Singende Steine : Rhythmus-Studien an drei romanischen Kreuzgängen 3776502649

Der Zweck der hier vorliegenden Studie besteht dairin, einige aus anderen Wissensgebieten gewonnene Erkenntnisse für den

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German Pages [147] Year 1978

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Table of contents :
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
These
I Von der Natur des Klanges
II Die liturgischen Weisen in den Kreuzgängen von San Cugat und Gerona
III Das Weltbild der alten Kosmologien
IV Der wahrscheinliche Heilritus im Kreuzgang von Ripoll
Nachlese
Anmerkungen
Bildtafeln
Notenbeispiele
Tafeln
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Singende Steine : Rhythmus-Studien an drei romanischen Kreuzgängen
 3776502649

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Marius Schneider

Singende Steine

Heime ran

Marius Schneider

Singende Steine Rhythmus-Studien an drei romanischen

ängen

Heime ran

CIP-KurztItelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schneider, Marius Singende Steine: Rhythmus-Studlen an 3 roman. Kreuzgängen München: Helmeran, 1978 ISBN 3-7765-0264-9

© Copyright by Arché, Milano 1977 Deutschsprachige Lizenzausgabe Heimeran Verlag München 1978 Alle Rechte vorbehalten, einschließlich die der fotomechanischen Wiedergabe ISBN 3 7765 0264 9 Archiv 594 Printed in Italy

RENÉ LECOMPTE IN DANKBARKEIT ZUGEEIGNET

INHALTSVERZEICHNIS

THESE..............

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I Von der Natur des Klanges............................ 13 II Die liturgischen Weisen in den Kreuzgängen von San Cugat und Gerona................................... 25 III Das Weltbild der altenKosmologien ... VI Der wahrscheinliche Heilritus im Kreuzgang von Ripoll................................................................. 79

NACHLESE....................................................

ANMERKUNGEN ... Bildtafeln (folgen dem Textteil)

65

.113

...

NOTENBEISPIELE UND GRUNDRISSE: San Cugat.................................................. Einschlagtafel Gerona.................................................... » Der Anthropokosmos .............................. » Ripoll.................................................... »

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I II III IV

These

Der Inhalt dieses Büchleins fußt auf einer Reihe von Forschungsergebnissen archäologischer, mythologischer, volks­ kundlicher und musikwissenschaftlicher Art über Ursprung, Wesen und Entwicklung der Tonsymbolik, die in meinen in spanischer Sprache erschienenen Arbeiten über die Tier­ symbole (1946), den Schwerttanz (1948), die Regenlieder (1949) und den Don Juan-Mythos (1951) niedergelegt wurden. Da die hier dargebotene Studie rein kunsthistorischen Interessen dienen möchte, so werden in den Kapiteln 1 und 3 die zum Verständnis der Kapitel 2 und 4 unbedingt not­ wendigen Vorkenntnisse aus den oben erwähnten Unter­ suchungen in gedrängter Form mitgeteilt. Der Leser, der sich mit ihrer Dokumentation vertraut machen will, wird allerdings zu den bereits genannten Veröffentlichungen oder zu den neueren deutschen Publikationen greifen müssen, die im Lauf dieser Schrift zitiert sind. Eine größere Arbeit, welche die in Kapitel I nur kurz angedeuteten Gedankengänge weiter ausführt, erschien 1960 unter dem Titel La philosopie de la musique chez les peuples non européens in der Encyclopädie 9

