Auffassung der ἰδέα als begriffliche Fixierung des das Anwesende latent Bestimmenden und über die spätere Übertragung der ἀλήθεια als veritas im Sinne der Übereinstimmung des Urteils mit dem anwesenden Gegenstand, bis hin zum modernen Vorrang des cogito bzw. des transzendentalen Subjektes als Instanz der Wahrheitsgründung und zur in der Technik manifesten Herrschaft des Willens zur Macht verunstaltet und vollständig vergessen. Die Seinsgeschichte verkörpert so in Heideggers Schilderung die Verstrickung des philosophischen Denkens in einer Begrifflichkeit, welche eine geschichtliche Welt (1) als die einzig mögliche Welt, (2) als eine vom Menschen gesetzte und zu gestaltende Welt, (3) nach dem Maßstab der Anwesenheit – des Sichtbaren, des Meßbaren, des Erlebbaren, des Beherrschbaren – betrachtet.¹⁵ Die Beiträge zur Philosophie etablieren das Projekt einer vollendeten Kartographie der epochalen Seinsverständnisse. Die Epochen einer im Grunde ein-
Zu dieser Einsicht, womit sich das Programm der Seynsgeschichte anbahnt, muss Heideggers Beschäftigung mit Hegel in seinen Vorlesungen Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) in Sommersemester 1929 und Hegels Phänomenologie des Geistes in Wintersemester 1930/1931 maßgeblich gewesen sein. Vgl. Haar 1980. Laut Friedrich-Wilhelm von Herrmann (1994) gehen die Beiträge „aus einem immanenten Wandel“ des Ansatzes in Sein und Zeit hervor. Die „transzendental-horizontale Blickbahn“ werde zugunsten einer seinsgeschichtlichen Behandlung der Frage nach dem Sinn von Sein aufgegeben. Zu den vielfältigen Facetten der heideggerschen Kritik an der Technik, vgl. Luckner 2008; Riis 2011; Seubold 1986.
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heitlichen abendländischen Ontologie führen, so Heideggers Ansatz, zur äußersten Seinsverlassenheit in einer vom technischen Paradigma beherrschten Moderne.¹⁶ Der Begriff der Technik umfasst einen Komplex von semantischen Koordinaten und normativen Maßstäben, die Heidegger mit dem Prinzip der Machenschaft vereint. Die Machenschaft – oder das „Gestell“, wie es später in seinem Werk heißt – ist Signum des kategorialen und rechnerischen Denkens der Metaphysik, der Herrschaft der Effizienz und des Quantitativen. Heidegger ontologisiert durch den Begriff der Seinsgeschichte eine Zeitdiagnose, die er besonders in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre getroffen hat.¹⁷ Die Zeitdiagnose selbst – die Moderne als „Zeitalter der technisiert gleichförmigen Weltzivilisation“, wie er 1976 in seinem letzten Brief schreibt (GA 13, 243) – ist nicht nur von Heideggers Antimodernismus und Antirationalismus, sondern auch von einem chronischen Nationalismus geprägt, der sich als eine Schicksalsfantasie manifestiert und der seine Inkursionen in die tagespolitischen Ereignisse, welche die Schwarzen Hefte belegen, leitet.¹⁸ Wenn die abendländische Seinsgeschichte den Sinn von Sein bestimmt, dann hat diese Geschichte für Heidegger eine immanente Logik, die selbst nicht geschichtlich ist. Darin kommt der systematische Anspruch seines Projektes zum Ausdruck. Das geschichtliche Phänomen der Seinsverlassenheit ist Ausdruck für die Art und Weise, in der Sinn überhaupt geschieht. Die Seinsverlassenheit lässt sich laut Heidegger daran belegen, dass die Verbergung in der Moderne – in der sogenannten „Not der Notlosigkeit“ – verdrängt wird. Aber diese Seinsvergessenheit ist selbst auf die Verbergung zurückzuführen, welche zur „Wesung“ des Seins gehört. Mit anderen Worten, der Grund für die Seinsergessenheit und für Metaphysik der Anwesenheit ist die konstitutive Verbergung selbst, die jede geschichtliche Konstitution von Sinn prägt. Und was streng genommen in der abendländischen Geschichte vergessen wurde, ist in Heideggers Konzeption nichts anderes als das Geschehen der Verbergung – und nicht ein abwesendes
Trotz der Abgrenzung von der hegelschen Notwendigkeit des geschichtlichen Fortgangs versteht Heidegger selbst die Metaphysik als ein einheitliches Geschehen der Seinsvergessenheit, wie Hans-Georg Gadamer (1981) unterstrichen hat, selbst wenn seine Konstruktion der Seinsgeschichte nicht teleologisch, sondern archäologisch ist.Vgl. Krell 1986, 120: „The sheer fact that for Heidegger there is a fateful commencement of our history that remains unaltered in all the history that issues from it suggests that Heidegger is even more Hegelian than Hegel“. Zu den Ursprüngen der „Metapolitik“ Heideggers vgl. Bensussan 2017. Allerdings wurden die Beiträge bereits vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte als ein „monstruos ‚Contribution to Politics‘“ betrachtet (Schürmann 1992, 313). Zu Heideggers Kritik an der Moderne im Vergleich zu Hegels Verständnis der Moderne vgl. Kolb 1986.
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Sein, dem eine sonderbare Handlungsfähigkeit zukommen würde.¹⁹ Dies bedeutet aber nicht, dass Heideggers systematischer Ansatz, wonach die geschichtliche Konstitution von Sinn von Verbergung durchdrungen ist, nicht erklärungsbedürftig wäre.
C Der Entwurf eines anderen Anfangs des Denkens Die Beiträge stellen sich die Aufgabe, „die Verbergung und so die Verweigerung zu offenbaren“ (GA 65, 448). Diese Offenbarung involviert keine Enthüllung eines Verborgenen, sondern die Aufklärung der dynamischen Struktur der Sinnkonstitution. Die Verbergung bezieht sich nicht auf etwas, das in der Erscheinung nicht auftaucht, sondern auf die prägende Funktion der Latenz in der Gestaltung von Sinnzusammenhängen. Die entscheidende Tragweite des Verbergungbegriffes in den Beiträgen ist aber nicht deskriptiv, sondern sie betrifft vielmehr das Projekt eines anderen Anfangs des Denkens. Dieser andere Anfang stützt sich gerade auf die Anerkennung der Verbergung als solcher. Wenn die Verbergung für den ersten Anfang des Seinsverständnisses derart prägend ist, dass sie die Vergessenheit ihrer selbst veranlasst, dann soll sie in diesem anderen Anfang in ihrer konstitutiven Funktion anerkannt werden. Dabei handelt es sich nicht bloß um das Desiderat, die Verbergung als solche aufrechtzuerhalten, sondern Heideggers Argumentation beruft sich vielmehr auf eine produktive Umwendung der Verbergung. Dies zeigt sich an der Art und Weise, in der Heidegger das Motiv des Abgrundes behandelt. Die Abgründigkeit jeder Gründung wird nicht nur der Metaphysik entgegensetzt, da diese das Sein des Seienden auf einen ersten und höchsten Grund zurückführt, sondern auch positiv umgewendet: Die Anerkennung des Abgrundes ermöglicht erst eine eigentliche Gründung. So haben der Ab-grund, die Verbergung und die Nichtung einen „stiftenden“ und „tragenden“ Charakter (GA 65, 308). Und die Gründer des neuen Anfangs werden als „Gründer des Abgrundes“ beschrieben (GA 65, 7). Daraus ergibt sich die Frage nach dem Umschlag der Anerkennung des Abgrundes in die Gründung des anderen Anfangs. Inwiefern kann das Wissen um die unhintergehbare Verbergung für den anderen Anfang gründend sein? Handelt es sich dabei um eine produktive Aufhebung der Verbergung? Solange man unter
In einem zwischen 1944 und 1946 geschriebenen Text pointiert Heidegger diesen Gedanken wie folgt: „Das Sein ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt überdies noch aus, sondern: Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst“ (GA 6.2, 353).
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„Aufhebung“ Auflösung und Abschaffung versteht, ist dies sicherlich nicht der Fall, denn Heideggers Anliegen bezieht sich auf die Aufrechterhaltung der Verbergung. Jedoch bedeutet Aufhebung im hegelschen Sinne nicht nur Auflösung (tollere), sondern auch Aufbewahrung (conservare) und Verwandlung (elevare). Die Umwandlung des Abgrundes in eine Gründung scheint daher das heideggersche Motiv des anderen Anfangs in eine Nähe zur hegelschen Idee der Negation der Negation zu bringen. Hier begegnet uns, wie Hans-Georg Gadamer es formuliert hat, „die geheime und undurchschaubare Dialektik, die allen wesentlichen Heideggerschen Aussagen anhafte“ (Gadamer 1968, 230). Heidegger beteuert trotzdem, dass seine Konzeption nicht dialektisch verstanden werden darf. Inwiefern hat jedoch der Abgrund das Potenzial, eine Neugründung auszutragen? Was ist eine Verbergung, die, wenngleich nicht aufgehoben, jedoch als solche entborgen wird?²⁰ Diese Fragen betreffen nicht so sehr Heideggers Annäherung an hegelsche Motive, sondern vielmehr die daraus resultierende Verschärfung seiner Kritik am Stellenwert des Begriffs. Die Dialektik der entborgenen Verbergung führt im Anschluss an die Beiträge zu einer radikalen Kritik an der Funktion des Begriffs, der Heideggers Ansicht nach im Paradigma der Anwesenheit und der Verfügbarkeit verfangen bleibt. Deshalb vermag der Verbergungsbegriff als Begriff den inhärenten Zwiespalt der Konstitution von Sinn nicht zu greifen. Dagegen wird Heidegger an andere Erschließungsweisen der Verbergung appellieren, die diese begrifflich nicht festlegen, sondern die Fragwürdigkeit des Sinngeschehens bewahren. Für Heideggers Konzept eines anderen Anfangs des Denkens ist das Bild des letzten Gottes entscheidend, weil es die Motive der Gründung und des Abgrundes verbindet. Der letzte Gott bezeichnet die Unmöglichkeit eines verfügbaren und begründbaren Gottes, aber zugleich die Möglichkeit einer derartigen Gottheit, die gerade in ihrer Abwesenheit anwest – die gerade als Abgründiges wirksam ist. Der letzte Gott besteht, insofern er verschwindet, und er ist möglich, weil ihm jede Vermittlung verwehrt wird. Diese Metapher repräsentiert daher den Übergang zur entscheidenden Konsequenz der Beiträge, nämlich zur Absage an den vermittelnden Logos (vgl. VI.3.D: „Der letzte Gott und die Aufgabe der Bestimmung“).
Auf die Paradoxie einer Verbergung, die sich nicht mehr verbirgt, und die dadurch eine Aufhebungsfigur involviert, hat Giorgio Agamben (2013) verwiesen.
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2 Die lichtende Verbergung als Konstitution von Sinn A Die Verbergung als Sinngestaltung Die Grundthese der Beiträge zur Philosophie, wonach die Wahrheit des Seins bzw. die Konstitution von Sinn „lichtende Verbergung“ sei, lässt sich in den Satz übertragen: Die Verbergung lichtet. Heidegger spricht somit nicht von einer verborgenen Lichtung, sondern von der Tatsache, dass die Sinnerschlossenheit von Verbergung geprägt wird. Einen konkreten Hinweis auf den Bedeutungsgehalt dieses Gedankens bietet der Paragraph 214 „Das Wesen der Wahrheit (Offenheit)“. Heidegger beginnt diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass die Rede von Wahrheit als Unverborgenheit immer wieder auf „die Offenheit des Offenen“ stößt, welche auf „das Leerste des Leeren“ zu verweisen scheint (GA 65, 338). Dagegen soll das Offene als „eine hohle Mitte“ verstanden werden, wie diejenige des Kruges (GA 65, 339). Die Leere des Kruges entsteht nicht durch die Umgrenzung der Wände, sondern „umgekehrt, die hohle Mitte ist das Bestimmend-Prägende und Tragende für die Wandlung der Wände und ihrer Ränder“ (GA 65, 339). Die Wände des Kruges sind „nur die Ausstrahlung jenes ursprünglichen Offenen“ (GA 65, 339). Zugleich ist die hohle Mitte des Kruges nicht ohne die Wände des Kruges. Das Offene ist nur im Krug ein Offenes, obwohl es das ursprünglich Bestimmende und Tragende desselben ist. Die Offenheit des Da, an dem Sein erschlossen wird, soll laut Heidegger auf eine ähnliche Weise begriffen werden. Das Sein gibt es aber nicht erst durch das Seiende. Aber ebenso gibt es kein Sein ohne Seiendes. Das Seiende ist keine Hülle für ein ursprüngliches, sich entziehendes Sein. Die Weise, in der das Sein das Seiende prägt und trägt, ist nicht diejenige einer Herleitung, als ob das Seiende aus dem Sein folgen würde. Heidegger bezeichnet den Sachverhalt, den er hier zu beschreiben versucht, als Verbergung. Es sei gerade „das Winken des Verbergens“, was jedes Seinsverständnis prägt und trägt (GA 65, 339). Die Verbergung bezeichnet nicht den Entzug einer ursprünglichen Offenheit, die dem Bedeutsamen vorangeht, sondern die Latenz einer tragenden Dimension, die in der Erschlossenheit des Bedeutsamen besteht. Im Anschluss an diese Erörterung versucht Heidegger, die bestimmende Funktion der Verbergung zu verdeutlichen: In der ἀλήθεια, Un-verborgenheit ist erfahren: das Verborgensein und die teil- und fallweise Überwindung und Beseitigung derselben. Aber schon dies, daß mit der Beseitigung (Wegnahme: α-privativum) eben das Offene wesen muß, in das jedes Unverborgene hereinsteht, ist nicht eigens verfolgt und gegründet (GA 65, 339).
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Die Beseitigung der Verbergung kann laut Heidegger kein Weglassen des Verborgenen sein, sondern die Verbergung prägt die Art und Weise, in der das Unverborgene zum Vorschein kommt. Das Unverborgene ist so keine reine Offenheit, sondern mit dem, was die Offenheit auf eine latente Weise prägt, verflochten. Wiederum ist diese Latenz für Heidegger keine ursprüngliche Dimension, aus der das Unverborgene hervorgeht, sondern sie bilden gemeinsam eine Einheit: Wahrheit ist also niemals nur Lichtung, sondern west als Verbergung ebenso ursprünglich und innig mit der Lichtung. Beide, Lichtung und Verbergung, sind nicht zwei, sondern die Wesung des Einen, der Wahrheit selbst (GA 65, 347).
Das Sinngeschehen besteht in der Zusammengehörigkeit von Lichtung und Verbergung. Aus diesem Grunde ist die Gegenüberstellung von Verborgenem und Unverborgenem unangemessen. Wenn das Konzept der ἀλήθεια auf die Beseitigung des Verborgenen verweist, dann betrachtet Heidegger dieses Verständnis des Unverborgenen als ungeeignet, insofern dabei angenommen wird, dass das Verborgene ein Anderes gegenüber der Lichtung wäre. Heidegger thematisiert dieses Missverständnis, wenn er am Ende des Paragraphen 214 die Bedeutung der Verbergung als Abwesung ausräumt.²¹ Dieses Missverständnis ist nach Heidegger bereits im griechischen Denken angelegt, wo „das Verborgene zum Abwesenden [wurde], und das Geschehnis der Verbergung […] verloren [ging]“ (GA 65, 340). Die Deutung der Verbergung als Abwesenheit gründet nach Heidegger in der Auffassung der Lichtung vom Paradigma des Lichtes her. In diesem Paradigma wird die Lichtung als Ausleuchtung verstanden: Wenn ein Verborgenes gelichtet wird, dann tritt ein Anderes in den Hintergrund. Dieses Verständnis der Lichtung ist laut Heidegger irreführend und gipfelt in der Gegenüberstellung von Licht und Dunkel im modernen Paradigma der perceptio: Das Seiende gilt in der modernen Erkenntnistheorie als das Wahrnehmbare und zum vorstellenden Bewusstsein Gebrachte. Das Dunkle ist indes das noch nicht Gelichtete, das noch zu Entdeckende oder das absolut Unentdeckbare. Diese dualistische Auffassungsweise verfehlt aber die zwiespältige Zugehörigkeit von Lichtung und Verbergung. Heidegger demontiert die Deutung der Verbergung als Verdeckung eines Unverfügbaren an mehreren Stellen der Beiträge. Das Verborgene als ein Unverfügbares und rein Abwesendes zu verstehen, ist nur ein abstrakter Gegensatz zum vorherrschenden Paradigma der Anwesenheit. Selbst die moderne Metaphysik, welche die Vorstellbarkeit und Zugänglichkeit als Maßstab des Seins betrachtet,
Jacques Derrida hat auch einmal die Interpretation der Verbergung als Abwesenheit abgelehnt: „Als Abwesendes gäbe es uns überhaupt nichts zu denken, oder es wäre eine weitere negative Modifikation der Anwesenheit“ (Derrida 1972, 85).
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schafft Raum für das Unverständliche und das Unzugängliche (GA 65, 109).²² Die Motive des Unsagbaren und des Unverfügbaren bleiben selbst immer noch in der Dichtomie von Licht und Dunkelheit verfangen. Heideggers Konzept der „Lichtung der Verbergung“ rekurriert demnach auf kein Verborgenes, das auf eine geheime Weise die Weltbedeutsamkeit prägen würde. Die Verbergung repräsentiert in den Beiträgen keinen Entzug eines gründenden Seins, das zugunsten der Offenbarkeit des Seienden zurücktritt – eine solche Lesart riskiert, das Sein zu personifizieren und zu mystifizieren.²³ Das, was Sinn ermöglicht und konstituiert, ist nicht ein Anderes und ein Vorheriges, kein Unverfügbares und Übersinnliches. Die Dimension der Verbergung gehört stattdessen in den Bereich des λόγος hinein. Das Verborgene ist nicht das Andere des Sinns, sondern die Latenz dessen, was eine Sinngestalt ausmacht.²⁴ Anders gesagt: Das Verborgene ist nicht ein Anderes des Phänomenalen, sondern ein wesentliches Moment dessen Erscheinung. Nur die Lichtung hält „das Sichverbergende ins Offene“ (GA 65, 357). Somit hat das Verborgene keine unverfügbare Substantialität für sich, sondern entspringt als prägende Dimension in einem Sinnzusammenhang mit der Konstitution desselben.²⁵ Die Rede von der „Überwindung“ und der „Beseitigung“ des Verborgenen ist daher unangemessen. Sie ist vielmehr für die Art und Weise charakteristisch, in der das Verhältnis zwischen Offenheit und Verborgenheit in der griechischen Philosophie bzw. im Begriff der ἀλήθεια erfasst wird. Wenn ἀλήθεια als Unverborgenheit gedacht wird, dann zeige sich darin, „daß die Verbergung selbst nur
Das Geheimnisvolle wird im technischen Zeitalter, so Heidegger, auf die Dimension des Erlebnisses verlagert – der Ort, an dem das Fragwürdige noch zum Tragen kommt. Das Erlebnis ist so „die Jedermann zugängliche Öffentlichkeit des Geheimnisvollen, d. h. Aufregenden, Aufreizenden, Betäubenden und Verzaubernden“ (GA 65, 109). Thomas Sheehan sieht zu Recht in dieser Lesart die Hypostasierung eines Superseins. Vgl. Sheehan 2015, 237. An einer dafür aufschlussreichen Stelle heißt es: „Auf Wahrheit als Offenheit des Sich-verbergens ist das Da-sein bezogen, angesetzt durch Seinsverständnis“ (GA 65, 295). Das Sein, das jenseits der Dimension des Verstehens liegen würde, könnte nur in einer unmittelbaren Erfahrung erblickt werden. Heidegger behauptet aber in den Beiträgen, dass „der Anfall des Seyns“ sich dem Menschen „nie unmittelbar [bekundet], sondern verborgen in den Weisen der Bergung der Wahrheit“ (GA 65, 236). An einer weiteren Stelle heißt es: „Und wo und solange der Anschein besteht, als gäbe es eine leere, in sich vollziehbare Eröffnung einer unmittelbaren Zugänglichkeit zum Seienden, da steht der Mensch dann nur in dem nicht mehr und noch nie begriffenen Vorfeld der Verlassenheit“ (GA 65, 236 – 237). Dieser zwiespältige Stellenwert des Verborgenen ist auch im Ursprung des Kunstwerkes zu erkennen: Obwohl dort die Erde die Rolle des Verborgenen einnimmt und die Spur einer vorbegrifflichen Anordnung des Sinns symbolisiert, wird sie als Erde erst und allein innerhalb der Welt erschlossen (vgl. Kap. III.2: „Die Translatio der Erde in die Welt“).
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erfahren ist als das zu Beseitigende, was weg gebracht (α‐) werden muß“ (GA 65, 350). So wird „das Entborgene nur als solches wesentlich“ und die Frage nach der konstitutiven Verbergung nicht mehr gestellt (GA 65, 350). Dadurch nimmt Heidegger vom Begriff der ἀλήθεια Abstand und behauptet, dass seine Auffassung der „Wahrheit als die Lichtung für die Verbergung (…) ein wesentlich anderer Entwurf als die ἀλήθεια“ ist (GA 65, 350). Seine Auffassung visiert nicht das Entborgene, sondern die Entbergung, und diese zwar als Lichtung, in der nun überhaupt die Verbergung selbst ins Offene kommt. Dadurch wird die Verbergung jedoch nicht aufgehoben, sondern erst in ihrem Wesen faßbar (GA 65, 350).
Die Lichtung wird hier als Austragungsort einer Verbergung konzipiert, d. h. als Ort, an dem die Verbergung geschieht. Die Verbergung kommt dabei derart zum Tragen, dass sie die Lichtung prägt und gestaltet. Es ist gerade an dieser Stelle, dass Heidegger sich nachdrücklich vom Begriff der Aufhebung abgrenzt: „Die Lichtung der Verbergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Freistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verbergung“ (GA 65, 352). Heidegger verwendet an dieser Stelle „Aufhebung“ nicht nur im Sinne von „Beseitigung“ und „Überwindung“, sondern auch im Sinne von „Umwandlung“. Wenn aber die Lichtung nicht als eine Verwandlung der Verbergung verstanden werden soll, worin besteht dann die tragende und prägende Funktion der Verbergung in der Lichtung? Heidegger kehrt das übliche Verhältnis zwischen Lichtung und Verbergung um: Es kommt nicht darauf an, die Lichtung aus der Verbergung her zu denken, sondern darauf, dass die Lichtung für die Verbergung gegründet werden soll. Dieser Entwurf, den abgründigen Grund für die Verbergung vorzubereiten, macht den Kern des anderen Anfangs des Denkens aus. Inwiefern Heidegger den anderen Anfang des Denkens als „Lichtung für die Verbergung“ konzipiert, wird später erläutert (Vgl. Kap IV.3: „Die Gründung des anderen Anfangs“). Im Anschluss an die Abgrenzung vom Begriff der Aufhebung rekapituliert Heidegger sein bisheriges Werk wie folgt: In meinen bisherigen Versuchen zum Entwurf des Wesens der Wahrheit ging die Bemühung, verständlich zu werden, immer zuerst darauf, die Weisen der Lichtung und die Abwandlungen der Verbergungen und ihre wesentliche Zusammengehörigkeit deutlich zu machen (vgl. z. B. den Wahrheitsvortrag 1930) (GA 65, 352).
Der Wahrheitsvortrag, der die Zugehörigkeit von Lichtung und Verbergung zum ersten Mal formuliert, wird hier als Beispiel genannt. Dies suggeriert, dass die Beiträge den Gipfelpunkt eines einheitlichen Gedankens darstellen, der für das
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ganze Werk Heideggers bestimmend ist. Die Zusammengehörigkeit von Lichtung und Verbergung wird erst dann begriffen, wenn sie vom Verhältnis zwischen der Offenheit der Erscheinung und deren unverfügbarem Grund radikal abgegrenzt werden. Zu diesem Zweck radikalisiert Heidegger in den Beiträgen das Ausbleiben eines Grundes der Lichtung und betont eine konstitutive Dimension des Nichts. Am Ende der bisher behandelten Paragraphen heißt es: „daß zur Wahrheit das Nichthafte gehört, aber keineswegs nur als ein Mangel, sondern als Widerständiges, jenes Sichverbergen, das in die Lichtung als solche kommt“ (GA 65, 356). Das Verhältnis zwischen Sein und Nichts ist das Pendant zum Verhältnis zwischen Lichtung und Verbergung. Durchdringt die Verbergung die Lichtung, so besagt dies, dass das Nichts dem Sein bzw. der Konstitution von Sinn innewohnt: „Der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns“ (GA 65, 284).²⁶
B Das Nichts: Die Nichtreferentialität von Sinn In der Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) schreibt Heidegger: „Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein“ (GA 9, 115). Gegen die These der altertümlichen Metaphysik, ex nihilo nihil fit, und im Kontrast zur christlichen Lehre, ex nihilo fit – ens creatum, formuliert Heidegger die These: ex nihilo omne ens qua ens fit (GA 9, 120). Das Seiende entspringt als das, was es ist, aus dem Nichts. In den Beiträgen verschärft Heidegger diesen Ansatz und behauptet mehrmals, die Lichtung sei eine Schenkung aus dem Nichts.²⁷ Der Vortrag Was ist Metaphysik? artikuliert prima facie die Erfahrung der Endlichkeit des menschlichen Daseins. In der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod wird die Welt als eine solche – das Seiende als Seiendes – erschlossen: „Im Nichts des Daseins kommt erst das Seiende im Ganzen seiner eigensten Möglichkeit nach, d. h. in endlicher Weise, zu sich selbst“ (GA 9, 120). Das Nichts des Daseins wird in der Stimmung der Angst erfahren, welche die Offenheit des Seienden derart erschließt, dass sie in das Licht ihrer radikalen Endlichkeit rückt.
Zur Radikalisierung der Thematik des Seins-zum-Tode in den Beiträgen vgl. Brogan 2001. Zum Verhältnis zwischen dem Konzept des Abgrundes und dem Tod vgl. D. Koch 2013, 18: „Der Tod hat nicht nur für die Sterblichen Bedeutung, sondern für das Ganze (…). Zur Konzeption des AbGrundes gehört das Nicht in Gestalt des Todes konstituiverweise dazu. Dieses Nicht verleiht allem Da seine Schärfe und Bedeutung, es ist keine bestimmte Negation als Vehikel dialektischer Entfaltungsbewegung“. Vgl. GA 65: 293, 384, 395, 406, 410.
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Eine derart konzipierte Endlichkeit würde jedoch zu kurz greifen. Selbst in diesem früheren Text hat Heidegger das Ziel, die Auswirkung des Nichts auf die Konstitution des Seinsverständnisses hervorzuheben. Es handelt sich nicht um das Vorstellungsexperiment, das Nichts in abstracto zu veranschaulichen, um das Faktum des Seins durch eine Kontrastfolie aufzuzeigen. Das Nichts steht nicht in einem disjunktiven Verhältnis zum Sein – weder als Verneinung des Seienden noch als das Andere des Seins.²⁸ Heideggers Anliegen ist hingegen, das Nichts in seiner Zusammengehörigkeit mit der Weltbedeutsamkeit zu denken. Dahingehend heißt es: „Das Nichts begegnet in der Angst in eins mit dem Seienden des Ganzen. Was meint dieses ‚in eins mit‘?“ (GA 9, 112).²⁹ Die Angst fungiert als Grundstimmung des Daseins und offenbart die Art und Weise, in der das menschliche Dasein sich „inmitten des Seienden im Ganzen“ befindet, bzw. das „Grundgeschehen unseres Da-seins“ (GA 9, 110). Der Satz „die Angst offenbart das Nichts“ deutet darauf, dass die menschliche Weltbedeutsamkeit sich inmitten des Nichts befindet. Das Nichts liegt nicht vor oder neben dem Seienden im Ganzen, sondern im Kern desselben. Diesen Sachverhalt nennt Heidegger „Nichtung“. Das Nichten bedeutet paradoxerweise das Gegenteil von Verneinung und Vernichtung, und zwar „erschließen“, „sichtbar machen“, „einen Sinn stiften“. Die stiftende Funktion des Nichts drückt Heidegger im Satz „das Nichts selber nichtet“ aus: „Das Wesen des ursprünglich nichtenden Nichts liegt in dem: es bringt das Da-sein allererst vor das Seiende als ein solches“ (GA 9, 114). Heidegger versteht demnach bereits 1929 die Konstitution von Sinn als vom Nichts durchdrungen. Er definiert dort das Da-sein als „Hineingehaltenheit in das Nichts“ (GA 9, 114): Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts. So endlich sind wir, daß wir gerade nicht durch eigenen Beschluß und Willen uns ursprünglich vor das Nichts zu bringen vermögen. So abgründig gräbt im Dasein die Verendlichung, daß sich unserer Freiheit die eigenste und tiefste Endlichkeit versagt (GA 9, 117).
Am Ende des Vortrages behauptet Heidegger, dass Hegels Satz „das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe“ zu Recht besteht (GA 9, 120). Dies ist aber der Fall nicht wegen der unmittelbaren Unbestimmtbarkeit des Seins und des Nichts,
Die Verneinung und das Nicht seien Begriffe der Logik und der Wissenschaft. Das Nichts selbst sei aber „ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung“ (GA 9, 108). In einer späteren Randbemerkung zu dieser Stelle notiert Heidegger: „der Unterschied“ (GA 9, 112). Der Begriff des Unter-schiedes ist Heideggers spätere Bezeichnung und Deutung für den Zwiespalt zwischen Verbergung und Lichtung und für die Differenz zwischen Sein und Seinsverständnis. Vgl. GA 12, 7– 30; GA 7, 189 – 208; GA 11, 51– 80.
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„sondern weil das Sein selbst im Wesen endlich ist“ (GA 9, 120). Wenn der Mensch – als Platzhalter des Nichts – der einzige Ort ist, an dem Sein erschlossen wird, dann ist das Sein selbst endlich, weil es auf diesen endlichen Austragungsort angewiesen ist. Die Endlichkeit des Seins liegt darin, dass das Sein hätte auch nicht sein können – dass der Sinn von Sein hätte auch anders sein können. Das Sein steht und fällt mit der Möglichkeit einer menschlichen Welt. Die in Was ist Metaphysik? zentrale Frage „warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ wird in den Beträgen als Übergangsfrage zur Wahrheitsfrage bezeichnet (GA 65, 421; GA 65, 509). Die Wahrheitsfrage geht über den Möglichkeits- und Endlichkeitscharakter des Sinns hinaus und bezieht sich auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Nichts und dem Sinngeschehen bzw. auf die konstitutive Funktion des Nichts für den Sinn des Seins. Dies hat zur Konsequenz, dass die Endlichkeit des Seins nicht mehr nur ein ontologisches Verdikt, sondern auch der Leitfaden für eine Neustiftung des Sinns von Sein ist. Heidegger beginnt das Kapitel Die Gründung mit einer Zusammenfassung der Begriffskonstellation der Beiträge: Wo aber Pflanze, Tier, Stein und Meer und Himmel seiend werden, ohne in die Gegenständlichkeit herabzufallen, da waltet der Entzug (Verweigerung) des Seyns, dieses als Entzug. Der Entzug ist aber des Da-seins. Die Seinsverlassenheit ist die erste Dämmerung des Seyns als Sichverbergen aus der Nacht der Metaphysik, durch die das Seiende sich in die Erscheinung und damit die Gegenständlichkeit vordrängte und das Seyn zum Nachtrag in der Gestalt des Apropri wurde. Wie abgründig gelichtet aber muß die Lichtung für das Sich-verbergen sein, damit der Entzug nicht vordergründlich als ein bloß Nichtiges erscheine, sondern als die Schenkung walte (GA 65, 293).
Der Absatz beschreibt den Zusammenhang zwischen dem Nichts und der Entstehung von Sinn. Der Sinn von Phänomenen wird an dieser Stelle mit der Gegenständlichkeit kontrastiert.Was das Meer, der Himmel und die Steine bedeuten, ist nicht vorhanden und lässt sich auf das Gegenständliche nicht zurückführen. Die Bedeutung dieser Phänomene entspringt für Heidegger nicht aus ihrer Referenz. Das Meer und die Steine werden seiend, insofern sie durch ein Sinngeschehen ihre Bedeutung erhalten. Dieses Sinngeschehen kann auf keine Kategorien der Gegenständlichkeit als raumzeitlicher Vorhandenheit zurückgeführt werden, so könnte man Heideggers Gedanken weiterentwickeln. Die Bedeutung des Meers geht über die wahrnehmbare Gegenständlichkeit hinaus und durchdringt vielmehr die Wahrnehmung des Gegenstandes „Meer“. Vor diesem Hintergrund bleibt für Heidegger das Sinngeschehen selbst in der Nennung von Dingen, Tieren und Pflanzen verborgen. Die Nennung verschleiert vielmehr das,
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was sie sichtbar macht, oder sie verbirgt den Grund, woraus sie entspringt. Deshalb bezeichnet Heidegger den Grund des Seienden als Abgrund. Dieser Gedanke Heideggers kann derart verdeutlicht werden, dass das, was Worte bedeuten, jenseits dieser Deutung nicht gegeben ist. Das Gedeutete ist nichts außerhalb der Deutung. Diesen Gedanken muss Heidegger dem ersten Vers aus Hölderlins Mnemosyne entnommen haben: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“.³⁰ Die Referenzlosigkeit des Seienden bzw. des Bereiches der Bedeutsamkeit bezeichnet Heidegger als Nichts. Und in dem Sinne, in dem die Bedeutsamkeit einer Welt auf Referenzlosigkeit beruht, beschreibt Heidegger das Nichts als Schenkung. Der Sinn ist jenseits der Deutung ein Nichts.³¹ Wenn diese Endlichkeit des Sinns vergessen wird, dann kann der Sinn verloren gehen. Der Versuch, den deutungslosen Sinn auf der Referenz zu gründen, setzt die Bedeutsamkeit aufs Spiel. Die erkenntnistheoretische Frage nach der Konstitution der Gegenständlichkeit verspielt Heidegger zufolge die Natur von Bedeutsamkeit. Daraus ergibt sich in den Beiträgen der Imperativ der Aufrechterhaltung des Abgrundes, um die Bedeutsamkeit einer Welt zu bewahren – dadurch, dass sie nicht in Gegenständlichkeit übersetzt wird.³² Wenn die Nichtreferentialität des Sinns anerkannt wird, kann das Seiende in seiner Bedeutsamkeit bestehen. Heidegger erläutert die Bedeutung des Nichts kurz vor der betrachteten Präambel zum Kapitel Die Gründung. Dabei bezieht er sich auf den Anfang der Logik Hegels und findet in der Identität von Sein und Nichts einen Anschlusspunkt für seine eigene Konzeption: gerade für Hegel ist nicht nur das ‚Seyn‘ eine bestimmte, erste Stufe dessen, was künftig unter Seyn zu denken ist, sondern dieses Erste ist als das Un-bestimmte, Un-mittelbare eben schon die reine Negativität der Gegenständlichkeit und des Denkens (GA 65, 266).
Hegel erkennt die wesentliche Zugehörigkeit des Nichts zum Sein. Dies bedeutet für Heidegger, dass das Sein nicht in den ontologischen und transzendentalen
Heideggers bezieht sich auf den zitierten Vers im Vortrag Was heißt Denken? (1952). Vgl. GA 7, 127– 144. So wird es beispielsweise später im „Feldweg-Gespräch“ über die Gelassenheit (1944/45) heißen: „Vielleicht kommen diese Namen nicht aus einer Benennung. Sie verdanken sich einer Nennung, in der sich zumal das Nennbare, der Name und das Genannte ereignen“ (GA 77, 119). Das Wahrnehmungsparadigma, innerhalb dessen das Seiende als Gegenständliches gilt, beruht auf der Annahme, dass die Bedingung der Bedeutsamkeit in der Vorhandenheit des Gedeuteten liegt – so kann man Heideggers Kritikpunkt entfalten. Bevor sie gedeutet werden, müssen die Dinge gemäß dem Wahrnehmungsparadigma an sich sein – die Dinge sind primär nichtgedeutete Gegenstände.
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Kategorien aufgeht, d. h. weder auf die Vorhandenheit noch auf die Subjektivität zurückführbar ist. Für Hegel bezeichnet aber das Nichts den Bereich der impliziten, begrifflichen Bestimmungen des Seienden, d. h. den Bereich der scheinbaren Negationen. Diese lassen sich begrifflich einholen und in ihrer Zugehörigkeit zu dem, was gedacht wird, aufheben. Die Negation ist somit, wie Heidegger in den Notizen zu einem Seminar über Hegel schreibt, „‚nichts Negatives‘ – sie überlebt sich: als aufgehobene“ (GA 86, 108). Dagegen versteht Heidegger das Nichts nicht als Nichtseiendes und als Negativum, sondern als „die wesentliche Erzitterung des Seyns selbst und deshalb seiender als jegliches Seiende“ (GA 65, 266). Wenn bei Hegel die Negativität in Positivität dadurch aufgelöst wird, dass hinter dem Nichts sich Denkbestimmungen befinden, die obzwar verborgen, sich begrifflich enthüllen lassen, dann opponiert Heidegger gegen Hegel die „Ja-sagende Kraft“ zum Nichts: Es kommt im anderen Anfang des Denkens darauf an, „das Nichtende im Seyn selbst, das uns erst eigentlich ins Seyn und seine Wahrheit ent-setzt, als verborgenstes Geschenk zu erfahren“ (GA 65, 267). Die Bejahung des Nichts soll die Struktur der Negation der Negation überwinden: Es handelt sich nicht um die Umwandlung des Nichts ins Sein, sondern um die Aufrechterhaltung der Nichtigkeit einer Welt. Die Auffassung des Nichts als verborgenes Geschenk lässt die Frage offen, inwiefern aus dem Ja-Sagen zum Nichts die Schenkung des Bedeutsamen entsprießt. Stellt dieser Anspruch auf eine Schenkung des Nichts nicht eine Form von Positivität dar? Dieser möglichen Nähe zu Hegel ist sich Heidegger bewusst. Bereits am Anfang seiner Erläuterungen über das Nichts schreibt er: Die Innigkeit des Nicht und das Strittige im Sein, ist das nicht die Negativität Hegels? Nein, und doch hat er, wie schon der ‚Sophistes‘ Platons und zuvor Heraklit, nur wesentlicher und doch wieder anders, Wesentliches erfahren, aber im absoluten Wissen aufgehoben; die Negativität, nur um zu verschwinden und die Bewegung der Aufhebung im Gang zu halten (GA 65, 264).
Diese Textstelle verdeutlicht erneut, dass der Streitpunkt zwischen Hegel und Heidegger im Begriff der Aufhebung liegt. Die Aufhebung besteht für Heidegger darin, dass das Wissen um die Negativität dieselbe entschwinden lässt. Die begreifende Aneignung der Negativität verfehlt die Radikalität des Nichts. Heideggers Kritik an der Aufhebungsfigur und die Hervorhebung der Endlichkeit des Seins ist eine Kritik am Stellenwert des Begriffs in der idealistischen Philosophie: „Der Satz: das Seyn ist endlich, nur gemeint als übergängliche Abwehr des ‚Idealismus‘ jeglicher Art“ (GA 65, 268). Der Satz erinnert unverzüglich an seine 1929 formulierte Kritik am Idealismus: „der Endlichkeit Herr werden, sie zum Verschwinden bringen, statt umgekehrt sie auszuarbeiten“ (GA 28, 47). Die Kon-
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zeption der Endlichkeit des Seins ist somit wesentlich als Abwehr gegen den Idealismus gemeint: Wenn das Seyn als unendlich gesetzt wird, dann ist es gerade bestimmt. Wird es als endlich gesetzt, dann wird seine Ab-gründigkeit bejaht. Denn das Un-endliche kann ja nicht gemeint sein als das verfließende, nur sich verlaufende Endlose, sondern als der geschlossene Kreis! Dagegen steht das Ereignis in seiner ‚Kehre‘! (strittig) (GA 65, 268 – 269).
Die Kritik an der metaphysischen Unendlichkeit besteht in einer Kritik an der begrifflichen Bestimmung des Seins. Das Endliche zu bestimmen, heißt zugleich, die Endlichkeit zu verfehlen. Gegen die hegelsche Konzeption der wahren Unendlichkeit, wonach eine endliche Bestimmung in sich selbst einen Reichtum von mannigfaltigen Bestimmungen enthält, liegt für Heidegger die Endlichkeit von Bedeutungen darin, begrifflich unbestimmt zu sein. Im anderen Anfang des Denkens kommt es daher nicht nur darauf an, den Abgrund der Sinnkonstitution anzuerkennen, sondern auch darauf, das Abgründige begrifflich nicht zu bestimmen. Das Projekt, die Konstitution von Sinn begrifflich zu ergründen, versagt, weil die Entstehung von Sinn nicht begrifflich ist. Die Anerkennung des Abgrundes als eines solchen ist von der Zuversicht begleitet, dass diese Anerkennung – die Bejahung des Nichts – einen produktiven Stellenwert in der Gründung des anderen Anfangs hat. Im Paragraphen über „Das Nichts“ fragt Heidegger: Wie aber, wenn das Seyn selbst das Sichentziehende wäre und als die Verweigerung weste? Ist diese ein Nichtiges oder höchste Schenkung? Und ist gar erst kraft dieser Nichthaftigkeit des Seyns selbst das ‚Nichts‘ voll jener zuweisenden ‚Macht‘, deren Beständnis alles ‚Schaffen‘ (Seienderwerden des Seienden) entspringt? (GA 65, 246)
Wenn das Nichts in sich das Potenzial des Schaffens birgt, dann scheint das Verweilen beim Nichts die Zauberkraft zu besitzen, das Nichts ins Sein umzuwandeln. Das Seiende wird als seiend bewahrt, wenn dem Nichts ins Angesicht geschaut wird. Ist dieser Umschlag vom Nichts ins Sein somit eine Art von Aufhebung?
3 Die Gründung des anderen Anfangs A Das Wissen um die Verbergung Mit der Beschreibung des Ereignisses bzw. der Konstitution von Sinn als lichtende Verbergung zielt Heidegger nicht nur auf eine Entwicklungstheorie der abend-
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ländischen Ontologie, sondern auch auf ein neuartiges Verhältnis zum Bereich der Bedeutsamkeit. Und das Konzept des Ereignisses bezieht sicht nicht nur auf die Genese eines geschichtlichen Seinsverständnisses, sondern auch auf das, was sich ereignet, wenn man den Einblick in die Verflechtung von Lichtung und Verbergung erhält. Heideggers Gedanke lautet, dass aus der Einsicht in die Genese des Seinsverständnisses das Ereignis eines anderen Anfangs des Denkens entspringt. Wenn die Verbergung als Konstitutivum des Sinngeschehens erfahren und aufrechterhalten wird, ereignet sich die Gründung einer anderen „Seinsgeschichte“ (GA 65, 158). Die Dimension der Verbergung kommt in jedem Seinsverständnis zum Tragen, das in der Geschichte der abendländischen Metaphysik jeweils vorherrscht, ohne dabei als solche erfahren zu werden. Das Übersehen dieses Sachverhaltes bezeichnet Heidegger als Seinsverlassenheit: Was in der Geschichte der Metaphysik allmählich vergessen wird, ist das empirisch nicht feststellbare und kategorial nicht bestimmbare Sinngeschehen. Diese Verlassenheit liegt aber am Sein selbst, wie Heidegger wiederholt, insofern der Grund des Sinngeschehens weder gegeben noch begründbar ist. Das Gegenmodell des anderen Anfangs zielt auf die Überwindung der Seinsverlassenheit durch die auf Dauer gestellte Einsicht in die konstitutive Verbergung von Sinn. Die Lichtung soll nicht mehr nur Lichtung des Sichverbergenden, sondern vielmehr Lichtung für das Sichverbergen sein. Bereits im Wahrheitsvortrag (1930) deutet Heidegger auf das Waltenlassen der Verbergung des Verborgenen hin.³³ In den Beiträgen spricht Heidegger vom „Bergen der Entbergung des Verborgenen als solchen“ (GA 65, 22). Der Übergang in den anderen Anfang besteht folglich aus zwei Schritten. Der erste liegt in der Entbergung der Verbergung bzw. in der Anerkennung der konstitutiven und tragenden Funktion der Verbergung. Der zweite liegt in der Aneignung dieser Einsicht. Diese Aneignung bedeutet für Heidegger nicht nur die Aufbewahrung einer erworbenen Kenntnis, sondern schlägt vielmehr in eine neue Stellung des Menschen im Ganzen des Seienden um.³⁴ Die Anerkennung der Verbergung repräsentiert somit keine kontemplative Haltung, sondern wird vom Impetus des Schaffens und der Neustiftung getragen. Wenn dem so ist, dann soll der andere Anfang im Gegensatz zur metaphysischen Tradition auf keinem Grund gegründet werden, sondern die „Grundstimmung der Gründung“ ist „das schaffende Aushalten im Ab-grund“ (GA 65, 36). Der Ausdruck wird hier einer negativen Formulierung in Vom Wesen der Wahrheit entnommen: „Die Ansässigkeit des Gängigen ist aber in sich das Nichtwaltenlassen der Verbergung des Verborgenen“ (GA 9, 195). Vgl. Kap III.1.D: „Das Walten der Verbergung“. Vgl. GA 65, 338: Der „Einsprung in die Wesung der Wahrheit“ soll als Folge „eine Verwandlung des Menschenseins im Sinne einer Ver-rückung seiner Stellung im Seienden“ haben.
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Es gibt aber in Heideggers Werk konkurrierende Modelle dieser Neustiftung, die in den Beiträgen angebahnt und in den späteren veröffentlichten Texten entfaltet werden. Gliedert man diese Modelle in zwei Tendenzen auf, so gibt es einerseits einen Umschlag des Wissens um den Abgrund in eine Neustiftung und andererseits eine „Zuweisung“ aus dem Abgrund. Der Antrieb des angesprochenen Umschlages ist allein das Wissen um die Verbergung: „Die Seinsverlassenheit: sie muß als das Grundgeschehnis unserer Geschichte erfahren und ins Wissen – das gestalterische und führende – gehoben werden“ (GA 65, 112). Bereits am Anfang der Beiträge heißt es, die Wahrheit des Seins ist „als denkerische […] das inständliche Wissen, wie das Seyn west“ (GA 65, 7). Dieses Wissen ist das „im anderen Anfang stehende Wissen“, das Heidegger als „Inständigkeit in der Fragwürdigkeit des Seyns“ beschreibt (GA 65, 158). Im Wissen, dass es Verbergung gibt, soll eine Welt gegründet oder vielmehr sein gelassen werden: Das Wesen des Seyns als Ereignis wissen, heißt die Gefahr der Verweigerung nicht nur kennen, sondern zur Überwindung bereit sein (…) Niemand versteht, was ‚ich‘ hier denke: aus der Wahrheit des Seyns (und d. h. aus der Wesung der Wahrheit) das Da-sein entspringen lassen, um darin das Seiende im Ganzen und als solches, inmitten seiner aber den Menschen zu gründen (GA 65, 8).
Das Wissen um die Verbergung überwindet die Vergessenheit derselben. Was im anderen Anfang gewusst wird, ist einzig und allein das Spannungsverhältnis zwischen dem Geschehen von Sinn und der dazu gehörigen Verbergung. Es handelt sich um kein Was – um kein Verborgenes und um kein Entzogenes –, sondern allein um die dem Sinngeschehen inhärente Verbergung – um einen Entzug ohne Entzogenes. Das Wissen um den Zwiespalt der Sinnkonstitution lässt die Bedeutsamkeit aus dem Abgrund bzw. aus dem Nichts entspringen. Heidegger beschreibt dieses Entspringen von Sinn als Schenkung und gibt dadurch Anlass zu einer anderen Lesart seiner Konzeption. Die Grundstimmung des anderen Anfangs – die Verhaltenheit – ist die „Bereitschaft für die Verweigerung als Schenkung“ (GA 65, 15). Die Verweigerung selbst ist „höchste Schenkung des Seyns“ (GA 65, 241). Die Verweigerung ereignet sich als der Entzug, der einbezieht in die Stille, in der die Wahrheit ihrem Wesen nach neu zur Entscheidung kommt, als ob sie als die Lichtung für das Sichverbergen gegründet werden kann. Dies Sichverbergen ist das Entbergen der Verweigerung, das Zugehörenlassen in das Befremdliche eines anderen Anfangs (GA 65, 241).
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Heideggers andere Tendenz, den anderen Anfang zu beschreiben, beruft sich nicht nur auf das Wissen um die Verbergung, sondern auch auf ein Sich-Einlassen auf ein Befremdliches. Das Befremdliche kommt aus einer fremden Zuweisung: „Als Verweigerung aber ist das Seyn nicht der bloße Rück- und Abzug, sondern im Gegenteil: Verweigerung ist Innigkeit einer Zuweisung“ (GA 65, 240). Diese andere Tendenz ist von der Metaphorik des Zurufs des Seyns geprägt, dem der Mensch zuzuhören hat, damit er dem Seyn zu-ereignet wird. Dieser Zuruf wird nicht als Zugehörigkeit in ein Geworfensein bzw. in eine bereits konstituierte Welt verstanden, sondern vielmehr vom anderen Anfang her gedacht. So erweist die Metapher des Zurufs eine eschatologische Konnotation und veranlasst mystifizierende Lesarten des sogenannten anderen Anfangs.
