Tanzende Bäume, sprechende Steine: Zur Phänomenologie japanischer Gärten 9783495824139, 9783495491041


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German Pages [161] Year 2021

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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
I. Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?
II. Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben
1. Kurzer Streifzug durch die Geschichte
2. Wie sehen wir japanische Gärten heute?
3. Naturbegriff und »Schnitt-Kontinuum«
III. Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«
1. Atmosphärisches Schauen
2. Horizont und Raum
3. Bild und Körper
4. Schnitte in der Erscheinung
5. Paradoxien des Erscheinens
6. Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen
IV. Der stumme Blick von Baum und Stein
1. Natur als Zwischenereignis
2. Die Leiblichkeit der Natur
3. Naturwüchsiges zwischen »von selbst« und »Gelassenheit«
4. Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur
5. »Erscheinen« und »Lassen«
6. Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit
7. Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst
V. Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen
1. Japanische Gärten und die Phänomenologie
2. Die phänomenologische Übung
Literaturverzeichnis
Europäische Sprachen
Ostasiatische Sprachen
Index (Gärten, Personen, Begriffe)
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Tanzende Bäume, sprechende Steine: Zur Phänomenologie japanischer Gärten
 9783495824139, 9783495491041

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Mathias Obert

Tanzende Bäume, sprechende Steine

Zur Phänomenologie japanischer Gärten VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824139

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B

Mathias Obert Tanzende Bäume, sprechende Steine

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Mathias Obert

Tanzende Bäume, sprechende Steine Zur Phänomenologie japanischer Gärten

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Mathias Obert Dancing Trees, Speaking Stones On the Phenomenology of Japanese Gardens How can one explain the mysterious beauty of Japanese gardens? Beginning from sensual and meaningful experiences this book discloses a series of important phenomena we encounter in Japanese gardens. The phenomenological analysis carves out the features of crucial phenomenological leitmotifs such as horizon, affection, mood, responsivity and temporality. Against this background a certain strangeness of the things of appearance begins to show itself, a strangeness which enables a renewed mindful and aware relationship with our environment. Mathias Obert also wishes to critique some of the most important phenomenological assumptions – which to a certain degree have become the blind spots of the method of phenomenology – beginning from those relations which show themselves in Japanese gardens after applying a phenomenological epoché to them. In this way, i. e., in the interplay of aesthetics and phenomenology, Obert is able to bring forth the fruitfulness of a transcultural philosophising. The Author: Mathias Obert studied philosophy, art history, and sinology in Munich. Since 2008 he is Professor of Contemporary Philosophy at the State University Sun Yat-sen in Kaohsiung, Taiwan. His research focuses on the phenomenology of the body, far eastern aesthetics, theory of painting, theory of transcultural philosophising.

https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Mathias Obert Tanzende Bäume, sprechende Steine Zur Phänomenologie japanischer Gärten Wie ist die geheimnisvolle Schönheit japanischer Gärten zu erklären? Aus dem sinnhaft-sinnlichen Erleben heraus erschließt dieses Buch eine Reihe wichtiger Phänomene, denen wir in japanischen Gärten begegnen. Im Zuge der phänomenologischen Betrachtung erhalten Leitideen wie Horizont, Affektion, Stimmung, Responsivität und Zeitlichkeit schärfere Konturen. Vor diesem Hintergrund vermag an den Erscheinungsdingen eine eigentümliche Fremdheit zutage zu treten, die uns ein erneuertes, von Achtung geprägtes Verhältnis zu unserer Umwelt ermöglicht. Zugleich geht es Mathias Obert um eine kritische Revision wichtiger phänomenologischer Grundannahmen – blinder Punkte sozusagen in der Methode der Phänomenologie – im Ausgang von den Verhältnissen, die in japanischen Gärten nach Einsatz einer phänomenologischen Epoché zum Tragen kommen. So wird im Wechselspiel von Ästhetik und Phänomenologie die Fruchtbarkeit eines transkulturellen Philosophierens zum Vorschein gebracht. Der Autor: Mathias Obert, Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Sinologie in München. Seit 2008 Professur für zeitgenössische Philosophie an der Staatlichen Sun-Yat-Sen-Universität in Kaohsiung, Taiwan. Forschungsgebiete: Phänomenologie der Leiblichkeit, ostasiatische Ästhetik, Malereitheorie, Theorie transkulturellen Philosophierens.

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Garten des Sambō-in im Areal des Daigo-ji, Kyōto Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49104-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82413-9

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Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten? . . . . .

13

II.

Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben 1. Kurzer Streifzug durch die Geschichte . . . . 2. Wie sehen wir japanische Gärten heute? . . . 3. Naturbegriff und »Schnitt-Kontinuum« . . .

. . . .

. . . .

. . . .

19 19 30 36

. . . . . .

. . . . . .

43 43 52 54 62 71

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78

IV. Der stumme Blick von Baum und Stein . . . . . . . . . . 1. Natur als Zwischenereignis . . . . . . . . . . . . 2. Die Leiblichkeit der Natur . . . . . . . . . . . . . 3. Naturwüchsiges zwischen »von selbst« und »Gelassenheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur . 5. »Erscheinen« und »Lassen« . . . . . . . . . . . . 6. Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit . . . 7. Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 87 97

III. Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Atmosphärisches Schauen . . . . . . . . . . . 2. Horizont und Raum . . . . . . . . . . . . . . 3. Bild und Körper . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schnitte in der Erscheinung . . . . . . . . . . 5. Paradoxien des Erscheinens . . . . . . . . . . 6. Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104 107 114 119 130 7

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Inhalt

V.

Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen . . . . . . . . . . 143 1. Japanische Gärten und die Phänomenologie . . . . 143 2. Die phänomenologische Übung . . . . . . . . . . 150

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Index (Gärten, Personen, Begriffe)

. . . . . . . . . . . . . . 159

8 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Vorwort

Aus zahlreichen Besuchen japanischer Gärten, vor allem in der alten Kaiserstadt Kyōto 京都 und in Tōkyō 東京, für die sich über mehrere Jahre hinweg immer wieder Gelegenheit bot, ist schließlich dieses Buch erwachsen. Die Vielfalt und eindringliche Kraft jener ästhetischen Erfahrungen, die mir diese besonderen Orte – frei von religiöser oder orientalistischer Schwärmerei – unzählige Male beschert haben, ist nicht ohne prägenden Einfluss auf mein Denken und Forschen geblieben. Weitreichende philosophische Anstöße verdanke ich seit geraumer Zeit genau diesen außerphilosophischen Erlebnissen. Es wird wohl kaum einen wachen und aufmerksamen Besucher solcher Gärten geben, der sich da nicht unmittelbar vom sinnlich Gegebenen angesprochen fühlt. Kaum jemand dürfte von jenen Sinngehalten, die ihm an solchen Orten auf eindrückliche Weise in prägnanten Gestalten entgegentreten, nicht unweigerlich zu philosophischem Nachdenken angeregt werden. Insbesondere diese Tatsache, also die ganz eigentümliche Erfahrung, wie da philosophisches Denken unmittelbar aus den Dingen zu entspringen scheint – wie da Pflanzen, Steine und Wasser das systematische Denken herausfordern –, wurde zum Kern dieses Buches. So ist mir ein Philosophieren aus der sinnhaft-sinnlichen Erfahrung heraus mehr und mehr zum wichtigsten Anliegen geworden. Es geht mir um ein Denken, das in den Dingen selbst aufkeimt und das stets bestrebt bleibt, sich in intimer Nähe zur leibhaften Erfahrung aufzuhalten. Nur auf diese Weise scheint mir den philosophischen Begriffen im Zuge der Reflexion nicht unter der Hand ihre Sinnfülle abhandenzukommen. Die vorliegende Studie kann durchaus als eine Art philosophischer Reiseführer den Besuch japanischer Gärten begleiten. Nach einem historischen Überblick über die wichtigsten Gartentypen und deren Behandlung in der Fachliteratur werden Themen erörtert wie die atmosphärische Gesamtwirkung eines Gartens auf den Be9 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Vorwort

sucher und der auratisch wehmütige Eindruck, die Dramaturgie von Überschau, Ausblicken und Durchblicken, die bildgleiche Gartenansicht, Wirklichkeit, Leere und bloßer Schein, Paradoxien im Erscheinen, das Zusammenspiel von künstlerischer Gartengestaltung und natürlichem Wuchs in skurrilen Gartenbäumen, die Befremdlichkeit der Gartensteine sowie Aspekte der Zeitlichkeit. Angestrebt wird damit freilich nicht in erster Linie eine systematische Phänomenologie japanischer Gartenkunst, eine Darstellung ihrer Entwicklung und ihrer typischen Elemente – sofern der Leser unter »Phänomenologie« so etwas wie eine aufzählende und erläuternde Lehre zur Vielfalt der Erscheinungen erwartet. Aber auch eine im Husserl’schen Sinne streng »phänomenologisch« motivierte Untersuchung zum Wesen japanischer Gärten wird hier nicht geboten. Stattdessen versuche ich einerseits zu klären, wie japanische Gärten als »Phänomene« erfahren werden, was also »Phänomenalität« in diesem konkreten Erfahrungszusammenhang überhaupt bedeutet. Aus dieser Auseinandersetzung ergibt sich sodann das zweite große Anliegen dieser Untersuchung, nämlich in Bezug auf wesentliche Momente phänomenologischen Denkens und zentrale Motive der phänomenologischen Bewegung kritische Rückfragen anzustrengen. Auf den ersten Blick mag es beileibe nicht naheliegend erscheinen, zum Ausgangs- und Angelpunkt eines Nachdenkens über die Phänomenologie einen so exotischen und bislang in dieser Hinsicht gänzlich unbeachteten Gegenstand wie japanische Gärten zu wählen. So wird denn auch erst die Durchführung im Einzelnen die Stichhaltigkeit und Fruchtbarkeit dieses befremdlichen Vorgehens erweisen können. Dabei wird sich herausstellen, dass dieses abseitige Untersuchtungsgebiet in hervorragender Weise dazu angetan ist, maßgebliche Vorurteile und Vorannahmen in der bisherigen Entwicklung phänomenologischen Arbeitens aufzudecken und von einer – gerade aufgrund ihrer scheinbaren Abwegigkeit – aufschlussreichen Warte aus zu durchleuchten. Ich möchte an dieser Stelle dem Freund und Phänomenologen Tani Toru 谷徹 und der Ritsumeikan-Universität 立命館大學 in Kyōto sowie der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) meinen aufrichtigen Dank aussprechen dafür, dass es mir während eines Freisemesters im Herbst 2017 mit einem Forschungsstipendium ermöglicht wurde, zwei Monate als Gastforscher an besagter 10 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Vorwort

Universität zu verbringen und wertvolle Nachforschungen für dieses Buch anzustellen. Mein weiterer Dank gilt dem taiwanischen Ministerium für Wissenschaft und Technologie, welches dieses Forschungsvorhaben seit Jahren finanziell fördert. Schließlich bin ich dem Karl Alber Verlag und besonders Herrn Lukas Trabert, der freundlicherweise auch das Umschlagbild zur Verfügung gestellt hat, dankbar für die Unterstützung dieses Buchprojektes. Mathias Obert

Kaohsiung 高雄 im Sommer 2019

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I. Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

Japanische Gärten wirken auf viele Menschen geheimnisvoll anziehend, wie die vergeistigte Erscheinung von Natur, wortloser Ausdruck einer rätselvollen Schönheit. Da mag das Vorgehen dieser Studie auf den ersten Blick befremden: Was hat Philosophie in japanischen Gärten zu suchen? Was kann die Philosophie von diesen Gebilden zwischen Kunst und Natur lernen? Doch vielleicht weisen gerade diese außergewöhnlichen Orte uns Heutigen Wege auf, wie wir erneut einen lebendigen Bezug zu dem stiften können, was wir »Wirklichkeit« und »Welt« nennen. Damit wären sie für die Philosophie aktueller und befruchtender, als der Anschein dies vermuten lässt. Wir leben in einer konsumistischen Epoche. Das bedeutet, dass alle Dinge entweder von vornherein der Verfügungsmacht des Menschen unterstellt scheinen, oder aber sie werden eigens für seinen Gebrauch zugerichtet. Zugleich erleben wir die immer rasanter fortschreitende »Erweiterung« unserer Wirklichkeit mithilfe der Informationstechnologie – »augmented reality«. Doch haben wir Heutigen überhaupt noch ein lebendiges Verhältnis zur Wirklichkeit? Wissen wir überhaupt noch, was »wirklich« besagt? Wenn mit »Wirklichkeit« das Gesamt all jener Dinge und Sachverhalte gemeint ist, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, dann bleibt zu fragen: Wie begegnen uns diese Sachverhalte? Was sind »wirkliche Dinge«? Und welchen Zugang zu »Dingen« haben wir heute eigentlich? Dringlicher denn je scheint angesichts der fraglos gewordenen Vorherrschaft dinglicher Waren und Güter – bis hin zur oft beklagten »Verdinglichung« selbst noch alles Menschlichen – ein Nachdenken über »Dinglichkeit«. Die Frage nach unserem Welthaben und unserem Weltzugang, das Bemühen um eine Wiedergewinnung der Vielfalt des Wirklichen und der Dinge – wider den reduktionistischen Zeitgeist – lassen es sinnvoll erscheinen, auf einem scheinbar abseitigen Feld 13 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

Anschauungshilfe zu suchen, bei japanischen Gärten philosophischen Rat einzuholen. Mit der Problematik, wie sich diese eigentümlichen Umwelten für einen Betrachter in ästhetisch-phänomenologischer Einstellung konstituieren, geht es mir weder um eine historisch-technische Rekonstruktion bestimmter Gärten noch um eine bereits öfter unternommene Wesensbestimmung japanischer Gartenkunst. Mein Anliegen besteht in einer phänomenologischen Untersuchung bezüglich der Art und Weise, wie wir solche Gärten als ästhetische Gebilde erfahren, sowie der erscheinungsmäßigen Eigenart alles dessen, was sich uns da zeigt. Über das hermeneutische Was einer Bedeutsamkeit hinaus geht die ästhetische Reflexion auf das Leuchten der Erscheinung – gewissermaßen diesseits dessen, was sich da jeweils inhaltlich darbietet. Vor und neben symbolischen Gehalten und Sinnverweisen aller Art sucht diese Erkundung im Erscheinen selbst einen Überschuss an sinnhaft-sinnlicher Verkörperung einzufangen und namhaft zu machen. Das Sich-Zeigen ist einmal wörtlich zu verstehen: Welche wahrnehmbaren Sachen zeigt ein japanischer Garten nach der ästhetisch-phänomenologischen Epoché, also nach dem Außerkraftsetzen der natürlichen, »naiven« Einstellung? 1 Zum Zweiten steckt Den einzigen mir bekannten Versuch in ähnlicher Richtung stellt die unveröffentlichte Doktorarbeit von Imae Hidefumi 今江秀史 mit dem Titel Niwa no hasseiteki genshōgaku: tochi wo meguru jissenchi no gaku no shikiron 庭の発 生的現象学:土地をめぐる実践知の学の試論 (Universität Osaka 大阪大学, 2017) dar, die sich von der genetisch-phänomenologischen Konstitutionsanalyse Edmund Husserls anregen lässt. Gegen die übliche gartenpflegerische wie nicht minder gegen die vergegenständlichende, streng »wissenschaftliche« Erfassung des Gartenobjekts sucht Imae die »Genese« des geschichtlich lebendigen Gartens in seiner Wesensgestalt und aus der Interaktion der Menschen mit derselben zu bestimmen. Imae ist bestrebt, das Hervortreten eines bestimmten Gartens in seiner besonderen Verfasstheit aus lebens- und alltagsweltlichen Zusammenhängen heraus nachzuvollziehen. Es geht ihm um ein phänomenologisches Verständnis für den Aufgang des betreffenden Ortes als eines so und so wahrgenommenen »Gartens«. Nicht ganz korrekt nimmt er dabei den Titel »genetische Phänomenologie« in Anspruch, denn er weist nicht wirklich die Konstitution des Gartenobjektes im Bewusstseinsstrom auf; vielmehr zeichnet er anhand eines Fallbeispieles die gesellschaftlich bedingte Aus- und Weiterbildung einer bestimmten Gartenwahrnehmung und im Zuge dessen einer bestimmten Gartengestaltung in Geschichte und Gegenwart nach. Dies schmälert freilich keineswegs den heuristischen Wert seiner detailreichen und fachkundigen Beobachtungen. 1

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Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

darin eine abgeleitete Fragestellung: Was bedeutet dies für den Status des Sich-Zeigens, für das Phänomensein selbst? Aus ästhetischen Beobachtungen und Reflexionen zu Gärten lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit Überzeugungen und Methoden der Phänomenologie entwickeln. Spätestens seit Martin Heideggers kritischer Abwandlung der zentralen Ideen Edmund Husserls ist das, was »Phänomen« heißt und wie Dinge als Phänomene »sich zeigen«, zur leidenschaftlich diskutierten Frage innerhalb einer »Phänomenologie der Phänomenalität« geworden. 2 Der Ausdruck »Phänomenalität« umfasst dabei sowohl das Erscheinen der »Erscheinung« wie auch das Phänomen-Sein des »Phänomens«. Grundsätzlich sollen hier unter »Erscheinung« all diejenigen Sachverhalte verstanden werden, die von der Außenwelt her an die Sinneswahrnehmung herantreten; »Erscheinung« heißt dasjenige, was sich für die Sinneswahrnehmung zeigt. Mit dem Fachbegriff »Phänomen« hingegen sollen alle Bewusstseinsinhalte und -erlebnisse in der Art und Weise bezeichnet werden, wie wir diese Inhalte jeweils haben. Allerdings ist auch in dieser bewusstseinsimmanenten Ebene immer ein Stück Welt, ist darin stets der mittelbare oder unmittelbare Bezug auf »Erscheinungen« enthalten. Zugleich macht das Leib-Sein dessen, dem ein »Phänomen« gegeben ist und der sein Augenmerk darauf richtet, letzteres zu mehr als einem bloßen »Bewusstseinsinhalt«. Im Weiteren werden daher die Begriffe »Erscheinung« und »Phänomen« mitunter schwer zu scheiden sein, zumal wo es um Wahrnehmungsverhältnisse geht.

Martin Heidegger, Sein und Zeit, 16. Auflage, Tübingen: Niemeyer, 1986; Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard, 1945; M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Paris: Gallimard, 1964; Michel Henry, L’essence de la manifestation, Paris: PUF, 1963; Jacques Derrida, La voix et le phénomène, Paris: PUF, 1967; Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, Paris: PUF, 1989; J.-L. Marion, Étant donné. Essay d’une phénoménologie de la donation, Paris: PUF, 1997; Marc Richir, Méditations phénoménologiques. Phénoménologie et phénoménologie du langage, Grenoble: Millon, 1993; Bernhard Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004; Günter Figal, Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010; G. Figal, Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016; Renaud Barbaras, Dynamique de la manifestation, Paris: Vrin, 2013. 2

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Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

Der besondere heuristische Wert, den japanische Gartenanlagen für diese Problematik besitzen, ist ferner in folgenden Merkmalen gelegen: Ähnlich einem klassischen Kunstwerk bietet dieser Gartentypus bis ins Detail durchgestaltete Ansichten, die offene und geschlossene Form in ein wechselseitiges Verhältnis setzen. Aufgrund dieser intensivierten inneren Spannung unterscheidet sich ein japanischer Garten offenkundig vom skulpturalen französischen Garten mit seiner strengen Künstlichkeit. Während dessen Elemente ihr naturwüchsiges Dasein völlig einer geometrischen Abstraktion unterordnen, halten sich Abstraktion und Konkretion in japanischen Gärten durchaus die Waage. Der englische Garten hinwiederum – hierin nicht mehr vom klassischen Werkbegriff der Kunst her aufzuschließen – legt viel größeren Wert als der japanische auf Naturähnlichkeit; er verfolgt eine Rückbesinnung der kulturellen Sphäre auf eine als vormenschlich und ursprünglich angesetzte Rohform der Welt. Von den historischen Gärten Chinas schließlich ist infolge der Wirren der Geschichte keiner mehr in einer einigermaßen unverfälschten Gestalt erhalten. Außerdem scheint die chinesische Gartenkunst schon früh einer erheblichen schematisierenden Erstarrung anheimgefallen zu sein, wodurch dort heutzutage eher anschauliche Schablonen für allgemeine Ideen statt lebendiger Phänomene anzutreffen sein dürften. In der sichtbaren Gestalt der zumeist exzellent erhaltenen oder rekonstruierten japanischen Gärten hingegen schießen alle sinnhaft-sinnlichen Momente so zusammen, dass die Gartendinge da in emphatischer Weise in ihr Dingsein versammelt hervortreten. Dieses künstlich und künstlerisch gesteigerte, verdichtete Erscheinen von Naturwüchsigem lässt sich in philosophisch erhellender Weise anschauen und für eine kritische Betrachtung erschließen. Aus diesem Grunde nehmen die folgenden Überlegungen ihren Ausgang von ästhetischen Erfahrungen in japanischen Gärten. Es geht in dieser Studie um eine gedankliche Durchdringung typischer, jedoch immer konkreter Phänomenerfahrungen. Durch phänomenologische Beschreibung und Analyse soll aufgeklärt werden, wie diese spezifischen Sachverhalte aus ästhetischer und philosophischer Sicht zu verstehen sind, auf welche Weise sich da Anschauung und Erleben konstituieren. Von der phänomenologisch befragten Gartenerfahrung her sollen überdies weitreichende Aufschlüsse über das Phänomensein der Phänomene selbst gewonnen 16 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

und für Methodenfragen der Phänomenologie fruchtbar gemacht werden. Die enge Verwobenheit von konkreten Phänomenanalysen und methodologisch-kritischer Reflexion entspringt der Überzeugung, dass sich über die Verhältnisse, die im Erscheinen herrschen, nur sinnvoll nachdenken lässt im Rückgang auf tatsächlich Erlebtes. Insofern hat sich diese Untersuchung dem Bemühen um eine im Ästhetischen und Leiblichen verwurzelte Phänomenologie verschrieben. Vermittels eines sowohl transdisziplinären als auch transkulturellen »Umwegs über Japan« wird hier versucht, zentrale Anliegen und Themen der jüngeren phänomenologischen Bewegung, wie sie im Gefolge von Heidegger und Maurice Merleau-Ponty hervorgetreten sind, weitergehend auszuarbeiten. Es geht darum, phänomenologische Forschung als ein weltverbundenes Denken – als ein Denken »hin zur Welt« wie ebenso »von der Welt her« – vorzuführen und auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. In methodologischer und inhaltlicher Hinsicht ist diese Untersuchung vor allem dem leibphänomenologischen Programm Merleau-Pontys verpflichtet. Der schon von Husserl so genannte »Logos der sinnlich wahrnehmbaren Welt« (logos du monde esthétique/ sensible) 3 wird zunächst als stumme, jedoch bereits mit Sinnfülle begabte Sprache der Dinge vernehmbar; statt einen »Sprung ins ›Geistige‹« (saut dans le ›spirituel‹) 4 zu vollführen, schreibt sich die verlautbarende Rede des Menschen, schreibt sich das Denken in denselben Bezirk dinglichen Sinnes ein. Es schreibt den »wilden Geist« (esprit brut) 5 fort, trägt einen Sinn aus, der in der Anschauung aus der Welt der Dinge selbst »emportaucht« (émerger 6, surgir 7). Gestützt auf diesen Grundgedanken Merleau-Pontys, geht es mir darum, den »Geist« der Dinge möglichst konkret ins Denken zu übernehmen. Durch ein Eingehen auf den wortlosen Sinn der Dinge kann das »wilde Sein« (être brut, être sauvage), 8 soll »wilder Sinn« (sens Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, S. 419/ 490; M. MerleauPonty, Signes, Paris: Gallimard, 1960, S. 132. 4 Maurice Merleau-Ponty, La prose du monde, Paris: Gallimard, 1969, S. 53 Randbemerkung. 5 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 133. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 209. 8 Ebd., S. 104/ 107/ 133/ 137/ 139/ 149/ 209/ 253/ 257/ 264/ 276. 3

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Vorblick: Philosophieren in japanischen Gärten?

sauvage) oder »Sinn in statu nascendi« (naissance du sens) 9 in der philosophischen Rede geborgen werden. Als ein ausgezeichnetes Stück Welt können japanische Gärten sozusagen zum Geburtsort des Sinnes werden. Ihre vorzügliche Eignung dazu liegt in einer vorphilosophischen Verdichtung und Reflektiertheit, die da den Erscheinungen und ihrem Erscheinen von den Dingen selbst her zuzuwachsen scheint. Zur Einführung soll daher zunächst in Umrissen dargestellt werden, wie japanische Gärten aussehen und welche Fragen sie an den heutigen Besucher herantragen.

9

Ebd., S. 203.

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II. Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

1.

Kurzer Streifzug durch die Geschichte

Im Allgemeinen wird die Begegnung mit den Wandelgärten des chinesischen Adels als Anstoß für die Entwicklung der Gartenkultur auf den japanischen Inseln beschrieben. 10 Es muss jedoch im Altertum schon vor der breiten Aufnahme der chinesischen Festlandkultur gartenähnliche Anlagen an heiligen Orten gegeben haben, wie archäologische Funde und Rekonstruktionen belegen. In religiösen Vorstellungen des autochthonen Shintō 神道 wurzelnd und rituellen Zwecken dienend, wurden geweihte Bezirke (iwasaka 磐境) umgrenzt, indem man hügelartige Erhebungen und einzelne Steine oder Steingruppen (iwakura 磐座, 磐倉, 岩倉) als Sitz göttlicher Kräfte mit niedrigen Natursteinmauern einfasste. Zudem wurden die Felsen, wie bis heute üblich, mit dicken, aus Reisstroh geflochtenen Seilen umwunden (shimenawa 注連縄). 11 Sowie mit Beginn der Nara奈良-Zeit (710–794) historische Aufzeichnungen einsetzen, ist von weitläufigen Gartenanlagen die Rede, die bereits während der voraufgehenden Epoche Verbreitung gefunden haben müssen. In der Heian平安-Ära (794–1185) kommt der Typus des »Palastgartens« (shinden teien 寢殿庭園) nach chinesischem Vorbild zu voller Entfaltung und bringt eine Blüte japanischer Gartenkunst hervor, die auch in der Literatur und Malerei Loraine Kuck, The World of the Japanese Garden. From Chinese Origins to Modern Landscape Art, New York/Tokyo: Weatherhill, 1968, S. 65–77; Günter Nitschke, Japanische Gärten. Rechter Winkel und natürliche Form, Köln: Taschen, 1993, S. 29–32. 11 Masao Hayakawa, The Garden Art of Japan, transl. by R. L. Gage, New York/ Tokyo: Weatherhill/ Heibonsha, 1973, S. 16–34; Ono Kenkichi 小野健吉, Nihon teien – kūkan no bi no rekishi 日本庭園—空間の美の歴史, Tōkyō 東京: Iwanami 岩波, 2009, S. 3–76; Shinji Isoya 進士五十八, Nihon no teien 日本の庭園, Tōkyō 東京: Chūō kōron shinsha 中央公論新社, 2010, S. 21. 10

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Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

der Zeit auf beeindruckende Weise wirkmächtig geworden ist. 12 Diese großen Adelsgärten sind nicht nur für den Ausblick aus einer Villa bestimmt, sondern auch zum Lustwandeln und für höfische Bootspartien. Mit künstlichen Hügeln und Steinsetzungen, Teichen und Inseln sowie zahlreichen Gewächsen bestückt, beziehen diese eingehegten Bereiche überdies die Außenwelt mit ein. Auf raffinierte Weise wird der ferne Hintergrund als eine »geborgte Ansicht« (shakkei 借景) der Gartengestaltung eingefügt – ein Kunstgriff, der sich in Japan bis in die Gegenwart durchhält. 13 Thematisch getragen sind die frühen Wandelgärten in erster Linie von der Idee einer Evokation des buddhistischen »Reinen Landes« (sanskr. buddhakṣetra, chin. jìng tǔ bzw. sinojap. jōdo 淨土). Demnach sind solche Anlagen als irdische Versinnbildlichungen einer Art Paradies-Vorstellung aufzufassen, die innerhalb des ostasiatischen Mahāyāna-Buddhismus rund um die Figur des Amitābha-Buddha (chin. Ēmítuófó 阿彌陀佛; sinojap. Amidabutsu 阿弥陀仏 oder Amidanyorai 阿弥陀如来) weite Verbreitung fand. Architektur und Garten des Byōdō-in 平等院 in der nahe Kyōto 京都 gelegenen Stadt Uji 宇治 zeugen auf beredte Weise von den Idealen jener ersten großen Kulturepoche Japans. Im Zusammenspiel der Wohngebäude sowie der davor ausgebreiteten Kunstlandschaft mit dem freien Himmel darüber und dem mit Bedacht gewährten Fernblick auf bewaldete Hügel wird eine beachtliche Eigenständigkeit gegenüber der chinesischen Gartenentwicklung der vorausgehenden Jahrhunderte greifbar; als ein typischer Grundzug japanischer Gartengestaltung tritt die innige wechselweise Durchdringung von Gartenraum und Wohngebäuden zutage. Feinsinnig wird die naturwüchsige Umgebung in den Wohnbereich hereingeholt, indem der Außenraum baulich mehr oder weniger in den Innenraum integriert wird: Zwischen ein tragendes Gerüst aus Holzsäulen und -balken sind aus einem hölzernen Gitterrahmen mit Papiereinsätzen gefertigte leichte »Schiebewände« (shōji 障子) eingefügt, die wahlweise verrückbar oder auch ohne Aufwand ganz zu entnehmen sind. Dadurch lassen sich die Gemächer nach draußen öffnen und gleichsam erweitern; umgekehrt kann die Außen12 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 78–93; Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 34–57; Nitschke, Japanische Gärten, S. 32–61. 13 Shinji, Nihon no teien, S. 66–68.

20 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Kurzer Streifzug durch die Geschichte

welt mit ihrem Licht und Duft, ihren Geräuschen und ihrer gesamten Atmosphäre ungehindert hereinfluten. 14 Wenn der Schauende da mußevoll den Atem des Gartens aufnimmt, kommt immer schon seine Leiblichkeit zum Tragen. Sowie die niedere Kauerperspektive den Blick aus der Geborgenheit des unbestuhlten, mit Reisstrohmatten ausgelegten Innenraumes hinausführt ins Lichte und Freie des Gartens, bindet sie den Menschen zugleich zurück an seinen architektonisch eingerahmten Aufenthaltsort. So ist es von vornherein stets ein an die Leiblichkeit gebundenes Auge, das da schaut. Die Verflechtung von Innen und Außen bewirkt überdies eine Aufhebung der scharfen Grenze zwischen einem kulturell geprägten Alltagsbereich hier und einer »paradiesisch« überhöhten Naturwelt dort. Wer sich in diesen luftigen Zimmern aufhält und in den Palastgarten blickt, der erlangt nicht nur Zugang zu einer anderen Welt; stimmungsmäßig durchdringt diese umgekehrt all seine Lebensvollzüge. Wie bisweilen bemerkt wird, entführen diese Nachbildungen eines buddhistischen »Ortes der Seligen« letztlich gar nicht in einen jenseitigen Bezirk. Indem die Ansicht in ihren tages- und jahreszeitlichen Wandlungen tief auf den an diesem Ort Wohnenden einwirkt, kehrt sich dessen Blick unwillkürlich um und wird auf die eigene Person zurückgeleitet. An einem solchen Aufenthaltsort gewahrt der Mensch nicht nur eine sorgsam gestaltete Umwelt; zugleich erfährt er sich selbst, wird er seiner eigenen Existenz in ihrer umwelthaften Verwurzelung inne. Wo zunehmend ein Besinnungsort den religiösen Sehnsuchtsort überlagerte, konnten die Menschen jener Epoche vermittels einer Art Blickwende im Garten ihr alltägliches Dasein im Hier und Jetzt anschauen. Mehr und mehr war es also – in einer für die weitere Entwicklung entscheidenden »Wende« – das lebensweltliche Diesseits, das in solchen Gärten eingefangen, das da in seinen Sinnfacetten und Erlebnisschichten leibhaft erfahren wurde. 15 Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 133; Günter Nitschke, Japanische Gärten, S. 102/ 104/ 158; Stephen Mansfield, Japan’s Master Gardens. Lessons in Space and Environment, Tokyo: Tuttle, 2011, S. 12; Ono, Nihon teien, S. 132– 133. 15 Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 144/ 146/ 152; Nishimura Kenji 西村 謙司, »Kodai no jōdo to kenchiku – Uji no fūkei to Byōdōin no zōei 古代の浄土 と建築 – 宇治の風景と平等院の造営«, Taji Takahiro 田路貴浩 / Saitō Ushio 斎藤潮 / Yamaguchi Keita 山口敬太 (Hg.), Nihon fūkeishi: vision wo meguru 14

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Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

Das Anliegen, beim Betrachter über den Ausblick eine Innenschau anzuregen, wird in den nachfolgenden Epochen, während der Kamakura鎌倉- (1185–1333) und vor allem der Muromachi室町Zeit (1336–1573), in buddhistischen Tempelgärten weiter verfeinert. Am meisten Bekanntheit – zumal außerhalb Japans – haben die Gärten der verschiedenen Zen-Schulen (zenshū 禪宗) erlangt. 16 Was den kulturellen Hintergrund und die ideelle Herkunft des neuen Gartentypus betrifft, so wird neben der vielschichtigen Aufladung mit religiöser Bedeutsamkeit vielfach die chinesische BergWasser-Malerei (chin. shān shuǐ huà bzw. sinojap. sansuiga 山水 畫) als entscheidende Inspirationsquelle angeführt. 17 Wegweisende Neuschöpfungen sind der Teich- und Moosgarten des Saihō-ji 西芳 寺 (im Volksmund Kokedera 苔寺 genannt) sowie die Wandelgärten des Tenryū-ji 天竜寺, des Kinkaku-ji 金閣寺 (oder Rokuon-ji 鹿苑寺) und des Ginkaku-ji 銀閣寺 (oder Jishō-ji 慈照寺), alle in Kyōto gelegen. Mit ihrer Fülle von Aus- und Durchblicken lassen sich diese weiten Areale, in denen man sich ergehen und verlieren kann wie in einem Berg-Wasser-Bild, zweifellos als durchkomponierte Ansichten nach dem Muster der chinesischen Malerei betrachten. Heute werden sie allerdings in aller Regel nicht mehr nach diesem Paradigma, sondern eher wie europäische Landschaftsgärten ob ihrer gleichsam »gemalten« Schönheit besichtigt und photographisch in Szene gesetzt. Der Fachwelt ist nicht verborgen geblieben, dass sich in der weiteren historischen Entfaltung der bisher beschriebenen Grundlagen die Verständnisprobleme erheblich verschärfen. Ein sorgfältiges Nachfragen danach, ob es sich bei japanischen Gärten tatsächlich um »Landschaftsansichten« oder vielleicht eher um Orte des »Wohnens« handelt, ebenso danach, in welcher Weise die Anschaugihō 日本風景史:ヴイジョンをめぐる技法, Tōkyō 東京: Shōwadō 昭和堂, 2015, [77–112] S. 82–83/ 85–86; Nomura Shunichi 野村俊一, »Chūsei zenin no sansui to Musō Soseki – Saihō-ji to Zuisen-ji 中世禅院の山水と夢窓疎石 – 西芳寺と瑞泉寺«, Taji, Nihon fūkeishi, [113–143] S. 127–129; Tanaka Akira 田 中明, »Kinsei no rikyū – Shugaku-in Rikyū ni okeru sōden no fūkei 近世の離 宮――修学院離宮における相伝の風景«, Taji, Nihon fūkeishi, [145–175] S. 169. 16 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 105–148; Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 58–73; Nitschke, Japanische Gärten, S. 68–88. 17 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 149–162; Nitschke, Japanische Gärten, S. 87–88.