de la Pléiade (Gallimard), Histoire de la musique (heraus­ gegeben von R. Manuel). Der Zweck der hier vorliegenden Studie besteht dairin, einige aus anderen Wissensgebieten gewonnene Erkenntnisse für den kunstliebenden Leserkreis fruchtbar zu machen und auf neue Wege zur Erforschung des romanischen Bauens hinzuweisen. Als Endergebnis läßt sich der Grundsatz formulieren, daß der Ort, den jedes einzelne Kapital innerhalb der Säulenfolge der drei hier analysierten Benediktinerkreuz­ gänge jeweils einnimmt, niemals ein zufälliger ist, sondern stets durch einen musikalischen oder ideologischen Ganzheits­ rhythmus bestimmt wird. Weder "zügellose Phantasie" noch “artistische Willkür" verteilten die Köpfe und Heiligen­ gestalten, die Tiere und Fabelwesen, die Pflanzenornamentik und die mythologischen oder biblischen Szenen nach freiem Belieben im Raum, sondern ein bewußter strenger Ordnungs­ wille gliederte nach einem wohldurchdachten Plan die Flächen sinnvoll auf. Am Portal der Marienkathedrale zu Ripoll sind 12 Bilder in den Stein gehauen, die man so lange als Produkt einer freien Phantasie bezeichnete, als man nicht erkannt hatte, daß sie den Rhythmus des Jahresablaufs versinnbildeten. Mit welchem Recht aber dürfte man annehmen, daß in dem Benediktiner­ kloster, dessen Lebensführung zu jeder Tages-und Nachtstunde einer festen (und bis in jede Einzelheit ausgearbeiteten) rituellen Symbolik unterworfen war, plötzlich ein Kreuzgang entstand, bei dessen Anlage sich der Baumeister "überhaupt nichts " gedacht haben sollte oder sich nur von rein dekorativen und formalistischen Gesichtspunkten habe leiten lassen? Die nur auf die reine Erscheinung gerichtete Formanalyse ist sicherlich niemals zu schelten, es sei denn, sie gälte als Endzweck und töte den vornehmsten menschlichen Wunsch, nach dem Sinn oder Rhythmus des Ganzen zu fragen. 10

Nur zögernd übergebe ich dieses Büchlein dem modernen Leser, denn es setzt eigentlich jene Verschmelzung von Hören und Sehen voraus, welche die alten Chinesen als "Ohrenlicht" bezeichneten. Den orientalischen Hochkulturen und der mittelalterlichen Mystik Europas war dies nichts Außerge­ wöhnliches, doch der moderne Mensch ahnt nur noch sehr wenig von der starken Hintergründigkeit der akustischen Welt, von der Vielfarbigkeit, der Polyrhythmik und der linearen Kraft des Schalls, aus dem die alten Schöpfungssagen die sichtund greifbare Welt hervorgehen ließen. Und da die praktische Anwendung dieser Idee überdies eine neue Kunstbetrachtung nach sich zieht und ihr Verständnis zugleich einige musikalische Kenntnisse voraussetzt, so bin ich mir wohl darüber klar, daß dieser Versuch in vielen Kreisen auf nicht geringen Widerstand stoßen wird. Daß dieser Widerstand in erster Linie aus dem Lager der traditionellen Kunstforschung kommen muß, liegt auf der Hand, denn eine neue Anschauung, so gut sie auch in sich begründet sein möge, setzt sich doch meist weniger mittels ihrer Beweise als auf Grund einer gewissen Aufnahmebereitschaft durch, die sie im Denken und Empfinden einer gegebenen Zeit findet. Barcelona-Montesquiu, September 1952 Marquartstein, 1975 M.S.

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I Von der Natur des Klanges

Nur wenig Beachtung schenkte bis jetzt die kunstwissen­ schaftliche Forschung der großen Entdeckung E. Selers, nach welcher die seltsamen Götterbilder der alten südamerikanischen Hochkulturen keineswegs Produkte einer schrankenlosen Phantasie darstellen, sondern auf einer durchaus konsequenten Zusammenstellung von Wortsymbolen und mythologischen Attributen beruhen.1 Bei der Entzifferungsarbeit der aztekischen und der Maya-Handschriften stellte der Berliner Gelehrte fest, daß sich aus der Anordnung dieser Zeichen oder Bilder zwar nie ein grammatikalisch geordneter Satz, wohl aber ein völlig eindeutiger Gedankengang ablesen läßt. Wie stark diese Bilderschrift auch im Wortklang wurzelte, läßt sich schon daran erkennen, daß gleichlautende Worte, ohne Rücksicht auf ihre eventuelle, verschiedene Bedeutung oder Orthographie, durch das gleiche Zeichen dargestellt wurden. Diese Idole sind in der Tat in Stein gehauene, rituelle Laute, Götter, die für den, der sie zu lesen versteht, zu klingenden Steinen werden. Aber auch in den altasiatischen Hochkulturen fehlt es nicht an Fabelgestalten mit offenem Munde, an Darstellungen von