B Die Bedeutung des Abgrundes Heidegger charakterisiert den anderen Anfang auch durch die Aufrechterhaltung der Fragwürdigkeit des Seins. Das Suchen der Fragenden „liebt den Abgrund, in dem sie den ältesten Grund wissen“ (GA 65, 13). Die Fragwürdigkeit des Seins aufrechtzuerhalten, bedeutet, auf die Fundierung des anderen Anfangs zu verzichten. In dieser Hinsicht besteht die Neugründung im Wegschaffen aller Gründe, wodurch der Abgrund als wahrer Grund entdeckt wird. Der Terminus „Abgrund“ bedeutet für Heidegger kein abyssum, sondern den radikalen Mangel an einem festen Grund – d. h. das stetige Ausgleiten des Grundes im Versuch, diesen festzulegen. In diesem Sinn definiert Heidegger den Abgrund als „die zögernde Versagung des Grundes“ (GA 65, 380). Der Begriff des Abgrundes steht demnach für die Unmöglichkeit, die Bedeutsamkeit einer Welt auf einen ersten Grund zurückzuführen. Im Paragraphen 242 der Beiträge, wo der Begriff des Abgrundes näher bestimmt wird, heißt es, der Abgrund ist „kein bloßes Sichversagen als einfacher Rückzug und Weggang. Der Ab-grund ist Ab-grund“ (GA 65, 379). Mit anderen Worten, der Abgrund ist zwar „Weg-bleiben des Grundes“ (GA 65, 379), aber ein solcher, worauf gegründet werden kann. Der Abgrund bezeichnet das „Sichverbergen in der Weise der Versagung des Grundes. Versagung ist aber nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerfüllt–, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung“ (GA 65, 379). In der Versagung des Grundes „öffnet sich die ursprüngliche Leere, geschieht die ursprüngliche Lichtung“ (GA 65, 380).³⁵ Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Ver-
In der Versagung wird das Seyn selbst, hier auch „Ur-grund“ genannt, „erwunken“ (GA 65,
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IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie
sagung des Grundes doch eine gründende Funktion übernehmen kann: „Jetzt gilt es nur, das Wesen der Leere selbst zu bestimmen, das will sagen: die Ab-gründigkeit des Abgrundes zu denken; wie der Ab-grund gründet“ (GA 65, 381). Der Ab-grund als Wegbleiben des Grundes soll doch die Wesung der Wahrheit (der lichtenden Verbergung) sein. Weg-bleiben des Grundes, ist das nicht Abwesenheit der Wahrheit? Aber das zögernde Sichversagen ist doch gerade Lichtung für die Verbergung, somit Anwesung der Wahrheit. Gewiß, ‚Anwesung‘, jedoch nicht in der Weise, wie Vorhandenes anwest, sondern Wesung dessen, was erst An- und Abwesenheit von Seiendem begründet, und nicht nur dieses (GA 65, 381).
Was die semantische Anwesenheit von Seiendem begründet, ist strenggenommen nichts. In der Erfahrung des Abgrundes wird somit die Nichtreferentialität von Sinn als wahrhafter Grund von Bedeutsamkeit erkannt. Die Anerkennung der begründenden Nichtreferentialität ermöglicht zugleich eine Gründung, die sich nicht nur durch den Verzicht auf Begründung und Ergründung auszeichnet, sondern vielmehr dadurch, dass das, was die Erscheinung von Sinnzusammenhängen eigentlich begründet, d. h. die Verbergung, in ihrer stifenden Funktion wirken gelassen wird. Wenn Heidegger das neuartige Verhältnis des Menschen zum Bereich des Bedeutsamen bzw. das neu gegründete Dasein als „Sucher, Wahrer, Wächter“ beschreibt (GA 65, 17), dann ist das, was dabei bewahrt wird, die Nichtreferentialität der Weltbedeutsamkeit. Der andere Anfang bestimmt sich daher durch die Aneignung der immer schon begründenden, jedoch grundlosen Verbergung. Im Sinne dieser Aneignung muss „die Ergründung des Grundes (…) den Sprung in den Ab-grund wagen“ (GA 65, 380). Was Heidegger mit solchen Formeln anvisiert, ist die radikale Zurücknahme des menschlichen Subjektes aus der Begründung von Sinnzusammenhängen. Es kommt darauf an, anzuerkennen, dass das, was die Eigenheit des Daseins und seiner semantischen Weltbezüge ausmacht, nicht vom Subjekt gesetzt ist.
380). Der Urgrund erschließt sich „als Sichverbergendes nur im Ab-grund“ (GA 65, 380). Schellings Einfluss auf diese Terminologie ist unverkennbar. Im Sommersemester 1936, zu Beginn der Abfassung der Beiträge, hält Heidegger eine Vorlesung zu Schellings Freiheitsschrift. Gadamer (1981) hat argumentiert, dass Heidegger in Schelling einen Mitstreiter in der Auseinandersetzung mit der griechischen Tradition des Logos, Tradition, die in Hegel gipfelt, erkannt hat. In Schellings Denken habe Heidegger „die unauflösbare Dunkelheit des Grundes“ eingesehen (Gadamer 1981, 138). Zur Erläuterung der Berührungspunkte zwischen Heidegger und Schelling vgl. Hühn 2010; Gabriel 2010.
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C Das Ereignis als Aneignung der Verbergung Im Paragraphen 197„Da-sein – Eigentum – Selbstheit“ problematisiert Heidegger das Selbstsein des Daseins im Ausgang von einer hegelschen Terminologie.³⁶ Das Selbst des Menschen wird als Eigentum des Ereignisses gedacht (vgl. Seubold 2013). Dies bedeutet, dass das Selbstverhältnis des Menschen in einen Sinnhorizont gehört, worüber er selbst nicht verfügt. Deshalb kommt der Mensch zu sich selbst und er wird Selbst, wenn er diese Zugehörigkeit in das Ereignis anerkennt und sich dieser überlässt.³⁷ Das Zu-sich-kommen des Daseins ist so keine „zuvor abgelöste Ich-vorstellung, sondern Übernahme der Zugehörigkeit in die Wahrheit des Seins, Einsprung in das Da“ (GA 65, 320).Wenn das Selbstsein in der Annahme des Da als Austragungsort des Sinngeschehens besteht, dann bezieht die Aneignung dieses Da auch die Anerkennung der für das Da konstitutiven Dimension der Verbergung ein. Durch die Aneignung der Verbergung wird das Da das, was es eigentlich immer schon ist – lichtende Verbergung. So wird im Wissen dessen, wie Sinn geschieht, die Konstitution von Sinn thematisch als Aufgabe übernommen.³⁸ Vor diesem Hintergrund beschreibt Heidegger das Selbstsein des Menschen als Inständigkeit im Ereignis: Diese ermöglicht dem Menschen, „geschichtlich ‚zu sich‘ zu kommen und bei-sich zu sein“ (GA 65, 320). Heidegger schildert die Erfahrung der Zugehörigkeit in das Ereignis als ein „Geschehnis der Ohnmacht“ (GA 65, 321). Die Einsicht in die eigene Ohnmacht ermöglicht es dem Menschen, „das Eigentum zu bestehen und zu wissen“ (GA 65, 321). Zu sich selbst zu kommen, bedeutet daher nicht, die begründende Rolle in der Konstitution von Sinn zu übernehmen, sondern im Gegenteil anzuerkennen, dass das Selbst vom Ereignis bestimmt wird. Heidegger lehnt an dieser Stelle das Paradigma der Autonomie grundlegend ab: Das Bild des freien Selbst als causa sui ist „täuschender Vordergrund“ (GA 65, 321). Die Motive des Eigenen und des Eigentums sind ein Nachklang des Begriffes der Eigentlichkeit. Wenn aber in Sein und Zeit die Eigentlichkeit des Daseins im Zusammenhang mit dem freien Entwurf des Daseins gedacht wird, bedeutet Ei-
Giorgio Agamben verweist auf die ähnliche Etymologie des heideggerschen Begriffs des Ereignisses und des hegelschen Begriff des Absoluten. Wird das Ereignis vom Eignen und Eigenem (lat. sui, sibi, se) her gedacht, so wird das Absolute vom reflexiven se (dt. sich) her begriffen. Aus dem reflexiven se entstammt das Eigene (lat. suus), laut Agamben aber auch lat. suesco, consuetudo, sodalis (gr. ethos, got. sidus, dt. Sitte). Vgl. Agamben 2013. GA 65, 320: „Vielmehr zu sich selbst kommt das Da-sein erst, indem die Zu-eignung in die Zugehörigkeit zugleich Über-eignung wird in das Ereignis“. In Heideggers Worten heißt es: „Selbstheit ist Zugehörigkeit in die Innigkeit des Streites als Erstreitung der Ereignung“ (GA 65, 322).
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IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie
gentlichkeit in den Beiträgen gerade das Umgekehrte – einzusehen, dass der Entwurf des Daseins nur ein geworfener ist: Indem der Werfer entwirft, die Offenheit eröffnet, enthüllt sich durch Eröffnung, daß er selbst der Geworfene ist und nichts leistet, als den Gegenschwung im Seyn aufzufangen, d. h. in diesen und somit in das Ereignis einzurücken und so erst er selbst, nämlich der Wahrer des geworfenen Entwurfs, zu werden (GA 65, 304).
Das menschliche Dasein als „Werfer der Wahrheit des Seins“ ist „er-eignet durch das Seyn“ (GA 65, 304). Heidegger begreift daher das Selbstsein als Gegenmodell zum kantischen Paradigma der subjektiven Selbstbestimmung. Dies bedeutet aber nicht, dass er an ein über das Einzelne hinausgehendes, allgemeines Prinzip appelliert.³⁹ Der Terminus „Seyn“ verweist hingegen auf ein Geschehen von Sinn, das auf einem Abgrund beruht. Die Zugehörigkeit in das Ereignis anzuerkennen und so das Da eigentlich zu bestehen, so das Projekt der Beiträge, bedeutet daher, das abgründige Sinngeschehen bzw. die nichtreferentielle Bedeutsamkeit der Welt auszutragen. Die Eigentlichkeit besteht in diesem Sinne in der Aneignung der Verbergung. Die Eigentlichkeit darf „nicht moralisch-existenziell verstanden werden“, sondern darunter ist eine Haltung zu verstehen, in der „das Da bestanden wird in je einer Weise der Bergung der Wahrheit (denkerisch, dichterisch, bauend, führend, opfernd, leidend, jubelnd)“ (GA 65, 302). Die Haltung, wodurch die Verbergung als solche aufrechterhalten wird, hat eine produktive, schaffende Implikation. Der „Verzicht“ auf die Begründung ist, so Heidegger, „jedoch nicht das bloße Nichthabenwollen und Auf-der-Seite-lassen, sondern geschieht als die höchste Form des Besitzes, dessen Hoheit im Freimut der Begeisterung für die unausdenkbare Schenkung der Verweigerung die Entschiedenheit findet“ (GA 65, 22– 23). Die Denkfigur, dass gerade der Verzicht auf Gründung eine Neugründung ermöglicht, scheint dialektische Züge zu besitzen. Obwohl Heidegger wiederholt betont, dass der andere Anfang kein dialektischer Übergang ist, bringt ihn der Gedanke, dass die Verbergung als solche aufrechterhalten werden soll und dass diese Aufrechterhaltung ein Gründungspotenzial enthält, in die Nähe Hegels. Die konstitutive Funktion des Negativen
Heidegger grenzt sich von der Übertragung des bestimmenden Prinzips vom Ich auf ein größeres Subjekt ab. Das von ihm hier gegebene Beispiel ist das Volk: Dieses größere Prinzip würde nur scheinbar das Ich überwinden, ohne dabei die Frage nach dem Sinn des Selbst überhaupt einmal zu stellen. Vgl. GA 65, 321: „Die Auflösung des ‚Ich‘ in ‚das Leben‘ als Volk, hier ist eine Überwindung des ‚Ich‘ angebahnt unter Preisgabe der ersten Bedingung einer solchen, nämlich der Besinnung auf das Selbst-sein und sein Wesen, das sich bestimmt aus der Zueignung und Übereignung“.
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anzuerkennen und dadurch eine Verwandlung desselben herbeizuführen, ist Inbegriff hegelscher Negativität (vgl. Kap. VII: „Die Negativität als Konstitution von Sinn“). Aufgrund dieser Annäherung an die hegelsche Aufhebungsfigur, die sich mit der Formel der Anerkennung der Verbergung als solcher ergibt, insofern diese Formel den Stellenwert des Begreifens zu bestärken scheint, setzt sich Heidegger im Anschluss an die Beiträge mit Hegels Begriff der Negativität auseinander (1938 – 1942) und radikalisiert allmählich seine Kritik am selbstversichernden Charakter des Begrifflichen. Denn die Verbergung als Verbergung zu begreifen und sich darüber zu vergewissern, bedeutet für ihn, die Endlichkeit des Sinngeschehens zu übersehen. (vgl. Kap. I: „Negativität und Begriff. Heidegger liest Hegel“). Gegen das Begreifen der Verbergung als solcher schlägt Heidegger eine Sigetik vor: Das Schweigen tritt so als der Ort auf, an welchem sich das, was im Wort verborgen ist, meldet. Heidegger beschreibt die „Erschweigung“ als Logik der Philosophie: Sie suche die Wahrheit des Seyns „und diese Wahrheit ist die winkend-anklingende Verborgenheit (das Geheimnis) des Ereignisses (die zögernde Versagung)“ (GA 65, 78). Das Schweigen ist aber nicht nur die Erfahrung der Verbergung als konstitutive Dimension von Sinn, sondern auch „die anfängliche Bedingung für die sich entfaltende Möglichkeit einer ursprünglichen – dichtenden – Nennung des Seyns“ (GA 65, 36). Diese Nennung des Seins entspringt aus einem Zuspruch des Seins: Das Wort, das „gar nicht zum Wort“ kommt, wenn es z. B. jemandem das Wort verschlägt, ist „Wink und Anfall des Seyns“ (GA 65, 36). Im Unvermögen des Sagens ist zugleich eine Zuweisung geborgen, die Heidegger in den Beiträgen als den Wink des letzten Gottes beschreibt.
D Der letzte Gott und die Aufgabe der Bestimmung Im Brief über den Humanismus (1946) bietet Heidegger, um den ursprünglichen Sinn der Ethik zu umreißen, zwei Übersetzungen des Spruches Heraklits ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων. Die erste lautet: „Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe Gottes“ (GA 9, 354– 355). Die zweite Übersetzung formuliert Heidegger in Anknüpfung an die von Aristoteles überlieferte Anekdote, Heraklit habe einmal seine schüchternen Besucher hereingebeten und ermutigt mit den Worten, dass selbst am Backofen Götter anwesend sind.Vor diesem Hintergrund soll der zitierte Spruch besagen: „Der (geheuere) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheueren)“ (GA 9, 356). Gerade in der gewöhnlichen Nähe des Vertrauten kommt das befremdliche Ferne zum Tragen. Das Heilige ist nicht ein Anderes gegenüber dem Profanen, sondern besteht als Immanenz des
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Ungeheueren in der Vertrautheit mit der Welt. Diese Paradoxie der fernsten Nähe und der nahen Ferne ist für die Metapher des letzten Gottes in den Beiträgen kennzeichnend. Das Konzept des letzten Gottes ist eine Chiffre für die Haltung des anderen Anfangs des Denkens, die Heidegger dem technischen Paradigma entgegensetzt. Im Kapitel Der Anklang beklagt Heidegger „die Entzauberung des Seienden“ im Zeitalter der Technik (GA 65, 107). Mit der Vertreibung der Götter aus der Welt bricht aber die technische Welt nicht wahrhaft mit der alten Welt, sondern sie führt die mittelalterliche Metaphysik, im Rahmen deren das Seiende als ens creatum gilt, fort, insofern das Seiende im technischen Zeitalter „zum Gemächte des Menschen“ wird (GA 65, 111). In dieser Hinsicht spricht Heidegger von einer Verzauberung der Welt, welche die Technik in eigener Sache vollzieht.⁴⁰ Der Zauber der technischen Welt liegt in der Herrschaft der Verfügbarkeit: So gilt als Seiendes das, was herstellbar, prüfbar, erlebbar ist.⁴¹ Heideggers Überlegungen zum letzten Gott schließen an das Kapitel Die Zukünftigen an. Dort heißt es, dass das „Wesen der Zukünftigen“ darin liegt, „das Verborgenste verborgen zu halten“ (GA 65, 396). Im Kontrast zum technischen Paradigma appelliert Heidegger an die Motive des Schweigens, der Stille und der Gelassenheit. Das Ethos, das im Konzept des letzten Gottes zum Ausdruck kommt,⁴² zeichnet sich aber nicht so sehr durch Passivität und Inaktivität aus, sondern vielmehr durch die Austragung des Zwiespaltes der Sinnkonstitution. Der letzte Gott hat „seine Wesung […] im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft (…)“ (GA 65, 409). In diesem Wink „treffen sich neu zum einfachsten Streit Erde und Welt: reinste Verschlossenheit und höchste Verklärung“ (GA 65, 410). Der letzte Gott steht demnach nicht bloß für das Unverfügbare, das Abwesende und das Unbegreifbare, sondern bezeichnet vielmehr die Möglichkeit, Gottheit im Rahmen des neuen Anfangs denken zu können:
Heidegger spricht auch von einer „Behexung durch die Technik“ als „Zeichen dieser Verzauberung“. Diese Verzauberung komme „aus der schrankenlosen Herrschaft der Machenschaft“ (GA 65, 124). Heidegger entfaltet seine Diagnose der Seinsverlassenheit im Kapitel Der Anklang. Dort übt er Kritik am Kulturbetrieb; am wissenschaftlichen Fortschritt, den Heidegger als vermassend, verwahrlosend und verelend beschreibt; am Drang nach Selbstvergewisserung, die laut Heidegger eine „Verhärtung gegen alle Winke“ sei (GA 65, 118); an der „Weltverdüsterung und Erdzerstörung im Sinne der Schnneligkeit, der Berechnung, des Anspruchs des Massenhaften“ (GA 65, 119); und an der „Entblößung, Veröffentlichung und Vergemeinerung jeder Stimmung“, womit die „die Entmachtung des Wortes“ einhergehe (GA 65, 123). Zu dieser nichtsubjektiven und nichtnormativen Form des Ethos vgl. Bambach 2013.
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Die größte Nähe des letzten Gottes ereignet sich dann, wenn das Ereignis als das zögernde Sichversagen zur Steigerung in die Verweigerung kommt. Dies ist etwas wesentlich anderes als die bloße Abwesenheit (GA 65, 411).
Das Konzept des letzten Gottes hat einen methodologischen Stellenwert, insofern es die Möglichkeit problematisiert, Gottheit ohne jede Referentialität zu denken. An diesem Konzept wird somit die Nichtreferentialität von Sinn versinnbildlicht – und zugleich die radikale Differenz des heideggerschen Entwurfs des anderen Anfangs zur überlieferten Philosophie auf die Probe gestellt. In der Metaphysik wird Gott als Entität oder Begriff, als Präsenz oder Absenz, als ein erfahrbares Geheimnis oder als das absolut Unerkennbare gedacht. Dabei wird Gott jeweils im Ausgang von der Kategorie der Referenz bestimmt. Im Gegenteil verkörpert der letzte Gott die Möglichkeit, Sinn jenseits der ontotheologischen Koordinaten der Bestimmbarkeit und der Referentialität zu verstehen. In diesem Sinne repräsentiert der letzte Gott keine Gottheit.⁴³ Um eine Art von Monotheismus, Pantheismus oder Atheismus handelt es sich nicht, wie Heidegger betont, weil alle Formen von Theismus sind und der Theismus die Metaphysik „zur denkerischen Voraussetzung hat. Mit dem Tod dieses Gottes fallen alle Theismen dahin“ (GA 65, 411).⁴⁴ Der letzte Gott wird im Gegenteil von der Unmöglichkeit des Theismus her gedacht, und zwar als Frage nach der Möglichkeit des Göttlichen in der Unmöglichkeit einer Gottheit. Deshalb verkörpert dieses Konzept die Möglichkeit, Bedeutsamkeit auf Abgründigkeit zu gründen. Insofern der letzte Gott auf Nichts verweist, symbolisiert er die radikale Endlichkeit der Bedeutsamkeit: „Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns: im Wink des letzten Gottes“ (GA 65, 410). Der letzte Gott ist nur, insofern er als Sinn „west“. Als Referenz ist der letzte Gott aber nicht. Insofern er keine Referenz hat, ist sein Bestehen unentschieden. Nur insofern seine Nichtreferentialität ausgehalten wird, eröffnet sich dieser Bereich des Unentschiedenen, in dem der letzte Gott möglich ist: Das Sichöffnende für die Verbergung ist ursprünglich die Ferne der Unentscheidbarkeit darüber, ob der Gott von uns weg oder auf uns zu sich bewegt. Das will sagen: in dieser Ferne und ihrem Unentscheidbaren zeigt sich die Verbergung von Jenem, was wir dieser Eröffnung zufolge den Gott nennen (GA 65, 382).
Um die Frage des Glaubens und des Unglaubens geht es nicht, wie David Crownfield (2001) argumentiert, sondern um die Möglichkeit der Gottheit in einem radikal endlich verstandenen Dasein. Zu Heideggers Kritik am Christentum und an einem kosmologischen Gott vgl. Hemming 2002.
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IV Gründung und Verbergung: Beiträge zur Philosophie
Die paradoxe Konstruktion dieses Konzeptes liegt darin, dass die Ungreifbarkeit des letzten Gottes Bedingung seiner Nähe ist.⁴⁵ Im „Spiel des Anfalls und des Ausbleibs“ manifestiert sich „das verborgenste Wesen des Nicht“ (GA 65, 410). Darin meldet sich „die Innigkeit der Einwesung des Nichthaften im Sein“ (GA 65, 410). Die negative Theologie des letzten Gottes ist daher Stellvertreterin für die Gründung der Weltbedeutsamkeit auf dem Nichts bzw. auf Referenzlosigkeit. Heidegger versucht auch hier, seine Konzeption des anderen Anfangs vom dialektischen Umschlag des Abgrundes in eine Gründung fernzuhalten: „Die äußerste Ferne des letzten Gottes in der Verweigerung ist eine einzigartige Nähe, ein Bezug, der durch keine ‚Dialektik‘ verunstaltet und beseitigt werden darf“ (GA 65, 412). Die einzige Bestimmung des letzten Gottes ist die Verweigerung. Wird indessen der letzte Gott begrifflich vermittelt und in eine greifbare Nähe gebracht, so wird seine radikale Ferne produktiv umgedeutet und dialektisch aufgehoben. Wenn dem so ist, dann darf die Ferne des letzten Gottes nicht als eine radikale Andersheit und Unerreichbarkeit verstanden werden, weil eine solche Bestimmung in die Kategorie einer abwesenden Referenz fallen würde. Trotzdem bricht Heidegger aufgrund seiner radikalen Abwehr gegen dialektische Deutungen des letzten Gottes den Rahmen der hermeneutischen Immanenz. Der hegelschen Unendlichkeit des Begriffs setzt er die Transzendenz entgegen. Die Spur, die die Flucht der Götter hinterlässt, erscheint für ihn im Anschluss an Hölderlin als Zeugnis der Göttlichkeit. Das Nichts bezeichnet nicht nur die Endlichkeit der Weltbedeutsamkeit, sondern ist auch höchstes Geschenk und äußerstes Geheimnis. Die Verflechtung von Lichtung und Verbergung wird ebenfalls als Merkmal eines darüberhinausgehenden Geheimnisses beschrieben (vgl. GA 65, 342– 243). Die Endlichkeit des Seins wird dadurch zu einem ausgezeichneten Anzeichen – zu einer radikalen Form von Phänomenalität. Gerade in der radikalen Absenz dessen, was Sinn gründen kann, erschließt sich für Heidegger eine gründende Transzendenz. Die Verweigerung wird so zur „Götterung“ (GA 65, 244). Diese Tendenz Heideggers, im Entzug des Grundes eine rätselhafte Schenkung zu erkennen, liegt an der Radikalisierung seiner Kritik am Vermögen des Begriffs. So vertritt er die Ansicht, dass der „Verfall der Wahrheit des Seyns“ sich vorwiegend „in der greiflichsten Gestalt der Wahrheitsvermittlung, im Erkennen und Wissen“ vollzieht (GA 65, 117). Gegen das vermittelnde Wissen des Begriffs setzt Heidegger „das echte Wissen“ entgegen (GA 65, 117), welches Wissen der lichtenden Verbergung ist – des Wesens des Seins bzw. des Sinngeschehens. Allerdings:
Im Wink des letzten Gottes „liegt das Geheimnis innigster Näherung in der äußersten Entfernung“ (GA 65, 408).
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Hier kann das Wesen des Seyns weder an einem bestimmten Seienden noch an allem bekannten Seienden zusammen abgelesen werden. Ja eine Ablesung ist überhaupt unmöglich. Es gilt einen ursprünglichen Entwurf und Sprung, der seine Notwendigkeit nur aus der tiefsten Geschichte des Menschen schöpfen kann, sofern der Mensch erfahren und sein Wesen bestanden wird als jener Seiende, der dem Seienden (und zuvor der Wahrheit des Seyns) ausgesetzt ist, welche Ausgesetztheit (Wahrer, Wächter, Sucher) den Grund seines Wesens ausmacht. Selbst die Ansetzung der ἰδέα ist keine Ablesung! Dieses zu wissen heißt, sie überwinden (GA 65, 305).
Das platonische Paradigma der ἰδέα, womit die metaphysische Tradition gewissermaßen anfängt, ist eine Form, in der das, was den Sinn des Seienden konstituiert, abgelesen bzw. ergriffen wird. Diesem Paradigma zufolge ist das, was das Seiende erschließt, die Seiendheit: Im Baum erkennen wir die Baumhaftigkeit, die – ob als subjektive Kategorie oder als natürliche Gattung – diesem einzelnen Seienden seine Bedeutung verleiht. Herkömlich bedeutet Denken, so Heidegger, „das Vor-stellen von etwas in seiner ἰδέα als dem κοινόν, Vor-stellen von etwas im Allgemeinen“ (GA 65, 63). Das, im Lichte dessen das Einzelne in seiner Bedeutung gegenübergestellt und gedacht wird, ist das begrifflich synthetisierte Allgemeine. Der Begriff ist daher die Ablesung des Allgemeinen im Einzelnen, die prädikativ im Urteil festgehalten wird. Im Begreifen erkennt Heidegger aber die Zurückführung von erfahrbaren Sinnzusammenhängen auf den festgefahrenen Rahmen des Zugänglichen und des bereits Bekannten, d. h. auf die historisch bereits entschiedenen Koordinaten des Normativen und des Erkennbaren. Der Begriff als Ausdruck des Allgemeinen – der ἰδέα – bringt für Heidegger nicht das spezifisch Gesichtete des einzelnen Phänomens zum Vorschein, sondern nur der vertraute Bereich dessen, worüber das menschliche Subjekt bereits Gewissheit hat. Wenn das Begreifen Festhalten ist, dann ist dagegen die Figur des letzten Gottes „die höchste Gestalt der Verweigerung, da Anfängliches allem Festhalten sich entzieht“ (GA 65, 416). Im anderen Denken soll etwas begriffen werden, was sich nicht „in einem Satz sagen“ lässt: „Der Begriff ist hier ursprünglich ‚Inbegriff’“ (GA 65, 64) und der Inbegriff ist das „in die lichtende Verbergung hebende Wissen“ (GA 65, 65). Der Inbegriff weiß aber nicht nur um die inhärente Verbergung jeder begrifflichen Konfiguration,⁴⁶ sondern er befindet sich zugleich „in der Bereitschaft zum Zuruf“ (GA 65, 64). Vor diesem Hintergrund wird Heidegger in seinem Spätwerk die Dichtung als eine Ausdrucksform schildern, die imstande ist, auf den sprachlichen Zwiespalt von Erschließung und Verbergung zu sensi-
Im Inbegriff wird der Bezug begriffen, den „jedes Seinsbegriff als Begriff, d. h. in seiner Wahrheit zum Da-sein hat“ (GA 65, 64).
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bilisieren, aber auch das im Wort Verborgene – das, worauf eine ursprüngliche Nennung wie auf einen Zuruf reagiert – annähernd und andeutend zu zeigen.⁴⁷ Heidegger unterscheidet die dichterische Inszenierung der Art und Weise, in der Sinn verbergend konstitutiert wird, von der begrifflichen Artikulation von Sinn, die durch den inhärenten Anspruch auf die restlose Darstellbarkeit von semantischen Konstitutionsschichten charakterisiert wird. Damit stellt er aber nicht nur Dichtung und Begreifen als zwei Darstellugnsformen gegeneinander, sondern konzipiert vielmehr den sinnkonstituierenden λόγος – die Sprache – als nichtbegrifflich. So denkt Heidegger den λόγος nicht als synthetische Leistung des Begriffs, sondern als eine Versammlung im Wort, deren konstitutive Schichten kategorial unbestimmbar und begrifflich unwiederherstellbar ist. Was Worte sagen, bzw. was Sinnzusammenhänge konstituiert, wird daher nicht nur vergessen, sondern kann prinzipiell nicht erinnert werden, obwohl es die Aufgabe des Denkens ist, das Verborgene ins Offene zu bringen.⁴⁸ Dieses Verständnis von λόγος führt zu Heideggers wiederholten Auseinandersetzungen mit Hegel in seinem Spätwerk, die im ersten Kapitel der Arbeit dargelegt wurden. Wie dort erwiesen, so zeigt auch die Analyse der Beiträge, dass Heideggers radikale Abgrenzung von der begrifflichen Aufgabe der Philosophie die Ablehnung der begrifflichen Bestimmbarkeit zur Konsequenz hat. Diese Ablehnung nimmt am Ende die Form des Verzichtes auf Aussagen an – das „Verschwinden des ‚als‘“ (GA 14, 6).Wenn Heidegger aber zur Ansicht kommt, dass das Verborgene in der Konstitution von Sinn auf wesentlich nichtbegriffliche und unbegreifliche Sinnerfahrungen zurückgeht, dass das begriffliche Denken somit keinen konstitutiven Stellenwert in diesen originären Sinnerfahrungen hat, dass die Latenz der Bedeutsamkeit im Schweigen aufrechterhalten werden soll, dann scheint er, wie Hegel einmal eine philosophische Gewohnheit seinerzeit beschrieb, „auf den Begriff alle üble Nachrede zu häufen“ und im Gegenzug „für den höchsten sowohl szientifischen als moralischen Gipfel das Unbegreifliche und das Nicht-Begreifen anzusehen“ (GW 12, 17).
Richard Polt (2001) erläutert, dass Heideggers Konzept des „Inbegriffs“ für das „Nennen“ steht und dies im Gegensatz zum Bestimmen, Vorstellen und Kategorisieren. Vgl. GA 65, 83: „Das Wort selbst schon enthüllt etwas (Bekanntes) und verhüllt damit jenes, was im denkerischen Sagen ins Offene gebracht werden soll“.
V Übergang: Hegel liest Heidegger Die Frage nach der Konstitution von Bedeutsamkeit war die Leitfrage, anhand deren wir Heideggers Konzept der Verbergung bislang dargestellt haben. Heideggers Denken wurde als Entwicklung von Fragestellungen folgender Art rekonstruiert: Wie konstituieren sich diejenigen Bedeutungszusammenhänge, die nicht auf eine gegenständliche Referenz zurückgeführt werden können? Wie lässt sich der semantische Überschuss dessen, was auf mannigfaltige Weise seiend ist, philosophisch beschreiben? Lässt sich die Möglichkeit dieses Bedeutungsbereiches von Konstanten der menschlichen Existenz herleiten – von der alltäglichen Praxis und der Zweckmäßigkeit des Handelns, von der Stuktur der Zeitlichkeit und dem menschlichen Verhältnis zur eigenen Endlichkeit? Oder handelt es sich um ein geschichtliches Sprachereignis, das alle Bereiche des menschlichen Daseins durchdringt, ohne dass seine Konstitution in den Händen des menschlichen Subjektes liegt? Gibt es eine immanente Logik der Art und Weise, in der sich der sprachliche Horizont einer menschlichen Welt geschichtlich entwickelt, oder ist sie hingegen kontingent? Können die semantischen Schichten, die in Worten versammelt werden, begrifflich dargestellt werden oder kommen Begriffe wesentlich zu spät, insofern sie festgefahrene Rahmen des Vorbestimmten und subjektivistische Vergewisserungsstrategien verkörpern? Gibt es dann konstitutive Sinnerfahrungen der Welt, woran begriffliches Denken originär nicht beteiligt ist? Heideggers Philosophieren ist eine Variation von Annäherungen an diese Fragen, die von der Problematik des Stellenwerts des Begriffs in der Konstitution von Sinn durchdrungen sind. Diese Problematik motivert von Beginn an seine philosophische Arbeit, was in seiner frühen Kritik am neukantischen Begriffsschematismus und an der Auffassung einer kategorial konstituierten, räumlich bloß vorhandenen Gegenständlichkeit sichtbar ist. Im Laufe seines Werkes buchstabiert Heidegger die Behandlung des Verhältnisses von Sinn und Begriff zunehmend in Form seiner Auseinandersetzung mit Hegel aus. Je schärfer in Heideggers Spätwerk die Kritik an der Begriffsphilosophie wird, desto präsenter und intensiver wird die Auseinandersetzung mit Hegel (vgl. Kap. I: „Negativität und Begriff. Heidegger liest Hegel“). Heideggers Kritik an der Begriffsphilosophie beruht auf zwei Grundannahmen, die in den vorhergehenden Kapiteln dieser Studie eingehend beleuchtet wurden: (1) Die Konstitution von Sinn ist nicht auf eine begriffliche Transzendentalität zurückzuführen, vielmehr ist die sprachliche Herkunft von Bedeutsamkeit abgründig. Was Bedeutungszusammenhänge ursprünglich konstituiert, ist im Konstituierten unhintergehbar verborgen und kann somit begrifflich nicht https://doi.org/10.1515/9783110659801-007
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erschlossen werden. Dies hängt laut Heidegger damit zusammen, dass Begriffe nur einen nachträglichen Charakter im Vehältnis zum Geschehen von Sinn haben und somit für die Konstitution von Sinn nicht maßgeblich sind. (2) Im Begriff erstarrt die Genesis der Bedeutsamkeit. Ein Sinnphänomen wird im Begriff auf Einheitlichkeit, Beständigkeit und Begründbarkeit verpflichtet, was dessen kontingenten, vielschichtigen und endlichen Charakter verfehlt. Heideggers endgültiger Einwand gegen die Begriffsphilosophie – und vor allem gegen Hegel – lautet demnach, der Begriff sei weder für die Konstitution von Bedeutsamkeit verantwortlich noch für die Artikulation von Sinn geeignet. Die Implikationen dieser These sind weitreichend – und für viele philosophische Strömungen des 20. und 21. Jahrhundert kennzeichnend.¹ In dieser Hinsicht repräsentiert Heidegger den Gipfel einer fast 200-jährigen anti-hegelschen Tradition.² Diese anti-hegelsche Tradition moniert im Groben und Ganzen, dass der Vorrang eines allgemeinen Begriffsinstrumentariums einzelne Erfahrungsgehalte verfehlt, dass die Ablehnung der Unmittelbarkeit der Erfahrung das persönliche Erlebnis missachtet, und dass die Zurückführung jedes Wissens- und Erfahrungsanspruches auf sein logisches Gerüst mögliche, einmalige Weltbezüge unterlässt. Diese tradierte Kritik an einem populären Hegel-Verständnis hat allmählich zur Etablierung einer Denkart geführt, in der das Einzelne zum Irreduziblen und das Irreduzible zum Unbegreifbaren wird.³ Heidegger repräsentiert insofern die Zuspitzung dieser Tradition, als er in Hegels Philosophie den Gipfel der abendländischen Ontotheologie erkennt. Ihr Prinzip beschreibt Heidegger folgendermaßen: „Das Sein des Seienden entbirgt sich als der sich selbst ergründende und begründende Grund“ (GA 11, 65). Die Grundthese der Ontotheologie ist nicht nur, dass Sein einer Begründung bedarf, sondern auch, dass es die Ergründung der Vernunft ist, worin der Grund des Seins erst erschlossen werden kann. Anders gesagt: Das Begreifen ist der Ort, an dem das Sein zu sich selbst kommt. Und wenn die Intelligibilität dessen, was ist, nur in der begrifflichen Verständlichkeit erschlossen werden kann, dann ist die Selbstbestimmung des begrifflichen Raums zugleich die Bestimmung dessen, was ist. Im Logozentrismus der abendländischen Metaphysik erkennt Heidegger daher einen kategorialen Reduktionismus und einen impliziten Subjektivismus. Der
Zu Heideggers Einfluss auf die postmoderne Kritik am technischen Zeitalter und an der modernen Aufklärung vgl. Pippin 1997. Zur Entstehung und Entwicklung der Kritik an Hegels Philosophie vgl. Beiser 2014; Löwith 1988. Eine der radikalsten Kritiken am hegelschen Standpunkt hat Emanuel Levinas geübt. Levinas zählt allerdings auch Heidegger zu der Tradition, die Sein mit der Verständlichkeit von Sein identifiziere. Vgl. Levinas 1990; Levinas 2008.
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Reduktionismus sortiert die Bedeutungen einer Welt nach dem Maßstab der messbaren Gegenständlichkeit aus, weil die Auffassung des Kategorialen sich an der baren Vorhandenheit der Dinge im Raum orientiert. Der Subjektivismus betrachtet das Sein nicht nur als Konstrukt, sondern auch als Produkt des menschlichen Subjektes, weswegen Heidegger darin die Voraussetzung für das technische Zeitalter der Moderne sieht, in welchem die Machtstellung des Subjektes zum Imperativ des Handelns wird. Vor diesem Hintergrund liest Heidegger alle modernen Philosophien als Varianten von subjektivem Idealismus und Hegels Denken als die äußerste Form desselben. Trotz dieser Lesart Heideggers ist Hegels Auffassung des Begriffs wesentlich komplexer als das alltägliche Verständnis desselben – ein Verständnis, das Heidegger in seiner Kritik aufzugreifen scheint, und zwar das Verständnis des Begriffs als Vorstellung, Gedankenbild, Definition, Kategorie und Verstandesbestimmung.⁴ Das Missverständnis dessen, was „Begriff“ im hegelschen Sinne bedeutet, und die damit zusammenhängende Zurückweisung des Begriffs sind in Heideggers Denken folgenschwer, denn seine Formulierung einer neuen Aufgabe des Denkens folgt großenteils aus der Interpretation der hegelschen Philosophie des Begriffs. Durch die zunehmende Radikalität seiner Begriffskritik übersieht Heidegger die Möglichkeit einer alternativen, nuancierten Auffassung von philosophischem Begreifen, die sich im Hinblick auf die für ihn zentrale Frage nach der Konstitution und der Artikulation von Bedeutsamkeit als fruchtbar hätte erweisen können. Die Annahme, dass die Herkunft der Verständlichkeit abgründig sei und dass dem Begreifen eine inhärente Verbergung zukomme, stellt nicht eine ausreichende Rechtfertigung für den Verzicht auf die begriffliche Artikulation von Sinnzusammenhängen dar. Wenn Heidegger in seinem Spätwerk als Resultat seines Denkweges diesen Schluss zieht, dann läuft er Gefahr, der Verheißung eines anderen Denkens als das begriffliche anheimzufallen und dadurch auf das Denken selbst zu verzichten. Dieses andere Denken bliebe letztlich auf einen kontemplativen Gestus beschränkt, der das vergessene, archaische Geschehen von Welt überhaupt evoziert. Eine Kritik an Heideggers Verständnis des Begriffs und an seiner Auffassung der Verbergung findet in Hegel den prominentesten Mitstreiter. Mit Hegel lässt sich erwidern, dass das philosophische Denken die begrifflichen Ressourcen hat, um die verborgenen semantischen Schichten in unmittelbaren Sinnzusammen-
Heidegger interpretiert in diesem Sinne den Deutschen Idealismus als Gipfel des kartesischen Fundamentalismus. Zu dieser gemeinen subjektivistischen Lesart Hegels vgl. Beiser 2002; Gadamer 1981; W. Marx 1961.
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hängen freizulegen und zu entfalten. Hegels Methode, wie in den folgenden Kapiteln erläutert wird, schließt gerade an die Einsicht an, dass jede begriffliche Bestimmung als solche einseitig und abstrakt ist. Die Starrheit der Begriffe, die Heidegger kritisiert, ist gerade der Ausgangspunkt der hegelschen Dialektik. Hegel ist aber der Einsicht, dass trotz der inhärenten Verbergung, die dem Begreifen als solchem zukommt, das philosophische Denken sich nur dann bewähren und bereichern kann, wenn es die unaufhörliche Aufgabe der begrifflichen Entfaltung von Denkbestimmungen annimmt. Um diese Auseinandersetzung sachlich zu ermöglichen, soll aufgewiesen werden, dass Hegel die bisher leitende Frage nach der Konstitution der Bedeutsamkeit in eigener Sache formuliert. Dabei wird ein spezifischer Kritikpunkt Hegels an Kants Behandlung der Vernunftbegriffe erläutert, um zu prüfen, inwiefern Hegel in der Formulierung dieser Kritik eine eigenständige Fragestellung nach der Bedeutung der Vernunftbegriffe entwickelt – d. h. nach denjenigen Begriffen, die keinen anschaulichen Gehalt haben, von keinen Verstandesurteilen sinnvoll bestimmt werden können und trotzdem den normativen Bereich unserer Welterfahrung bzw. diejenige Bedeutsamkeit, die über die Erkenntnisgegenstände hinausgeht, regulieren. Hegel zufolge bleibt der Inhalt der regulativen Vernunftideen im kantischen Rahmen begrifflich unartikuliert. Gedanken, die keinen anschaulichen Gehalt haben, werden im kantischen Rahmen postuliert oder als bekannt vorausgesetzt, aber ihr Inhalt „für sich selbst“, so Hegel in der Enzyklopädie (1830), kommt „nicht zur Sprache“ (GW 20, 84). Infolgedessen betont Hegel die Unzulänglichkeit der raumzeitlichen Denkbestimmungen, um den Bedeutungsgehalt von Vernunftideen zu entfalten und umreißt im Gegenzug, so die hier vertretene Interpretation, ein breites diskursives Vermögen, welches sowohl für die Konstitution als auch für die Artikulation der Vernunftbegriffe zuständig ist. Im ersten Teil des folgenden Kapitels wird dieser besondere Kritikpunkt Hegels an Kant dargelegt und sein Zusammenhang mit Hegels Auffassung des Begriffsinhalts exponiert. Im zweiten Teil wird einerseits Hegels Kritik an philosophischen Konzepten des Nichtbegrifflichen dargestellt und andererseits seine Abgrenzung von alltäglichen und festgefahrenen Verständnissen des Begriffs in Umrissen beschrieben. Dabei soll gezeigt werden, dass Hegels Auffassung des Begriffs kein Gegenstand der heideggerschen Kritik sein kann. Dies liegt einerseits daran, dass Hegel den Begriff nicht als subjektive Vorstellung versteht, und anderseits daran, dass Hegels positiver Gebrauch des Begriffs mit der Fixierung von Bedeutungen in Vorstellungen und Urteilen nichts gemein hat. Hingegen zeichnet sich das philosophische Begreifen für Hegel gerade durch die Anerkennung der dem Begriff inhärenten Latenz seiner (objektiven) Konstitution aus. Hegels Kritik an philosophischen Hypostasierungen des Unbegreiflichen, die hier als Einwand gegen Heideggers Tendenz mobilisiert wird, leugnet nicht die
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Existenz des Nichtbegrifflichen. Im Gegenteil: Es gibt für Hegel durchaus mannigfaches nichtbegriffliches und nichtbegriffenes Seiendes (Vgl. GW 12, 39). Hegel stellt aber jeden theoretischen Versuch in Frage, im Namen des Nichtbegrifflichen semantische Konstellationen und epistemologische Standpunkte zu untermauern. Was Hegel kritisiert, ist somit die theoretische Berufung auf das Nichtbegriffliche als einen epistemischen Grund. Für Hegel sind Sinnphänomene, die sich auf das begrifflich Unverfügbare berufen, einerseits der Willkür ausgeliefert, und andererseits ist diese Berufung selbst ein impliziter hermeneutischer Akt. Denn der Verweis auf das dem Denken Entzogene findet immer im Bereich der Verständlichkeit statt.⁵ Zudem haben nichtbegriffliche Phänomene – wie Gefühle, Triebe, der Tod – eine Bedeutung erst im übergreifenden Bereich unserer sprachlich konstituierten Welt. Deshalb kann das Nichtbegriffliche, sei es als unmittelbare Gegebenheit, als Unverfügbarkeit oder als Dimension des Ursprungs verstanden, weder einen epistemischen Wert noch eine konstitutive Funktion im semantischen Bereich haben. Begründungstheoretische Versuche dieser Art bedienen sich, mit dem Ausdruck Wilfrid Sellarsʼ eines Mythos des Gegebenen (Sellars 1997). Dagegen plädiert Hegel für die Unhintergehbarkeit der begrifflich verfassten Verständlichkeit in unserer Welterfahrung – die unmittelbare Erfahrung miteingeschlossen.⁶ Im letzten Kapitel dieser Arbeit wird Hegels Begriff der Negativität sowohl als Methode der begrifflichen Artikulation von Bedeutungszusammenhängen als auch als Konstitutionsprinzip derselben dargelegt. Die Negativität hat bei Hegel zwei grundlegende, miteinander verbundene Bedeutungen: (1) die Implizitheit vielfältiger Bestimmungen innerhalb einer unmittelbaren Denkbestimmung (die Negativität als „aufgehobene Vermittlung“); und (2) die logische Entfaltung von Denkbestimmungen, die scheinbar einander negieren, im Hinblick auf ihre Zusammengehörigkeit (die Negativität als „Aufhebung der Unmittelbarkeit“ oder als „Negation der Negation“). Wenn der generische Begriff „Negativität“ auf eine konstitutive Dimension der Latenz verweist bzw. auf den Reichtum von Denkbestimmungen, den eine unmittelbare Wissensgestalt in sich birgt, dann betrifft der Streitpunkt zwischen Hegel und Heidegger die Artikulierbarkeit dieser Latenz. Für Heidegger lassen sich die verborgenen semantischen Schichten in Worten durch begriffliche Bestimmungen nicht enthüllen, weswegen er die Latenz als Abgrund und Nichts beschreibt. Dagegen bestreitet Hegel grundlegend die Unzugänglichkeit der ver Zum „Paradoxon, daß das, was keiner sprachlichen Darstellung fähig ist, nicht anders als sprachlich dargestellt werden kann“, und zu den sprachlichen Strategien, das prinzipiell nicht Darstellbare als solches darzustellen, vgl. Hühn 1992. Vgl. Iber 1990; Redding 1996; Pinkard 2013.
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borgenen konstitutiven Schichten von Sinn. Obwohl die Latenz jede Denkbestimmung als solche prägt, ist das Verborgene das, wovon in einseitigen Wissensgestalten abstrahiert wird und was in unmittelbaren Gedanken vergessen wird – und somit lediglich eine weitere Denkbestimmung. Die Gegenüberstellung dieser Auffassungen der Latenz erweckt den Eindruck, dass das hegelsche Plädoyer für die begriffliche Artikulierbarkeit von Sinnzusammenhängen und Heideggers Begriffskritik hier lediglich einander entgegengesetzt werden oder gar, dass eine gewisse Sensibilität für die Grenzen unseres Wissens und für das Rätsel des Sinngeschehens zugunsten des Vertrauens in die Transparenz der Welt desavouiert wird. Eine bloße Gegenüberstellung würde vor die Wahl zwischen einem postmetaphysischen Skeptizismus und einem wiederbelebten Rationalismus stellen. Die folgende Darstellung der hegelschen Auffassung von Negativität verteidigt jedoch kein rationalistisches Dogma, sondern sieht in Hegel einen Denker der Endlichkeit: Denkbestimmungen sind einseitig, starr und abstrakt. Nichtsdestotrotz erkennt Hegel darin keinen Grund für einen Vernunftdefätismus und für einen Begriffsverdacht – nicht nur, weil die Vernunft einen wesentlich selbstkritischen Charakter hat und weil Begriffe dynamisch und selbstüberwindend sind, sondern vielmehr, weil die Natur der Bedeutsamkeit nicht eine andere ist als die Natur der Begrifflichkeit. Die Konstitution von Bedeutsamkeit und die begriffliche Artikulation von Bedeutungen gehören in denselben Bereich des Geistigen. Es gibt deshalb keinen Grund, die Sphäre des Sinns von der Sphäre des Begriffs zu trennen.
VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe Hegels Philosophie ist vom Grundgedanken getragen, dass die Natur des begrifflichen Vermögens und die Natur der Welt verwandt sind. Dieser Gedanke Hegels hat sowohl eine erkenntnistheoretische, als auch eine semantische Tragweite, insofern unter Welt nicht nur der Bereich des Gegenständlichen, sondern auch die menschliche Welt zu verstehen ist. Hegel zeigt also nicht nur auf, dass menschliche Erkenntnisfähigkeiten mit der gegenüberstehenden Welt übereinstimmen, weil sie mit der natürlichen Welt verwachsen sind, sondern auch, dass der Bereich der Sinnzusammenhänge, welche die menschliche Welt konstituieren, bzw. der Bereich des „Geistes“ begrifflich verfasst ist. Dieser Grundgedanke hat somit das Korollar, dass die Natur der Bedeutsamkeit und die Natur der Begrifflichkeit zusammengehören. So entfalten die folgenden Betrachtungen unter Berufung auf Hegel die These, dass die Konstitution von Sinn und die begriffliche Artikulation von Sinnzusammenhängen eine Einheit bilden. Die Zusammengehörigkeit von Sinn und Begriff betrifft also nicht nur die wahrnehmbaren Gegenstände, die anhand raumzeitlicher Kategorien bestimmbar sind, sondern auch diejenigen Bedeutungszusammenhänge, die über die Kategorien eines Wahrnehmungsvermögens hinausgehen. Diese Unterscheidung mag im Hinblick auf unsere einheitliche Erfahrung in der Welt künstlich erscheinen, sie dient jedoch der Spezifikation unseres diskursiven Vermögens – d. h. der Klärung der Frage, inwieweit unser Verstehen als Ganzes begrifflich artikuliert ist. Wenn die Begrifflichkeit, worüber der menschliche Verstand verfügt, nur den Bereich der empirischen Erfahrung betreffen würde, dann könnte der Anschein entstehen, dass Bedeutungszusammenhänge, die über das Gegenständliche hinausgehen, gar nicht unter die Sphäre der Begrifflichkeit fallen. Das Bedenken, dass ästhetische und ethische Bedeutungen ihr Spezifikum verlieren, sobald sie begriffen werden, dass das Begreifen unweigerlich dazu führt, den Hain als Holz zu erfassen,¹ ist die Kritikfolie der folgenden Überlegungen und soll in seinen Voraussetzungen freigelegt werden.