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ung da zum Einsatz kommt, gewinnt nunmehr an Dringlichkeit. Eine ebenfalls in der Muromachi-Zeit aufkommende Gattung ist nämlich mit den abgeschiedenen Wohnungen und »Studierzimmern« (shoin 書院) buddhistischer Äbte innerhalb größerer Tempelbezirke verbunden. In dieser gern summarisch als »Zen-Gärten« bezeichneten Unterart ist wiederum der ästhetisch sehr radikal auftretende »Stein-« oder »Trockengarten« (sekitei 石庭, karesansui 枯山水) 18 nachgerade zum Inbegriff des japanischen Gartens geworden. Der typische Steingarten schrumpft im Format häufig auf die Fläche enger Binnenhöfe innerhalb eines verwinkelten Gebäudekomplexes zusammen. Er weist gar keinen oder nur spärlichen Planzenbewuchs auf; allenfalls vereinzelte Grasbüschel und kleine Mooshügel finden in einem solchen Ensemble hier und da ihren Platz. Ebenso wird da in der Regel auf Teiche und Wasserläufe verzichtet, die stattdessen durch zu wellenartigen Rillen gefurchte, grobkörnige Sandbetten »symbolisch« dargestellt werden. Die zentrale Rolle spielen jetzt diese raumgreifenden Kiesflächen sowie darin verteilte horizontale und vertikale Einzelfelsen oder Gruppen aus mehreren Steinen. Paradebeispiele sind der große Steingarten des Ryōan-ji 龍安寺 und ein winziger Trockengarten im Daisen-in 大仙院 am Daitoku-ji 大德寺, beide in Kyōto. Gemeinhin wird auf die religiös motivierte Symbolträchtigkeit dieser Anlagen abgehoben, als schauten wir da mit etwas Phantasie 19 lesbare Erläuterungen zur buddhistischen Lehre an. Diese Auffassung kommt dem allgemeinen Bedürfnis nach handfester Bedeutung und Verständlichkeit angesichts als rätselhaft empfundener Gebilde entgegen, und historisch ist sie gewiss nicht völlig verfehlt. Doch bei aller Gelehrsamkeit hinsichtlich der »Inhalte« darf auch hier die Absicht, eine Besinnung seitens des Schauenden zu befördern, nicht in den Hintergrund geraten. Der chinesische Buddhismus hat im fünften Jahrhundert eine radikale Abkehr von Jenseits- und Transzendenz-Vorstellungen und eine vielschichtige Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 163–171; Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 74–99; Nitschke, Japanische Gärten, S. 88–108; Stephen Mansfield, Japanese Stone Gardens. Origins – Meaning – Form, Tokyo: Tuttle, 2009. 19 Saitō Katsuo 齋藤勝雄, »Ashita no Nihon teien 明日の日本庭園«, Rinsen 林 泉, 6 (1935), [228–229] S. 229; Niwa Teizō 丹羽鼎三, »Sakutei keishikijō yori Nihon teien no ruibetsu 作庭形式上より日本庭園の類別«, Zōen zasshi 造園 雑誌, 7/3 (1940), [128–136] S. 132. 18

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Rückwendung ins Diesseits, in die jeweilige Situiertheit des Gläubigen, vollzogen. In der Folge wurde die Sinneswahrnehmung – zumal in der japanischen Ästhetik – zu einem Feld intensiver Auseinandersetzung mit den innerweltlichen Dingen. Die Ausrichtung auf das schlichte Hervortreten des je Gegebenen bestimmt maßgeblich die Gestaltung buddhistischer Tempelgärten. Diese stellen auf sehr unmittelbare, hermeneutisch nicht hinreichend zu erschließende Weise Orte für die Meditation und andere religiöse Praktiken bereit. Dass solche Anlagen mit großer Intensität zum Nachdenken anregen, wird kein Besucher von der Hand weisen. Gerade diese eindrucksvolle Wirkung ist es ja, die japanische wie europäischamerikanische Besucher bis heute anzieht und in ihren Bann schlägt. Stellvertretend für unzählige Morgenlandfahrer der Nachkriegsära mag dies John Cage und seine einflussreiche Beschäftigung mit dem berühmten Ryōan-ji-Steingarten belegen. 20 Grundsätzlich werden in der Fachliteratur sogar die Trockengärten mit ihrer kühlen Ausstrahlung gern als Miniaturlandschaft angesehen – analog zu chinesischen Gärten mit ihren verwunschenen Gewässern, verwinkelten Pfaden und skurril durchlöcherten Felsen. 21 Mitunter wird freilich festgehalten, mit dem bildnerischen Verfahren der Steingärten werde nicht das Abbild einer natürlichen Gegend angestrebt, sondern ein Idealtypus oder eine Allegorie der Natur. Dargeboten werde nicht ein reales Stück Natur, sondern ein gereinigtes Symbol der Natur 22 oder die idealisierte kosmische Weltordnung im Ganzen. 23 Der moderne Ästhetiker und GartenUlrike Kasper, Ecrire sur l’eau. L’esthétique de John Cage, Paris: Hermann, 2005. 21 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 216–221; Shigemori Mirei 重森 三玲, Jiin no teien 寺院の庭園, Tōkyō 東京: Tōhō shoin 東方書院, 1933, S. 46; Ono, Nihon teien, S. 131–134. 22 Richardson Wright, The Story of Gardening: From the Hanging Gardens of Babylon to the Hanging Gardens of New York, London: Routledge, 1934, S. 147; Nitschke, Japanische Gärten, S. 106; Kasper, Ecrire sur l’eau, S. 101; Mansfield, Japanese Stone Gardens, S. 44/ 46; Shigemori, Jiin no teien, S. 43–44/ 52–53; Shigemori Mirei 重森三玲, Karesansui 枯山水, Tōkyō 東京: Kawara shoten 河 原書店, 1965, S. 63/ 70/ 77/ 87–88. 23 Shinji, Nihon no teien, S. 7–16/ 28–30/ 62–65. Insbesondere dieser Autor vertritt offenbar die – recht einseitige – Auffassung, jede Gartenkunst wolle in erster Linie die menschliche Sehnsucht nach einer idealen, friedlich geordneten Lebensumgebung, einem »Paradies«, befriedigen. 20

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gestalter Shigemori Mirei 重森三玲 streicht zudem den maßgeblichen Einfluss heraus, den die chinesische Berg-Wasser-Malerei gerade auf diese Gattung ausgeübt habe. 24 Im Ausgang von einer Homophonie zwischen kare 枯れ, »vertrocknet«, und kare 仮れ »geliehen«, versteht er den Trockengarten – japanisch kare-sansui 枯山水 – als ein »unechtes« – will sagen »geborgtes« – Berg-Wasser-Gebilde (kesansui 仮山水); dabei komme es zur Verdichtung der wesentlichen Elemente auf höchster Abstraktionsstufe. 25 Ähnlich der bekannten »Topflandschaft« (bonzai 盆栽) und den »Topffelsen« (bonseki 盆石) 26 sei eine solche Anlage als miniaturhafte Versinnbildlichung einer kosmischen Weltlandschaft aufzufassen. 27 Shigemori betrachtet einen Steingarten gewissermaßen als Malerei im Raum, 28 oft sogar wie ein abstraktes »Bildmuster« (zuan 圖案). 29 Was diese Auffassung bedeutet, lässt sich ausgezeichnet an dem großen, von Shigemori 1939 gestalteten Trockengarten des Kōmyō-in 光明院 beim Tōfuku-ji 東福寺in Kyōto ablesen. Mit gewundenen Kiesbeeten und Mooshügeln sowie zahlreichen, nach einer geheimnisvollen Geometrie dazwischen verteilten Steinsetzungen scheint dieser Garten in der Tat so etwas wie ein abstraktes »Denkbild« vor der Überschau des Betrachters auszubreiten – als handelte es sich um versteinerte Metaphysik. Allerdings bleibt zu fragen, um welche gedanklichen Gehalte es diesem »Bildmuster« eigentlich gehen soll. Überdies ist solch ein raumplastisches Gebilde lebendiger, facettenreicher, sinnlich anrührender als eine abstrakte Bildzeichnung oder eine bloße Gedankenfigur. Man fühlt sich eher an Rauminstallationen der künstlerischen Avantgarde als an philosophische Theoreme erinnert. In Stein erstarrte, karge und strenge Orte wie der Steingarten am Ryōan-ji haben gar nichts mit europäischen Vorstellungen von einem »Garten«, aber auch nicht viel mit ihren japanischen Vorläufern gemein. Etliche Autoren unterstreichen nicht von ungefähr die neue Sparsamkeit der Gestaltungselemente, ihre sinnliche Herbheit und vergeistigte Wirkung. Tendenziell werden Trockengärten daher 24 25 26 27 28 29

Shigemori, Karesansui, S. 82–83. Ebd., S. 77. Ebd., S. 45–57. Ebd., S. 54. Ebd., S. 46. Ebd., S. 52–53.

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weniger auf ihre sinnlichen Merkmale hin befragt; vielmehr unterstellt man ihnen eine komplexe Bedeutungsintention. Wie selbstverständlich geht beispielsweise Shigemori davon aus, dass da Sinngehalte über »Symbole« (shōchō 象徴) zur Anschauung gelangten – seien dies nun buddhistische Lehrsätze oder andere philosophische oder künstlerische Ideen. 30 Vorgebracht wird daneben auch eine eher formalästhetische Sichtweise, wonach da eine bestimmte Raumidee in konkreter Gestalt erscheine. 31 Loraine Kuck wiederum versteht den Steingarten recht modern-europäisch als ein »Medium«, dessen sich ihre Schöpfer für den »Ausdruck ihrer Gedanken und Gefühle« 32 bedienten. Ganz folgerichtig ist sie deshalb bestrebt, am Beispiel des Ryōan-ji-Gartens dessen ursprüngliche »Bedeutung« (meaning) einem »Auslegen« (interpreting) 33 zu unterziehen. Die »Aussage« des Gartens scheint zu entschlüsseln zu sein wie die eines Gedichtes oder eines Rätsels. Hayakawa Masao 早 川正夫 wiederum geht davon aus, dass solche Gärten »den Ausdruck individueller Denkwelten darstellen«. 34 Bisweilen wird auch die weniger modern-individualistische Auffassung vertreten, es handele sich um eine Art Anleitung zur buddhistischen Übungspraxis. 35 Peter Pörtner bemerkt, ein solcher Garten fungiere als »ein visuelles Stimulans für die Erleuchtungsarbeit, vulgo: Meditation oder Kontemplation«. 36 Zumeist freilich versteht man diese Funktion so, als wäre der Steingarten eine Konzeption, die skulpturale Gestalt angenommen hat; man versucht, das sich darbietende Arrangement trotz seiner schillernden Mehrdeutigkeit wie einen lesbaren Text von buddhistisch-philosophischer Bedeutsamkeit zu entziffern. Doch wenn prinzipiell in Japan »der Garten wie mit einer Folie von Bedeutung überzogen« und somit »interpretierbar«

Shigemori, Jiin no teien, S. 12/ 44/ 46/ 52–53; Shigemori, Karesansui, S. 69– 70/ 77. Vgl. ebenso Mansfield, Japanese Stone Gardens, S. 46. 31 Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 93–95; Shigemori, Karesansui, S. 95. 32 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 163: »a medium in which to express their thoughts and feelings«. 33 Ebd., S. 165. 34 Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 74: »they represent expressions of individual worlds of thought«. 35 Nitschke, Japanische Gärten, S. 90. 36 Peter Pörtner, »Die Penetranz der Diskretion. Die Diskretion der Penetranz. Einige Mutmaßungen über Japan«, Tumult 33 (2008), [84–97] S. 86. 30

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ist, 37 dann zeigt sich Pörtner zufolge in Steingärten wie auf einer Meta-Ebene die »Geometrie der Sinn-Entstehung« selbst: »[E]in Zen-Garten reduziert Bedeutung auf den Prozess der Herstellung von Bedeutung.« 38 Symbolistisch-hermeneutische oder semiologische Erklärungsversuche wie die angesprochenen sind hilfreich und berechtigt; dennoch greifen sie zu kurz. Aus ästhetischer Sicht ist – wie bei allen Werken der Kunst – die Nachfrage angebracht: Warum sollten abstrakt fassbare Sinngehalte des Umwegs über einen Garten bedürfen? Was geschieht in der Konkretheit der Gartenanlage mit den ideellen Gehalten? Umgekehrt ist ebenso schwer nachvollziehbar, dass ein sinnlich so kraftvolles Gebilde auf die bloße Mitteilung von Gedanken aus sein sollte. Ist ein Trockengarten als Darbietung von Bedeutsamkeit hinlänglich bestimmt – selbst wenn diese Darbietung sich in eine meditationsfördernde Dekonstruktion von Bedeutsamkeit verwandeln sollte? Derlei Denkmuster wirken blass im Verhältnis zur sinnlichen Wucht und Ausstrahlung solcher Orte. Wesentliches verfehlen freilich nicht minder scheinbar phänomenologische Charakterisierungen, die umgekehrt in erster Linie auf eine Ästhetik der Asymmetrie und die »Schönheit des Alters« (beauty of age) abheben, welche etwa in der Patina unbearbeiteter Felsen greifbar werde. 39 Auch solche orientalistischen Ästhetisierungsbestrebungen verschleiern das Problematische, das der sinnlich konkreten Sinndimension dieser Gattung eignet. Es bedarf schärferer ästhetisch-phänomenologischer Analysen dessen, was wir da sinnhaft-sinnlich erfahren. Unwillkürlich stellen sich angesichts solcher Gartenschöpfungen philosophische Grundfragen ein: Wie hängen Bedeutsamkeit und Sinnlichkeit zusammen? Was bedeutet die dinghafte Verkörperung von Sinn für das Moment der Sinnhaftigkeit wie für das Dingsein der Dinge? Neben den vielschichtigen Trockengärten kann eine weitere Gruppe ebenso mit Fug und Recht als Gipfel der tiefgehend vom Zen-Buddhismus beeinflussten Gartenkunst Japans gelten, nämlich der »Teegarten« (chaniwa 茶庭 oder roji 露地), 40 der von der AzuEbd., S. 85. Ebd., S. 87–88. 39 Mansfield, Japanese Stone Gardens, S. 47–53. 40 Kuck, The World of the Japanese Garden, S. 187–200; Hayakawa, The Garden Art of Japan, S. 127–135; Nitschke, Japanische Gärten, S. 146–163; Shigemori 37 38

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chi-Momoyama安土桃山-Zeit (1568–1603) bis hin zur frühen Edo 江戶-Zeit (1615–1868) das Bild prägt. Gegenüber den unterkühlten Trockengärten gleichen diese eng umgrenzten, ganz auf Beschaulichkeit ausgerichteten Orte feuchtwarmen Biotopen; üppig beflanzt und immergrün, völlig mit Moos überwuchert, bildet eine kleine fensterlose »Teehütte« (chashitsu 茶室) und ein mit breiten Trittsteinen in losen Abständen ausgelegter Pfad dahin das Zentrum solcher Gärten. Obgleich gestaltet wie ein winziges Idyll – gleichsam ein Zufluchtsort inmitten der städtischen Alltagsumgebung – dient hier doch alles den praktischen Bedürfnissen des »Teeweges« (chadō 茶道) und der Durchführung der »Teezeremonie« (cha no yu 茶の湯). 41 Im Vergleich mit der kahlen Nacktheit von Steingärten erscheint ein solcher Ort der Muße mitunter nicht weniger unwirklich, denn die scheinbar am anderen Ende der Empfindungsskala angesiedelte, reizvolle Pflanzenpracht ordnet sich hier auf paradoxe Weise der Idee von Schlichtheit und Alltäglichkeit unter. 42 Für Shigemori geht es in einem Teegarten freilich nicht um die blanke, selbstvergesssene Alltäglichkeit; er sei vielmehr als Inbegriff einer »hintergründig-dunklen« (yūgen 幽玄) Harmonie zwischen Natur und Menschenwerk zu verstehen. 43 Wie nirgendwo sonst findet sich im Rahmen des Teerituals und ebenso in den architektonischen und gestalterischen Elementen des Gartens alles Gewöhnliche und Banale zu den ästhetischen Idealen des wabi (わび, 侘) und des sabi (さび, 寂) verdichtet. Während wabi einen Hauch von Einsamkeit, erhabene Verlorenheit und Stille umschreibt, bezeichnet sabi gemeinhin die verwitterte Patina gealterter Gegenstände. Diese Patina kann als Ergebnis eines individuellen, indes anonymen Reifungsprozesses oder als Zeichen für die Vergänglichkeit menschlichen Lebens angesehen werden. 44 Schon aus dieser Skizze lässt sich erahnen, inwiefern der Typus des Teegartens die bereits mehrfach angesprochene Spannung zwischen Schauen und Wohnen auf die Spitze treibt. Einerseits dient ein solcher Garten durchweg dem Zweck, den Aufenthalt an Mirei 重森三玲, Nihon no chaniwa geijutsu 日本の茶庭芸術, Tōkyō 東京: Usui shobō 臼井書房, 1949. 41 Shigemori, Nihon no chaniwa geijutsu, S. 2–4. 42 Nitschke, Japanische Gärten, S. 160; Ono, Nihon teien, S. 151–152. 43 Shigemori, Nihon no chaniwa geijutsu, S. 34–36. 44 Nitschke, Japanische Gärten, S. 160; Shinji, Nihon no teien, S. 72.

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diesem Ort mit all seinen umgebungshaften Qualitäten so zurückgenommen und still wie möglich zu gestalten; andererseits soll dieses Orthafte selbst in seiner einzigartigen sinnlichen Fülle sowie in der Patina seiner hintergründigen Zeitlichkeit hervortreten und erfahrbar werden. Dem Blick in den Garten kommt daher eine besondere Rolle zu. Diese Art des Schauens lässt sich gewiss nicht als Ausblick in eine Landschaft kennzeichnen – mag, was »Landschaft« besagt, auch noch so miniaturhaft und überschaubar gefasst werden. Auch hier lohnt sich das Nachfragen: Was für eine Schau ist dies, die in einem zugleich alltagsmäßigen und doch überhöhten, orthaften »Verweilen« entspringt? Wie zeigt sich da das Erscheinende? Schließlich dürfen jene weitläufigen »Wandelgärten« (kaiyūshiki teien 回遊式庭園) nicht unerwähnt bleiben, die während der Tokugawa德川-Herrschaft der oberste Heeresführer und faktische Herrscher über Japan, der Shōgun 將軍 selbst, sowie die Daimyō 大 名 genannten Feudalherren an ihren Residenzen über das ganze Land verstreut, besonders aber im Gebiet der Hauptstadt Edo 江 戶, dem heutigen Tōkyō 東京, anlegen ließen. Auch bedeutende Staatsbeamte und Samurai 侍 (auch bushi 武士 oder buke 武家 genannt) taten es ihren aristokratischen Herren mitunter gleich. Diese Parkanlagen, die beachtliche Ausmaße erreichen können, enthalten künstliche Hügel an gewundenen Seeufern, und über das ganze Areal sind in Grüppchen eigentümlich gemaserte Felsen und aufsehenerregend gebildete Kiefernbäume verteilt; kleine Haine und Aussichtspunkte mit Pavillons laden zur Rast ein. Der Rikugien 六義園, der Koishikawa-Kōraku-en 小石川後楽園 sowie der Kyū Shiba-rikyū-teien 旧芝離宮庭園 (bzw. Kyū Shiba-rikyūonshi-teien旧芝離宮恩賜庭園), alle in Tōkyō gelegen, können als herausragende Anschauungsbeispiele für diese späte Gattung herangezogen werden. Wenngleich bei Wandelgärten auf den ersten Blick zweifellos das freie, mußevolle Umherschweifen in einer kunstvoll angelegten, scheinbar »ländlichen« Umwelt – mitten in einer damals bereits großstädtischen und hektischen Alltagsumgebung – Vorrang vor dem längerfristigen Aufenthalt hat, handelt es sich doch um Lustgärten, die einem Anwesen beigesellt sind. Demnach verbinden sich hier abermals unterschiedliche Weisen des Ausblicks mit dem alltagsmäßigen Leben. Sogar der edo-zeitliche Wandelgarten lässt 29 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

sich nicht auf das Vorführen künstlicher »Landschaften« oder ein raffiniertes Spiel mit Perspektiven reduzieren; auch diese Gattung stiftet Wohn- und Verweilorte. Dabei tritt dem Besucher der Garten als Garten freilich nicht zuletzt vermittels eines beinahe filmgleichen Wechsels einzelner Ansichten gegenüber, indem sein Spazierweg eine leibhafte Bewegtheit über die Anlage und ihre Schau legt. Außerdem sind die sorgsam platzierten Baum- und Steinansammlungen als herausragende Orte ästhetischer Verdichtung reich an Anregung für ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen künstlicher Durchgestaltung und naturwüchsiger Wirklichkeit oder über das Dingsein der Dinge. Angesichts der Gärten aller Epochen drängt sich, wie dieser knappe Abriss gezeigt haben sollte, immer wieder die ästhetischphänomenologische Grundfrage nach dem Erscheinen auf. In einem ersten Schritt gilt es jedoch zu klären, wie sich der Blick auf solche Anlagen geschichtlich herausgebildet hat. Das Vorhaben eines ebenso konkreten wie phänomenologisch-kritischen Denkens gebietet ein gewisses Misstrauen gegenüber üblichen Weisen des Schauens, die sich in Fachdarstellungen und Kommentaren, vor allem aber im touristischen Betrieb der Gegenwart niedergeschlagen haben. Die gängige Gartenanschauung muss ihrerseits zuallererst einer phänomenologischen Epoché und einer Art Dekonstruktion unterzogen werden, bevor das ästhetisch-phänomenologische Nachforschen zu den Sachen beginnen kann.

2.

Wie sehen wir japanische Gärten heute?

Was »der japanische Garten« eigentlich sei, sodann wie er anzuschauen sei, diese Fragen sind selbst Teil der im Vorblick umrisshaft entworfenen und im Hauptteil dieses Buches zu entwickelnden Problematik. Die jüngere Geschichte des Blickes auf japanische Gärten und der Auseinandersetzung damit ist eine Voraussetzung der Frage nach der eigentümlichen Phänomenalität jener Gartendinge sowie der ästhetisch-phänomenologischen Erkundung dessen, wie sich da jeweils Anschauung und Erleben des Besuchers vollziehen. Zu bedenken gilt es bei dieser Untersuchung zudem, dass verschiedene Gartentypen auf je unterschiedliche Weise mit der Lebenszeit desjenigen umgehen, der im Garten wohnt, dort eine Zeit lang he30 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Wie sehen wir japanische Gärten heute?

rumwandert oder auch nur kurz darin verweilt. Die zeitlichen Dimensionen japanischer Gärten reichen vom Wechsel der Jahresund Tageszeiten über die geschichtliche Generationenfolge ihrer Instandhaltung bis hin zur mußevollen Zeit eines Besuches; natürlich betrifft die Zeitlichkeit auch die Augenblicke der sei es intensiv konzentrierten, sei es versunken hingegebenen Schau selbst. Allemal sollte die Zeit der Gartendinge und ihres Erscheinens nicht von vornherein auf die sehr knappe Zeit des einmaligen Aufenthalts und der – heute zur Regel gewordenen – touristischen Besichtigung reduziert werden. 45 Katahira Miyuki 片平幸 hat die »Konstruktion« des modernen Bildes von japanischen Gärten in aufschlussreicher Weise nachgezeichnet. 46 So machte gegen Ende des 19. Jahrhunderts als einer der ersten der in Japan lebende Engländer Josiah Conder von einer europäischen Warte aus auf die Besonderheiten japanischer Gartenkunst aufmerksam, wobei er einen Gegensatz sowohl zum englischen Landschaftsgarten wie auch zum chinesischen Garten herauszuarbeiten bestrebt war. 47 Damit prägte Conder mit dem Einsetzen der Modernisierung in Japan und des verstärkten Austausches mit der europäisch-amerikanischen Welt zunächst eine Sichtweise, die getragen war von den für ihn in Tōkyō zugänglichen Wandelgärten aus der Edo-Zeit. Indem Conder sowohl den alltagsmäßigen Aufenthalt im Garten wie auch die freie Aussicht und Überschau betont, wird er durchaus den Gegebenheiten vor Ort wie auch den historischen Hintergründen gerecht. Auf diesem Wege wurden jedoch gängige Muster aus der europäischen Landschaftsmalerei für das – bis heute wirksame – Verständnis japanischer Gärten maßgebend. Grundmotive wie Conders selbstverständliche Rede von »Landschaft« (landscape), von einer »Nachahmung« (imitation) oder »Darstellung« (representation) 48 der Natur im Garten, ferner sein Ideal einer unverdorbenen »Natürlichkeit« (naturalness) 49 des japaOno, Nihon teien, S. 221. Katahira Miyuki 片平幸, Nihon teienzō no keisei 日本庭園像の形成, Tōkyō 東京: Shibunkaku shuppan 思文閣出版, 2014. 47 Josiah Conder, Landscape Gardening in Japan [1893], New York: Dover, 1964, S. 6; Katahira, Nihon teienzō no keisei, S. 23. 48 Conder, Landscape Gardening in Japan, S. 1–2/ 6–7/ 108. 49 Ebd., S. 6–7. 45 46

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Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

nischen im Gegensatz zum europäischen und chinesischen Garten – solche Klischees bieten aus heutiger Sicht Anlass zu kritischen Nachfragen, wo nicht zu entschiedener Dekonstruktion. Die überwiegende Mehrzahl der nachfolgenden Autoren findet sich indes im Einklang mit Conder; grundsätzlich ist man der Auffassung, es handle sich um künstlich angelegte »Landschaften« mit ostasiatischem – sei es chinesisch geprägtem, sei es von realen geologischen Gegebenheiten in Japan bestimmtem – Kolorit. Man nimmt japanische Gärten gemeinhin ähnlich wahr wie ein klassisches Landschaftsbild aus Europa. Nicht nur angesichts dieser verbreiteten Engführung auf einen verallgemeinerten Begriff von Landschaftsmalerei, selbst noch hinsichtlich der These vom prägenden Einfluss chinesischer Bildkunst muss unbedingt geprüft werden, ob es sich bei einem japanischen Garten überhaupt – und wenn ja, in welchem Sinne – um »Landschaft« oder deren »Darstellung«, gar um eine Art »Bild« handelt, wie dies dem modernen Besucher so selbstverständlich erscheint. 50 Wollen solche Anlagen tatsächlich wie ein Gemälde betrachtet, als abbildhafte Wiedergabe oder Idealisierung einer natürlichen Gegend angeschaut werden? Oder finden sich da metaphysische »Weltbilder« und »Mandalas« 51 gleichsam eingeschrieben in eine »Naturansicht«? Der gängige Anschauungsrahmen fußt auf wenigstens drei fragwürdigen Vorannahmen. Insofern man sich einig ist, dass es in japanischen Gärten grundsätzlich immer um Natur und deren Darstellung geht, unterstellt man zum einen stillschweigend, dass »Natur« überall und zu allen Zeiten mehr oder weniger dasselbe bedeute, dass also der heutige Naturbegriff universal gültig sei. Vorausgesetzt wird zweitens, dass es sich bei Gartenanlagen um eine gleichsam bildhaft eingerahmte Komposition, um eine in sich geschlossene und ausdrücklich für die Anschauung zubereitete »Landschaftsansicht« handelt. Doch kann in Japan oder Ostasien – zumal in vormodernen Epochen – überhaupt von »Natur« und »Landschaft« gesprochen werden, gemäß einem Verständnis, das sich so erst in der Neuzeit, und zwar in Europa, herausgebildet hat? Auch die japanischen Autoren verwenden durchweg die modernen Ausdrücke fūkei 風景 für »Landschaft« und keikan 景観 für »Ansicht«, »Landschaftsansicht«. 51 Shinji, Nihon no teien, S. 27/ 63/ 86. 50

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Wie sehen wir japanische Gärten heute?

Eine dritte Vorannahme hängt mit den genannten eng zusammen und betrifft das heutige Verständnis davon, was ein vormodernes chinesisches Berg-Wasser-Bild ausmache und wie es zu betrachten sei. Dass es sich dabei weder um »Naturdarstellung« noch um ein »Landschaftsbild« handelt, dass diese Malereigattung der Gegenständlichkeit ihrer Stoffe zum Trotz keineswegs einer – europäischen – Abbild-Theorie huldigt, diese kategorialen Unterschiede habe ich an anderer Stelle eingehend nachzuweisen versucht. 52 Statt eine mimetisch als Abbild von Sichtbarem, jedoch Abwesendem, verstandene »Ansicht« darzubieten, eröffnet ein Berg-Wasser-Bild viel eher im Hier und Jetzt dem Betrachter einen Daseinsort. Statt dass er sich da einer fiktionalen Schau hingeben würde, durchläuft der Schauende vor solchen Bildern vielmehr eine sehr reale Selbstverwandlung. Das Bild erschließt ihm ein welthaftes Wohnen – durchaus im Sinne Heideggers oder Merleau-Pontys, die beide immer wieder das »Wohnen« in der Welt über deren distanzierte Betrachtung und reflektierende Erkenntnis gestellt haben. Dieser Ansatzpunkt ist unbedingt zu berücksichtigen, wann immer japanische Gartengestaltungen auf Vorläufer in der chinesischen und später natürlich ebenso der japanischen Berg-Wasser-Malerei zurückgeführt und von daher verständlich gemacht werden sollen. Nach 1920 stieß Conders »ausländische« Herangehensweise in Japan selbst auf teils heftige Kritik, 53 hauptsächlich mit der Begründung, Conder blende das eigentliche Wesen der japanischen Gartenkunst, den »Zen-Garten«, aus. 54 Den anderen, vermeintlich genuin »japanischen« Blick machte in der Folge vor allem Harada Jirō 原田治郎 55 außerhalb Japans bekannt. Nunmehr standen anstelle der jungen Wandelgärten Tōkyōs die alten Tempelgärten der ehemaligen Hauptstadt Kyōto im Mittelpunkt; auch die Art zu schauen Mathias Obert, Welt als Bild: Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg / München: Alber 2007; M. Obert, »Einige Thesen zum Bildverständnis im vormodernen China«, Walter Schweidler (Hg.), Weltbild-Bildwelt, Sankt August Academia Verlag, 2007, S. 193–219; M. Obert, »Ein Weltzugang im Bild. Für eine transkulturelle Phänomenologie des ästhetischen Verhaltens«, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 36.2 (2011/6), S. 125–151. 53 Katahira, Nihon teienzō no keisei, S. 13/ 41. 54 Ebd., S. 8–9. 55 Jiro Harada, The Gardens of Japan [1928], New York: Routledge, 2009. 52

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hatte sich gewandelt: Der europäische Panoramablick wurde ersetzt durch das Grundmuster der verstellten, schrägen Aussicht aus Gebäuden. 56 Infolge der unterschiedlichen Perspektive der Schauenden geht damit eine gesteigerte Subjektivität der Schau einher. Überdies erlangen gerahmte Ausschnitte und Detaileindrücke, der Blick aus nächster Nähe sowie der versunkene Blick, der nichts Bestimmtes fixiert, einen höheren Stellenwert. Unverkennbar hat auch dieses neue – historisch ältere und vermeintlich »authentischere« – Paradigma der Gartenerfahrung starken Einfluss auf die Forschung ausgeübt. Die vorliegende phänomenologische Untersuchung bleibt bis zu einem gewissen Grad ebenfalls den soeben skizzierten Anschaungsmustern verhaftet, und zweifellos verdankt sie der Fachliteratur und den Beobachtungen anderer wertvolle Anleitung und Anregung. Nichtsdestoweniger ist sie bestrebt, konsequent eine Einstellungsänderung durchzuhalten, die so entschieden anderswo vermutlich selten verfolgt wurde. Zunächst muss eine ausdrücklich ästhetische Haltung gegenüber dem Untersuchungsgegenstand eingenommen werden, denn ein japanischer Garten ist eben nicht lediglich ein naturgegebenes Ding, sondern ein künstlich und künstlerisch aufgeladenes Sinngebilde, welches den Menschen sinnlich berühren will. Weder die »natürliche Einstellung« im Sinne Husserls noch eine mit der entsprechenden Fachgelehrsamkeit unterfütterte Betrachtungsweise sind für das hier verfolgte Unterfangen angemessen. Doch selbst eine »phänomenologische Einstellung« allein, wie sie Husserl gegenüber der gegenständlichen Weltwirklichkeit immer wieder vorgeführt hat, reicht nicht aus, um die Gärten in ihrer sinnhaft-sinnlichen Dichte oder in ihrer eigentümlich zwischen Kulturalität und Naturwüchsigkeit vermittelnden Dinglichkeit in den Blick zu bekommen, denn es handelt sich nicht um »Wahrnehmungsobjekte«, sondern um Kunstwerke in einem sehr spezifischen Sinne. In einem entscheidenden Punkt muss die vorliegende Untersuchung methodisch sogar von jenen wegweisenden Analysen abweichen, die Mikel Dufrenne zur Phänomenologie der »ästhetischen Erfahrung« geleistet hat. Dufrenne geht ausschließlich auf das »Kunstwerk« (œuvre d’art) als »ästhetisches Objekt« (objet es56

Katahira, Nihon teienzō no keisei, S. 94–97.