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Priestern und Göttern, die im Tiergewande tanzen und singen. Was sie darstellten, weiß man heute mehr oder weniger; aber was ihr Mund einst sagte oder sang, das ist bei weitem schwerer zu erraten. Und doch mußten sie wohl das sagen und singen, was sie taten und was sie waren. Bilder sind stumm, weil sie aus totem Material geschaffen sind. Aber wir dürfen niemals vergessen, daß sie Abbilder lebender Wesen sind, deren höchste und stärkste Manifestation in ihrer Sprache, in ihrem Tanz und Gesang zum Ausdruck kommt. Wir haben uns heute an eine klanglose Kunst gewöhnt und denken z.B. beim Anblick gotischer Wasserspeier oft gar nicht mehr daran, daß sie eigentlich erst beim Regen rauschend ins Leben treten. Daß die Kapitale mit ihren Fabeltieren und Tierköpfen, die den Rachen weit öffnen, schreien, findet heute oft ebensowenig den Weg zum ästhetischen Bewußtsein des Betrachters wie ihre Polychroimie; aber die Künstler Neuseelands, welche jene der romanisch-byzantinischen Plastik so ähnlichen Fabelköpfe schnitzen, bezeichnen die aus den offenen Mäulern hervortre­ tenden Bänder, Pflanzen, Ketten oder langen Zungen ausdrück­ lich als Symbole des Schreis bzw. der Rede. Viele Götterge­ stalten, heilige Tiere, ja ganze Zeremonialakte wurden im alten Peru auf einem Pfeiftopf oder auf zwei (durch einen Luftkanal verbundenen) Vasen plastisch dargestellt, in welche ein Flötenmechanismus eingebaut war, der sicher nicht nur einem seltsamen Einfall entsprang, sondern einen wesentlichen Teil des Werkes bildete. Man darf sich auch durch das große Beiwerk, durch die Zahl der mystischen Attribute, durch die besondere Kleidung und die Vielfältigkeit der rituellen Geräte bei den alten Darstellungen von Kulthandlungen nicht irreführen lassen. Das zentrale Geschehen im Ritual ist akustisch. Es verläuft in den weiten Grenzen, die dem Klang einzuräumen sind — vom Flüstern über die Sprache und den Gesang bis zum Schrei —,

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und bildet stets den eigentlichen Brennpunkt der Opferhand­ lung. Das “Wort” macht die Handlung effektiv. Überdies bildet der Klang die einzige Brücke, die zwischen den lebenden Menschen und ihren verstorbenen Ahnen oder Göttern besteht. Es wurde schon an anderer Stelle2 gezeigt, daß in den alten Kosmognien dieser Brückenklang dem Begriff der "Ausdeh­ nung des Wortes" entspricht und in jener singenden Kraft wurzelt, welche als erste Manifestation eines Gedankens die Welt dadurch erschuf, daß der Klang der Urvibration sich selbst aufopferte, um sich in einem spiralig anwachsenden Rhythmus von immer höheren und neu gearteten Vibrationen progressiv auszubreiten und allmählich in Stein und in Fleisch zu verwandeln. Sowohl die Schöpfungsmythen der Naturvölker wie die Kosmogonien der afro-asiatischen Hochkulturen erwähnen einen dunklen, überbegrifflichen Klang als die Mutter des Weltenschöpfers. Dieses "erste Wort" ist die erste aktive Manifestation, der erste Wunsch, der sich aus der vollkom­ menen Ruhe und Einheit des "Urabgrundes” bzw. aus dem (wie ein Ei sich spaltenden) Mund des singenden Todes3 erhebt. Der Schöpfer selbst ist das "Zweite Wort", das bald als der erste blitzende Donner oder als ein singendes Gestirn, bald als ein klingendes Morgenrot oder als ein leuchtender Gesang bezeichnet wird. In Ägypten ist es die singende Sonne, welche die Welt durch ihren Lichtschrei erschafft, oder Thoth, der Gott des Wortes und der Schrift, des Tanzes und der Musik, welcher die Welt durch ein siebenmaliges Gelächter ins Leben rief, wobei er jedes Mal etwas entstehen ließ, das größer war als er selbst. Prajäpati, der vedische Schöpfergott, war selber nur ein Hymnus. Sein Körper bestand aus drei mystischen Silben, aus deren singender Aufopferung der Him­ mel, das Meer und die Erde hervorgingen. Dieser Lichtklang, der zunächst nur eine rein akustische, leuchtende Welt erschuf, bildet die Ursubstanz alles Geschäf­