Anhand dieser Metapher formuliert Hegel selbst das angesprochene Bedenken in Glauben und Wissen (1802). Dort heißt es, dass im kantischen Idealismus das Übersinnliche leer bleibt und von der „Subjektivität des Sehnens und Ahndens erfüllt werden“ soll: „Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hayn als Hölzer erkennen würde“ (GW 4, 316 – 317). Die Gegenüberstellung von Hain und Hölzern geht auf Horaz zurück. In einem seiner Briefe stellt Horaz die Frage: „Virtutem verba putas, et lucum ligna?“ (Horace 1994, 64). Übertragen heißt es: „Die Tugend hältst Du für ein Wort und einen Hain für Holz?“ Einen Hain für Holz zu halten, bedeutet im Zusammenhang unserer https://doi.org/10.1515/9783110659801-008
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
Zu diesem Zweck ist es erstens erforderlich, aufzuzeigen, dass Hegel die Frage nach der Konstitution dessen, was Heidegger als „Weltbedeutsamkeit“ bezeichnet, auf eigene Weise formuliert, um seine Auffassung der begrifflichen Konstitution von Sinn gegen Heidegger wenden zu können. Zweitens soll untersucht werden, inwiefern der Horizont, der die ethische, ästhetische und teleologische Bedeutsamkeit unserer Welterfahrung umfasst, für Hegel begrifflich konstituiert ist. Hegel beschreibt sowohl die Konstitution von geistigen Bestimmungen als auch die Methode ihrer Darstellung als „Negativität“. Dieses Konzept soll drittens näher erläutert und dabei gezeigt werden, inwiefern die Negativität als begriffliche Darstellung von Sinnzusammenhängen diese nicht auf Kategorien des Gegenständlichen zurückführt.² Der Ausgangspunkt dieses Vorgehens ist ein spezifischer Einwand, den Hegel gegen Kants Auffassung der Vernunftbegriffe erhebt. Im Abschnitt über die Kritische Philosophie in der Enzyklopädie (1830) behauptet Hegel, dass im kantischen Rahmen die Vernunft „nur leeres, unbestimmtes Denken [ist], so denkt sie nichts“ (GW 20, 85). Der Kontext dieser Aussage bezieht sich auf Kants Behandlung der Vernunftbegriffe in den Antinomien. Auch in Bezug auf Kants Behandlung der Idee der Seele – in seiner sonst laut Hegel berechtigten Kritik der rationalen Psychologie – bemerkt Hegel, dass die Bedeutung dieses Begriffs unartikuliert bleibt: „Der Inhalt des Gedankens für sich selbst kommt hier nicht zur Sprache“ (GW 20, 84). In der Transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft führt Kant bekanntlich das Argument an, dass Gedanken ohne Anschauungen leer sind (KdrV, B75). Es gibt Begriffe, die, insofern ihnen kein raumzeitlicher Gegenpart entspricht, keinen anschaulichen Gehalt haben. Kant nennt diese Art von Begriffen „Ideen“ – darunter sind Ideen der theoretischen Vernunft (wie die Seele, die Welt und Gott), aber auch moralische Ideen (wie Bescheidenheit, Ehrlichkeit und
Untersuchung, die semantische Spezifität eines Übersinnlichen bzw. eines nichtanschaulichen Begriffs kategorial zu verfehlen. Stekeler-Weithofer (1992) hat Hegels Kritik an der formal-transzendentalen Logik als einer Logik mathematischer Rede ausführlich thematisiert. Hegels Logik ist laut Stekeler-Weithofer als eine Begriffsanalyse allgemeiner Inhalte zu verstehen. Eine derartige Logik als Methodenlehre jeder Bedeutungs- und Sinnalaysie visert vor allem die Formen des faktischen und konventionellen Gebrauchs von Sprache an. Der Bereich der Bedeutungen, womit sich Hegels Logik befasst, geht also über die schematischen Kategorien der Gegenständigkeit hinaus und umfasst die Sprechakte, wie sie sich in einer „humanen“ Lebenswelt befinden. Es handelt sich somit um Kategorien, die in unserer alltäglichen Praxis,Weltvorstellungen, Normen und Wissensansprüche zu formulieren, zum Tragen kommen. Daher ist es für Stekeler-Weithofer wesentlich zu betonen, dass Hegels Logik eine allgemeine, begriffsanalytisch-philosophischen Anthropologie darlegt und sich gegen die formal-mathematische Reduktion der Denkkategorien wendet.
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Tapferkeit) zu zählen. Demzufolge repräsentiert eine Idee in theoretischer Hinsicht den Begriff eines unbedingten Gegenstandes oder der Totalität der Bedingungen für einen Gegenstand und in praktischer Hinsicht einen Begriff der Vollkommenheit. Eine Idee ist daher wesentlich ein Begriff, dem „kein kongruierender Gegenstand in den Sinn gegeben werden kann“ (KdrV, B384). Vernunftbegriffe zeichnen sich somit dadurch aus, dass ihnen keine sinnlichen Anschauungen zugrunde liegen.Weil solche Begriffe den zeiträumlichen Bereich der Erfahrung übersteigen, können sie auch keine Gegenstände der Erkenntnis sein. Wenn Kant also behauptet, dass Begriffe ohne Anschauungen leer sind, dann bedeutet „leer“ dabei „gegenstandslos“ (vgl. KdrV, B148). Die Leere solcher Begriffe verweist auf die Unmöglichkeit, außersinnliche Gegenstände anzunehmen, bzw. auf die Bedeutungslosigkeit eines Denkens, das objektlos urteilt. Objektive Urteile sind hingegen nur im Bereich der sinnlichen Anschaulichkeit möglich (vgl. KdrV, B307-B308; B 342-B344). Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage nach dem Bedeutungsgehalt solcher Begriffe – eine Frage, die Kant auf diese Weise nicht explizit formuliert und die Hegel gegen Kant aufwirft, um seine eigene Auffassung des begrifflichen Gehalts zu konturieren. Hegel interpretiert nämlich die kantische Leere der Vernunftbegriffe nicht so sehr als epistemische Gegenstandslosigkeit, sondern vielmehr als semantische Inhaltslosigkeit. Dafür findet Hegel Anhaltspunkte in Kants Werk: In der Transzendentalen Analytik schreibt dieser beispielsweise: „Unsere sinnliche, und empirische Anschauung kann ihnen [den Begriffen] allein Sinn und Bedeutung verschaffen“ (KdrV, B149). Wie können aber Begriffe ohne anschaulichen Gehalt folglich nicht nur keine Bedeutung, sondern auch keinen Sinn haben, wenn wir unter solchen Begriffen doch etwas Bestimmtes verstehen? Aufgrund dieser Schwierigkeit ist Hegel der Ansicht, dass Kant den begrifflichen Gehalt derart an Anschauungen bindet, dass Ideen ohne Inhalt bleiben. Anders gesagt: Die Art und Weise, in der Kant die Anwendung von Begriffen vorwiegend in Erkenntnisurteilen beschreibt, scheint die Kategorien des Denkens vom anschaulichen Bereich abhängig zu machen und offenzulassen, wie das Denken den semantischen Gehalt von Ideen bestimmen kann. Hegels Einwand, dass der semantische Gehalt von Vernunftbegriffen bei Kant leer bleibt, scheint Kant jedoch nicht gerecht zu werden, insbesondere da Kant zwischen der Erkennbarkeit und der Denkbarkeit von Begriffen unterscheidet, womit auch die Unterscheidung zwischen anschaulichem Gehalt und begrifflichem Inhalt einhergeht. Die Tatsache, dass die Kategorien des Denkens an den Bereich der sinnlichen Erfahrung als eine Bedingung der Erkenntnis gebunden werden, bedeutet für Kant nicht, dass das Denken die Kategorien im Bereich der Vernunft nicht anwenden und Urteile über vermeintliche, übersinnliche Gegenstände nicht fällen kann. Im Gegenteil: Die theoretische Vernunft kann über
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Vernunftbegriffe spekulative Urteile fällen, die zwar keinen Erkenntniswert haben, aber dadurch möglich sind, dass die Verstandeskategorien, welche nur im raumzeitlichen Erfahrungsbereich einen epistemischen Gebrauch haben, über die Erfahrungsgrenze hinaus auf die Ideen der Vernunft angewendet werden. Der Bedeutungsgehalt der Vernunftideen ist in dieser Hinsicht das Resultat des transzendierenden Gebrauchs unseres diskursiven Vermögens: Den Vernunftbegriffen kommen so die Prädikate zu, die ihnen in spekulativen Urteilen – in Paralogismen und Antinomien – zugeschrieben werden.³ Zugleich ist es aber ein zentrales Anliegen des kritischen Programms Kants, den transzendierenden Gebrauch der Verstandesbegriffe im Bereich der Vernunft gänzlich zu verbieten und im Gegenzug zu beweisen, dass die Ideen der Vernunft nur als normative Begriffe eine Tragweite haben. Wie Kant in der zweiten Vorrede behauptet, liegt der positive Nutzen der Kritik der reinen Vernunft in dem Argument, dass die Vernunftbegriffe einzig einen praktischen Gebrauch haben (Vgl. KdrV, BXXV). Erst durch die praktische Realisierung erhalten regulative Ideen ihre eigentümliche Bedeutung als Willensbestimmungen (vgl. KpV, A 9). In dieser Hinsicht haben wir laut Kant keinen Bedarf und keine Berechtigung, den Vernunftbegriffen kategoriale Prädikate zuzuschreiben, weil ein solches Unterfangen voraussetzt, dass die Vernunftbegriffe als Substanzen – als mögliche Gegenstände – angenommen werden.⁴ Im Fall der nichtanschaulichen Begriffe darf „nicht einmal eine einzige Kategorie“ angewendet werden, wie Kant in der Transzendentalen Analytik betont – nicht einmal die Kategorie eines Subjektes, welchem dann Eigenschaften zukommen.⁵ Darin kommt eine radikalere Forderung zum Ausdruck: Nicht nur der epistemische Wert von transzendierenden Urteilen, sondern auch das Urteilen selbst, das für die Semantik dieser Begriffe
Kant behauptet am Anfang des Abschnittes über die Antinomien, dass „die Vernunft eigentlich gar keinen Begriff erzeuge, sondern allenfalls nur den Verstandesbegriff, von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung, frei mache, und ihn also über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern suche“ (KdrV, B435-B436). Vgl. KdrV, B593-B594: „Dergleichen transzendente Ideen haben einen bloß intelligiblen Gegenstand, welchen als ein transzendentales Objekt, von dem man übrigens nichts weiß, zuzulassen, allerdings erlaubt ist, wozu aber, um es als ein durch seine unterscheidende und innere Prädikate bestimmbares Ding zu denken, wir weder Gründe der Möglichkeit (als unabhängig von allen Erfahrungsbegriffen), noch die mindeste Rechtfertigung, einen solchen Gegenstand anzunehmen, auf unserer Seite haben, und welches daher ein bloßes Gedankending ist“. Vgl. KdrV, B149: „Aber das Vornehmste ist hier, daß auf ein solches Etwas auch nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte; z. B. der Begriff einer Substanz, d. i. von Etwas, das als Subject, niemals aber als bloßes Prädicat existiren könne, wovon ich gar nicht weiß, ob es irgend ein Ding geben könne, das dieser Gedankenbestimmung correspondirte, wenn nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe“.
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jedoch relevant wäre, wird suspendiert (vgl. KpV, A6, A243, A250). Obwohl der spekulative Gebrauch der Verstandeskategorien die Bestimmung der Ideen umreißen könne, hat dieser Gebrauch eigentlich „keine Bedeutung“.⁶ Wie Kants Hauptargument in der Kritik der praktischen Vernunft besagt, können wir kein synthetisches Urteil über Vernunftbegriffe fällen, weil die Synthesis auf Anschauungen angewiesen ist.⁷ Erst vor diesem Hintergrund wird Hegels Kritikpunkt verständlich, wonach die Unterscheidung zwischen Denken und Erkenntnis in Kant vordergründig ist und Kant keine ausreichende Rechenschaft über die Ausübung unseres Denkvermögens abgesehen von seinem epistemischen Gebrauch ablegt. Hegel glaubt, dass Kant die Denkbarkeit der Vernunftbegriffe für selbstverständlich hält;⁸ dass Kant die Kategorien des Denkens mit den Bestimmungen des raumzeitlichen Bereichs zusammenführt; dass der praktische Gebrauch den semantischen Inhalt der regulativen Ideen nicht bestimmen kann;⁹ und dass die kantische Darstellung der Antinomien auf der Voraussetzung beruht, dass die Vernunftbegriffe in spekulativen Urteilen als metaphysische Gegenstände angenommen werden müssen. Unabhängig von der Frage, ob diese Kritikpunkte den kantischen Rahmen genau wiedergeben, sind sie für unsere Untersuchung insofern von Belang, als sie auf Hegels Projekt hinauslaufen, die Tragweite unseres diskursiven Denkvermögens in der Bestimmung des semantischen Inhaltes von normativen Begriffen darzulegen. Der erste Teil dieses Kapitels erläutert die Implikationen dieses partikulären Einwandes Hegels gegen Kant. Erstens wird die Frage nach der Bedeutung der Vernunftbegriffe von der Streitfrage um die Objektivität der Erkenntnis differenziert (VI.1.A). Zweitens soll Hegels Kritik an der Bindung begrifflichen Inhalts an
Wenn der Gebrauch der Kategorien „nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum und Zeit Bedeutung“ hat, dann hört im Falle der nichtempirischen Begriffe „der ganze Gebrauch, ja selbst die Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sollen, läßt sich gar nicht einsehen“ (KdrV, B 308). Vgl. KpV, A243: „man kann dadurch gar nichts über sie synthetisch urteilen, noch die Anwendung derselben theoretisch bestimmen, mithin von ihnen gar keinen theoretischen Gebrauch der Vernunft machen, als worin eigentlich alle spekulative Erkenntnis derselben besteht“. Robert Brandom hat diesen Einwand Hegels wie folgt identifiziert: „Hegel thinks that Kant leaves it mysterious how I could have access to concepts, rules, or norms that are determinate in this sense. In effect, Kant just assumes there can be such things. Hegel thinks a rigorously critical thinker should enquire into the conditions of the possibility of such determinateness“ (Brandom 1999, 171). Sally Sedgwick (2012) hat diesen Kritikpunkt gegen den Formalismus des kategorischen Imperativs verdeutlicht und gezeigt, inwiefern laut Hegel der Bedeutungsgehalt von praktischen Normen durch die praktische Vernunft bzw. durch den Willen allein nicht bestimmt werden kann.
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Anschauungen ausgeführt werden (VI.1.B).¹⁰ Drittens wird gezeigt, inwiefern Hegels Kritik an der kantischen Trennung von Verstand und Vernunft auf die enge Verbindung von Denkbestimmungen und raumzeitlichen Kategorien gerichtet ist.¹¹ Hegel deutet nämlich die kantischen Verstandesbegriffe als raumzeitliche Bestimmungen (V.1.C).¹² Dem Standpunkt des kantischen Verstandes setzt Hegel ein breit gefasstes diskursives Vermögen entgegen, das dialektisch verfasst ist.¹³
Robert Pippin hat die Natur der Vernunftbegriffe als „empirically non-derived conceptual determinations“ beschrieben. Diese Begriffe stammen nicht von der empirischen Erfahrung und können bestimmt werden nur durch „a non-empirical determination ‚by thought of itself‘“ (Pippin 2007, 417). Pippin kritisiert allerdings Hegels Ansatz, dass die normativen Begriffe ihren eigenen Gehalt ausfüllen können, ohne sich auf empirischen Gehalt zu stützen. Pippin behauptet dagegen: „any model of the self-legislative source of value or obligation must have an ‘element of receptivity’ to it“ (Pippin 2007, 427). Ich werde hingegen dafür argumentieren, dass es gerade die Schwierigkeit ist, normative Begriffe anschaulich zu fundieren, die Hegel zur Konzeption der selbständigen Begriffsbestimmung führt. Dieser Ansatz steht mit Pippins früherer Einschätzung im Einklang: „The Notion Hegel is interested in cannot be accounted for by reliance on empirical intuition, cannot be grounded in the metaphysical beyond the substance, cannot be a mental construct, or subjective posing, or pragmatic criterion“ (Pippin 1989, 236). John McDowell (2009a) hat die Wichtigkeit der Kritik Hegels an der kantischen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft unterstrichen. Hegels Kritikpunkt bezieht sich laut McDowell auf Kants Einschränkung der Freiheit der Apperzeption auf den Bereich der Erscheinungen bzw. auf den subjektiv bedingten Bereich der zeiträumlichen Erfahrung. Hegels Erwiderung besteht laut McDowell in der These, dass Raum und Zeit keine bloß subjektiven Bedingungen darstellen, sondern hingegen das Medium, in dem die Autonomie des Begriffs wirklich sein kann. McDowell konzentriert sich auf die von Hegel gegen Kant wieder belebte Objektivität der empirischen Begriffe und lässt dadurch außer Betracht, dass Hegels Kritikpunkt an der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft vor allem den Stellenwert der Vernunftideen und damit auch die Bedeutung und nicht nur die Objektivität von Begriffen betrifft. Diese Kritik ist manifest auch in Hegels Einwand gegen die geometrische Methode der Philosophie und gegen eine mathematische Auffassung des Begriffs, denn Begriffe sind „nicht so ein Totliegendes wie Zahlen und Linien“ (GW 12, 47). In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik heißt es: „Auch die reine Mathematik hat ihre Methode, die für ihre abstracten Gegenstände und für die quantitative Bestimmung, in der sie allein betrachtet, passend ist. (…) Spinoza, Wolf und andre haben sich veerführen lassen, sie auch auf die Philosophie anzuwenden, und den äusserlichen Gang der begrifflosen Quantität zum Gange des Begriffes zu machen, was an und für sich widersprechend ist“ (GW 21, 37). Zu dieser Kritik Hegels an einem gegenstandszentrierten und formallogischen Weltbild vgl. Stekeler-Weithofer 1992. In diesem Sinne revidiert Hegel die kantischen Antinomien. Die Antinomien sind für Hegel nicht nur auf die Gegenstände der Kosmologie bezogen, sondern verkörpern vielmehr die dialektische Konstitution des Begrifflichen selbst. Das Antinomische befindet sich „vielmehr in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies zu wissen und die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen, gehört zum Wesentlichen der philosophischen Betrachtung; diese Eigenschaft macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische
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Damit geht eine semantische Bereicherung der kantischen Erfahrungswelt einher, insofern Hegel betont, dass die Vernunftideen nicht nur eine regulative, sondern auch eine konstitutive Funktion haben.¹⁴ Die Objektivität der Erfahrungswelt besteht nicht bloß aus einer kategorial konstituierten Gegenständlichkeit, wie sie in den frühen, noch dürftigen Bewusstseinsgestalten in der Phänomenologie (1807) dargestellt ist, sondern auch aus einem geschichtlich entwickelten, sprachlich konstituierten und gesellschaftlich geteilten Horizont von Bedeutungen, den Hegel „Geist“ nennt und der begrifflich artikuliert ist (VI.1.D).¹⁵ Die wichtigste Implikation seiner Auseinandersetzung mit Kant ist die Verwandlung der kantischen Auffassung des begrifflichen Inhalts, den Hegel als sprachlich und nicht als anschaulich betrachtet (VI.1.E). Im Psychologie-Kapitel der Enzyklopädie identifiziert Hegel die synthetische Leistung des Denkens mit der Sprache und lehnt die repräsentationalistische Auffassung ab, wonach der semantische Gehalt von Begriffen auf raumzeitliche Externalität angewiesen ist und auf anschaulichräumliche Formen zurückgeführt werden kann. Dagegen behauptet Hegel, dass unser Denkvermögen nicht der Anschauung bedarf, sondern allein des sprachlichen Ausdrucks: „Es ist im Namen, das wir denken“ (GW 20, 460). Hegels sprachorientierte Auffasung des begrifflichen Gehaltes geht mit seinem Begriffsholismus einher: Sinn konstituiert sich durch ein Netz von aufeinander verweisenden Sinnzusammenhängen, die sich in ihrer Interdependenz begrifflich artikulieren lassen (VI.2.A).¹⁶ Um die begriffliche Konstitution von Sinn näher zu beschreiben, werden im zweiten Teil des Kapitels Hegels Kritik an philosophischen Theorien des Nichtbegrifflichen (VI.2.B), die Abgrenzung des Begriffs von der allgemeinen Abstraktheit (VI.2.C), aber auch die Abgrenzung von der bestimmungslosen Besonderheit (VI.2.D) dargestellt. Der letzte Teil des Kapitels wendet sich dem lebendigen Charakter bzw. der teleologischen Natur des
Moment des Logischen bestimmt“ (GW 20, 85). Zu Hegels Umgang mit den kantischen Antinomien vgl. Houlgate 2016. Anschauungen, Vorstellungen und empirische Begriffe sind, so Hegels Argument in der Enzyklopädie (1830), immer schon von Vernunft und Geist durchdrungen. „Die wahre Befriedigung“ unseres geistigen Lebens gewährt „nur ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen darstellende Productionen der Phantasie u.s.f.“ (GW 20, 442). Robert Brandom (2002b) unterscheidet zwischen den geschichtlichen, inferentiellen und gesellschaftlichen Dimensionen der begrifflichen Normativität. Zur Bedeutung der Anerkennungsprozesse in der Konstitution von Normativität vgl. Honneth 2008; Quante 2011. Zum Zusammenhang zwischen Hegels Antiskeptizismus und seinem holistischen und kohärentistischen Ansatz vgl. Quante 2011.
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Begriffs (VI.3.A),¹⁷ der Idee des Guten als der übergreifenden Kategorie der geistigen Welt (VI.3.B) und der Aufgabe der begrifflichen Artikulation dieses Sinnbereiches (VI.3.C) zu. Im daran anschließenden, letzten Kapitel der Arbeit wird die logische Artikulation von Begriffen erläutert, unter Bezugnahme auf Hegels Darstellung seiner Methode am Ende der Begriffslogik (1816). Die Negativität steht dabei für das Prinzip des λόγος, das sowohl die Konstitution als auch die Artikulation von Denkbestimmungen umfasst. Die logische Darstellung beginnt bei der unmittelbaren Gegebenheit von einer Denkbestimmung, die einen Reichtum von mannigfaltigen Bestimmungen in sich birgt. In diesem Sinne beschreibt Hegel die Negativität als „aufgehobene Vermittlung“, weil die konstitutiven Schichten, die das Unmittelbare vermitteln, in dieser Unmittelbarkeit verschwinden und dadurch vergessen bzw. aufgehoben werden. Die Darstellungsmethode beginnt mit der Analyse dessen, was sich in der sprachlichen Unmittelbarkeit als Negation zeigt. Denn die latenten, konstitutiven Schichten einer Bestimmung erscheinen in ihrer Unmittelbarkeit als ein Anderes, als ein Negierendes. Die im Unmittelbaren enthaltenen Bestimmungen begrifflich zu entfalten, heißt vor allem, das scheinbar Negative zur Sprache zu bringen und es in seiner konstitutiven Funktion anzuerkennen (vgl. Kap. VII: „Die Negativität als Konstitution von Sinn“).
1 Hegels Kritik an Kants Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft A Objektivität und Bestimmung Hegels Kritik an Kant wird allgemein als eine Kritik an der Einschränkung des transzendentalen Bereiches verstanden. Hegels Plädoyer für den Standpunkt der Vernunft – als Gegensatz zum endlichen Standpunkt des Verstandes – scheint die Objektivität derjenigen transzendentalen Elemente zu behaupten, die im kantischen Rahmen nur einen subjektiven oder regulativen Stellenwert haben. Die Debatte um das Verhältnis von Kant und Hegel bezieht sich daher auf die Frage,
Die Thematik der Teleologie wirft ein anderes Licht auf die von Hegel in Anspruch genommene Objektivität des Begriffs. Die von Hegel in Anspruch genommene Objektivität des Begriffs hat nicht nur eine kritische Funktion gegenüber der Trennung zwischen subjektiver Begrifflichkeit und objektiver Gegebenheit, sondern auch eine aristotelische Konnotation: Der Begriff ist ein objektives Prinzip in der Natur selbst, welches im Begriff zur Selbsterkenntnis kommt (νοήσεως νόησις). Zu Hegels Aristoteles-Rezeption vgl. Ferrarin 2001. Zum objektiven Idealismus Hegels vgl. Hösle 1998.
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was Hegel als hauptsächliche Einschränkung der kantischen Transzendentalphilosophie betrachtet. Insofern dabei angenommen wird, dass die Streitsache zwischen Kant und Hegel die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Dingan-sich betrifft, fokussiert sich diese Herangehensweise auf das Problem der Objektivität der Erkenntnis.¹⁸ Die Bedeutung der Objektivität, die Hegel gegen Kants subjektiven Idealismus beansprucht, hängt allerdings von der Natur der Begriffe ab, worauf man sich jeweils bezieht. Die Objektivität der Begriffe, die in der empirischen Erkenntnis gebraucht werden, ist von der Objektivität der Vernunftbegriffe, die in normativen Urteilen und in der Artikulation einer übergreifenden Weltauffassung eingesetzt werden, zu unterscheiden. Im Lichte dieser Unterschiedung scheint die kantische Einschränkung des transzendentalen Bereichs eine zweifache Grenze zu involvieren. Eine Grenze betrifft die Objektivität der Verstandesbegriffe, die andere den Geltungsbereich der Vernunftbegriffe. Für Hegel implizieren beide Grenzen im kantischen Rahmen den Standpunkt des Subjektivismus: Die vom Verstand hergeleiteten Begriffe, die den raumzeitlichen Bereich betreffen, haben einerseits den Status von Erscheinungen, weil Zeit und Raum nur Formen der menschlichen Anschauung sind.¹⁹ Die Vernunftideen gehen andererseits über die Schranke möglicher Erfahrung hinaus und haben deshalb nur einen subjektiven, regulativen Wert. Im Hinblick auf beide Grenzen, diejenige der Externalität und diejenige der Transzendenz, scheint Hegel eine Art von Objektivität einzufordern. In erster Hinsicht löst Hegel den Erscheinungscharakter der Erfahrungsgegenstände auf und plädiert hingegen für einen objektiven Idealismus, der die kantische Deduktion der Kategorien radikalisiert (vgl. Horstmann 1997). In zweiter Hinsicht scheint Hegel die Möglichkeit der Metaphysik wiederzubeleben und die Reichweite der transzendentalen Erkenntnis über den zeiträumlichen Bereich hinaus auszudehnen.²⁰ Das Porträt dieses metaphysischen Hegels lässt die Frage auf-
Robert Pippins (1989) Interpretation der hegelschen Philosophie als eines objektiven Idealismus kantischer Herkunft hat den Rahmen der neueren Hegel-Auslegungen maßgeblich geprägt. Der dadurch eröffnete Debattenbereich betrifft insbesondere die Frage nach dem begrifflichen Gehalt der empirischen Erfahrung bzw. das Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff. Dadurch hat Pippin den Fokus der Debatte auf Hegels Verhältnis zu Kants Transzendentaler Analytik gerichtet. Gegen diese subjektivistische Lesart Kants argumentiert Henry E. Allison (2015). Robert Stern ist einer der bedeutendsten Vertreter dieser Lesart, der zufolge Hegel ein traditioneller Metaphysiker von kantischer Inspiration ist. Hegel behaupte die Unhintergehbarkeit eines metaphysischen Rahmens (metaphysica generalis) für jedes Projekt einer Transzendentalphilosophie und seine Philosophie sei ein „anti-nominalist realism about universals“ (Stern 2009, 34). Hegels Ontologie soll die Struktur der Realität „at a fundamental level, concerning the nature of cause, substance, relations, universals, individuals“ erschließen (Stern 2009, 30). James
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kommen, ob Hegel durch die illegitime Ausweitung des Kategoriengebrauchs auf den Bereich der doch unerfahrbaren Vernunftgegenstände hinter Kant zurückfällt.²¹ Die Unterscheidung dieser Problembereiche – die Frage der Externalität und die Frage der Transzendenz – entspricht der Arbeitsteilung zwischen den metaphysischen und den nichtmetaphysischen Lesarten von Hegel. Die eine Lesart fokussiert auf den Stellenwert empirischer Erkenntnis, die andere auf den Status der regulativen Vernunftbegriffe. Beide Lesarten interpretieren die Objektivität des betreffenden begrifflichen Bereiches in Verbindung mit Hegels Aufhebung des Dings-an-sich. Die Betonung der Objektivität als Streitfrage zwischen Hegel und Kant übersieht jedoch Hegels Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bestimmung von Begriffen. Hegel entwickelt diese Fragestellung aufgrund des problematischen Stellenwerts der Vernunftbegriffe im kantischen Rahmen. Die Objektivität von Vernunftbegriffen kann für die Bestimmung derselben keine Rechenschaft ablegen, weil diese Begriffe keinen anschaulichen Gehalt haben und somit auf keine Referenz – sei es im Bereich der zeiträumlichen Gegenständlichkeit oder im übersinnlichen Bereich – bezogen sind. Wenn diesen Begriffen somit weder empirische Gegenstände noch metaphysische Entitäten entsprechen, dann stellt sich die Frage nach ihrer Bestimmbarkeit. Damit verschiebt Hegel die Problematik der Objektivität von Begriffen auf die Frage nach ihrer Bestimmbarkeit. Anders gesagt, Hegel denkt die Objektivität und die Bestimmung von Begriffen zusammen.²² Kreines (2016) hat ebenfalls versucht, die metaphysische Lesart Hegels zu rehabilitieren. Kreines (2006) argumentiert, dass Hegels logische Behandlung von metaphysischen Problemen unausweichlich eine ontologische Tragweite hat und nicht eine Theorie der Bedeutung darstellt. Robert Pippin (2015) argumentiert zu Recht, dass Hegel kein Interesse an typischen metaphysischen Fragestellungen hat, welche die Möblierung des Weltalls (furniture of the universe) betreffen. Hegel will seine Philosophie nicht in die Tradition des dogmatischen Rationalismus einschreiben, sondern deutet die Metaphysik in die Logik um. Hegel grenzt sich von den erwähnten Bedeutungen der Objektivität in der einführenden Partie im Kapitel über die Objektivität in der Begriffslogik ab (1816), am Beispiel des Begriffs „Gott“. Die Objektivität eines Begriffs kann einerseits nicht sein äußeres Dasein betreffen: „Unüberwindlich wird allerdings die Schwierigkeit, im Begriffe überhaupt, und eben so im Begriffe Gottes das Seyn zu finden, wenn es ein solches seyn soll, das im Contexte der äußeren Erfahrung oder in der Form der sinnlichen Wahrnehmung (…) wesentlich dem äussern, nicht dem innern Auge sichtbares vorkommen soll; – wenn dasjenige, Seyn, Realität, Wahrheit genannt wird, was die Dinge als sinnliche, zeitliche und vergängliche haben“ (GW 12, 129). Andererseits ist die Objektivität des Begriffs auch „nicht die göttliche Existenz“, sondern „gerade um so viel reicher und höher als das Seyn oder Daseyn des ontologischen Beweises, als der reine Begriff reicher und höher ist, als jene metaphysische Leere des Inbegriffs aller Realität“ (GW 12, 129).
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Die Frage nach dem Bedeutungsgehalt der Vernunftbegriffe ist demnach von der Frage nach dem Geltungsbereich derselben zu unterscheiden. Während die letzte Frage die metaphysische Möglichkeit von Vernunftgegenständen betrifft, bezieht sich die erste Frage auf die semantische Bestimmung und die begriffliche Artikulierbarkeit von Vernunftbegriffen.²³ Um zu zeigen, inwiefern diese Fragestellung zu einem transformativen Ansatz über die Natur des Begrifflichen selbst führt, muss erstens Hegels Kritik an der Gebundenheit der Denkbestimmungen an die anschauliche Gegebenheit²⁴ und zweitens seine Infragestellung der kantischen Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, woran er eine enge Verbindung zwischen logischen Bestimmungen und dem zeiträumlichen Bereich erkennt, verdeutlicht werden.
B Verstandeskategorien und Vernunftbegriffe Im Abschnitt über die Kritische Philosophie in der Enzyklopädie (1830) behauptet Hegel, dass die Vernunft in Kant „bestimmungslos“ sei (GW 20, 81). Die Vernunft sei „nur leeres, unbestimmtes Denken, so denkt sie nichts“ (GW 20, 85). Diese
Eine andere Weise, diese Problematik einzuführen, ist durch den Hinweis auf die frühe Kritik Hegels an Kants Ethik. Hegels Philosophieren beginnt mit der Kritik an der kantischen Konzeption des Sollens und mit dem Projekt, gegen die Starrheit der kantischen Pflicht eine lebendige Form von Ethos zu denken. Dieter Henrich hat wiederholt und überzeugend argumentiert, dass der Ursprung des hegelschen Denkens im Ringen mit der kantischen Ethik zu verorten ist (vgl. Henrich 1963). Hegel erfasst das so gedachte Ethos als πλήρωμα des moralischen Gesetzes, als dessen „lebendige Fülle“ (GW 2, 159), in welcher Gebot und Lebendigkeit vereinigt sind. Ein so konzipiertes Ethos ist eine „Wiederherstellung des lebendigen Bandes“ (GW 2, 215), die nicht nur die Trennung von Sollen und Sein, Recht und Leben, sondern auch diejenige von Begriff und Anschauung aufhebt. Laut Dieter Henrich hat Hegel den ersten Anstoß zu diesem Begriff der Vereinigung von Hölderlin bekommen. Während es für Hölderlin um eine Ureinheit geht, welche „höchste Gewißheit, aber nicht Gegenstand einer deskriptiven Erkenntnis“ sei, kritisiert Hegel die Vorstellung eines vorausgesetzten harmonischen Urzustandes und plädiert im Gegenteil für eine Vereinigung der Entgegensetzten durch die begriffliche Arbeit (Henrich 2010, 21). Zu Hegels Verhältnis zu Hölderlin und dem neutplatonischen Gedankengut vgl. Halfwassen 2005. Selbstverständlich ist auch Schillers Einfluss im Gedanken der „Einigkeit der Neigung mit dem Gesetze“ (GW 2, 158) wirksam. Zum Verhältnis zwischen Sittlichkeit und Moralität und zwischen praktischer und theoretischer Vernunft beim jungen Hegel vgl. Baumeister 1976; Burkhardt 1989; Busche 1987; Deligiorgi 2013; O’Hagan 1987; Priest 1987. Es ist, so Hegel in der Begriffslogik, gerade die Annahme, dass die begriffliche Sphäre der Vernunft nur das Innerliche und repräsentiert und die reelle, anschaulich gegebene Seite nicht an sich hat, die dazu führt, dass der Vernunftbegriff bzw. die praktische Idee „aus diesem Erkennen [dem Erkennen des Reellen, L.I.] ausgeschlossen“ wird (GW 12, 230).
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
Wortwahl ist aussagekräftig und sie weist auf Hegels Einwand hin, dass Kant das begriffliche Denken auf den Bereich der Erkenntnis restringiert. Dass dies der Haupteinwand Hegels ist, von welchem seine Unzufriedenheit mit anderen Grenzlinien des kantischen Denkrahmens herrührt, soll im Folgenden gezeigt werden. Vorerst muss aber präzisiert werden, dass Hegels Unzufriedenheit sich nicht auf die kantische Einschränkung der Erkenntnis bezieht, sondern auf eine begrenzte Auffassung des Denkens als eines epistemischen Organs.²⁵ Die von Hegel monierte Leerheit der Vernunft wird allgemein im Zusammenhang mit der kantischen Trennung von Form und Inhalt interpretiert – in theoretischer Hinsicht als subjektive Einseitigkeit der reinen Begriffe und in praktischer Hinsicht als Abstraktheit des moralischen Gesetzes. Obwohl Hegel diese Formalismus-Einwände im oben zitierten Abschnitt der Enzyklopädie behandelt, sind sie kein Teil der Erörterung der kantischen Vernunft (§45-§52), sondern der Analyse des Verstandes (§40-§44) und der praktischen Vernunft (§53§54). Der leere Charakter der Vernunft darf somit nicht als Leerheit der Kategorien oder des moralischen Gesetzes verkannt werden. Der Abschnitt beginnt mit dem Verweis auf die enge Verbindung von Erkenntnis und empirischer Gegebenheit in Kant.²⁶ Hegels Kritik richtet sich dabei nicht nur gegen den Erscheinungscharakter der Gegenständlichkeit,²⁷ sondern auch gegen die Verknüpfung von Erkenntnis und Empirie an sich. Hegels Argument kann derart zusammengefasst werden: Wenn die transzendentale Apperzeption wesentlich auf eine anschauliche Mannigfaltigkeit bezogen ist, dann sind die Weisen der synthetischen Bezugnahme auf das Mannigfaltige – bzw. die Kategorien – auf Raum und Zeit angewiesen, insofern Raum und Zeit die reinen Formen der Anschauung darstellen.²⁸ Wenn die Kategorien Weisen sind, in der
Dieter Henrich hat die Relevanz der Unterscheidung zwischen Verstandesbegriffen und Vernunftbegriffen hervorgehoben. In seinen Vorlesungen Between Kant and Hegel unterscheidet Dieter Henrich zwischen einem Reflexionssystem und einem Vernunftsystem. Das Vernunftsystem soll gerade ein begriffliches Instrumentarium entwickeln, welches den Bereich der Sittlichkeit entfalten soll. Vgl. Henrich 2003, 312. Bei Kant ist „die Erfahrung für den einzigen Boden der Erkenntnis anzunehmen, welche sie aber nicht für Wahrheiten, sondern nur für Erkenntnis von Erscheinungen gelten läßt“ (GW 20, 78). In dieser Hinsicht kritisiert Hegel den subjektiven Stellenwert der Kategorien. Obwohl für Kant die Verstandesbegriffe „die Objektivität der Erfahrung-Erkenntnisse“ ausmachen (GW 20, 78), fällt die Erkenntnis a priori in den Bereich der Subjektivität bzw. der möglichen Erfahrung für uns. In der Beschreibung der transzendentalen Apperzeption interpretiert Hegel ausdrücklich die Kategorien als raumzeitlich gebunden: „Die bestimmten Weisen dieses Beziehens sind die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien“ (GW 20, 79). Dies kontrastiert mit Kants Verständnis der Ka-
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sich der menschliche Verstand auf das anschaulich Gegebene synthetisch bezieht, dann werden die Denkbestimmungen als solche an Anschauungen gebunden. Folglich haben die Kategorien „Anwendung und Gebrauch allein in der Erfahrung“ und sind „durch den gegebenen Stoff bedingt“ (GW 20, 80). Hegel erläutert die Implikation dieser Identifikation von Verstandeskategorien und Denkbestimmungen in seiner Behandlung der kantischen Vernunft. In der anschließenden Besprechung der Transzendentalen Dialektik, die „wichtiger als die erste“ bzw. als die Transzendentale Analytik sei (GW 20, 82),²⁹ befasst sich Hegel mit dem Inhalt der Vernunftbegriffe und beginnt mit dem problematischen Verhältnis von Kategorien und Ideen: Die Kategorien sind daher unfähig Bestimmungen des Absoluten zu sein, als welches nicht in einer Wahrnehmung gegeben ist, und der Verstand oder die Erkenntnis durch die Kategorien ist darum unvermögend die Dinge an sich zu erkennen (GW 20, 80).
Als Beispiele für Dinge an sich nennt Hegel hier „Geist“ und „Gott“. Insofern solchen Begriffen kein anschaulicher Inhalt zukommt, erscheinen sie als „das völlige Abstractum“, „das ganz Leere“, „als Jenseits“ (GW 20, 81). Der Grund, warum sie leer sind, hängt aber auch mit der Unangemessenheit der begrifflichen Mittel zusammen, den bestimmten Inhalt dieser Begriffe zu artikulieren: Es trifft aber das Bedürfnis ein, diese Identität oder das leere Ding-an-sich zu erkennen. Erkennen heißt nun nichts anderes als einen Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalte zu wissen. (…) Für diese Bestimmung jenes Unendlichen oder Dings-an-sich hätte diese Vernunft nichts als die Kategorien; indem sie diese dazu gebrauchen will, wird sie überfliegend (transcendent) (GW 20, 82).
Dadurch hebt Hegel eine Zweideutigkeit der kantischen Darstellung der Vernunftideen hervor: Obwohl in Kant die Ideen – die Seele, die Welt, Gott – aus dem transzendenten Gebrauch der Kategorien resultieren, verbietet Kant diesen Gebrauch nicht nur, weil spekulative Urteile keine epistemische Tragweite haben, sondern auch, weil die Verstandeskategorien Begriffe ohne anschaulichen Gehalt semantisch gar nicht bestimmen können.³⁰ Der Gebrauch der Kategorien im Betegorien, die als Funktionen des Denkens überhaupt fungieren – und nicht nur der Erkenntnis der Erfahrung in Raum und Zeit. In einem Brief an Marcus Herz vom Mai 1781 behauptet Kant selbst, dass er sein Hauptwerk mit den Antinomien der reinen Vernunft hätte anfangen sollen, um den Leser für den Ursprung der Auseinandersetzung zu interessieren (Kant-Briefwechsel, AA X). Vgl. dazu Llewelyn 1987. In diesem Zusammenhang klagt Hegel, dass bei Kant die Vernunftbegriffe für die menschliche Vernunft „etwas ganz bekanntes“ sind und dass sie aufgrund dieser Selbstverständlichkeit keiner begrifflichen Artikulation bedürfen (GW 20, 81). Hegel fügt ironisch hinzu: „Man muß sich
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reich der Vernunft ist überflüssig, weil er über all das, was überhaupt als Gegenstand gelten kann, hinausgeht.³¹ Daraus ist nicht zu schlussfolgern, dass Hegel im Gegenzug den Anwendungsbereich der Verstandeskategorien zu erweitern sucht.³² Im Gegenteil beweisen Hegels Kommentare zu den Paralogismen der Vernunft, dass er Kants Kritik an der rationalen Psychologie, welche die empirischen Eigenschaften eines Ichs mit den Bestimmungen einer nicht-empirischen Seele verwechselt, teilt. Hegel erbt von Kant und verschärft die Auffassung, dass Vernunftbegriffe durch Verstandeskategorien nicht bestimmt werden können. Seine Kritik zielt somit nicht auf die Legitimierung der Verstandeskategorien im Bereich der Vernunftideen, sondern Hegels Dissens liegt vielmehr darin, dass Kant im Ausgang seiner Kritik an der klassischen Metaphysik das begriffliche Wissen mit der empirischen Erfahrung verschmelzt. Kant lässt „das Erkennen überhaupt, ja selbst das Erfahren, darin bestehen, daß die Wahrnehmungen gedacht werden, d. h. die Bestimmungen, welche zunächst dem Wahrnehmen angehören, in Denkbestimmungen verwandelt werden“ (GW 20, 83). Die Art und Weise, in der Kant auf Paralogismen reagiert, führt laut Hegel zur Einschränkung der Denkbestimmungen auf Wahrnehmungskategorien. Wenn aber Denkbestimmungen auf Wahrnehmung eingeschränkt werden, dann ist das zentrale Problem nicht die Erkennbarkeit von metaphysischen Gegenständen, sondern die Denkbarkeit von Begriffen ohne anschaulichen Gehalt: Semantische Inhalte, die nicht wahrnehmbar sind, können durch Wahrnehmungskategorien nicht bestimmt werden. Aus diesem Grunde schließt Hegel seine Behandlung der kantischen Paralogismen mit der Bemer-
hiernach nur wundern so oft wiederholt gelesen zu haben, man wisse nicht, was das Ding-an-sich sei; und es ist nichts leichter als dies zu wissen“ (GW 20, 81). Dieser Einwand Hegels muss von dem Kritikpunkt, demzufolge Kant die intrinsische Bestimmung der Kategorien und ihr Verhältnis zueinander nicht adressiert, unterschieden werden. Die fichtesche Frage nach der metaphysischen Deduktion der reinen Kategorien, die Hegel zweifelsohne berücksichtigt (vgl. GW 20, 80), ist von der Frage nach der inhaltlichen Bestimmung der Vernunftbegriffe verschieden. Die Differenz dieser Kritikpunkte zu unterstreichen, ist deshalb wichtig, weil Hegel erst anhand der Frage nach der Bestimmung der Ideen die Verbindung zwischen Begriffen und Anschauungen herausfordert. Denn selbst wenn die Kategorien des Verstandes logisch selbstbestimmt wären, sind sie wesentlich auf den raumzeitlichen Bereich angewiesen. Karin de Boer hat den Kritikpunkt Hegels bezüglich des leeren Gehaltes von Vernunftbegriffen treffend erläutert, jedoch daraus geschlussfolgert, dass Hegel die Grenzen des Verstandes aufhebt und somit die Erkennbarkeit der Vernunft mit den Mitteln des Verstandes ermöglicht. Diese Arbeit argumentiert dagegen, dass durch die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft Hegel eine andere Darstellungsmethode der Vernunft als durch die Verstandeskategorien zu entwerfen versucht. Vgl. De Boer 2004.
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kung ab: „Der Inhalt des Gedankens für sich selbst kommt hier nicht zur Sprache“ (GW 12, 84). Dieser Kritikpunkt kulminiert in Hegels Erörterung der kantischen Antinomien, wo er das eigentliche Problem des kantischen Denkrahmens derart formuliert, dass die Vernunft keine begrifflichen Mittel zur Artikulation der Vernunftbegriffe hat: Es hilft nichts, daß die Wendung gebraucht wird, die Vernunft gerate nur durch die Anwendung der Kategorien in den Widerspruch. Denn es wird dabei behauptet, dieses Anwenden sei notwendig, und die Vernunft habe für das Erkennen keine anderen Bestimmungen als die Kategorien. Erkennen ist in der Tat bestimmendes und bestimmtes Denken; ist die Vernunft nur leeres, unbestimmtes Denken, so denkt sie nichts.Wird aber am Ende die Vernunft auf jene leere Identität reduziert (…), so wird auch sie am Ende glücklich noch von dem Widerspruche befreit durch die leichte Aufopferung alles Inhaltes und Gehaltes (GW 12, 85).
Die Leere der Vernunft besteht somit nicht in ihrem Mangel am sinnlichen Gehalt, wie man von Kant aus behaupten würde, sondern im Unvermögen des Denkens, den Inhalt von Begriffen ohne anschaulichen Gehalt zu bestimmen. Die Tatsache, dass Hegel hier die Termini „Inhalt“ und „Gehalt“ synonym gebraucht, belegt, dass er Denken und Erkennen zusammenführt. Dies suggeriert, dass sein Anliegen vielmehr semantisch als epistemologisch ist. Das Problem ist nicht die Einschränkung der Erkenntnis auf die mögliche Erfahrung in Raum und Zeit, sondern die Einschränkung des Denkvermögens, das in Hegels Augen damit einhergeht. Die Engführung der begrifflichen Verständlichkeit mit der raumzeitlichen Erfahrung führt laut Hegel dazu, dass das menschliche Denken über kein anderes diskursives Vermögen als die Verstandesurteile verfügt. Vom kantischen Standpunkt aus lässt sich aber die Frage stellen, worin ein breiteres begriffliches Vermögen bestehen soll. Sind die Kategorien nicht die einzigen Funktionen, um zu urteilen (KdrV, B143)? Für Hegel ist aber das kantische Urteilsvermögen auf das Gegenständliche angewiesen. Auch die synthetischen Urteile a priori fassen nur abstrakte Raumverhältnisse der Gegenständlichkeit, wie Hegel im Kapitel zur Idee des Erkennens in der Begriffslogik erläutert, und bleiben somit im Bereich der Geometrie bzw. der Größenbestimmung der Dinge. Die Apriorität derjenigen synthetischen Urteile, die die Bedingungen der Erfahrung von Gegenständlichkeit überhaupt bestimmen, beschreibt Hegel als „Begrifflosigkeit“ (GW 12, 226). Die synthetische Methode erweist sich „am ungenügendsten (…) bei der Philosophie“ (GW 12, 227). Um die Identifikation der Denkbestimmungen mit den Kategorien der Erkenntnis aufzulösen und dadurch zu ermöglichen, dass das Denken sich als Ganzes begrifflich entfalten kann, bedarf es eines Umdenkens des begrifflichen Inhalts.
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
C Anschauliche Synthesis und begrifflicher Inhalt Hegel interpretiert die kantische Verbindung von begrifflicher Erkenntnis und empirischer Erfahrung als eine Verbindung von Denken und dem anschaulichen Bereich. Aus diesem Grunde ist die wichtigste Implikation der Reaktion Hegels auf Kant die Entkopplung des begrifflichen Inhalts von Anschauungen. Den begrifflichen Inhalt von der Abhängigkeit vom raumzeitlichen Bereich der Erfahrung loszulösen, stellt für Hegel die Bedingung für die Erweiterung des kategorialen Apparats des Denkens dar – und nicht zuletzt die Bedingung, Begriffe ohne anschaulichen Gehalt bestimmen zu können. In der Einleitung der Begriffslogik (1816) preist Hegel Kants Einsicht in die synthetische Natur der Begriffe.³³ Hegel lehnt jedoch die subjektivistische Konnotation der kantischen Auffassung der synthetischen Einheit der Apperzeption ab. Diese Kritik am „psychologischen Idealismus“ bezieht sich nicht nur darauf, dass für Kant die Kategorien „nur Bestimmungen seien, die vom Selbstbewusstsein herkommen“ (GW 12, 22 – 23), wogegen Hegel behauptet, dass der Begriff „nicht als Actus des selbstbewussten Verstandes“ zu betrachten ist und dass der Begriff „nicht der subjektive Verstand“ ist (GW 12, 20).³⁴ Die Kritik bezieht sich auch nicht nur auf den subjektiven Charakter von Raum und Zeit als Formen unserer menschlichen Anschauungen.³⁵ Sondern Hegel kritisiert vielmehr die Auffassung der Synthesis als Verbindung von mannigfaltigen Anschauungen an, bzw. die Angewiesenheit der begrifflichen Synthese auf den anschaulichen Gehalt: „es ist ein wesentlicher Satz der kantischen Transcendental-Philosophie, daß die Begriffe ohne Anschauung leer sind, und allein als Beziehungen des durch Vgl. GW 12, 17– 18: „Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglichsynthetische Einheit der Apperception, als Einheit des: Ich denke, oder des Selbstbewußtseins erkannt wird“. Die Bedeutung der berühmten Einführung des Ich-Begriffs in der Einleitung der Begriffslogik liegt in der Exemplifizierung der synthetischen Konstitution des Begriffs – „um das zu erkennen, was der Begriff sei, [wird] an die Natur des Ich erinnert“ (GW 12, 19). Es handelt sich somit darum, dass am Ich sich die Natur des Begriffs zeigt – nicht aber um die subjektive Konstitution des Begriffs, wie Hegels Kant glaubt: Die Objektivität der synthetischen Einheit „oder der Begriff ist daher selbst nichts anderes, als die Natur des Selbstbewußtseins; [die Objektivität] hat keine andere Momente oder Bestimmungen, als das Ich selbst“ (GW 12, 18 – 19). Sinnliche Anschauungen sind subjektiv, weil Raum und Zeit – als reine Formen der Anschauung – subjektive Bedingungen unserer menschlichen Erfahrung sind. Demnach haben Begriffe auch aufgrund ihres anschaulichen Gehalts – und nicht nur aufgrund der subjektiven Natur der Synthesis – den Charakter von Erscheinungen. Infolge dieser subjektiven Konzeption von Sinnlichkeit wird ein äußerlicher Gegenstand als Ding-an-sich postuliert und in der unerreichbaren Sphäre des Objektiven verortet. Vgl. dazu McDowell 2009a.