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thétique) 57 ein; Fragen der Naturwahrnehmung klammert er ausdrücklich aus. 58 Es leuchtet jedoch unschwer ein, dass im Falle eines japanischen Gartens derjenige Gegenstand, der sich in ästhetischer Einstellung und Erfahrung erst konstituiert, gerade auf einer wesenhaften Verschränkung von naturwüchsigen mit menschengemachten, im herkömmlichen Sinne »künstlerischen« Momenten beruht. Es gilt mithin, Dufrennes Begriff des »ästhetischen Objekts« zu erweitern; der Horizont und die Eigenart dessen, was er »ästhetische Erfahrung« (expérience esthétique) nennt, muss auf der Grundlage einer ästhetisch-phänomenologischen Betrachtung und Reflexion in Gärten eine umfassendere Bestimmung erhalten. Japanische Gartenanlagen erfordern eine besondere Art der ästhetischen Epoché, bevor sie in all denjenigen Dimensionen erfasst werden können, in denen sie tatsächlich erscheinen und von ihren Schöpfern intendiert sind. Der Übergang von der alltagsmäßigen Einstellung zu einer analog zu anderen Gebieten der Kunsterfahrung explizit »ästhetisch« zu nennenden Wahrnehmungs- und Reflexionsform kann die gewöhnlich in Anschlag gebrachten Anschauungen sicherlich nicht in der Art einer strengen Husserl’schen Epoché ausschließen; dies muss im Übrigen auch gar nicht bezweckt werden. Allerdings gilt es sehr wohl, einen bewussten Umgang mit den vor allem im vergangenen Jahrhundert entwickelten und eingeübten Blickmöglichkeiten anzustreben. Von diesem Ausgangspunkt her soll zunächst in Form einer Hypothese behauptet werden, dass japanische Gärten weder als »reine Natur« noch als »Kunst« hinlänglich in den Blick gelangen. Weder der Botanologe oder der »Gartenfreund« noch der Kunstkenner der Museen und Sammlungen dürfte ohne weiteres in der Lage sein, japanischen Gärten so zu begegnen, dass sie sich in – phänomenologisch gesprochen – »wesentlichen« Zügen aufschließen. Solche Gebilde zeigen sich in dem, was sie jeweils zur Erscheinung bringen, nur demjenigen angemessen, der den grundlegenden Einstellungswandel hin zu einer ästhetisch-phänomenologischen Wahrnehmung vollzogen hat. Erst was sich unter dieser Voraussetzung zeigt, dürfte der Gestaltungsabsicht und dem ästhetischen Mikel Dufrenne, Phénoménologie de l’expérience esthétique, 2 Bde., Paris: PUF, 1967, 1. Bd., S. 1–28. 58 Ebd., S. 7. 57

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Gebrauch dieser Orte durch die Jahrhunderte nahekommen. Die ästhetisch-phänomenologische Einstellung muss so offen gegenüber der Gartenerfahrung bleiben, dass sie die phänomenalen Gegebenheiten und das leibhaft Erlebte weder durch allerhand Vorwissen noch durch an anderen Kunstwerken geschulte ästhetische Bildung zuschüttet. Allein von der beschriebenen Ausgangslage her lässt sich erschließen, in welcher kennzeichnenden Art und Weise japanische Gärten sinnliche und sinnhaft bedeutsame Momente miteinander verquicken. Darüber hinaus kann auch nur von einer ästhetischphänomenologischen Warte aus erkannt werden, inwiefern solche Gebilde in ihrer Gestaltung auf sehr spezifische Weise genau diese Verflechtung sowohl sinnlicher als auch sinnhafter Dimensionen in ihrem Erscheinen nicht nur verkörpern, sondern obendrein mit erstaunlicher Eindringlichkeit und Schärfe thematisieren und reflektieren. Die wechselseitige Durchdringung von Sinnlichem und Sinnhaftem in Gartenerscheinungen bringt es mit sich, dass die Frage nach dem, was sich da zeigt, aufs innigste verknüpft ist mit jener anderen Frage, wie es sich jeweils zeigt. Ganz gleich, welcher Aspekt im Vordergrund stehen mag, also ungeachtet dessen, ob der Betrachter da »Natur« sucht oder »Kunst«, ob er eine Ansicht oder einzelne Gartendinge gewahrt, ob er ästhetische Reize sucht oder Sinn und Bedeutsamkeit – stets werden diese vielfältig wandelbaren Sichtweisen auf japanische Gärten angestoßen und angeleitet von einer Phänomenalität, in der das Was des Erscheinenden getränkt ist mit einem eigentümlichen Wie seines Erscheinens. Ebenso gilt freilich umgekehrt: Die Frage nach der Art und Weise, wie die erfahrungsmäßigen ästhetisch-phänomenalen »Gehalte« japanischer Gärten sich zeigen, ist von den besagten Gehalten selbst, ist letztlich von den besonderen im Garten versammelten Dingen nicht abzulösen. Der phänomenologischen Grundfrage nach dem Phänomensein lässt sich gerade hier nicht abstraktiv – gesondert von konkretem Erscheinen und konkreten Erscheinungsgehalten – nachgehen.

3.

Naturbegriff und »Schnitt-Kontinuum«

Um zur Illustration dieser Thesen nur ein Beispiel zu umreißen, sei kurz die zentrale Problematik der »Natürlichkeit« herausgestellt, 36 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Naturbegriff und »Schnitt-Kontinuum«

die japanischen Gärten trotz des Anscheins äußerster »Künstlichkeit« doch gern zugeschrieben wird. 59 Jüngst hat Hartmut Böhme ganz allgemein behauptet: »Kunst ist dabei eine der Möglichkeiten, Natur zur Evidenz zu bringen […]. Kunst hat das paradoxe Privileg oder das Vermögen (dynamis), Natur gerade dadurch evident zu machen, dass sie Kunst (und nicht Natur) ist.« 60 Dass freilich »Kunst« in japanischen Gärten durchaus zugleich »Natur« sein kann, übersieht Böhme, der einem allzu engen »okzidentalischen« Kulturbegriff 61 und einem Trivialbegriff von Natur verpflichtet bleibt. Auch als Theodor W. Adorno weit feinsinniger gegen den modernen »Wahn von Kunst als unmittelbarer Natur« 62 anschrieb, war ihm gewiss nicht bewusst, wie aufschlussreich gerade hinsichtlich dieses Problems zeitgenössischer Ästhetik die japanische Gartenkunst sein kann. Immerhin erkannte er, dass Natur und Kultur als zwei Grundbereiche des Menschseins wechselweise aufeinander angewiesen sind. 63 An Gartenerfahrungen lässt sich diese Dialektik insofern sinnvoll vertiefen, als Natur und Kultur bzw. Kunst, wie Pörtner betont, »erst im Arrangement, etwa einem japanischen Garten, unterscheidbar werden: Sie treten nicht zu dieser Form zusammen; sondern sie treten in dieser Form überhaupt erst he[r]vor. – Sichtbares Wirken der discretio.« 64 In letzter Konsequenz mag dieser Grundsatz mit Adorno zurückführen auf eine nunmehr tiefer oder ganz neu verstandene »Naturähnlichkeit« gelungener Kunstwerke. 65 Nach einer kritischen Dekonstruktion unseres Naturbegriffes anhand japanischer Gärten wäre eine solche Einsicht nicht nur für die Ästhetik bedeutsam; sie eröffnete darüber hinaus neue Perspektiven für unser Weltverhältnis im Ganzen. Unter der impliziten Vorannahme, dass es in der japanischen Gartenkunst prinzipiell um eine Auseinandersetzung mit »Natur« geht, dass da ein Stück »Natur« verkörpert, ja eigens zur Darstellung gebracht wird, blieb bis heute die grundlegende Frage weitShinji, Nihon no teien, S. 119. Hartmut Böhme, Aussichten der Natur, Berlin: Matthes & Seitz, 2017, S. 27. 61 Ebd., S. 29–30. 62 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 267. 63 Ebd., S. 98. 64 Pörtner, »Die Penetranz der Diskretion«, S. 85. 65 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 120–121. 59 60

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gehend unterbelichtet, was dabei »Natur« besagt. Gemäß einem vorgeblich spezifisch japanischen Naturverständnis sei dort der typisch europäische Zwiespalt zwischen Natur und Kultur oder Geist 66 so gar nicht anzutreffen, behaupteten frühe Kulturtheoretiker wie Hasegawa Nyozekan 長谷川如是閑 67 und Tsuzumi Tsuneyoshi 鼓常良, 68 ebenso dann wieder Shigemori. 69 Allerdings führten unzulängliche begriffliche Mittel und die allzu klischeehafte Kontrastierung mit einem supponierten europäisch-amerikanischen Naturbegriff dazu, dass dieses zaghafte Nachdenken keine echten philosophischen Früchte trug und rasch wieder im Sande versiegte. Heute wird zwar gerne eine »japanische« Eigenart im Umgang mit der Natur behauptet; 70 offenkundig wird diese dann aber doch wieder – vor allem aus einer selbstkolonisierenden Wertehaltung heraus – einem modern-europäischen Allerweltsbegriff der Natur zum Opfer gebracht. Heute wird »Natur« auch in Japan weithin als schlichter Gegensatz zu allem Künstlichen und Menschengemachten betrachtet. 71 Zumal angesichts tiefer Zweifel an einer global aus dem Ruder laufenden Moderne mit ihrem in Gemeinplätzen erstarrten Begriffskorsett wäre mit Nachdruck zu fragen, was das eigentlich bedeuten soll, wenn man japanische Gärten, wie üblich, als »Miniaturlandschaften« oder als Inbegriff von »Natur« ansieht. Was ist eigentlich mit einer so interessant klingenden Aussage wie der gesagt, dass der Steingarten des Ryōan-ji »die Natur mit den Mitteln Klassisch zu finden bei Adorno (Ebd., S. 99): »Das Kunstwerk, durch und durch θέσει, ein Menschliches, vertritt, was φύσει, kein bloßes fürs Subjekt, was kantisch gesprochen, Ding an sich wäre.« 67 Hasegawa Nyozekan 長谷川如是閑, »Nihon no shizen shumi 日本の自然趣 味«, Binshi 瓶史, 7 (1936), [1–6] S. 3. 68 Tsuzumi Tsuneyoshi 鼓常良, Geijutsugaku 芸術学, Tōkyō 東京: Mikasa shobō 三笠書房, 1943, S. 223; Tsuzumi Tsuneyoshi 鼓常良, Seikatsu bunka no tōzai 生活文化の東西, Tōkyō 東京: Momoyama shorin 桃山書林, 1948, S. 32– 33; Tsuzumi Tsuneyoshi 鼓常良, Nihon geijutsu yōshiki no kenkyū 日本芸術 様式の研究, Tōkyō 東京: Shōbunkan 敞文館, 1943, S. 141. 69 Shigemori, Karesansui, S. 74–75. 70 Shinji, Nihon no teien, S. 18–19. 71 Kurazumi Makoto黒住真, »Shizen to jini – tsutsumareru hito/ norikoeru hito 自然と人為 – つつまれる人∕のりこえる人«, 黒住真 Kurazumi Makoto 黒住真 (Hg.), Shizen to jini – ›shizen‹ kan no henyō 自然と人為 – 「自然」観 の変容 [Nihon no shisō 日本の思想, 4. Bd.], Tōkyō 東京: Iwanami 岩波, 2013, S. 3–46. 66

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der Natur selbst nachahmt«, 72 dass da »die Landschaft in ihr eigenes Kunstwerk verwandelt ist«? 73 Kann uns nicht vielleicht gerade ein japanischer Garten in seiner einzigartigen Schwebe zwischen Kunst und Naturwüchsigkeit zu einem abgewandelten Naturbegriff und einem andersartigen, für die Probleme der Gegenwart womöglich hilfreicheren Umgang mit Natur vorstoßen lassen? Wird in zahlreichen japanischen Gärten nicht statt einer plakativen Antwort viel eher immer wieder neu die eine Grundfrage nach dem Verhältnis von Kunst und Natur, Menschengemachtem und Naturwüchsigem aufgeworfen und durchgespielt? Dieses Problem betrifft Ethik und Ästhetik zu gleichen Teilen. Anhand der Gartenanschauung lassen sich, wie diese Studie zu zeigen versucht, weitreichende Einsichten dazu gewinnen, in welcher Welt wir als Menschen leben und wie wir unsere Welt »haben«. Dabei wird insbesondere zu untersuchen sein, in welchem Sinne beispielsweise Kiefernbäume oder Gartensteine »Natur« zum Austrag bringen und wie solche Gartendinge der menschlichen Kulturwelt als integraler Bestandteil zur Seite treten oder dem Menschen mit einer genuinen Andersheit begegnen, als das Befremdliche einer Naturwüchsigkeit, die sich aller Zurichtung zum Trotz entzieht. Allerdings muss diesbezüglich nicht nur erkundet werden, inwiefern Bäume oder Felsen überhaupt als »Natur« zu bezeichnen sind; ausdrücklich ist auch der Frage nachzugehen, wie diese Gartenelemente in ihrer Naturwüchsigkeit in Erscheinung treten, wie wir sie erfahren und anschauen. Als Überleitung zum nächsten Kapitell soll abschließend kurz auf eine philosophisch reflektierte Art der Betrachtung japanischer Gärten eingegangen werden, die für diese Studie eine unverzichtbare Grundlage darstellt. Der Phänomenologe Ōhashi Ryōsuke 大 橋良介 hat wesentliche Gesichtspunkte der alten japanischen Ästhetik einer vielschichtigen Analyse unterzogen, und vor allem sein letztlich von Nishida Kitarō 西田幾多郎 übernommener Kerngedanke eines »Schnitt-Kontinuums« (kire-tsuzuki 切れ•つづ き) 74 weist einen für die ästhetisch-phänomenologische BeschäftiKasper, Ecrire sur l’eau, S. 101: »imite la nature avec les moyens mêmes de la nature«. 73 Ebd.: »le paysage est transformé en son propre artefact«. 74 Ōhashi Ryōsuke 大橋良介, ›Kire‹ no Kōzō: Nihonbi to gendai sekai 「切れ」 の構造:日本美と現代世界,Tōkyō 東京: Chūō kōronsha 中央公論社, 1986 72

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gung mit japanischen Gärten äußerst fruchtbaren Weg. Das altjapanische Verständnis des Lebens zeugt von einer gewissen Verwandtschaft mit Heideggers Rede vom »Sein-zum-Tode«. Demnach bedeutete Leben, so Ōhashi, immer das Schnitt-Kontinuum von »Geborenwerden und Sterben« (shōji 生死); der Tod, das Ableben und Vergehen, durchdringt in jedem Augenblick das Lebendigsein. 75 Statt das Leben als Zustand, Kontinuität oder teleologischen Verlauf anzusehen, wird es eher wie ein fortwährend wiederkehrender Bruch oder Schnitt erfahren, über den hinweg das Lebendigsein stets von neuem – erneuert und anders zugleich – wieder einsetzt. Umgekehrt ist so freilich auch der Tod viel stärker vom Geborensein und Leben her zu denken, als dies nach der heute gängigen Ansicht der Fall ist. Gemäß dieser phänomenalen Figur eines Schnitt-Kontinuums lassen sich nun, wie Ōhashi eindringlich vorführt, zahlreiche ästhetische Phänomene, nicht zuletzt Gärten wie der des Ryōan-ji, 76 als äußerst intensive und verfeinerte Auseinandersetzung mit der Erfahrung einer Trennung, die zugleich Übergang ist, verstehen. Ein Grundmotiv der japanischen Gartenkunst bildet sicherlich die oben bereits angesprochene Zweiteilung in einen Wohn- und einen Außenbereich, die geprägt ist von einem scharfen baulichen Schnitt, der doch eine große Durchlässigkeit aufweist. Ein weiteres wesentliches Schnittmotiv bildet das ebenfalls bereits angedeutete komplexe Verhältnis zwischen dem alltäglichen Wohnen und einer außeralltäglich gesteigerten Schau. Damit einher geht ein – für ein modernes europäisches Gartenverständnis geradezu paradox anmutendes – »Abschneiden« der alltäglichen, lebensweltlichen Begegnung mit Natur in der Gartenerfahrung. 77 Der Schnitt zwischen Alltag und Außeralltäglichem erweist sich freilich aufgrund bestimmter Merkmale der Gartengestaltung als ein gleitender Übergang. So konnte gerade die Leitidee eines Schnitt-Kontinuums zwischen »hoher Kunst« und »niederem Alltag« weitreichenden Einfluss auf die Entwicklung aller japanischen Künste und deren Ästhetik entfalten, wovon der »Teeweg« ein allbekanntes Zeugnis (dt.: Ohashi Ryosuke, Kire – Das »Schöne« in Japan, übers. v. R. Elberfeld, Köln: DuMont, 1994). 75 Ebd., S. 91/ 139 (Ohashi, Kire – Das »Schöne« in Japan, S. 68–69/ 98). 76 Ebd., S. 78–111 (Ohashi, Kire – Das »Schöne« in Japan, S. 61–78). 77 Ebd., S. 115 (Ohashi, Kire – Das »Schöne« in Japan, S. 80).

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ablegt. Ausläufer dessen reichen bis in die Populärkultur hinein und prägen den »verfeinerten Geschmack« (sūki 數寄, fūryū 風流) oder das »künstlerische Spielen« (yūgei 遊藝) edo-zeitlicher Kunstpraktiken. 78 Ebenso wenig ist die Entwicklung des japanischen Holzschnittes, der »Bilder aus der treibenden Welt« (ukiyo-e 浮世絵), ohne das Schnitt-Kontinuum zwischen Alltag und Außeralltäglichem zu denken; und selbst der zeitgenössische Manga 漫画-Stil dürfte aus derselben Quelle schöpfen. Entscheidend ist freilich für die vorliegende Untersuchung ein anderer Gesichtspunkt. In Gärten tritt das Schnitt-Kontinuum als Verschränkung zwischen kultureller Sphäre und Natur in Erscheinung. Eine solche Anlage lässt sich anschauen wie das sinnfällig verkörperte SchnittKontinuum zwischen zwei Sinndimensionen ein und derselben Welt, inszeniert mit den kulturellen Mitteln des menschlichen Eingriffs in Naturwüchsiges. Dies hat Tsuzumi schon früh gesehen, als er eine dialektische Interpretation der Natursteine verfolgte, die im Steingarten zu einer eigentümlich paradoxen Künstlichkeit erhoben würden. 79 Allerdings weichen solche Deutungen mit ihren vorgeprägten Begriffen davon, was »Natur« und was »Kultur« oder »Kunst« bedeute, der gewissermaßen von den Gärten selbst sinnfällig aufgeworfenen Problematik des Schnitt-Kontinuums zwischen Naturwüchsigem und Menschengemachtem eher aus, als dass sie sie fruchtbar weiterdächten. Zumindest von einer ästhetisch-phänomenologischen Warte aus gilt es zu thematisieren, wie genau dieses Schnitt-Kontinuum zwischen Natürlichkeit und Kulturalität in Erscheinung tritt und erfahren wird. Einen wertvollen Hinweis gibt diesbezüglich wiederum Ōhashi, wenn er angesichts der Steinsetzungen und weiterer Gartenelemente gegenüber buddhistischen Sinngehalten, wie sie etwa Shigemori 80 herausstreicht, gerade das reine In-die-Erscheinung-

Amagasaki Akira 尼ヶ崎彬, »Sūki to yūgei – shiteki geijutsu to kanshinsei no bigaku 数寄と遊芸――私的芸術と関心性の美学«, Nishimura Kiyokazu 西村 清和, Nichijō no kankyō bigaku 日常性の環境美学, Tōkyō 東京: Keisōshobō 勁 草書房, 2012, [283–303] S. 303:「人生のための芸術」. 79 Tsuzumi Tsuneyoshi 鼓常良, »›Shakkei‹ to iu koto« 「借景」ということ, Binshi 瓶史, 3 (1932), [9–14] S. 11; Tsuzumi, Nihon geijutsushiki no kenkyū, S. 117. 80 Shigemori, Jiin no teien, S. 28–29. 78

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Einleitung: Japanische Gärten und unser Welthaben

Treten dieser Dinge hervorhebt. 81 Wie bereits ausgeführt, ist ja die Frage, was da erscheint – und als was es überhaupt erscheint, etwa als »Natur« oder als »Kunst« – nicht unabhängig von einer Klärung der Art und Weise zu beantworten, wie dieses Erscheinen geschieht. Mit anderen Worten, auch das Verhältnis zwischen Kultur und Natur wird in sich gewissermaßen durchzogen von einem SchnittKontinuum, ebenso wie die schwierige Diskussion dieses Verhältnisses. Die Problematik des Naturbegriffs ist eng verwoben mit der Frage nach der Phänomenalität der Gartendinge und mit der nach ihrer leibhaften Erfahrung. Im Hauptteil dieser Studie soll daher nunmehr zunächst diese Perspektive entfaltet werden.

Ōhashi, ›Kire‹ no Kōzō, S. 81/ 85 (Ohashi, Kire – Das »Schöne« in Japan, S. 62/ 65).

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III. Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

1.

Atmosphärisches Schauen

In der Regel verweilen wir heute nicht lange in einem japanischen Garten; bestenfalls mußevolle Betrachtung belohnt diejenigen, die noch selbst sehen und nicht blind dem Schnappschuss sich überlassen. Wer also mit eigenen Augen schaut, was sieht der, und wie vollzieht sich seine Schau? Mit dieser Fragestellung lassen sich nicht nur bewusstere Zugänge zu diesen eigentümlichen Sehenswürdigkeiten bahnen; zugleich lässt sich aus der konkreten Gartenerfahrung manche Schlussfolgerung ableiten, die Methode und Denkweise der Phänomenologie betrifft. Untersucht werden soll zunächst das mit der ästhetisch-phänomenologischen Gartenerfahrung einhergehende »Phänomenwerden« eines Gartens, also die Art und Weise, wie die verschiedenen Phänomene da zum Vorschein kommen und wie sie in ihrem und durch ihr Erscheinen hindurch auf uns einwirken. Im westlichen Kyōtoer Stadtteil Arashiyama 嵐山 finden sich etliche sogenannte »Moosgärten«, die dazu angetan sind, diese Erkundung in fruchtbare Bahnen zu lenken. Orte wie der abgeschieden im Wald gelegene Garten des Giō-ji 祇王寺 schließen sich dem Besucher von vornherein durch ihre einzigartige Atmosphäre auf. 82 Sowie man vom Zugangsweg durch eine schmale Pforte den eingezäunten Gartenbezirk betritt, rufen die außerordentliche Sanftheit des sattgrünen Moosgrundes und das milde Licht, das unter einem luftigen Baumdach schwebt, schon im ersten Eindruck eine unwiderstehliche Grundstimmung hervor, die alle einzelnen GestalDiesen phänomenalen Urzustand hat Gernot Böhme bereits einer eingehenden Untersuchung unter besonderer Berücksichtung der leiblichen Dimensionen unterzogen in seinem Buch Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995).

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

tungsmerkmale überlagert und jedes gezielte Erfassen der Topographie außer Kraft zu setzen scheint. Die leicht überschaubare Fläche wird gesäumt von einem dichten, viele Meter hoch aufschießenden Bambushain, der eine geheimnisvoll dunkle, irgendwie aber ins Unendliche öffnende Außengrenze markiert. Wenn im Spätherbst das rote Glühen der Ahornblätter sich wie ein Hauch über die frische Mooswiese inmitten der Bambuslichtung legt, gleicht dieser wundersame Bezirk am Fuße des Bergwaldes einer Fata Morgana; es ist, als beträte der Besucher einen utopisch unwirklichen Ort nach Art des sagenhaften »Pfirsichblütenquells« aus dem chinesischen Altertum (chin. táo huā yuán 桃花源, jap. tōgenkyō 桃源郷). Unwillkürlich wird er in eine erhabene, feierlich ernste Stimmung versetzt. Allerdings spricht dieses Atmosphärische, wenngleich es Gehör und Geruchssinn einschließt, das Auge besonders stark und unmittelbar an. Insofern hat bereits dieses atmosphärische Empfinden wesentlich mit einem Schauen zu tun. Es kann daher nicht als vages Gefühl ohne spezifische Charaktere abgetan werden. Die Atmosphäre eines solchen Ortes stellt eine Vorprägung für alle weiteren Sinneswahrnehmungen bereit. Freier und offener wirkt die Atmosphäre des unweit davon an einem steilen Mooshang unter lichtem Ahorn angelegten Gartens des Jōjakkō-ji 常寂光寺. Etliche Pfade führen den Besucher dort ohne überschaubare Ordnung, und ohne dass eine ausgezeichnete Perspektive, eine auffallende Ansicht hervorträte, in eine ganz aus Stimmungswerten aufgebaute Welt. So wird er in ein gelöstes Schauen versetzt, das nicht recht »wahrnimmt«; das Augenmerk richtet sich jedenfalls nicht auf bestimmte Einzelerscheinungen. Dieses Schauen scheint ungebunden im Gang durch den Garten »mitzulaufen«. Das helle und doch gedämpfte Sonnenlicht im Verein mit der locker gegliederten Weite des flauschigen Moosgrundes zwischen schlanken Bäumen scheint dem Menschen einen ausgezeichneten »Ort« zu eröffnen, der demjenigen »Ort« (basho 場 所) nahestehen mag, den Nishida Kitarō 西田幾多郎 in antisubstantialistischer oder vorontologischer Absicht erläutert. 83 Ähnlich Nishida Kitarō 西田幾多郎, »Basho 場所« und »Basho teki ronri to shūkyō teki sekaikan 場所的論理と宗教的世界観«, enthalten in: Ueda Shizuteru 上田 閑照 (Hg.), Nishida Kitarō tetsugaku ronshū 西田幾多郎哲學論集, 4 Bde., Tōkyō 東京: Iwanami 岩波, 1987–1989, 1. Bd., S. 67–151 bzw. 3. Bd., S. 299– 397 (in deutscher Übersetzung enthalten in: Rolf Elberfeld [Hg.], Kitarō Nishida

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Atmosphärisches Schauen

denkt auch Heidegger über das Orthafte nach. Ein solcher »Ort« ist mehr als der bloße Raum oder ein Platz; er ist das Versammelnde selbst, das die Dinge sich um den Menschen scharen lässt. So erweist er sich als der konkrete Ort eines jeweiligen Weltaufganges. Die orthafte Erschlossenheit von Welt hat sich freilich für jedes Dasein über dessen jeweilige »Stimmung« und »Befindlichkeit« je schon vollzogen; 84 sie verdankt sich nicht in erster Linie dem, was sich dem Blick darbietet. Von einem atmosphärisch sich aufschließenden »Ort« her trifft uns schon vor jeder Wahrnehmung von »etwas«, bevor überhaupt etwas wahrgenommen werden kann, eine Kraft, die Husserl als »kinästhetische Motivation« 85 bezeichnet. Während er freilich bei seinen Untersuchungen zur »passiven Synthesis« letztlich anachronistisch von der gegenständlichen Wahrnehmung als dem Resultat dieser Motivation ausgeht, muss umgekehrt die Motivation, die in jeder Wahrnehmung am Werk ist, entschieden vor die durch sie ausgelöste und von ihr angeleitete Gegenstandsauffassung zurückverfolgt werden. Zumal vorgegenständlichen Atmosphären lässt sich nicht absprechen, was Husserl »Affektion«, »affektive Kraft« 86 oder eben am treffendsten »Anmutung« 87 nennt. Eine »Anmutung« erfasst uns unwillkürlich und schier unwiderstehlich; nicht selten lässt sie sich nur schwer überwinden, vergessen oder auslöschen. Ein Ort kann auf den ersten Blick einladend, befreiend oder auch unheimlich »anmuten«, ein Mensch sympathisch oder abstoßend, eine Sache anregend oder langweilig, ohne dass sich sagen ließe, warum dem so ist. Von der diffus orthaften Stimmung in einem Garten geht solch eine Anmutung aus, die jedes fokussiertere Anschauen durchsetzt. Das bedeutet, dass alles Erscheinende je schon Atmosphäre, Stimmung und Anmutung war, noch bevor es – Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011). 84 Heidegger, Sein und Zeit, [§ 29] S. 134–140. 85 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Untersuchungen zur Konstitution, hgg. v. M. Biemel, Den Haag: Nijhoff, 1953 [Hua IV], [§ 56] S. 220–228. 86 Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, 1918–1926, hgg. v. M. Fleischer, Den Haag: Nijhoff, 1966 [Hua XI], [§ 13] S. 50 / [§ 28] S. 131–132/ [§§ 32–39] S. 148–184. 87 Ebd., [§ 13] S. 50.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

zu »etwas« wurde, das da jeweils von einem Hintergrund sich abhebt und »als etwas« sich zeigt. Wo »etwas als etwas« in die Erscheinung tritt, war je zuvor schon – wie Gernot Böhme betont – eine atmosphärische Gesamtstimmung mit der Kraft ihrer Anmutung am Werk und hat dieses »etwas« ins Erscheinen hineingetragen. 88 Im Ganzen lassen sich schwerlich eindeutige Fundierungsverhältnisse in Gartenerfahrungen ausmachen, da solche Erfahrungen unweigerlich zu einem guten Teil von individuellen Befindlichkeiten beherrscht werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass zumindest das Moment der stimmungsmäßigen Gesamtaffektion jeder einzeln bestimmten Gegenstandswahrnehmung nicht nur innewohnt, sondern dass es dieser mit Sicherheit fundierend vorhergeht. Jedoch bedeutet die Fundierung der Affektion ihrerseits in der leiblichen Befindlichkeit nicht nur eine zeitliche Vorgängigkeit, die im Geschehen des In-die-Erscheinung-Tretens zur Geltung kommt – die »pathische« Anrührung, wie Bernhard Waldenfels sie nennt, 89 geht der bewusstseinsmäßigen Gebung eines phänomenalen Gehaltes voraus. Entscheidend ist, dass die Affektion nur auf das affizierte Bewusstsein selbst, nicht auf einen affizierenden Bewusstseinsgegenstand zurückgeführt werden kann. Denn dieser Gegenstand gibt sich erst danach; er konstitutiert sich ja erst infolge der Affektion. Die pathische Anrührung findet hier im leiblichen Selbst statt; erst danach setzt sie die Bezugnahme auf einen phänomenalen Inhalt und seinen intentionalen Gegenstand in Gang. Dieses Fundierungsverhältnis besagt in Wahrheit, dass uns die Affektion seitens der Erscheinungswelt gar nicht – nicht überwiegend und nicht primär – »frontal« anrührt. Entgegen dem geltenden Paradigma der Sehwahrnehmung heißt es den Sachverhalt der stimmungsmäßigen Anmutung und der in der Anschauung wirksamen Affektion verfehlen, wenn dieses »pathische« Moment als von den erscheinenden Gegenständen herkommend angesehen wird. TrefBöhme, Atmosphäre, S. 94–96. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 65–72; B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 54–60/ 100/ 173; B. Waldenfels, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 110–112; B. Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 40–42, 97.