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fenen. Durch dieses zweite Wort entstanden die Urbilder d.h. Klänge, die durch ihre verschiedenen rhythmischen Gestal­ tungen für den Geist sicht- und begreifbar wurden. In diesen Begriffen bildet der Wortklang den Körper, während der Wortsinn das Licht ist, das den Klang erhellt. Die Urbilder, welche die vedische Tradition als Ur-rhythmen (Rsis) bezeich­ net, sind Hörbilder, die zugleich auch das erste Opfer bilden, das durch sein Klingen und Verhallen die Zeit und eine im­ materielle Bewegung erschafft. So groß ist nach indischer Lehre die Macht des Klangopfers (väc, Wort), daß schon am Anfang aller Zeiten Götter und Dämonen miteinander kämpften, um die Gewalt der singenden Kraft an sich zu reißen. Wer diesen Gesang in seine Gewalt bekam, dem war unend­ liche Macht gegeben. Doch eines Tages entschlüpfte väc den Göttern und ließ sich (laut Tändya-Mahä-Brähmana VI, 5, 10—13) in den Gewässern, in den Bäumen und schließlich in den Trommeln und Zithern, Bögen und Wagenachsen nieder. Dies heißt, daß die Welt, die ursprünglich rein akustisch­ intellektueller Natur war, sich durch ein drittes "Wort” allmählich materialisierte. Indem sich die Hörbilder aber teil­ weise verstofflichten, wurden sie zu Abbildern, die nun auch konkret sicht- und greifbar zu werden begannen. Dadurch ging der reine Schall teilweise in der entstehenden Materie unter. Die brahmanischen Schöpfungsmythen erzählen, daß die ersten Menschen durchsichtige, leuchtende und klingende Wesen waren, die über der Erde flogen. Erst als sie sich zur Erde herabließen und begannen Pflanzen zu essen, verloren sie ihre Leichtigkeit und ihre eigene Leuchtkraft. Ihre Körper wurden undurchsichtig und das Einzige, das von ihrer ursprüng­ lichen Tonsubstanz übrig blieb, war ihre Stimme. Auch die reine Materie entstand dadurch, daß die klin­ genden Urbilder erstarrten und klangarm (oder scheinbar sogar 16