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die Anschauung gegebenen Mannigfaltigen Gültigkeit haben“ (GW 12, 19). Hegel zufolge liegt die Annahme der „Bedingtheit des Begriffes durch ein Mannigfaltiges der Anschauung“ selbst am „psychologischen Reflexe des Begriffs“ (GW 12, 22), d. h. am Paradigma, dass die begriffliche Form einseitig und subjektiv ist, während der wahre Gehalt des Begriffs in der Sphäre des Objektiven, das durch die Anschauung zugänglich ist, externalisiert wird. Der ganze Subjektivismus des kantischen Idealismus – die Tatsache, dass „die Einheit des Objekts und des Begriffs (…) doch nur Erscheinung“ sei – beruht daher auf der Voraussetzung, dass „der Inhalt nur das Mannigfaltige der Anschauung sei“ (GW 12, 24). Hegels Ablehnung der Auffassung, dass der begriffliche Gehalt anschaulich ist, wird in seinem eigenen Verständnis des Begriffsinhaltes deutlich: Die begriffliche Form hat ihren eigenen Inhalt, der allein aus begrifflichen Bestimmungen besteht.³⁶ In diesem Lichte besteht die synthetische Natur von Begriffen im inhärenten Verhältnis einer unmittelbaren begrifflichen Allgemeinheit zu einem Spektrum von Begriffen, welche die erste implizit bestimmen. Während dieser begriffliche Holismus – der die kantische Apperzeption radikalisiert und deren Abhängigkeit von Anschauung zurückweist – in der Forschung ausführlich diskutiert wurde,³⁷ ist der Impetus der hegelschen Kritik vernachlässigt worden. Wie die Einleitung der Begriffslogik beweist, verschärft Hegel seine Kritik am Stellenwert des anschaulichen Gehaltes durch die Frage nach der Inhaltsbestimmung der Vernunftbegriffe: Die Vernunftbegriffe, in denen man eine höhere Kraft und tiefern Inhalt ahnden mußte, haben nichts constitutives mehr, wie noch die Kategorien; sie sind blosse Ideen; es soll ganz wohl erlaubt sein, sie zu gebrauchen, aber mit diesen intelligiblen Wesen, in denen sich alle Wahrheit ganz aufschliessen sollte, soll weiter nichts gemeint sein, als Hypothesen, denen eine Wahrheit an und für sich zuzuschreiben, eine völlige Willkür und Tollkühnheit sein würde, da sie – in keiner Erfahrung vorkommen können. – Hätte man es je denken sollen, daß die Philosophie den intelligiblen Wesen darum die Wahrheit absprechen würde, weil sie des räumlichen und zeitlichen Stoffes der Sinnlichkeit entbehren (GW 12, 23)?
Die Wahrheit eines Begriffs liegt für Hegel in der Totalität seiner Bestimmungen. Wahr sind die Vernunftbegriffe nicht, insofern sie als Substanzen jenseits des raumzeitlichen Bereichs ein Bestehen haben, sondern insofern ihre vollständige GW 12, 25: „Der Inhalt ist überhaupt nichts anderes als solche Bestimmungen der absoluten Form“. Vgl. Pippin 1989, 233: „the Kantian apperception theme is what generates the extreme claims for the autonomy of this development, and the rejection of Kant’s reliance on intuition is what places so much weight on the claim that thought can determine its own objective notions developmentally, that there is some sort of progressive self-negation in this reconstruction of a subject’s Notional determination of possible objects“.
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Bestimmung begriffen wird. Wenn aber der Inhalt eines Begriffs anschaulich sein soll, dann sind die Vernunftbegriffe „inhaltlos und leer“ (GW 12, 23).³⁸ Die Vernunftbegriffe sind trotzdem verständlich, selbst wenn sie nicht in Raum und Zeit gefunden werden können – sie sind verständlich, insofern sie einen vom Denken bestimmten Inhalt haben. Aus Hegels Perspektive besteht das Problem des kantischen Rahmens nicht nur in der Unmöglichkeit, normative Begriffe in der Rezeptivität zu gründen, sondern in der undeutlichen Funktion des Denkens in der Bestimmung der Ideen. Obwohl Kant zeigt, dass wir solche Ideen dank des illegitimen, epistemisch irrelevanten Gebrauchs unseres Urteilsvermögens denken können, erachtet Hegel diese Erklärung für unzureichend, und zwar selbst auf dem Boden der kantischen Philosophie: Denkbestimmungen, die an das Gegenständliche gebunden sind, können für die semantische Bestimmung von Begriffen ohne gegenständliche Korrespondenz nicht angewendet werden. Denn für diese Anwendung muss die illegitime Voraussetzung gemacht werden, dass Ideen Gegenständen entsprechen: Die spekulativen Urteile beruhen auf der Annahme metaphysischer Entitäten, die somit für die menschliche Vernunft vorgegeben und vorgefunden werden müssten, bevor sie durch spekulative Urteile eine Bestimmung erhalten. Es gibt aber bei Kant selbst keine einzige Rechtfertigung, die Möglichkeit solcher Gegenstände anzunehmen. Wenn Hegel die These ablehnt, dass, um Bedeutung oder „Wahrheit“ zu haben, Begriffe einen anschaulichen Gehalt haben müssen, dann ficht er eigentlich die Verbindung zwischen logischen Bestimmungen und dem raumzeitlichen Bereich an. Dieser Kritikpunkt entspricht seiner Kritk an der geometrischen Methode der Philosophie und an der mathematischen Auffassung der Begriffe als leblose Formen von wahrnehmbaren Gegenständen (vgl. Stekeler-Weithofer 1992). In der enzyklopädischen Philosophie des Geistes beschreibt Hegel die Abhängigkeit des Denkens von Anschauungen als „Standspunkt der Kategorien“, die er vom „Standpunkt des Geistes und der philosophischen Betrachtung“ differen-
An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass Kant unter der Leere der Vernunftbegriffe nur die Tatsache versteht, dass sie keine „objektive Realität“ haben und „bloße Gedankenformen“ sind (KdrV, B148). In Kants Transzendentaler Dialektik lässt sich der Inhalt der Vernunftideen durch spekulative Urteile bestimmen, deren überfliegender Gebrauch aber keine epistemische Tragweite hat. Laut Hegel bleibt aber trotzdem der semantische Inhalt der Vernunftideen in der Transzendentalen Dialektik unbestimmt. So behauptet er in diesem Zusammenhang, dass Kant „das Verhalten der Vernunft zu den Kategorien als nur dialektisch bestimmt, und zwar das Resultat dieser Dialektik schlechthin nur als das unendliche Nichts auffasst“ (GW 12, 23). Deshalb weist Hegel die kantische Behandlung der Antinomien zurück: Sie setzt voraus, dass das einzige Mittel, um über den Bedeutungsgehalt von Begriffe ohne anschaulichen Gehalt Auskunft zu geben, raumzeitliche Begriffe sind (vgl. Kap. VI.1.B: „Verstandesbegriffe und Vernunftbegriffe“).
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ziert.³⁹ Der Standpunkt des Geistes zeichnet sich dadurch aus, dass dabei die konstitutive Funktion der gestigen Bestimmungen in der Erfahrung von Welt erkannt wird. Gegen den Standpunkt der Kategorien,⁴⁰ der nicht nur die Sinnlichkeit vom Verstand, sondern auch die kategoriale Konstitution der Gegenständlichkeit vom normativen Bereich des Geistigen trennt und dadurch eine reduktive Auffassung der Weltkonstitution vertritt, argumentiert Hegel, dass die wahre Befriedigung der Erkenntnis „nur ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen darstellende Productionen der Phantasie u.s.f.“ gewährt (GW 20, 442). Über den Standpunkt des Verstandes hinauszudenken, bedeutet daher nicht nur, Sinnlichkeit und Verstand zusammen zu denken und so die Trennung zwischen unseren diskursiven und anschaulichen Fähigkeiten zu überwinden, sondern auch, die konkrete Erfahrung von Welt als von Vernunft durchdrungen und vom Geist vermittelt anzuerkennen.⁴¹ Eine vom Geist durchdrungene Welt bedeutet, dass die
GW 20, 440. „Eine Menge sonstiger Formen, die von der Intelligenz gebraucht werden, daß sie Eindrücke von Außen empfange, sie aufnehme, daß die Vorstellungen durch Einwirkungen äußerlicher Dinge als der Ursachen entstehen u.s.f. gehören einem Standpunkte der Kategorien an, der nicht der Standpunkt des Geistes und der philosophischen Betrachtung ist“. Klaus Hartmann hat Hegels Logik als eine Kategorientheorie im Sinne einer Beschreibung der Bestimmungen des Realen in Form von Begriffen: „A category is the claim that being matches what thought thinks of it“ (Hartmann 1976, 108). Die Bedeutung des Seins ist aber für die Bedeutung der Kategorie zentral: Mit welcher Seinsart stimmt eine Kategorie überein? Wenn unter Sein Existenz im allgemeinen Sinne oder raumzeitliche Objektivität im engeren Sinne verstanden wird, dann ist Hegels Logik nur teilweise eine Kategorientheorie. Im engen Sinne wäre nur die Seinslogik eine Kategorientheorie, weil sie sich mit den Bedingungen und Bestimmungen der Existenz befasst. Hegels objektive Logik entspricht insofern Kants transzendentaler Logik, als sie „Begriffe betrachte[t], die sich a priori auf Gegenstände beziehen“ – „oder daß sie die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes enthalte“ (GW 21, 47). Die Wesenslogik stellt indessen mögliche Theorien über den Grund der Existenz dar und entfaltet die möglichen Konfigurationen der traditionellen Metaphysik – allerdings anhand der Kategorien der objektiven Logik. In diesem Sinne entspricht die Wesenslogik Kants Transzendentaler Dialektik und versteht sich als „wahrhafte Kritik“ der metaphysischen Bestimmungen des Ding-an-sich (Seele, Welt, Gott), insofern sie diese Begriffe „in ihrem besondern Inhalte betrachtet“ (GW 21, 49). Béatrice Longuenesse (1981) hat überzeugend argumentiert, dass die objektive Logik Hegels eine kritische Funktion hat, insofern die Seinslogik ein empirisches-dogmatisches Moment und die Wesenslogik ein metaphysisches und transzendentales Moment repräsentieren. Erst die Begriffslogik reintegriert diese Momente in eine Denkeinheit. Die Begriffslogik erschließt die Art und Weise, in welcher der begriffliche Raum in seinem Ganzen verfasst ist. In der Begriffslogik beziehen sich die Denkbestimmungen nicht auf Gegenständlichkeit und ihre Objektivität ist weder die raumzeitliche Existenz noch das metaphysische Reich. Im kantischen Weltbild steht laut Hegel auf der einen Seite der „nur Endlichkeit erblickende Verstande“ und auf der anderen Seite „die sehnsuchtvolle Liebe“, die „an keiner vergänglichen
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Objektivität unserer Erfahrungswelt von einem ethischen, ästhetischen und teleologischen Horizont der Bedeutsamkeit mitkonstituiert ist.⁴² Die Objektivität der geistigen Welt übersteigt die bedürftige, gegenständliche Objektivität der ersten Formen des Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes. Der Mensch ist nicht nur ein wahrnehmendes Apparat, sondern die einfachste Bezugnahme auf die Welt impliziert bereits eine breite Palette von ermöglichenden Fähigkeiten – dass wir ein sprachliches Wesen sind, welches geschichtlich situiert und normativ orientiert ist, dass wir das Vermögen haben, angesichts des Gemeinsinns zu urteilen,Wissensansprüche zu begründen und unser Handeln an der Idee des Guten zu orientieren.⁴³ Diese menschlichen Vermögen sind nicht isolierte Fähigkeiten, sondern bilden gemeinsam den einheitlichen Bereich des Geistes. Wenn unsere diskursiven Fähigkeiten an die anschauliche Gegebenheit gebunden werden, dann scheinen die Vernunftideen von der konkreten Erfahrung der Welt getrennt zu sein, weil normative Begriffe nicht anschaulich gegeben sind.⁴⁴ Hegels Ablehnung des anschaulichen Gehalts von Begriffen läuft aber nicht auf die Abtrennung normativer Begriffe von der Rezeptivität hinaus. Wie bei
Anschauung“ Genuss hat (GW 4, 317). Die Vernunftideen haben keinen Ort im Horizont der Erfahrung, sondern auf die Gegenständlichkeit wird nachträglich „alles Religiöse, Sittliche und Schöne geworfen“ (GW 4, 319). Die kantische Vernunft erkennt die raumzeitliche Gegenständlichkeit als Objektivitätsbereich und will sich anschließend mit der „oberflächlichen Farbe eines Übersinnlichen schmücken, indem sie im Glauben auf ein Höheres verweist“ (GW 4, 323). Die Kluft zwischen „Freyheit, praktischer Vernunft, Autonomie, Gesetz“ auf der einen Seite und „Nothwendigkeit, Neigungen und Trieben, Heteronomie, Natur“ auf der anderen Seite ist „der vollständige Sieg der Unphilosophie“: „Der bornierte Verstand genießt hier seinen Triumph über die Vernunft, welche ist absolute Identität der höchsten Idee und der absoluten Realität“ (GW 4, 327). Robert Pippin argumentiert, dass Hegels Kritik an der kantischen Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung nicht nur die Objektivität der Gegenständlichkeit, sondern auch die normative Deutung der gegenständlichen Welt anbelangt. Die Wahrnehmung selbst ist mit ethischer Bedeutsamkeit aufgeladen: „A highly complex conceptual or normative interpretive framework is at work, without it being the case that such being at work is a matter of explicit, ‚reflective endorsement‘, or the result of articulated moral evaluation“ (Pippin 2015, 162). In diesem Sinne sind die hegelschen Begriffe, wie Terry Pinkard argumentiert, Konzeptionen – Weltauffassungen und Glaubenssysteme (Pinkard 1988, 13). Robert Brandom beschreibt den Geist ebenso als „the realm of the normative“, präziser als „the realm of conceptually articulated norms“ (Brandom 1999, 173, 177). Robert Pippin beschreibt diese Geistesgestalten („shapes of spirit“) als „forms of life“, die für die zugrudeliegenden Normen unserer Welterfahrung verantwortlich sind. Pippin ist der Auffassung, dass diese Normativität „cannot be accounted for empirically or deduced by pure reason from the possibility of thought at all“ but are fundamentally historical (Pippin 2007, 423). „Wie sollte das schlechthin Inhaltlose etwas konstituieren“, so Hegel an einer prägnanten Stelle in Glauben und Wissen (GW 4, 335).
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Kant sind für Hegel Begriffe im Allgemeinen mit der konkreten Welt der Erfahrung verflochten.⁴⁵ Und wie er in der Einleitung der Begriffslogik anmerkt, ist Anschauung „der Natur nach das Erste oder die Bedingung für den Begriff“ (GW 12, 22). Hegels Korrektur besteht aber im Gedanken, dass Begriffe nicht Formen für die raumzeitliche Gegenständlichkeit sind. Obwohl normative Bewertungen in der sinnlichen Wahrnehmung involviert sind, sind Normen nicht das Ergebnis von raumzeitlichen Denkbestimmungen und sie haben auch keine gegenständliche Entsprechung. Begriffe wie Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Freundschaft beziehen sich auf keine wahrnehmbaren Gegenstände in Raum und Zeit, selbst wenn ihre Konstitution und Bedeutung mit unserer Erfahrung in Raum und Zeit verstrickt ist. Hegels Rahmen eines selbstbestimmenden Denkens ist demnach nicht von der Realität entkoppelt, sondern, wenn Hegel sich die Aufgabe stellt, die Denkbestimmungen ohne Berufung auf den anschaulichen Gehalt zu entfalten, dann betrifft die Kernfrage dieses Projektes die begrifflichen Ressourcen des menschlichen Denkvermögens, anhand derer die Bedeutungen und die Normen, welche die menschliche Welt gestalten, artikuliert werden können. Die zitierte Stelle, wo Hegel auf die Zusammengehörigkeit der geistigen Vermögen verweist, befindet sich in dem Psychologie-Kapitel der Philosophie des Geistes, am Anfang der Behandlung des theoretischen Geistes. Am Ende dieser Partie, vor dem Abschnitt über den praktischen Geist, thematisiert Hegel das Verhältnis von Sprache und Denken. In diesem Zusammenhang formuliert er den entscheidenden Gedanken, dass der Gehalt unserer Begriffe primär sprachlich und nicht anschaulich ist. Auf die Tragweite dieses Gedankens – auch für den Bedeutungsgehalt von regulativen Ideen – wird im Folgenden eingegangen.
D Die Vernunft als sprachliches Vermögen Für Kant ist das diskursive Vermögen des Menschen an Sinnlichkeit gebunden. Unser Vermögen, zu urteilen, ist auf gegebene Inhalte angewiesen, die der menschliche Verstand sich selbst nicht geben kann. Inhaltlich ist unser Wissen,
Hegel zufolge hat Kants Philosophie „das Verdienst, Idealismus zu seyn, insofern sie erweist, daß weder der Begriff für sich allein, noch die Anschauung für sich allein, Etwas, die Anschauung für sich blind und der Begriff für sich leer ist“ (GW 4, 325 – 326). Der Geist entfaltet sich bei Hegel nicht in einem Äther. Im Gegenteil geht es ihm um die Zusammengehörigkeit von Begriff und Empirie.Vgl. dazu McDowell 2009a, 87: „The standpoint of Absolute Knowledge is a standpoint at which we understand that the pursuit of objectivity is the free unfolding of the Notion. It is not a standpoint at which we have somehow removed ourselves from the empirical world“.
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weil wir rezeptive Wesen sind. Die synthetische Tätigkeit unseres Verstandes ist nur aufgrund einer anschaulich gegebenen Mannigfaltigkeit möglich.⁴⁶ Ein Verstand, der von dieser Angewiesenheit auf die anschauliche Gegebenheit frei wäre, d. h. ein Verstand, der sich selbst Inhalt geben könnte, wäre kein diskursiver Verstand. Ein solcher Verstand wäre einer, der bloß anschaut, aber keiner, der „denken“ würde.⁴⁷ Der menschliche Verstand ist hingegen einer, „der bloß denkt, nicht anschaut“ – d. h. einer, der die anschauliche Mannigfaltigkeit nicht selbst produziert, sondern empfängt.⁴⁸ In der Transzendentalen Analytik (§21) erklärt Kant: Denn, wollte ich mir einen Verstand denken, der selbst anschaute (wie etwa einen göttlichen, der nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht würden), so würden die Kategorien in Ansehung eines solchen Erkenntnisses gar keine Bedeutung haben. Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet (KdrV, B145).
Ein intuitiver Verstand würde sich selbst den anschaulichen Gehalt geben und deshalb von keinem diskursiven Vermögen Gebrauch machen (Vgl. KdrV, B68). Weil unser Verstand insofern diskursiv ist, als er an Anschauungen gebunden ist, dürfen wir unser Urteilsvermögen auf Noumena bzw. auf Vorstellungen nichtempirischer Gegenstände nicht anwenden, weil wir keine Anschauungen davon haben (Vgl. KdrV, B307- B309). Solche Gegenstände könnten allerdings einem
Vgl. KdrV, B135: „Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als notwendig, ohne welche jene, durchgängige Identität des Selbstbewußtseins nicht gedacht werden kann. Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden. (…) Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen“. Vgl. KdrV, B135: „Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen“. Vgl. KdrV, B138 – 139: „Derjenige Verstand, durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Actus der Synthesis der Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf“.
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intellektuellen, nicht-diskursiven Verstand gegeben sein (Vgl. KdrV, B312.). Aber der menschliche Verstand ist kein solcher Verstand und verfügt somit nicht über das Vermögen einer intellektuellen Anschauung. Hegel kritisiert die kantische Zusammenführung von logischen Denkbestimmungen und raumzeitlichen Kategorien. Aus diesem Grunde könnte der Anschein entstehen, dass Hegel glaubt, der Mensch habe ein Vermögen der intellektuellen Anschauung, d. h. ein Erkenntnisvermögen, das auf den raumzeitlichen Bereich der Erfahrung nicht angewiesen ist. So würde Hegel gegen den endlichen Standpunkt des Verstandes ein menschliches Vermögen in Anspruch nehmen, welches die Vernunftgegenstände anschauen kann.⁴⁹ Jedoch würde diese Lesart übersehen, dass in seiner Antwort auf Kant Hegel nicht so sehr mit der Einschränkung der Erkenntnis, sondern mit der Natur des Denkens beschäftigt ist. Anders gesagt, Hegel betrachtet die Ideen der Vernunft nicht als Gegenstände, wozu eine intellektuelle Anschauung Zugang verschaffen soll. Die Frage der philosophishen Wissenschaft bzw. der Logik ist nicht, wie solche Gegenstände erkannt werden können, sondern was solche Begriffe bedeuten, d. h. wie sie sich selbst bestimmen.⁵⁰
Béatrice Longuenesse (2000) vertritt die Auffassung, dass Hegels Auffassung einer unendlichen Vernunft, die gegen den endlichen Standpunkt des Verstandes gewendet wird, die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung in Anspruch nimmt. Longuesse stützt ihre Lesart auf Hegels Glauben und Wissen (1802): Hegel Kritik an Kant gehe von der Forderung nach einer neuen Art von Moralphilosophie aus und ziele auf die Verbindung dessen, was in Kant getrennt bleibt – Verstand und Sinnlichkeit, Begriff und Anschauung, Denken und Sein. Longuenesse interpretiert Hegels Auffassung der Vernunft als eine Wiederherstellung der metaphysischen Gotteserkenntnis. Hegel übernehme somit Kants experimentelle Idee eines intellektuellen Verstandes, der allein aus Spontaneität seine Objekte erschafft und schreibe es dem Menschen zu. Laut Longuenesse verschwindet in Hegel die Grenze zwischen der Endlichkeit eines diskursiven Vermögens und einer unendlich selbstbestimmenden Vernunft. Für Hegel sind Sein und Denken in einer ursprünglichen Identität vereinigt. Dagegen werde ich argumentieren, dass die Erkenntnis der Vernunftideen bei Hegel nicht die Erkenntnis metaphysischer, transzendenten Gegenstände bedeutet, sondern das Begreifen von semantischen Konstellationen, die keinen anschaulichen Boden haben. Im Kapitel über die Objektivität in der Begriffslogik unterstreicht Hegel, dass, im Kontrast zur Objektiven Logik, die sich mit dem abstrakten Sein oder der bloßen Existenz von Gegenstäden befasst, die Begriffslogik sich mit dem „bestimmten Inhalt“ eines Begriffs auseinandersetzt (GW 12, 127). Die Objektivität eines Begriffs wie Gott betrifft zudem nicht seine abstrakte Existenz, sondern seine Bestimmung: „so wäre einerseits zu betrachten, daß der bestimmte Inhalt, Gott, im logischen Gange keinen Unterschied machte, und der ontologische Beweis nur eine Anwendung dieses logischen Ganges auf jenen besonderen Inhalt wäre. Auf der anderen Seite aber ist sich wesentlich an die oben gemachte Bemerkung zu erinnern, daß das Subjekt erst in seinem Prädikate Bestimmtheit und Inhalt erhält, vor demselben aber, er maß für das Gefühl, Anschauung und Vorstellung sonst sein was er will, für das begreifende Erkennen nur ein Namen ist; in dem
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Die Kontexte, in denen Hegel den kantischen Gedanken eines intellektuellen Verstandes erwähnt, beziehen sich auf die Trennung zwischen Anschauung und Begriff (vgl. GW 4, 341– 342; GW 12, 25 – 26). Die Hypothese eines intellektuellen Verstandes drückt in Hegels Augen die Möglichkeit aus, die Kluft zwischen Begriff und Anschauung zu überwinden und sie einheitlich zu denken. Hegel bemerkt, dass trotz der Trennung zwischen Denken und sinnlichem Dasein Kant „eine höhere Einheit beider in der Idee überhaupt, und z. B. in der Idee eines anschauenden Verstandes sehr wohl anerkannte und aussprach, doch bei jenem relativen Verhältnisse und bei der Behauptung stehen geblieben ist, daß der Begriff schlechthin von der Realität getrennt sei und bleibe“ (GW 12, 25). Hegel erkennt aber im Gedanken des intuitiven Verstandes keine Lösung, um die Trennung von Begriff und Anschauung aufzuheben, sondern nur eine Hypothese zu diesem Zweck im Rahmen der kantischen Philosophie.⁵¹ In Glauben und Wissen (1802) behauptet Hegel vielmehr, dass die Idee eines intuitiven Verstandes „im Grunde durchaus nichts anders als dieselbe Idee der transcendentalen Einbildungskraft“ ist (GW 4, 341). Kant exponiert aber im Gedanken der transzendentalen Einbildungskraft die Zugehörigkeit von Anschauung und Begriff, ohne auf nicht-sinnliche Anschauungen zurückzugreifen. So beschreibt Hegel die Einbildungskraft als „die wahrhaft spekulative Idee“ Kants (GW 4, 328). Selbst wenn Hegel den Terminus „intellektuelle Anschauung“ gebraucht, versteht er ihn als Bereich des Begriffs oder als Idee, aber nirgendwo als nichtdiskursives Vermögen.⁵² In der Einleitung der Logik behauptet er:
Prädikate beginnt mit der Bestimmtheit aber zugleich die Realisation überhaupt“ (GW 12, 128; L, 626). Hier ist allerdings nicht der Platz, um zu analysieren, wie Hegel die Bestimmtheit eines Begriffs mit der Objektivität verknüpft und worauf sich diese Objektivität bezieht – bzw. inwiefern diese Objektivität oder Realisierung als objektiver Geist zu verstehen ist. Es ist aber ausreichend, daran zu erinnern, dass Objektivität für Hegel „noch nicht die göttliche Existenz, noch nicht die in der Idee scheinende Realität. Doch ist die Objektivität gerade um so viel reicher und höher als das Sein oder Dasein des ontologischen Beweises, als der reine Begriff reicher und höher ist, als jene metaphysische Leere des Inbegriffs aller Realität“ (GW 12, 129). Hegel zufolge denkt Kant „eine Mitte zwischen dem empirischen Mannichfaltigen und der absoluten abstracten Einheit“ gerade in der reflektierenden Urteilskraft (GW 4, 338 – 339). Aber die reflektierende Urteilskraft repräsentiert keine „Region für die Erkenntnis“, sondern eine bloße Möglichkeit und ein Gedankenspiel der Vorstellungskräfte (GW 4, 339). Demnach gehört das Mittelglied zwischen dem Naturbegriff (der Wahrnehmung) und dem Freiheitsbegriff (der Idee) wiederum in die Sphäre der Erscheinung. Vgl. GW 12, 42: „Insofern aber unter Anschauung nicht bloß das Sinnliche, sondern die objektive Totalität verstanden wird, so ist sie eine intellektuelle, d. i. sie hat das Dasein nicht in seiner äußerlichen Existenz zum Gegenstande, sondern das, was in ihm unvergängliche Realität und Wahrheit ist, – die Realität, nur insofern sie wesentlich im Begriffe und durch ihn bestimmt ist, die Idee, deren nähere Natur sich später zu ergeben hat. Was die Anschauung als solche vor dem
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Was aber von der intellektuellen Anschauung oder – wenn ihr Gegenstand das Ewige, das Göttliche, das Absolute genannt wird – was vom Ewigen oder Absoluten im Anfange der Wissenschaft da ist, dies kann nichts anderes sein als erste, unmittelbare, einfache Bestimmung. Welcher reichere Name ihm gegeben werde, als das bloße Sein ausdrückt, so kann nur in Betracht kommen, wie solches Absolute in das denkende Wissen und in das Aussprechen dieses Wissens eintritt. Die intellektuelle Anschauung ist wohl die gewaltsame Zurückweisung des Vermittelns und der beweisenden, äußerlichen Reflexion. Was sie aber mehr ausspricht als einfache Unmittelbarkeit, ist ein Konkretes, ein in sich verschiedene Bestimmungen Enthaltendes. Das Aussprechen und die Darstellung eines solchen jedoch ist, wie schon bemerkt, eine vermittelnde Bewegung, die von einer der Bestimmungen anfängt und zu der anderen fortgeht, wenn diese auch zur ersten zurückgeht (GW 21, 64– 65).
Ideen können nicht angeschaut bzw. nicht auf eine nichtdiskursive Weise erfasst werden. Der Rekurs auf die intellektuelle Anschauung abstrahiert von all dem, was die in Anspruch genommene unmittelbare und scheinbar eigenständige Bestimmung vermittelt. Hinter jeder unmittelbaren Verständlichkeit einer Anschauung, die, weil verständlich, eine gedankliche Unmittelbarkeit ist, befindet sich ein Netz von begrifflichen Bestimmungen.⁵³ Die Vernunft hat daher die Aufgabe, den zugrundeliegenden Inhalt von unmittelbaren Begriffen zu entfalten – das, „was in ihnen immanent ist, zum Bewußtsein zu bringen“ (GW 12, 242). Daher muss Hegels Projekt, die Vernunftideen in den Bereich des Erkennbaren zu bringen, von jenen Reaktionen auf Kants erkenntnistheoretische Einschränkung, die einen intuitiven und unmittelbaren Zugang zum transzendierenden Bereich der Vernunft in Anspruch nehmen, scharf unterschieden werden. Hegel führt den Verzicht auf die diskursive Entfaltung von Vernunftbegriffen wiederum auf Kant, wie er in Glauben und Wissen erläutert. Wenn „nach Kant […] Übersinnliches unfähig [ist], von der Vernunft erkannt zu werden“, dann werden die Ideale leer gelassen und „dieser unendliche leere Raum des Wissens [kann] nur mit der Subjectivität des Sehnens und Ahndens erfüllt werden“ (GW 4, 316). Aufgrund der Annahme, dass der menschliche Verstand das Übersinnliche nicht begreifen kann, werden nichtanschauliche Ideen von der begrifflichen Darstellung ferngehalten: „Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre,
Begriffe voraushaben soll, ist die äußerliche Realität, das Begrifflose, das erst einen Wert durch ihn erhält“. Das unmittelbar Gegebene oder Verständliche ist „nicht ein unmittelbares der sinnlichen Anschauung oder der Vorstellungen, sondern des Denkens, das man, wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches Anschauen nennen kann“ (GW 12, 239). Dieses unmittelbar Gemeinte ist eigentlich ein „aufgenommenes, vorgefundenes, assertorisches“ (GW 12, 239). Es gibt aber, „es sei in der Wirklichkeit oder im Gedanken, kein so Einfaches und so Abstraktes, wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Solches Einfache ist eine bloße Meinung, die allein in der Bewußtlosigkeit dessen, was in der Tat vorhanden ist, ihren Grund hat“ (GW 12, 240).
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und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hayn als Hölzer erkennen würde“ (GW 4, 316 – 317). Das Bedenken, dass übersinnliche Sinnzusammenhänge ihre semantische Spezifität verlieren, wenn sie begriffen werden, führt dazu, dass die Vernunftideen der Willkür überlassen werden. Die Sphäre der „Ideale“ bzw. der normativen Begriffe wird hypostasiert als „das Nichtzuberechnende, Unbegreifliche, Leere“ (GW 4, 319). Diesem Bedenken liegt aber ein begrenztes Verständnis von Begriffen zugrunde, demzufolge Begriffe auf den Bereich der wahrnehmbaren Gegenständlichkeit begrenzt sind. Aus diesem Grunde scheint die Spezifität von nichtwahrnehmbaren, normativen und ästhetischen Bedeutungen verloren zu gehen und vergegenständlicht zu werden, wenn diese begriffen werden. Hegel bindet den Bereich der Ideen an den objektiven Geist: Ideen sind keine Substanzen, die der menschlichen Vernunft rätselhaft bleiben und unter Umständen der intellektuellen Anschauung zugänglich werden, sondern geschichtlich und sprachlich konstituierte Phänomene. Selbst „der die Objektivität der Erkenntnis fliehende Glauben“ muss sich, so Hegel in Glauben und Wissen, „in Gedanken, Begriffen und Worten objektiv werden“ (GW 4, 317). Die begriffliche Bestimmung macht vielmehr von vornherein die Objektivität der Ideen aus. Geistige Phänomene – ästhetische und normative Sinnzusammenhänge – haben keine Bedeutsamkeit jenseits ihrer Artikulation in Gedanken und Worten, sondern ihr semantischer Inhalt konstituiert sich erst durch die begriffliche Darstellung.⁵⁴ Vernunftbegriffe sind in einer geistigen, d. h. selbstartikulierenden Lebensform verflochten und konstituieren sich somit durch sprachliche Praktiken und begriffliche Selbstbeschreibung.⁵⁵ Dieses Verständnis der Objektivität von Ideen radikalisiert nicht nur den pragmatischen Zug der kantischen praktischen Vernunft, sondern nimmt auch ein breiteres diskursives Vermögen in Anspruch, welches, losgelöst von der Angewiesenheit auf anschaulichen Gehalt, fähig ist, Vernunftbegriffe zu artikulieren und hervorzubringen.⁵⁶ Damit geht eine entscheidende Neufassung des begriff-
Der Begriff des Geistes bezieht sich daher auf kein mysteriöses Agens in der Natur und in der Geschichte, wie etwa Charles Taylor meint, wenn er behauptet, für Hegel sei die ganze Welt „posited by a Spirit whose essence is rational necessity“ (Taylor 1975, 538). Robert Pippin hat diesen Gedanken treffend formuliert: „a logic is interwoven in a form of life, a form of actual, historical life, that cannot be rightly understood in abstraction from, separate from, the ‘life’ it regulates and these forms or norms fail or break down in time“ (Pippin 2007, 423). Die Bedingung, dass Ideen hervorgebracht werden, geht auf einen Einwand Hegels zurück. In Glauben und Wissen schreibt Hegel über Kants Verständnis der Vernunft: „Es wird wohl wieder Vernünftiges gewittert, wohl der Name Idee aus Plato wieder hervorgezogen, Tugend und
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lichen Inhalts als solchen, die in Hegels Einsicht besteht, dass der Gehalt von Begriffen sprachlich und nicht anschaulich ist. Diese Auffassung bricht mit dem modernen Representationalismus, wonach die Bedeutung der Begriffe in einem anschaulichen Korrelat liegt, und redefiniert das Medium, in welchem das Denken sich selbst Inhalt gibt. Hegel betont die sprachliche Form des Denkens im Abschnitt über die Einbildungskraft in der Philosophie des Geistes. Dort kritisiert er die Auffassung der Sprache als Zeichensprache, insofern damit die Abhängigkeit semantischer Inhalte von raumzeitlicher Äußerlichkeit einhergeht. In einer Zeichensprache fungieren Begriffe als Bilder von raumzeitlichen Gegenständen: Ihr semantischer Gehalt wird vom vorgefundenen, anschaulichen Stoff abgeleitet und dadurch auf räumliche Formen reduziert (GW 20, 451– 452). Hegel argumentiert dagegen, dass in einer sachgemäß verstandenen Begriffssprache die Bedeutungen rein sprachlich sind, ohne der Vorstellung des Gegenständlichen zu bedürfen. „Für den Geist“ liegt der reiche Inhalt einer Vorstellung allein im Namen (GW 20, 457). Im Anschluss an diese Erläuterung der Sprache behauptet Hegel: Bei dem Namen Löwen bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres, noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken (GW 20, 460).
Diese Konzeption Hegels deutet auf eine wichtige Verschiebung gegenüber der kantischen Auffassung des begrifflichen Gehalts. Sie überwindet die Ansicht, dass die Quelle des Bedeutsamen das Anschauliche ist, bzw. dass begrifflicher Gehalt in raumzeitlichen Vorstellungen gründet. Sie erschließt die Sprache als den Bereich, in dem das Denken objektiv ist – in dem die Gedanken „Inhalt und Gegenstand“ des Denkens sind (GW 20,464). Und sie ermöglicht nicht zuletzt einzusehen, inwiefern das Denken die Bedeutung normativer Begriffe bestimmt. Am Anfang des Abschnittes über den praktischen Geist, im Anschluss an die Erörterung der Verbindung von Denken und Sprache, hebt Hegel hervor, dass der Wille „wesentlich nur als Denken […]; der Weg des Willens, sich zum objektiven Geiste zu machen, ist sich zum denkenden Willen zu erheben, – sich den Inhat zu geben, den er nur als sich denkendes haben kann“ (GW 20, 466). Hegel behauptet in diesem Zusammenhang, dass der Inhalt der Sittlichkeit „nur im Denken und durchs Denken“ ist (GW 12, 466). Dies kollidiert mit Kants Auffasssung der Ideen als Willensbestimmungen in der Kritik der praktischen Vernunft. Bindet Kant dort den Inhalt der regulativen Ideen an ihre praktische Verwirklichung, so wendet Schönheit als Ideen erkannt, aber diese Vernunft selbst bringt es nicht so weit, eine Idee hervorbringen zu können“ (GW 4, 336).
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Hegel ein, dass die Bestimmung von Ideen als reine Zwecksetzungen des Willens ihren semantischen Inhalt unbestimmt lässt – dieser kann hingegen erst vom Denken determiniert werden.⁵⁷ Die Hervorhebung des sprachlichen Mediums des Denkens steht ebenfalls im Kontrast zu Kants Beschreibung der ästhetischen Idee in der Kritik der Urteilskraft, die Hegel als repräsentativ für Kants Behandlung der Vernunft im Ganzen betrachtet (vgl. GW 4, 339). Kant definiert dort den Geist als „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“ (KU, B192) und die ästhetische Idee folgendermaßen: „unter einer ästhetischen Idee verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (KU, B 193).⁵⁸ Die praktischen Ideen und die ästhetischen Ideen bezeichnen zwei Bereiche der Bedeutsamkeit bzw. der Normativität der menschlichen Welt. Hegel zufolge lässt die Art und Weise, in der Kant diese Sinnbereiche beschreibt, die bestimmende Rolle des Denkens in der Konstitution der ästhethischen und ethischen Bedeutsamkeit offen. Die sprachliche Artikulation der ästhethischen Ideen und die begriffliche Bestimmung der praktischen Ideen werden hingegen im kantischen Rahmen außer Kraft gesetzt. Die Frage, inwiefern das Denken diese Sinnbereiche konstituieren und artikulieren kann, lässt sich mit Hegel durch den Verweis auf den sprachlichen Gehalt von Begriffen beantworten. Inwiefern Hegel der sprachlichen Wende seiner Philosophie gewahr ist, lässt sich nicht einfach entscheiden. Die Verbindung von Denken und Sprache wirft aber ein neues Licht auf seine logische Methode der Selbstbestimmung des Begriffs selbst (vgl. GW 21, 38; GW 12, 238). Die logische Entfaltung der Denkbestimmungen ist möglich
Kant scheint sich jedoch dieses möglichen Einwandes bewusst zu sein und verweist auf das Bedürfnis nach einer begrifflichen Bestimmung praktischer Ideen. So heißt es im Kontext der „erheblichsten Einwürfe wider die Kritik“: „Denn, so lange man sich noch keine bestimmte Begriffe von Sittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht erraten, was man einerseits der vorgeblichen Erscheinung als Noumenon zum Grund legen wolle, und andererseits, ob es überall auch möglich sei, sich noch von ihm einen Begriff zu machen, wenn man vorher alle Begriffe des reinen Verstandes im theoretischen Gebrauche schon ausschließungsweise den bloßen Erscheinungen gewidmet hätte“ (KpV, A11-A12). Kant antwortet aber darauf: „Nur eine ausführliche Kritik der praktischen Vernunft kann alle Missdeutung heben“ (KpV, A12). Die ästhetische Idee ist so „das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee (…), welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann“ (KU, B193). In einer anderen Formulierung heißt es, dass die ästhetische Idee mehr denken lässt, „als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann“ (KU, B 195). Die Dichtkunst bringt den Einzelnen in Schwung, „auf unentwickelte Art, zu denken, als sich in einem Begriff, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke zusammenfassen läßt“ (KU, B195).
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aufgrund der unmittelbaren diskursiven Form, in denen sich Gedanken befinden. Wie Hegel in der Reflexion über seine Methode am Ende der Begriffslogik offenbart, sind die unmittelbaren Gedanken der Ausgangspunkt derselben. Das „Element des Denkens“ (GW 12, 239), in welchem sich die einfachsten Bezugnahmen auf die Realität, die Wissensansprüche und die normativen Annahmen befinden und in welchem Denkbestimmungen entwickelt werden können, ist die Sprache. Hegels These, dass das Denken seinen eigenen Inhalt bestimmt, koinzidiert somit mit dem Gedanken, dass die Sprache die Funktion der begrifflichen Synthesis erfüllt. Wenn die begriffliche Synthesis – und die Einbildungskraft als solche – bei Kant auf Anschauungen beruht, scheint bei Hegel die synthetische Natur der Sprache die Rolle der kantischen Einbildungskraft zu übernehmen. In diesem Lichte erfasst Hegel die Synthesis als ein Vermögen, das eine Vielfalt von Anschaungen, Begriffen und Normen in eine organische Einheit von Sinn verwandelt. Der so konstituierte semantische Gehalt ist vereinheitlicht und enthalten im sprachlichen Ausdruck selbst. Wie bisher gezeigt wurde: Durch die Frage nach dem Bedeutungsgehalt von Begriffen, die keinen anschaulichen Gehalt haben, gelangt Hegel zu der Einsicht, dass die synthetische Einheit von Begriff und Anschauung von keinem intuitiven Verstand und von keiner subjektiven Tätigkeit eines einseitigen, auf das Gegenständliche angewiesenen Verstandes, sondern von der Sprache selbst gewährleistet wird.
2 Was alles der Begriff nicht ist A Die Objektivität des Begriffs und der Horizont der Verständlichkeit Die Angewiesenheit unserer Begriffe auf Anschauungen hat nicht nur eine erkenntnistheoretische, sondern auch eine semantische Implikation. Wenn Gedanken ohne Anschauungen leer sind, dann bedeutet dies nicht nur, dass Urteile über Begriffe ohne raumzeitliche Referenz keine Objektivität bzw. keinen epistemischen Stellenwert haben, sondern es kann auch bedeuten, dass der semantische Inhalt dieser Begriffe unartikulierbar ist. Aber selbst wenn der semantische Inhalt dieser Begriffe nicht anschaulich sein muss, stellt sich die Frage, wie ihre Bedeutung dargestellt werden kann, wenn die Kategorien des menschlichen Denkens – wie Hegel Kant liest – an den raumzeitlichen Bereich angepasst sind. Obwohl Kant betont, dass Begriffe ohne anschaulichen Gehalt doch denkbar und verständlich sind, pocht Hegel auf die Tatsache, dass die konstitutive Funktion und die artikulierenden Ressourcen des Denkens in der Bestimmung solcher Begriffe bei Kant unerklärt bleiben.
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Die Tatsache, dass Hegel den Begriffsinhalt von seiner Angewiesenheit auf die anschauliche Gegebenheit loslöst und stattdessen den Begriffsinhalt als primär sprachlich versteht, bedeutet nicht, dass er die Teilnahme der sinnlichen Anschauungen in der Konstitution unseres Verstehens verleugnet. Für Hegel sind Begriffe sprachlich synthetisierte Sinngestalten, in welchen logische Bestimmungen, Anschauungen und Normen verflochten sind. Das Umdenken des Verhältnisses von Begriff und Anschauung hat vielmehr den Zweck, die Objektivität selbst neu zu fassen – und zwar derart, dass sie nicht mehr als das Andere des Geistigen verstanden wird. Wenn Begriffe nicht auf Anschauungen angewiesen sind, dann ist ihr Inhalt weder ein dem menschlichen Geist Äußerliches und Fremdes noch die einseitige, subjektive Form des Realen. Der normative Raum des Begrifflichen steht dem objektiven Bereich der wahrnehmbaren Gegenständlichkeit nicht gegenüber, sondern beide – Verstand und Vernunft – gehören zusammen und machen die eine objektiv geistige Welt aus. Es ist die Vertrautheit des Geistes mit der Welt, die es uns ermöglicht, die Bedeutung unserer normativen Begriffe – und nicht nur die Bestimmung unserer empirischen Erfahrung – zu artikulieren.⁵⁹ Hegels Umdenken der Natur des Begrifflichen hängt mit seiner Kritik an philosophischen Berufungen auf das Unbegreifbare und das Nichtbegriffliche wesentlich zusammen. Diese Kritik Hegels und das damit zusammenhängende Plädoyer für die Unterhingehbarkeit des Begriffs⁶⁰ ist jedoch keine Apologie für einen radikalen subjektiven Idealismus. Vielmehr versucht Hegel, den Raum des Begrifflichen zu entsubjektivisieren. Der Begriff hat einerseits den Stellenwert des Begriffenen und gehört in dieser Hinsicht dem Bereich des Geistigen, andererseits bezeichnet der Begriff das Konstitutionsprinzip des Objektiven. Wenn beispielsweise in der Knospe die Potentialität der Pflanze erkannt wird, dann ist der Begriff der Pflanze nicht nur eine subjektive Zutat, sondern das Pflanze-Sein ist für die Knospe objektiv ihr Begriff. Diese Zweideutigkeit des Begriffs ist auch in der Architektonik der Wissenschaft der Logik erkennbar, bzw. im Verhältnis der Begriffslogik zur Ontologie – zur Seinslogik – und zur Metaphysik – zur Wesenslogik. ⁶¹ Hegel beschreibt den Begriff
Dieser Gedanke entspricht Hilary Putnams These, dass „‚meanings‘ just ain’t in the head“ (Putnam 1985, 227). Diese Wendung erinnert an den von John McDowell (1996) gemünzten Ausdruck „the unboundedness of the conceptual“. Zum Übergang von der Seinslogik zur Wesenslogik vgl. Quante 2018. Die Wesenslogik macht laut Quante „die konstitutiven epistemischen Leistungen des Selbstbewußtseins in zunehmend reflexiver werdender Form explizit“ und bietet so eine Ontologie des Selbstbewusstseins und des wesenslogisch konzipierten Objektes dar (Quante 2018, 319).
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am Anfang des dritten Buches der Logik als Wahrheit des Seins und des Wesens, womit gemeint ist, dass der Begriff sich als die stillschweigende Instanz erweist, welche die Ontologie und die Metaphysik immer schon vermittelt.⁶² Der Begriff ist die Wahrheit der Ontologie und der Metaphysik, insofern er die vermittelnde Grundlage für die logische Darstellung der ontologischen und der metaphysischen Kategorien ist, d. h. insofern die Ontologie und die Metaphysik wesentlich Begriffskonstellationen sind.⁶³ Diese transzendentale Funktion des Begriffs in der Logik entspricht der geistigen Bedeutung des Begriffs. Die objektive Bedeutung des Begriffs geht über die transzendentale Unterhingebarkeit eines Begriffsinstrumentariums hinaus und hat eine aristotelische Konnotation. Es ist „ein unendliches Verdienst“ von Aristoteles, so Hegel in der Einleitung der Begriffslogik, die Wahrheit nicht als formale Übereinstimmung des Begriffs mit dem Gegenstand, sondern als inhaltliche Übereinstimmung des Seienden mit seinem Begriff erfasst zu haben (vgl. GW 12, 26 – 28). Wenn gemäß der ersten Auffassung der Wahrheit die Erkenntnis einseitig ist, weil der zu erkennende Inhalt ihr äußerlich ist, dann haben in der aristotelischen Auffassung der Wahrheit Begriffe in sich selbst Inhalt: Die begriffliche Form ist vom konkreten Stoff untrennbar. In dieser Hinsicht bezeichnet der Begriff die immanente Teleologie der Sache selbst. Etwas ist und wird, was es wahrhaft ist, insofern es mit dem, was es in seinem Begriff sein soll, übereinstimmt. Wahr ist in diesem Sinne der Werdeprozess eines Sachverhaltes gemäß seinem Begriff. So gesehen, behandelt die Begriffslogik keine „formelle Funktionen des Denkens“, sondern das konkret Allgemeine – konkret gewordene, verwirklichte Begriffe. Der Begriff als logische Form „muß daher in sich viel reicher an Bestimmungen und Inhalt, so wie auch von unendlich grösserer Wirksamkeit auf das Concrete gedacht werden, als es gewöhnlich genommen wird“ (GW 12, 27). Vor diesem Hintegrund sind die Unterscheidungen der modernen Erkenntnistheorie – etwa zwischen der an sich
Hegel erklärt den Übergang von der objektiven Logik in die subjektive Logik – vom Wesen in den Begriff – dadurch, dass die dialektische Struktur des Wesens – bzw. das Wechselverhältnis zwischen Grund und Erscheinung – die Struktur des Begriffs – und zwar die Dialektik von Setzen und Gesetztsein – erschließt. Ebenso erweist sich die zentrale Kategorie der Negation in der Seinslogik im dritten Buch der Logik als Konstitutionsprinzip von begrifflichen Bestimmungen (vgl. Kap. VII: „Negativität als Konstitution von Sinn“). Wenn Hegel die objektive Logik als „die genetische Exposition des Begriffs“ (GW 12, 11) beschreibt, dann meint er damit nicht, dass der Begriff aus dem Sein und aus dem Wesen hervorgeht, sondern dass der Begriff sich in der Darstellung der Seins- und Wesenskategorien bewährt. Es handelt sich um eine Genesis in der Ordnung der Darstellung. Vgl. GW 12, 16: „In der Wissenschaft des Begriffs kann dessen Inhalt und Bestimmung allein durch die immanente Deduktion bewährt werden, welche seine Genesis enthält und welche bereits hinter uns liegt“.