88 89

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Atmosphärisches Schauen

fender lässt sich der phänomenale Sachverhalt so umschreiben: Die stimmungsmäßige Anrührung findet schon statt, noch bevor »etwas« wahrgenommen wird. Sie überfällt uns gleichsam hinterrücks, indem sie nämlich in der jeweiligen Gestimmtheit eines »Ortes« aus unserer eigenen Befindlichkeit heraus auftaucht. An dieser Stelle tritt ganz deutlich zutage, dass wir leiblich verfasste Wesen sind: Die Anrührung durch die Erscheinungswelt sucht uns in unserer Leiblichkeit auf; sie scheint uns geradezu heimzusuchen, und zwar vom leiblichen Urgrund unseres atmosphärisch durchstimmten Aufenthaltes in der Welt her. Ohne unser Leib-Sein wird weder Heideggers Rede von der »gestimmten Befindlichkeit« noch Husserls Beobachtung zum kinästhetische Vollzüge »motivierenden« Angegangensein sinnvoll. Ein rein »seelisches« Bewusstseins-Ich könnte sich so wenig in einer Umwelt »befinden«, wie es sich selbst an einem welthaften Ort »vorfinden« könnte. Ein »seelisches« Ich könnte weder von seiner inneren Gestimmtheit hinausgetragen werden in eine wahrgenommene Außenwelt, noch könnte es durch eine von der Außenwelt herkommende »Affektion«, durch »kinästhetische Motivation« von außen, zur wahrnehmenden Bewegung in jener Welt veranlasst werden. Phänomene wie Heideggers »Gestimmtheit« können mit Bezug auf rein innerseelische Zustände oder Vorgänge nicht angemessen erfasst werden. Denn jede »Stimmung« impliziert doch als ein Schwingen ein Mitschwingen – wie der musikalische Wortgebrauch dies bestätigt; eine »Stimmung« ist eine Resonanz, die auf Außerseelisches in einer Umwelt antwortet. Husserls Rede von der »kinästhetischen Motivation« wird ebenfalls erst sinnvoll, wenn ein leibliches Wesen sich im Wahrnehmungsvollzug tatsächlich »bewegen« kann. Wahrnehmung bedeutet gewiss keine passive Aufnahme von erscheinenden Inhalten; ebenso wenig »verfügen« umgekehrt wir über die Erscheinungen. In gewisser Weise »besitzen« (posséder) 90 wir das Geschaute, indem, wie Merleau-Ponty sagt, unser Schauen ein »Haben auf Abstand« (avoir à distance) 91 ist. Dabei allerdings werden auch wir unsererseits von den Erscheinungen und ihrem

90 91

Merleau-Ponty, La prose du monde, S. 110. Maurice Merleau-Ponty, L’Œil et l’esprit, Paris: Gallimard, 1964, S. 27.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

Sinn »in Besitz genommen« (être possédé). 92 Weil wir nicht bloß Wahrnehmungssubjekte sind, weil wir vielmehr als leibliches Selbst je schon »von der Art dessen sind« (en être), 93 was wir wahrnehmen, weil wir »fleischlich« (par la chair) im Sichtbaren »wohnen« (habiter), 94 darum gehören wir den Erscheinungen. Nur weil wir ihnen je schon zugehören, können wir bisweilen wie »besessen« davon sein. 95 Durch die wechselweise »Inbesitznahme« zwischen uns und den Erscheinungen gelangen wir zu uns selbst in unserer leibhaft »gestimmten«, orthaft »befindlichen« Daseinsverfassung. Gerade aufgrund unserer im Leiblichen wurzelnden Weltverbundenheit geht es selbst in noch so einfachen Erscheinungen immer auch um unser eigenes Leib-Sein hier, nicht lediglich um dasjenige, was sich dort, uns gegenüber, zeigt. Im Erscheinen sind wir leiblich eingelassen in das, was sich zeigt, und vermittels der Anschauung lassen wir uns leibhaft darauf ein. Für die Phänomenologie bedeutet dies: Phänomene sind weder »Bewusstseinsinhalte« noch »Erscheinungen«; Phänomene sind leibliche Zustände, besser: leibhaft gelebte Ereignisse. Damit eine Affektion oder stimmungsmäßige Anmutung unser Schauen hervorzutreiben und anzuleiten vermag, damit die Anrührung nicht bei einem diffusen Fühlen stehenbleibt, sondern bestimmtere Wahrnehmungen wachrufen kann, dazu braucht es schließlich noch so etwas wie ein »Sehbegehren«. Ein Begehren nach Anschauung geht der jeweils verwirklichten Schau nicht voraus, es ist vielmehr jederzeit im Schauen selbst am Werk. Letztlich lässt sich unser Sehbegehren vielleicht verstehen als ein fundamentales »Begehren nach Erscheinung«, wie es Renaud Barbaras herausgearbeitet hat. Dem Sich-Zeigen des Erscheinenden muss ein »Begehren nach Erscheinung« innewohnen, welches das Wesen menschlichen Seins-zur-Welt ausmacht. Ein lebendiges »Begeh-

Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 178/ 199. Ebd., S. 178. 94 Merleau-Ponty, L’Œil et l’esprit, S. 9/ 27; Merleau-Ponty, La prose du monde, S. 84. 95 In einer aufschlussreichen Fußnote geht Emmanuel Levinas auf diese »obsession« durch die Dinge ein: E. Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Leiden: Nijhoff, 1978, S. 96 Anm. 10. 92 93

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ren« (désir), 96 das die Phänomenalität durchwaltet, ist nach Barbaras schlicht die Kehrseite eines fundamentalen »Scheiterns der ontologischen Vereinigung« (échec de la coïncidence ontologique) 97 des Menschen mit der Welt. Das gewissermaßen frustrierte »Begehren« erst lässt die Dinge vom bloßen An-sich-Sein auf Abstand und ins Erscheinen treten. 98 Wo es aber Erscheinungen gibt, da ereignet sich ein Sehen; also schlägt die nach Erscheinung begehrende Daseinsverfassung alles Lebendigen sich mit Notwendigkeit in einer Art Begehren nach Wahrnehmung nieder. Sobald dieses Grundbegehren von einer Atmosphäre angerührt wird, drängt es – so lässt sich Barbaras’ Gedanke auf die Gartenerfahrung zurückbeziehen – aus der anfänglichen Stimmung heraus von selbst zur Anschauung klarer bestimmter Wahrnehmungsgegenstände. Unser Sehbegehren können wir vor jeder verschlossenen Tür erfahren, erst recht beim Durchschreiten eines Tores. Ebenso zielen schlichte Unterstände mit schmalen Bänken, in denen der Gast beim Eingang zu einem Garten auf Einlass wartet, darauf ab, sein Sehbegehren anzurühren. Von der anfänglich verdeckten Gartenansicht geht eine Anmutung aus, die den Besucher auf die Schau vorbereitet. Ein herausragendes Beispiel dafür stellt das »äußere Sitzhäuschen« (sotokoshikake 外腰掛) im Areal der kaiserlichen Katsura-Villa (Katsura Rikyū 桂離宮) in Kyōto dar. Wer hier Platz genommen hat, kann erahnen, wie sich hinter einer bepflanzten Böschung der Garten ausbreitet; eine erwartungsvolle Stimmung nährt sein Begehren nach dem, was da kommen mag – sei dies, wie seinerzeit, eine Audienz im inneren Bezirk oder lediglich die heutige Besichtigungsrunde. Noch raffinierter spielt der Gartengestalter in dem weiten, bemoosten Wandelgarten des Hōgon-in 寶嚴院 beim Tenryū-ji in Kyōto mit unserem Sehbegehren. An einer Stelle des gewundenen Pfades gelangt der Besucher unvermittelt vor einen gewaltigen Felsblock, den nach einer wichtigen Kōan公案Sammlung benannten »Smaragdfelsen« (hekigan 碧岩). Die ganze Gartenerscheinung mitsamt ihrer Stimmung ist auf einmal wie verschluckt von der kalten, stummen Undurchdringlichkeit des überRenaud Barbaras, Le désir de la distance. Introduction à une phénoménologie de la perception, 2ième éd. revue, Paris: Vrin, 2006. 97 Barbaras, Dynamique de la manifestation, S. 143. 98 Ebd., S. 128/ 143. 96

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

mannshohen Steinbrockens. In diesem Augenblick, vor der verstellten, sich entziehenden Schau, entdeckt der Besucher eindrücklich jenes »Begehren nach Erscheinung«, das ihn schon eine geraume Weile durch den Garten hindurch begleitet hat. Jetzt will er dringend den ganzen Ort wiedergewinnen, der mit dem Schritt vor diesen Felsen unversehens verschluckt wurde. Umso entschiedener möchte er hier vor dem dunklen Klotz wahrnehmen, was soeben ganz unbewusst erlebt wurde. Womöglich wird er erst jetzt dessen inne, was sich die ganze Zeit schon unaufdringlich darbot – das sanfte Moos, das Leuchten unter dem Ahorndach, ein kleiner Wasserlauf, verstreute Steinsetzungen. Wenn der Gast gerade infolge des verweigerten Anblicks nun mit umso größerer Intensität danach strebt, sich in der Schau der wundersamen Gartenerscheinung zu versichern, geht er vielleicht erst an dieser Stelle angelangt aus der allgemeinen Stimmung in ein gezieltes Anschauen über – wachgerufen von seinem eigenen Sehbegehren. Aus unserer eigenen Gestimmtheit treibt unser Begehren die Erscheinungen hervor. Das bedeutet, dass unsere Anschauung sich beileibe nicht auf »sichtbare Dinge«, auf »Gegenstände der Wahrnehmung« stützt; unser Schauen darf nicht in der gängigen Weise auf eine »Sehwahrnehmung« reduziert werden. Wann immer wir schauen, erfassen wir nicht zuerst feste Erscheinungsgestalten vor dem Auge; gleichsam vom Rücken her, aus unserem leibhaft »befindlichen« Dasein heraus, muss unser Sehen von seinem eigenen Begehren erfasst werden, damit überhaupt »etwas« sichtbar wird. In dieser Weise kann eine Anmutung wie vom Geschauten her einzelne Erscheinungen wecken. In Wahrheit aber ist es eine SelbstAffektion des Schauenden im orthaft auftauchenden Akt des Schauens, die Phänomene hervortreten lässt, die »etwas als etwas« für uns darbietet. Diese Überlegungen werfen Fragen von großer Tragweite auf. Folgt daraus nicht, dass der übliche Wahrnehmungsbegriff sozusagen »zu spät« einsetzt? Die Rede vom »Phänomen« hängt alle Wahrnehmungsakte an der Husserl’schen »Urimpression« auf. So wird jedoch der Ursprung des Wahrnehmens, ja der Urort der Phänomenalität selbst, an einem Punkt dingfest gemacht, an dem sowohl die Phänomengenese als auch das Wahrnehmen als ein Geschehen bereits in vollem Gange sind. Selbst der genetische Phänomenbegriff des späten Husserl verfehlt Entscheidendes an 50 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Atmosphärisches Schauen

diesem Phänomenal-Werden. Insgeheim geht Husserl ontologisch vor, indem die Vorstellung vom sich konstituierenden Gegenstand seine »Konstitutionsanalyse« bestimmt. Sogar die »passive Synthesis« denkt er noch allzu teleologisch, indem er sie unter der Hand an ihrem Ergebnis – dem schlussendlich phänomenal gegebenen und gehabten Inhalt – ausrichtet. Husserl nimmt das Erscheinen vom fertig konstituierten Was eines bestimmten Erscheinenden her in den Blick; von hier aus fragt er allenfalls zurück ins Wie seiner Gebung. Im Zuge dieser Vorgehensweise werden Gesichtspunkte wie »Affektion« und »Motivation« hinterrücks einem Phänomen ursächlich angelastet und zugeschrieben, das sich erst vermittels »pathischer« Anmutungen, nach der uranfänglichen Anrührung überhaupt ausbilden kann – für das Bewusstsein »Phänomen« werden kann. Übergeht Husserl nicht stillschweigend jene namenlose Andersheit in der Phänomengenese, die in seiner eigenen Rede von »passiver« Synthesis mitschwingt? Übersieht er nicht eine unbestimmbare Fremdheit, die den aus vorphänomenalen Horizonten – seitens der Welt wie seitens unserer Leiblichkeit – hervortretenden Phänomenen nach wie vor anhaftet? Nach der Einsicht, die die atmosphärisch orthafte Erfahrung in japanischen Gärten vermittelt, ist das Was der Erscheinung ein Abgeleitetes, Sekundäres. Das »Phänomen« ist schlichtweg eine philosophische Konstruktion, beileibe nichts sich selbst unmittelbar Gebendes. Die uranfängliche Affektion oder Motivation ist nicht so sehr einem Phänomen oder intentionalen Gegenstand zuzuschreiben, sondern unserer eigenen atmosphärisch orthaften Gestimmtheit; aus dieser taucht jedes Phänomen auf, hebt sich jeder Gegenstand heraus. Es gilt daher noch tiefer einzudringen in das, was Waldenfels mit Begriffen wie »Zwischenereignis«, »Pathos« und »Widerfahrnis« in den Blick zu heben sucht. Es muss eigens jene ursprüngliche Fremdheit durchdacht werden, die der Erscheinungswelt in ihrer Aneignung durch das Bewusstseinsleben innewohnt. Eine konkrete Phänomenologie der Phänomenalität hat das unüberwindliche »Befremden« in allem Erscheinen aufzusuchen und ihm philosophisch zu seinem Recht zu verhelfen.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

2.

Horizont und Raum

Im Übergang von der stimmungsmäßigen Anmutung durch einen Garten zu seiner wahrnehmungsmäßigen Gesamtwirkung und weiter zu inhaltlich klarer umgrenzten Einzeleindrücken kann nunmehr der Gedanke des Schnitt-Kontinuums eine leitende Rolle übernehmen. Im Wahrnehmungsfeld selbst müssen allenthalben Schnitt-Kontinua am Werk sein, damit daraus einzelne Gegenstände auftauchen können. Womöglich lässt sich nur als dynamisches Schnitt-Kontinuum angemessen fassen, was da jeweils Phänomene aus einem bestimmungslosen Hintergrund, einem leeren Horizont, hervortreibt, was sozusagen die Phänomenalität als solche fundiert. Ōhashis Erläuterungen zum Schnitt-Kontinuum sind überaus erhellend, will man die Struktur dessen aufklären, was sich dem Betrachter zunächst in einem japanischen Garten zeigt und wie es sich da zeigt. Wo immer ein Garten uns als von Mauern oder Hecken umsäumter Hof gegenübertritt, wird greifbar, wie weitreichend in unserem Blick ein unscheinbarer »Horizont« am Werk ist, der der Leere des Raumes ihre konkrete Gestalt verleiht und der die einzelnen Erscheinungsdinge in dieser Leere sich einrichten lässt. Zum Beispiel gibt der für Hofzeremonien angelegte große Südgarten des Ninna-ji Goten 仁和寺御殿 in Kyōto den Ausblick vom Palastgebäude auf einen weiten, bekiesten Hof frei. Die kaum mannshohe Umfassungsmauer an der rückwärtigen Seite dieses weiten Platzes markiert nicht so sehr die physische Begrenzung des Sehfeldes gegenüber der Außenwelt; die Mauer wirkt wie ein »Horizont«, d. h. sie wirkt vor allem nach innen, zum Betrachter her. Angesichts dieser großen Kiesfläche lässt sich lebhaft nachvollziehen, dass erst der unauffällig umgrenzende Horizont es ist, der – wie Günter Figal in anderen Zusammenhängen feststellt – die »Leere« des Erscheinens »einräumt«; der horizonthafte Schnitt der hinteren Hofwand stiftet jenes Kontinuum, das diese geräumige Fläche in einen umwelthaften »Ort« und zugleich in einen Schauraum verwandelt. 99 Nach Heidegger haben wir durch unsere bloße Existenzweise je schon den Raum »eingeräumt«; im Existieren stiften wir um uns herum so etwas wie »Raum«, noch bevor wir diesen denken und 99

Figal, Unscheinbarkeit, S. 84/ 230.

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Horizont und Raum

erkennen. Mitte und Ausgangspunkt des umwelthaften Raumes bezeichnet unser bewegter Leib. »Leib« heißt das immer neu aus Bewegungsvollzügen auftauchende leibliche Selbst, nicht der LeibKörper als Ding unter Dingen. Indem wir uns selbst zugleich mit der Welt »einräumen«, lassen wir uns ins Freie und Offene eines Bezuges zu den Dingen ein. Durch unser bloßes Dasein stiften wir eine leibhafte Nähe und Ferne zu allem Erscheinenden. 100 Heidegger spricht auf paradox anmutende Weise von einer grundlegenden Öffnung des Menschseins auf die Welt hin, wodurch Ferne sich in Nähe verwandelt: Indem wir uns über unser Leib-Sein unseren Ort »einräumen«, vollziehen wir eine Nicht-Ferne oder »Ent-fernung«, d. h. die »Näherung« aller umwelthaft begegnenden Dinge. 101 Der Ausdruck »Ent-fernung« bezeichnet weder eine gewisse Distanz noch physische Nähe. Beim Ausblick auf den weiten Südgarten des Ninna-ji Goten kann dieses eigentümlich schwebende Im-BlickHaben der reinweißen Kiesfläche unmittelbar als Öffnung auf diesen Ort hin erfahren werden. Dessen Nähe und Anwesenheit wird indes durchwaltet von einem unüberwindlichen Sichvorenthalten dessen, was so vor den Blick tritt. Das raumöffnende Ereignis der »Ent-fernung« verdankt sich hier der horizonthaften Rahmung durch die gemauerte Einfassung. Ein Horizont – wörtlich »Grenz-Schnitt« – mag zunächst wie eine Trennung auftreten; allerdings schlägt im Blick auf die so umgrenzten Erscheinungen die Grenze um in eine Kontinuität zwischen der eingefassten Umwelt und der Welt im Ganzen. Vor allem aber wirkt der als bloße Grenzlinie missverstandene »Horizont« in Wahrheit tief hinein in die Art und Weise, wie das innerhalb des Horizontes Erscheinende sich zeigt. Indem ein Horizont unser Sehfeld begrenzt, bestimmt er nicht bloß das Was dessen, was da jeweils erscheinen kann. Der Horizont lässt erst das innerhalb seiner SichZeigende auf je unterschiedliche Weise hervortreten. Dieses horizonthafte Wie des Sich-Zeigens ist zu unterscheiden von jedem isolierten »Sich-Zeigen von etwas als etwas«, denn in diesem Wie selbst des Sich-Zeigens ist ein Schnitt-Kontinuum am Werk. Im Heidegger, Sein und Zeit, [§ 24] S. 110–111; [§ 70] S. 367–369; M. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1950, S. 34. 101 Heidegger, Sein und Zeit, [§ 23] S. 105. 100

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

horizonthaften Umgrenzen ereignet sich nicht nur eine entgrenzende Überschreitung hin zur »Welt«; zugleich bildet sich dabei nach innen ein Kontinuum des Erscheinens aus. Dieses horizonthafte Schnitt-Kontinuum ist für die Schau im Garten konstitutiv, und es lässt sich nicht nur im Vollzug des Schauens, sondern tatsächlich bis ins Geschaute selbst hinein nachweisen. Insofern kann von einem Fundierungsverhältnis zwischen der unscheinbaren Phänomenalität des »leeren« Horizontes und der konkreten Erscheinungsweise einzelner Gegebenheiten gesprochen werden. Nähe und Ferne, Leere und Fülle, solche raumhaften Charaktere gewinnen in jedem individuell angelegten Garten ihren je eigenen Erfahrungsgehalt. Indem das unscheinbare Schnitt-Kontinuum eines Horizontes auf je besondere Weise einen Ort »einräumt« und in dieser Erschließung für uns eine je eigene »Ent-fernung« der Gartendinge stiftet, schwingt jeder Garten vermittels seiner je eigenen Raumoffenheit mit unserem Leib-Sein mit. Horizonthaft schließt sich jeder Garten auf je eigene Weise für unsere Schau auf, und durch die raumstiftende Wirkmacht des jeweiligen Horizontes finden wir uns eingelassen in eine jeweils besondere Nähe zu den Gartendingen. Der durch unser leibliches Sein-zur-Welt hindurch wirksam werdende Horizont schlägt sich nieder in der Art und Weise, wie das innerhalb seiner Erscheinende jeweils in unsere Nähe treten, uns im Erscheinen begegnen kann. Dieses Erscheinen selbst ist zutiefst leiblich verfasst; die je besondere Raumkörperlichkeit der Gartenerscheinungen bildet den lebendigen Schatten unserer Leiblichkeit.

3.

Bild und Körper

Anhand einer anderen Grunderfahrung in japanischen Gärten wird ebenfalls deutlich, wie sich unser Leib-Sein einprägt in die Art und Weise, wie wir die Erscheinungswelt erfahren. Auch da wird Heideggers Rede von der nähernden »Ent-fernung« eindrücklich bestätigt. Wo uns nämlich ein Gartenausschnitt im Ausblick aus dem Gebäudeinneren gleich einem gerahmten »Bild« gemeinsam mit der architektonischen Einfassung erscheint, bewirkt diese bildmäßige Zurschaustellung auf paradoxe Weise so etwas wie ein Heranrücken des Geschauten in seiner bildhaften Abständigkeit. Gleich54 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Bild und Körper

sam zum Bild geworden, rückt die Ansicht mit gesteigerter Eindringlichkeit vors Auge; wie jedes bildhafte Als-ob entzieht sie sich jedoch zugleich damit dem Zugriff. Begibt sich beispielsweise der Besucher des Ninna-ji Goten weiter nach hinten, so spielt der überdachte Wandelgang um die Haupthalle mit seinen Holzpfosten und fenstergleichen, indes großzügigen Öffnungen wie in einem gleitenden Filmbild mit dem wandelbaren Garteneindruck. Im schrägen Blick taucht vor dem Eintretenden Stück für Stück der üppig bepflanzte Hintergarten mit Teich auf, als wäre die Szene zum Bild gerahmt. Noch bevor der Bereich des Nordgartens erreicht ist, bringen ihn Anmutungen dem begehrlichen Auge des Besuchers Schritt für Schritt näher. Weil die Gebäuderahmung den Ausblick unmerklich begleitet und wie ein Schnitt-Kontinuum Innen und Außen scharf scheidet, konstituiert sich die Außenansicht gleich einem Bildeindruck als in sich zusammenhängende Erscheinungsgestalt. Wie zuvor die horizonthafte Hofmauer ist es nun der Gebäuderahmen zwischen Garten und Betrachter, der alle Erscheinungen im Blickfeld unwillkürlich zu einer Gesamtgestalt zusammenschießen lässt. Zugleich erzeugt die bildgleiche Rahmung das intensive Erlebnis einer Nähe zu dem, was sich da zeigt; in der Trennung, im Entrücktsein des bildgleich Erscheinenden waltet »Ent-fernung«, nicht Ferne. Sachlich liegt solchen Seherfahrungen gewiss kein »Bildding« zugrunde; doch was da im Durch- und Ausblick aus dem Gebäude angeschaut wird, wird wie ein »Bild« empfunden. Nicht die Sache, wohl aber die phänomenale Gegebenheitsweise dieser Gartenerscheinung entspricht einem bildhaften Modus des Erscheinens. Noch eindrucksvoller trägt mitunter ein runder oder rechteckiger Fensterausschnitt einen »bildstiftenden« Schnitt ins Sehfeld ein. Die so erzeugte Nahheit des Erscheinenden bringt ein In-dieFerne-Treten, eine unüberbrückbare Abständigkeit mit sich. Durch das einfache Mittel architektonischer Inszenierung unserer Schau gewinnt ein merkwürdiger Zwitterstatus im Erscheinen – zwischen Gebung und Entzug – oft große Intensität. Der Blick durchs Fenster entführt uns in ein sozusagen abgetrenntes, abwesendes Stück Garten; doch zugleich werden wir von der bildgleichen Erscheinung umso leibhafter angerührt und zurückgeworfen auf unsere eigene Anwesenheit an diesem Ort. Idealtypisch und mit je nach Jahreszeit und Lichteinfall magischer Wirkung lässt sich dieses Phänomen am 55 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

Gepparō月波楼-Pavillon der kaiserlichen Katsura-Villa erleben. Im Blick durch ein schlichtes Seitenfenster erscheint da in Fortsetzung dieselbe, der weiten Umschau von der Veranda aus sich allseits darbietende Aussicht; doch sowie unsere Aufmerksamkeit von der offenen Flanke zum Fenster an der Schmalseite hinüberwandert, schießt dasjenige Stück Garten, das sich dort im Ausschnitt zeigt, unvermittelt zu einem Bildeindruck von großer Kompaktheit zusammen – als gehörte es nicht länger zum Rest der Ansicht. Im bildgleichen Fensterrahmen hat das Erscheinen selbst spürbar eine neue Qualität angenommen. Berühmt für diese bildgleich betörende Wirkung ist eine runde Fensteröffnung in einem der Gemächer des Genkō-an 源光庵 in Kyōto, die ein üppiges Stückchen Garten wie eine Traumerscheinung in den düsteren Innenraum hereinholt. Was da geschieht, ist Folgendes: Durch die Rahmung findet ein Schnitt zwischen dem Blickpunkt des Betrachters und dem perspektivisch variablen »Bildausschnitt« statt. Erst vermittels dieses »ent-fernend« nähernden Schnittes fügt sich das draußen Erscheinende in sich zu einer nicht additiven und nicht auflösbaren Ganzheit, zu einem Kontinuum zusammen; die Rahmung lässt alle Einzelheiten in dem Ausschnitt zu einem Gesamteindruck, gewissermaßen zum »Bild«, verschmelzen. In einer solchen Bilderscheinung ist das Ereignis der Heidegger’schen »Ent-fernung« mit Händen zu greifen. Unwillkürlich denkt man hier ebenfalls an Walter Benjamins Aussage über die »Aura«: »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«. 102 Phänomenologisch unterscheidet sich ein »Bild« von einem erscheinenden Körperding nicht in erster Linie durch einen Mangel an Realpräsenz, durch das bildhafte Als-ob. Kennzeichnender für die Erscheinungsweise eines Bildes ist seine eigentümliche Flächigkeit und Ganzheitsstruktur. In einer nicht unerheblichen Abweichung von gestalttheoretischen Grundüberzeugungen ist ein »Bild«, zumal ein Bild der Kunst, ein ganz und gar eigentümliches Gebilde, in welchem Figur und Grund in Gemeinschaft und zugleich in den Blick treten. Ein »Bild« integriert seine einzelnen EleWalter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, W. Benjamin, Gesammelte Schriften, hgg. v. R. Tiedemann / H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, Bd. I.2, S. 440/ 479.

102

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Bild und Körper

mente in einer solchen Weise zu einem Gesamtgefüge, dass alle Elemente von Belang sind; kein Element kann aus dem Gesamtzusammenhang herausgetrennt, einem bloßen »Hintergrund« zugeordnet werden. So kommt es, dass ein »Bild« aus erscheinenden Einzeldingen eine Art Zwischen-Dinge macht; diese zeigen sich lediglich im Zusammenklang des ganzen Bildes. Was erscheint, tritt allein aus dem Zwischengeschehen einer Zusammenstimmung mit anderem Erscheinenden und Mitgegebenen zutage. In einem »Bild« lassen die einzelnen Elemente sich gegenseitig erscheinen. Daraus wiederum ergibt sich zuletzt, dass in einem »Bild« das Sehfeld seine Tiefe einbüßt, dass es sich in seiner eigentümlichen Kompaktheit wie eingeebnet und flach zeigt. Nicht von ungefähr mag die figurative Malerei, mögen insbesondere die alte chinesische Berg-WasserMalerei und die europäische Landschaftsmalerei seit der Renaissance, mit jeweils ganz unterschiedlichen Darstellungsmitteln um so etwas wie Strukturierung und Tiefe im gemalten Bild gerungen haben. Denn in Wahrheit hat das durch Bildhaftigkeit geleistete, auratisch »ent-fernende« Erscheinen recht wenig mit einer physikalisch bestimmbaren Raumtiefe zu tun. Vor dem Hintergrund eines bildhaften gegenseitigen Erscheinenlassens der Gartenelemente kann versucht werden, deren Räumlichkeit weitergehend aufzuklären. Was im Garten als Raumtiefe hervortritt, ist abhängig vom Augpunkt des Betrachters, vor allem aber vom Schnitt, der zwischen hier und dort eine Kontinuität erscheinungsmäßiger Nähe erzeugt. Letztlich mag diese Erfahrung sich einem fundamentaleren Schnitt verdanken, der dem Erscheinen als solchen wesenhaft innewohnt. Merleau-Ponty hat in seiner impliziten Kritik an Husserls Transzendentalismus mit Nachdruck auf eine unaufhebbare »Undurchsichtigkeit« und »Undurchdringlichkeit« (opacité) hingewiesen, die das Sichtbare als solches kennzeichne. 103 Barbaras unterstreicht ebenfalls, jegliches Erscheinen bedeute als Erscheinen die Bezugnahme auf ein Unverfügbares. 104 Erscheinen ist beileibe nichts Ätherisches. MerleauPonty führt diese »Undurchsichtigkeit« des Erscheinenden auf die Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, S. VI/ 21/ 53/ 74/ 145/ 247/ 376/ 418; Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 107. 104 Renaud Barbaras, La perception. Essai sur le sensible, 2ième éd. corrigée, Paris: Vrin, 2016, S. 95–96/ 98/ 109. 103

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

Leiblichkeit des Schauenden zurück, die sich als »Tiefe« (profondeur) und »Dicke« (épaisseur) 105 sowohl zwischen den geschauten Körperdingen als auch an diesen selbst niederschlage. Als »Fleisch der Welt« (chair du monde) 106 schwingt das Erscheinende im Raum seines Erscheinens mit unserer Leiblichkeit mit; so erst erzeugt es das ihm eigene Gewicht einer Anwesenheit. Diese »undurchsichtige« Anwesenheit des Sichtbaren ist nicht zu verwechseln mit dem physikalischen Volumen von Raumkörpern oder mit der messbaren Entfernung eines Wahrnehmungsgegenstandes vom Beobachter. Allerdings ist diese paradox anmutende Verfassung der Phänomenalität auch nicht als Mystizismus abzutun. Viel eher wäre der Begriff des Phänomens aus dieser Grunderfahrung des leibhaften Erscheinens – statt aus ontologischen Vorannahmen – ganz neu zu entwickeln. Wenn Heideggers Rede vom »Einräumen« des Raumes und von der nähernden »Ent-fernung« durch das Dasein mit MerleauPontys und Barbaras’ Ausführungen zur wesenhaften »Undurchsichtigkeit« und Dichte des Erscheinenden zusammengeführt wird, ergibt sich sehr deutlich, worauf sich das philosophische Augenmerk zu richten hat: Die Erscheinungen tauchen nicht etwa in einem vorgegebenen Raumkontinuum auf, als wären sie bloße Stellvertreter körperhafter Dinge ohne eigene Körperlichkeit und Tiefe; das Erscheinen selbst – und untrennbar davon unsere Anschauung – ist es vielmehr, wodurch zwischen den Erscheinungen Räumlichkeit gestiftet wird, und zwar vermittels unserer Leiblichkeit. Die besondere Raumkörperlichkeit des Erscheinenden bedeutet, dass, was immer sich zeigt, in der leibhaft nahen Anwesenheit seines Erscheinens zugleich auf Abstand bleibt. Das Erscheinende muss sich bei aller Sichtbarkeit einen Rest von Undurchdringlichkeit und Unverfügbarkeit bewahren, damit es im »Erscheinen« verharren und da »angeschaut« werden kann – statt mit dem Schauenden zu verschmelzen. Die Undurchdringlichkeit des Erscheinenden bedeutet nicht, dass, was da jeweils erscheint, an sich schon körperhaft wäre. Erst im Erscheinen, durch das Erscheinen hindurch und als Erscheinendes für uns gewinnt das Erscheinende seine gegenMerleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 152–153/ 178; Merleau-Ponty, L’Œil et l’esprit, S. 46–71. 106 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 169/ 302–304. 105