klanglos) wurden. Nichtsdestoweniger ist und bleibt nach altindischer Auffassung auch in der reinen Materie das eigentliche Substrat akustisch. Der Schall bildet das allen kosmischen Erscheinungen gemeinsame Urelement. Nur der Anteil oder die Lebendigkeit des Urklangs ist von Fall zu Fall verschieden. Götter sind reine Klänge. Von den anderen Lebewesen mit spontaner Stimmäußerung bis zu den Gegen­ ständen, die nur durch Anschlägen einen Ton abgeben, sinkt die Größe und Art des Anteils zwar allmählich ab, aber es gibt trotzdem kein Ding, das nicht irgendeine verborgene Stimme hätte. Einen ganz spezifischen Anteil an der Ursubstanz hat der klingende Stein, insbesondere der vulka­ nische Phonolith, den man als die älteste Materie betrachtet. Felsen, die eine mehr oder weniger menschen-oder tierähnliche äußere Gestalt aufweisen, gelten sogar als versteinerte Götter oder Hymnen. Aus der gleichen Vorstellung von der Natur der Materie entspringt auch die Idee, daß Gestirne, Menschen und Tiere ebenfalls aus Steinen hervorgegangen sein könnten. In dieser alten Naturphilosophie wurzelt die Schlüssel­ stellung, die der Gesang und seine Sichtbarwerdung in den steinernen Götteridolen im Kult innehatte. Da der Klang die allen Dingen und Wesen gemeinsame Ursubstanz darstellt und seine Entfaltung zum Liede die singende Kraft ist, die den Kosmos bewegt, so bildet der Gesang auch das einzige Mittel, mit den entferntesten Mächten in eine direkte und substanzielle Wechselbeziehung zu treten. Singen oder rhythmisches Sprechen ist im tiefsten Sinne eine direkte Teilnahme an der Ursubstanz des Universums und ein aktives Aufrufen, Erschaffen und Handeln innerhalb der akustischen Grundschicht der Welt. Es ist eine Nachahmung des klingenden Befehls, der einst die Welt zum Leben aufrief, und zugleich ein Brückenbau zwischen Himmel und Erde auf Grund der beiden Welten gemeinsamen Tonsubstanz. Daher werden die Götter, 17

die reine Lieder sind, durch Lobgesänge auch buchstäblich ernährt. Aber nicht nur die steinernen Götteridole, sondern auch viele Götterattribute scheinen nur materielle Andeutungen ihrer klingenden Kraft zu sein. Ebenso wie die Trommel Shivas, so scheint auch der Hammer, der in die Hand Thors zurückkehrt, die Kraft und das Echo des göttlichen Donner­ liedes darzustellen. Die auf den Urgewässern kreisende "singende Feder", mit der die kalifornischen Götter die Welt erschaffen, versinnbildet sicher die Urstufe des schöpferischen Rauschens der Flügel des Donnervogels. Es heißt aber, daß die Götter in der bereits erschaffenen Welt plötzlich die Ehrfurcht vor dem Worte und dadurch einen großen Teil ihrer Macht verloren. Als Yima anfing zu lügen (von der Sprache einen falschen Gebrauch zu machen), da schwand die Herrlichkeit von ihm. Ein Viertel des Wortes ging in Gestalt des Vogels Varegan zu Mitra; ein weiteres Viertel bekam der Trataona, der das Ungeheuer Dahaka besiegt hatte. Das dritte Viertel wurde dem Helden Keresaspa gegeben, und nur der letzte Teil verblieb dem Yima (Avestä, Yast 19,33—38). Eine ähnliche Zerlegung der singenden Ursprache erwähnt auch die indische Literatur. Die Ursprache war völlig unarti­ kuliert, bis sie Indra nach dem Genuß des Soma-Rauschtranks in vier Teile spaltete. Davon bekamen die Menschen nur den vierten Teil; die übrigen drei Viertel wurden den “Tieren", den Vögeln und den Insekten geschenkt (Satapatha-brähmana IV, 1, 3, 16). Tierstimmen bilden also eine unentbehrliche Komponente des kultischen Singens. Als nun die Priester versuchten, die leuchtende Ursprache für den Ritus wieder herzustellen, da mußten sie notwendigerweise die Tierlaute mit einbeziehen. Sie schufen wahrscheinlich den Text mit dem Viertel, das