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seienden Realität und den subjektiven, begrifflichen Mitteln, womit die Realität aufgefasst wird – „unwahre Vorstellungen“ (GW 12, 26). Die Objektivität des Begriffs bedeutet keineswegs, dass all das, was begriffen wird, wahr ist. Hegels Aufassung der begrifflichen Wahrheit muss von seiner Kritik am modernen Paradigma der Objektivität her verstanden werden. Die moderne Objektivitätskonzeption zeichnet sich durch die Trennung des Bereiches des Wahren vom Bereich des Begreifbaren aus. Die Annahme dieses Paradigmas lautet, dass das Erkennen, insofern es Erkennen ist, der Objektivität beraubt ist, weil es den Bereich des Objektiven immer schon verformt. Das Erkennen wird dabei als Werkzeug und Medium begriffen, wodurch das zu Erkenennde erfasst werden soll. Wenn es einer Versicherung über das jeweils eingesetzte Erkenntnismittel bedarf, dann hat jeder erkenntnistheoretische Versuch, das Erkennen zu begründen, den Charakter eines zusätzlichen Werkzeuges. Mit der Selbstverpflichtung auf die Fundierung der eigenen Vermittlung vertieft das Erkennen die Trennung von Wahrheit mit sich, weil diese Trennung gemäß diesem Paradigma gerade am Akt der Vermittlung liegt. Der moderne Skeptizismus gründet daher im Paradigma des Konstruktivismus: Die Realität ist für uns immer schon subjektiv geformt und jede subjektive Wissensform ist eine Verformung des Wahren. Trotz der Voraussetzung dieser konstruktivistisch-skeptischen Auffassung von Objektivität, wonach jedem möglichen Gegenstand des Wissens ein An-sich zugrunde liegt, das dem erkennenden Subjekt unzugänglich bleibt, nimmt sie zugleich an, dass der Ort der Wahrheitserkenntnis allein im Subjekt liegen muss, und zwar als subjektive Gewissheit des Wahren. Diese Annahme steht zwar im Gegensatz mit der Voraussetzung, dass die Wahrheit das An-sich der reinen Gegenständlichkeit repräsentiert, sie bilden aber zusammen eine einheitliche, subjektivistische Konzeption der Wahrheit. Wenn die Erkenntnis das einzige Mittel zur Wahrheit ist, dann ist jeder metatheoretische Versuch, das Theoretische durch ein weiteres Erkenntniswerkzeug zu legimitieren, von vornherein delegitimiert. Jedes Erkenntnismittel ist das trübe Medium einer nachträglichen Vergegenwärtigung des Objektiven. Die Wahrheit liegt jenseits der Erkenntnis, weil die erkannte Wahrheit sich in einem ihr von Natur aus fremden Medium instanziiert. Aufgrund der erwähnten Annahmen – die Pflicht der Selbstlegitimierung des subjektiven Wissens und die ins Jenseits projizierte Gegebenheit des Objektiven – erklärt sich das Erkennen für gescheitert: Allein das Subjekt könnte die Wahrheit erkennen, das Subjektive trägt aber als solches die Verfälschung der Wahrheit mit sich. Die objektive Wahrheit ist dem Bereich der Subjektivität wesentlich unverfügbar, weil die Erkenntnis dabei als wesentlich subjektiv und die Wahrheit als wesentlich objektiv gedacht werden. Das Programm der Phänomenologie des Geistes hat eine therapeutische Funktion. Anhand einer Darstellung des erscheinenden Wissens bzw. einer im-
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manenten Selbstdarstellung der anvisierten, nicht nur modernphilosophischen, sondern auch alltäglichen Objektivitätskonzeption soll aufgezeigt werden, dass die Annahmen dieser natürlichen Erkenntnistheorie, die zugleich in einem konstruktivistischen Verständnis des Subjektiven und in einem Gegebenheitstsmythos des Objektiven bestehen, sich selbst auflösen und als unhaltbar erweisen. Das Hauptziel des Unternehmens in der Phänomenologie liegt darin, die dem Konstruktivismus und dem Skeptizismus zugrundeliegende Trennung zwischen An-sich-Sein und Für-es-Sein aufzuheben. Das Resultat der Phänomenologie besteht nicht darin, dass das An-sich-Sein der Dinge trotz des anfänglichen Skeptzisimus am Ende erkannt wird. Dagegen gilt es, die Idee des An-sich selbst, die zum Skeptizismus führt, aufzulösen. Die Phänomenologie ist somit die Beweisführung, dass das skeptische Bedenken und in eins damit die idealistische Hypostasierung des einzig wahren Absoluten grundlos sind. Hegel geht es somit um eine grundlegende Revision der modernen Objektivitätskonzeption und damit um eine Aufhebung des subjektiven und skeptischen Idealismus. Die Annahme des An-sich-Seins aufzuheben, bedeutet, die Transparenz der Welt freizulegen. Die Überwindung der konstruktivistischen Objektivitätsauffassung liegt nicht in der Befriedigung ihrer Erwartung, das jenseitige Absolute zu erkennen, sondern in einem grundlegenden Umdenken des Objektiven und des Subjektiven. Das Subjektive wird nicht mehr als ein der objektiv gegebenen Welt gegenüberstehendes Bewusstsein, sondern als Geist gedacht. Das Objektive wird nicht mehr als eine unzugängliche, rätselfhafte Realität, sondern als eine dem naturentstandenen Geist vertraute Natur gedacht.⁶⁴ In der Frage der Objektivität geht es Hegel demnach nicht um den objektiven Gehalt von subjektiven Wissensansprüchen oder um die Gültigkeit von transzendentalen Erkenntnisformen. Es handelt sich nicht um die Ausgleichung eines idealistischen Formalismus, der dem subjektiven Pol der transzendentalen Korrelation die Konstitutionsleistung des Realen zuschreibt, mit einem objektiven Pol der Gegebenheit. Hegel begreift die Objektivität nicht als anschauliche Objektivität der empirischen Gegebenheit oder als zeiträumliche Gegenständlichkeit, sondern als den übergreifenden Bereich der Natur und des Geistes – was er als das Logische bezeichnet.⁶⁵ Die logische Wissenschaft behandelt deshalb die be-
Hegel übt im Kapitel über die Idee des Lebens in der Begriffslogik eine Kritik an der romantischen Konzeption der Natur aus. Diese erkenne in der mannigfaltigen Natur die „Allgegenwart des Einfachen“ und halte dieses für „ein unbegreifliches Geheimnis, weil sie den Begriff nicht erfaßt und den Begriff als die Substanz des Lebens“ (GW 12, 181). Vgl. GW 12, 16; GW 12, 284; GW 20, 570 – 571. In der Phänomenologie wird die Objektivität als Realisierung des Bewusstseins bzw. des Begriffs seiner selbst oder des Maßstabs des Wissens verstanden. Diese Realisierung geht über das Verhältnis des Bewusstseins auf das objektiv vor-
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grifflichen Bestimmungen einer transparenten Welt. Wenn der Begriff als Synthesis des Mannigfaltigen verstanden wird, als Versammlung oder Zusammenfügung einer Vielfalt in eine Sinneinheit (con-cipere), dann wird diese Synthesis nicht von subjektiven Agenten auf eine gegenüberstehende Welt übertragen, sondern die synthetischen Einheiten gehören in eine dem Geist vertrauliche Welt. Erst in diesem Sinne ist Hegels Satz, dass die Wahrheit „an und für sich schon bei uns“ ist (GW 9, 53), zu verstehen. Es gibt keinen Nullpunkt, an welchem der Mensch anfangen würde, zu erkennen, oder an welchem er von seinen Kenntnissen abstrahieren kann, um sich über die Legitimität der Erkenntnismittel in vitro zu versichern.⁶⁶ Die Wahrheit liegt nicht hinter oder jenseits der Verständlichkeit der Welt, sondern sie ist gerade das, was in manifesten Erkenntnisansprüchen und mit verfügbaren Erkenntnismitteln umstritten wird.⁶⁷ Der Begriff bestimmt somit den Horizont der Verständlichkeit der Welt, weil das Sinngewebe der Welt sich derart konstituiert, dass es die Natur des Begrifflichen hat.
B Das Unbegreifliche als Motiv der Moderne Die Behauptung, dass die Natur des Begrifflichen dem Sinngewebe der Welterfahrung entspricht und dass die Welt dem Begreifen wesentlich transparent ist, stößt aufgrund der alltäglichen Auffassung des Begriffs auf Unverständnis. In einem solchen Ansatz scheint ein logozentrischer und lebensfremder Totalitätsanspruch auf. Um Hegels Verständnis dessen, was Begriffe sind, aufzuklären, soll
liegende Gegenständliche hinaus und betrifft vielmehr den Bereich der Normativität des Bewusstseins. Vgl. Pippin 2008. Man lernt nicht schwimmen, bevor man ins Wasser springt, um an eine Metapher in der Enzyklopädie zu erinnern, sondern man befindet sich als geistiges Wesen bereits im begrifflichen Bereich der Wahrheit. Vgl. GW 20, 50: „Aber die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen; bei diesem sogenannten Werkzeuge heißt dasselbe untersuchen nichts anderes, als es erkennen. Erkennenwollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage“. Für die Enfaltung dieses Arguments, das Hegel gegen den Skeptizismus und vor allem gegen die erkenntnistheoretische Forderung nach einer Methode, die kein minimales Wissen voraussetzt, wendet, vgl. Solomon 1983, 172– 210. Vgl. A. F. Koch 2014a, 297: Das „Spiel konkurrierender metaphysischer Theorien“ macht für Hegel „die Natur des Realen selbst“ aus. Anton Friedrich Koch beschreibt Hegel in diesem Sinne als „Entdecker der Evolution und Prozessualität des logischen Raumes, und seine neue oder Nichtstandard-Metaphysik ist die zugehörige Evolutionstheorie, eine, wenn man so will, evolutionäre Logik“ (A. F. Koch 2014a, 4). Vgl. dazu Stekeler-Weithofer 2014.
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zuerst diese alltägliche Auffassung des Begriffs hinterfragt werden. Hegel zufolge wird gewöhnlich vorausgesetzt, dass jeder es schon von selbst verstehe, wenn man von dem Begriff spreche. Neuerlich konnte man sich der Bemühung mit dem Begriff um so mehr überhoben glauben, da, wie es eine Zeitlang Ton war, der Einbildungskraft, dann dem Gedächtnis alles mögliche Schlimme nachzusagen, es in der Philosophie seit geraumer Zeit zur Gewohnheit geworden und zum Teil noch gegenwärtig ist, auf den Begriff alles üble Nachrede zu häufen, ihn, der das Höchste des Denkens ist, verächtlich zu machen und dagegen für den höchsten sowohl szientifischen als auch moralischen Gipfel das Unbegreifliche und das Nicht-Begreifen anzusehen (GW 12, 16 – 17).
Der Gegenstand der Kritik Hegels ist nicht so sehr die Ansicht, dass das begriffliche Denken Grenzen hat und dass die menschliche Erkenntnis endlich ist, sondern vielmehr die theoretische Berufung auf das Unbegreifbare, wodurch das Nichtbegriffliche positiv besetzt wird. Nicht die Behauptung, dass es Nichtbegriffenes und Nichtbegriffliches gibt, wird an dieser Stelle kritisiert, sondern die theoretische Hypostasierung des Unbegreifbaren, welche stillschweigend die vermeintliche Leerstelle des Nichtbegrifflichen ausfüllt. Die Strategie solcher Theoreme liegt darin, einen bestimmten Inhalt durch den Appell an seinen unbegreifbaren Inhalt zu fundieren und damit unangreifbar zu machen.⁶⁸ Im kantischen Konzept des Dings-an-sich erkennt Hegel die Inanspruchnahme des Unbegreifbaren in doppelter Hinsicht – sowohl in epistemologischer als auch in moralischer. In epistemologischer Hinsicht verweist das Ding-an-sich auf die Objektivität der Welt jenseits der zeiträumlichen Formen unserer Anschauung – somit auf die wahrnehmungsunabhängige Form der Gegenständlichkeit. Betrachtet man die wahrnehmungsunabhängige Seite der Gegenständlichkeit als wahre Objektivität, so setzt man das Nichtbegriffene als letzte Instanz des Wahren – und somit als szientifischen Gipfel. In moralischer Hinsicht deutet das Nichtbegriffliche auf die unerkennbaren, begrifflich unartikulierbaren Ideen. Die Annahme, dass unbegreifbare Ideen im praktischen Bereich regulativ sein sollen, überlässt laut Hegel das Ethische bzw. den Inhalt der normativen Begriffe der Willkür des Glaubens und des Gefühls.⁶⁹ Die Annahme, dass eine Wissensform oder eine Erfahrung trotz des Verzichtes auf die begriffliche Artikulation ihres Bedeutungsgehaltes gehaltvoll ist,
Dina Emundts (2012) formuliert den hegelschen Einwand derart, dass der Anspruch auf ein Theorieunabhängiges nicht theorienunabhängig formuliert werden kann. Hegel vertritt bereits in seinen frühen Schriften die Lesart, dass Kant an die Leerstelle des Dings-an-sich die unerkennbare Vernunftidee und so den Vernunftbegriff als „die höchste Objektivität im Endlichen“ setzt (GW 4, 321).
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verrät eine formalistische Auffassung des Begriffs, wonach das, was einer Erfahrung Gehalt gibt, nicht der Begriff, sondern der Stoff selbst – sei dies eine sinnliche Anschauung oder ein moralisches Gefühl – ist. Gemäß dieser Auffassung mangeln Begriffe am Stoff und werden auf diesen nur nachträglich angewendet. Wenn das Sinnliche (in epistemischer Hinsicht) und das Gefühl (in moralischer Hinsicht) das Konkrete und das Gehaltvolle repräsentieren, dann ist das Begreifen nur ein Akt des Abstrahierens. Dieser alltäglichen Auffassung zufolge nimmt das Begreifen „aus dem Konkreten nur zu unserem subjektiven Behuf ein oder das andere Merkmal“ heraus und lässt andere Facetten des Gegenstandes weg (GW 12, 21). Nimmt der Begriff nur einen Aspekt des Reellen wahr, so besteht „das Reelle, nur auf der anderen Seite drüben, noch immer als völlig Geltendes“ (GW 12, 21). Daraus, dass das Begreifen einen inseitigen, abstrahierenden Akt repräsentiert, ergibt sich das Bedürfnis nach besonderen Zugangsarten zum Reellen – wie die Intuition, das Fühlen, das Ahnen, das Empfinden. An unmittelbare Zugangsarten zum Gegebenen appelliert somit nicht nur der Empirismus, sondern auch eine gefühlsbetonte Auffassung des Ethischen. Wie Hegel in der Enzyklopädie anmerkt: „In Betreff des Inhalts ist es gewöhnliches Vorurteil, daß im Gefühl mehr sei als im Denken; insbesondere wird dies in Ansehung der moralischen und religiösen Gefühle statuiert“ (GW 20, 443). Es ist laut Hegel „Bedingung des Philosophierens“, das Vorurteil über die Abstraktheit des Begriffs und die Konkretheit des Gefühls aufzugeben (GW 12, 21). In theoretischer Hinsicht ist es ein „hauptsächlicher Mißverstand“ zu meinen, dass die Anschauung, weil sie „wohl der Natur nach das Erste oder die Bedingung für den Begriff“ ist (GW 12, 22), das Wahre auch in der Ordnung des Geistes sei. Anschauungen sind in der Ordnung des Geistes nicht das Wahre, weil sie selbst theoretische Inhalte weder bestimmen noch artikulieren. In moralischer Hinsicht setzt die Berufung auf das Gefühl dem in Anspruch genommenen Inhalt der zufälligen Partikularität aus. Wenn man darauf verzichtet, einen vermeintlich ausgezeichneten Erfahrungsgehalt zu artikulieren, entzieht man sich, so Hegel, der vernünftigen Gemeinschaft der Menschen. Im Psychologie-Kapitel der Enzyklopädie kommentiert er: Wenn ein Mensch sich über Etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, sich in seine isolierte Subjektivität, abschließt (GW 20, 444).
Der Verzicht auf die sprachliche Artikulation des Bedeutungsgehaltes der Erfahrung führt zur Aufgabe des in Anspruch genommenen Inhalts selbst. Dies ist bei
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Hegel deshalb der Fall, weil der semantische Gehalt der Erfahrung immer schon begrifflich artikuliert ist. Dieser Gedanke kann auch derart formuliert werden, dass menschliche Vermögen nicht getrennt ausgeübt werden, sondern zusammengehören und sich einander bedingen. Das Vermögen, zu verstehen, kann vom Vermögen, zu begreifen, nicht isoliert werden. Ebenso ist das Gefühlsleben mit dem sprachlichen Vermögen verflochten. Zu meinen, dass ein Erfahrenes, ein Erahntes oder ein Gewusstes unaussprechlich sind, entlarvt im Sinne Hegels die Bedeutungslosigkeit des angeblichen Wissens.
C Das Abstrakte und das Allgemeine In der natürlichen Einstellung gilt als Begriff all das, was sich Einzelne unter etwas vorstellen. Einen Begriff von etwas zu haben, bedeutet gewöhnlich, etwas als etwas zu verstehen. So wird zwischen dem, was wir begreifen, und der Tatsache unterschieden, dass es begriffen wird. Man hat einen Begriff von Sternen und Steinen, sie selbst sind aber ein Anderes als ihr Begriff. Was begriffen wird, sind die Prädikate des zu Begreifenden. In dieser Hinsicht entsteht der Eindruck, anhand der Begriffe über ein objektiv Gegebenes zu urteilen. Es gibt Begriffe, wie die Bewegung und die Ruhe, die Kausalität und die Möglichkeit, die allgemeine Aspekte der Gegenständlichkeit bezeichnen, ohne eine direkte Entsprechung im Bereich der empirischen Gegebenheit zu haben – d. h. ohne selbst Gegenstände zu sein. In dieser Hinsicht bilden Begriffe die transzendentalen Bedingungen der Erfahrung von Gegenständlichkeit überhaupt. Zudem gibt es Begriffe, wie die Gerechtigkeit und das Gute, der Staat und die Gottheit, die erst und allein als Begriffe Existenz haben. In dieser Hinsicht sind Begriffe subjektiv-regulative Ideen des menschlichen Handelns. Normative Begriffe scheinen keinen gegenständlichen, sondern einen rein begrifflichen Bestand zu haben. In allen diesen Fällen bezeichnen Begriffe subjektive Vorstellungen, Instrumente und Regulatoren, die als menschliches Beiwerk die geistige Realität anordnen und der natürlichen Welt hinzugefügt werden. Dieser subjektiv-formalistischen Auffassung entsprechend sind Begriffe einerseits abstrakt, insofern sie am konkreten, objektiven Stoff mangeln. Andererseits sind sie allgemein, insofern sie gegenüber der Partikularität der einzelnen Instanziierungen gleichgültig sind. Vor dem Hintergrund einer solchen Auffassung des Begriffs scheint Hegels Logik eine Reihe allgemeiner und abstrakter Begriffe darzubieten und dabei den Anspruch auf ihre Vollständigkeit zu erheben. Hegels Logik, so die These, würde alles Besondere unter allgemeinen Bestimmungen subsumieren, das Einzelne allein im Verhältnis zum Allgemeinen erfassen und dadurch keinen Raum für
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Divergenz und Kontingenz zulassen.⁷⁰ Hegels Begriff des Begriffs muss aber gerade als Kritik an dieser subjektiv-formalistischen Auffassung des Begriffs verstanden werden. Hegel beschreibt allgemein-abstrakte, subsumierende Begriffe als begriffslose Begriffe und bezeichnet sie als Verstandesbegriffe oder Verstandesbestimmungen (GW 12, 40). Die Verstandesbestimmungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie „NUR ein Bestimmtes“ ausdrücken – sie bringen nur einen Aspekt des Begriffenen zum Ausdruck (GW 12, 32). Der abstrakte Charakter von allgemeinen Bestimmungen liegt demnach nicht im Abstrahieren vom konkreten Stoff einer Vorstellung, sondern in der Abstraktion von den anderen, sie konstituierenden Bestimmungen. Dies impliziert, dass der konkrete Inhalt eines Begriffs nicht die sinnliche Anschauung oder der empirische Stoff, sondern ein Reichtum von anderen begrifflichen Bestimmungen ist. Begriffe, die isoliert betrachtet werden, als ob sie eine selbständige Bedeutung haben würden, sind begriffslos. Wenn man vom mannigfaltigen Inhalt eines Begriffs abstrahiert, „erhält man […] nicht das Allgemeine des Begriffs, sondern das Abstrakte, welches ein isoliertes, unvollkommenes Moment des Begriffs ist und keine Wahrheit hat“ (GW 12, 35). Der Begriff hat „einen Inhalt, in dem es sich nicht nur erhält, sondern der ihm eigen und immanent ist“ (GW 12, 35). Dies bedeutet, dass Begriffe ihre Bestimmung durch den impliziten Verweis auf andere Begriffsbestimmungen erhalten. Der Inhalt eines Begriffs ist diesem immanent in dem Sinne, dass Begriffe Momente eines übergreifenden Zusammenhangs sind, der ihren Bedeutungsgehalt erst bestimmt. Der Gedanke, dass ein Begriff sich als Versammlung aller seiner Momente konstituiert, ist sowohl dynamisch als auch holistisch zu verstehen. In erster Hinsicht liegt Begriffen eine konkrete Entwicklung zugrunde. Begriffe sind keine Substanzen, sondern wesentlich geworden: „das Gewordene [ist] vielmehr das Unbedingte und Ursprüngliche“ (GW 12, 33). Ein Begriffsgehalt ist nur in seiner konkreten und vollständigen Entfaltung das, was er ist.⁷¹ In diesem Sinne beschreibt Hegel Begriffe als „lebendige Bewegungen“ (GW 12, 47). Diese Bezeichnung ist nur vor dem Hintergrund der teleologischen Natur des Begrifflichen zu präzisieren (vgl. Kap. VI.3: „Der Begriff als lebendige Bewegung“). In zweiter Hinsicht werden allgemeine Bestimmungen nicht rein und absolut gegeben,
Jean-Luc Nancy (1997) hat gegen diese verbreitete Ansicht, wonach die hegelsche Philosophie ein Denken der Totalität sei, überzeugend argumentiert. Vgl. GW 12, 41: „Insofern aber ist jeder bestimmte Begriff allerdings leer, als er nicht die Totalität, sondern nur eine einseitige Bestimmtheit enthält. Wenn er auch sonst konkreten Inhalt hat, z. B. Mensch, Staat, Tier usf., so bleibt er ein leerer Begriff, insofern seine Bestimmtheit nicht das Prinzip seiner Unterschiede ist; das Prinzip enthält den Anfang und das Wesen seiner Entwicklung und Realisation“.
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sondern sie werden durch besondere Bestimmungen konstituiert, ohne welche sie nur abstrakte Bestimmungen wären. Umgekehrt ist das Besondere „das eigene immanente Moment des Allgemeinen“ (GW 12, 38). Dies bedeutet nicht, dass das Besondere dem Allgemeinen bloß subsumiert wird, sondern das Allgemeine enthält sich selbst seine besonderen Bestimmungen: Das Allgemeine muss als „es selbst und sein Gegenteil“ gedacht werden (GW 12, 38). Hegel gibt als Beispiele dafür das Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Ganzem und Teilen, von Substanz und Akzidenzen: Sie sind „nicht zwei verschiedene Begriffe, sondern nur Ein bestimmter Begriff“ (GW 12, 38). In dieser Hinscht ist das Besondere ein Moment der dynamischen Entwicklung eines umfassenden Zusammenhangs, als welcher das konkrete Allgemeine ist (vgl. Kap. VI.2.D). Das Besondere, das mit keiner allgemeinen Bestimmung im Zusammenhang steht, hat keine Bestimmung für sich. Als unbestimmtes Sein bzw. als bloß Gemeintes ist es, so Hegel, Nichtsein.⁷² Sein, dem keine Bestimmung zukommt, hat denselben semantischen Stellenwert wie das Nichts. Es gibt Hegel zufolge Formen vom unbestimmtem Sein, die in der Mannigfaltigkeit der Natur zu finden sind. Die Tatsache, dass die mannigfaltigen Naturarten häufig nicht unter die Bestimmung eines Allgemeinen gebracht werden können, kommentiert Hegel folgendermaßen: Es ist dies die Ohnmacht der Natur, die Strenge des Begriffs nicht festhalten und darstellen zu können und in diese begrifflose blinde Mannigfaltigkeit sich zu verlaufen.Wir können die Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer Gattungen und Arten und der unendlichen Verschiedenheit ihrer Gestaltungen bewundern, denn die Bewunderung ist ohne Begriff, und ihr Gegenstand ist das Vernunftlose (GW 12, 39).
Hegel bezieht sich hier stillschweigend auf Kants Beschreibung des Schönen. Für Kant besteht die Erfahrung des Schönen in der Betrachtung von zweckmäßigen Formen, die unter keinen allgemeinen Begriff gebracht werden können (KU, B32). Das Gefühl des Schönen entspringt aus der Lust unserer Vorstellungskräfte an einer harmonischen Mannigfaltigkeit, die unter keine begrifflich bestimmbare, anordnende Einheit subsumiert werden kann. In der ästhetischen Betrachtung wird somit eine Regelmäßigkeit erfahren, die sich keiner Regel verdankt. Vor diesem Hintergrund vergleicht Hegel die Mannigfaltigkeit der Naturformen mit dem Spiel des Geistes mit unendlichen Vorstellungen: „Die vielfachen Naturgattungen oder Arten müssen für nichts Höheres geachtet werden als die willkürli-
Vgl. GW 12, 33: „Das Sein ist Einfaches, als unmittelbares; deswegen ist es ein nur Gemeintes, und kann man von ihm nicht sagen, was es ist; es ist daher unmittelbar eines mit seinem Anderen, dem Nichtssein“.
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chen Einfälle des Geistes in seinen Vorstellungen“ (GW 12, 39). Das Spiel der Variationen erweise zwar noch „Spuren und Ahndungen des Begriffs“ (GW 12, 39), welche sich aber einer begrifflichen Bestimmung entziehen. Die Möglichkeit dieses Entzugs und des Spiels der Einbildungskraft erklärt Hegel durch die absolute Macht des Begriffs, der „seinen Unterschied frei zur Gestalt selbständiger Verschiedenheit, äußerlicher Notwendigkeit, Zufälligkeit, Willkür, Meinung entlassen kann, welche aber für nicht mehr als die abstrakte Seite der Nichtigkeit genommen werden muß“ (GW 12, 39).⁷³ Obwohl Hegel die Existenz des Zufälligen und des unbestimmbaren Mannigfaltigen anerkennt, betrachtet er Vorstellungen ohne begriffliche Bestimmung als abstrakt, insofern sie vom begrifflichen Ermöglichungsgrund wegsehen. Nichtig ist dabei nicht so sehr die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur, sondern die theoretische Berufung auf das unbestimmt Mannigfaltige. Anvisiert sind demnach Meinungen und Vorstellungen, die sich auf das Naturmannigfaltige berufen, um sich selbst als nichtbegriffliche Wissensformen zu rechtfertigen. Die Tatsache, dass es Nichtbegriffliches gibt, bedeutet jedoch nicht, dass das Nichtbegriffliche Wissensformen und normative Ansprüche begründen kann.
D Meinung, Willkür, Trübheit Die Tatsache, dass die Bedeutsamkeit der menschlichen Welt begrifflich verfasst ist, besagt nicht, dass alle Akte des menschlichen Geistes begrifflich sind. Zweifelsohne gibt es begriffsfreie Erfahrungen, diese können aber nicht als Gründe für theoretische Ansprüche fungieren. Die Berufung begrifflich formulierter Diskurse auf das Unbegreifliche ist ein Widerspruch in sich. Dies ist nicht nur deswegen der Fall, weil das Begriffslose weder einen semantischen Gehalt noch einen epistemischen Wert für sich hat, sondern auch deshalb, weil das Nichtbegriffliche, sobald es als Grund in Anspruch genommen wird, semantisch gedeutet wird und damit dem Bereich des Begrifflichen gehört.⁷⁴ In der Begriffslogik thematisiert Hegel den Anspruch auf einen nichtbegrifflichen Sinngehalt am Beispiel der Vorstellung eines höchsten Wesens, dem die Prädikatlosigkeit als einziges Prädikat zukomme. Gegen jegliche Form von ne-
Inwiefern es sich dabei um eine „asymmetrische Anerkennung der Natur“ handelt, in welcher der anerkennende Begriff die Oberhand hat, vgl. Siep 2018. Dies erinnert an die bekannte Anmerkung Sellars: „The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says“ (Sellars 1997, 76).
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gativer Theologie wendet Hegel ein, dass die Abstraktion von aller Bestimmung – die Bestimmungslosigkeit – selbst eine Bestimmtheit ist. Der Gedanke, dass die Unbestimmtheit als solche eine Bestimmung ist, ist kein logischer Kunstgriff, sondern er zeigt auf, dass jeder Anspruch auf Unbestimmtheit etwas Bestimmtes meint. Selbst der Verzicht auf Begriffe aufgrund der Grenze unseres begrifflichen Vermögens ist motiviert: „eine Bestimmtheit ist die Unbestimmtheit, weil sie dem Bestimmten gegenüberstehen soll“ (GW 12, 40 – 41). Die Methode der via negativa verrät somit ihre Positivität gerade durch den Bezug auf das, was sie negiert. An einem reinen Begriff festzuhalten und dabei dessen Irreduzibilität und Unübersetzbarkeit zu behaupten, führt außerdem dazu, dass das beschworene Wort selbst gehaltlos und leblos wird. Selbst reichhaltige Begriffe wie „Geist, Natur, Welt, auch Gott“ sind „begrifflos [wenn] in die einfache Vorstellung des ebenso einfachen Ausdruckes“ gefasst (GW 12, 45). Der Verzicht auf die begriffliche Artikulation von Ideen aufgrund des abstrakten Charakters des Begriffs produziert selbst abstrakte Begriffe – „gehaltlose Allgemeinheiten“.⁷⁵ Die Annahme, dass die Starrheit von abstrakten Begriffen durch den Verzicht auf begriffliche Bestimmung überwunden werden kann, ist deshalb irreführend, weil die dabei in Anspruch genommene Konkretheit der Unbestimmtheit und der leeren Allgemeinheit überlassen wird. Die Berufung auf das Unbegreifbare will im Namen des semantischen Reichtums des Unaussprechlichen den abstrakten Begriff bekämpfen, erweist sich aber selbst als abstrakt. Hegels Kritik richtet sich sowohl gegen die Abstraktheit der Verstandesbegriffe als auch gegen die „Einheitslosigkeit des Mannigfaltigen“, welches als konkreter Stoff der Anschauung einen „Verdienst und Vorzug vor dem Verständigen“ hätte (GW 12, 41). Die Annahme, dass das anschaulich Gegebene einen Inhalt hat, den das Begreifen verunstaltet, hypostasiert den begriffslosen Erfahrungsgehalt zum wahren Inhalt. Die Berufung auf das Unbegreifliche macht „das als endlich unwahr Bekannte zu einem Ununmstößlichen und Absoluten“ (GW 12, 251), so Hegel am Ende der Begriffslogik. Eine solche Berufung hat aber nur „das leere Negative“, das „abstrakte Unendliche“ und „ein gemeintes Absolutes“ zum Gegenstand (GW 12, 252). Was dabei als Absolutes angenommen wird, ist ein vorausgesetztes Nichtidentisches – ein dem identifizierenden Begreifen Unverfügbares, welches durch den Verzicht auf das verunstaltende Begreifen verfügbar
Vgl. GW 12, 49: „Leben, Geist, Gott sowie den reinen Begriff vermag die Abstraktion deswegen nicht zu fassen, weil sie von ihren Erzeugnissen die Einzelheit, das Prinzip der Individualität und Persönlichkeit, abhält und so zu nichts als leb- und geistlosen, farb- und gehaltlosen Allgemeinheiten kommt“.
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wäre. Was aber als Undenkbares postuliert wird, bzw. was sich aufgrund seiner Natur wesentlich nicht begreifen lässt, lässt sich keineswegs denken.⁷⁶ Die unmittelbare Allgemeinheit von Begriffen ist nur ein abstrahierendes Moment eines übergreifenden begrifflichen Zusammenhangs. Was unmittelbare Begriffe bedeuten, lässt sich erfassen „nur durch die Vermittlung des Erkennens, von der das Allgemeine und Unmittelbare ein Moment, die Wahrheit selbst aber nur im ausgebreiteten Verlauf und im Ende ist“ (GW 12, 252). Das begriffliche Erfassen befasst sich mit dem Prozess, wodurch sich Sinnzusammenhänge konstituieren. Die vielschichtigen Bestimmungen eines Begriffs lassen sich aber durch keine bloße Zusammensetzung von Bestimmungen erfassen. Eine Zusammensetzung repräsentiert für Hegel „die ganz äußerliche Beziehung, die schlechteste Form, in der die Dinge betrachtet werden können“ (GW 12, 45). Begriffe sind „nicht so ein Totliegendes wie Zahlen und Linien, denen ihre Beziehung nicht selbst angehört; sie sind lebendige Bewegungen“ (GW 12, 47). Was die begriffliche Konstitutionsweise von Sinnzusammenhängen charakterisiert, ist die Idee des Lebens. Was umgekehrt der Dynamik des Begriffs am fremdartigsten ist, ist die Zahl. Die Zahl, das Zeichen, das Kalkül und die Raumverhältnisse gehören „zur Vorstellung der Sache, nicht zu ihrem Begriff“ (GW 12, 44).
3 Der Begriff als lebendige Wirklichkeit A Die Teleologie des Begriffs Das Lebendige ist für Hegel der Inbegriff des konkreten Allgemeinen und dadurch der dialektischen Dynamik: (1) Dass ein einzelnes Lebewesen ist, verdankt sich der Gattung; (2) das einzelne Lebewesen ist aber der einzige Ort, an dem die Gattung eine konkrete Wirklichkeit hat – in diesem Sinne bestimmt sich das Einzelne als Besonderes und repräsentiert eine Negation des Allgemeinen; (3) diese scheinbare Entgegensetzung zwischen Einzelheit und Allgemeinheit ist in der teleologischen Einheit vom einzelnen Lebendigen und der Gattung immer schon aufgehoben: Das Besondere ist nicht eine Negation, sondern ein Moment des Allgemeinen. Dies bedeutet, dass das Einzelne sich differenziert, gerade um den inhärenten Zweck der Gattung zu erfüllen. Die Gattung erweist sich so als „Keim eines lebendigen Individuums“ (GW 12, 191). In der dialektischen und teleologischen Struktur des Lebendigen erkennt Hegel die Natur des Begriffs. Dies bedeutet aber nicht, dass das Logische auf das
Zu Variationen dieses parmedischen Gedankens vgl. Anscombe 1981.
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Lebendige übertragen wird oder umgekehrt, sondern dass der Begriff Resultat und Vollzug des Lebens selbst ist. Die Zusammengehörigkeit von Begriff und Leben ist keine Strukturanalogie, sondern ein teleologischer Zusammenhang: Der Begriff vollzieht das Leben und das Leben erkennt sich im Begriff als Leben. Dieser Vollzug des Lebens wird daran offenbar, dass der menschliche Geist diejenige lebendige Gattung ist, die sich als Gattung begreift. Für Kant repräsentiert die Teleologie eine regulative Annahme der menschlichen Urteilskraft, wonach wir die natürliche Anordnung der Dinge als zweckmäßig erfahren, als ob darin die freie Tätigkeit eines planenden Verstandes zum Ausdruck kommen würde. Diese bloß regulative Naturauffassung ist bei Kant vom erkenntnistheoretischen Begriff der Natur als eines Raums von Kausalzusammenhängen dezidiert zu trennen, selbst wenn die Vorstellung der Teleologie – in Form der Annahme einer übergeordneten Einheit der empirischen Naturgesetzte – der wissenschaflichen Naturforschung einen regulativen Leitfaden gibt und für die praktische Vernunft notwendig ist – in Form der Annahme, dass im Bereich der Natur freie Zwecksetzungen möglich sind und dass die Natur somit derart geschaffen werden muss, dass in ihr das freie Handeln eines intelligiblen Wesens möglich ist. Hegel formuliert in der Begriffslogik zwei Argumente gegen die subjektiv-regulative Auffassung der Teleologie. Einerseits soll selbst der Mechanismus – als alternatives Naturbild zur Teleologie – gemäß dem kantischen Rahmen als eine regulative Naturauffassung begriffen werden, so Hegel, insofern der Mechanismus „ein Streben der Totalität [erweist], daß er die Natur für sich als ein Ganzes zu fassen sucht“ (GW 12, 155). Als eine Vorstellung des Ganzen, wonach dieses durch eine „bloße Form der Notwendigkeit“ bestimmt wird (GW 12, 156), erweist sich der Mechanismus nicht nur als eine subjektive Maxime, sondern auch als kein Erkenntnisprinzip a priori, weil „wir von Möglichkeit der Dinge nach bloß empirischen Gesetzten der Natur kein bestimmendes Prinzip a priori haben können“ (GW 12, 158). In transzendentaler Hinsicht ist der Mechanismus somit nicht legitimer als die Teleologie. Andererseits betont Hegel die Unhintergehbarkeit der Kategorie des Zweckes in der Erkenntnis. Ein Objekt in seinem Begriff wahrhaft zu erkennen, bedeutet, es in seinem Zweck zu erkennen. Der Zweck ist, so Hegel, „der Begriff selbst in seiner Existenz“ (GW 12, 155). Für Kant ist der Zweck keine Kategorie des Verstandes, sondern erst ein Attribut des Willens und dadurch eine Kategorie der praktischen Vernunft. Deshalb kann bei Kant die Zweckmäßigkeit – im Gegenteil zur Kausalität – für die Natur nicht als konstitutiv betrachtet werden. Diese Unterscheidung zwischen der Kategorie der Kausalität und der Kategorie der Zweckmäßigkeit plausibilisiert den Mechanismus und delegitimiert die Teleologie. Letztere ver-
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dankt sich der regulativen Idee der Endursache und gilt demnach, so Hegels Ausdruck, als „eine Spielerei“ der Einbildungskraft (GW 12, 156). Gegen den regulativ-praktischen Stellenwert des Zweckes im kantischen Rahmen fasst Hegel den Zweck als „das konkret Allgemeine“ (GW 12, 159) und somit als Inbegriff der Sache selbst. Der Zweck ist dabei nicht bloß das Ziel, worauf hin sich etwas entwickelt, sondern vielmehr die spezifische Natur einer Sache, von wo aus sie auf die ihr eigentümliche Weise tätig ist. Die immanente Zweckmäßigkeit einer Sache ist eigentlich die immanente Natur ihrer Tätigkeit.⁷⁷ Die Teleologie bezeichnet daher in Hegels Denken nicht nur die Verfassung der Natur, sondern vielmehr die Objektivität des Begriffs – und zwar nicht so sehr die Art, in der der Begriff objektiv ist, sondern vielmehr die Art, in der die Objektivität begrifflich ist. Der Begriff einer Sache ist das τέλος des objektiven Tätigseins bzw. der Aktualität der Sache. In dieser Hinsicht ist der Begriff nicht nur eine Angelegenheit des menschlichen Verstandes: Die Bewegung des Zwecks kann daher nun so ausgedrückt werden, daß sie darauf gehe, seine Voraussetzung aufzuheben, das ist, die Unmittelbarkeit des Objektes, und es zu setzen als durch den Begriff bestimmt. Dieses negative Verhalten gegen das Objekt ist ebensosehr ein negatives gegen sich selbst, ein Aufheben der Subjektivität des Zwecks (GW 12, 161).
Eine Sache wird für Hegel wahrhaft erkannt, wenn sie in ihrer zweckmäßigen Natur erkannt wird. Den Zweck einer Sache zu erkennen, bedeutet, diese – gegen die Unmittelbarkeit des erscheinenden Objektes – in ihrem Begriff zu erkennen. Inwiefern ist aber diese Erkenntnis des Zweckes objektiv, wenn sie doch begrifflich ist? Die hegelsche Verbindung zwischen Zweck und Begriff kann nur vor dem Hintergrund der Außerkraftsetzung der Unterscheidung zwischen der Subjektivität und Objektivität verstanden werden.⁷⁸ Aus diesem Grunde repräsentiert die
Dean Moyar (2018) argumentiert, dass Hegels teleologische Konzeption der Objektivität in der Begriffslogik vom Paradigma des menschlichen Handelns geprägt ist. Einerseits scheint es sich ein Primat des Praktischen zu handeln. So seien „die Objekte der Teleologie denen des Mechanismus überlegen […], weil sie selbstbestimmt und damit bedeutsamer sind“ (Moyar 2019, 648). Andererseits hat aber Hegels teleologisches Modell ein besser, anti-reduktionistisches Erklärungspotenzial, selbst wenn es vielmehr intentionale Akte als Naturphänomene im Allgemeinen betrifft. So halte Hegel „komplexere teleologische Ereignisse für realer und besser bestimmt […] als elementare Mechanismen (…). Für Hegel ist es eine Tugend, wenn etwas eine mehr oder weniger gute Ausführung darstellt, anstatt bloß die Instatiierung eines einfach gültigen und befolgten Gesetzes zu sein“ (Moyar 2018, 649). Gegen Kants Annahme, dass nur die bestimmende Urteilskraft bzw. der Verstand objektivitätsträchtig ist, während die teleologische Urteilskraft nur einen subjektiven Stellenwert haben
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Teleologie bei Hegel nicht bloß ein alternatives Naturbild zum Mechanismus, denn das Konzept eines Naturbildes setzt selbst eine Trennung zwischen subjektiver Erkenntnis und objektiver Gegebenheit voraus. Für die philosophische Darstellung der Naturtheorien macht es „keinen Unterschied, ob die Prinzipien als objektive, das heißt hier, äußerlich existierende Bestimmungen der Natur oder bloße Maximen eines subjektiven Erkennens betrachtet werden sollen“ (GW 12, 158). Die Teleologie fungiert daher nicht als eine Objektivitätstheorie in einer dualistischen Ontologie, in welchem das Subjekt dem Bereich der Objekte gegenübersteht. Für Hegel ist der Raum, in dem die Natur begriffen wird, zugleich der Raum der Natur. Und die Teleologie hat deshab einen besonderen Stellenwert, weil sie die Verflechtung des Begriffs mit der Natur zum Ausdruck bringt: „Der Zweck ist nämlich der an der Objektivität zu sich selbst gekommene Begriff“ (GW 12, 161). Die Teleologie ist bei Hegel der Name für den Gedanken, dass die Natur im Begriff zu sich selbst kommt. Dies bedeutet nicht so sehr, dass der Begriff eine analoge Struktur zum Phänomen des Lebens hat, sondern vielmehr, dass das Leben – als Raum immanenter Selbstzwecke – in sich den Trieb enthält, für sich selbst zu sein, d. h. begriffen zu werden. Die Gattung, die sich selbst als Gattung begreift, d. h. der Geist, ist so nicht so sehr Zweck einer natürlichen Entwicklung, sondern vielmehr Inbegriff dessen, was Leben ist – d. h. natürliche Ausübung des Lebens.⁷⁹
kann, wendet Hegel ein, dass der Verstand selbst bei Kant nur einen subjektiven Bereich umreißt: Das anschaulich Gegebene wird in Erkenntnisurteilen unter ihm äußerlichen und subjektiven Bestimmungen subsumiert. Dieser Einwand hat den Sinn, die Unterscheidung zwischen Subjektivität und Objektivität für die Differenz zwischen Zweckmäßigkeit und Gegenständlichkeit bedeutungslos zu machen. Hegel verortet den Ursprung dieser Gattungsart – des menschlichen Geistes – im Begreifen des Todes als eines solchen. Der Tod hat einerseits die Bedeutung, dass darin sich die Gattung über den sterblichen Einzelnen hinaus realisiert, insofern der Tod die Selbstnegation des Einzelnen um des Allgemeinen willen repräsentiert (vgl. GW 12, 191). Andererseits wird im Begreifen des Todes das Allgemeine der Gattung erblickt. Diese Fähigkeit, die Realität des Allgemeinen über den Einzelnen hinaus zu begreifen, kommt einer Gattung zu, die Hegel in der Enzyklopädie als Geist bezeichnet – diejenige Gattungsart, die sich als Gattung begrifflich erfährt und dadurch sich selbst als begriffliche Lebensform bestimmen kann. In der Begriffslogik beschreibt Hegel die Erfahrung des Todes als Übergang in das Erkennen: Aus der Endlichkeit des Lebens entspringt „das Werden des zu sich selbst verhaltenden, als allgemein und frei für sich existierenden Begriffes, der Übergang in das Erkennen“ (GW 12, 182).
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
B Die Idee des Guten Die Selbständigkeit des begrifflichen Raumes ist am deutlichsten in der Idee des Guten sichtbar: „Die Idee, insofern der Begriff nun für sich der an und für sich bestimmte ist, ist die praktische Idee, das Handeln“ (GW 12, 230). Die Idee des Guten umgrenzt den Raum, in dem der Begriff als Begriff wirksam ist. Der Bereich der praktischen Normen hat einzig eine begriffliche Wirklichkeit, ohne aber dadurch weniger real zu sein. Im Gegensatz zur theoretischen Idee schöpft das Gute seinen „bestimmten Inhalt“ nicht aus der vorhandenen, natürlichen Welt (GW 12, 231) und kann somit nicht auf eine empirische oder nichtbegriffliche Gegebenheit zurückgeführt werden. Dies ist der Sinn, in dem das Gute für sich absolute Wirklichkeit ist: Der Begriff gibt sich als Begriff Wirklichkeit, ohne den Bedeutungsgehalt der begrifflich bestimmten Normen in einer bereits vorhandenen Welt finden oder gründen zu müssen. Hegels Behandlung der Idee des Gutes in der Begriffslogik (1816) fungiert als eine implizite Kritik an Kants praktischer Vernunft. In der kantischen Auffassung der praktischen Idee hat der Zweck des praktischen Willens durch die allgemeine Selbstgesetzgebung bzw. durch den kategorischen Imperativ objektive Geltung. Trotzdem muss sich der durch den Willen gesetzte Zweck noch in der äußerlichen Welt realisieren.⁸⁰ Obwohl die praktische Idee die Gewissheit ihrer Legitimität hat, wird ihre Geltung von der äußeren Realität bzw. von der Angewiesenheit auf ihre Realisierung eingeschränkt. Die praktische Idee bedarf der Umsetzung in das Reale, um sich selbst zu vollziehen, und wird daher zum Trieb, sich zu realisieren. Obwohl die praktische Idee in sich selbst einen absoluten Inhalt haben soll, schränkt sie sich selbst ein, insofern der Zweck der Handlung auf die Grenze seiner Realisation bzw. auf das äußerlich Widerstehende angewiesen ist. Sich zu realisieren, wird daher zum eigentlichen Zweck der praktischen Idee. Und der ursprüngliche Zweck des Willens – das Gute – wird zum Mittel der Realisierung seiner selbst. Durch die Angewiesenheit auf die Realisierung steht das Gute unter dem „Schicksal der Endlichkeit“ (GW 12, 232): Das ausgeführte Gute ist gut durch das, was es schon im subjektiven Zweck, in seiner Idee ist; die Ausführung gibt ihm ein äußerliches Dasein; aber da dieses Dasein nur bestimmt ist als die an und für sich nichtige Äußerlichkeit, so hat das Gute in ihr nur ein zufälliges, zerstörbares Dasein, nicht eine seiner Idee entsprechende Ausführung erreicht (GW 12, 232).
In Hegels Worten ist der praktische Begriff zunächst „der Trieb, sich zu realisieren, der Zweck, der sich durch sich selbst in der objektiven Welt Objektivität geben und sich ausführen will“ (GW 12, 231).
3 Der Begriff als lebendige Wirklichkeit
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Die Abhängigkeit des Guten von seiner Realisierung und die Nichtübereinstimmung des praktischen Vollzugs mit dem Sollen machen die Endlichkeit des Guten aus. Das Gute ist aber „nicht nur der Zerstörung durch äußerliche Zufälligkeit und durch das Böse unterworfen, sondern durch die Kollision und den Widerstreit des Guten selbst“ (GW 12, 233). Der Widerspruch des Guten liegt nicht nur am Unvermögen des Guten, sich zu realisieren, und auch nicht nur an der Einseitigkeit einer Idee des Guten, die im Konflikt mit anderen ethischen Ansprüchen steht, sondern vielmehr am Paradigma des Sollens selbst. Im kantischen Rahmen erscheint das Gute als „ein absolutes Postulat“, welches aber zugleich nicht absolut sein kann, weil es „mit der Bestimmtheit der Subjektivität behaftet“ ist (GW 12, 233). Der subjektive Charakter des Sollens verrät die Einseitigkeit der Maxime: Das subjektive Sein-Sollende steht wesentlich dem objektiven Seienden gegenüber. Hegel ist der Ansicht, dass die vom Sollen her erfasste praktische Idee sich selbst missversteht. Sie mangelt der Einsicht in das, was sie eigentlich verkörpert – „daß nämlich das Moment der Wirklichkeit im Begriff für sich die Bestimmung des äußerlichen Seins erreicht hätte“ (GW 12, 233). Das Konzept des Guten als Gesolltes ignoriert die Tatsache, dass die Möglichkeit des Guten bzw. dessen Denkbarkeit bereits sein Sein belegt. Das Gute denken zu können, beweist bereits, dass das Gute eine Wirklichkeit hat. Die von der Realität entkoppelte praktische Idee mangelt somit an der theoretischen Implikation ihrer selbst: Der Wille steht daher der Erreichung seines Ziels nur selbst im Wege dadurch, daß er sich von dem Erkennen trennt und die äußerliche Wirklichkeit für ihn nicht die Form des WahrhaftSeienden erhält; die Idee des Guten kann daher ihre Ergänzung allein in der Idee des Wahren finden (GW 12, 233).
Die praktische Idee als Willensbestimmung wird auf ihre Realisierung angewiesen, weil sie aufgrund ihrer Subjektivität in sich selbst keinen Inhalt und keine Wirklichkeit hat. Was in einer solchen Auffassung des ethischen Handelns vergessen wird, ist, so Hegel, das begriffliche Dasein des Guten. Im Guten gibt der Begriff sich selbst begrifflichen Inhalt. Der Begriff ist dabei nicht als subjektive Leistung – als Diesseitigkeit einer Vorstellung – zu verstehen, sondern als die konkrete, immer schon verstandene, sprachlich verfasste und erst insofern begriffene Praxis. Der Begriff ist nicht die Vorstellung, die ein menschliches Subjekt von einer Handlung hat, sondern die Art und Weise, in der der Mensch tut, was er tut – die implizite, sprachliche und selbstbewusste Selbstbezüglichkeit des menschlichen Handelns. Was hingegen den Begriff des Guten auf einen subjektiven Bereich einschränkt, ist „seine eigene Ansicht von sich“ – „er steht nur sich selbst durch diese Ansicht im Wege und hat sich darüber nicht gegen eine äußere Wirklichkeit, sondern gegen sich selbst zu richten“ (GW 12, 235).