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Bild und Körper

ständliche Körperlichkeit; und erst aus dem körperhaften Erscheinen lässt sich wiederum seine Räumlichkeit ableiten. Der Erscheinungsraum – Raum der Erscheinungen und Raum des Erscheinens – ist somit nicht Vorbedingung für das Erscheinen, er ist vielmehr dessen Ergebnis und »Begleiterscheinung«. Lassen sich in bestimmten Gartenerfahrungen konkrete Belege für diese Thesen finden? Im Ausblick aus der Tempelhalle des Entsū-ji 圓通寺 in Kyōto bietet sich ein weiter Moosgarten dar, der mit seinen sparsamen Steinsetzungen und seinem spärlichen Bewuchs sehr schlicht wirkt. Unweigerlich wird der Blick jedoch auf den erhabenen Hiei-Berg (Hiei-zan 日叡山) in der Ferne gelenkt. Diese »geborgte Ansicht« wird durch ein loses Gitter hindurch sichtbar, welches eine Reihe hoher japanischer Zedern mit ihren massigen Stämmen bilden, die an der Längsseite hinter einer niedrigen Hecke als äußerer Garteneinfassung aufragen. Zumal wenn der Gipfel im Winter mit Schnee gepudert ist, scheint der Berg, traumgleich entrückt wie eine Fata Morgana, über dem nahen Garten zu schweben. Im Garten selbst müssen ein paar bleiche Felsen, ein winterkahler Baum sowie die breite, hellgrün schimmernde Moosfläche das ganze Gewicht ihrer Anwesenheit aufbieten, um der Anziehungskraft der auratischen Bergerscheinung Paroli zu bieten. Jedoch verstärkt der Kontrast zwischen der aufgefangenen Ferne dort und der wie entleerten Nahfläche hier auch wieder das Lasten jedes einzelnen Steines. Das Wenige und Kleine wirkt so noch näher und präsenter. Ein erhabenes Leuchten geht durch diesen Garten, das sich schwer an einzelnen Gegenständen festmachen lässt. Es ist beinahe, als zeigte sich da eine Abwesenheit, als käme da ein Nicht-Erscheinen zum Vorschein. Spürbar wird hier womöglich die Leere des Erscheinungsraumes, der alle körperhaften Einzelerscheinungen trägt, ohne seinerseits aufscheinen zu können. Diese Leere gehört ganz dem Ereignis des Erscheinens; sie ist keinesfalls zu verwechseln mit dem »leeren Raum«. Greifbar wird hier die von Merleau-Ponty als »Unsichtbares« (l’invisible) im Sichtbaren aufgewiesene Leiblichkeit des Schauenden. Im Garten der kaiserlichen Villa Shugaku-in Rikyū 修學院離 宮 in Kyōto gerät von der »oberen Villa« (kamirikyū 上離宮) aus der Fernblick zur Hauptsache. Diese viele Kilometer weit ausschweifende Schau reicht über den Kunstgriff der »geborgten Ansicht« entschieden hinaus; die geschichteten Bergkämme im Nord59 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

westen der Stadt können nicht als bloßer »Hintergrund« für die Gartenansicht gelten. Infolge der gesteigerten Raumweite und -fülle tritt der Blick in die Ferne unweigerlich an die erste Stelle; die unmittelbar zu Füßen des Betrachters ausgebreitete Gartenanlage wird gewissermaßen zum Hintergrund. Gleichwohl kommt auch diese Überschau nicht umhin, sowohl die fernen Silhouetten als auch den unteren Gartenbereich um den Yokuryūchi浴龍池-Teich in ein und demselben Gesichtsfeld aufzunehmen; in einer einzigen Gesamtauffassung liegen Nah und Fern geschieden und doch vereint beieinander. Mit geradezu klassischer Prägnanz wird die ganze Erscheinung von einem Schnitt-Kontinuum durchzogen. Was wir an diesem Ort erfahren, ist eine auratische Aufladung im Geschauten. Die »Aura« und ihre paradoxe Spannung ist in alle Momente der Erscheinung eingewandert: Das Ferne wirkt darum überaus fern, weil es sich in einer erscheinungsmäßigen Nähe zum Garten davor aufhält; diese Nähe scheint ihrerseits wie entrückt, weil sie den Blick in die weite Gegend hinaustreibt. Diese räumliche Spannung und diese Tiefe sind keineswegs vorgegeben wie ein topologischer Umstand. Erst in der Schau fügt sich das Sehfeld zu einem spannungsreichen Schnitt-Kontinuum zusammen; erst im Erscheinen gerinnt, was sich hier zeigt, zur unvergleichlich ausgewogenen, jedoch in sich dynamischen Körperlichkeit. Diese rührt uns in unserer Leiblichkeit an, versetzt uns in Schwingung. Leibhaft spürbar wird an diesem Ort das Erscheinen selbst, das die sichtbaren Körper und ihren Raum stiftet. Angesichts solcher Erfahrungen mit einer körperhaft »einräumenden« Kraft, die der Phänomenalität als solcher innewohnt, wird die gängige Rede vom Sehen und der Sichtbarkeit fragwürdig; nur grob vereinfachend ist Geschautes mit »Sichtbarem« gleichzusetzen. Auf die Gefahr hin, als mystisch missverstanden zu werden, sei hier entgegen der allgemeinen Auffassung folgende Vermutung geäußert: Dem Anschein nach treten sichtbare Gegenstände infolge des Lichts als Körper im Raum hervor; in Wahrheit jedoch ist es ein ursprünglicheres In-die-Sichtbarkeit-Treten, welches zuerst den Raum als Erscheinungsraum stiften muss und welches auch das Licht im Ereignis des Erscheinens erst »gelichtet« sein lässt. Nur so wird verständlich, wieso das Gesamtphänomen Gartenansicht, was die Weise seines Erscheinens und die ihm eigentümlichen Auffassungscharaktere angeht, sich gerade nicht aus einzelnen Gestalt60 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Bild und Körper

momenten zusammensetzen, von »sichtbaren« Gegenständen im Sehfeld herleiten lässt. Im beschriebenen Beispiel wird ganz deutlich, wie weitreichend und folgenreich Phänomene wie »Gartenansicht« oder »Landschaft« von einer additiven Gesamtheit ihrer sichtbaren Bestandteile abweichen. Der Bruch im beschriebenen Phänomen erscheint als Schnitt-Kontinuum, bevor er allenfalls auf die Differenz zwischen Nah- und Fernblick oder Vorder- und Hintergrund zurückgeführt werden kann. Die Verschiedenheit der jeweils hier und dort sich zeigenden sichtbaren Gegenstände vermag das leibhaft erlebte Bruch-Phänomen selbst nicht zu erklären. Diese Beobachtung legt überdies den Schluss nahe, dass Wahrnehmungsphänomene keinesfalls zu reduzieren sind auf wahrgenommene »Qualia« oder wahrnehmbare »Eigenschaften« von Raumkörpern. Gegen die klassische Subjekt-Objekt-Spaltung, selbst noch gegen jedes Schema, wonach der Schauende hier und Sichtbares dort in frontaler Gegenüberstellung verortet werden, überhaupt gegen den Vorrang des Seh-Paradigmas in der Wahrnehmungslehre muss festgehalten werden: Mit dem Schauen verhält es sich nicht viel anders als mit dem Hören und Tasten. Auch im Schauen lassen wir uns leibhaft durchdringen vom Geschehen eines Erscheinens; wie Geräusche, Klänge und tastsinnliche Körper uns auf unwiderstehliche Weise in unserem Leib »heimsuchen« und hier in sinnliche Schwingung versetzen, sickern auch sichtbare Erscheinungen tief in unser Leib-Sein ein, setzen auch sie uns in unserer Leiblichkeit in Bewegung. So wird Husserls Rede von der »kinästhetischen Motivation« überhaupt erst sinnvoll. Merleau-Pontys Bestimmung des Sehens als eines »Habens auf Abstand« wäre so zu ergänzen: Das Schauen erwirkt zunächst ein Haben des Abstandes, um erst dann Geschautes zu geben. Wenn wir schauen, treffen wir nicht Sichtbares vor uns an. Sowie wir eines Geschauten »innewerden«, sowie wir Erscheinendes »gewahren«, nehmen wir es in uns selbst herein, verwahren wir es in uns. Im Schauen haben wir das Geschaute, haben wir die Erscheinung, sei es auch »auf Abstand«. Dieses »Haben« bedeutet: Wir halten uns in einer Raumtiefe und in der Nähe zu körperhaften Erscheinungsdingen auf, wobei Tiefe und Nähe erst vom Erscheinen und durch es hindurch gestiftet werden. Zum Aufenthalt im Erscheinen sind wir darum imstande, weil wir vermittels unserer Leiblichkeit je schon in die Phänomenalität hineingehalten sind – statt neben an61 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

derem Seienden vorhanden zu sein in einem gegenständlich, raumkörperlich gedachten Sein. Statt zu sagen, uns erscheine etwas, ist der Sachverhalt treffender so zu umschreiben: Über das Erscheinen gelangen wir leibhaft in ein Verhältnis zu etwas, das sich darbietet, indem es in uns selbst schwingt. Die Sphäre des Erscheinens ist in sich komplex und beileibe kein homogenes, einheitliches Gegenstandsgefüge; Phänomenalität bildet kein schlichtes »Gegenüber«.

4.

Schnitte in der Erscheinung

Der Garten des »Silberpavillons« (Ginkaku-ji) wird gern als Inbegriff zen-buddhistischer Lehren »gelesen«; er will jedoch mehr: Er ist deren sichtbare Verkörperung und muss angeschaut werden. In der Gartengestaltung erfährt der Besucher abstrakte Gedanken ganz leibhaft. Zunächst empfängt ihn ein mannshoher, ebenmäßig zugeschnittener und flach gekappter Sandkegel, die »dem Mond zugewandte Terrasse« (kōgetsudai 向月台). Allgemein erblickt man in diesem immer wieder neu feinsäuberlich in Form gebrachten Gebilde eine Anspielung auf den erhabenen Fuji-Berg (Fuji-san 富士山). Allerdings erinnert die streng geometrisierte Miniaturausführung nur vage an das imposante Wahrzeichen Japans, zumal der Sandversion aufgrund ihrer präzisen Abplattung die markanten, leicht asymmetrischen Gipfelspitzen fehlen. Allenfalls die Abwesenheit des echten Fuji-Berges mag dieser Sandkegel demnach anzeigen; diese Abwesenheit zeigt er mit seiner künstlichen Form und seiner locker zerbröselnden Stofflichkeit womöglich drastischer als jede formvollendet »ähnliche« Nachbildung. Der Betrachter schaut vor diesem weißen Kegelstumpf unmittelbar auf etwas, was sich nicht sehen lässt, weil es nicht anwesend ist und weil es in seiner schieren Größe mit dem Auge auch nicht zu ermessen wäre. So führt auch dieser Sandberg – streng zu unterscheiden von einem »Symbol« – handgreiflich jene »nähernde Ent-fernung« vor, die nach den obigen Beobachtungen die Phänomenalität in ihrer eigentümlichen Körperhaftigkeit ausmacht. Besteigen wiederum lässt sich die »Sandterrasse« nicht, um etwa von dort Ausschau zu halten – sei es nach dem heiligen Berg, sei es nach dem Mond. Höchstens der scharfe Kegelschnitt mag mit seiner hellen Sandfläche an die Scheibe des Vollmondes erinnern; 62 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Schnitte in der Erscheinung

man mag da die »leere« Spur des Vollmondes in der Spiegelung auf einer stillen Wasseroberfläche assoziieren, die ein beliebtes buddhistisches Gleichnis anführt. Erfahren lässt sich eine mondgleiche Wirkung allenfalls dann, wenn die Schnittfläche tatsächlich vom nächtlichen Mondlicht beschienen wird. Somit bleibt die namengebende Anspielung ziemlich vage. Sobald freilich die Vorstellung von der vollrund strahlenden Mondscheibe sich über die aktuelle Seherfahrung des Sandstumpfes mit den künstlich geglätteten Flanken und der kahlen Kuppe gelegt hat, ist sie nicht leicht wieder zu verdrängen. Die Einbildungskraft tränkt die Erscheinungsgestalt mit abwesenden Gehalten, als ob das Geschaute nie »bloß Geschautes« sein könnte. In der Anschauung der »Mondterrasse« durchdringen sich gerade infolge der radikalen Abstraktion Phantasievorstellung und wahrgenommene Erscheinung auf unauflösliche Weise. So spürt der Betrachter eine intensive Spannung zwischen stofflich-physischem Gegenstand und geistigem Sinngehalt. Was da zutage tritt, ist nicht nur Sinnhaftigkeit als Dimension des Erscheinens, die Tatsache also, dass alles Erscheinende bereits in seinem Erscheinen mit Sinn aufgeladen ist – »mit einem Sinn schwanger geht« (être prégnant d’un sens), 107 wie eine Formel von Merleau-Ponty lautet. Zugleich lässt sich an diesem Beispiel eine fundamentale Einsicht in die paradoxe Verfasstheit eines »Mediums« oder »Zeichens« gewinnen. Diese Paradoxie sticht natürlich im Bereich der Kunst besonders hervor, wie Adorno dies sehr klar gesehen hat. Sofern ein Ding überhaupt nur vermittels seines sinnhaften Verweischarakters, einer gemeinhin »geistig« genannten Selbstüberschreitung, als »Medium« oder »Zeichen« fungieren kann, muss jedes »Medium« oder »Zeichen« sich einen dinglichen, dinggleichen Rest – gleichsam einen geist- und sinnfreien, rein stofflich-sinnlichen Überschuss – bewahren, um diese Selbstüberschreitung in die Sphäre der Sinnhaftigkeit zuwege zu bringen. 108 In Analogie zu den Begriffen »Medium« und »Zeichen« haftet der Phänomenalität im Ganzen etwas dinggleich Gegenständliches an; Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, S. 29/ 178/ 490; MerleauPonty, La prose du monde, S. 165. 108 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 134/ 152–153/ 412. Eingehend bin ich Adornos Überlegungen dazu nachgegangen in meinem Aufsatz »Künstlerische Verdinglichung und die Widerständigkeit naturwüchsiger Dinge« (Philosophisches Jahrbuch 124/1 (2017), S. 3–25). 107

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

eine paradoxe Spannung zwischen dem Was der Erscheinung und dem Dass des Erscheinens durchzieht alle Phänomene. Ob sich in dieser sinnhaft-sinnlichen Kluft Husserls Grundsatz von der »Intentionalität« aller Bewusstseinserlebnisse wiederfinden lässt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Sowie nun der Besucher des »Silberpavillons« ein wenig voranschreitet, gewahrt er südlich der Haupthalle ein kniehoch aufgeschüttetes Sandbeet, dessen schräge Flanken irritierend unregelmäßig geschnitten sind. Im Einklang mit dem Namen des Ortes heißt diese blanke Fläche »Silberstrand« (ginshadan 銀沙灘). Doch erblicken wir da tatsächlich ein »sandiges Ufer«? Wähnen wir uns womöglich am Saum des legendären »Westsees« (Xihu 西湖) in der chinesischen Stadt Hangzhou 杭州, wie es die Überlieferung will? 109 Tauchen hier Vorstellungen wie »Silber« oder »silbern schimmernder Mondschein« auf? Was wir sehen, ist lediglich eine extrem reduzierte geometrische Form, eine der zeitgenössischen Minimal Art nicht unähnliche Installation im Raum. Vielleicht haben wir auch nichts weiter als lose Sandkörner vor Augen – in täuschender Kompaktheit mit in die Tiefe fliehenden Furchen zu einem Beet gerecht. Auf jeden Fall sehen wir notgedrungen auch das üppige Grün im dahinter liegenden Teichgarten mit, den der Sandplatz abrupt in etwa der Hälfte unseres Sehfeldes horizontal abschneidet. Dieser eigenwillig zweigeteilte Anblick wirkt mit einer seltsamen Wucht auf den Betrachter ein. Auch hier treten Nähe und Ferne in einem spannungsreichen Verhältnis zutage; man spürt in der widersprüchlichen Doppelerscheinung die unwiderstehliche Ausstrahlung nähernder Ent-fernung. Womöglich kann die ruhende Schwere der freien Fläche vor dem Pflanzengewirr sogar eine Ahnung von jenem »Hervorkommend-Bergenden« vermitteln, womit Heidegger emphatisch »die Erde« umschreibt. 110 Jedenfalls geht diese Garteneinrichtung – ganz und gar künstlich gestaltet und doch durch und durch nackte stoffliche Natürlichkeit – über die Kraft von raumfüllenden Installationen der zeitgenössischen Kunst hinaus. Allenfalls monumentale Werke der Land Art mögen eine ähnliche Erfahrung vermitteln. 111 109 110 111

Shinji, Nihon no teien, S. 112/ 224. Heidegger, Holzwege, S. 23/ 31–32/ 35–36. Beispielsweise Spiral Jetty, 1970 von Robert Smithson am Ufer des Großen

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Schnitte in der Erscheinung

Vor dem »Silberstrand« wird der Betrachter konfrontiert mit einer Mehrzahl von Schnitten – besser: von Schnitt-Kontinua. Von der Haupthalle aus gesehen, tut die helle Sandfläche unter der gleißenden Mittagssonne dem Auge förmlich Gewalt an. Indem die aufdringlich sinnarme »Platte« einen erheblichen Teil des Sehfeldes einnimmt und so den Blick an sich bindet, verhindert sie ein Fortschweifen des Auges zu den dunkel glimmenden Bäumen dahinter. Andererseits steigert, während das Sandbeet fixiert wird, dessen gewaltsame Trockenheit und eintönige Leere – nach Shigemori klassische Merkmale eines »Zen-Gartens« 112 – das Sehbegehren nach dem frischen Hintergrund, der in demselben Gesichtskreis unweigerlich immer schon mit aufscheint. Die Schnittkante zwischen Vorder- und Hintergrund zerteilt die Dinge dieser Welt trennscharf in zwei Bezirke – dicht und übervoll dort, hier aber hohl und öde. In der Nähe befindet sich das Menschengemachte, die Kultur, dahinter liegt das Naturwüchsige – so sieht es aus. Dieser wie selbstverständlich im Betrachter auftauchende Gegensatz wird in dem beschriebenen Anblick nicht weniger messerscharf markiert als weiter hinten, an der »Quelle, die den Mond wäscht« (sengetsusen 洗月泉), durch einen kaum mannshohen Wasserfall. In seinem machtvoll gebündelten Herabstürzen »wäscht« dieser nicht nur das Spiegelbild des Mondes im Teich darunter rein; zugleich zerschneidet er sichtlich den Raum, als sollte die Eins des Strahls zwei Seiten derselben Welt hervorbringen. Auf unüberbietbare Weise schießt in diesem Sinnbild der buddhistische Gemeinplatz von der »NichtZweiheit« (chin. bù èr bzw. sinojap. fuji 不二) zusammen: Die Zwiefalt der Erscheinungen ist nur Eines – Schnitt-Kontinuum. Angesichts des Wasserfalls wie angesichts des »Silberstrandes« lassen sich ohne weiteres metaphysische Anspielungen ausmachen. Die Verflechtung von Menschengemachtem und Naturwüchsigem, die der Betrachter in der Gesamtansicht über ein räumliches Schnitt-Kontinuum hinweg erfährt, ist freilich ganz unmetaphysisch und recht handfest; sie kann und will leibhaft angeschaut werden. Dieses Schnitt-Kontinuum vermittelt nicht zwischen einander Salzsees im US-Bundesstaat Utah gestaltet, Peine del Viento XV, 1977 von Eduardo Chillida an der Atlantikküste in San Sebastian installiert, oder das Monumento al Siglo XX, das Ulrich Rückriem 1995 bei Abiego in Nordostspanien geschaffen hat. 112 Shigemori, Karesansui, S. 91–92.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

äußerlichen Bereichen oder Gegenständen. Letztlich zerschneidet der Schnitt hier nicht das Sehfeld, um verschiedenartige Erscheinungen, gegensätzliche Erscheinungsdinge oder Seinsweisen, voneinander zu scheiden. Der Schnitt zwischen »Menschengemachtem« und »Naturwüchsigem« haftet dem Phänomen selbst an, so, wie es sich gibt; keines von dessen Momenten lässt sich herauslösen, ohne den Phänomengehalt zu zerstören. Letztlich ist hier das Schnitt-Kontinuum unserem Blick selbst eingeschrieben. Weil dies ein phänomenaler, ein angeschauter Schnitt ist und kein bloß »hinzugedachter«, darum schlägt der Schnitt im Erscheinen mit Notwendigkeit um in eine Kontinuität des Sehens und Erscheinens. Gerade aus diesem Grund wirkt diese Verschmelzung der scheinbar schroff voneinander abgesetzten Sphären von Kultur und Natur so radikal und überzeugend. In der gesteigerten Gegensätzlichkeit der erscheinenden Momente und in der Schärfe der stets miterscheinenden Schnittkante vermag sich der Betrachter dem sinnfälligen Schnitt-Kontinuum darum nicht zu entziehen, weil er selbst dieser Anschauung von Anbeginn an leibhaft ausgeliefert ist. Die »Wahrheit« des Verwobenseins von Kultur und Natur, von abstraktivem Geist und freiem Wuchern der Materie, die »Erkenntnis« von der Einheit des Weltganzen – all dies entspringt hier unmittelbar in der Schau; leibhaft springt den Betrachter die Einsicht der Buddhisten in die verweigerte Transzendenz und die totale Immanenz an. Dass dieser Ort eine solche Wirkung entfalten kann, verdankt sich der in sich komplexen Konstitution seines Erscheinens – einer Art »Falte« im Erscheinen. Infolge seines Sehbegehrens antwortet der Betrachter unwillkürlich auf die Anmutung seitens des grünen Gartens hinter der kahlen Sandfläche, weil jener Bereich von vornherein in dieser mit aufscheint. Sowie er daraufhin in ein und demselben Gesichtsfeld seine Aufmerksamkeit nach hinten verlagert, erscheint wiederum der gewaltige Sandstrand seinerseits mit. Beinahe ist es so, als verliehe die freie Fläche nicht einer abstrakten Bedeutsamkeit – der buddhistischen »Leere« – symbolischen Ausdruck, als diente sie vielmehr von Anfang an nur dem einen Zweck, das Sehbegehren im Akt der Anschauung, die Anrührung durch die satten Farbtöne der Bäume dahinter, ins Extrem zu steigern. Eine kaum erträgliche Spannung durchzieht hier diejenigen »kinästhetischen Motivationen«, die von der Gesamterscheinung her den Betrachter angehen. Das »Miterscheinen« betrifft dabei nicht erschei66 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Schnitte in der Erscheinung

nende Dinge, es betrifft sein jeweils Anderes als ein Moment in der Gesamterscheinung. Dieses »Miterscheinen« muss streng phänomenologisch als Gegebenheitsweise des Erscheinenden verstanden werden; es darf nicht auf vorgängig und unabhängig voneinander gegebene Gegenstände bezogen werden. Hier ist alles Erscheinen als »Erscheinung von etwas« je schon »Miterscheinen«. Als Spannung in der Anmutung, als in sich gespannte Anmutung der gesamten Phänomenalität tritt an diesem Ort für den Betrachter ein Schnitt-Kontinuum zwischen buddhistischem »Gegebensein« und »Leere« oder zwischen Natur und Kultur in Kraft. Nicht als Bedeutsamkeit des Geschauten ist dieses Schnitt-Kontinuum zu verstehen; es wird unmittelbar im Akt der Anschauung wirksam. Eine in sich spannungsgeladene Affektion ruft hier die Aufmerksamkeit des Schauenden – noch bevor er begonnen hat, über das Geschaute nachzudenken – zu einer Sinnverschiebung innerhalb ein und derselben phänomenalen Gesamtgegebenheit auf. Diese Verschiebung wird als ein vorsubjektives Geschehen aus der Mitte der Erscheinung heraus in Gang gesetzt; sie folgt der affektiven Kraft einer »Falte« oder »Verwerfung« im Erscheinen. Durch eine ins Schauen eingewanderte »Drift« schlägt der starre Schnitt im Geschauten um in ein dynamisches Kontinuum. Aus der Zweiteilung des Sehfeldes – aus dem Schnitt zwischen erscheinenden Gegenständen – wird ein »Sprung« im doppelten Sinne, der durch die Erscheinung hindurchläuft. Der sinnfällige Schnitt zwischen einem Auffassungsgehalt »Natürliches« und einem Auffassungsgehalt »Künstliches«, der hier das Geschaute durchwaltet, bleibt als unaufhebbare Voraussetzung dieser Betrachtung bestehen. Allerdings betrifft die Teilung in der Schau weder abstrakte Ideen noch die geschauten Gegenstände an sich. Hier zeigt sich nicht etwa Verschiedenes jeweils in seiner wesenhaften Geschiedenheit; als immanente Spannung durchzieht die Kluft das Sich-Zeigen beider Momente in ihrer sich-mitzeigenden Beziehung aufeinander. So findet der Schnitt als sich-zeigender Schnitt in der Schau als Schau seine Aufhebung zur Kontinuität. »Natur« und »Kultur« können in dieser spannungsreichen Gartenerscheinung als zwei gegensätzliche und doch zuinnerst zusammengehörige Momente der Welt und des Wirklichen leibhaft erfahren werden. Das behauptete Schnitt-Kontinuum mag die Deutung des Geschauten betreffen; diese Deutung selbst hängt indes vom 67 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

vorgängigen Erscheinen des Schnitt-Kontinuums ab. Der komplexe Sinn ist hier der Phänomenalität eingeschrieben; er haftet nicht äußerlich dem »Erscheinen von etwas« an. Der Bedeutungskonflikt zwischen zwei konträren Ideen hat sich als paradoxe Spannung im Erscheinen eingenistet, noch bevor das Gebilde gedeutet wird. Ein weiteres Anschauungsbeispiel für diesen phänomenologischen Sachverhalt liefert der Ryōan-ji-Steingarten, der auf dynamische Weise den Raum zerteilt. Wir schauen hier das Paradox einer zu Stein erstarrten, äußerst »konkret« gewordenen »Abstraktion« 113 an. Mit radikaler Nacktheit und Härte schält sich der Steinhof aus einer grünen Umwelt heraus; es ist, als wäre da ein Bezirk von Menschengemachtem aus der Natur herausgeschnitten. Auf der Ebene der immanenten Bedeutsamkeit findet sich das Motiv des Bruchs in gesteigerter Schärfe wieder. Zwar mögen – wie vielfach betont wird – die weit verstreuten Steingruppen auf mythische Berge anspielen; die nüchterne Abstraktheit des ganzen Gebildes ist jedoch dazu angetan, alle konkreten Bedeutungsassoziationen abzuschneiden. Wie das kahle »Sandmeer« sprengen die »Steininseln« darin unser Gespür für räumliche Größenverhältnisse; sie zerbrechen die natürlichen Dimensionen unserer Lebenswelt. Wird so aus dieser leeren Fläche ein kosmischer Raum von nicht überschaubaren Ausmaßen? 114 Sehen wir – gemäß der gängigen allegorischen Deutung 115 – mächtige »Gebirgszüge«, und breitet sich vor uns tatsächlich ein »Meer« mit »Inseln« aus? Oder nehmen wir doch nur kleine Steinklötze inmitten einer kunstvoll gefurchten Sandfläche wahr? Auch hinsichtlich seiner bloßen Raumwirkung zerbricht der weite Platz. Trotz beschränkter Abmessungen nimmt er im Nahblick vom Gebäude aus unter der Hand eine übergroße Ausdehnung an, lässt er sich kaum ganz in der Überschau erfassen; der Blick springt zwischen verschiedenen Brennpunkten hin und her. So wird die Erscheinung in der Anschauung in zitternde Schwingung versetzt – wie eine gewaltige energiegeladene Batterie. Aufgrund ihres gegenseitigen Abstandes spalten sich die einzelnen Steingruppen voneinander ab, als wollten sie aus dem Platz heraus113 114 115

Ebd., S. 95. Ebd., S. 95–96. Ebd., S. 65–66/ 77/ 79.

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Schnitte in der Erscheinung

fallen, als befänden sie sich nicht alle an demselben Ort. Beim Betrachter kann das Gefühl aufkommen, dieser Steinhof sei eigentlich ein unwirkliches Loch inmitten der Wirklichkeit, einer Furche gleich, die alles verschluckt. Statt die – sei es auch noch so karge – Anwesenheit einzelner Dinge wahrzunehmen, wähnt man sich auf einmal vor einer überdimensionierten nackten Abwesenheit – als hätte hier das blanke Nicht-Sein Gestalt angenommen. Jedoch verlangt selbst diese Entzugserfahrung, ebenso wie alle zuvor beschriebenen Brüche, ein intensives Sehbegehren; erst wenn der Betrachter da »etwas« sehen möchte, kann Nicht-Anwesenheit in sein Schauen einwandern, kann er des Nichts innewerden. Die Schau als in sich zusammenhängendes »Sehereignis«, wie Waldenfels es nennt, 116 ist dasjenige, was hier alle Schnitte im Erscheinen zusammenkittet – sei dies auch nur der Vorschein eines verweigerten, sich entziehenden »Erscheinens von etwas«. Wenn es die anfängliche Öffnung eines Schauenden auf Sich-Zeigendes ist, die all die besagten Schnitte überhaupt erst einführt, ist es zugleich dieses sinnliche Seherlebnis selbst, welches über Brüche und Schnitte hinweg den Zusammenhang im Sich-Zeigenden herstellt und aufrechterhält. Nicht der Sandhof an sich, nicht die paar Versatzstücke, die da versammelt sind, auch nicht deren auratische Bedeutsamkeit, erst das sinnliche Erscheinen gebiert hier SchnittKontinua. Allein in der Schau, in der sich aktuell konstituierenden Phänomenalität – nicht in irgendeinem genialen Bauplan – werden die Verwerfungen als Schnitt-Kontinua wirksam. Mit einer vielfach gebrochenen Hintergründigkeit sprengt der Ryōan-ji-Steingarten im Sinnlichen selbst die in sich kohärente, sozusagen »vordergründige« Sichtbarkeit auf. Vermittels einer Vielzahl von Schnitt-Kontinua in der Erscheinung – bis hin zum Entzug jeder Sinnhaftigkeit in dem, was sich zeigt – führt hier eine mit Sinnlichkeit aufgeladene Abstraktion jenes grundlegende Schnitt-Kontinuum vor, das die gesamte Phänomenalität als solche durchzieht: das sinnhaft-sinnliche Schnitt-Kontinuum zwischen einem sinnlichen Hervortreten und der Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit dessen, was da hervortritt. Unbedingt gilt es die starke leibliche Strahlkraft dieser anderen »concept art« 117 festzuhalten. Der 116 117

Waldenfels, Sinne und Künste, S. 153. Pörtner, »Die Penetranz der Diskretion«, S. 85.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

Steingarten macht das Zerbrechen oder den Verlust von Bedeutungen in leibhafter Anschauung erfahrbar, mit geballter Intensität und sinnlicher Wucht. Entweder gesteht man angesichts dieses Phänomens jeglichem Symbol eine vergleichbare Zwitterstellung zu, oder aber man verabschiedet sich im Nachdenken über japanische Gärten von der irreführenden Rede von »Symbolen«. Zuletzt schließt sich aus buddhistischer Sicht noch ein methodologischer Zweifel von einiger Tragweite an: Wird hier nicht der sinnlichen Erscheinung und der Sinneswahrnehmung genau jenes »etwas als etwas«, jene Als-Struktur vorenthalten, welche nach Husserl jedes Bewusstseinserlebnis in seiner unhintergehbaren Intentionalität kennzeichnen soll? Das im Ryōan-ji-Steingarten erfahrene Erscheinen entzieht doch im Sinnlichen selbst, durch das sinnlich Erscheinende hindurch, der Erscheinung ihren noematischen Gehalt. Es ist, als würde diese Gartenerscheinung in reine Noesis zusammenschießen, ohne dass sich dabei noch irgendein Noema konstituieren könnte. Zumindest lässt sich angesichts so komplexer Wahrnehmungen wie der beschriebenen die Ausrichtung an der Ontologie der Gegenständlichkeit, die die phänomenologische Grundformel des »etwas als etwas« insgeheim beherrscht, nicht aufrechterhalten. Wenngleich vielleicht tatsächlich kein »Erscheinen« ohne »Erscheinendes« – ohne »Erscheinen von etwas« – angetroffen oder gedacht werden kann, so muss doch diese Möglichkeit berücksichtigt werden: Das Erscheinende kann auf NichtErscheinendes nicht bloß hinweisen – so dass dieses Nicht-Erscheinende auch in der Negation immer noch dem aktuell Erscheinenden wie ein noematischer Sinngehalt zugeschrieben würde; vielmehr kann es offenbar dazu kommen, dass im Erscheinen selbst dieses Erscheinen so in sich zurückgenommen wird, dass das Erscheinen vor der Ausbildung jeder bestimmten Erscheinung haltmacht und sich in sich aufhebt, ohne dass es zu einem das Erscheinen selbst transzendierenden Sinnverweis käme. Was dann allenfalls zum Vorschein kommt – der erlebte Wasgehalt solchen »leeren« Erscheinens –, wäre nicht in irgendeinem noematischen Gehalt zu suchen, sondern im nackten Wie dieses Erscheinens. Sollten sich diese Überlegungen bestätigen lassen, hätte dies nicht nur weitreichende Bedeutung für die Bestimmung von Phänomenalität überhaupt; es hätte sicherlich ebenso fundamentale Auswirkungen auf das Grundgerüst phänomenologischen Denkens 70 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Paradoxien des Erscheinens

und Arbeitens. Phänomenalität würde sich dann nämlich nicht mehr aus dem erkenntnistheoretischen Muster eines »Gegebenseins von etwas für jemanden« ableiten oder darauf beschränken lassen. Das Subjekt oder Bewusstseins-Ich, dem sich ein Phänomen »gibt«, durchläuft seinerseits in dieser »Gebung« und vermittels ihrer eine Wandlung; statt einem gegebenen oder sich gebenden »etwas« anzuhängen, welches sich dem »strömenden Bewusstsein« gegenüber zum intentionalen noematischen Gehalt verdichtet, würde der Ort des Erscheinens einwandern in den »Jemand«, dem da im Erscheinen eine »Gebung« widerfährt. Als das Geschehen bloßen Erscheinens – ohne Subjekt und ohne Wasgehalt – dürfte dieser orthafte »Jemand« indes nicht länger wie ein BewusstseinsIch und wie ein Bezugspol aufgefasst werden; nur als »Zwischen« wäre der Ort des Erscheinens angemessen bestimmt. An dieser Stelle lassen sich solche Fragen lediglich aufwerfen, ohne dass vorschnell eine Antwort zu geben wäre. Immerhin können die ausgefeilten buddhistischen Bewusstseinslehren Ostasiens, an die dieses bezügliche »Zwischen« erinnert, der Phänomenologie neue und wichtige Impulse bieten.

5.