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ihnen gehörte, und versuchten ihn mit der klingenden Urkraft, die den Tieren verblieben war, zu singen, indem sie die animalen Laute nachahmten. Die Tiere vermitteln zwischen den Göttern und den Sterblichen, weil ihre Lautäußerung der Ursprache nähersteht als die artikulierte Rede des Menschen. Daher ist auch nur den Priestern und Helden, die die Sprache der Tiere verstehen, ein tieferer Einblick in die akustische Natur der Dinge vergönnt. Angesichts der Tatsache, daß hungrige Tiere bald als Inkarnationen, bald als Urformen von großen verstorbenen Ahnen oder Göttern galten, ist es nicht verwunderlich, daß man diese Wesen im Kult mit der ihnen eigenen Stimme anzusprechen und ihr klingendes Urbild in Stein nachzuformen versuchte. Nur mittels einer gemeinsamen Klangsubstanz war es möglich, den Brückenklang zwischen den Seelen der Lebenden und denen der Toten zu schlagen. Rgveda-pratisäkhya XIII, 10 u. 17 zählt drei Tageszeiten und drei sthänäs (Stimmlagen oder Stimmklänge) auf, welche die Priester bei ihren rituellen Gesängen berücksichtigen müssen. Morgens sollen sie mit Bruststimme das Gebrüll des Löwen, nachmittags die Gans mit Kehlkopfstimme und abends den Pfau mit Kopfstimme nachahmen. Rgveda VII, 103 und IX, 97, 57 enthalten Hymmen, die mit Frosch- oder Geierstimme vorzutragen sind, während andere Formeln wie das Brüllen eines Ochsen oder wie das Summen einer Biene klingen sollen. Auch in der hellenistisch-ägyptischen Mithrasliturgie des dritten Jahrhunderts nach Christus spielten nach R. Reitzen­ stein (Die hellenistischen Mysterien-religionen S. 169) das Pfeifen, Schnalzen und Tiergebrüll, mit dem die Mysten bei der siebenstufigen Weihe ihren Göttern begegneten, noch eine große Rolle. Im Laufe der Zeit wird jedoch das frei intonierte Singen und Nachahmen der Tierstimmen allmählich durch ein rationelles System mit festen Tonhöhen ersetzt. Von der alten 19

Tradition bleiben nur eine bestimmte Färbung des Tons beim Vortrag und die Tiernamen übrig, mit denen man die verschiedenen Stufen des musikalischen Tonsystems bezeichnet. Schon die Chändogya Upanisad (II, 21, 1), die noch die Raubtierstimme für die Hymnen an Agni und den Klang des Reiherschreis für die Lieder an Brhaspati vorschreibt, macht für andere Lobgesänge etwas neutralere Angaben. Sie empfiehlt “verdeckte, klare oder weiche” Stimmgebungen. Diese Rationalisierung einer alten empirischen Magie findet ihren stärksten Niederschlag in dem Korrespondenz­ system des Vedanta und der alten chinesischen Philosophie, welche verschiedene Töne nicht nur mit Tieren, sondern auch mit: Jupiter Luft Ost Frühling Kindheit

Mars Feuer Süd Sommer Jugend

Venus Metall West Herbst Mannesalter

Merkur Wasser Nord Winter Greisentum

Saturn Erde Mitte Jahresmitte Leben

und vielen anderen Erscheinungen (seelische Eigenschaften, Körperteile, Pflanzen usw.) in Beziehung setzten. In diesen symbolischen Entsprechungen galt die Tonreihe ursprünglich als der eigentliche Generator der übrigen Reihen. Nähere Untersuchungen im Zusammenhang mit der Sphärenharmo­ nie haben gezeigt, dass die musikalische Grundlage dieses Systems einer Obertonreihe entspringt.4 In diesen symbo­ lischen Entsprechungen gilt die Tonreihe ursprünglich als der eigentliche Generator der übrigen Reihen. Der Ton / erzeugt Jupiter, Luft, Ost; der Ton c erschafft Mars, Feuer, Süd usw. Selbst die griechische und die europäisch-mittelalterliche Tonartenlehre, deren Verbindung von Tönen und Gestirnen durch Platons singende Sirenen an der “ Spindel der