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
Die Möglichkeit des Guten bezeugt bereits die Wirklichkeit des Guten. Die Tatsache, dass wir derartige Lebewesen sind, deren konkrete Welt von der Idee des Guten vermittelt wird, wird durch die Forderung der Realisierung eines ethischen Imperativs vergessen. Die Objektivität der Idee des Guten wird durch ihre Übersetzung in die Moral verfehlt. Der Abschnitt über die Idee des Guten in der Begriffslogik hebt diese konstitutive Dimension der Idee des Guten in der Objektivität des Geistes hervor. Hegel spricht am Ende dieses Abschnittes über die Aufhebung der Subjektivität des Guten: Die Idee ist dadurch „nicht mehr bloß im tätigen Subjekt, sondern ebensosehr als eine unmittelbare Wirklichkeit“ (GW 12, 235). Die angesprochene Wirklichkeit drückt eine Umdeutung der kantischen Erfahrungswelt aus. Hegel versteht die Wirklichkeit des Guten als die lebendige, geschichtlich entwickelte, sprachlich konstituierte Objektivität des Geistes. Diese Wirklichkeit ist unmittelbar, weil selbst die Wahrnehmungswelt immer schon von der Idee des Guten vermittelt wird – weil die ganze Welterfahrung des menschlichen Lebewesens immer schon normativ verfasst ist.⁸¹ Diese Einsicht Hegels, dass die geistig-praktische und die natürlich-theoretische Welt zusammengehören, führt zum Konzept der absoluten Idee. Die absolute Idee drückt die teleologische Zusammengehörigkeit von Natur und Geist aus. Das Geistige ist in dieser Hinsicht nicht nur eine Vermittlungsdimension der objektiven Welt, sondern auch in dieser – im Leben – von vornherein verankert.⁸² Hegel nennt das, was den Raum der Natur und den Raum des Geistes gemeinsam bestimmt, das Logische. Die Konstitution des Logischen wird in der Methode der Logik bzw. in der Negativität verkörpert bzw. wieder inszeniert (vgl. Kap. VII: „Die Negativität als Konstitution von Sinn“).
C Die Aktualität des Begriffs Der Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Frage, ob und inwiefern das Verstehen derjenigen Bedeutungszusammenhänge, die keine Korrespondenz im
Zur Vereinigung des Erkennens und der praktischen Idee behauptet Hegel: „die vorgefundene Wirklichkeit ist zugleich als der ausgeführte absolute Zweck bestimmt, aber nicht wie im suchenden Erkennen bloß als objektive Welt ohne die Subjektivität des Begriffs, sondern als objektive Welt, derer innerer Grund und wirkliches Bestehen der Begriff ist. Dies ist die absolute Idee“ (GW 12, 235). Zur Tragweite der selbstbestimmenden Subjektivität für die Verfassung der Objektivität selbst vgl. Siep 2018. Zu Aristoteles’ Einfluss auf Hegels These vgl. Ferrarin 2001. Zu einer alternativen Lesart, der zufolge in der Logik kein Übergang vom Logischen zur Naturobjektivität stattfindet, vgl. A. F. Koch 2014b.
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Bereich der Gegenständlichkeit haben, sondern den regulativen Horizont geistiger Existenz konturieren, begrifflich konstituiert ist. Die Frage ist also nicht, inwiefern jene Bedeutungszusammenhäge über einen begrifflichen Ausdruck verfügen, da sie doch Namen tragen, wie die „Gerechtigkeit“, die „Freundschaft“ und die „Würde“, sondern vielmehr der Bedeutungsgehalt dieser Ausdrücke intern begrifflich artikuliert ist – im Gegensatz dazu, allein vom Willen bestimmt zu sein oder reine, selbstreferentielle Nennungen zu sein. Die Art und Weise, in der Bedeutungszusammenhänge begrifflich konstituiert sind, wird bei Hegel erst durch die Darstellung derselben gezeigt. Die Methode bzw. die Ordnung der Artikulation offenbart zugleich die Konstitution von Sinn. Mit dieser Methode befasst sich das folgende Kapitel. Das vorliegende Kapitel soll indes umrissen haben, was Hegel unter Begriff versteht. Wenn Hegel argumentiert, dass der normative Horizont unserer Welterfahrung begrifflich konstituiert ist, dann ist dabei unter Begriff nicht eine subjektiv geformte und definitorisch abgegrenzte Kategorie zu verstehen. Begriffe sind für Hegel keine festen Formen des Realen, sondern selbst lebendige, objektiv entwickelte und sprachlich synthetisierte Realitäten.⁸³ Das Denken ist nicht eine Instanz, die das Leben betrachtet, theoretisiert und begrifflich übersetzt, sondern Ausübung des Lebens selbst – die Art und Weise, in der wir als geistige Wesen im Leben tätig sind, bzw. die inhärente Artikulation des Tätigseins. Begriffe sind so für Hegel das Äquivalent von Organismen im Bereich des Geistes – und erst in diesem Sinne besondere Instanziierungen des Allgemeinen im Einzelnen. Inwiefern könnte das Nichtbegriffliche einen bestimmenden Stellenwert für die Konstitution von Bedeutungszusammenhängen haben? Inwiefern könnte das, was die sprachliche Weltbedeutsamkeit ermöglicht, selbst begrifflich unartikulierbar sein? Um eine begrifflich unzugängliche Ursprünglichkeit von Sinn voraussetzen zu können, muss der Begriff als „ein subjektiver Maßstab“ gelten, der von der konstitutiven Objektivität abgesondert ist (GW 12, 174). Diese Vorstellung entspricht dem Paradigma der objektbezogenen Erkenntnis, in dem das Wahre als Dina Emundts (2018) erläutert, inwiefern Begriffe bei Hegel „keine Behälter […], keine Formen der Synthesis, keine Werkzeuge, um etwas Externes zu erfassen. Begriffe sind die Einheiten oder Wesen von Dingen. Sie sind außerdem etwas, das sich im Denken von Dingen entwickelt und so expliziert werden kann. Und diese Entwicklung ist wiederum so, dass nichts als extern von ihnen unterschieden ist und alle Unterschiede selbst als begriffliche auftreten“ (Emundts 2018, 389). Dies bedeutet nicht, dass Begriffe eine andere Realität als das Begriffene haben, selbst wenn diese Unterscheidung in einer bestimmten Hinsicht gemacht werden muss. Hegel sieht die Begriffe „als vollständig in der Bestimmung der Dinge enthalten und nicht als etwas Externes an“ (Emundts 2018, 390). Diese Auffassung von Begriff ist möglich nur, wenn die Dichotomie zwischen dem subjektivistischen Charakter des Begriffs und dem geistlosen Charakter der Wirklichkeit aufgehoben wird.
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
objektiv gegeben gilt und die Erkenntnis sich versteht „als ein Auffassen eines Gegebenen, worin die Tätigkeit des Begriffs vielmehr nur darin bestehe, negativ gegen sich selbst zu sein, sich gegen das Vorhandene zurückzuhalten“, damit das Gegebene „sich, wie es in sich selbst ist, zeigen könne“ (GW 12, 202). Die Sache fungiert so als ein Vorhandenes, das erst dann wahrhaft empfangen wird, wenn die „äußerliche Schale“ und das „subjektive Hindernis“ entfernt werden (GW 12, 202). In diesem Paradigma bleiben laut Hegel sowohl der subjektive Idealismus als auch der Realismus verfangen. Für den ersten gilt das Erkennen als „ein einseitiges Setzen (…), jenseits dessen das Ding-an-sich verborgen bleibt“ (GW 12, 203). Der zweite betrachtet „den subjektiven Begriff als eine leere Identität, welche die Gedankenbestimmungen von außen in sich aufnehme“ (GW 12, 203). Wenn man glaubt, dass die Natur des Begrifflichen nur im Rahmen dieses dichotomischen Paradigmas verstanden werden kann, dann sieht man sich verpflichtet, zu betonen, dass die Konstitution von Sinn nicht begrifflich, sondern einer Dynamik des Seins verschuldet ist, die jenseits des Tätigkeitsfelds unseres begrifflichen Vermögens liegt. Der Rekurs auf diesen begrifflich unverfügbaren Abgrund von Sinn ist eine Form des Mythos der Gegebenheit, der annimmt, so Hegel, dass das Sein „einen eigenen, vom Gedanken selbst unabhängigen Grund“ hat, während dem Begriff „noch kein Sein zukomme“ (GW 12, 240). Auf das einfach Gegebene beruft sich jede Form von unmittelbarem Wissen – nicht nur der begriffskritische Rekurs auf die Selbständigkeit der reinen Erfahrung, sondern auch die Definition, die von den mannigfaltigen Bestimmungen des scheinbar Einfachen absieht, so Hegel in der Begriffslogik (Vgl. GW 12, 240). Jede Definition abstrahiert „von dem, was zum Begriff in seiner Realisation hinzukommt“ und reduziert den „Reichtum der mannigfaltigen Bestimmungen des angeschauten Daseins auf die einfachsten Momente“ (GW 12, 210). Die Tatsache, dass der semantische Reichtum einer Erfahrung sich nicht in einer Definition festlegen lässt, bedeutet aber nicht, dass er unbegreiflich ist. Hegel beschreibt die Zurückführung der vielschichtigen Konstitution von Sinn auf ein Einfaches, das sich begrifflich nicht artikulieren lasse, als „ein dunkles Gefühl, ein unbestimmter, aber tieferer Sinn, eine Ahndung des Wesentlichen“ (GW 12, 213). Selbst wenn es Nichtbegriffliches gibt, kann es als Nichtbegriffliches keine semantische Tragweite und keinen epistemischen Wert im Bereich des Begrifflichen haben, weil eine Berufung auf das Nichtbegriffliche sich bereits im begrifflichen Raum der Gründe bewegt: „was aber ein Wirkliches sein solle, wenn nicht sein Begriff in ihm und seine Objektivität diesem Begriff gar nicht angemessen ist, ist nicht zu sagen; denn es wäre das Nichts“ (GW 12, 174). Die Berufung auf das begrifflich Unverfügbare ist aber nicht Nichts, sondern damit geht jeweils eine bestimmte semantische Intention einher, die sich aber nicht als das, was es ist, präsentiert – und zwar eine Ausübung des menschlichen begrifflichen Vermögens.
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Um die subjektivistische Auffassung von Begriff als Vorstellung und Definition zu überwinden, betont Hegel, dass unser begriffliches Vermögen ein lebendiges ist – insofern es einerseits einem Lebewesen anhaftet und andererseits die Dynamik des sich hervorbringenden Lebendigen hat. Hegels teleologische Konzeption des Begriffs ist nicht so sehr auf die Entwicklungsgeschichte eines einheitlich verfassten Bereiches von Natur und Geist, sondern vielmehr auf die Aktualität des Begrifflichen bezogen. Der Begriff ist nicht etwas, das der Realität gegenübersteht und sich erst realisieren muss, sondern Hegel denkt Begriffe als sinnvolle Realisierungen – seien sie Lebewesen in der Natur, deren Bestimmungen und Zweckmäßigkeit uns begreiflich werden, oder geistige Institutionen, die sich immer schon begrifflich verwirklichen und entwickeln. Die zweckmäßige Tätigkeit eines Lebendigen ist in dem Sinne der Begriff desselben, als dass der Begriff selbst als zweckmäßige Wirklichkeit erfasst wird. So haben für Hegel Begriffe nicht Inhalt, insofern sie ein bereits vorhandenes Mannigfaltiges unter eine Form bringen, sondern sie sind immer schon verwirklichte Synthesen, deren reeller und ideeller Inhalt eine Einheit bilden.⁸⁴ Das Konzept, anhand dessen Hegel die inhärente Aktualität des Begrifflichen chiffriert, ist die „Idee“: „Sein hat die Bedeutung der Wahrheit erreicht, indem die Idee die Einheit des Begriffs und der Realität ist; es ist also nunmehr nur das, was Idee ist“ (GW 12, 175). Das Wahre hat hier nicht eine erkenntnistheoretische Bedeutung – es betrifft nicht den Bereich des Gegenständlichen, das ein Subjekt erkennen kann oder zu erkennen hat und das sich so dem menschlichen Erkennen entziehen kann. Das Wahre, das Hegel hier anspricht, bezieht sich vielmehr auf den ontologischen Stellenwert des Begriffs, der nicht bloß subjektiv als menschliche Leistung gedeutet wird, sondern objektiv – nicht nur in dem Sinne, dass unser begriffliches Vermögen realitätsträchtig ist und in der konkreten Welt immer schon wirksam ist – etwa in der Wirksamkeit von Normen, die den Bereich des Geistes konturieren –, sondern auch in dem Sinne, dass das, was wir Menschen als Begriff bezeichnen, wenn wir vom Wesen einer Sache oder einer Tätigkeit reden, ein Sinnprinzip ist, das der Wirklichkeit und Entwicklung von Tätigkeiten zugrundeliegt. In diesem Sinne ist der Begriff „die Seele des Konkreten, dem es inwohnt“ (GW 12, 34). Wenn etwas wahr ist, insofern es dem entspricht, was es zu sein hat, bzw. seinem τέλος, dann ist das Begriffene wahr, insofern es das, was etwas zu sein hat, erfasst.
Die Beispiele, die Hegel in der Begriffslogik für dieses Argument gibt, beziehen sich auf den Staat und die Kirche. Der Staat und die Kirche „hören auf zu existieren“, „wenn die Einheit dieses Begriffs und ihrer Realität aufgelöst wird“ (GW 12, 175).
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VI Die Bedeutung der Vernunftbegriffe
Diese aristotelisch geprägte Auffassung von „Begriff“ bzw. von λόγος, die zwischen der Subjektivität und der Objektivität der logischen Ordnung nicht mehr scharf differenziert, ist nur vor dem Hintergrund einer als durchsichtig gedachten Welt möglich. Eine solche Welt ist begrifflich beschreibbar, weil sie begrifflich verfasst ist. Das „Begriffliche“ hat dabei eine varierende Semantik – einmal als Natur einer Sache, das andere Mal als Begriffenes. Aber die Anwendung desselben Terminus deutet auf die Zusammengehörigkeit der Ordnung des Denkens mit der Ordnung des Seins. Diese Zusammengehörigkeit von Sein und Denken wird im nächsten Kapitel – mit Blick auf die Frage nach der Art und Weise, in der Sinn zustande kommt – als Einheit von Konstitution und Darstellung ausgelegt. Hegels These, dass etwas „nur Wahrheit“ hat, „insofern es Idee ist“ (GW 12, 173), bestreitet im Grunde, dass das begrifflich unverfügbare Objektive und die subjektiv verkapselte Gewissheit Wahrheit haben können. Die Bestreitung dieser Annahmen impliziert nicht nur, dass die Darstellung in dieselbe Ordnung wie diejenige der Konstitution hineingehört, sondern auch, dass erst die Darstellung die Konstitution von Sinn bewährt. Ein Verständnis von Welt kommt zu seinem vollen Gehalt, wenn es begrifflich artikuliert wird, weil die Welt als solche Verstehen von Welt ist. In der Darstellung kommt eine Welt zu dem, was sie schon ist – sprachliche, begriffliche Konstitution von Bedeutungszusammenhägen. Wenn die menschliche Welt durch das sprachliche Als bzw. durch einen Reichtum von begrifflichen Bestimmungen konstituiert ist, dann ist sie als solche sprachlich artikulierbar, selbst wenn jede Artikulation einseitig und unvollständig ist. Die Tatsache, dass Sinnzusammenhänge nicht vollständig artikuliert werden können, bedeutet nicht, dass sie prinzipiell unartikulierbar sind – als ob die Ordnung der Konstitution von Sinn und die Ordnung des Begreifens radikal entkoppelt wären und aus zwei verschiedenen Quellen stammen würden. Durch das Argument, dass menschliche Vermögen – wahrzunehmen, zu verstehen, zu begreifen, zu handeln – zusammengehören, dass die begriffliche Tätigkeit mit der je konkreten Lebensform verflochten ist, dass unser Hineinversenktsein in die Lebenswelt begrifflich ist, weist Hegel die philosophischen Motive des Entzugs, des Nichtidentischen und des Unvordenklichen zurück. Und wenn die Sinnzusammenhänge, die die Welt ausmachen, durch ihre unmittelbare Selbstverständlichkeit ihren Bedeutungsgehalt zu verlieren riskieren, wenn die Herkunft von Bedeutungen in Vergessenheit gerät, dann liegt die Aufgabe des philosophischen Denkens für Hegel nicht wie für Heidegger darin, das Verborgene als Verborgenes aufzubewahren, um die Gegebenheit einer Welt aufrechtzuerhalten, sondern im Gegenteil darin, das Vergessene zu erinnern, die Konstitution einer Welt darzustellen, das Verborgene ans Licht zu bringen. Der Gedanke dahinter lautet, dass es in der Natur des Sinns liegt, dass Sinn artikulierbar ist.
VII Die Negativität als Konstitution von Sinn Das Konzept der Negativität ist bei Hegel nicht nur der Name für eine Methode, anhand deren unsere Denkbestimmungen dargestellt werden können, sondern es bezeichnet auch das Konstitutionsprinzip der geistigen Welt. Die Negativität prägt somit sowohl die Darstellung als auch die Konstitution von begrifflichen Bestimmungen. Vor dem Hintergrund dieses einheitlichen Prinzips ist für Hegel die begriffliche Darstellung eines Bedeutungszusammenhanges zugleich die Wiederherstellung dessen, was den betreffenden Bedeutungsgehalt von vornherein konstituiert. Die These, die mit dem Konzept der Negativität einhergeht, ist demnach, dass die Artikulation von Sinnzusammenhängen mit der Konstitution von Sinn wesentlich zusammengehört. Inwiefern der Begriff der Negativität diese Zusammengehörigkeit verkörpert, soll im Folgenden erläutert werden. Der Rahmen, innerhalb dessen die Bedeutung der Negativität dabei geklärt werden soll, ist die Aufgabe einer prozessualen Artikulation des logischen Gefüges der geistigen Welt.¹ Die Natur der menschlichen Begrifflichkeit ist inferentiell und holistisch: Begriffe sind nur im Zusammenhang mit anderen Begriffen verständlich. Hegels Konzeption der Negativität schließt an diesen Sachverhalt an, um aber den engen Zusammenhang zwischen Wissen und Abstraktion sichtbar zu machen. Obwohl Begriffe nur durch andere Begriffe verständlich sind, ist es ein Wesensmerkmal der Verständlichkeit von Begriffen, dass dabei von den sie vermittelnden Bestimmungen abstrahiert wird. Es ist eine inhärente Eigenschaft unmittelbarer Wissensformen, dass diese von ihren konstitutiven Annahmen abstrahieren. Aufgrund dieser Abstraktion erscheinen die konstitutiven Schichten einer begrifflichen Bestimmung im unmittelbaren Wissen als Negationen. So ist es eine Grundthese der hegelschen Konzeption der Negativität, dass das Konstitutive eines Zusammenhangs zunächst als Negatives erscheint.² Dieses implizite Einbegreifen eines scheinbar Negativen nennt Hegel „Vermittlung“. Die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft besteht für Hegel in der Darstellung der vielschichtigen Vermittlungen einer unmittelbaren Wissensge Pirmin Stekeler-Weithofer (1992) hat Hegels Logik als eine Theorie der Bedeutung interpretiert und Hegels Methode als eine sinnkritische Begriffsentwicklung beschrieben, die unsere unmittelbaren und verleitenden Redeformen dekonstruiert. Die Deutung der hegelschen Negativität als logische Entfaltung der immanenten Bestimmungen einer gegebenen Bedeutung schließt ebenso an Brandom 2002b und Pippin 2014 an. Dies zieht die Grenze zu anderen Verständnissen der Negativität, insbesondere als Unhintergehbarkeit des Nichtbegrifflichen (Adorno 2003a), als Unverfügbarkeit (Rentsch 2000), als Nichtseinsollendes (Theunissen 1991) oder als Tragik (Angehrn 2011). https://doi.org/10.1515/9783110659801-009
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VII Die Negativität als Konstitution von Sinn
stalt. Die jeweiligen Vermittlungen können entfaltet werden, weil sie im unmittelbaren Wissen latent enthalten sind. Deshalb kommt dem Anfang in Hegels Methode eine maßgebliche Rolle zu. Der unmittelbare Anfang birgt, gerade insofern er abstrahierend ist, einen immanenten Verweis auf die ihn konstituierenden Schichten begrifflicher Bestimmungen, die dabei eben als Negationen und Andersheiten erscheinen. Die Negativität als Darstellungsmethode repräsentiert somit einen Rückgang zur immanenten Konstitution eines unmittelbaren Anfangs und soll die impliziten Vermittlungen desselben graduell entfalten.³ Die folgende Beschreibung der Bedeutung der Negativität bei Hegel beginnt deshalb mit dem Stellenwert des Anfangs in Hegels Methode und nimmt zuerst auf die Textstelle in der Seinslogik (1812) Bezug, an der Hegel den Begriff der Negation einführt (VII.1.A). Was in einer unmittelbaren Bestimmung oder Wissensform als Negation erscheint, beispielsweise die Differenz als Negation der Identität, erweist sich bei einer genauen Begriffsanalyse als konstitutiv für die scheinbar selbständige Bedeutung eines Begriffs. In diesem Sinne stehen die Ausdrucksformen des Nichts, des Negativen und der Negation für die konstitutive Dimension, die in einem unmittelbaren Sinnzusammenhang verborgen liegt. Dieser Gedanke erklärt auch die Herkunft des Terminus der „Negativität“ bei Hegel, der so mit dem abstrakten Charakter einer unmittelbaren Bestimmung verbunden ist. Die Negativität ist primär Negativität des Anfangs – oder, in Hegels Worten, Negativität als „Aufhebung der Vermittlung“ (GW 12, 252) oder als „aufgehobene Vermittlung“ (GW 12, 250).⁴
In der Darstellung der logischen Methode am Ende der Begriffslogik beschreibt Hegel sein Verfahren als ein Fortgehen, insofern es sich um ein immer präziseres Weiterbestimmen handelt, und zugleich als ein Rückwärtsgehen, insofern es sich um die Enthüllung des bereits im Anfang Enthaltenen handelt: „Auf diese Weise ist es, daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, daß somit das, was zunächst als verschieden erscheinen mag, das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben, ineinanderfällt und dasselbe ist“ (GW 12, 251). Der abgestufte Charakter des Darstellungsprozesses von vermittelnden Bestimmungen kann indessen den Anschein einer Entstehungsgeschichte erwecken. Auf dieses Missverständnis, demzufolge die logischen Bestimmungen aus dem reinen Sein abgeleitet werden, hat auch Dieter Henrich verwiesen. Henrich argumentiert dafür, dass die Methode der Logik „das Gegenteil einer Konstruktion“ ist (Henrich 2010, 89). Wir werden nachfolgend ebenfalls argumentieren, dass Hegels Methode nicht so sehr in einer progressiven Deduktion der Kategorien, sondern vielmehr in einer begrifflichen Wiederherstellung der Konstitution einer anfänglichen Bestimmung besteht. Zum Gedanken, dass das unmittelbar gesetzte Sein zugleich eine unmittelbare Abstraktion von seinen Bestimmungen impliziert, vgl. Henrich 2010. Zur apriorischen Vermitteltheit des Anfangs der Logik vgl. Hühn 2002. Zur These, dass Hegels Logik mit dem geläufigen Gebrauch des zunächst unbestimmten Seinsbegriffs anfängt, vgl. Houlgate 2006.
VII Die Negativität als Konstitution von Sinn
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Die Verbergung dessen, was einen Sinnzusammenhang vermittelt, bedingt die unmittelbare Erscheinung desselben. An einer Stelle in der Wesenslogik (1813) beschreibt Hegel diese Möglichkeitsbedingung von Erscheinung wie folgt: „Dieses Zugrundegehen der Vermittlung ist zugleich der Grund, aus dem das Unmittelbare hervorgeht“ (GW 11, 326).⁵ Aufgrund der Abstraktion von der konstitutiven Vermittlung kann die unmittelbare Existenz als grundlos erscheinen – und der Grund der Existenz als einen „Abgrund“ (GW 11, 326). Hegel argumentiert indessen, dass das scheinbar Grundlose nur die „verschwundene Vermittlung“ ist (GW 11, 326). Die Verbergung der Vermittlung ist zwar eine Bedingung der Unmittelbarkeit, sie bezeugt aber keine Abgründigkeit der Sinnkonstitution, sondern das, was im unmittelbaren Anfang verschwindet, ist die begriffliche Konstitution der Erscheinung. Darin liegt der wesentliche Unterschied zu Heideggers Auffassung der konstitutiven Funktion der Verbergung.⁶ Das Verschwinden der Vermittlung ist für Hegel damit verbunden, dass logische Bestimmungen als solche einseitig und abstrahierend sind, insofern sie jeweils die unmittelbare Form einer einfachen Bestimmtheit annehmen. Auch die Enthüllung einer vermittelnden Bestimmung ist von weiteren vermittelnden Dimensionen geprägt und selbst abstrahierend. In diesem Sinne ist das Zu-GrundeGehen der Vermittlung kein einmaliges und anfängliches Geschehnis, sondern wiederholt sich in jedem Wissensanspruch und in jeder Bewusstseinsgestalt. Diese Ansicht Hegels, dass selbst die begriffliche Artikulation der unmittelbaren Sinnzusammenhänge von Abstraktion charakterisiert ist, soll unter Bezugnahme auf die umfangreichste Beschreibung seiner Methode im letzten Kapitel der Begriffslogik verdeutlicht werden (VII.1.B). Hegels absoluter Idealismus – sein Vertrauen in die Transparenz der Welt und in die Entsprechung der begrifflichen Darstellung mit der Konstitution von Sinn – ist kein naiver Rationalismus, sondern geht gerade von der immanenten Spannung der Natur der Begrifflichkeit aus. Das philosophische Begreifen speist sich
Dieser Satz führt den Abschnitt über die Erscheinung und das Kapitel über die Existenz ein. Hegel beschreibt die Existenz dabei als „hervorgegangene Unmittelbarkeit, die im Hervorgehen eben dies Hervorgehen selbst aufhebt“ (GW 11, 324). Für Heidegger sind die verborgenen Konstitutionsschichten von Sinn im Begriff nicht wiederherstellbar, weil das Begriffliche als solches abstrahierend und verstellend ist, weswegen ihm die Konstitution von Bedeutsamkeit auf eine strukturelle und unhintergehbare Weise abgründig erscheint. Wie in den ersten Kapiteln dargestellt wurde, steht dieses Ergebnis des heideggerschen Denkweges im Kontrast zu seinem anfänglichen Projekt, die λήθη als eine immanente Spannung im Sinngeschehen zu fassen, d. h. als eine Paradoxie der Als-Struktur, zugleich erschließend und verbergend zu sein – und auch im Widerspruch zu der von Heidegger in Sein und Zeit formulierten Mahnung, dass nämlich „Grund nur als Sinn zugänglich wird, und sei er selbst der Abgrund der Sinnlosigkeit“ (SZ, 152).
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aus der immanenten Einseitigkeit der jeweiligen Bestimmungen. Im Unterschied zu Heideggers Begriffskritik ruft aber der abstrakte Charakter der begrifflichen Bestimmungen bei Hegel keinen Defätismus hervor, sondern treibt die unaufhörliche Aufgabe des philosophischen Denkens an, die Konstitution von Sinn begrifflich aufzuklären – d. h. das, was in einer gegebenen Wissensgestalt vergessen wird, was in einem epistemologischen Standpunkt übersehen wird, was in einer Überzeugung verborgen liegt, darzustellen und zu er-innern.⁷ Die Kritik am hegelschen Projekt, wonach dieses das Andere nicht als Anderes anzuerkennen vermag und jede Differenz in der Identität der Reflexion nivelliert, beruht auf der Voraussetzung, dass das, was unser Wissen, unsere Normen und unsere Bedeutungen konstituiert, ein radikal Anderes und somit ein begrifflich Unverfügbares ist, dass es somit eine unüberbietbare Kluft zwischen unserem begrifflichen Vermögen und der Konstituion von Sinn gibt – eine Annahme, die im letzten Kapitel ausführlich analysiert und kritisiert wurde.⁸ Der Geltungsbereich der Negativität soll später noch weiter präzisiert werden (VII.1.C). Die Negativität bestimmt bei Hegel die Verfassung des Logischen selbst und das Logische umfasst nicht nur „das innere einfache Gerüst der Formen des Geistes“ (GW 12, 20), sondern auch den Bereich der Natur. So heißt es am Ende der Begriffslogik, die Negativität ist „der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbestimmung“ (GW 12, 246). Selbst wenn Hegels Konzeption der Negativität auch mit seinem Verständnis des Organischen zusammenhängt,⁹ wurzelt das Motiv der Negativität jedoch in seiner Interpretation der griechischen Tragödie und in seiner Deutung der kantischen Antinomien.¹⁰ Die griechischen Tragödien betreffen allerdings, wenn sie aus der Perspektive der Moderne inter-
Deswegen wird die Aufgabe der Artikulation von Sinn von einer „Unruhe“ getragen: Sie muss unaufhörlich das, wovon in jedem unmittelbaren Anfang abstrahiert wird, enthüllen – und damit immer wieder die Arbeit am Begriff durchführen. Vgl. Bensussan 2014; Nancy 1997. Zu Hegels Kritik am Verständnis der Andersheit als eines abgründigen Grundes des Denkens vgl. A.F. Koch 2014a, 166 – 167. Vgl. Bensussan 2007; Khurana 2017. Karin de Boer (2010) argumentiert dafür, dass die Herkunft des hegelschen Negativitätsbegriffs in seinen Interpretationen der griechischen Tragödien liegt. Der Gedanke der Negativität ist vom Impetus der Versöhnung getragen: Die Widersprüche, wie etwa der Widerspruch zwischen der familiären Sittlichkeit und der staatlichen Rechtsordnung in Antigone, sollten aufgehoben werden. Laut de Boer überträgt Hegel das Prinzip der Versöhnung von Sittlichkeit und Recht auf die Ebene des Logischen und erfasst letztlich die Natur des Begrifflichen selbst als Einheit von widersprüchlichen Bestimmungen. Dies führt dazu, so de Boer, dass Hegel die tragische Negativität seines Frühwerks, wo die Gegensätze nicht endgültig aufgelöst werden können, mit der logischen, absoluten Negativität ersetzt. Dadurch gewinnt Hegels Optimismus die Oberhand über seine tragische Sensibilität.
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pretiert werden, ethische Widersprüche – zwischen Sittlichkeit und Recht, Individuum und Staat, Vernunft und Glauben, Freiheit und Sittlichkeit.¹¹ Die kantischen Antinomien scheinen in diesem Kontext den methodischen Schlüssel liefern zu können, um den Bedeutungsgehalt von Vernunftbegriffen zu artikulieren – um zu beschreiben, wie scheinbar widersprüchliche Positionen der Vernunft einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen und in einen übergreifenden, dritten Zusammenhang hineingehören. Aus diesem Verständnis der Antinomien entwickelt sich bei Hegel werkgeschichtlich der Gedanke, dass logische Bestimmungen in ihrer Konstitution auf den Einschluss ihres Gegenteils immanent angewiesen sind. Die Entsprechung der begrifflichen Darstellung von Sinnzusammenhängen mit der genetischen Konstitution von Sinn ist ebenso mit der Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Gegenständlichkeit nicht zu verwechseln. In Hegels Logik handelt es sich nicht so sehr um eine Korrespondenz zwischen subjektiv-transzendentalen Urteilen und einem gegenüberstehenden, ontologischen Bereich, sondern erkenntnistheoretische Standpunkte zum Verhältnis von Subjekt und Gegenstand sind vielmehr selbst begriffliche Konfigurationen.¹² Hegels Methode – und in eins damit seine Auffassung bezüglich der Einheit von Darstellung und Konstitution – bewegt sich im Raum der logisch verfassten Sinnhaftigkeit: Diese repräsentiert weder die Seite des Subjektiven noch die Seite des Objektiven, sondern die konkrete geistige Welt – als eine im organischen Leben entstandene, logisch verfasste und dem Begreifen durchsichtige Welt.¹³
Zum Verhältnis zwischen den Widersprüchen der Moderne und den griechischen Tragödien bei Hegel vgl. de Boer 2010; Billings 2014; Bonsiepen 1977; Menke 1996; Pippin 1991; Siep 2008. Selbst die Bestimmungen des Seins und des Wesens werden erst als begriffliche Bestimmungen von der Dynamik der Negativität geprägt. Die Frage, inwiefern dem ontologischen Bereich selbst konstitutive Negationen zugeschrieben werden können, wird im Folgenden nicht behandelt, sondern wir verstehen indessen Hegels Begriff der Negation – in Anlehnung an Robert Pippin und Dieter Henrich – vorwiegend als prädikativ-begriffliche Negation. Dieter Henrich (1975) ist der Ansicht, dass Hegels Begriff der Negation primär als prädikative Negation zu verstehen ist. Hegel autonomisiert die Satzform der Negation und extrapoliert sie auf das Logische, so Henrichs Kritikpunkt (Henrich 1978). Vgl. dazu A.F. Koch 1999. Robert Pippin (2014) hat ebenfalls argumentiert, dass Hegel die logische Negation mit der materiell-objektiven Opposition verwechselt. Pippin zufolge ist die Negation ein Grundoperator des Verstehens: Hegels Logik ist so „eine Beschreibung der notwendigen Elemente des Verständlichmachens bzw. des erfolgreichen Beschreibens“ (Pippin 2014, 92). Pippin begreift allerdings die Negation vorwiegend im Zusammenhang mit der logischen Struktur des apperzeptiven, internationalen Bewusstseins. Wir schlagen hingegen vor, die Negativität vorwiegend als Konstitutionsprinzip der geistigen Bestimmungen bzw. der Gehaltsbestimmung von Begriffen zu verstehen. Die Negativität charakterisiert diesen einheitlichen Raum, obwohl sie zugleich die Methode darstellt, die theoretischen Dichtomien der modernen Philosophie aufzuheben. Es wäre aber ir-
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Im zweiten Teil des Kapitels wird die Doppelbedeutung der Negativität erläutert – einerseits als Negativität des Anfangs im Sinne der Latenz der Vermittlung und andererseits als Negativität der Darstellung im Sinne des Begreifens von scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen in einer übergreifenden Einheit. In diesem Kontext werden drei Aspekte des hegelschen Negativitätsprinzips unterschieden: die Ordnung des Wissens, die Ordnung der Artikulation und die Ordnung des Logischen (VII.2.A). Diese drei Aspekte des begrifflichen Raumes gehören wesentlich zusammen und sorgen für die Einheitlichkeit und die Kreisbewegung der Logik: Die holistische Verhältnis von Begriffen, die an einzelnen Kategorien in der logischen Artikulation dargelegt werden, ist der Horizont von impliziten Bestimmungen, der einer unmittelbaren Kategorie immer schon zugrundeliegt. Hegel erklärt den Zusammenhang dieser Bedeutungen der Negativität mit Verweis auf den operativen Begriff der Aufhebung. So werden anschließend die drei Dimensionen der Operation der Aufhebung erschlossen – die Enthüllung der Abstraktion (tollere), die Anerkennung des scheinbar Negativen als konstitutiv (conservare) und das Begreifen einer umfassenden Einheit, die der ersten unmittelbaren Erscheinung immer schon zugrunde liegt (elevare). Die Aufhebung impliziert weder die Vernichtung einer unmittelbaren Bedeutung noch die Auflösung ihrer inhärenten Spannungen, sondern die Anerkennung der konstitutiven Funktion der scheinbaren Negationen,¹⁴ Anerkennung die zu einer Verwandlung der unmittelbaren Bestimmung führt. Durch die begriffliche Artikulation rücken unmittelbare Wissensansprüche und Erkenntniskategorien in das Licht eines übergreifenden Zusammenhangs von wechselseitigen Verweisungen, zu welchem unmittelbare Wissensgestalten immer schon gehören – in diesem Licht wird das unmittelbar Gewusste ein Anderes (VII.2.B). Am Ende des Kapitels wird die Paradoxie behandelt, dass das Resultat der begrifflichen Darstellung selbst die Form der Unmittelbarkeit annimmt. In der Beschreibung seiner Methode im letzten Kapitel der Logik behauptet Hegel, dass
reführend, zu meinen, dass die Negativität das zwiespältige Verhältnis von Subjekt und Objekt oder eine Konfiguration desselben ausdrückt. Wenn Hegel etwa in der Differenzschrift (1801) die Negativität von der Zerrissenheit des Bewusstseins her thematisiert (GW 4: 7, 13, 43, 45), dann handelt es sich dabei nicht so sehr um den Bezug eines Subjektiven auf das Objektive, sondern um die in der modernen Philosophie postulierte Trennung von Geist und Natur, deren Voraussetzungen enthüllt und überwunden werden sollen. Eine dieser Voraussetzungen ist die Einseitigkeit eines sich selbst gesetzten Subjektes. Diese repräsentiert aber für Hegel selbst kein philosophisches Problem, sondern sie ist im Gegenteil nur ein Abstraktionsfall und somit ein Scheinproblem. Vgl. Pinkard 1988; Forster 1993.
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das Resultat sich „die Form der Unmittelbarkeit wieder gegeben [hat]“ (GW 12, 248). Werden im Resultat vermittelnde Bestimmungen erschlossen, so hat jedoch die Form dieses aufhebenden Begreifens selbst einen einfachen und daher einseitigen Charakter. Selbst das Ende der Logik nimmt laut Hegel den Charakter eines unmittelbaren Anfanges an: „Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort dar, das eine Äußerung ist, aber eine solche, die als Äußeres unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist“ (GW 12, 237). Diese Paradoxie gilt für die logische Methode selbst bzw. für die begriffene Negativität.¹⁵ Die Negativität kann im Resultat nicht als Grundsatz festgehalten werden, weil, wie Hegel es in der Vorrede der Phänomenologie formuliert, „ein sogenannter Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn es wahr ist, schon darum auch falsch ist, weil er Grundsatz oder Prinzip ist“ (GW 9, 21). Der Grundsatz ist als solcher mangelhaft, weil er ein Satz ist, und ein Satz ist „unmittelbar eine nur leere Form“ (GW 9, 45). Die logische Methode muss sich deshalb auch gegen die Fixierung der Negativität in einer Formel wehren. Das Begreifen bleibt lebendig, solange es selbst jegliche Definition der Negativität – etwa als Dialektik – hinterfragt. Dieses Korrektiv Hegels plädiert für die unaufhörliche Artikulation von Sinn, im Wissen, dass Begriffe – selbst diejenigen, an denen man arbeitet – als solche abstrahierend und einseitig sind. Gegen das idealistische Projekt der Gewissheit – die ein Quietiv sein kann, insofern es erstarrtes, unwahres Wissen ist – formuliert Hegel den aufklärerischen Imperativ, das Begriffene immer wieder in Frage zu stellen und mit der Arbeit am Begriff stets von vorne anzufangen.
1 Die Negativität des Anfangs A Das Nichts als Reichtum von Bestimmungen An einer berühmten Stelle in der Seinslogik (1812) schreibt Hegel, dass unter dem von ihm verwendeten Begriff der Negativität „nicht jene erste Negation, die Grenze, Schranke oder Mangel, sondern wesentlich die Negation des Anderssein zu verstehen [ist], die, als solche, Beziehung auf sich selbst ist“ (GW 11, 77). Die Negation des Anderssein bedeutet, den scheinbar bloß negativen Charakter Hegel schreibt im Zusammenhang: „die Negativität, welche die Dialektik und die Vermittlung desselben [des Allgemeinen] ausmachte, ist in dieser Allgemeinheit [des Resultats] gleichfalls in die einfache Bestimmtheit zusammengegangen, welche wieder ein Anfang sein kann“ (GW 12, 248).
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dessen, was unmittelbar als Negation erscheint, abzustreiten. Der Satz suggeriert somit, dass der Begriff der Negativität die Bedeutung der Negation der Negation hat. Und die Beschreibung der Negativität als „Beziehung auf sich selbst“ deutet darauf hin, dass das, im Verhältnis wozu eine erste Negation steht, erst durch die Negation dieser ersten Negation seine Bestimmung immer schon erhält. Wovon aber dabei die Rede ist, d. h. was das Subjekt dieser Negation ist, und was es genau bedeutet, eine Negation zu negieren, ist keineswegs selbstverständlich. Der Satz muss vorerst im Kontext verstanden werden. In diesem Kontext ist die Rede vom Verhältnis zwischen Bestimmung und Negation mit Blick auf die Kategorie des Gegebenen und genauer von der wesentlichen Funktion der Grenze in der Bestimmung eines Gegebenen. Die Ausgangsfrage lautet, inwiefern ein Gegebenes als Etwas gedacht wird. Hegel behauptet, dass das Verhältnis vom Etwas zu seiner Andersheit keine gleichgültige Beziehung ist, wie wenn das Anderssein außer dem Etwas liegen würde, sondern dass die Grenze vom Etwas – das Ende des Bereiches seiner Bestimmtheit und der Anfang des Bereiches seiner umgebenden Andersheit – die Bestimmung des Etwas als Etwas ausmacht. Der Sinn, in welchem das Etwas sich durch die Negation seines Andersseins konstituiert, ist somit zunächst, dass die Andersheit dem Etwas nicht gleichgültig ist und dass die Bestimmung des Etwas wesentlich auf Andersheit angewiesen ist (vgl. GW 11, 67– 69). Hegels Argument richtet sich dabei gegen die geläufige Ansicht, dass etwas dort anfängt, wo seine Grenze aufhört, und dort endet, wo seine Grenze beginnt. Ein solches Verständnis des Etwas hat nur eine unbestimmte Existenz zum Gegenstand. Wenn man erhofft, etwas ohne den Verweis auf ein Anderes bestimmen zu können, dann bleibt man bei der Behauptung stehen, dass es Gegebenes gibt. Denn keine Prädikate, die doch ein Anderes sind im Verhältnis zu dem, wovon sie Prädikate sind, könnten eingesetzt werden. Nur wenn das Gegebene im Zusammenhang mit seiner Grenze gedacht wird, ist es möglich, Etwas als bestimmt zu denken: „Etwas ist, was es ist, nur in seiner Grenze“ (GW 11, 69). Das Gegebene wird in der Einheit mit der Grenze „aufgehoben […], denn seine Unmittelbarkeit ist verschwunden, und es ist in die Bestimmtheit übergegangen“ (GW 11, 70). Die Kategorie der Grenze ist somit ein Garant der Bestimmung – bzw. eine Art und Weise, den Stellenwert des Prädikats zu denken. Die Grenze ist das, was Etwas nicht mehr ist, obwohl seine Bestimmung davon abhängt, es nicht mehr zu sein – und zugleich das, was Etwas immer noch ist, ohne es zu sein. Überträgt man die Kategorie der Grenze auf den Stellenwert des Prädikats, so hat ein Tisch die Farbe rot, insofern der Tisch selbst keine Farbe ist. Der Tisch ist gefärbt, ohne selbst eine Farbe zu sein. Die Kategorie der Farbe – und nicht so sehr das Grün und das Gelb – ist die Grenze eines roten Tisches. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich verste-
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hen, warum die Tatsache, dass ein Tisch rot ist, impliziert, dass er nicht grün oder gelb ist. Hegel bezieht sich weiterhin auf eine andere Unterscheidung zwischen Bestimmtheit und Negation. Die äußerliche Reflexion – die sich dadurch auszeichnet, dass sie Denkbestimmungen als selbständig betrachtet – unterscheidet die innere Bestimmtheit von etwas von seiner äußerlichen Beschaffenheit. Die letzte unterliege im Gegensatz zum inneren Wesen von etwas der Veränderung. Wenn Hegel wiederum argumentiert, dass die Veränderung der äußerlichen Beschaffenheit dem Etwas nicht gleichgültig ist, sondern ein Anderswerden desselben involviert, dann bedeutet dies nicht, dass extrinsische Eigenschaften denselben Stellenwert mit intrinsischen Eigenschaften haben und dass die Veränderung der ersten zu einer Veränderung des Wesens von etwas führt. Hegel hebt hingegen den Sachverhalt hervor, dass intrinsische Eigenschaften – die Substanz von etwas – ohne extrinsische Eigenschaften – die äußerliche Beschaffenheit von etwas – nicht gedacht werden können und dass die innere Bestimmtheit und die Beschaffenheit sich gegenseitig bedingen. Wenn beispielsweise das bestimmte Material eines Tisches zu seiner Beschaffenheit gehört, dann kann ein Tisch doch nicht aus einer Flüssigkeit bestehen. Obwohl das Material, woraus ein Tisch besteht, in einem gewissen Sinne dem Tischsein äußerlich ist, hängt diese Beschaffenheit von dem ab, was einen Tisch als Tisch ausmacht. Wenn ein Tisch umgekehrt seine Farbe verändert, dann hört er doch nicht auf, ein Tisch zu sein. Die Farbe hat nicht denselben Stellenwert wie diejenigen Eigenschaften, die das Tischsein ausmachen – etwa die Tatsache, aus einer Platte mit Beinen zu bestehen. Und trotzdem gehört es auf eine wesentliche Weise zum Tischsein, dass er eine Beschaffenheit – unter anderem eine Farbe – hat. Inwiefern ist vor dem Hintergrund dieser Beispiele die doppelte Negation konstitutiv für die Bestimmung des Etwas? Wenn Hegel die äußerliche Reflexion korrigiert, dann verfolgt er damit nicht den Ansatz, dass das, was alltäglich unterschieden wird, in Wahrheit doch eins ist – etwas und seine Grenze, die inhärente Bestimmung und die äußere Beschaffenheit, das Identische und das Verschiedene. Das Etwas repräsentiert in Hegels Seinslogik eine Kategorie – die Möglichkeitsbedingung, etwas überhaupt zu denken. Nur in diesem Sinne lässt sich behaupten, dass sich das Etwas durch die Einbeziehung seiner Grenze, seiner Äußerlichkeit, seiner Veränderlichkeit konstituiert. Hegels Konzept der Negativität besagt nicht, dass ein Gegenstand sich auf eine mysteriöse Weise durch eine doppelte Negation konstituiert, bzw. durch den Einschluss dessen, was es ausschließt. Sondern nur die Kategorie des Etwas beruht auf einer Negation der scheinbaren Negationen, d. h. auf der Implizitheit von extrinsischen Kategorien. Es geht somit nicht darum, dass ein Ding durch die Einbeziehung seiner Andersheit als Ding zustande kommt, sondern darum, dass Gegebenheit sich nur
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dann als bestimmt denken lässt, wenn dabei Andersheit, Grenze und Beschaffenheit mitgedacht werden. Die Darstellung in der Seinslogik hat die Ontologie zum Gegenstand, d. h. die Rede vom Sein – die möglichen Auffassungen von Sein, Dasein, Etwas, usw. Hegels Verfahren hat eine präzisierende Exposition dieser Auffassungen zum Zweck, und zwar die jeweils konstitutiven, in den unmittelbaren und damit abstrakten Vorstellungen enthaltenen Kategorien systematisch zu entüllen. Das logische Vorgehen darf deshalb nicht progressiv missinterpretiert werden, als ob die ontologischen Kategorien in einem Entstehungsprozess hervorgerufen werden, insofern sie sich mit einer Andersheit bereichern und in eine breitere Kategorie übergehen – als ob das Dasein aus dem Werden, das Etwas aus dem Dasein, die Veränderung aus der Bestimmtheit buchstäblich entstehen würden. Sondern die logische Exposition soll hervorheben, dass die Kategorie des Daseins mit der Kategorie des Werdens, die Kategorie der Bestimmtheit mit der Kategorie des Daseins und die Kategorie der Grenze mit der Bestimmtheit immer schon mitgedacht werden. Die Stufen der Seinslogik bzw. die dargestellten Kategorien repräsentieren demnach immer nähere Bestimmungen einer unmittelbar gegebenen Kategorie.¹⁶ Die in der logischen Darstellung entfalteten Kategorien sind somit in anfänglichen, einfachen Kategorien immer schon enthalten. Die unbestimmte Allgemeinheit einer breiten Kategorie wie diejenige des „Seins“ birgt in sich die anderen ontologischen Kategorien. Diese anderen Kategorien bestimmen sogar, was unter Sein unmittelbar gemeint ist. Eine unmittelbare Kategorie scheint selbstgenügsam zu sein, insofern dabei von dem, was zur Konstitution der Kategorie eigentlich gehört, abstrahiert wird. Wenn dies der Fall ist, dann ist der Terminus der Negation ein heuristisches Instrument für all das, wovon in den unmittelbaren Kategorien abstrahiert wird. Das Verhältnis zwischen einer unmittelbaren Denkbestimmung und der mitkonstituierenden Kategorie, wovon abstrahiert wird, erscheint zunächst als eins der Negation. In diesem Sinne verweisen die von Hegel behandelten, mannigfachen Negationen – das Nichtsein, das Anderssein, die Grenze und die Schranke in der Seinslogik oder der Schein, die Differenz und der Widerspruch in der Wesenslogik – jeweils auf eine kategoriale
In den Worten von Jean-Luc Nancy handelt es sich in der Verneinung der unbestimmten Unmittelbarkeit des Seins um das Sinn-Werden von Sein. Das Sein „c’est de se nier comme être pour devenir sens. En devenant sens, l’être ne se supprime pas comme on détruit quelque chose. Il nie être l’être de la subsistance impénétrable, et dans cette négation il affirme être l’être du sens“ (Nancy 1997, 78).
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Vermittlungsebene, die auf einer bestimmten Unmittelbarkeitsstufe der logischen Bestimmungen implizit ist.¹⁷ Vor diesem Hintergrund repräsentiert das Nichts am Sein selbst, das am Anfang der Logik angeführt wird, den Inbegriff all dessen, was die Unmittelbarkeit des Seins vermittelt. Hegel schreibt im Anschluss an Spinoza, dass der Inbegriff aller Realität „Inbegriff aller Negationen“ ist – d. h. „der Inbegriff aller Schranken und Endlichkeiten“, die solche nur sind, insofern sie „sich selbst aufheben“ (GW 11, 76). Die Negationen heben sich auf, insofern sie eine konstitutive Funktion für diejenigen Bestimmungen haben, zu welchen sie in einem negativen Verhältnis zu stehen scheinen. Diese konstitutive Funktion der Negationen wird in der Ordnung der Wissenschaft der Logik anerkannt und aufgezeigt, sie ist aber in der Ordnung unseres Denkens immer schon implizit und wirksam. Die so verstandenen Negationen sind nicht mögliche Prädikate von disjunktiven Urteilen (jegliches non-A für ein Prädikat A), sondern kategoriale Bedingungen der Prädikate selbst (dasjenige scheinbare, kategoriale non-A, das stillschweigend den Sinn der Kategorie A mitkonstituiert). Das spinozistische Motiv determinatio est negatio bedeutet bei Hegel nicht, dass A ist, was es ist, insofern es nicht nicht-A ist. Hegel gibt diesem Prinzip eine andere Konnotation: A ist, was es ist, insofern das, was gegenüber dem A eine Negation zu sein scheint, eigentlich mitkonstitutiv ist. Um ein wohlmöglich simplifizierendes Beispiel zu geben: Das Rot wird nicht als rot wahrgenommen, weil Rot nicht Grün ist, sondern weil mit dem Rot zugleich die Kategorie der Farbe mitgedacht wird, die als Gattung von der besonderen Farbe „rot“ unterschieden wird und worunter andere Farben angenommen werden müssen. Dieses Beispiel gilt in der Logik nicht für einzelne Phänomene, sondern für die logischen Kategorien selbst.¹⁸
Dieter Henrichs These, der Sinn der Negation sei bei Hegel „ein Konglomerat“ aus den Konzepten des Negativen, des Andersseins, der Differenz, des Widerspruches usw. ist treffend, sie beruht aber auf einem fragwürdigen Verständnis der Andersheit: Henrich scheint unter der Andersheit das Nicht-Ich des denkenden Ichs zu verstehen. Diese von Fichte inspirierte Interpretation entspricht aber nicht dem Rahmen der Hegelschen Logik. Unter Andersheit versteht Hegel keine Objektivität gegenüber der Subjektivität, sondern eine Dimension von begrifflichen Bestimmungen, wovon in der Unmittelbarkeit abstrahiert wird. Vgl. Henrich 1978. Die Begriffslogik wird diese für die gesamte Logik maßgebliche Struktur enthüllen: Vom Standpunkt des Besonderen wird das Allgemeine als Negation empfunden, obwohl das Allgemeine das Besondere erst ermöglicht. Das Allgemeine ist aber, was es ist, nur insofern es sich im Einzelnen konkretisiert.Wenn aber im Hinblick auf die logischen Kategorien eine oberste Gattung angenommen werden muss, dann ist diese – als Totalität der Bestimmungen, die am Anfang der Logik das Nichts verkörpert und vorwegnimmt – nicht als eine einzelne Bestimmung denkbar, sondern nur im Prozess der Darstellung artikulierbar. Die Totalität der Denkbestimmungen – der logische Raum selbst – hat somit ein Leben nur an den einzelnen Denkbestimmungen.