Paradoxien des Erscheinens

Die Beobachtung zu Schnitt-Kontinua im Erscheinen lässt sich noch tiefer in das Schauen selbst zurückverfolgen. Der Schnitt existiert ja nicht real und physisch in der sichtbaren Welt; vielmehr steigt er im Prozess des Phänomenwerdens aus der angeschauten Phänomenalität auf. Voraussetzung für den Schnitt ist Phänomenalität als solche, ist ein Sich-Zeigen für einen Anschauenden sowie der Akt des Schauens. Das physische Reich der Dinge enthält keine Schnitte. Was ist damit gemeint? Wo immer beispielsweise ein Wasserlauf oder Teich in der Anschauung eine Schnittkante zwischen der Uferböschung und ihrer Spiegelung auf der Wasseroberfläche erzeugt, durchzieht ein Bruch das Sehfeld. Dieser Bruch teilt nicht etwa gegenständlich Erscheinendes in zwei geschiedene Erscheinungsfelder auf; augenfällig ereignet sich hier ein Bruch im Wie der Phänomenalität. In der Gegebenheitsweise einer Gesamterscheinung kommt es zum Bruch. Wir erfahren den schlichten Schnitt der Wasserkante als eine fun71 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

damentale Verwerfung in der Qualität des Sich-Zeigens, wie er ähnlich auch das Husserl’sche »Bildbewusstsein« kennzeichnet. Indes beschränkt sich dieser Sachverhalt nicht auf die Gegebenheitsweise des oben und unten jeweils getrennt Erscheinenden; in dessen wechselseitiger Bezüglichkeit betrifft der Bruch die jeweils oben und unten phänomenal erlebten Qualia selbst. Nicht ist da zweimal ein und derselbe Gegenstand auf je unterschiedliche Weise gegeben; ein einziges Phänomen bietet sich in solchen Fällen als innere Bezüglichkeit und Bruch dar. Dies sei genauer erläutert. Moos, Felsen, Sträucher und Bäume am Teichufer oder auf einer Insel gelten als »wirklich«, zeigen sich als sie selbst und stehen für sich selbst. Dieselben Dinge in der Wasserspiegelung hingegen sind offenkundig nur unwirkliche »Abbilder«. Im Modus des Alsob verweisen sie auf anderes und stehen nicht für sich selbst. Doch im Unterschied zum klassischen Bildbeispiel befindet sich dieses Andere hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu seinem Abbild, ja, es wird in derselben Phänomenalität mitgesehen. Dabei fällt auf, dass die gespiegelten Dinge infolge des optischen Blickwinkels in der Spiegelung vor einem anderen Hintergrund als in Wirklichkeit erscheinen; obendrein wirkt das Spiegelbild in seiner Struktur kontrastreicher und deutlicher konturiert als die wirklichen Gegenstände. Die Spiegelung im Wasser mag flächig genannt werden, doch bei genauem Hinsehen besitzt sie eine ganz eigentümliche Hintergründigkeit und Tiefe. Es ist, als träte, was immer gespiegelt wird, im Abbild klarer zutage als im Original. Innerhalb der einen wirklichen Welt – innerhalb des einen Sehausschnittes unserer Schau – kann sich wirklich Erscheinendes verdoppeln; was in solch gedoppeltem Erscheinen gemeinsam mit der Welt zum Vorschein kommt, ist gleichsam »die Welt, noch einmal«. Im Erscheinen wirklich anwesender Dinge zeigen sich nicht nur diese Dinge; überdies zeigt sich gewissermaßen ihr Erscheinen als ein Scheinen. Die Erscheinungswelt wird in solchen Spiegelbilderfahrungen durchzogen von einem Schnitt, der wirklich Sichselbst-Zeigendes und bloßen Schein scheidet. Allerdings treten diese beiden Verfassungen der Phänomenalität, treten diese beiden Weisen des Zeigens in ein und demselben Sehfeld, an ein und derselben Gesamterscheinung hervor. Vor dem Auge ereignet sich ein in sich gebrochenes Kontinuum stetigen Sich-Zeigens. Was folgt daraus? 72 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Paradoxien des Erscheinens

In der Phänomenalität durchdringen sich jederzeit zwei Weisen des Erscheinens: Einmal kommt da das Sich-als-es-selbst-Zeigen der gewöhnlichen Gegenstandswahrnehmung vor; wie in einer Schale darin enthalten gibt es sodann ein bildhaftes Bloße-Erscheinung-Sein-von-etwas. Vermutlich ist es diese mitunter schwer auflösbare Verschachtelung zweier unterschiedlicher Wertigkeiten in der Phänomenalität, die das klassische Missverständnis von der Zweiteilung der Wirklichkeit in Erscheinung und wahres Wesen befördert hat. Wenn die Phänomenologie im Gegenzug freilich mit Husserl und Merleau-Ponty nicht müde wird zu betonen, dass wir nicht »bloße Erscheinungen« von ihrerseits abwesenden Gegenständen haben, sondern dass die erscheinenden Gegenstände in ihrem Erscheinen und in ihrer Erscheinung selbst leibhaft anwesend seien, dann wird auch diese einseitige Auflösung des Erscheinungsproblems der zwiefältigen Struktur der Phänomenalität nicht gerecht. Was sich in der Erscheinung gibt, was wir leibhaft anschauen, ist gewiss der Gegenstand selbst, nicht lediglich ein stellvertreterisches Scheinen; und doch schauen wir den Gegenstand immer als Erscheinung, in seinem Erscheinen, an. Das »Erscheinung-Sein« gehört zum »Gegenstand-Sein« dazu und ist diesem nicht nachträglich aufgepropft. Wenn die Verflechtung der Uferplanzen und -Steine mit ihrer Wasserspiegelung im Erscheinen über einen qualitativen Schnitt hinweg als »Aufgang von Wirklichkeit« oder »Weltaufgang« angeschaut werden kann, dann besitzt dieser Weltaufgang eine komplex gedoppelte Struktur: Gemeinsam mit einem aktuellen Wirklich-Sein erscheint da die bloße Möglichkeit eines Wirklich-Seins – die Wasserspiegelung. Die Möglichkeit zeigt sich in dem, was sich wirklich zeigt, mit; sie erscheint nicht dahinter, darüber oder in einem Entweder-oder zweier gegensätzlicher Ansichten von derselben Gegenständlichkeit – wie beim Umschlagen im Vexierbild. Diese sich-zeigende Verdoppelung im Weltaufgang hat gar nichts Metaphysisches; die Zwiefalt wohnt im erscheinenden Aufgang des Wirklichen, ist der Erscheinungswelt und ihrem Erscheinen selbst eingeschrieben. Bildhaftigkeit – Abbildhaftigkeit – ist gewiss nicht das Wesen allen Erscheinens, wie Platon annahm; gleichwohl begleitet alle Gegenstände in der leibhaften Anwesenheit ihres Erscheinens ein bildhaftes Moment bloßen Scheinens. Wenn wir statt von vor73 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

gegebenen Gegenständen von den Erscheinungen selbst ausgehen, stellen wir fest: In allem Erscheinen ist Abbildhaftigkeit als eine Weise des Erscheinens mitgegeben. Nur weil es in den Erscheinungen das abbildhafte Moment der Unwirklichkeit oder Möglichkeit gibt, kann real Wirkliches überhaupt als Wirkliches in Erscheinung treten. Erst im Kontrast zu einer dem gesamten Erscheinen innewohnenden Scheinhaftigkeit konstituieren sich wirklich anwesende Gegenstände in ihrem Erscheinen als »wirkliche«, geben sich diese Gegenstände als leibhaft sich-zeigende Gegenstände – statt dass sie irgendwo hinter ihrer Erscheinung angenommen, als »wirklich« nur gesetzt würden. Erst über ein Schnitt-Kontinuum im SichZeigen – über das Schnitt-Kontinuum zwischen wirklicher Selbstgebung und abbildhaftem Als-ob – kann »Wirklichkeit« phänomenal werden. Bestünde die gesamte Sphäre des Erscheinens einzig aus »bloßem Schein« oder bestünde sie umgekehrt ausschließlich aus sich in Selbstgebung darbietenden realen Gegenständen, wären weder Wirklichkeitsurteile noch das platonische Verdikt über das Erscheinen möglich. Phänomenalität ist aber beileibe kein einschichtiges »Gegebensein von etwas für …« – selbst wenn dieses Gegebensein nur über eine unabschließbare Folge von »Abschattungen« tatsächlich einzulösen sein sollte. Phänomenalität ist kein einschichtiger Zustand. Phänomen-Sein bedeutet die paradoxe Zwiefalt von Sichals-es-selbst-Zeigen und abbildhaftem Scheinen; es weist in sich die Ereignisstruktur eines Schnitt-Kontinuums auf. Die Verunsicherung der Philosophie, insbesondere die von Ontologie und Metaphysik, durch das sinnhaft-sinnliche Erscheinen dürfte in diesem Zwitterwesen ihren Ursprung haben: Was »erscheint«, ist nie ganz und ist nie ausschließlich, was es zu sein vorgibt. Im Bezirk des Nijōjō 二条城-Palastes in Kyōto findet sich der kleine, erst 1965 angelegte Teichgarten Seiryū-en 清流園. In großer Zahl und dicht gedrängt umringen da am geböschten Ufer wie Pflastersteine ausgelegte Rundsteine und senkrecht aufgestellte Steinklötze allseits ein schmal gewundenes Gewässer. Besonders bei Windstille tritt so Folgendes in Erscheinung: Wo die höheren Felsblöcke in verschiedener Färbung und Maserung aus dem Ufersaum herausragen, werden sie vom glasklaren Wasser gespiegelt, wodurch die Härte der real vorhandenen Steine an einer präzisen Schnittlinie in ihr scheinhaftes Abbild übergeht. Die gestochen 74 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Paradoxien des Erscheinens

scharfe Spiegelung, die unmittelbar ans »Urbild« – die Ufersteine darüber – anschließt, als ginge ein Teil ungehindert in sein anderes über, wirkt wie Verdoppelung und Auflösung in einem. Der Betrachter erfährt in ein und derselben Ansicht beides, sowohl das, was »wirklich anwesend« genannt werden mag, wie ebenso das, was als Schein gelten muss; so kommt er nicht umhin, im Gesamteindruck den Schnitt selbst und das Umkippen zwischen zwei Wertigkeiten des Erscheinens mitzusehen. Als »Spiegelbild« zu umschreiben, was hier stattfindet, reicht nicht an den phänomenalen Sachverhalt heran. Vom phänomenologischen Standpunkt, also von der Frage nach der eigentümlichen Verfasstheit und Gegebenheitsweise dieser Gesamterscheinung aus betrachtet, darf dieses Erlebnis nicht einfach in eine der natürlichen Einstellung vor der phänomenologischen Epoché zugehörige Zweiteilung des physikalischen Raumes in oben und unten aufgelöst werden; ebenso wenig lässt es sich durch eine Aufspaltung des Anschauungsinhaltes in »echt« und »scheinhaft« wegerklären. Solche Bestimmungen sind bereits Deutungen, die den phänomenalen Sachverhalt nicht angemessen beschreiben. Einmal gibt es hier ein Wahrnehmungsbewusstsein von wirklichen Dingen in leibhafter Selbstgebung; es umfasst die Gesamterscheinung, also sowohl die Steinsetzungen am Ufer als auch die Wasserfläche mit der Spiegelung. Dasselbe Phänomen erzeugt aber überdies in einer merkwürdigen Verschachtelung noch ein zweites, davon signifikant abweichendes Wahrnehmungsbewusstsein, nämlich das Bewusstsein vom wirklich gegebenen Spiegelbild als einem scheinhaften Abbild. Diese Anschauung bildet also ein klares Bewusstsein einerseits von wirklich Gegebenem und andererseits von zwar ebenfalls wirklich Gegebenem, welches sich indes im phänomenal aufscheinenden Unterschied dazu zeigt, welches sich im Modus des Abbilds gibt. In der Gesamterscheinung entlarvt der leibhaft gegebene »Anschein von …« – die Wasserspiegelung – sich selbst als »bloßer Schein«. Das Abbildphänomen wird im Verein mit dem Wirklichkeitsphänomen erlebt und allein darum als bildhafter Schein erfahren. Isoliert betrachtet wäre die Wasserspiegelung infolge ihrer Klarheit »täuschend echt«; sie würde sehr wahrscheinlich für ein wirklich anwesendes Steinarrangement genommen. Was hier aber zum Vorschein kommt, ist eine Scheinhaftigkeit und bildhafte Abwesenheit, 75 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

die in sich auf eine unmittelbar benachbarte Anwesenheit hinzeigt. In diesem Verweiszusammenhang erlebt der Betrachter glasklar die Scheinhaftigkeit eines »wie real« wirkenden Spiegelbildes. Zugleich ist es umgekehrt, als würde der bildhafte Schein – die Wasserspiegelung – die leibhaft anwesenden Ufersteine umso realer hervortreten lassen. Insofern beide Momente in diesem phänomenalen Sachverhalt untrennbar ineinander verflochten sind, kann behauptet werden: Wenn wir unter den »realen« Ufersteinen sowohl die »reale« Wasserfläche als auch die bildhaft »irreale« Spiegelerscheinung als Phänomen wahrhaben, wird ein und dasselbe Phänomen von einer leibhaft sich gebenden »Falte« durchzogen. Diese das Phänomenale selbst konstituierende »Falte« darf keinesfalls auf die physische Nahtstelle zwischen Uferböschung und Wasseroberfläche zurückgeführt werden. Die Faltung obwaltet hier als Ereignis eines Schnitt-Kontinuums im Herzen der Phänomengenese. In Anbetracht des kulturellen Kontextes lässt sich diese erscheinende Zwiefalt in der Einheit wie ein wunderbar präzises Anschaungsgleichnis auf die Lehre des Buddhismus von den »zwei Wahrheiten« (chin. èr dì bzw. sinojap. nitai 二諦) beziehen. Gemäß dieser Lehre erweisen sich alle Erscheinungsdinge, entpuppt sich alles »Gegebensein« (chin. yǒu bzw. sinojap. u 有) als illusionär und nur »geborgtes Gegebensein« (chin. jiǎ yǒu bzw. sinojap. keu 假有), sofern es nämlich allein innerhalb eines Bezuges zur »echten Leere« (chin. zhēn kūng bzw. sinojap. shinkū 真空) überhaupt als »Gegebenes« zutage treten kann. Freilich verschränken sich die beiden Auffassungen – »Gegebensein« oder »etwas« und eigentliche »Leere« – so in einer wechselweisen Bezüglichkeit, dass nie eine der beiden Seiten die Oberhand gewinnt und sich als »letzte Wahrheit« behaupten kann. Woran buddhistischem Denken gelegen ist, lässt sich so zusammenfassen: Vermittels einer paradoxen Spannung in unserer Weltdeutung baut sich zwischen zwei gegensätzlichen Auffassungen die ereignishafte Gedankenfigur einer »immanenten Transzendenz« auf. Beim Versuch, das bezügliche Wechselereignis des Bedeutungsumschlages zu denken, kann es niemals zur Auflösung der dialektischen Spannung, zu ihrer hegelianischen Aufhebung in einer höheren Einheit, kommen. Diese wäre nämlich allenfalls eine vorgestellte Einheit; für das Heil wäre sie unwirksam. Stattdessen soll der buddhistisch Denkende sich in der spannungsvollen Schwebe halten; er soll sich in der paradoxen Situation jener 76 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Paradoxien des Erscheinens

Grundbezüglichkeit (sanskr. pratītyasamutpāda, chin. yuán qǐ bzw. sinojap. engi 緣起) aufhalten, die die Wirklichkeit unaufhebbar durchzieht. Mit anderen Worten: Alles Jenseitige lässt sich immer nur im Diesseits erreichen. Wie gemäß dieser Deutung die wunderbar klare, an sich jedoch ganz und gar »leere« Wasserspiegelung die Wahrheit über das lediglich »geborgte« Gegebensein der Steinklötze am Ufer an den Tag bringen mag, kann ebenso umgekehrt die Wahrheit dieser »echten Leere«, kann umgekehrt das »leere« Spiegelbild seinerseits nur im Verein mit der als scheinhaft entlarvten Realität der Ufersteine in der diesseitig »wirklichen« Gesamterscheinung ans Licht kommen. Wie in der metaphorischen Gartenerfahrung, genauso bleibt im ostasiatischen Buddhismus alles Transzendieren der Immanenz, dem diesseitigen Kreislauf der Wiedergeburten (sanskr. saṃsāra, chin. lún huí bzw. sinojap. rinne 輪迴), verhaftet. Das transzendente »Echte« (chin. zhēn bzw. sinojap. shin 真), sozusagen die »Wahrheit«, ist allenfalls in Form einer leibhaften – dem Wirklichen eingeleibten – Transzendenz zugänglich. Entsprechend der angeführten Lehre lässt sich eine Gartenerscheinung wie die im Seiryū-en stichhaltig interpretieren. Noch näher mag dieser Deutung der idyllische Teichgarten des Renge-ji 蓮華寺 in Kyōto stehen. An diesem Ort wirkt der lichte Moosgrund überaus versöhnlich, und massive Steinklötze um einen beschaulichen Teich herum, der sich unter hohen Bäumen wie eine Lichtung in den Wald einfügt, strahlen in seltener Vollendung erhabenen Frieden und stille Würde aus. Bei entsprechend einfallendem Sonnenlicht zeigt sich diese Miniaturwelt aus Bäumen und Felsen in dem Gewässer noch einmal; hier tritt sie freilich auf merkwürdige Weise klarer, reiner, prägnanter in allen Gestaltmerkmalen zutage als die reale. Es ist, als sollten die Gartendinge auf paradoxe Weise gerade in der scheinhaften Spiegelung ihre ganze Wahrheit erlangen, in ihrem »echten« Zustand sichtbar werden. Allem Anschein nach können wir nur im Umweg über das scheinhaft »Falsche« – über die Spiegelerscheinung – zur Wahrheit vordringen; diese kommt nur als vermittelte zum Vorschein, während die unmittelbare Sicht auf die Gartenwelt sich demgegenüber ihrerseits als unscharf und trügerisch erweist. Aus dieser buddhistischen Sicht sind Phänomene als Phänomene in sich zwiefältig; weder ist

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

die Phänomenalität bloßer Schein, noch bietet sie im Erscheinen schlicht Wirkliches wie einen ontischen Gegenstand.

6.

Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen

Für die Phänomenologie setzt der obige Rückbezug auf die buddhistischen »zwei Wahrheiten« eine wertvolle Einsicht frei. Was nämlich die besagten Gartenerscheinungen betrifft, sind wir gewiss versucht, die in der Wasserkante zusammenschießende – sozusagen das buddhistische Paradox und das tragende bezügliche »Zwischen« markierende – Spannung vermittels einer plausiblen Erklärung aufzulösen. So könnten wir in Anlehnung an Husserl behaupten, die obere Hälfte der betreffenden Erscheinung machten eben in der Wahrnehmung »leibhaft«, »real«, »originär gegebene« Gegenstände aus. Die untere Hälfte hingegen erzeuge im originären Wahrnehmungsbewusstsein von der glatten Wasserfläche, im originären Gegebensein der Wasseroberfläche als eines »Spiegeldinges« zugleich ein zweites Bewusstsein; dies sei das »Bildbewusstsein« von einem »irrealen«, als »Bildobjekt« gegebenen Wahrnehmungsgegenstand. Dieses »Bildbewusstsein« versteht Husserl wie eine Auswechslung des wahrgehabten Gehaltes; darin dränge sich das Bewusstsein von einem bildhaften Als-ob in den Vordergrund des Erlebens. 118 Ein »Bildbewusstsein« setzt, so wie Husserl es analysiert, innerhalb des gewöhnlichen Bewusstseins-Ichs den Umschlag in ein allein dem angeschauten »Bildobjekt« verschriebenes »Bild-Ich« frei. 119 Dieses gewandelte, an die Bildauffassung gebundene Ich ist dadurch gekennzeichnet, dass es ins geschaute Bildding als Bilderscheinung von Nicht-Anwesendem »eintaucht« 120 – ganz so, als ob dieses doch real anwesend wäre. Das eigentümliche »Bild-Ich« verfügt nicht mehr in freier Kinästhese über den Gegenstand der Wahrnehmung – den Bildträger da vor Augen. In dem realen Wahrnehmungsgegenstand und anhand seiner erblickt es Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, hgg. v. E. Marbach, Den Haag: Nijhoff, 1980 [Hua XXIII], siehe besonders [Nr. 1, §§ 40–43] S. 82–87. 119 Ebd., [Nr. 16] S. 467 Anm. 1. 120 Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, S. 107. 118

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Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen

nun einen ganz anderen Inhalt; dieser ist kein originär gegebenes, sondern ein nicht-wirkliches Ding. Husserl versucht auf diese Weise jenes bewusstseinsmäßige Umschlagen in der Auffassung eines Erscheinenden zu bestimmen, das durch einen Wahrnehmungsgegenstand von der Art des Bildes induziert wird. Allerdings verfehlt seine Beschreibung nicht nur völlig den skizzierten buddhistischen Standpunkt; im Übrigen wird sie auch der dargestellten Gartenerfahrung und deren phänomenalem Sachverhalt nicht gerecht. Vermutlich ist Husserls Ansicht nicht einmal hinreichend, um phänomenologisch sauber zu bestimmen, was im Erleben einer künstlerischen Bilderscheinung tatsächlich stattfindet. Erstens beschränken sich Husserls Analysen auf den Fall des Abbildes, dessen »Bildsujet« signifikante Ähnlichkeit mit einem grundsätzlich in originärer Selbstgebung wahrnehmbaren Gegenstand aufweist. Ob diese Konstruktion in ihrer behaupteten Allgemeingültigkeit überhaupt die ganze Vielfalt und Breite aller möglichen Ähnlichkeitsverhältnisse abzudecken vermag, wie sie aus dem Alltag und erst recht aus der Kunstgeschichte bekannt sind, ist jedoch fraglich. Sodann können wir ohne weiteres auch solches als »Bild« wahrnehmen, was kein Abbild ist und was keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem realen Gegenstand aufweist. Dies hat die hundertjährige Entwicklung der modernen Kunst zur Genüge unter Beweis gestellt. Schließlich gibt es in anderen Kulturwelten, etwa in Ostasien, gänzlich andere Bildverständnisse, die von Husserls Analysen ebenfalls nicht berührt werden, die aber eine bedeutende Vertiefung des philosophischen Nachdenkens über Bilder darstellen. Gerade wo es sich dem ersten Anschein nach durchaus um figurative Kunst, um »mimetische« Bilder handelt, bietet der transkulturelle Blick nach Ostasien eine unschätzbare Fundgrube für die phänomenologische Arbeit. Vor allem die bereits erwähnte Bildgattung der Berg-Wasser-Malerei ist viel eher als »Wirkbild« denn als »Abbild« zu bestimmen; über die ästhetische Übung wird der Betrachter solcher Bilder auf eine ethisch belangvolle Weise verwandelt und in seine ureigene umwelthaft situierte Wirklichkeit versetzt – statt dass solche Bilder ihn über ein künstliches »Bild-Ich« immersiv in ein abwesendes Bildsujet entführten. 121 Auch entfalten solche Bilder ihre ästhetisch-ethische Wirk121

Zum vormodernen chinesischen Bildverständnis in seinem wesentlichen

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samkeit oft gerade durch das, was sie nicht zeigen, also durch die nicht-abbildhaften Momente in der Bilddarstellung. 122 Entscheidend ist im gegenwärtigen Zusammenhang, dass Husserls Gedankengang wie selbstverständlich von der Rahmung des »Bildsujets« im »Bildding« ausgeht, wodurch er den als Bild wahrgenommenen Inhalt, das »Bildobjekt«, von vornherein aus den realen Wahrnehmungsgegenständen darum herum herausschneidet. Seine Analysen machen eine zumindest fragwürdige Vorannahme, wenn sie ein »Phantasie-« oder »Bildbewusstsein« vollständig von einem fundierenden Wirklichkeitsbewusstsein und der Gesamtsphäre leibhaft gegebener Gegenständlichkeit abtrennen zu können vorgeben. Husserls isolierende Setzung eines dem »Bild-Ich« korrelierenden Wahrnehmungsgegenstandes »Bild« widerspricht im Übrigen sich selbst in ihren eigenen Schlussfolgerungen. Denn der ins Bildsujet »eintauchende« Betrachter muss durchaus ein Bewusstsein davon behalten, dass dieser nun anwesende Inhalt auf einen abwesenden Inhalt verweist; er muss zwei Ebenen in seinem Bewusstsein wahrhaben, und bis zu einem gewissen Grad muss er sogar die Diskrepanz dieser beiden Ebenen miterleben. Ansonsten würde das eigentümliche »Bildbewusstsein« mit einer schieren Illusion verwechselt; diese kann im Augenblick des Erlebens durch das Bewusstseins-Ich eben nicht mehr von einer gewöhnlichen und zutreffenden Wirklichkeitswahrnehmung unterschieden werden. Es würde somit zur theoretischen Vermengung des »Bildbewusstseins« mit der reinen »Phantasieerscheinung«, »Halluzination« oder »optischen Täuschung« kommen. 123 Durch eine solche

Kontrast mit dem Bild in der klassischen europäischen Kunst und Philosophie, auch in Abhebung von einem zu engen phänomenologischen Bildbegriff, verweise ich auf meine früheren Arbeiten: Welt als Bild, »Einige Thesen zum Bildverständnis im vormodernen China«, »Ein Weltzugang im Bild. Für eine transkulturelle Phänomenologie des ästhetischen Verhaltens«. 122 François Jullien, De l’essence ou du nu, Paris: du Seuil, 2000; François Jullien, La grande image n’a pas de forme ou du non-objet par la peinture, Paris: du Seuil, 2003. 123 Husserl selbst erwähnt diese Modifikationen der Wahrnehmung schon früh: Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, neu hgg. v. K. Schuhmann, Den Haag: Nijhoff, 1976 [Hua III/ 1], [§ 39] S. 81.

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Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen

Bildtheorie ist indes weder dem Alltagsgebrauch noch einem Verständnis der Kunst gedient. Dieser gravierende Einwand lässt sich anhand des oben geschilderten Garteneindrucks sehr anschaulich vorführen. Im Fall der Wasserspiegelung ist die von Husserl vorgenommene Abgrenzung des bloß bildhaft gegebenen »Bildobjekts« gegen in originärer Wahrnehmung gegebene »reale« Gegenständen sowie die korrelierende Abhebung eines »Bildbewusstseins« vom gewöhnlichen Wahrnehmungsbewusstsein eindeutig nicht statthaft. Denn im Gestamteindruck von den Ufersteinen und ihrem Spiegelbild im Wasser laufen beide Sphären – die »reale« und die »bildhafte« – über den Schnitt hinweg ineinander; es findet ein Schnitt-Kontinuum innerhalb ein und desselben Phänomens statt. Der scheinhafte, nur mögliche Bildgehalt – das Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, Husserls »Bildobjekt« – verschmilzt in Wahrheit mit dem realen Wahrnehmungsgehalt – den Ufersteinen darüber. Was wir hier phänomenal wahrhaben, ist keineswegs ein eingerahmtes »Bildobjekt«, und sein Korrelat ist keinesfalls ein isolierendes »Bildbewusstsein«. Leibhaft haben wir hier eine in sich gebrochene, eine zwiefältige Anschauung, und diesen Bruch erleben wir in der phänomenalen Einheit mit. Vor diesem Phänomen sind wir sowohl »Wahrnehmungs-« als auch »Bild-Ich«, sind wir beides in untrennbarer Einheit. Recht viel anders dürfte im Übrigen der Sachverhalt im Bereich der künstlerischen Bilder auch nicht gelagert sein. Weder enden die klassischen Werke der mimetischen Malerei im Kunstmuseum tatsächlich an ihrer Rahmung, noch lassen sich die modernen Bilder der Kunst in ihrer ästhetischen Wirkung auf ein gezeigtes »Bildsujet« oder dieses Zeigen selbst eingrenzen. In letzter Konsequenz bedeutet dies jedoch für unser Wirklichkeitsverständnis im Ganzen: Das vermeintlich ursprüngliche Reich reiner Dingwahrnehmung – die Sphäre »originär erfüllter«, »leibhafter« Selbstgebung von Wahrnehmungsgegenständen – gibt es so gar nicht, wie Husserl sie begreift und wie sie der gesamte Entwurf seiner phänomenologischen Methode voraussetzt. 124 Unser Wirklichkeitsbewusstsein ist allenthalben und zu jedem Zeitpunkt Ebd., [§ 1] S. 11/ [§ 3] S. 14/ [§ 39] S. 81/ [§ 67] S. 142/ [§ 78] S. 167/ [§ 136] S. 315.

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Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

durchzogen von einem Phantasie- oder Bildbewusstsein; »die Wirklichkeit«, in der wir uns leibhaft verankert wähnen, ist in Wahrheit über ein Schnitt-Kontinuum hinweg durchsetzt mit Bildern aller Art. Selbst in einer »leibhaften« Dingwahrnehmung ist mir beileibe nicht einfach ein einzelner Gegenstand in der Einheit seiner »Abschattungen« gegeben, wie Husserl dies unterstellt. 125 Bis hinein in die Dingwahrnehmung verflechten sich vielmehr »wirkliche« – dem Gegenstand selbst innewohnende – Auffassungscharaktere mit »unwirklichen«, »bildhaften« Momenten. Diese lassen sich zumeist nicht hinreichend im Gegenstand verankern; sie bringen schon in der Dinganschauung Bezüge zu Aktuell-nicht-Anwesendem sowie Nicht-Realem ins Spiel. Von einer noch höheren Warte aus betrachtet, haben diese Überlegungen zuletzt einschneidende Konsequenzen für die phänomenologische Rede von der »Intentionalität« des Wahrnehmungsbewusstseins sowie für die Bedeutung dessen, was »wirklich« heißt. Zugleich mit dem noematischen Wasgehalt und dem intentionalen Objekt oder Gegenstand ist stets mitgegeben ein seinerseits nicht phänomenal isolierbarer – nicht gegenständlich individuierbarer – Gehalt, der gleichwohl ganz ebenso der noematischen Sphäre zuzuschreiben ist. Wie ein »Hof« umfangen und durchziehen diffuse bildhafte Momente jede leibhaft gegenwärtige Gegenständlichkeit. Jederzeit begleitet über Einbildung, Imagination und Gedächtnis ein Bildbewusstsein mit einer verschwommenen Fülle von »überschüssigen« Möglichkeitscharakteren wie ein Schatten jede reale Gegenstandsauffassung. Als »wirklich« und »leibhaft gegeben« erscheint ein intentionaler Gegenstand deshalb, weil er sich im Kontrast zu diesem fließenden imaginativen Sinnhof als »unverfügbar«, als aufdringlich »real« behauptet und durchhält. Nicht darf »Imaginatives« und »Bildhaftes« aus einer zuvor ontologisch gesetzten Wirklichkeit als dessen »Modifikation« abgeleitet werden. »Wirklichkeit« ergibt sich vielmehr umgekehrt aus der allen Wahrnehmungsphänomenen eingeschriebenen Spannung zwischen einem bestimmbaren intentionalen Gehalt und einer ihn be-

Hua XI, [§ 1] S. 3/ [§ 4] S. 17; Edmund Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hgg. v. U. Claesges, Den Haag: Nijhoff, 1973 [Hua XVI], [§ 30] S. 103/ [§ 35] S. 125.

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Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen

gleitenden, unbestimmbaren imaginativen Tiefe. Die vermeintlich geschlossene »Wirklichkeit« ist jederzeit durchsetzt mit bildhaft Nicht-Realem; aus diesem taucht sie als »Wirklichkeit« auf. »Wirkliches« setzt sich mit der ihm eigenen Unverfügbarkeit ab von der Immanenz »unwirklichen« Scheins. Aus dieser Umkehrung der Verhältnisse folgt: Eine unhintergehbare Fremdheit durchwaltet das »Wirkliche« als solches und entzieht es dem unmittelbaren Zugriff durch ein originär gebendes Erlebnis. Gemeinsam mit einem bildhaften »Hof« immanenter Vorstellungen tritt in der äußeren Dingwahrnehmung ein Dass-Bewusstsein von einem – gegenüber dem Bewusstseinsinnenleben – transzendenten Welthorizont auf; so stellt sich ein Wissen um die transzendente »Gegenwart« des wahrgenommenen Gegenstandes als eines leibhaft vorhandenen ein. Dieses Dass-Bewusstsein erst lässt uns die Welt als »wirklich« erleben; es ist jedoch seinerseits nicht transzendent. Das Transzendieren hin zur Wirklichkeit als dem Anderen des Bewusstseins ist dem leibhaft erlebten Phänomen in seiner Gesamtheit, d. h. in seiner Bewusstseins-Immanenz, eingeschrieben. Aus der – noch ontologisch gedachten – Äußerlichkeit der Welt gegenüber dem Bewusstsein wird gemäß dieser Sichtweise ein genuines Transzendieren des Wahrnehmungsphänomens in sich selbst und seinen bildhaften Momenten. Erlebt wird so eine Fremdheit im Phänomen selbst, die dem intentionalen Bewusstsein widerfährt und die sich der leibhaften Wahrnehmung einschreibt als Widerständigkeit des Wirklichen. Zunächst mag der intentionale Gegenstand, der im Modus äußerer Wahrnehmung auf einen »wirklichen« Gegenstand im transzendenten Welthorizont verweist, als unmittelbar leibhaft erfahren und real gegeben gelten. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich dieser phänomenale Gehalt als weder einschichtig noch unmittelbar und voll erfüllt gegeben. Mit anderen Worten, selbst Husserls äußere Wahrnehmung kommt gar nicht so »leibhaft« an ihre Gegenstände heran, wie Husserl meint; auch sie verfängt sich in einer Fremdheit, die dem phänomenal Gehabten als solchem eingeschrieben ist. In einem gewissen Sinne löst sich das »Phänomen« als Ankerpunkt des phänomenologischen Wahlspruchs »zurück zu den Sachen« in ein zwiespältiges und hintergründiges Spiel von Bezüglichkeiten auf. Diese Bezüglichkeiten im Phänomen selbst gleichen jenem irritierenden Eindruck von einer inneren Faltung, die in der 83 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Schau im Garten und die Frage nach der »Phänomenalität«

geschilderten Gartenerscheinung Wirklichkeit und Wasserspiegelung unauflöslich miteinander verquickt. Aus den paradoxen Anschauungserlebnissen in Gärten lässt sich für die Phänomenologie folgendes Fazit gewinnen: Das »Phänomen«, von dem sie ausgeht, ist gewiss nicht mit dem klassischen Begriff der »Erscheinung« als Selbstentäußerung oder Selbstdarstellung einer dahinter angesetzten – insofern »transzendenten« – ontischen Gegenständlichkeit zu verwechseln. Dennoch setzt die Rede von »Phänomenalität« ein Erscheinen voraus, das in sich komplex aufgebaut ist und das aufgrund einer eigentümlichen Fremdheit nicht im bloßen »Sich-Zeigen von etwas« aufgeht. In Anbetracht dessen kann die Auseinandersetzung zwischen der von Michel Henry vertretenen Immanenz-These und der Transzendenz-These von der Wirklichkeit, an der weite Teile der Phänomenologie festhalten, nicht mit den begrifflichen Mitteln der klassischen Ontologie und Metaphysik ausgetragen werden. »Wirklich«, »unwirklich«, »möglich« – solche Begriffe taugen sowenig zur Beschreibung und Analyse des obigen Spiegelphänomens wie ganz allgemein zur Bestimmung dessen, was »Erscheinen« heißt. Nach dem Muster der Wasserspiegelung wäre das Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz nicht länger als Gegensatz, sondern eher als Verschränkung innerhalb des Erscheinung-Seins zu ergründen. Es gälte, das paradoxe Schnitt-Kontinuum zwischen einer bildhaften Bewusstseinsimmanenz und jener anderen, vermeintlich soliden Transzendenz des Wirklichen im Phänomen-Sein selbst aufzuspüren. Allzu gängig und daher unhinterfragt geblieben ist die – insgeheim einem ontologischen Paradigma gehorchende – Unterscheidung verschiedener Gegebenheitsweisen eines als identisch angesetzten phänomenalen Gegenstandes. Diesem Muster folgt ja die Husserl’sche Rede von »Modifikationen« ein und desselben phänomenalen Inhalts. Dagegen wäre dasjenige Schnitt-Kontinuum herauszuarbeiten, das bereits innnerhalb eines phänomenalen Gehaltes wirksam wird; dieses Schnitt-Kontinuum wäre aufzuweisen als ein Geschehen innerhalb der Phänomenalität dessen, was sich auf jeweils unterschiedliche Weise zeigt. Nur so ließe sich jene genuine Fremdheit würdigen, die die Erscheinungswirklichkeit durchzieht – statt diese Fremdheit in klassisch ontologischer Manier geradewegs einer supponierten Außenwirklichkeit zuzuschreiben. 84 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Erscheinungswirklichkeit, Bilderscheinung und Phänomen

Dieser Aufriss methodologischer Probleme kann hier indes nicht weiter vertieft werden. Im erneuten Rückgang auf konkrete Gartenerfahrungen soll nunmehr eingehender erkundet werden, was für Dinge uns da begegnen und wie wir Naturwüchsiges und von Menschenhand Gestaltetes erleben.