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Notwendigkeit" versinnbildet wurde, schreiben den musika­ lischen Leitern noch die den Gestirnen (astrologisch) jeweils entsprechende ethische Kratt zu. In diesem Spätstadium der Entwicklung tritt jedoch allmählich an Stelle der Idee des Klangs als zeugendes Urphänomen (aus dem alle anderen Gleichungen — Planeten, Jahreszeiten usw. — erst hervortre­ ten), ein Analogiesystem, in welchem die Tonreihe ihre Bedeutung als eigentlicher Träger der Ursubstanz verliert und den anderen Gleichungen wertmäßig koordiniert wird. An Stelle einer Hierarchie der Gleichungen tritt eine reine Analogie der horizontalen Reihen. Von nun an bildet jede Gleichung eine spezifische, aber jeder anderen Reihe ebenbürtige Ausdrucksform einer übergeordneten rhythmischen Ordnung, welcher alle Gleichungen (also auch die Tonreihe) ohne hierarchische Unterschiede gleichmäßig unterworfen sind. Jedes Element ist nun in seiner Ebene (Gestirne, Ele­ mente, Töne, Himmelsrichtungen, Jahr, Menschenleben) das spezifische Symbol der allgemeinen Idee der vertikalen Reihe, in der er steht. Das älteste bis jetzt bekannt gewordene indische Tonsy­ stem wird im 28. Kapitel des Nätya-sästra erwähnt, das Bharata im 4. oder 5. Jahrhundert niederschrieb. In diesem Traktat werden die aus abgekürzten Sanskritwörtern entstan­ denen Silben sa, ri, ga, ma, pa, dha, ni für die Intervallabstände der Töne d e f g a h c gebraucht.5 Aus der Zeit zwischen Bharata und dem 12. Jahrhundert ist bis jetzt kein musiktheo­ retischer Traktat bekannt geworden. Dann aber setzt die reiche sogenannte klassische Tradition ein, welche die bei Bharata erwähnten Wortabkürzungen ethymologisch folgendermaßen interpretiert.6 Shadjcr. aus der 6 geboren; Rsabba-, Stier; Gändhära-. himmlischer Gesang; Mädhyama-. Mitte; Pancama\ der 5. Ton; Dhaivata (Dhivan): Fischergesang; Nishäda (Nisad): der hoch oben Sitzende, hoher Schrei. Der sangtta21

ratnäkära des Samgadeva (13. Jahrhundert) und der Narti­ dashiksa bringen folgende Entsprechungen: d

e

f

Pfau,

Stier,

Ziege,

»

g

Kranich, Singvogel, (Kokila)

h

c

d

Pferd, Fisch

Elefant,

Pfau

Ergänzt man diese Reihe durch die vorher erwähnten Elemente und ordnet man die Töne auf Grund des Tagesablaufs nach dem in der alten indischen Theorie üblichen Quintenzir­ kel, so ergeben sich folgende Gleichungen: Organe: Stimme: Zeit: Töne: Tiere:

Kehle Kehle Kopf Kopf Nase alle Organe Brust Brust Kehle Kopf Kopf Morgen Mittag Nachmittag Dämmerg. Nacht ga f

ni c

Tiger Ziege

Elefant Gans

ma g

Kranich Pfau

Stirn8 Kopf

sa d

pa a

ri e

dha h

Pfau

Kokila Pfau

Ochs Stier

Pferd Fisch (Frosch)

Es scheint aber, als ob der Pfau nicht nur den Zentralton d darstellte, sondern zuweilen auch (entsprechend der Spielart der Pfauenlaute) auf die beiden ihm nächst verwandten Töne g und a (seine Unter- und Oberdominant) übergreifen kann. Es wurde schon in anderem Zusammenhang’ erwähnt, daß der Mensch in dem Gotteswagen des Propheten Ezechiel (I, 4—28) anstelle des Pfaus steht, und dement­ sprechend der Tetramorph (Löwe—Stier—Mensch—Adler) die melodische Struktur jede der Praefation der gregoria­ nischen Messe bildet. Die mystische Stellung des Pfaus ist die gleiche wie die des Menschen. Er nimmt sowohl am Tage (g) als auch an der Nacht (

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