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Hegels Methode entspricht daher nicht so sehr einem Fortschreiten aus dem Nichts zur Ausbildung der ontologischen, metaphysischen und transzendentalen Kategorien, sondern vielmehr einem Rückgang in das anfängliche Nichts am Sein. Dieses ist kein leeres Nichts, sondern ein Reichtum von latenten Bestimmungen. Das Reich der Negationen ist die inhärente Totalität der Denkbestimmungen, die in einer unmittelbaren Bestimmung implizit sind. Der Fortgang der logischen Methode kann demnach als eine fortschreitende Spezifikation des Nichts beschrieben werden, im Laufe dessen die scheinbaren Negationen aufgehoben werden, insofern die Zugehörigkeit von Denkbestimmungen zu einem einheitlichen Zusammenhang erkannt wird. Das Nichts am Sein wird als Werden präzisiert, das Nichtsein des Werdens als Dasein. Das Dasein selbst ist „Sein mit einem Nichtsein“ (GW 11, 60) und lässt sich durch die Spezifikation dieses Nichtseins bestimmen, das sich als die Kategorie der Grenze, der Beschaffenheit oder der Veränderung erweist. Die unmittelbaren Kategorien werden aufgehoben, insofern sie eine präzisere, reichere, und daher auch unterschiedliche Bedeutung erlangen. Etwas wird insofern aufgehoben, so Hegels Definition in der Seinslogik, als „es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist“ (GW 11, 58). Die Stelle, an welcher Hegel den Begriff der Negation in der Seinslogik thematisch einführt, versucht, den immanenten Verweis einer unmittelbaren Bestimmung auf eine andere aufzuzeigen – was Hegel als Verhältnis von „Sollen“ und „Schranke“ formuliert (GW 11, 73 – 75). Die Denkbestimmungen, die in einer unmittelbaren Kategorie implizit sind, erscheinen als Negationen, weil sie die Selbständigkeit der betreffenden Kategorie zu gefährden scheinen. Die Veränderung der Beschaffenheit scheint beispielsweise die interne Bestimmtheit des Etwas aufzulösen. Der Versuch, die innere Bestimmtheit des Etwas gegen seine Beschaffenheit zu behaupten, offenbart aber zwei bedeutsame Aspekte: Einerseits erweist sich die innere Bestimmtheit als abhängig, insofern sie auf die Negation einer inhärenten Schranke bzw. der unausweichlichen Beschaffenheit angewiesen ist, und dadurch als ein Seinsollendes, insofern sie noch nicht ist, was sie sein soll, nicht mehr das ist, was sie unmittelbar zu sein scheint, und zwar selbständige Bestimmung. Andererseits ist die Negation der Schranke ein Übersichhinausgehen, insofern die Schranke – die negierte Grenze – doch zur Bestimmtheit des Etwas gehört. Die Schranke zu negieren, bedeutet nicht nur, sich durch die Negation des Andersseins zu bestimmen, sondern in eins damit, die eigene Bestimmung zu negieren – und dadurch über die eigene, scheinbar selbständige Bestimmtheit hinauszugehen. Auf einen Punkt gebracht: Das Etwas erhält seine Bestimmung nur, insofern es seine Grenze negiert – „und indem die Grenze die Bestimmung selbst ist, geht Etwas damit über sich selbst hinaus“ (GW 11, 74).
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Wenn eine Bestimmung durch die Negation ihrer Schranke über sich selbst hinausgeht, dann wird dadurch sichtbar, dass sie von anderen Bestimmungen vermittelt wird. Die Negation der Schranke ist ein Übersichhinausgehen, insofern sie eine Negation der ersten Negation ist, wodurch diese – die unmittelbare Andersheit – als konstitutiv enthüllt wird. Hegel schließt diesen Gedankengang mit der Anmerkung ab: „Diese Negativität ist es, die das Einfache ist, welches als Aufheben des Andersseins in sich zurückkehrt; die abstrakte Grundlage aller philosophischen Ideen und des spekulativen Denkens“ (GW 11, 77). In der Negation der Negation wird ein Zusammenhang von Denkbestimmungen erschlossen, welcher der unmittelbaren Bestimmung bereits zugrunde liegt. Die Anerkennung der ersten Negation als konstitutiv führt nicht zu einer anderen Bestimmung, sondern zur ermöglichenden Bedingung der unmittelbaren Bestimmung selbst. Anders gesagt: Die umfassende Bestimmung, die im Prozess der logischen Darstellung jeweils offenbart wird, ist ein konstitutives Moment der Unmittelbarkeit. Hegel formuliert es derart, dass das Aufheben des Andersseins „die wiederhergestellte Gleichheit mit sich“ ist (GW 11, 83). Dieser anamnetische Charakter der Negativität ist für die logische Entfaltung von Begriffen wesentlich, weil die Entfaltung der Denkbestimmungen dadurch möglich ist, dass diese im unmittelbar Gegebenen als Vergessenes und Negiertes bereits enthalten sind. Die Latenz der Vermittlungen ermöglicht demnach das logische Verfahren und die logischen Übergänge.¹⁹
B Gegebenheit, Vergessenheit, Erinnerung Hegels Beschreibung der dialektischen Methode am Ende der Logik verdeutlicht den zentralen Stellenwert von unmittelbaren Denkkategorien für die logische Darstellung. Wenn der Anfang der philosophischen Wissenschaft bei einem ein-
Hegel verbindet die Bedeutung der Negativität mit dem Endlichkeitscharakter der Denkbestimmungen: „Im Sollen beginnt überhaupt der Begriff der Endlichkeit und damit zugleich das Hinausgehen über sie, die Unendlichkeit“ (GW 11, 75). Das Dasein ist endlich, insofern es seine Bestimmung nicht durch sich selbst erhält, und unendlich, insofern es seine Bestimmtheit durch ein Anderes erhält und so „über sich als die Schranke hinausgeht“ (GW 11, 79). Es ist „die Natur des Endlichen selbst, über sich hinauszugehen, die Negation zu negieren und unendlich zu werden“ (GW 11, 79). Das Endliche kann in eine andere Bestimmung übergehen, weil es bereits von anderen latenten Bestimmungen vermittelt wird. In Hegels Worten: Das Endliche hat die Möglichkeit, „sich selbst aufzuheben“, weil „es also das Anderssein seiner Bestimmung an ihm selbst hat“ (GW 11, 82). Das Endliche ist in dem Sinne unendlich, als dass es einen Reichtum von Bestimmungen in sich enthält, und die wahre Unendlichkeit besteht also „in dem Hinausgehen über das Anderssein als der Rückkehr zu sich selbst“ (GW 11, 82).
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fachen Unmittelbaren gemacht wird (vgl. GW 12, 249 – 250), dann ist die dialektische Methode, sowohl in ihrer analytischen als auch in ihrer synthetischen Dimension, durch die Aufgabe charakterisiert, einen anfänglich gegebenen Inhalt in seinen ihm inhärenten Begriffsbestimmungen zu entfalten. Der unmittelbare Anfang ist kein vorhandener Gegenstand, der in einer sinnlichen Anschauung gegeben wäre, sondern eine geistige Bestimmung – „der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder auch ein Name; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen er ist, was er ist“ (GW 12, 244). Das logische Vorgehen beginnt somit bei einem Unmittelbaren „des Denkens, das man wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches Anschauen nennen kann“ (GW 12, 239). Diese unmittelbare, anfängliche Begriffsbestimmung wird von Unbestimmtheit charakterisiert – trotz oder gerade wegen ihrer selbstverständlichen Bestimmtheit. Die Unbestimmtheit ist der eigentümliche Inhalt der logischen Anfänge und alle Anfänge in der Logik – das Sein, das Wesen und der Begriff – agieren als eine „erste Allgemeinheit“ (GW 12, 239). Die Unbestimmtheit des Unmittelbaren ist aber kein leerer Inhalt, sondern besteht „in ihrer Negativität als aufgehobener Vermittlung“ (GW 12, 250). Als Aufhebung der Vermittlung bezeichet Hegel hier die Tatsache, dass die konstitutive Vermittlung einer unmittelbaren Bestimmung – das, was die unmittelbare Verständlichkeit eines gegebenen Sinngehaltes ermöglicht – vergessen und verborgen wird. Es liegt an der Gegebenheit eines unmittelbaren Bedeutungszusammenhanges, dass das ihn Bestimmende abwesend ist. Erst aufgrund dieses Verschwindens der Bestimmung erscheint der Anfang als das, was er ist – als eine Gegebenheit.²⁰ Laut Hegel ist jedes Unmittelbare „als Abstraktes […] schon gesetzt als mit einer Negation behaftet“ (GW 12, 240). Hegel greift damit die wichtige Funktion der ersten Negation auf, die im vorigen Abschnitt erläutert wurde. Die Negation, womit das Unmittelbare behaftet ist, manifestiert sich als inhärente Bezugnahme auf eine andere, negative und widersprüchliche Bestimmung. Jedes Unmittelbare erweist sich dadurch „als Vermitteltes, bezogen auf ein Anderes“ (GW 12, 244). Das Allgemeine erscheint als Negatives für das Einzelne, das Viele als Negation des Einen. Die Zugehörigkeit des scheinbar Negativen zur unmittelbaren Bestimmung kann allerdings nicht durch ein korrektives Urteil erfasst werden. Hegel unterstreicht dahingehend, dass Sätze wie „das Einzelne ist ein Allgemeines“ inadäquat sind (GW 12, 245) und dass das Urteil „unfähig ist, das Spekulative und die
Zum Argument, dass Hegel die Unmittelbarkeit als Resultat einer negierten Negation erfasst, vgl. Henrich 2010.
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Wahrheit in sich zu fassen“ (GW 12, 245). Das wahre Verhältnis von scheinbar entgegengesetzten Bestimmungen besteht nicht bloß in einem Subjekt-PrädikatVerhältnis. Die widersprüchlichen Bestimmungen gehören vielmehr in ein übergreifendes Drittes zusammen, welches die unmittelbaren, einzelnen Bestimmungen in ihrer Gegebenheit vermittelt. So kommt es im dritten Schritt des dialektischen Vorgehens nicht darauf an, die negativ-widersprüchliche Bestimmung als Prädikat einer ersten Bestimmung anzuerkennen, sondern darauf, das holistische Gefüge der begrifflichen Bestimmungen einzusehen. Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte – enthält überhaupt die Bestimmung des Ersten in sich. Das Erste ist somit wesentlich auch im Anderen aufbewahrt und erhalten (GW 12, 244– 245).
Der Übergang vom ersten Unmittelbaren zu einem Anderen – die sogenannte bestimmte Negation – könnte den Eindruck eines Progresses erwecken. Die zweite Bestimmung scheint die erste nicht nur zu enthalten, sondern auch zu überwinden. Der logische Progress besteht jedoch nur in einer Spezifikation der unmittelbaren Bestimmung und nicht in der Erzeugung von immer neuen Bestimmungen. In der logischen Darstellung wird aus dem Unmittelbaren nichts Neues abgeleitet, sondern es wird gezeigt, dass das Unmittelbare selbst immer schon ein Abgeleitetes ist. Wenn der Anfang „als Vermitteltes und Abgeleitetes“ ist, dann ist die „bestimmte Negation“ eigentlich die Enthüllung des Zusammenhanges, der den Anfang vermittelt (GW 12, 249). Der Anfang wird somit als ein Abgeleitetes erwiesen, insofern seine transzendental vergangene Ableitung im Resultat dargestellt wird. Jeder Schritt des logischen Vorgangs ist dadurch „auch eine Rückannäherung“ – „das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen desselben“ (GW 12, 251). Der Rückgang und die Vorwärtsbewegung fallen in der dialektischen Methode ineinander, die demnach darin liegt, bei einfachen Bestimmungen anzusetzen und deren konstitutive Vermittlungsschichten zu entfalten, damit die Bestimmung der Sache „immer reicher und konkreter“ wird (GW 12, 250).²¹ Was anfänglich gegeben wird, „verliert durch sein dialektisches Fortgehen nicht nur nichts, noch läßt es etwas dahinten, sondern trägt alles Erworbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich“
Das Sein, das am Anfang der Logik in seiner unmittelbaren Unbestimmtheit erscheint, erweist sich so am Ende des dialektischen Durchgangs als „erfülltes Sein, der sich begreifende Begriff, das Sein als die konkrete ebenso schlechthin intensive Totalität“ (GW 12, 252).
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(GW 12, 250). Vorwärts bewegt sich die begriffliche Entfaltung daher nur im Sinne des immanenten Weiterbestimmens und nicht der Ableitung eines noch Unbekannten aus dem Bekannten. Jedes Unmittelbare ist möglich „durch Aufhebung der Vermittlung, das Einfache durch Aufheben des Unterschiedes, das Positive durch Aufheben des Negativen, der Begriff, der sich durch das Anderssein realisiert“ (GW 12, 248). Was aber einen ersten Anfang vermittelt, ist nicht bloß eine zweite, einfache und entgegengesetzte Bestimmung, sondern ein dritter, übergreifender Zusammenhang. Und das Dritte ist nicht durch die Urteilsform zu fassen, weil das Dritte „nicht ein ruhendes Drittes, sondern eben als diese Einheit die sich mit sich selbst vermittelnde Bewegung und Tätigkeit“ (GW 12, 248) ist. Wenn Hegel unter dem Dritten letztlich die Ganzheit der Denkbestimmungen oder den logischen Raum selbst versteht, dann ist dieser Raum nur im Prozess der Darstellung ersichtlich – und nicht als ein einfacher und selbständiger Gedanke, der auf einmal denkbar wäre. Selbst wenn die Logik die begriffliche Verfassung der Welt allmählich erschließt und so der „alles als Begriff wissende Begriff“ ist (GW 12, 250), lässt sich der logische Raum nicht in einer Bestimmung oder in einem Gedanken zusammenfassen, sondern nur an der Lebendigkeit der einzelnen Denkbestimmungen erweisen. In dieser Hinsicht ist die Beschreibung des Logischen als Raum inadäquat, weil das Logische sich nicht durch feste Koordinaten charakterisiert, die in einer intellektuellen Anschauung oder in einer übergreifenden Bestimmung zugänglich wären. Das Logische ist vielmehr die Form oder die Natur des begrifflichen Tätigseins – d. h. der Art und Weise, in der das geistige In-der-Welt-sein jeweils begrifflich tätig ist.²² Die Darstellung der Bestimmungen, die einem gegebenen Sinngehalt immanent sind, macht die analytische Seite der dialektischen Methode aus. Die Methode findet „die weitere Bestimmung ihres anfänglichen Allgemeinen ganz allein in ihm“ (GW 12, 242). Insofern aber das, was im gegebenen Anfang immanent ist, diesem gegenüber als ein Anderes und Negatives erscheint, ist die Methode der logischen Darstellung synthetisch – da sie scheinbar andersartige Bestimmungen zusammenbringt: „Dieses sosehr synthetische als analytische Moment des Urteils, wodurch das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst, als das Andere seiner selbst sich bestimmt, ist das Dialektische zu nennen“ (GW 12, 242).
Im vorigen Kapitel (VI: „Die Bedeutung der Vernunftbegriffe“) wurde erläutert, inwiefern Hegel den begrifflichen Raum nicht als subjektiv versteht und inwiefern die Logik nicht einer Kategorienlehre der subjektiven Transzendentalität entspricht. Die logische Konstitution von Sinn hat für Hegel weder ein transzendentales noch ein transzendentes, sondern ein „immanentes Prinzip“, das sowohl den geistigen als auch den lebendigen Bereich umfasst.
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Insofern die logische Darstellung das, was im Anfang latent enthalten ist, erschließt, ist der sich als Begriff wissende Begriff die Er-innerung dessen, was im Unmittelbaren zwar vergessen wird, aber darin noch verborgen liegt. In diesem Sinne ist „die Offenbarkeit“ des Gegebenen, um eine Formel aus dem letzten Kapitel der Phänomenologie des Geistes anzuwenden, „in der Tat Verborgenheit“ (GW 9, 428). Dieser zentrale Stellenwert des Anfangs für die dialektische Methode veranlasst einen skeptischen Einwand: Muss die Dialektik nicht von einer zuvor gesicherten Erkenntnis bzw. von einer wahrhaften Gegebenheit ausgehen, damit die logische Entwicklung auf einem festen Boden verläuft? Repräsentiert die unbestimmte Unmittelbarkeit des Anfangs nicht eine Vielfalt von hypothetischen Anfängen? Der erkenntnistheoretische Skeptizismus zeichnet sich nicht nur durch die Forderung nach einer letzten Versicherung der Erkenntnismittel aus, d. h. „ehe man an die Sache gehe, das Instrument des Erkennens kritisch zu untersuchen“ (GW 12, 251), sondern auch durch die Forderung nach einem sicheren Anfang der Erkenntnis. Wenn Hegel die erste Forderung des erkenntnistheoretischen Skeptizismus wegen des vorausgesetzten Dualismus von subjektivem Erkennen und objektiver Wahrheit kritisiert (vgl. Kap. VI.2.A: „Die Objektivität des Begriffs und der Horizont der Verständlichkeit“), erkennt er im zweiten Anspruch die Annahme, dass objektive Wahrheit die Form der reinen Gegebenheit haben muss. Selbst wenn er den Zugang dazu für unmöglich hält, betrachtet der Skeptizismus das Gegebene als unumstößlich. Damit geht die Ansicht einher, welche auch die Rede von einer intellektuellen Anschauung des Absoluten teilt, dass das Erkennen des Wahren unmittelbar sein und auf die begriffliche Vermittlung verzichten soll. Die Ungeduld, die über das Bestimmte, es heiße Anfang, Objekt, Endliches, oder in welcher Form es sonst genommen werde, nur hinaus und unmittelbar sich im Absoluten befinden will, hat als Erkenntnis nichts vor sich als das leere Negative, das abstrakt Unendliche – oder ein gemeintes Absolutes (GW 12, 252).
Der Dialektik wird nicht nur vorgeworfen, dass sie bei einem unsicheren Anfang ansetzt, sondern auch, dass ihr Resultat rein negativ ist – die Dialektik sei durch den Frevel charakterisiert, „der das wesentlich Feste wankend zu machen suche und dem Laster Gründe an die Hand zu geben lehre“ (GW 12, 243). Dahinter steht die Befürchtung, dass die Entfaltung unmittelbarer Gedanken zum Verlust ihrer selbstverständlichen Bestimmung oder zur Vernichtung unbestimmbarer, unbegreifbarer Bedeutungsgehalte führt. Dagegen erwidert Hegel: „insofern die Dialektik aber sittliche Bestimmungen aufhebt, [soll man] zur Vernunft das Vertrauen haben, daß sie dieselben, aber in ihrer Wahrheit und dem Bewußtsein ihres Rechtes, aber auch ihrer Schranke, wieder herzustellen wissen werde“ (GW 12,
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243). Obwohl die dialektische Methode jede anfängliche Gegebenheit hinterfragt und ihre unmittelbare Selbstverständlichkeit aufhebt, ist ihr Ziel eigentlich die Wiederherstellung der anfänglich in Anspruch genommenen Bedeutungsgehalte. Die Dialektik hat die Aufgabe, Sinnzusammenhänge in ihrem Reichtum von Bestimmungen begrifflich zu entfalten. Zu diesem Zweck geht die dialektische Methode von keinem vorausbestimmten Standpunkt aus, sondern setzt bei der unmittelbaren Form an, in der sich geistige Bestimmungen – in Meinungen, Redewendungen und Wissensansprüchen – befinden.
C Der Geltungsbereich der Negativität Wenn die logische Darstellung die impliziten Bestimmungen eines unmittelbaren Sinngehaltes entfaltet, dann wird in der Darstellung die Konstitution jenes Sinngehaltes erschlossen. Was in der begrifflichen Artikulation aufgefaltet wird, ist, mit anderen Worten, die transzendentale Vergangenheit eines einfachen Sinngehaltes. Wird dadurch Hegels Begriff der Negativität vorwiegend als Konstitutionsprinzip der geistigen Welt bzw. des Bereiches unserer grammatischen, epistemischen, normativen und weltanschaulichen Kategorien verstanden, so scheint diese Ausdeutung den Geltungsbereich der Dialektik einzuschränken – angesichts der Tatsache, dass Hegel das Konzept der Negativität mit einem breiteren Objektivitätsanspruch verbindet. Wenn die Negativität das Logische selbst bestimmt, dann ist die „logische Form“ des Begriffs von der „geistigen Gestalt des Begriffs“ „unabhängig“: Die logische Form hat auch im Bereich der Natur Geltung (GW 12, 20; GW 12, 236). Wenn man von der Objektivität des Logischen redet, dann muss zwischen zwei Problembereichen unterschieden werden. Die eine Problematik betrifft die Frage nach der Objektivität des Logischen im Hinblick auf die Verfassung der Realität in einem breiten Sinne oder der Natur in einem engeren Sinne. Diese Konnotation der Frage nach der Objektivität des begrifflichen Raumes entspricht einem bestimmten erkenntnistheoretischen Paradigma, das Hegel in seinem Grundannnahmen abzuweisen versucht.²³ Diesem Paradigma gemäß bedarf das menschliche Erkenntnisvermögen einer fundamentalen Rechtfertigung, um die
Anton F. Koch (2014b) argumentiert, dass der Dualismus von Subjektivität und Objektivität, Begriff und Sache, Sprache und Welt in der Begriffslogik keine Rolle spielt, weil beide Dimensionen derselben Realität des logischen Raumes gehören. Hegels Kategorienlehre ist nicht mit Fragen beschäftigt, die erst aufgrund von subjektivistischen Annahmen möglich sind. In diesem Sinne behauptet auch Houlgate (2015), dass die Logik kein transzendentales Projekt ist, welches die Bedingungen der Erkenntnis aufklärt, sondern eine Ontologie.
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Möglichkeit der eigenen Objektivitätsträchtigkeit zu begründen. Dieses erkenntnistheoretische Bedenken, das dem subjektiven Idealismus zugrunde liegt und für den Skeptizismus verantwortlich ist, beruht auf der Auffassung der begrifflichen Erkenntnis als einer rein subjektiven, weltfremden Tätigkeit und der Wahrheit als einer dem menschlichen Geist fremden, unzugänglichen Objektivität. Demzufolge hat das Erkenntnissubjekt die Pflicht, die Möglichkeit des Überganges aus seiner solipsistischen Sphäre zum objektiv Gegebenen zu rechtfertigen. Wie im vorigen Kapitel argumentiert wurde, besteht Hegels Antwort auf dieses Bedenken keineswegs darin, den objektiven Gehalt von subjektiven Wissensansprüchen zu belegen, die Realitätsdimension von transzendentalen Erkenntnisformen aufzuweisen oder den subjektiven Pol der transzendentalen Konstitution des Realen mit einem objektiven Pol der anschaulichen Gegebenheit auszugleichen, sondern in einer grundlegenden Kritik des Paradigmas, welches diese Forderungen überhaupt geltend macht (vgl. Kap. VI.3: „Der Begriff als lebendige Wirklichkeit“). Wenn das Subjekt nicht als ein verkapselter Wahrnehmungsapparat gedacht wird, dann wird auch die objektive Welt nicht als eine Ansammlung von Substanzen und Kräften begriffen, deren reales Wesen sich uns entzieht. Wenn die Subjektivität als Geist umgedacht wird, bzw. als eine in das Leben eingewickelte, geschichtlich und gesellschaftlich konstituierte Subjektivität, dann wird auch der Begriff der Objektivität selbst umgedeutet – sie ist nicht mehr die Objektivität der Anschauung, der empirischen Gegebenheit oder der äußerlichen Gegenständlichkeit, deren Existenz hinterfragt würde, sondern die Objektivität des Geistes.²⁴ Damit kommt ein anderes philosophisches Problem zum Ausdruck. Nach der Objektivität auf diese Weise zu fragen, bedeutet, einerseits nach der lebendigen Natur des Menschen zu fragen, um aufzuklären, inwiefern seine kognitiven, epistemischen, normativen und ästhetischen Fähigkeiten im Bereich der Natur einheimisch sind; und andererseits nach der Konstitution des Bereichs zu fragen, in dem die sprachlichen Bedeutungszusammenhänge und die normativen Ideen des praktischen Geistes eine konkrete Materialität haben bzw. immer schon realisiert sind. Hegel bezeichnet diesen Bereich als objektiven Geist. Die Vorrede der Phänomenologie des Geistes formuliert das Projekt einer philosophischen Wissenschaft, welche die Wirklichkeit des Geistes zum Gegenstande hat. Die Vorrede beginnt mit einer Erläuterung der Natur der philosophi Anders gesagt: Wenn das konstruktivistisch-skeptische Paradgima, demzufolge Subjektivität und Objektivität prinzipiell verschieden sind und das Reale einen wahren Kern hat, der der subjektiven Begrifflichkeit wesentlich unzugänglich ist, ausgeräumt wird, dann ist die Frage nach der Konstitution der geistigen Welt eine Frage nach der Objektivität und nicht nur der Subjektivität des Geistes.
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schen Wissenschaft. Womit diese Wissenschaft den Anfang macht, ist laut Hegel die „Unmittelbarkeit des substantiellen Lebens“ bzw. die „Kenntnisse allgemeiner Grundsätze und Gesichtspunkte“ (GW 9, 11). Die Wissenschaft beginnt mit den Welt- und Wahrheitsvorstellungen, wie sie in einer bestimmten Zeit gegeben sind. Wenn die Wissenschaft selbst keinen theoretischen Standpunkt vetritt, sondern bei den vorgefundenen Wissensansprüchen und Bewusstseinsgestalten ansetzt, dann besteht die erste Aufgabe der Wissenschaft darin, diese theoretischen Standpunkte nicht als isoliert zu betrachen, sondern ihren Zusammenhang und ihre Entwicklung aufzuweisen. Hegel erläutert diesen Gedanken am folgenden Beispiel: Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; eben so wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich mit einander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus (GW 9, 10).
Das Bild veranschaulicht einerseits die Natur von theoretischen Einstellungen, die sich in ihrer Einseitigkeit gegenseitig auszuschließen scheinen, wie die Frucht der Knospe zu widersprechen scheint. Als Metapher verweist das Bild darauf, dass die philosophische Wissenschaft den Schein dieser Einseitigkeit aufzuheben hat, insofern sie aufzeigt, dass die einzelnen philosophischen Standpunkte Momente eines übergreifenden Ganzen sind und in einem dynamischen Prozess zustande kommen.²⁵ Andererseits ist dieses Bild bedeutsam, insofern es die Entwicklung von theoretischen Einstellungen mit einem Lebensprozess vergleicht. Die Analogie deutet damit darauf hin, dass Hegel das menschliche begriffliche Vermögen als lebendig und organisch erfasst (vgl. Kap VI.3.C: „Die Aktualität des Begriffs), weswegen er in der Vorrede der Phänomenologie für die Objektivität des Begriffs den Ausdruck der „lebendigen Substanz“ verwendet, wie im Folgenden argumentiert wird. Die philosophische Wissenschaft befasst sich zunächst mit dem Bereich der möglichen theoretischen Einstellungen, d. h. mit den unmittelbaren Gestalten des Wissens, die gemeinsam eine organische Ganzheit bilden. Damit geht die These einher, dass die Form, in der sich unsere Wissensansprüche und Weltanschau Ein theoretischer Standpunkt ist als solcher einseitig, weil er die Erkenntnis als Standpunkt versteht. Dagegen behauptet Hegel: „Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden“ (GW 9, 10).
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ungen unmittelbar befinden, begrifflich verfasst ist. Deshalb betont Hegel, dass die Wahrheit „an dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz“ hat (GW 9, 12), und widmet einen großen Teil der Vorrede der Kritik am Unmittelbarkeitsansatz philosophischer Diskurse, welche das Gegenteil des Begriffs als Grundlage ihrer eigenen Standpunkte betrachten – sei es die Anschauung (im Fall des Empirismus) oder das unmittelbare Wissen des Absoluten (im Fall einer bestimmten Form des Idealismus).²⁶ Der letzten Ansicht gemäß soll „das Absolute […] nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut, nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen“ (GW 9, 12). In den philosophischen Reden von der „Ekstase“, der „Genügsamkeit des Empfanges“ oder dem „unbestimmten Genuss“ einer „unbestimmten Göttlichkeit“ (GW 9, 12 – 13) erkennt Hegel nicht nur ein „chaotisches Bewußtsein“ und eine „gärende Begeisterung“, sondern vielmehr die tiefliegende Annahme, dass die reine Gegebenheit, die in sich nicht begrifflich sei, allein objektive Wahrheit habe (vgl. Kap. VI.2.B: „Das Unbegreifliche als Leitmotiv der Moderne“). Diese Berufung auf das Gegebene, die „verächtlich auf die Bestimmtheit“ blickt und glaubt, dass die „Begeisterung und Trübheit etwas Höheres als die Wissenschaft“ sei (GW 9, 14), weicht der Artikulation ihres eigenen Wissens aus, insofern sie ihre eigene begriffliche Grundlage verleugnet. Deswegen charakterisiert sie sich, so Hegel, durch „eine leere Tiefe“ und durch die „Zufälligkeit des Inhalts“ (GW 9, 14). Hegels Argument dagegen lautet: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut“ (GW 9, 14).²⁷ Dieses Argument besagt, dass Erfahrungen und Weltanschauungen Sinngehalt in dem Ausmaß haben, in dem sie begrifflich artikuliert werden. Die Artikulation von Erfahrungen ist keine Übersetzung eines Sinngehaltes in begriffliche Mittel, sondern sie erschließt die impliziten theoretischen Annahmen einer unmittelbaren Position – d. h. die Tatsache, dass selbst Ansprüchen auf unbegriffliche Inhalte begriffliche Prämissen zugrundeliegen. Dadurch rückt ein Wissensanspruch oder ein Erfahrungsgehalt ins rechte Licht seines begrifflichen Unterbaues: Insofern dieser als einseitig und begrifflich un-
Zur gemeinsamen Wurzel des Empirismus und des Idealismus vgl. GW 9, 16: „Der eine Teil pocht auf den Reichtum des Materials und die Verständlichkeit, der andre verschmäht wenigstens diese und pocht auf die unmittelbare Vernünftigkeit und Göttlichkeit“. Hegels Kritik an der Genie-Philosophie, die „sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft“, liefert ebenfalls ein wichtiges Argument: Durch die Vereinzelung des Genies, der sich nicht verständlich machen kann, tritt er „die Wurzel der Humanität mit Füssen“. Die Humanität besteht nur in der „Übereinkunft mit anderen“ und „in der zu Stande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein“ (GW 9, 47– 48).
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genügsam in der Selbstartikulation erfahren wird, geht das irreführende Selbstverständnis einer unmittelbaren Wissensform verloren.²⁸ Durch den Gedanken, dass Wissensformen und Erfahrungsgehalte Resultate einer begrifflichen Entwicklung sind, beschreibt Hegel nicht nur die Verfassung der Subjektivität, sondern vielmehr die Objektivität des Geistes. Diese Objektivität besteht in der logischen Ordnung, die den Wissensgestalten inhärent ist, welche wesentlich dadurch charakterisiert sind, dass sie einen Begriff ihrer selbst haben. Die Objektivität der geistigen Gestalten, deren begriffliche Bildung die Phänomenologie aufzeigt, beruht auf der Objektivität der begrifflichen Ordnung, welche die Wissenschaft der Logik zum Gegenstand hat. Vor diesem Hintergrund ist Hegels Grundsatz zu verstehen, dass „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken“ ist (GW 9, 18). Der Satz besagt, dass das, was allgemein als Substanz erfasst wird, nicht ein Anderes des subjektiven Begriffs, aber auch keine bloß subjektive Auffassung der Substanz ist, sondern eins mit der begrifflichen Ordnung des Denkens. Gegen die Annahme, die Substanz sei eine allgemeine Annschaung oder die allgemeine Anschaulichkeit, kommt es für Hegel darauf an, „die Unmittelbarkeit oder das Anschauen als Denken“ zu erfassen (GW 9, 18). Wenn Hegel die Substanz als „die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst“ beschreibt (GW 9, 18), entwickelt er kein metaphysisches Konzept einer selbständigen Substanz, sondern diese Bestimmungen – „die reine einfache Negativität“, „die Entzweiung des Einfachen“, „die entgegensetzende Verdoppelung“, „die Reflexion im Anderssein in sich selbst“ (GW 9, 18) – kommen diskursiven Tätigkeiten zu, die der objektiv-begrifflichen Ordnung des Geistes unterliegen.²⁹
Dieses Argument hängt wesentlich mit dem methodologischen Selbstverständnis der Phänomenologie zusammen. So heißt es in der Einleitung: „Das natürliche Bewußtsein wird sich erweisen, nur Begriff des Wissens, oder nicht reales Wissen zu sein. Indem es aber unmittelbar sich vielmehr für das reale Wissen hält, so hat dieser Weg für es negative Bedeutung, und in ihm gilt das vielmehr für Verlust seiner selbst was die Realisierung des Begriffs ist; denn es verliert auf diesem Wege seine Wahrheit“ (GW 9, 56). Die Tatsache, dass das natürliche Bewusstsein sich für ein reales Wissen hält, bedeutet, dass es gerade der Unmittelbarkeit einer unartikulierten Annahme Sinngehalt zuschreibt. Wenn das unmittelbare Bewusstsein sich aber tatsächlich realisiert, d. h. wenn es sich artikuliert und entfaltet, verliert es seine Wahrheit, insofern es die Einseitigkeit und Ungenügsamkeit der eigenen begrifflichen Grundlage anerkennt. Dem natürlichen Bewusstsein gilt dasjenige als das Reellste, „was in Wahrheit vielmehr nur der nichtrealisierte Begriff ist“ (GW 9, 56). Zur gegensätzlichen These, die Negation wohne bei Hegel den objektiv-ontologischen Sachverhalten inne und nicht nur dem menschlichen Geist, vgl. Henrich 1975; Hübener 1975; Wolff 1986.
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Hegel verschärft dieses Verständnis der Objektivität an einer weiteren Stelle in der Vorrede, wo er behauptet, dass die These, die Substanz sei wesentlich Subjekt, „in der Vorstellung ausgedrückt [wird], welche das Absolute als Geist ausspricht (…). Das Geistige allein ist das Wirkliche“ (GW 9, 22). So heißt es ferner, dass die Substanz „die geistige Substanz“ ist (GW 9, 22). Diese Formulierungen schließen zunächst an den kantisch-transzendentalen Ansatz an, der das sinnvolle Sein nicht als eine ursprüngliche Gegebenheit, sondern als Verstehen von Sein erfasst. In diesem Sinne behauptet Hegel, dass das Sein Denken ist (GW 9, 39) oder dass es „absolut vermittelt“ ist (GW 9, 30). Die philosophische Wissenschaft ist daher der Ort, an dem der Geist bzw. das Verstehen von Sein für sich selbst thematisch wird und „sich so als Geist weiß“ (GW 9, 22).³⁰ Hegel verwendet in der Beschreibung der Aufgabe der Wissenschaft für den Bereich des Geistes auch den Ausdruck „Weltlichkeit“: „Dieser Weg wird durch die Bewegung des Begriffs die vollständige Weltlichkeit des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit umfassen“ (GW 9, 29). Die Welt, die für das natürliche Bewusstsein die vorliegende Welt der Gegenständlichkeit zu sein scheint,³¹ ist also eine geistige, eine begrifflich verfasste Welt. Die Weltlichkeit – die begriffliche Verfassung der Welt – besteht für Hegel jedoch nicht nur in der subjektiv-geschichtlichen Vermittlung einer Welt, sondern sie beruht auf einer logischen Ordnung der Begrifflichkeit, die selbst nicht auf eine subjektive Konstitutionsleistung zurückzuführen ist. Obwohl der Gegenstand der Phänomenologie das Selbstverständnis der unmittelbaren Wissensgestalten bzw. die sprachliche Praxis der geschichtlichen Geistesgestalten ist, Praxis die die objektive Welt des Geistes ausmacht – in dem Sinne, dass die Gegenständlichkeit epistemisch und normativ vermittelt ist –, ist das Ziel der Wissenschaft die Artikulation des logischen Gewebes dieser Gestalten.³² Für das Projekt der philosophischen Wissenschaft kommt es darauf an, die Begriffe, welche die geistige Welt
Wenn der Geist in der wissenschaftlichen Darstellung für sich selbst wird, dann handelt es sich nicht nur um ein Selbsterkennen des Geistes, sondern auch um ein „Selbsterzeugen“ desselben (GW 9, 22). Dieser Gedanke Hegels ist für ein später dargestelltes Argument von Belang, demzufolge die begriffliche Selbstartikulation nicht nur die Erkenntnis des Geistes, sondern auch seine Konstitution umfasst. Ein Bewusstsein, das „von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst, und von sich selbst im Gegensatze gegen sie“ weiß, repräsentiert den „Verlust des Geistes“ und befindet sich nicht im „Element der Wissenschaft“ (GW 9, 23). Vgl. GW 9, 28: Die „wahrhafte Substanz“ hat „nicht die Vermittlung außer ihr, sondern [ist] diese selbst“.Vgl. GW 9, 40: „In dieser Natur dessen, was ist, in seinem Sein sein Begriff zu sein, ist es, daß überhaupt die logische Notwendigkeit besteht; sie allein ist das vernünftige und der Rhytmus des organischen Ganzen, sie ist eben so sehr Wissen des Inhalts, als der Inhalt Begriff und Wesen ist, – oder sie allein ist das Speculative“.
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vermitteln, als Momente einer logischen Ordnung zu erfassen.³³ Dadurch „werden die reinen Gedanken Begriffe, und sind erst, was sie in Wahrheit sind, Selbstbewegungen, Kreise, das was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten“ (GW 9, 28). Wenn die Phänomenologie der Logik den Weg bereitet, insofern sie die logische Ordnung des Begrifflichen jenseites der Dichotomie zwischen dem Subjektiven und dem Gegenständlichen erschließt, dann hat der Begriff, der in der Phänomenologie als Wahrheit des Wissens figuriert, nicht mehr primär den Sinn des subjektiv Begriffenen oder einer subjektiven Transzendentalität, deren objektive Gültigkeit bewiesen werden muss, sondern der Begriff ist die logische Ordnung der Denkbestimmungen.³⁴ Der Grund, warum diese These Hegels hier nur als ein Standpunkt präsentiert wird, ohne die Argumente dafür zu entwickeln, liegt darin, dass dies primär dazu dient, den Geltungsbereich der Negativität zu umreißen. Die Darstellung von unmittelbaren Wissens- und Sinngestalten zielt nicht nur auf die subjektive Konstitution von Sinnzusammenhängen, sondern vielmehr auf die logische Konstitution von Denkbestimmungen. Die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft liegt darin, „das immanente Selbst des Inhalts“ darzustellen (GW 9, 40) und in diesem Sinne macht die Negativität „das einheimische Werden des konkreten Inhalts selbst“ aus (GW 9, 41). Die Darstellung soll sich so „in den immanenten Rhythmus der Begriffe“ hineinarbeiten (GW 9, 42), wofür „der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen“ erfordert wird (GW 9, 18). Hegel denkt die Negativität nicht in Bezug auf das Bewusstsein – als Endlichkeit seines Wissens oder Andersheit der Gegenständlichkeit –, sondern als Konstitutions-
Die Unterscheidung zwischen der Ordnung des Wissens und der logischen Ordnung erinnert an Robert C. Solomons (1983) Ansicht, dass Hegels Philosophie von einer grundlegenden Spannung charakterisiert wird. Laut Solomon ist Hegel einerseits ein heraklitischer Denken der Geschichte und der Veränderung und andererseits ein systematischer Philosoph des Absoluten. Jean Hyppolite (1946) hat zuvor zwischen diesen zwei Tendenzen des hegelschen Denkens unterschieden und diese zwei Akzente, die er als Existenz und Logik kennzeichnet, in der Unterteilung des hegelschen Werkes in die Phänomenologie und die Logik wiedergefunden. In Hegels Worten bedeutet dies, dass das „Element des Wissens“ der Begriff ist (GW 9, 30). Auch das absolute Wissen am Ende der Phänomenologie ist ein Ausdruck für das reine Element des Denkens, dessen Inhalt der Begriff ist – d. h. ein Denken, das von der Dichotomie zwischen der Subjektivität des Begriffs und der Objektivitä des Gegenüberstehenden befreit ist. Der Geist, der den Begriff als sein Element entdeckt, entfaltet sich nun „in diesem Äther seines Lebens, und ist Wissenschaft“. Diese Momente der Bewegung des Begriffs sind nicht mehr Bewusstseinsgestalten, sondern „bestimmte Begriffe“. Der reine Begriff ist so die „von seiner Erscheinung im Bewußtsein befreite Gestalt“ (GW 9, 432).
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prinzip des Logischen, das sich in der Darstellung von Sinnzusammenhängen zeigt.³⁵
2 Darstellung und Konstitution A Die drei Ordnungen der Negativität Die Negativität ist für Hegel demnach das Prinzip des Begrifflichen. Es gibt aber eine dreifache Bedeutung, in der dies der Fall ist: die Ordnung des Wissens, die Ordnung der Darstellung und die Ordnung des Logischen. (1) In der Ordnung des Wissens nennt die Negativität den abstrakten Charakter unmittelbarer Wissensformen. Jedes unmittelbare Wissen abstrahiert von einem begrifflichen Zusammenhang, welcher es implizit vermittelt und im Unmittelbaren als Negation erscheint. Hegel zufolge ist die Verbergung dessen, was es vermittelt, sogar Bedingung des einfachen Wissens.³⁶ Die Negativität ist in diesem Sinne, wie zuvor dargelegt, „Aufhebung der Vermittlung“ (GW 12, 252) und bezeichnet die Latenz eines inferentiell-holistischen Netzes von konstitutiven Begriffen in einem einfachen Sinngehalt. (2) In der Ordnung der Darstellung bezeichnet die Negativität eine Verwandlung des unmittelbaren Wissens, die mit der Darstellung von Sinnzusammenhängen einhergeht. Die Negativität ist in diesem Sinne Aufhebung der Unmittelbarkeit. Die Artikulation der impliziten Begriffe eines unmittelbaren Sinngehalts führt zu einer Verwandlung desselben, insofern das begrifflich Artikulierte nicht mehr in seiner Einfachheit, sondern unter dem Gesichtspunkt der Ganzheit erscheint. In der begrifflichen Artikulation bzw. in der Er-
Die Wirklichkeit ist bei Hegel begrifflich verfasst nur, insofern sie begrifflich entfaltet wird. Die Vernünftigkeit der Wirklichkeit ist auf die Artikulation derselben angewiesen. Dina Emundts erläutert dieses Argument in Hinblick auf die Kategorie der Wirklichkeit in der Wesenslogik: „Die Wirklichkeit kö nnen wir nur erfassen, wenn wir die Struktur der intern differenzierten Einheit erfassen und diese lä sst sich nur begrifflich ausbuchstabieren (…). Die Wirklichkeit ist nur von geistigen Wesen zu erfassen und diese Verhä ltnisse von geistigen Wesen gehö ren mit zum Begriff der Wirklichkeit“ (Emundts 2018, 453). Vgl. GW 11, 326: „Dieses Zugrundegehen der Vermittlung ist zugleich der Grund, aus dem das Unmittelbare hervorgeht“. Vgl. GW 9, 38: „Die Bewegung des Seienden ist, sich einesteils ein Anders und so zu seinem immanenten Inhalte zu werden; andernteils nimmt es diese Entfaltung oder dies sein Dasein in sich zurück, das heißt, macht sich selbst zu einem Momente und vereinfacht sich zur Bestimmtheit. In jener Bewegung ist die Negativität das Unterscheiden und das Setzen des Daseins; in diesem Zurückgehen in sich ist sie das Werden der bestimmten Einfachheit“.
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innerung der konstitutiven Begriffe wird ein unmittelbarer Sinngehalt zu dem was, er immer schon ist – aber zugleich zu einem Anderen im Verhältnis zu seiner unmittelbaren Gestalt. (3) In der Ordnung des Logischen bezeichnet die Negativität die inferentiellholistische Konstitution von Begriffen, die in diesem dritten Sinne weder subjektive Vorstellungen noch Mittel der philosophischen Darstellung sind. Die Negativität kommt so dem „reinen“ Begriff zu und besteht in der „Unruhe“ des Inhalts, so Hegels Metapher, „sich selbst aufzuheben“ (GW 9, 432). Dies bedeutet, dass Begriffe nur vor dem Hintergrund einer inferentiellen Totalität der begrifflichen Bestimmungen sind, was sie sind. Darin liegt die Bedeutung der berühmten Aussage Hegels in der Vorrede der Phänomenologie, wonach das Wahre das Ganze ist (GW 9, 19). Der Gedanke besagt, dass einzelne Begriffe erst durch ein holistisches, logisch-semantisches Netz Sinn haben. Deshalb sei jeder philosophische Grundsatz allein deswegen falsch, weil er sich als Ausgangspunkt oder als Resultat darstellt.³⁷ Diese dreifache Bedeutung der Negativität beschreibt einen einheitlichen Prozess, den Hegel als Kreis erfasst, insofern einer unmittelbaren Erscheinung des Wissens das logische Netz von Begriffen immer schon zugrunde liegt. Wenn ein unmittelbarer Sinngehalt den eigenen Konstitutionsprozess aufhebt, d. h. wenn das unmittelbare Wissen von seiner begrifflichen Vermittlung abstrahiert, dann hat die Darstellung die Funktion, diese Unmittelbarkeit aufzuheben, insofern sie die begriffliche Konstitution der Erscheinung aufdeckt und so die Ordnung des Logischen selbst erschließt. In der Vorrede zur Phänomenologie schreibt Hegel dazu: Das Analysieren einer Vorstellung, wie es sonst getrieben worden, war schon nichts anderes, als das Aufheben der Form ihres Bekanntseins. Eine Vorstellung in ihrem ursprünglichen Elemente auseinanderlegen, ist das Zurückgehen zu ihren Momenten, die wenigstens nicht die Form der vorgefundenen Vorstellung haben, sondern das unmittelbare Eigentum des Selbsts ausmachen (GW 9, 27).
Ein Wort wie „Gott“, „das Ewige“, „die moralische Weltordnung“, „die Liebe“, so Hegels Beispiele (GW 9, 20), aber auch allgemeine logische Bestimmungen, wie die Begriffe des Anfangs, des Prinzips oder des Absoluten (GW 9, 19), sind in ihrer vorgefundenen Form einerseits bestimmt, insofern sie verständlich sind, andererseits unbestimmt, insofern ihre begriffliche Artikulation in ihrer Unmittelbar Vgl. GW 9, 31: „Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes, als die Meinung, daß das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe“. Zu einem entsprechenden Ansatz über den holistischen und inferentiellen Charakter von Begriffsgehalten vgl. Brandom 2000.
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keit suspendiert wird: „Das Bekannte überhaupt, ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt“ (GW 9, 26). Wird der Versuch unternommen, den Sinn eines Wortes zu bestimmen, so werden Begriffe in Anspruch genommen, die dem Gegebenen gegenüber als ein Anderes erscheinen. Das Bestimmen ist so ein „Anderswerden“ des Bekannten, insofern das Bekannte durch die begriffliche Artikulation nicht mehr das ist, was es unmittelbar zu sein scheint.³⁸ Zugleich ist das Bestimmen des Bekannten ein Selbstwerden oder ein Zu-sich-selbst-Kommen desselben, insofern es durch die Artikulation der es konstituierenden Begriffe als das erscheint, was es eigentlich ist. Die Aufhebung des Bekannten beschreibt Hegel als „die ungeheuere Macht des Negativen“ und „die Energie des Denkens“ (GW 9, 27). Die Ausdrücke verweisen auf eine besondere Kraft der Darstellung, die Hegel in der Vorrede der Phänomenologie am Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Todes und dem Leben des Geistes exemplifiziert. In der Ordnung des Wissens sind die Vorstellungen von Tod und Leben getrennt und entgegengestellt, obwohl der menschliche Geist immer schon durch den Bezug auf den Tod konstituiert ist – die menschliche Gattung durch das Verständnis des Todes als Tod,³⁹ eine gemeinschaftliche Lebensform durch das Andenken an die Toten, das Individuum durch das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Dies hängt damit zusammen, dass die Begriffe des Todes und des Lebens in der Ordnung des Logischen sich gegenseitig bedingen und wechselseitig bestimmen. Hegel setzt aber an dieser bekannten Stelle den Akzent auf das Moment der Darstellung: Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst finden. Diese Macht ist er nicht, als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht (…); sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt (GW 9, 27).
Vgl. GW 9, 31: „Gerade um der Bedeutung willen, das Moment des vollkommenen Andersseins zu bezeichnen, müssen ihre Ausdrücke da, wo ihr Andersseins aufgehoben ist, nicht mehr gebraucht werden. So wie der Ausdruck der Einheit des Subjekts und Objekts, des Endlichen und Unendlichen, des Seins und des Denkens u.s.f. das ungeschickte hat, daß Objekt und Subjekt u.s.f. das bedeutet, was sie außer ihrer Einheit sind, in der Einheit also nicht als das gemeint sind, was ihr Ausdruck sagt, eben so ist das Falsche nicht mehr als Falsches ein Moment der Wahrheit“. Im Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes in der Enzyklopädie beschreibt Hegel die Erfahrung des Todes als Tod als eine Erfahrung, die ein Lebewesen von seiner lebendigen Gattung macht – und somit als eine für die menschliche Gattung bzw. für den Geist spezifische Erfahrung (Vgl. GW 20, 374– 375).