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IV. Der stumme Blick von Baum und Stein

1.

Natur als Zwischenereignis

Adorno spricht einmal davon, die Natur biete in der ästhetischen Betrachtung »den Ausdruck von Schwermut oder Frieden«. 126 Der Besucher eines japanischen Gartens mag diesen Ausspruch gut nachempfinden können. Zu völliger Stille sind – ohne Ranküne – die sandigen Flächen der Steingärten erstarrt. Ihre kargen Felsen wahren eine Würde, die sich jeder Beschreibung entzieht; stumm ragen sie zwischen Sand und Moos auf, melancholisch und wie schwerelos lastend auf der in sich verschlossenen Erde. Erhaben heiter ziehen Steinsetzungen den Ort zusammen, versammeln Kiefernbaum und Ahorn um sich, als wären alle Dinge versunken in ein feierliches Zwiegespräch ohne Worte. 127 Nichts scheint jene moorig dunklen Teiche aus der Fassung bringen zu können, die hingegossen zwischen Inseln und Uferböschung liegen, wie der Garten des Kinkaku-ji mit seiner traumgleich über dem See schwebenden vergoldeten Pagode. Fast durchlässig breiten sich anderswo spiegelnde Wasserflächen, Glasplatten gleich, zwischen messerscharfen Rändern aus. Selbst feinstrahlige Wasserfälle und fließende Bächlein stören mit ihrem Plätschern und Gurgeln nicht das ernste Gleichgewicht der Dinge im Garten. Das grelle Geschrei der Zikaden im Sommer, der heisere Ruf der mächtigen Rabenkrähen im Winter scheinen die friedvoll in sich ruhende Stimmung noch zu verstärken. Am Saum eines Gartens schafft bisweilen ein Bambushain mit seiner zugleich lichten und dichten Präsenz eine intensive leibliche Erfahrung von sich entziehender Intimität. Besonders die bunt Adorno, Ästhetische Theorie, S. 104. Adorno spricht einmal von dem »Schweigen, aus welchem allein Natur redet« (ebd., S. 115).

126 127

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Der stumme Blick von Baum und Stein

schillernde oder dunkelrot glühende Herbstfärbung des Ahornlaubs ruft mit ihrem unnahbaren Zauber eine stille Empfindsamkeit im Besucher wach, die an Tiefe allenfalls vom Schweigen der Gartensteine übertroffen wird. Im Frühjahr verkündet mitunter ein einzelner Pflaumen- oder Kirschbaum mit seinem weißen oder rosaroten Blütenschnee inmitten einer wie zum ewigen Jenseits stillgestellten Gartenwelt unverdrossen den wiederkehrenden Traum vom Leben im Diesseits. Immer wieder fällt schließlich die altehrwürdige, vielfach in sich geschraubte, oftmals stark verkrüppelte Kiefer ins Auge – ein unverzichtbares Element japanischer Gartenkunst. Der »Ton der Kiefernflöten« (shōrai no oto 松籟之音) 128 im Wind stimmt den Besucher mit synästhetischen Assoziationen auf die Atmosphäre ein. Mit leibgleicher Gebärde und äußerster Ausdrucksstärke empfängt und bindet die unnachahmlich individuierte Gestalt des Baumes den Blick an sich – beinahe wie das Antlitz eines fremden Menschen. Zu allen Jahreszeiten schimmert die Baumrinde bleiblau fest oder rötlich warm, und die blaugrün aufwärts starrenden Nadeln strahlen Kraft und schlichte Selbstbehauptung aus. Die stimmungsmäßig und sinnlich erfahrene, vom Gehör her in uns eingelassene oder mit den Augen geschaute Natur ist an solchen Orten immer mehr als »bloße Natur«. Was Shigemori besonders hervorhebt, ist offensichtlich: Die Gartennatur ist nicht nur zutiefst gestaltet, sie ist auch stets umwelthaft auf den Menschen bezogen. 129 Natur begegnet uns da von vornherein aufgeladen mit einer Art affektivem Überschuss, 130 der ohne unser Zutun in unsere leibhafte Anwesenheit an diesem Ort einsickert. Was Georges DidiHuberman – im Anschluss an Heidegger, Merleau-Ponty und Jacques Lacan – an Werken der Kunst aufgewiesen hat, kann mit Fug und Recht auch von der Gartenerfahrung behauptet werden: Der Betrachter steht da nicht vor der Natur, um sie sich mit seinem Blick zu unterwerfen; vielmehr wähnt er sich mitunter seinerseits angeblickt. 131 Diese eigentümliche Blickumkehr macht jene affektiShigemori, Jiin no teien, S. 33. Shigemori, Karesansui, S. 74–75. 130 Klaus Held spricht ganz ähnlich von der »stimmungshaften Erfahrung der phýsis in ihrer ursprünglichen weiten Bedeutung« (Held, Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2012, S. 309). 131 Georges Didi-Huberman, Ce que nous voyons, ce qui nous regarde, Paris: Editions de Minuit, 1992, S. 19. 128 129

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Natur als Zwischenereignis

ve Anmutung, die nach Husserl der Wahrnehmung jederzeit eingeschrieben ist, geradezu leibhaft spürbar. Ob freilich diese Erfahrung von »Natur« mit dem »Herzen« (kokoro 心) darum auch schon – wie Shigemori andeutet – als »übernatürlich« (chō shizen teki 超自 然的) oder »mystisch« (shinpi teki 神秘的) 132 angesehen werden muss, kann bezweifelt werden, insofern uns Natur als solche womöglich nie anders, vielmehr immer schon mit und in diesem affektiven Überschuss begegnet. In die Erscheinung tritt in japanischen Gärten, was in der chinesischen Dichtung und Ästhetik schon früh als »HintergründigVerborgenes« (yōu 幽) umkreist wurde. Zumal die Ausdrücke »hintergründig-unscheinbar« (yōu wéi 幽微) und »hintergründigdunkel« (yōu xuán 幽玄) versuchen seit dem chinesischen Altertum eine Würde der Erscheinung zu fassen, die nicht unmittelbar ins Licht tritt, die sich vielmehr gleichsam hinter das Erscheinen zurückzieht und so den Erscheinungen einen besonderen ästhetischen Reiz verleiht. In der japanischen Kultur ist diese intensive und doch so wenig unmittelbar zugängliche Erfahrung von einer »dunklen Hintergründigkeit« (sinojap. yūgen 幽玄) womöglich zum Schlüssel überhaupt zu allen ästhetischen Phänomenen geworden. Dieses ästhetische Ideal steht in schärfstem Gegensatz sowohl zur europäisch-metaphysischen Idee totaler Transparenz wie auch zum Paradigma einer nackten Wesensdarstellung des Seienden, wie dies nicht nur die antike Skulptur und die neuzeitliche Aktdarstellung, 133 sondern ebenso die perspektivisch-geometrische Unterwerfung des sichtbaren Raumes durch die europäische Bildkunst verfolgen. 134 Wie der Ästhetiker Hisamatsu Shinichi 久松真一 erläutert, wird mit dem Titel »dunkle Hintergründigkeit« derjenige Sachverhalt bezeichnet, wonach sich am Erscheinenden etwas dem Erscheinen vorenthält. 135 Dabei komme es zum »Aufscheinen im Innern Shigemori, Karesansui, S. 70. Dieses Thema hat François Jullien in Auseinandersetzung mit der vormodernen chinesischen Ästhetik eingehend erörtert in De l’essence ou du nu. 134 Erwin Panofsky, »Die Perspektive als symbolische Form«, E. Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, hgg. v. K. Michels / M. Warnke, Berlin: Akademie Verlag, 1998, 2. Bd., S. 664–757. 135 Hisamatsu Shinichi 久松真一, Geijutsu to cha no tetsugaku 芸術と茶の哲 学, Kyōto 京都: Tōeisha 燈影舎, 2003, S. 41–44. 132 133

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Der stumme Blick von Baum und Stein

von etwas von der Art einer nicht beschreibbaren Unendlichkeit«. 136 Wenngleich nicht ganz klar ist, ob Hisamatsu »im Innern« (uchi ni 内に) auf den Erscheinungsgegenstand oder auf das innere Empfinden des Betrachters bezieht, benennt er doch präzise die eigentümliche Erfahrung von einer Unnahbarkeit oder Unverfügbarkeit im Erscheinen; was nicht »als etwas« erscheint, ist nicht mehr über die Erscheinungen erreichbar. Nach Shigemoris Deutung ist dies beispielsweise in der Dichtung immer dann der Fall, wenn zwei verschiedene Vorstellungen »auf nicht auflösbare Weise« 137 ineinander übergehen. Über die Form hinaus wird das »Hintergründig-Dunkle« zum Gehalt der Dichtkunst, wenn ein »Überschuss des Empfindens« (yojō 余情) 138 – ein Moment des nicht Zeig- und Sagbaren im Gezeigten oder Gesagten – »das Herz des Menschen anrührt«. 139 Dieses dichtungsästhetische Phänomen bezeichnet »einen Überschuss des Empfindens, der mit Worten nicht ausgedrückt werden, die Übereinkunft mit einer Ansicht, die an der sichtbaren Gestalt nicht angeschaut werden kann«. 140 Wie Shigemori weiterhin ausführt, ist vor allem der Steingarten in seinem Verzicht auf pflanzliche Elemente und in seiner weitgehenden Abstraktion von der natürlichen Umwelt dazu angetan, den Betrachter in eine ausgezeichnete Dimension nicht-erscheinenden Erscheinens zu entführen. 141 Wenngleich diese Erläuterungen an Benjamins Rede von der »Aura« denken lassen, fällt doch ein feiner Unterschied auf: Bei der »dunklen Hintergründigkeit« ist – anders als bei der »einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« – das Wesentliche eben nicht in der Erscheinung gelegen; das »HintergründigDunkle« erscheint nicht etwa als Ferne, es entzieht sich jeglichem Erscheinen. Die »dunkle Hintergründigkeit« wäre eher als ein Geheimnis zu bestimmen, das zwischen sichtbaren Erscheinungen waltet. Jenes »inwendige Erscheinen«, wovon Hisamatsu spricht, zerbricht gewissermaßen die äußere Haut, welche die Phänomenalität über alle sichtbaren Dinge legt. An dieser Stelle wird ein eigen136 137 138 139 140 141

Ebd., S. 42: 描かれない無限性というようなものが内に表現されておる. Shigemori, Karesansui, S. 61: 分析することもできず. Ebd., S. 61/ 62. Ebd., S. 61: 人の心をひく. Ebd., S. 62: 言葉に表れぬ余情と共通し、姿に見えぬ景色. Ebd., S. 84/ 91–96.

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Natur als Zwischenereignis

tümliches Schnitt-Kontinuum wirksam zwischen dem, was sich zeigt, und demjenigen, dem es sich zeigt. Was immer im Garten erscheint, zeigt sich nie »an sich«; es zeigt sich je nur aus einem Zwischen heraus. Letztlich markiert dieses Zwischen die Kluft zwischen dem Schauenden und seinem Gegenüber, hier die Kluft zwischen Mensch und Natur. Ein weiterer Kerngedanke der japanischen Ästhetik, die »Wehmut der Dinge« (mono no aware 物の哀れ), gibt dieser Behauptung Konturen. Eine schmerzhaft schöne Vergänglichkeit ist es beispielsweise, die das Ahornlaub mit seinem Feuerwerk an Farben – von zartem Gelborange über tiefes Zinnoberrot bis zu finsterem Violett – in den Blick des Betrachters einsenkt, wie es da vor einem tiefblauen oder fahlgrau verhangenen Herbsthimmel steht, im zusätzlichen Kontrast zu Stamm und Ästen, die bleich sind wie Gebeine. Verstärkt wird diese Stimmung durchs Mitschwingen der anderen Gartenelemente – etwa wenn das so viel weniger überschwängliche, ernst und herb wirkende Blaugrün der Kiefer mit ihrem dicken, rauhen Stamm das Ahornglühen auffängt. Wo die zähen Kiefernnadeln eine vornehme Zurückhaltung an den Tag legen, scheint sich das Ahornlaub hingegen in seinem herbstlichen Lodern selbst zu verzehren und mit kurzem Schwelgen an die Vergänglichkeit des Lebens zu gemahnen. Zwischen den beiden Gartenelementen baut sich so ein stofflich wie farblich spannungsreicher Zusammenklang von ungeahnter sinnlicher Kraft auf. In solchen Augenblicken wird in der Anschauung mit ihrem »Überschuss an Empfindung« vorzüglich das freigesetzt, was als »Wehmut der Dinge« bezeichnet wird; dieses Phänomen ist freilich im Erleben des Betrachters immer auch »Wehmut um die Dinge«. Die Anrührung durch naturwüchsige Dinge schwankt zwischen einer ästhetischen Verzückung durch die »dunkle Hintergründigkeit« oder Unnahbarkeit eines Anblicks und einer stillen Übereinkunft, einem stummen Mitgefühl mit dem Geschauten. Schmerzliche Sehnsucht nach Nähe zu dem, was fremd erscheint und sich entzieht, stille Trauer um den Verlust der Vereinigung mit Natur geht da über in ein ethisches Mitleiden mit den naturwüchsigen Dingen, von denen wir stumm uns angeblickt wähnen. In dieser eigentümlichen Gestimmtheit überkommt den Menschen eine wehmütige Vertrautheit mit den Dingen; Achtung für die Welt und Hingabe an sie steigen in ihm auf. Letztlich kann die »Wehmut 91 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

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der Dinge« – »Wehmut um die Dinge« – nicht an einzelnen Gartenelementen und Einzelerscheinungen, etwa am gefärbten Ahornlaub für sich genommen, festgemacht werden; auch lässt gerade sie sich nicht in die falsche Ewigkeit des photographischen Moments bannen. In der wehmütigen Überfülle eines Zeit-Augenblicks, die da zwischen den Gartenelementen vorscheint, blitzt die unhintergehbare Wehmut alles Zeitlichen auf. Es ist dann, als hätte sich die Zeitlichkeit im Zwischenreich von Mensch und Natur eingenistet. Angesichts solcher Erfahrungen kann »Natur« im Garten keinesfalls als das raumzeitliche Gesamt aller stofflichen Gegenstände und Vorgänge aufgefasst werden. »Natur« meint hier aber auch nicht die φύσις, wie sie Aristoteles in für das Abendland prägender Weise verengt auf das Gegenstück zur menschlichen τέχνη als der maßgeblichen Kategorie. 142 Ebenso wenig kann diese »Natur« als objektive Bedingtheit des menschlichen Subjekts mit seinen innerseelischen Erlebnissen angesehen werden. Um was für eine »Natur« handelt es sich aber dann? Auch wenn die vorliegende Studie diese große Frage nicht umfassend beantworten kann, lassen sich immerhin einige Vorannahmen in ihrer Fragwürdigkeit herausstellen und dekonstruieren, um den Blick auf ein signifikant anderes Naturverständnis freizugeben. Was den modernen Naturbegriff in Ostasien angeht, hat man dort zur sprachlichen Bezeichnung einen Ausdruck aus der alten Überlieferung entlehnt, das »von selbst« (chin. zì rán, sinojap. shizen bzw. jinen 自然). Dessen heutiger Wortgebrauch wird also getragen vom Bedürfnis nach einer Wiedergabe des Terminus »Natur« in europäischen Sprachen; dieser Wortgebrauch ist aus einer transkulturellen Rezeptionsbewegung hervorgegangen. Das für »Natur« verwendete Wort reicht jedoch in seinen Ursprüngen bis ins Altertum zurück und ist äußerst reich an Konnotationen. Infolgedessen weist die Rede von »Natur« im modernen Ostasien eine folgenreiche Mehrdeutigkeit auf. Stets geht das heutige Wortverständnis – offen oder unbewusst – über die im Alltagsgebrauch maßgebliche neuzeitlich-europäische Idee der Natur hinaus. In den alten Sprachausdruck ist nicht nur der neue, fremde Begriffsgehalt eingewandert; in seinen Tiefenschichten behauptet sich daneben ein

142

Held, Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, S. 204/ 306/ 309.

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Natur als Zwischenereignis

in sich selbst komplexes vormodernes Nachdenken über »Naturwüchsigkeit« in Ostasien, einschließlich zahlreicher Assoziationsfelder in Dichtung und Kunst. Wie in kaum einem anderen modernen Terminus findet in der Bezeichnung für »Natur« jener transkulturelle Zwiespalt und gedoppelte Reichtum seinen Niederschlag, wodurch sich in der Gegenwart das Denken in ostasiatischen Sprachen vor dem europäisch-amerikanischen auszeichnet. 143 Unter den Erforschern der verschiedenen ostasiatischen Modernen findet dieser Umstand freilich so gut wie keine Beachtung. In der Forschung zur vormodernen Geistes- und Kulturgeschichte Ostasiens andererseits sind Studien zu einem besonderen »ostasiatischen« Naturverständnis Legion; gleichwohl werden selbst da die signifikante Bedeutungsabweichung des chinesischen zì rán bzw. des sinojapanischen shizen / jinen gegenüber dem neuzeitlich-europäischen Naturbegriff sowie die damit einhergehende philosophische Problematik nur selten einer ernsthaften Auseinandersetzung unterzogen. Es gilt als Gemeinplatz, dass die vormodernen Ausdrücke zì rán bzw. shizen zwar grundsätzlich »die Natur« bezeichnen, dass diese indes gar nicht so viel mit der Idee von einer Naturgesetzlichkeit zu tun hat, wie es die junge Einbürgerung einer modern-europäischen Begrifflichkeit in Ostasien vermittels dieser alten Terminologie suggerieren mag; tiefer hinterfragt wird diese bequeme »Expertenauffassung« indes selten. 144 In ihren ursprünglichen Bedeutungen verfehlen zì rán bzw. shizen / jinen nicht nur entschieden den heutigen naturwissenschaftlichen Naturbegriff, sie treffen ebenso wenig die antike Idee der φύσις oder jüngere Vorstellungen von einer natura naturans

Diese Situation habe ich beschrieben in meinen Aufsätzen »Begegnung mit der chinesischsprachigen Welt heute. Weder komparativ noch interkulturell« (Zeitschrift für Kulturphilosophie 3.1 [2009], S. 313–321) und »Interkulturalität und philosophische Grundfragen? Polylog im chinesischsprachigen Denken der Gegenwart« (Franz Gmainer-Pranzl/ Anke Graneß [Hg.], Perspektiven interkulturellen Philosophierens. Beiträge zur Geschichte und Methodik von Polylogen: Für Franz Martin Wimmer, Wien: facultas.wuv, 2012, S. 341–355). 144 Eine rühmliche Ausnahme bildet der ausdrücklich philosophisch angelegte Versuch von Hermann-Josef Röllicke mit dem Titel »Selbsterweisung«. Der Ursprung des ziran-Gedankens in der chinesischen Philosophie des 4. und 3. Jhs. v. Chr. (Bern: Peter Lang, 1995). 143

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und einer natura naturata. Letztere wird ohnehin seit jeher und bis heute, sobald auf einzelne Entitäten bezogen, eher mit aus einem ganz anderen Bedeutungsfeld stammenden Ausdrücken umschrieben, nämlich mit »ursprüngliche Natur« (chin. běn xìng, sinojap. honsei / honshō 本性), »Wesensnatur« (chin. xìng zhí, sinojap. seishitsu 性質) oder »Wesen« (chin. běn zhí, sinojap. honshitsu 本質). Was die Begrifflichkeit des zì rán bzw. shizen / jinen über die alte Sprache hingegen bis heute implizit mitausdrückt, ist ein »von selbst so« (chin. zì rán ér rán 自然而然, jap. eher onozu 自ず / onozukara 自ずから). »Natur« als »von selbst« bezeichnet also eine bestimmte Vollzugsweise; der Terminus bezieht sich auf ein Geschehen, nicht auf Einzelseiendes oder das Gesamt alles naturhaft Seienden. Entscheidend ist zudem, dass die Vollzugsweise des »von selbst« – im Unterschied zu den wichtigsten europäischen Naturbegriffen – seit alters her sowohl dem Bereich des Naturwüchsigen als auch dem kulturellen Bereich und insbesondere der Kunst zugeordnet wird. Vor diesem Hintergrund wird ohne weiteres verständlich, inwiefern das »Naturwüchsige« im Garten sich weder von der affektiven Wirkung auf den Menschen noch vom »Menschengemachten« scharf abheben lässt. Weder der »Überschuss im Empfinden« noch die »dunkle Hintergründigkeit« oder die »Wehmut der Dinge und mit den Dingen« treten nachträglich zur Sphäre eines rein Naturwüchsigen hinzu. Diese von der Ästhetik gewürdigten Dimensionen kommen da vielmehr »von selbst« zum Vorschein; sie tauchen auf aus jenem Zwischenreich, wo der Mensch in Gemeinschaft mit Naturwüchsigem wohnt. Auf diese Zusammenhänge abhebend, betont Kimura Bin 木村 敏, der Theoretiker des »Zwischen« (aida あいだ und ma 間), in einer kleinen Fußnote zu Recht, dass – im Gegensatz zum französischen oder englischen Landschaftsgarten – ein japanischer Garten weder konzeptuell noch realistisch eine »äußere Naturwirklichkeit« (gaibu no shizen 外部の自然) nachzuahmen und einzufangen suche. Hingegen erwecke ein solcher Garten über seine Ausdruckscharaktere im Innern des Betrachters ein Empfinden von »Natürlichkeit« (shizensa 自然さ). Diese »lustvolle Erregung« (kankyō 感 興), betont Kimura, »erwächst von selbst« (onozu to seijiru おのず と生じる); sie könne auch nur in jenem »Zwischen« entstehen, wo

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Mensch und Garten einander begegnen. 145 »Natürlichkeit« bezeichnet also nicht eine Eigenschaft erscheinender Dinge, sie steht vielmehr von vornherein für den Anmutungscharakter derselben, insofern sie »von selbst« ins Erscheinen treten. »Natürlichkeit« entspringt, wo sie zum Vorschein kommt, als Ereignis zwischen Gartenerscheinungen und Schauendem. In auffälliger Analogie zu Kimuras Rede behauptet Figal sogar vom Sich-Zeigen des Kunstwerks, es stehe »von sich aus entgegen«, und er identifiziert das »wie von selbst« der Kunst geradewegs mit »dem Begriff der Natur«. 146 Allerdings muss es einen signifikanten Unterschied zwischen naturwüchsigen Erscheinungen und dem Sich-Zeigen im von Menschenhand geformten Kunstwerk geben, der sich in einer jeweils unterschiedlichen Weise des Erscheinens niederschlägt und der nicht leichthin verwischt werden sollte. Ansonsten kann ein japanischer Garten rasch zur Gänze wie ein Kunstwerk angeschaut oder zum »Bild« von Natur erklärt werden. Offenkundig leistet doch ein Bild der Kunst, indem es sich zeigt, zugleich noch das Zeigen von etwas anderem; dabei thematisiert es auch Sichtbarkeit schlechthin – wenn denn, wie Figal selbst wiederum betont, »das Bild als solches auf das Gesehensein angelegt und dadurch in ein besonderes Verhältnis zum Sehen gestellt ist«. 147 Wenn das künstlerische Gebilde in seiner Phänomenalität als eine »sichtbare Auseinandersetzung mit dem Sehen, mehr aber noch mit der Sichtbarkeit« gelten soll, 148 dann bleibt zu fragen, ob Gleiches auch hinsichtlich der Phänomenalität im Falle der Gartenerfahrung behauptet werden kann. Will der Garten etwas zeigen wie ein Kunstwerk und ein Bild? Will er gar dieses Sich-Zeigen und das Sehen als solches bewusst vorführen? Oder zeigt einfach nur es sich im Garten – was immer sich da zeigt – ganz »von selbst«: »Natürlichkeit«? Im Anblick von feierlich ernster Kiefer und verglühendem Ahorn kann sich der Gartenbesucher auf eine »dunkle HintergrünKimura Bin 木村敏, Aida あいだ, Tōkyō 東京: Chikuma shobō 筑摩書房, 2001, S. 191. 146 Figal, Erscheinungsdinge, S. 177. Stellt diese Ansicht einen echten Beitrag Ostasiens zum zeitgenössischen Denken dar, oder erwächst sie lediglich aus einer Art Morgenlandschwärmerei? 147 Figal, Erscheinungsdinge, S. 120. 148 Ebd. 145

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digkeit« einlassen; darin rührt ihn das Naturwüchsige »von selbst« als »Wehmut der Dinge« und »Wehmut um die Dinge« an. In diesem jähen Schwanken zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit liegt auch so etwas wie Trost; die dunkel in sich ruhende Kiefer mit ihrem rötlich schillernden Stamm verkörpert eine Art Innehalten im Fluss der Zeit. Diese ganze Erscheinung ist in ihrer affektiven Komplexität nicht lediglich »Erscheinendes«, »etwas, das sich zeigt«, »etwas, gesehen als etwas«. Diese Gartenbäume zeigen sich, und sie zeigen sich jemandem. Auch sie sind – darin Kunstwerken verwandt – »inkarnierte Affekte«. 149 Das Aufscheinen von »Natürlichkeit« im Garten ist dem »Erregungsbild« der Kunst 150 ähnlich, wenn auch nicht damit gleichzusetzen. Weil wir nur als leibliche Wesen Wahrnehmung haben können, muss alles Wahrgenommene uns notwendigerweise immer in unserer Leiblichkeit treffen: Es muss uns anrühren, muss in uns zunächst leibliche Resonanzen erzeugen, um sodann erst in eine prägnantere Wahrnehmungsgestalt zusammenzuschießen. In dieser leiblichen Wirkmacht können naturwüchsige Dinge und Kunstwerke einander nahekommen. Für den Phänomenbegriff bedeutet dies: In den am Gegenstand wahrgenommenen Eigenschaften, also streng genommen in den noematischen Qualia eines gegebenen phänomenalen Bestandes, sind überdies noch ganz andere Qualia enthalten. Diese Qualia sind entweder jenem von Kimura als Ursprungsort aller Wahrnehmung und Selbstwerdung ausgemachten »Zwischen« oder aber mit Merleau-Ponty der leiblichen Verfasstheit des wahrnehmenden Selbst zuzuschreiben. Sie gehören also nicht dem intentionalen Gegenstand als solchen an. Anders ausgedrückt: In der Phänomenalität zeigt sich – frei nach Merleau-Ponty – nicht nur das Phänomen, also letztlich Erscheinendes, das aus dem gebenden Horizont der Welt hervortritt; wie in einer Selbstbespiegelung zeigt sich in ein und derselben Phänomenalität zugleich ebenso der das Phänomen als Phänomen Wahrhabende – das leibliche Selbst des Menschen. Im Zwischenbezirk eines japanischen Gartens gelangt »Natur« so zum Vorschein, dass uns in Wahrheit unser eigenes Leib-Sein begegnet; dies macht die »wehmütige« Erscheinungsweise des »von selbst« in japanischen Gärten aus. Mit unserer Öffnung auf die 149 150

Bernhard Waldenfels, Sinne und Künste, S. 70. Ebd., S. 122.

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wehmütig vertraute, gleichwohl unnahbar fremde Welt naturwüchsiger Gartendinge erleben wir unmittelbar die Empfindsamkeit und Verletzlichkeit unserer eigenen Leiblichkeit. In der »Wehmut um die Dinge« begegnen wir weniger diesen als vielmehr einem befremdlichen Double unserer selbst; im »von selbst« des Gartens erscheint uns die Würde unseres Leib-Seins.

2.

Die Leiblichkeit der Natur

In Kimuras knappen Bemerkungen finden sich zwei zentrale Gesichtspunkte, der des »von selbst« und der des »Zwischen«, auf eigenwillige und andeutungsreiche Weise miteinander verwoben. Diese beiden Momente können als Ausgangspunkt für eine eingehendere Erkundung der Naturwüchsigkeit in japanischen Gärten dienen. Allein auf dieser Grundlage lässt sich vermutlich noch kein stichhaltiger Naturbegriff entwickeln; gleichwohl werden von hier aus wichtige Merkmale von Naturwüchsigkeit sichtbar, die in der Regel unter unserem Allerweltsverständnis von Natur verschüttet bleiben. In ihrem eigentümlichen Wuchs erscheint die steinalte Gartenkiefer oft geradezu als Denkmal für Kultur und Gartenkunst; durch und durch von einer innigen Beziehung zum Menschen zeugend, wirkt sie mitunter wie eine Verkörperung urmenschlicher Befindlichkeiten. Kolossale Bäume wie im Kenroku-en-Park 兼六 園 in Kanazawa 金沢 stehen neben zierlich wie Bonzai-Bäumchen wirkendenKrüppelkiefern,beispielsweiseimKyū Shiba-rikyū-teien. Infolge über Generationen fortgesetzter gärtnerischer Eingriffe sehen wir solche Bäume gewiss nicht als reine Naturdinge. Insbesondere die Kiefer eignet sich dazu, mit großer Kunstfertigkeit und Sorgfalt beschnitten, ausgeputzt und vielfältig geformt zu werden. Ihre Äste werden niedergebunden oder emporgezogen, scheinbar bis zum Brechen gebogen und verdreht, ihre Triebe feinsäuberlich ausgedünnt und aufgespreizt. 151 An markanten Baumgestalten lassen sich freilich nicht nur »gewaltsame« Eingriffe, sondern ebenso die pfleglich abstützenden, den Baum durch die Jahreszeiten und Jake Hobson, Niwaki. Pruning, Training and Shaping Trees the Japanese Way, Portland: Timber Press, 2007, S. 63–75.