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Die Anerkennung des Negativen besteht an dieser Stelle nicht nur in der Enthüllung des Todes als einer konstitutiven, verdrängten Dimension des Lebens, sondern auch in einer Umwandlung des Negativen selbst. Es kommt nicht nur darauf an, dass der Geist „seine Wahrheit“ gewinnt, indem er sich als endlich erfährt, sondern auch darauf, dass die Einsicht in die eigene Endlichkeit eine Verwandlungskraft aussübt.⁴⁰ Die Darstellung hebt zwar die Unmittelbarkeit des Todes auf, insofern sie diesen nicht nur als negativ, sondern auch als konstitutiv anerkennt, aber sie verwandelt diese Erfahrung zugleich in das Leben des Geistes. Der Geist ist auf eine eigentliche Weise, was er immer schon ist, wenn er seine Konstitutionsbedingungen artikuliert. Daraus, dass der Geist gerade in der Konfrontation mit dem Tod bzw. in der Artikulation dessen, was ihn konstituiert, wahrhaft lebendig ist, lässt sich folgern, dass das Moment der Darstellung in der Struktur der dreifachen Negativität einen besonderen Stellenwert hat. Hegels Beschreibung dieses Zusammenhanges zwischen dem Leben des Geistes und der Erfahrung des Todes wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie das Negative positiviert: Wird die Erfahrung des Todes nicht gemildert und umgangen, wenn der Tod lediglich als notwendiges Konstitutivum für das Leben des Geistes angenommen wird? Verliert das Negative nicht seinen spezifischen Charakter, wenn es nicht nur als ein konstitutives, sondern auch als ein produktives Moment betrachtet wird? Dieser Kritikpunkt an Hegel beruht auf einer bestimmten Interpretation des Aufhebungsbegriffs, wonach die Aufhebung einerseits als Beseitigung des Negativen (tollere) und andererseits als Überwindung und Steigerung (elevare) verstanden wird. Die Dimension der Aufbewahrung (conservare), die für Hegels Aufhebungsbegriff jedoch zentral ist, wird in dieser traditionellen Interpretation missachtet.
B Die Aufhebung Hegels Konzept der Aufhebung bezeichnet vorwiegend das Charakteristikum der begrifflichen Darstellung von unmittelbaren Gedanken. Die Aufhebung nennt so das, was sich ereignet, wenn der Gehalt einfacher Gedanken artikuliert wird. Diese Bedeutung des Aufhebungsbegriffs wird explizit in der Seinslogik im Kontext des Überganges der Kategorie des Werdens in die Kategorie des Daseins eingeführt und im letzten Kapitel der Begriffslogik im Kontext der Explikation der
Michael Theunissen (1994) hat argumentiert, dass in dieser positiven Umkehr des Negativen das christliche Grundmotiv des hegelschen Denkens – den Karfreitag und die Auferstehung – erkennbar ist.
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dialektischen Methode erläutert. Die Operation der Aufhebung ist auf ein Unmittelbares bezogen und mit der bereits angeführten Operation der „Negation der Negation“ verbunden oder koextensiv (vgl. Kap.VII.1.A: „Das Nichts als Reichtum von Bestimmungen“). Während die Negation der Negation an einer zweiten Bestimmung operiert, die im Verhältnis zu einer ersten, gegebenen Bestimmung als Negation erscheint, wird die Aufhebung an der gegebenen Bestimmung selbst ausgeübt. Ein unmittelbarer Gedanke wird aufgehoben, wenn er als Unmittelbares negiert wird und als Vermitteltes anerkannt wird. In dieser Hinsicht ist die Aufhebung erstens (1) ein Aberkennen der Selbständigkeit eines einfachen und gegebenen Gedankens. Dies ist der Sinn, in dem die Aufhebung Negation (tollere) ist. Wenn ein unmittelbarer Gedanke aufgehoben wird, dann wird keineswegs sein verständlicher Gehalt verneint, sondern einzig und allein seine scheinbare Selbständigkeit.⁴¹ Dies bedeutet, dass die Anerkennung der Art und Weise, in der ein unmittelbarer Gedanke von anderen Gedanken vermittelt wird, das, was der Gedanke unmittelbar meint, aufklärt und dadurch aufbewahrt: „So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht verschwunden ist“ (GW 11, 58).⁴² In dieser Hinsicht ist die Aufhebung zweitens (2) eine Klärung und Darlegung des unmittelbar Gemeinten, wodurch das, was zunächst nur gemeint ist, erst seinen vollen Sinngehalt erhält. Dies ist der Sinn, in dem die Aufhebung eine Aufbewahrung (conservare) ist.⁴³ Die Art und Weise, in der ein unmittelbarer
Vgl. Nancy 1997, 78: „L’Aufhebung médiatrice n’est donc pas du tout un pouvoir mystérieux, et la dialectique n’est pas une machination obscure de la nature et de l’histoire. À vrai dire, la dialectique n’est une opération, et la relève n’est cette étrange catégorie autosuppresive, que pour autant qu’on isole dans l’analyse le moment formel et opératoire. (…) Penser la médiation, c’est penser l’impossibilité du tenir isolées les déterminations. C’est ne pas en rester au donné“. Die Lesart, dass die Aufhebung eine Vernichtung eines vorgegebenen Sachverhalts involviert, wurde lange in der Hegel-Rezeption kolportiert. In seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten (1844) interpretiert Karl Marx die erste Negation als Entäußerung und Entfremdung. Die zweite Negation (die Negation der Negation) soll laut Marx nicht wie bei Hegel eine Rechtfertigung eines gegebenen Entfremdungszustands implizieren, sondern die Beseitigung der Entfremdung bedeuten. Wenn die erste Negation einen entfremdeten Zustand bezeichnet, dann ist die zweite Negation eine vernichtende Überwindung desselben. So spricht Marx von der Aufhebung als „Aneignung des gegenständlichen Wesens durch die Aufhebung seiner Entfremdung“ und als „Vernichtung der entfremdeten Bestimmung der gegenständlichen Welt“ (K. Marx 2008, 144). Diese Bedeutung der Negation und der Aufhebung ist allein marxsch und hängt mit Hegels Aufhebungsbegriff nicht zusammen. Vgl. GW 11, 58: „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts, Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes (…). Es hat daher die Bestimmung, aus der es herkommt, noch an sich“.
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Gedanke durch die begriffliche Artikulation näher spezifiziert wird, involviert ein Zusammendenken des Unmittelbaren mit dem, was es zunächst ausschließt oder was es zunächst zu negieren scheint: „Das Aufgehobene genauer bestimmt, so ist hier etwas insofern aufgehoben, als es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist; es ist in dieser näheren Bestimmung ein Reflektiertes und kann passend Moment genannt werden“ (GW 11, 58). Wesentlich aber für die Anerkennung der Zusammengehörigkeit eines unmittelbaren Gedankens mit einer scheinbar negativen, eigentlich konstitutiven Bestimmung ist die Tatsache, dass darin sowohl der unmittelbare Sinn des gegebenen Sinngehaltes als auch der unmittelbare Sinn der entgegengesetzten Bestimmung verwandelt wird. Hegel macht dies in Bezug auf die Einheit von Sein und Nichts klar: „Sein ist Sein und Nichts ist Nichts nur in ihrer Unterschiedenheit voneinander; in ihrer Wahrheit aber, in ihrer Einheit sind sie als diese Bestimmungen verschwunden und sind nun etwas anderes“ (GW 11, 58). Sein und Nichts werden in der Kategorie des Werdens zusammengedacht: Darin werden sie aber als Entstehen und Vergehen näher bestimmt. Wenn Sein und Nichts in ihrem Zusammenhang begriffen werden, dann sind sie nicht mehr die Bestimmungen, die sie unmittelbar als Sein und Nichts zu sein scheinen, sondern sie werden vor dem Hintergrund eines dritten begrifflichen Zusammenhanges erschlossen. In diesem Sinne impliziert die Aufhebung drittens (3) das Begreifen eines übergreifenden, logisch-semantischen Zusammenhangs, in welchen scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen als Momente hineingehören. Widersprüchliche Bestimmungen in ihrem umfassenden Zusammenhang dazustellen, heißt, die logische Vorgeschichte eines Sinngehaltes zu erschließen und dadurch den Grund seiner unmittelbaren Erscheinung aufzudecken. Die Bedeutung der Aufhebung liegt demnach darin, die Konstitution eines gegebenen Sinngehalts wiederherzustellen. Die begriffliche Darstellung ist insofern aufhebend, als dass sie die Ordnung des Logischen in der Ordnung des Wissens aufzeigt. Diese dreifache Bedeutung der Aufhebung stimmt mit Hegels Beschreibung der dialektischen Methode am Ende der Begriffslogik überein. In den drei Schritten der Dialektik lassen sich zudem auch die drei Dimensionen der Negativität erkennen – die Ordnung des Wissens, die Ordnung der Darstellung und die Ordnung des Logischen: (1) Ein Unmittelbares ist „auf ein Anderes“ bezogen, das in der Ordnung des Wissens als „das Negative des Ersten“ oder „das Negative des Unmittelbaren“ erscheint (GW 12, 244). Durch diesen inhärenten Bezug auf ein Anderes erweist sich aber das Unmittelbre bereits „als Vermitteltes“ (GW 12, 244); (2) Das Zweite ist eigentlich die Vermittlung des Ersten und macht seine Bestimmung mit aus: „Das Erste ist somit wesentlich auch im Anderen aufbewahrt und erhalten. – Das Positive in seinem Negativen, den Inhalt der Vor-
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aussetzung im Resultat festzuhalten, dies ist das Wichtigste im vernünftigen Erkennen“ (GW 12, 245). Wenn das erste Unmittelbare durch einen anderen, scheinbar entgegengesetzten Begriff seine Bestimmung erhält, dann ist dieses Verhältnis nicht dasjenige zwischen einem Subjekt und einem Prädikat. Die Form des Satzes – wie in den Beispielen „das Einzelne ist das Allgemeine“, „das Endliche ist unendlich“ – ist unangemessen, um die Vermittlung des Negativen zu erschließen (GW 12, 245); (3) Das, worin das Gegebene und das Negative zusammengehören, ist nicht ein Urteil, sondern eine logisch übergreifende Einheit.⁴⁴ Dieses Dritte entspringt auch nicht nur in der Darstellung, sondern sie macht vielmehr die unmittelbare Gegebenheit des ersten Moments immer schon aus: Das dialektische Moment der Darstellung besteht darin, „die Einheit zu setzen, die in ihm [im unmittelbaren Wissen] enthalten ist“ (GW 12, 246). Wenn das Dritte immer schon als Konstitutivum dem Unmittelbaren zugrundeliegt (vgl. GW 12, 247), dann ist die Aufhebung einerseits Wiederherstellung der Konstitution des Unmittelbaren, andererseits aber „Herstellung der ersten Unmittelbarkeit“ (GW 12, 247).⁴⁵ Darin liegt eine Paradoxie der begrifflichen Darstellung. Die Aufhebung besteht zwar in der Wiederherstellung der begrifflichen Konstitution des Unmittelbaren, jedoch ist die Herstellung der Unmittelbarkeit im letzten Schritt der dialektischen Methode auch wörtlich zu nehmen: Das begriffene Resultat der logischen Darstellung hat selbst einen unmittelbaren Charakter. Das Resultat erschließt zwar die Bestimmung des Anfangs, aber es nimmt, insofern es Bestimmung ist, die Form eines unmittelbaren Anfangs an.⁴⁶ Diese Selbstaufhebung des Resultats, wodurch es unmittelbar wird, beschreibt, was sich im Anfang immer schon ereignet hat. Die Logik der Darstellung ist so eine Kreisbewegung.
Vgl. GW 12, 247: „Das Dritte oder das Vierte ist überhaupt die Einheit des ersten und zweiten Moments, des Unmittelbaren und des Vermittelten“. Vgl. GW 12, 247: „Diese Negativität ist als der sich aufhebende Widerspruch die Herstellung der ersten Unmittelbarkeit, der einfachen Allgemeinheit; denn unmittelbar ist das Andere des Anderen, das Negative des Negativen das Positive, Identische, Allgemeine“. Der Unmittelbarkeitscharakter des Resultats wird von der Tatsache, dass eine entwickelte, reichere Bestimmung einen anderen Stellenwert als eine anfängliche Bestimmung hat, nicht beeinträchtigt. Obwohl das Resultat selbst einen neuen unmittelbaren Anfang darstellt, ist ein jeweiliges Resultat jedoch „reicher und konkreter“ und „trägt alles Erworbene mit sich“ (GW 12, 250).
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Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum Hegel den Ausdruck „Aufhebung“ auch dafür verwendet, um die Unmittelbarkeit eines einfachen Gedankens zu beschreiben: Näher ist das Dritte das Unmittelbare, aber durch Aufhebung der Vermittlung, das Einfache durch Aufheben des Unterschiedes, das Positive durch Aufheben des Negativen, der Begriff, der sich durch das Anderssein realisiert und durch Aufheben dieser Realität mit sich zusammengegangen und seine absolute Realität, seine einfache Beziehung auf sich hergestellt hat (GW 12, 248).
Jede Unmittelbarkeit beruht auf der Aufhebung der Vermittlung, die sie ermöglicht. Sowohl im Anfang als auch im Resultat besteht die unmittelbare Bestimmtheit eines Gedankens „in ihrer Negativität als aufgehobener Vermittlung“ (GW 12, 250). Es gibt somit einen vierten Gebrauch des Aufhebungsbegriffs, der darauf hinweisen soll, inwiefern ein übergreifender, begrifflicher Zusammenhang im unmittelbaren Anfang schon enthalten ist. Die Aufhebung bezeichnet in diesem Sinne die Vergessenheit und die Abstraktion eines Gedankens von der eigenen Konstitution. Wenn die begriffene Konstitution eines Sinnzusammenhangs im Resultat die Form der Unmittelbarkeit annimmt, dann ist diese mit dem Resultat einhergehende Vergessenheit gerade die Geburtsstunde der ersten Unmittelbarkeit. Im Resultat der Darstellung spiegelt sich so die logische Vergangenheit des Anfangs wider. Das Resultat – die begriffliche Wiederherstellung der logischen Genesis eines unmittelbaren Sinnzusammenhangs – ist dementsprechend „aufgehobene Bestimmtheit, somit auch die Wiederherstellung der ersten Unbestimmtheit“ (GW 12, 250). Die begriffliche Darstellung hebt die Unmittelbarkeit auf, verstrickt sich aber selbst im Ergebnis in unmittelbare Wissensformen. Obwohl „die Wahrheit nur das Zu-sich-selbst-Kommen durch die Negativität der Unmittelbarkeit“ ist (GW 12, 251), ist das Zu-sich-selbst-Gekommene selbst von derselben Negativität betroffen. Die Wahrheit selbst hebt sich als Resultat auf. Diese Paradoxie wird gerade in der letzten Station der Logik dargelegt und macht das Resultat der Logik aus. Das Resultat der Logik ist somit kein Quietiv und kein Höhepunkt einer absoluten Erkenntnis. Es gibt keine unmittelbare Erkenntnis der zusammenhaltenden Identität des Ganzen, sondern die Einsicht in die holistische Ganzheit selbst riskiert – als Verdikt – zur Plattitüde zu werden. Die Erwartung, dass die Wissenschaft der Logik eine letzte Erkenntnis über die Welt anbietet, nimmt Hegel ermahnend vorweg, wenn er von der Ungeduld spricht, die „unmittelbar sich im Absoluten befinden will“ und dadurch nur „ein gemeintes Absolutes“ zum Gegenstand hat (GW 12, 252). Das Resultat der Logik ist zwar eine mit der Totalität der entfalteten Bestimmungen erfüllte Unmittelbarkeit,
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aber dadurch, dass es unmittelbar ist, wird die ganze Prozessualität der Vermittlung wieder aufgehoben. Die begriffliche Darstellung hat somit keinen Ruhepunkt und kein Ende. Was die Logik am Ende zum Gegenstand hat, ist höchstens die eigene Methode bzw. das Prinzip der Konstitution von Bestimmungen: (1) dass jede Unmittelbarkeit auf der Aufhebung ihrer impliziten Vermittlung beruht; (2) dass die begriffliche Darstellung die Unmittelbarkeit eines Sachverhalts aufhebt, insofern sie dessen Zugehörigkeit in einen übergreifenden Zusammenhang anerkennt; (3) dass jede reichere und konkretere Bestimmung selbst unmittelbar wird und dadurch ihre eigene Konstitution verbirgt. Der Begriff, der sich selbst begreift, ist keine letztgültige Erkenntnis, sondern der „Trieb“, so Hegel, die Subjektivität der Erkenntnis aufzuheben.⁴⁷ Der Begriff steht für die Prozessualität, welche die festen Bestimmungen des Unmittelbaren, als welches sich jede begriffliche Bestimmung jeweils vorfindet, immer wieder aufhebt.⁴⁸
C Sinn und Begriff Die Negativität nennt bei Hegel die Bindung zwischen der Konstitution von Sinn und dem begrifflichen Vermögen, bzw. das Verhältnis zwischen der Natur des Verstehens und der logischen Ordnung der Begrifflichkeit. Diese Bindung von Sinn und Begriff erweist sich erst in der expliziten Artikulation von selbstverständlichen Bedeutungen und vertrauten Denkkategorien. Wenn ein Gemeintes artikuliert wird, wird die Angewiesenheit einfacher Gedanken auf andere Begriffe entdeckt. Dies zeigt sich daran, dass unmittelbare Gedanken trotz ihrer scheinbaren Selbständigkeit auf andere, negative Bestimmungen verweisen. Wird dadurch erkannt, dass scheinbar entgegengesetzte Bestimmungen zusammengehören und sich gegenseitig bedingen, so erhält das Vgl. GW 12, 253: „Weil die reine Idee des Erkennens insofern in die Subjektivität eingeschlossen ist, ist sie Trieb, diese aufzuheben, und die reine Wahrheit wird als letztes Resultat auch der Anfang einer anderen Sphäre und Wissenschaft“. Jean-Luc Nancy beschreibt das Absolute als Selbstdarstellung von Sinngehalten: „L’exposition de soi même est la nature même de l’absolu“ (Nancy 1997, 17). Die Negativität als Prozess der Darstellung besteht in der „négation de toute présence donnée“ (17). Der hegelsche Logos liegt somit in der Befreiung von jeder gegebenen Identität und von jedem vermutlichen letzten Wissen. Diese Befreiung wird zugleich von der Unruhe getragen, zu wissen, dass der Prozess des Logos keine letzte Wahrheit und keinen Ursprung hat: „Hegel tourne le dos, résolument, à toute espèce de nostalgie – c’est-à-dire à toute espèce de réconfort puisé dans l’image d’un sens donné, mais passé, donné comme passé et passé comme donné“ (Nancy 1997, 21).
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Denken einen Wink in die holistische Ordnung des Logischen. Die sprachliche Artikulation von Sinnzusammenhängen hebt so die scheinbare Selbständigkeit unmittelbarer Gedanken auf und vermag den synthetischen Gehalt von einzelnen Begriffen aufzuzeigen.⁴⁹ Im Prozess der Artikulation wird die Einsicht in die Ganzheit des logischen Gefüges der Welt und in die Zusammengehörigkeit der Kategorien des Denkens gewonnen. Im Resultat teilt aber die begriffliche Artikulation mit dem unmittelbaren Wissen den Charakter der unmittelbaren Einseitigkeit und der abstrakten Selbständigkeit. Die Darstellung nimmt im Ausgang selbst die Form einfacher Bestimmungen an und die Artikulation wird zum Sprachgebrauch. Unsere Sprache ist das Medium der begrifflichen Artikulation, aber sie ist aufgrund der Selbstverständlichkeit unserer Worte auch Aufhebung der Vermittlung, d. h.Vergessenheit dessen, wie sich die Sinnzusammenhänge der Welt konstituieren. Dieser scheinbar paradoxe Charakter der Artikulation ist demnach das Bindeglied zwischen Sinn und Begriff, zwischen der Ordnung des Wissens und der Ordnung des Logischen, insofern sie allein erweist, dass diese drei Momente des Verstehens – Sinn, Rede und Begriff – in das einheitliche Phänomen des Logos gehören. Die Philosophie stellt diese Zusammengehörigkeit als eine Kreisbewegung dar und ist so für Hegel „die Selbstbewegung des Begriffs“ (GW 9, 48). Das Bild des Kreises suggeriert, dass vorgefundene Sinnzusammenhänge eigentlich unmittelbare gewordene, begriffliche Artikulationen sind. Wenn dem so ist, dann stellt die begriffliche Artikulation von Sinn nicht nur die Konstitution von unmittelbaren Sinnzusammenhängen wieder her, sondern Sinn hat sich immer schon durch die Artikulation konstituiert. Die transzendentale Vergangenheit von Sinn ist der Begriff. Die Zusammengehörigkeit zwischen Darstellung und Konstitution ist mit der Übereinstimmung zwischen dem subjektiv Begriffenen und einer vermeintlich objektiven Ordnung von Sinn nicht zu verwechseln. Dieses letzte Problem gehört in einen anderen theoretischen Rahmen, der das diskursive Vermögen von der konkreten Welt abkoppelt. Hegel überwindet aber die skeptische und idealistische Gegenüberstellung von subjektiver Erkenntnis und objektiver Gegenständlichkeit, um die Konstitution der immer schon sprachlich und praktisch ver-
Das Unmittelbare repräsentiert bei Hegel „das analytische Moment“ der Negativität, indem es „sich unmittelbar zu seinem Anderen verhält und daher in dasselbe übergeht oder vielmehr übergegangen ist“ (GW 12, 246). Das zweite Moment – das Negative – repräsentiert das synthetische Moment, weil es „die Beziehung des Unterschiedenen als solchen auf sein Unterschiedenes ist“ (GW 12, 246). Die aufhebende Darstellung ist die explizite Anerkennung der Zugehörigkeit der Momente in eine logische Einheit, die „das Dritte zum ersten Unmittelbaren und zum Vermittelten“ ist (GW 12, 247).
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trauten, objektiv verankerten und somit der Natur nicht fremden Welt des Geistes an sich zu problematisieren. Trotzdem kann das Bedenken bestehen, ob die begriffliche Artikulation von Sinn doch nicht einer anderen Ordnung als derjenigen der Konstitution von Sinn gehört. Gibt es nicht einen wesentlichen Unterschied zwischen Bedeuten und Begreifen, zwischen unmittelbarer Erfahrung und begrifflichem Denken – ein Unterschied, der die Entsprechung von Konstitution und Artikulation aufs Spiel setzt? Ist das Begreifen nicht eine inadäquate Übersetzung der Erfahrung von Sinn? Diese Fragestellung beruht auf einer Trennung der geistigen Vermögen, insofern sie annimmt, dass zwischen dem Vermögen, Sinn zu verstehen, und dem Vermögen, Sinnzusammenhänge begrifflich zu artikulieren, ein Wesensunterschied besteht – und dass die Art und Weise, in der Sinn entsteht, von der menschlichen Beschreibung von Sinnzusammenhängen grundlegend verschieden sind. Basierend auf dieser Grundannahme entwickeln sich Philosophien des Unverfügbaren, des Nichtidentischen, des Sprachlosen, deren These nicht besagt, dass die begriffliche Darstellung der Sinnkonstitution fehlgehen kann, sondern dass es dem begrifflichen Vermögen prinzipiell unmöglich ist, das Geschehen von Sinn wiederherzustellen. Wenn aber die geistigen Vermögen des Menschen zusammenhängen, wenn das Phänomen des in der Welt verankerten Geistes ein einheitliches Phänomen ist, dann ist das begriffliche Vermögen nicht nur imstande, implizites Verstehen zu artikulieren und Bedeutungen zu erschließen, sondern von vornherein an der Entstehung von Sinn beteiligt. Die Verwandtschaft menschlicher Vermögen spricht nicht nur für die Legitimität der Begrifflichkeit, eine geschichtliche Welt zu beschreiben, sondern auch dafür, dass die Entstehung einer Welt mit ebendiesem begrifflichen Vermögen verflochten ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Konstitution einer Welt de facto und gänzlich transparent ist, sondern dass sie prinzipiell transparent ist – dass es somit keine Gründe gibt, eine prinzipielle Verschlossenheit der Welt anzunehmen. Das verfügbare Wissen ist endlich – so sind auch Begriffe irreführend aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit und scheinbaren Selbständigkeit. Die Endlichkeit des begrifflichen Vermögens ist aber eine faktische und nicht eine prinzipielle Endlichkeit. Diese Endlichkeit besteht im einseitigen und abstrakten Charakter von einzelnen, begrifflichen Bestimmungen, sie ist also keine absolute Grenze des begrifflichen Raumes, sondern Grenze eines jeweiligen Begriffs.⁵⁰ Die Diesen Gedanken drückt Hegel auf die Weise aus, dass der Begriff das Gegenteil seiner selbst oder „der sich entzweiende Begriff“ ist (GW 9, 431). Es gibt keine ontologische Differenz zwischen einem Begriff und seinem Anderen, sondern das Negative eines Begriffs ist eine andere, mitkonstitutiven Bestimmung. Der Einwand gegen Hegel, dieser hebe den Unterschied zwischen
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Beschränktheit des zugänglichen Wissens wird aber vertieft, wenn auf die Artikulation von Sinn verzichtet und zum Quietiv der Kontemplation Zuflucht genommen wird – darin kommt derselbe Wille zur Absicherung wie in der Gewissheit des absoluten Wissens zum Ausdruck. Allein im Prozess der Artikulation kann der Einzelne erfahren, dass die Gewissheit seines Wissens mit einseitigen Annahmen behaftet ist, dass der Gehalt von Wissen weder selbständig noch auf ein radikal Äußerliches angewiesen ist und dass Begriffe in einem logischen Netz von Begriffen verstrickt sind. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass allein im Prozess der Artikulation der semantische Reichtum der Welt rehabilitiert wird. Wenn die Kraft des Geistes „nur so groß als ihre Äußerung“ ist, wenn seine „Tiefe“ sich an der Selbstauslegung und somit an der Bereitschaft zum Selbstverlust bewährt (GW 9, 14), dann erhalten die Zusammenhänge der Welt semantischen Gehalt dadurch, dass sie sprachlich artikuliert werden. Hegel betont, dass der semantische Reichtum, der sich begrifflich artikulieren lässt, in der unmittelbaren Erfahrung von Welt bereits enthalten ist.⁵¹ Die Selbstverständlichkeit der alltäglichen Begrifflichkeit verdeckt aber, was in den einzelnen Begriffen eigentlich zum Ausdruck kommt. Die Offenbarkeit der unmittelbaren Welterfahrung ist so „in der Tat Verborgenheit“ (GW 9, 428).⁵² Wenn aber in der begrifflichen Darstellung das im Unmittelbaren Verborgene ans Licht gebracht wird, erhält das Dargestellte seinen gehaltvollen Sinn bzw. seinen semantischen Reichtum wieder. Die Artikulation von Sinn ist daher eine Er-innerung dessen, was jeglicher Welterfarung zugrundeliegt.⁵³ Die Artikulation der semantischen Schichten, die in der unmittelbaren Erfahrung vergessen, verdrängt und verborgen werden, ist so Garant von gehalt-
Signifkant und Signifikat auf, so etwa Jacques Derrida (1967), macht beim Wahrnehmungsparadigma Anleihen. Für Hegel ist das Andere, das zu einer Bedeutung gehört und ihr entgegengesetzt zu sein scheint, eine vermittelnde Bestimmung und keine uneinholbare Referenz des Signifikanten. Hegel behauptet am Ende der Phänomenologie, dass „nichts gewußt wird, was nicht in der Erfahrung ist, oder wie dasselbe ausgedrückt wird, was nicht als gefühlte Wahrheit, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes Heiliges, oder welche Ausdrücke sonst gebraucht werden, – vorhanden ist“ (GW 9, 429). Vgl. GW 9, 428: „In der Wirklichkeit ist nun die wissende Substanz früher da, als die Form oder Begriffsgestalt derselben. (…) Was da ist, ist als das noch unentwickelte Einfache und Unmittelbare, oder der Gegenstand des vorstellenden Bewußtseins überhaupt. (…) Die Offenbarkeit, die sie [die Substanz] in diesem [im unmittelbaren Gegenstand] hat, ist in der Tat Verborgenheit, denn sie ist das noch selbstlose Sein, und offenbar ist sich nur die Gewißheit seiner selbst“. Vgl. GW 9, 433 – 434: „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen“.
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vollen Erfahrungen. Gedanken erhalten erst in der Selbstartikulation – in der Arbeit am Begriff – ihre Bedeutungsfülle. Die Tatsache, dass Begriffe inhärent von Vergessenheit und Abstraktion geprägt sind, ist aber für Hegel kein Grund, auf die begriffliche Artikulation von Sinngehalten zu verzichten. Im Gegenteil ist die Tendenz des Geistes zur Vergessenheit gerade Anstoß dazu, immer wieder begriffliche Darstellungsmittel zu suchen, um den Sinngehalt unserer Erfahrungen zu artikulieren. Der Verzicht auf die begriffliche Artikulation, sei es im Schweigen, in festen Überzeugungen und starren Definitionen, führt indessen zur Verarmung der geistigen Welt, zur Einseitigkeit unseres Wissens und zur Willkür unserer Meinungen. Hegels Vertrauen in die Einheit unserer geistigen Vermögen bzw. in die Tatsache, dass das begriffliche Vermögen mit der semantischen Reichhaltigkeit der konkreten Welterfahrung zusammengehört, ist ein Plädoyer für die Objektivität und die Vielseitigkeit dessen, was die Philosophie als λόγος bezeichnet. Der λόγος nennt hier sowohl den synthetischen Charakter von Sinn als auch die begriffliche Fähigkeit, das, was in Sinneinheiten synthetisiert wird, zu entfalten. Dieses Plädoyer Hegels kann als eine Kritik avant la lettre an Heidegger fungieren, der das Phänomen des λόγος spaltet – einerseits in eine Dimension der Versammlung, wodurch Sinn entsteht und Worte zur Bedeutung kommen, und andererseits in ein begriffliches Gerüst, das nur ein bestimmtes, historisch entwickeltes Modell von Rationalität verkörpert, die zutiefst subjektivistisch und technizistisch ist. Diesem Paradigma der Rationalität zufolge wird einerseits die Bedeutsamkeit einer Welt gänzlich und einseitig vom menschlichen Subjekt gesetzt und andererseits führt die Auffassung dieser Subjektivität letztlich dazu, dass nur das, was sich messen, rechnen und klassifizieren lässt, als seiend gilt. Daher ist für Heidegger das, was als λόγος oder Vernunft bezeichnet wird, nur Resultat einer möglichen Geschichte – und nicht ein Vermögen, das Menschen teilen –, nur eine bestimmte, reduktive Ausprägung des Verstehensvermögens, weswegen ein jedes historisch verfügbares, begriffliches Gerüst im Versuch, das ursprünglich Versammelte zu bestimmen und zu erklären, das Sinnhafte verfehlt und das Phänomen der Welt auf gegenständliche Referentialität reduziert. Heideggers Begriffskritik und Vernunftspessimismus beruhen jedoch auf der Annahme, dass der λόγος sich selbst undurchsichtig ist – dass das Phänomen von Sinn vom begrifflichen Vermögen abgekoppelt ist. Das, was im Wort ursprünglich versammelt wird, sei nicht artikulierbar, weil es nicht derselben Ordnung wie die Ordnung der begrifflichen Artikulation gehört. Diese Trennung gilt sowohl für die Beziehung des modernen Menschen zum altertümlichen Menschen als auch für das Verhältnis von Verstehen und Begreifen. So scheint Heidegger einerseits vorauszusetzen, dass es eine mysteriöse Quelle von Sinn gibt, zu welcher der geschichtlich gewordene Begriffsapparat keinen Zugang hat; andererseits, dass
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der Mensch eine eigentümliche Sensibilität für Bedeutsamkeit hat, die in der Welt verankert wird, während das begriffliche Vermögen, das Heidegger als subjektiveinseitig und kategorial-reduktiv ansieht, der Faktizität von Sinn fremd ist. Mit Hegel lässt sich dagegen erwidern, dass der λόγος weder in sich gespalten noch von anderen menschlichen Tätigkeiten isoliert ist. Der Begriff ist nicht auf eine theoretische Einstellung zur Welt einzuschränken, als ob er bloße Vorstellung, einfaches Urteil oder reduktives Kategorialinstrumentarium wäre, sondern er ist vielmehr als Vermögen zu verstehen, der sowohl im natürlichen Leben des Menschen als auch in der konkreten, gemeinschaftlich-geschichtlichen Welt verankert ist. Der Begriff ist so mit den anderen menschlichen Fähigkeiten wesentlich verknüpft und verwandt, insofern menschliche Tätigkeiten begrifflich vermittelt bzw. von einem Selbstverständnis begleitet sind, ein Verständnis das aufgrund der Verwandtschaft unserer geistigen Vermögen grundsätzlich artikulierbar ist. Sinngehalte werden von Begriffen nicht verunstaltet, weil das begriffliche Vermögen in der Sensibilität für Bedeutsamkeit von vornherein mitkonstitutiv ist. Deshalb erhalten Gedanken, Erfahrungen und Werte ihre volle Bedeutung, wenn sie begrifflich artikuliert werden. Wenn die Lebenswelt aus einem Reichtum von semantischen Bezügen besteht, dann haben sich menschliche Lebensformen immer schon in der sprachlichen Selbstartikulation konstituiert. Vor dem Hintergrund der Zusammengehörigkeit der menschlichen Vermögen, die einen einheitlichen Geist konkretisieren, teilen die gegenwärtig Lebenden auch mit Menschen des Altertums eine gemeinsame Menschlichkeit. So soll zuletzt gegen Heideggers Annahme, dass die Herkunft von Sinn aufgrund der Geschichtlichkeit der Begrifflichkeit undurchsichtig ist, daran erinnert werden, dass Menschen gerade aufgrund des begrifflichen Vermögens imstande sind, die Defizite einer subjektivistischen und technizistischen Rationalität zu erkennen, die Schranken einer vorherrschenden und festgefahrenen Normativität zu enthüllen und die Ungenügsamkeit eines ontologischen oder erkenntnistheoretischen Paradigmas aufzuzeigen. Es ist dank und nicht trotz unseres begrifflichen Vermögens, dass wir über die Geschichtlichkeit und die Abstraktion unserer Begrifflichkeit gewahr sind.
Literaturverzeichnis I Siglenverzeichnis A Georg Wilhelm Friedrich Hegel Die Werke von Hegel werden nach der historisch-kritischen Edition „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke“ (GW) zitiert. Die Edition wird in Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum herausgegeben und erscheint im Felix Meiner Verlag. Die in der Arbeit zitierten Bände lauten entsprechend: GW 2: GW 4:
Hegel (2014): Frühe Schriften II. Jaeschke, Walter (Hrsg.). Hamburg: Meiner. Hegel (1968): Jenaer kritische Schriften. Buchner, Hartmut/Pöggeler, Otto (Hrsg.). Hamburg: Meiner. GW 7: Hegel (1971): Jenaer Systementwürfe II. Horstmann, Rolf-Peter (Hrsg.). Hamburg: Meiner. GW 9: Hegel (1968): Phänomenologie des Geistes. Bonsiepen, Wolfgang/Heede, Reinhard (Hrsg.). Hamburg: Meiner. GW 11: Hegel (1978): Wissenschaft der Logik. Die Objektive Logik. Hogemann, Friedrich/Jaeschke, Walter (Hrsg.). Hamburg: Meiner. GW 12: Hegel (1968): Wissenschaft der Logik. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. Hogemann, Friedrich/Jaeschke, Walter (Hrsg.). Hamburg: Meiner. GW 20: Hegel (1992): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Bonsiepen, Wolfgang/Lucas, Hans-Christian (Hrsg.). Hamburg: Meiner.
B Martin Heidegger Die Werke von Martin Heidegger werden nach der Edition der „Gesamtausgabe“ (GA) zitiert, die bei Vittorio Klostermann Verlag erscheint. Die in der Arbeit zitierten Bände lauten entsprechend: GA 1: GA 3: GA 5: GA 6.2: GA 7: GA 9:
Heidegger (1978): Frühe Schriften. Von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann. Heidegger (1991): Kant und das Problem der Metaphysik. Von Herrmann, FriedrichWilhelm (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann. Heidegger (1977): Holzwege. Von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann. Heidegger (1997): Nietzsche 2. Schillbach, Brigitte (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann. Heidegger (2000): Vorträge und Aufsätze. Von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann, 2000. Heidegger (1976): Wegmarken. Von Herrmann, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Klostermann.
https://doi.org/10.1515/9783110659801-010
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Personen- und Sachregister Absolutes Wissen 39, 41 – 43, 46 – 50, 52 – 58, 71 f., 124, 207, 239, 250 f., 259, 272 – 274, 281 f., 299, 310 f. Abstraktion 10 f., 18, 262, 264, 267 f., 279 – 281, 284 f., 310, 315 f. ἀλήθεια 7, 19, 25 f., 35, 41, 70 – 76, 78 f., 85, 90, 113, 146, 174, 195, 199 – 202 Angst 102, 145 f., 152 – 154, 203 f. Anschauung 11 – 14, 37 f., 66, 88, 93 – 95, 106, 109, 145, 179 f., 227 – 233, 235 – 256, 261 – 264, 292, 297 Antinomie 15, 228, 230 – 233, 239, 241 – 244, 282 f. Apophantisches Als 7, 89 f., 100 f., 112, 114, 131, 133 f., 138, 161 Apperzeption 46, 63, 112, 232, 238, 242 f., 248 Aristoteles 40, 44, 72, 76, 79, 87, 89, 92 – 95, 138 f., 181, 215, 234, 257, 274 Aufhebung 20, 30, 34, 42, 52 – 57, 83, 175, 189, 197 f., 202, 207 f., 225, 280, 284 f., 292, 294, 303, 305 – 312 Befindlichkeit 142 – 145, 149 f., 154 Begriffliches Vermögen 1 – 3, 12, 14, 17, 21, 23, 29 – 31, 227, 241, 267, 276 f., 282, 298, 313 – 316 Begriffsinhalt 1 f., 13 f., 224, 229, 231, 233, 241 – 243, 253, 256, 273 Das Gute 16, 59, 119, 125, 178, 246, 263, 272 – 274 Dialektik 17, 24 f., 38, 53, 57 f., 71 f., 77 f., 104, 159, 198, 224, 239, 285, 293, 295 f., 308 διαφέρον 4 f., 17, 35, 84 Ding 7, 14 f., 39, 44, 59, 67 – 70, 80 – 82, 100 f., 116 – 118, 120 – 124, 126 – 130, 135, 139 f., 143, 167 f., 176 – 182, 190, 205 f., 223, 245, 252, 268 f., 287 Ding-an-sich 11, 109, 239 – 245, 261, 276
https://doi.org/10.1515/9783110659801-011
Eigentlichkeit 99 f., 102, 125, 134, 146, 149, 151 – 153, 157, 213 f. Einbildungskraft 81, 124, 250, 253 – 255, 261, 266, 270 Endlichkeit 16 – 21, 24 – 27, 32 f., 35, 39 – 43, 50 f., 70, 85 – 86, 92, 102 – 104, 124, 151 – 154, 157, 159 f., 190, 203 – 208, 217 f., 226, 249, 271 – 273, 291, 305 f., 313 Erde 28, 67 f., 70, 149, 163, 176 – 178, 180 – 187 Ereignis 9, 66 f., 75 f., 78 – 81, 83, 161, 189, 193, 208 – 210, 213 f. Erfahrungswelt 11 f., 37, 118, 124, 177, 233, 246, 274 Erkenntnis 11 – 14, 26, 37, 53 f., 65, 117 f., 124, 127 f., 135 – 137, 147 – 149, 166 f., 175, 182, 229 – 231, 235 – 239, 241 f., 248 – 250, 252, 255 – 258, 261 f., 269 – 271, 275 f., 283, 295 – 298, 310 – 311 – Erkenntnistheorie 12 – 15, 36, 89, 98 f., 117, 135 – 137, 167, 200, 251, 257 – 260, 269, 277, 283, 295 – 297 Erscheinung 5, 9, 11, 57, 87, 105 f., 108 f., 124, 161, 197, 205, 212, 232, 235, 238, 242 f., 254, 281, 284, 304, 308 Ethos 125, 177, 213, 216, 237 Formalismus 231, 238, 259, 262 f. Freiheit 11, 15, 24, 124, 157, 159, 168 – 171, 232, 283 Gegebenheit 15, 18, 37 – 39, 66, 73, 94 f., 97 f., 107, 109 f., 114, 147 – 149, 234, 237 f., 246, 256, 258 f., 271 f., 276, 291 – 293, 295 – 297, 299, 309 Gegenständlichkeit 3, 11 f., 19 f., 43, 46 f., 50, 60, 64, 66 – 68, 81, 88, 117 f., 135, 205 f., 221, 223, 233, 236, 238, 241, 245 – 247, 252, 256, 259, 261, 275, 283, 297, 301 f., 312 Geist 3, 5, 13, 15, 22, 34, 36 f., 58, 64, 66, 71 – 73, 104, 119, 227, 233, 239, 244 –
Personen- und Sachregister
247, 252 – 254, 256, 259 f., 262, 269, 271, 274 f., 277, 282, 297, 299 – 302, 305 f., 313 – 316 Geschichtlichkeit 16, 24 f., 44, 58, 97, 126, 161 f., 168, 195, 316 Geviert 68 f. Geworfenheit 21, 23, 150, 154, 158, 162, 186 Heraklit 4 f., 16 f., 25, 35, 40, 72, 74, 81, 84, 112, 207, 215 Hermeneutisches Als 7, 60, 89 – 91, 100 f., 112, 114 – 119, 126, 131, 133, 138 f., 141, 161, 188 Holismus 9, 117, 120, 233, 243, 264, 279, 284, 293, 303 f., 310, 312 Husserl 15, 37 f., 87, 89, 93 – 95, 102, 118, 135 ἰδέα 79, 195, 219 Idealismus 6, 20, 42 f., 48, 50, 63, 73, 131, 207 f., 223, 227, 234 f., 242 f., 247, 256, 259, 276, 281, 297, 299 Ideen 5, 12 f., 24, 124 f., 177, 228 – 233, 239 f., 243 – 245, 249, 251 – 254, 261, 267, 272 – 274, 277 f., 291, 297 Intellektuelle Anschauung 249 – 252, 294 f. Kant
5, 11 – 14, 16, 29, 41, 44, 81, 88, 92, 106, 109, 119, 123 – 125, 148, 166, 179, 224, 228 – 245, 247 – 255, 261, 265, 269 – 272 Kartesianismus 13, 41, 43, 88, 100, 122, 126, 223 Konstruktivismus 54, 258 f., 297 Kontingenz 32, 39, 102, 264 Kunst 163, 166, 176 – 184, 185, 187, 254 Latenz 4 – 9, 11, 25, 76, 81, 101, 126, 154, 163, 197, 199 – 201, 220, 224 – 226, 284, 291, 303 – λήθη 5, 7, 21, 25 f., 41, 74, 76, 81, 85, 90, 146, 160, 281 Lebenswelt 17, 29 f., 37 f., 80, 95, 122, 181 f., 228, 278, 316
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Lichtung 7 f., 33, 51, 59 – 61, 64 f., 75 – 77, 163, 169, 171, 185 – 187, 189 – 191, 193, 199 – 205, 208 – 211. λόγος 7, 21, 25 f., 30, 35 f., 38 – 42, 50, 70 – 75, 77, 84 – 86, 107 f., 110 – 117, 133 f., 138 f., 146, 167, 201, 220, 278, 311 f., 315 f. Mechanismus 269 – 271 Metaphysik 8 f., 41, 62 f., 65, 71, 76 – 79, 81 – 83, 159, 195 – 197, 203, 205, 209, 216 f., 222, 235 f., 240, 245, 256 f. Möglichkeit 16, 69, 103, 150 f., 153 – 155, 162, 165, 173 f. Natur 11, 68 f., 80, 119, 135, 178, 180 f., 184 f., 227, 247, 258 – 260, 262 – 271, 274, 277, 282, 296 – 298, 313 Negation 3 f., 10, 18, 45, 49, 51, 56, 84, 103 f., 159, 198, 207, 225, 268, 279 f., 283 – 293, 303, 307 Neukantianismus 13, 15, 32, 37, 89, 131, 135, 221 Nichtreferentialität 7, 19, 28, 190, 192, 203, 206, 212, 214, 217 Nichts 7, 17 – 20, 33 – 35, 44 f., 47 – 52, 61, 69 f., 103 f., 157 – 159, 190, 203 – 208, 217 f., 265, 276, 280, 285, 288 – 291, 293, 308 – Nichtung 16 f., 60, 159, 197, 204, 207 Objektivität 27, 46, 64, 168, 181, 232 – 236, 245 f., 249 f., 252, 255 f., 258 f., 261, 270 f., 274 – 276, 278, 296 – 298, 300 f., 315 Ontologie 13, 79, 87 f., 93, 97, 100, 104 f., 107, 116, 121 f., 133, 135, 151, 167, 195 f., 209, 235, 256 f., 271, 288, 296 Ontologische Differenz 8, 35, 48 – 51, 57, 90 f., 118, 313 Ontotheologie 28, 77, 217, 222 Paralogismus 230, 240 Phänomen 22, 32, 38 f., 80, 87, 89 – 91, 94, 96, 98 f., 105 – 116, 118 f., 126, 129, 135, 145 – 148, 150, 152, 181 f., 193 f., 205, 219, 225, 252, 312 f., 315
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Personen- und Sachregister
Platon 16, 63, 72, 79, 84, 88, 119, 125, 178, 195, 207, 219 Praxis 13, 88, 100, 118 f., 128 f., 131 f., 221, 228, 273, 301 Rationalismus 37, 125, 145, 226, 236, 281 Raum und Zeit 11 – 13, 81, 88, 109, 121, 135, 205, 224, 227 – 233, 235 – 247, 249, 253, 255, 259, 261 Realismus 73, 131, 168, 276 Regulative Idee 12 f., 98, 110, 125, 177, 224, 230 f., 247, 253, 263, 269 f. Seiendheit 46, 48, 55, 59 f., 219 Seinsgeschichte 47, 82 f., 86, 174, 190, 194 – 196, 209 Sigetik 190, 215 Sinnlichkeit 11, 179, 242 f., 245, 247, 249 Skeptizismus 54, 226, 258 – 260, 295, 297 Spinoza 232, 289 Sprache 1, 14 f., 19, 22, 28 – 31, 40, 62, 74 f., 85, 112, 115 f., 132, 140, 160, 186, 193 f. , 220, 233 f., 247 f., 252 – 256, 262 f., 273 – 275, 312 Subjektivismus 20, 41, 58, 221 – 223, 235, 242 f., 258, 275, 277, 296, 315 f. Synthesis 40 f., 63 f., 72, 112 f., 179, 220, 231, 233, 238 f., 241 – 243, 248, 255, 260, 275, 277, 292, 294, 312, 315 Technik 16, 65, 67, 69, 174, 195 f., 216 Teleologie 234, 257, 268 – 271, 274, 277 Theoretische Einstellung 15, 27, 38, 98, 100, 117, 128 – 130, 134 f., 144, 161, 188, 194, 298, 316 Tod 18 – 20, 22, 33 f., 52, 69, 92, 97, 99 – 103, 152 – 157, 177, 203, 225, 271, 305 f. Unbegreifbarkeit 6, 11, 22, 25, 124, 139, 220, 222, 224 f., 252, 256, 259 – 261, 266 f., 275 f., 299 Unmittelbarkeit 6, 10, 18, 30, 37 f., 48, 72, 84, 111, 114, 142, 145, 148, 180, 191, 222, 225, 234, 251, 270, 281, 284 – 286, 288 f., 291 f., 298, 300, 303 – 307, 309 – 311
Urteil 7, 12 f., 40, 75, 89, 98, 100, 111 – 114, 130 – 132, 134 f., 137 – 139, 141 f., 146 – 149, 161, 164 – 166, 168, 179, 188, 195, 219, 224, 229 – 231, 241, 255, 283, 289, 292, 294, 309, 316 – Urteilsvermögen 11, 117, 162, 168, 241, 244, 248 Vergessenheit 1, 7 – 9, 11, 21, 70, 75, 82 f., 95, 115, 126, 164 f., 172 – 174, 195, 197, 210, 278, 291, 310, 312, 315 Vernunft 11 – 15, 25, 40, 42, 46, 50, 111, 114, 124, 179, 222, 226, 228 – 234, 237 – 242, 244 – 247, 249, 251 – 254, 283, 315 – Vernunftbegriff 13 f., 29, 88, 178, 224, 227 – 232, 235 – 241, 243 f., 251 f., 283 Versammlung 1, 40, 65, 72, 74, 139, 220, 260, 264, 315 Verstand 14, 43, 167, 172 – 174, 227, 232 – 235, 237 – 240, 242, 245 – 252, 255 f., 264, 269 f. – Verstandeskategorien 12, 230 f., 237, 239 f., 264 Vorhandenheit 13, 20, 88, 98 – 100, 118, 120, 126, 131, 133, 135, 137 f., 148, 190, 205 – 207, 223 Vorstellung 46 f., 51, 53, 59, 63 f., 71, 113, 123, 167, 213, 223 f., 245, 248 f., 253 f., 263 – 268, 273, 277, 292, 304 f. Wahrheit 16, 19, 51, 54 – 57, 72, 75, 82, 113, 125, 133 f., 136, 146 – 151, 164 – 171, 175 f., 181 f., 188 – 193, 199 – 203, 210 f., 218 f., 243 f., 257 f., 260, 277 f., 295, 297 – 300, 305 f. Wahrnehmung 12 f., 37, 62, 80 f., 88, 94, 121, 131, 143, 205 f., 227, 239 f., 244, 246 f., 256, 261, 274, 297 Wissenschaft 11, 37, 55, 107, 145, 166, 172, 185, 249, 251, 259, 279, 291, 297 – 302 Zeitlichkeit 97, 104, 150 f., 195, 221 Zeug 59, 88, 101, 120, 127 – 129, 161, 176, 180 – 182 Zuhandenheit 16, 88 f., 91, 101, 118, 120, 124, 128 – 130, 132, 161, 176
Personen- und Sachregister
Zweckmäßigkeit 16, 120, 177, 181 f., 221, 268 – 272, 277
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