151

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Der stumme Blick von Baum und Stein

Jahrzehnte hindurch behütenden Anstrengungen menschlicher Kultur ablesen. Ein solcher Baum ist mehr als ein »natürliches« Gewächs; dem in ästhetisch-phänomenologischer Einstellung Schauenden bietet er mit großer Eindringlichkeit leibähnliche Gebärden und Ausdruckscharaktere dar. Ist es angesichts dieses Befundes überhaupt statthaft oder sinnvoll, jenes altchinesische und altjapanische Verständnis von »Natürlichkeit« als einem Geschehen ins Spiel zu bringen, das sich »von selbst« ergibt? Genau dieser scheinbar widersinnige Zusammenhang offenbart den Schlüssel zu einem andersartigen Naturverständnis. Dies gilt zumal dann, wenn berücksichtigt wird, wie tief hinein in den menschlichen Bereich und in alle künstlerischen Aktvollzüge in Ostasien die Idee des »von selbst« wirkte. In dieser Leitvorstellung sind von vornherein Natur und Kultur eng verwoben und nicht begrifflich geschieden. Skurril gewachsene Bergkiefern bilden seit über einem Jahrtausend ein beliebtes Motiv chinesischer Bildkunst. Der Malermönch Shitao 石濤 (auch bekannt als Yuanji 原濟 bzw. 元濟, 1642–1718?) beschreibt solche Bäume wie folgt: »In ihrer wirkmächtigen Erscheinung gleichen sie kühnen Recken, die zum Tanz ansetzen – mal niedergebeugt, mal aufgerichtet, mal geduckt, mal stehend, mal krumm sich drehend, mal ausgelassen, mal hart, mal weich.« 152

Dem Malereitheoretiker geht es darum, im Schüler leibmimetische Assoziationen zu wecken, die ihm die entsprechenden Fingerhaltungen und Bewegungsarten von Hand und Unterarm beim Malen solcher Bäume mit Pinsel und Tusche nahebringen. Insofern gilt sein Augenmerk nicht den angeschauten Bäumen selbst, sondern der kulturellen Arbeit des Künstlers, durch die solche Naturgegenstände angemessen dargestellt werden. Jedoch ist diese Verquickung von leiblichen Motiven, die an der naturwüchsigen Gestalt von Bergkiefern aufscheinen, mit künstlerischen Verfahrensweisen auch für die Auseinandersetzung mit japanischen Gartenkiefern lehrreich. Denn letztere zeugen von einer ähnlichen VerflochtenShitao 石濤, »Kugua heshang hua yu lu – linmu 苦瓜和尚畫語錄、林木«, Yu Jianhua 俞劍華 (Hg.), Zhongguo gudai hualun leibian 中國古代畫論類編, 2 Bde., verb. Aufl., Beijing 北京: Renmin meishu 人民美術, 1998, 1. Bd., S. 155: 其勢似英雄起舞,俛仰蹲立,蹁躚排宕,或硬或軟. 152

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Die Leiblichkeit der Natur

heit von natürlichem Wuchs und künstlicher Gestaltung, die tief in die menschliche Leiblichkeit hineinreicht. Den Schlüssel liefert die von Shitao erwähnte Tanzgebärde der Bäume. Wie beim Anblick eines mit Pinsel und Tusche geschriebenen Schriftzeichens erkennt der Betrachter einer Kiefer in deren statischer Gestalt – dem gegenwärtigen Baumwuchs vor Augen – einen dynamischen Vorgang – das Zusammenspiel von Wachstumsvorgang und gestalterischen Eingriffen. Bei einem derartigen Phänomen mag das intentionale Objekt als unbewegter Gegenstand gefasst werden, doch die Art und Weise, wie dieses Objekt phänomenal konstituiert ist, enthebt es dem Schema der räumlichen Figur. In einer Resonanz mit der Leiblichkeit des Betrachters, die durch die phänomenale Anmutung des »tanzenden« Baumes wachgerufen wird, verzeitlicht sich das Phänomen. Ohne Zutun des Schauenden durchsetzt diese Verzeitlichung das angeschaute Raumgebilde; es zeigt eine musikalischen, rhythmisch-tänzerischen Bewegungsmustern vergleichbare »Bewegungsgestalt« (chin. shì bzw. jap. ikioi 勢). Eine »Bewegungsgestalt« ruft im Betrachter unwillkürlich eine in leiblichen Befindlichkeiten und Zuständen ausgelebte Responsivität hervor. Wo eine Erscheinung als »Bewegungsgestalt« angeschaut wird, setzt sie – noch vor aller Gegenständlichkeit oder Bedeutsamkeit – leibmimetische Impulse im Schauenden frei. In der ostasiatischen Ästhetik kommt dieser Idee eine Schlüsselstellung zu. Vermutlich steht dort schon seit dem Altertum »Bild« – im Gegensatz zu Europa – weder in erster Linie für »Abbild« noch für »Figuration im Raum«. Durch die Geschichte hindurch dürfte dagegen die Analogie zu Bewegungs- und Zeitmustern, musikalischen Schwingungen und leiblich-rhythmischen Gebärden das Paradigma des »Bildes« bestimmt haben. Nicht von ungefähr spielt die leibliche Urbewegtheit des »lebendigen Atmens« (chin. qì 氣, sinojap. ki 気) in Schreibkunst, Malerei und Skulptur Ostasiens eine herausragende Rolle. Anstelle der mimetischen Figurendarstellung der Malerei orientierte sich das Nachdenken über Bildhaftigkeit schon früh an der Erfahrung leiblicher Momente in der Pinselschrift, 153 ließ es sich anleiten von der unleugbaren Be-

153

Diesen Gesichtspunkt hat Jean François Billeter eindrücklich herausgearbei-

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Der stumme Blick von Baum und Stein

wegungs- und Zeitgestalt chinesischer Schriftzeichen und den dynamisch-modalen Qualitäten der gemalten Tuschelinie. 154 Die ästhetische Kategorie der »Bewegungsgestalt« weist im Übrigen eine gewisse Verwandtschaft mit dem auf, was Gilles Deleuze unter dem Titel figural aufzuklären suchte. 155 Was – von einer ästhetisch-phänomenologischen Warte aus betrachtet – an der »tanzenden« Baumgestalt aufscheint, ist weder das bloße Pflanzending noch eine reizvolle Ähnlichkeit mit menschlicher Gestik. Im gebärdegleichen Aussehen des Baumes sind die beiden scheinbar gegensätzlichen Momente des Naturwüchsigen und des Künstlichen zur unauflöslichen und spannungsreichen Einheit verschmolzen. Bei eingehender Analyse dieser – infolge ihrer zweifachen Herkunft – in sich zwiefältigen »Bewegungsgestalt« kommt ans Licht, wie weitgehend die japanische Gartenkunst nicht einem technizistischen, vielmehr einem responsiven Muster menschlicher Kulturtätigkeit verpflichtet ist. Die innere Spannung, die die Baumgestalt anschaulich austrägt, verdankt sich durch und durch einem responsiven Verhältnis, das sich über geraume Zeit hinweg zwischen natürlichem Wachstum und gärtnerischem Eingriff entsponnen hat und das niemals endet. Zunächst geht der Gärtner mit seiner Gestaltungsabsicht auf die naturwüchsigen Bedürfnisse und Möglichkeiten des Baumes ein; er berücksichtigt die Gegebenheiten vor Ort – Beschaffenheit, Feuchtigkeit und Neigung des Grundes, Lichteinfall und Schatten, benachbarte Pflanzen oder Steine, sogar Zufälle wie Sturmschäden und dergleichen. In gewisser Weise kann dieses Vorgehen als ein

tet in L’art chinois de l’écriture. Essai sur la calligraphie (Genf / Mailand: Skira, 1989/2001). 154 In mehreren Aufsätzen bin ich dieser Frage eingehender nachgegangen: »Das Phänomen qi 氣 und die Grundlegung der Ästhetik in China« (Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 157:1 [2007], S. 125–167); »Tanzende Schrift. Beobachtungen zur chinesischen Schreibkunst« (Antonio Loprieno / Carsten Knigge-Salis / Birgit Mersmann [Hg.], Bild, Macht, Schrift. Schriftkulturen in bildkritischer Perspektive, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2011, S. 215–239); »Chinesische Schrift und leibliches Denken« (Ryôsuke Ôhashi und Martin Roussel [Hg.], Buchstaben der Welt. Welt der Buchstaben, München: Fink, 2013, S. 161–189). 155 Gilles Deleuze, Francis Bacon: Logique de la sensation, Paris: Seuil, 2002, S. 12/ 141/ 148.

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Die Leiblichkeit der Natur

»Antworten« auf Ansprüche und Herausforderungen seitens des Baumes und der naturwüchsigen Umwelt verstanden werden. Wo der Gärtner die junge Pflanze setzt und anschließend beschneidet, schnürt, biegt oder abstützt, wo er den natürlichen Wuchs also kunstfertig hegend und pflegend begleitet und den Baum in einem genau geregelten Ausmaß »bearbeitet«, bezwecken seine Verrichtungen keineswegs eine durchweg künstliche oder gar künstlerische Gestaltgebung in der Gegenwart, wie sie etwa ein Bildhauer verfolgt. Das gärtnerische Tun greift von vornherein in die Zukunft aus, und zwar in eine dem Naturwüchsigen zugehörige Zukunft, die sich dem Menschen zum Teil entzieht. Die gestaltende Tätigkeit ist zeitlich offen, weil sie sich immer wieder neu einlassen muss auf Unwägbarkeiten des Baumwachstums, Unbilden der Witterung, Schädlinge, Alterung und Verfall. Umgekehrt kann der »angeleitete« Wachstumsprozess seinerseits ebenfalls als »Antwort« betrachtet werden: Mit seinem zähen Wachsen und Gedeihen erwidert der Baum nicht nur den Bedingungen des Standortes oder klimatischen Widrigkeiten; ebenso kontert er gewissermaßen alle menschlichen Eingriffe. An der alten Kiefer wird ihr natürlicher Wachstumstrieb sichtbar als das stete Bemühen, der Hand des Gärtners genauso auszuweichen wie beengenden Felsblöcken. Unermüdlich scheint der Baum erpicht, im responsiven Eingehen auf die Umstände vermittels frischer Knospen und Zweige sich selbst und seiner Gestaltbildung immer wieder neue Wege zu bahnen. Die Baumgestalt offenbart sich somit als naturwüchsige »Antwort« auf Ansprüche und Herausforderungen seitens der Umwelt wie des Gärtners. Das eigenwillige Wachstum zeugt eindrucksvoll von einem Moment der Widerständigkeit in der Begegnung zwischen naturwüchsigen und kulturellen Kräften. In dem responsiven Spiel und Gegenspiel, welches ein gealterter Baum expressiv in die Erscheinung hebt, treten – wie Hisamatsu in einer altertümlichen Redeweise hervorhebt – Eigenschaften wie »Männlichkeit« (dansei 男性), »Härte« (katasa 堅さ), »Stärke« (keisa 勁さ), »Heldenmut« (ooshisa isamashisa 雄々しさ勇まし さ) und ein unbändiges »Gefühl von Kraft« (chikarazuyoi kanji 力 強い感じ) zutage. Selbst noch im absterbenden, ja sogar in einem schon »bis auf die Knochen« (kokkoku nari骨っこくなり) verdorrten Baum treten nach Hisamatsu diese menschenähnlichen Ausdruckscharaktere mitsamt der ihnen innewohnenden Widerstän101 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Der stumme Blick von Baum und Stein

digkeit ans Licht. 156 Die von der Baumgestalt sichtbar gemachte »Bewegung« meint also eine zwischen Kraft und Gegenkraft sich entfaltende responsive Bewegtheit von langer Dauer, die überdies allseits von großer Ausdauer zeugt. Vor dem Eingang zur Tempelhalle des Rozan-ji 鹿山寺 in Kyōto wird eine irgendwann bereits so gut wie zu Fall gebrachte, indes offenkundig seit unzähligen Jahren horizontal weiterwachsende Kiefer von beachtlichen Ausmaßen liebevoll gestützt und umhegt. Ähnliche Beispiele sind Legion. Selbst extremste Verstümmelungen und Brüche, Verrenkungen, Verwindungen und Verwerfungen, die einem erbarmungswürdigen Kiefernbaum sei es durch Frost und Sturm, sei es durch die die Pflanze scheinbar »malträtierende« (ijimeru いじめる) 157 Hand eines Gärtners widerfahren sein mögen, selbst tief verletzende Eingriffe lassen im Gegenzug ein Moment von Freiheit und Würde im Wachstum des Baumes aufleuchten. Ein hervorstechendes Kennzeichen dieser würdevollen Selbstbestimmung ist in ästhetischer Hinsicht ein auffälliges »Ungleichgewicht« (fukinsei 不均齊). 158 In seiner naturwüchsigen Gestalt ist ein solcher Baum nicht selten unharmonisch, unausgewogen, unproportioniert und gar nicht gefällig anzuschauen; er wirkt entschieden wie aus dem Lot geraten. Doch gerade in solch unbeschreiblicher, sozusagen namenloser Abseitigkeit der Gestalt kommt partikulares Dasein in seiner nackten Vereinzelung zum Vorschein. Eine massive »Unwucht« in der Wachstumsgestalt darf weder als gärtnerisches Versagen noch als spektakulärer Effekt missverstanden werden. Sofern wir bereit sind, den Baum als eine »Bewegungsgestalt«, d. h. wie die Spur oder Verkörperung einer responsiven Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Mächten anzuschauen, bringt dieses extreme Phänomen ein Moment von Widerständigkeit und Freiheit ans Licht, das für die weiteren Überlegungen zur Naturwüchsigkeit nicht unerheblich ist. Betrachten wir einen bizarr »entstellten« Baum nicht unwillkürlich, als wären wir selbst leiblich betroffen von seiner wechselvollen Geschichte? Greift uns die in der Wachstumsgestalt sichtbar werdende Spannung zwischen Hemmnis und Ausbruch, Versehrt156 157 158

Hisamatsu, Geijutsu to cha no tetsugaku, S. 38–39. Shinji, Nihon no teien, S. 71. Ebd., S. 40/ 49.

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Die Leiblichkeit der Natur

heit und Überwindung nicht in unserer eigenen leiblichen Verwundbarkeit an? Gewahren wir an dem Gartenbaum nicht die schmerzvoll triumphierende Gebärde eines Menschen? Werden wir da nicht jenes lebendigen, in der Entfremdung leiblich leidenden Subjekts inne, auf das Adorno immer wieder als letzte Sinninstanz zurückkommt? 159 Die erhaben verletzliche Baumerscheinung erregt Schwingungen in unserem Leib-Sein; als »Bewegungsgestalt« lässt sie uns im Augenblick der Schau ein Jahrzehnte, wo nicht Jahrhunderte währendes Hin-und-Wider zwischen kultureller Disziplinierung und widerständig freier Naturwüchsigkeit leibhaft nachvollziehen. Gerade weil der Baum sich aber offensichtlich eingelassen hat auf ein Wachstum, zu dem der Gärtner ihn zugelassen hat, deshalb kann er in der Anschauung eine verblüffende Gelassenheit ausstrahlen – kann er uns die Haltung der »Gelassenheit« im Sinne Heideggers 160 lehren. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt der »Wehmut um die Dinge«: 161 Angeschaut durch unsere Leiblichkeit hindurch, sind die Gartendinge imstande, uns zur Gelassenheit gegenüber der Welt und uns selbst zu verhelfen. Gelassenheit und gelassenes Antworten, so scheint es, lassen in der gebärdegleichen Wachstumsgestalt jeden menschengemachten Einschnitt »von selbst« umschlagen in ein Schnitt-Kontinuum zwischen Menschlich-Kulturellem und Naturwüchsigem. Als weiterer Aspekt tritt also in der »Bewegungsgestalt« des Gartenbaumes ein Schnitt-Kontinuum zwischen Kunstfertigkeit und Naturwüchsigkeit zutage, das sich als eine Art responsiver Gelassenheit entpuppt. Was besagt dies für die Idee der Naturwüchsigkeit?

Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975, S. 358; Adorno, Ästhetische Theorie, S. 14/ 64/ 84/ 169/ 346. 160 M. Heidegger, »Zur Erörterung der Gelassenheit«, M. H., Aus der Erfahrung des Denkens, 2. durchges. Auflage, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2002 [GA 13], S. 37–74; M. H., »Ἀγχιβασίη. Ein Gepräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Gelehrten, einem Forscher und einem Weisen« und »Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Rußland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren«, M. H., Feldweg-Gespräche (1944/45), 2. durchges. Aufl., Frankfurt a. M.: Klostermann, 2007 [GA 77], S. 1–159 bzw. S. 203–245. 161 Heidegger spricht auch von einer »Gelassenheit zu den Dingen«: M. Heidegger, »Gelassenheit«, M. H., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2000 [GA 16], [517–529] S. 527/ 529. 159

103 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Der stumme Blick von Baum und Stein

3.

Naturwüchsiges zwischen »von selbst« und »Gelassenheit«

Im natürlichen, zugleich aber künstlich angeleiteten Wuchs des gealterten Kiefernbaumes wird ein mehrfältiges »Sich-Einlassen« auf Umstände, Zufälle und planvolle Ansprüche sichtbar; nicht nur der Gärtner muss sich auf den Baum einlassen, auch dieser zeigt sich als einer, der sich auf diesen Ort und diese Pflege eingelassen hat. Der viele Jahrzehnte währende Prozess der Gestaltwerdung des Baumes im Zyklus der Jahreszeiten wie in der Generationenfolge der Gärtner kann von der vormodernen ostasiatischen Idee des »von selbst« her verstanden werden. Allerdings führt dieses »von selbst« der Naturwüchsigkeit in diesem Falle ein wechselseitiges »Lassen« im Sinne Heideggers mit sich. Hier bezeichnet das »von selbst« weder die totale Selbstbestimmung aus dem Nichts noch das reine Aussich-selbst-Hervor-und-Aufgehen der antiken φύσις, noch gar die Lizenz zügelloser Freiheit. Das am Wuchs des Baumes aufscheinende »von selbst« setzt vielmehr voraus, dass zahlreiche Menschen über die Zeiten hinweg den Baum so »von selbst« haben wachsen lassen. Umgekehrt beinhaltet dieses »von selbst« der Naturwüchsigkeit – sofern es in ästhetisch-phänomenologischer Einstellung an der ausdruckhaften »Bewegungsgestalt« des Baumes angeschaut wird –, dass auch der Baum seinerseits sich vermittels seines Wachstumsvorganges sichtlich auf eben diese Situation des Gelassen-Werdens seitens des Gärtners eingelassen hat. Mit dem naturwüchsigen »Sich-Einlassen« auf kulturelle Eingriffe, die den Baum erst zu dieser besonderen »Bewegungsgestalt« haben werden lassen, geht noch ein weiteres »Lassen« einher; in seinem »gelassen-lassenden« Wachstum lässt auch der Baum seinerseits den Gärtner seine Kunst ausüben. Indem der Baum das menschliche Wirken an ihm zulässt, indem seine Naturwüchsigkeit die gärtnerische Kunstfertigkeit in seine Erscheinungsgestalt einlässt, verschmelzen Natur und Kultur in der Baumgestalt »von selbst« miteinander. Hierzu muss freilich auch der Gärtner seinerseits sich mit seiner Kunst ein Stück weit auf die Naturwüchsigkeit des Baumes eingelassen haben. Das naturwüchsige Moment muss alles Künstliche und Kulturelle durchdringen, will der Gärtner seine Kunstfertigkeit zur Anwendung bringen. Wo die Gartenkunst eigens Natürlichkeit zum Vorschein bringt, kann umgekehrt mit 104 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Naturwüchsiges zwischen »von selbst« und »Gelassenheit«

gleichem Recht behauptet werden, dass erst die naturwüchsigen Kräfte die genuin menschliche Tätigkeit in ihrer Eigenart aufscheinen lassen. Wenn hier menschliche »Kultur« es ist, die »Natur« auf eine bestimmte Weise darbietet, so ist es umgekehrt diese »Natur«, die das Menschliche erst »Kultur« werden lässt. Angesichts solcher Gartenbäume erhält Adornos Ausspruch »Kunstwerke veranstalten das Unveranstaltete« 162 ein neues Gewicht. Wenn auch die Gartenkunst – wie Adorno zufolge alle Kunst – als »geschichtlicher Sprecher unterdrückter Natur« 163 auftritt, dann gilt doch von dem scheinbar gewaltsamen, in Wahrheit aber »gelassen-lassenden« Eingriff des Gärtners in die Naturwüchsigkeit des Baumes par excellence: Er »unterdrückt Natur nicht nur, sondern bewahrt sie durch ihre Unterdrückung hindurch.« 164 Anders freilich als Adornos eurozentrischer Kunst- und Kulturbegriff dies zu denken gestattet, ist die gärtnerische Kunstfertigkeit in ihrem Kern kein »Machen« oder »Schaffen«; in der Auseinandersetzung mit dem Naturwüchsigen verwandelt sich die menschliche Tätigkeit in ein »Lassen«. Menschliches »Machen« stellt sich hier ganz fundamental als ein »Lassen« heraus. 165 Eindrücklich bestätigen diese Gartenerfahrungen, was Figal generell zum Begriff einer Natur feststellt, die sich stets innerhalb der Kultursphäre verwirkliche: »[… D]as Natürliche ist im Spielraum der Machbarkeit und im Spielraum der Brauchbarkeit da.« 166 Das mit Kunstfertigkeit und Kultur innig verwobene, gleichwohl »unwillkürlich« und »von selbst« sich ergebende Baumwachstum führt die Rolle der Kunst besonders deutlich vor Augen. Wie Figal in einer Auseinandersetzung mit dem Ästhetiker Yanagi Muneyoshi 柳宗悦 (auch als Yanagi Sōetsu bekannt) ausführt, müssen Naturwüchsiges und Kunst einander tatsächlich nicht ausschließen; statt jedoch eine Imitation von Natur anzustreben, kann Kunst das unwillkürliche »von selbst« in allem Naturwüchsigen eigens »zu-

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 274. Ebd., S. 365. 164 Ebd., S. 374. 165 In diesem Zusammenhang sind Waldenfels’ responsivitätsphilosophische Analysen zum Phänomen der »Macht« aufschlussreich: Bernhard Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, S. 163. 166 Figal, Erscheinungsdinge, S. 192. 162 163

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Der stumme Blick von Baum und Stein

lassen«. 167 Wie die kulturelle Arbeit des Gärtners es auf die Wachstumsgestalt des Baumes abgesehen hat, hebt sie stets zugleich auch Naturwüchsigkeit als solche in die Erscheinung; in diesem Sinne vermag Kunst in der Tat das Natürliche »entstehen zu lassen«. 168 All dies schauen wir in der skurrilen »Bewegungsgestalt« einer alten Gartenkiefer an, wenn wir uns tatsächlich leibhaft betrachtend auf dieselbe einlassen, wenn wir sie durch unser eigenes LeibSein hindurch ins Erscheinen zulassen. Wir sehen dann nicht mehr ein »Stück Natur«, einen »naturwüchsigen Gegenstand«. Was wir, eingelassen in diese ausdruckhafte Wachstumsgestalt, anschauen, ist ein gegenseitiges »Lassen« von Natürlichkeit und Kulturalität. In die angeschaute Baumgestalt ist Natürlichkeit in einer wesenhaften Verschränkung mit Menschengemachtem eingewandert. Diese Natürlichkeit will zugleich als »von selbst« und als »Gelassenheit« gesehen werden. In der Gartenkiefer begegnet uns somit nicht ein spektakulär von der Norm abweichender, scheinbar ganz »unnatürlich« gekünstelter Wuchs, der in einen scharfen Gegensatz zur Idee des »von selbst« geraten würde. Was wir da anschauen können, ist vielmehr gerade dieses »von selbst«, insofern in ihm ein »gelassenlassendes« wechselseitiges Antwortgeschehen aufscheint; im naturwüchsigen »von selbst« wird das Ereignis einer mehrfältigen Gelassenheit mitgesehen. Insofern mit der individuellen Baumgestalt immer auch die »gelassen-lassende« Eigenart ihrer Naturwüchsigkeit phänomenal erfahren wird, lässt sich diese »Natur« nicht auf eine natürliche Wesensanlage, eine Dynamis des Wachsens oder einen biologischen Trieb zurückführen. Ebenso wenig bezeichnet »Natur« hier einen Rohstoff für menschliches Gestalten oder ein Experimentierfeld technischer Verfügungsgewalt. Der schroffe Gegensatz zwischen »Natur« und »Kultur« löst sich vielmehr ein gutes Stück weit auf. Das alte Wort cultura steht bekanntlich nicht nur für »menschengemacht« oder »künstlich«; anfangs bedeutete es »Anbau und Pflege« im Ackerbau, sodann die Anstrengung persönlicher Kultivierung, so etwa in Ciceros Terminus cultura animi. Gerade in seiner Kulturtätigkeit – »Kultur« als Pflege und Kunstfertigkeit verGünter Figal, Unwillkürlichkeit. Essays über Kunst und Leben, Freiburg: modo, 2016, S. 65–66. 168 Ebd., S. 69. 167

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Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur

standen – arbeitet der Gärtner in einem doppelten Sinne mit dem Baum: Er macht sich an ihm zu schaffen, geht dabei aber auch mit ihm mit und auf ihn ein, als wären beide Kollegen. So erscheint »Natur« am Baum als eine offene Bewegtheit, die in allen ihren Momenten das Künstliche in sich aufgenommen hat. Diese Natürlichkeit, dieses »von selbst« umfasst menschliche Kultur. Insofern sich uns in dieser leibhaften Gartenerfahrung das erschließt, was »Natürlichkeit« und »Natur« bezeichnen, gilt es diese Vorstellungen nicht einschichtig als Gegensphäre zu »Kunst und Kultur« zu begreifen; vielmehr gilt es, »Natur« als ein spannungsreiches Verhältnis zu verstehen. Das »von selbst« der Natur wird durchwaltet von einer responsiv gelassenen und lassenden Bewegtheit, die mit unseren leiblichen Bewegungserfahrungen einiges gemein hat. Lässt sich diese Sicht auf Naturwüchsigkeit mit philosophischen Theoremen zur Natur vereinen?

4.

Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur

Klassisch aristotelisch bedeutet nach Klaus Held das Naturwüchsige der φύσις eine besondere Form von »arché«, d. h. »Anfang« und »Herrschaft«: »Was von Natur existiert, trägt die Ursache seines Seins in sich selbst, und diese Ursache ist tatsächlich ein erster Anfang, der in dem jeweiligen Seienden dauerhaft gegenwärtig und beherrschend bleibt. Diese Einheit von Anfangen und Beherrschen zeigt sich besonders schön am Wachstum von etwas Lebendigem.« 169

Offenkundig trifft diese Charakterisierung einer »Einheit von Anfangen und Beherrschen« auf die gelenkte Naturwüchsigkeit des Kiefernbaumes im Garten nicht zu. Weder beherrscht der Baum sein Wachstum, noch kann er selbst als der alleinige Anfang desselben gelten. Soll er aber darum ganz dem Bereich der Kunst und Kultur zugesprochen werden? Damit würde die Gelegenheit vergeben, einen abgewandelten Begriff von Natur zu gewinnen, der für die von Technologie durchdrungene Lebenswelt heute sehr hilfreich sein könnte. 169

Held, Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, S. 96.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

In jüngerer Zeit hat Vilém Flusser auf eigenwillige Weise über jenes Allerweltsverständnis von Natur nachgedacht, wonach diese als »Schlund des zwecklosen, sinnlosen Soseins«, 170 als »wertlos und der Entropie unterworfen« gilt, während »Kultur als Metabolismus« durch Erzeugung und Formung »Natur in Kultur verwandeln« möchte. 171 Flusser stellt die provokante Gegenthese auf, »dass die Kultur ein Prozess ist, der kumulativ Natur in Müll verwandelt«. 172 Aus dieser Perspektive kritisiert er scharf das moderne Streben nach Grün und folgert in brutaler Entschiedenheit, »dass man heute nicht von Gartenkultur, sondern von Antikultur der Gärtnerei sprechen sollte«. 173 Doch muss dem unweigerlich so sein? Lassen die Verhältnisse in einem japanischen Garten nur den einen Schluss zu: Der Mensch hat mit seiner Gestaltung der Gartenbäume »ihre Natürlichkeit vergewaltigt und hat Kulturpflanzen aus ihnen geschaffen«? 174 Schauen wir in japanischen Gärten tatsächlich reine »Kulturpflanzen« an? Oder erfahren wir da etwas gänzlich anderes, etwas zumal für die Natur- und Selbstvergessenheit des modernen Menschen höchst Lehrreiches? Anhand einer phänomenologischen Analyse wie der im Vorausgehenden geleisteten kann nicht nur das alte Paradigma vom sinnlosen Rohstoff der Natur und seiner Formung durch kulturelle Kreativität in Zweifel gezogen werden. Die Gartenerfahrung stellt der – sehr zeitgemäßen und einigermaßen sarkastischen – Auffassung Flussers von der nichts als Müll produzierenden Kulturtätigkeit des Menschen eine andere, weitaus optimistischere und für die Gegenwart fruchtbarere Gegenthese an die Seite: Die ebenso erhabene wie furchterregende Natur, zumindest aber die gezähmte Gartennatur ist ein Ort, an dem Menschengemachtes und Naturwüchsiges einander »in Gelassenheit« begegnen, wo sie einander eigens ins Erscheinen einlassen. Ist es nicht genau dieses beidseitige »Lassen«, das zwischen Kultur und Natur vermittelt, welches moderne Technologie mit ihrer Fixierung aufs »Machen« ebenso einseitig wie systematisch und unumkehrbar zu verhindern trachtet? Vilém Flusser, Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Hanser, 1993, S. 62. 171 Ebd., S. 20. 172 Ebd., S. 22. 173 Ebd., S. 48. 174 Ebd., S. 49. 170

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Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur

Dass die kulturell-naturwüchsige »Gelassenheit«, dass das wechselseitige, responsive »Lassen« und »Sich-Einlassen auf …« keineswegs Resignation oder Fatalismus bedeutet, dürfte bereits klargeworden sein. Allerdings muss dabei das aktive Tun und Machen, das künstlich-kulturelle Erzeugen und Formen seitens des Menschen, ein Stück weit aufgegeben – besser: zeitlich aufgeschoben – werden. Der technische Eingriff, in geminderter Form vermutlich selbst noch die Idee künstlerischer Kreativität, diese beiden Vorstellungen gehen vom Ich aus. Im einseitig verabsolutierten Handeln des Subjekts verwirklicht sich nicht nur ein von Anbeginn an festgesetzter Entwurf, sondern – einem Fatum gleich – ein durch methodisch-mechanische Abläufe kontrolliertes Schema und sein Telos. Ganz anders ist das »gelassen-lassende« Tun des Gärtners geartet; in ihm geschieht Freiheit gerade dort, wo dem Anschein nach nichts als Kunstfertigkeit und Disziplinierung waltet. Für den Gärtner ergibt sich im »gelassen-lassenden« Umgang mit dem Gartenbaum eine Freiheit, die in der Kluft zwischen Selbst und Anderem, im »Sprung« zwischen tätigem Eingriff und gelassener Antwort des Baumes entspringt. Vielleicht verhält es sich also gerade nicht so, wie Flusser unterstellt: »Die Zukunftsform des Vorhersehbaren ist ›Natur‹, die des Unvorhersehbaren ist ›Abenteuer‹. Natur ist durch Vorsorge vergegenwärtigbare Zukunft, ›Abenteuer‹ kann nicht vergegenwärtigt werden, sondern vergegenwärtigt sich selbst, ist also Zukunft in radikalerem Sinn, als es Natur ist.« 175

Wenigstens bei der japanischen Gartenkunst liegen die Dinge offensichtlich eher so: In der Auseinandersetzung des Menschen mit Naturwüchsigem lassen sich da beide Sphären auf ein »Abenteuer« ein, lassen sie sich ein auf »Zukunft in einem radikaleren Sinn«. In der »gelassen-lassenden« Zwiefalt bedeutet Natur nicht jenes »Vorhersehbare«, worauf Naturwissenschaften und Technologien mit ihren Gesetzmäßigkeiten aus sind; für den Gärtner und den schauenden Menschen im Garten steht »Natur« ein für das Freie eben jener »Zeitigung« aus »Zukünftigkeit«, worin Heidegger den Kern menschlichen Daseins erblickt. 176 Wie ist das zu verstehen?

175 176

Ebd., S. 19. Heidegger, Sein und Zeit, [§ 65] S. 323–331 / [§ 76] S. 395.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

Indem sich der Mensch mit seiner Kunstfertigkeit auf das Naturwüchsige hin öffnet, erwächst ihm Freiheit gerade nicht aus seiner eigenen Autonomie; Freiheit wird ihm da vielmehr zuteil von jenem Zwischenbezirk her, den die »gelassen-lassende« Begegnung mit seinem Anderen, dem naturwüchsig Fremden stiftet. Indem die »gelassen-lassende«, »von selbst« sich ergebende und insofern »freie« Antwort des Baumes auf die Tätigkeit des Gärtners stets eine nachträgliche ist, findet sich in dieser Freiheit ein Moment von Zukünftigkeit. In seinem gelenkten Wachstum »kommt« der Baum sozusagen »zurück auf« das Tun des Gärtners, und zwar nachdem der Eingriff längst erfolgt und abgeschlossen scheint. In die Baumgestalt gewordene Erscheinung eines naturwüchsigen »von selbst« ist Zeitlichkeit im Sinne von Heideggers »Zurückkommen auf sich selbst« 177 eingewandert: Über das verspätete Wachstum des Baumes kommt der Gärtner in Freiheit und »von selbst« zurück auf sich selbst und zu sich selbst; im Baumwuchs tritt seine eigene Zukünftigkeit in die Erscheinung. Ein wechselweises »Lassen« stiftet so im Zwischenreich von Kultur und Natur das Offene menschlicher Zukünftigkeit. In gewissem Sinne wird dabei das gewöhnliche Verhältnis auf den Kopf gestellt: Das Naturwüchsige steht jetzt nicht mehr für den Ausgangspunkt und die Grundlage alles Kulturellen, vielmehr bildet es seine freie Antwort auf das Kulturelle aus, und diese Antwort schenkt durch das »von selbst« der Naturwüchsigkeit hindurch dem Menschen seinerseits Zukünftigkeit. Indem hinwiederum der Mensch mit seiner Kulturtätigkeit sich »gelassen-lassend« auf diese Naturwüchsigkeit einlässt, indem er sich dem Naturwüchsigen in dessen offener Unvorhersehbarkeit aussetzt, gelangt er selbst ins »Freie«. Aus der fremden Zukünftigkeit, die seinem Tun vonseiten des Natürlichen zuwächst, gewinnt der Mensch Freiheit: Er befreit sich von allen ausschließlich kulturell geprägten, subjektiv technizistischen Mustern seines Seins-zurWelt. »Natur« stiftet hier menschlicher »Kultur« ihre freie Würde; »Natur« erst lässt »Kultur« hier in ihrer zeitlichen Offenheit zu sich selbst kommen. Die Responsivität zwischen Gartenkunst und Baumwachstum verweist schließlich auf einen noch umfassenderen responsiven Grundklang, der den ganzen Garten in seinem Erscheinen durch177

Heidegger, Sein und Zeit, [§ 65] S. 326.

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Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur

waltet. Der Trockengarten des Myōren-ji 妙蓮寺 in Kyōto beispielsweise entfaltet in seiner geschlossenen Komposition eine erstaunliche Kraft gegenseitigen »Lassens«. Gleich den legendären Schülern Buddhas, scharen sich da im Kiesmeer verstreut aus rötlich schimmernden Moosinseln aufragende, einheitlich schwarze Steine, wie von geheimer Choreographenhand angewiesen, um einen zentralen, liegenden »Buddhastein«. Die einzelnen Steingruppen treten in ihrer wechselweisen Zusammengehörigkeit zutage, als fände gerade eine Lehrrede im Beisein des Betrachters statt. Diese schlichten Felsen »lassen« einander auftauchen aus dem Meer einer Gemeinschaft, die noch den Besucher am Rande der Anlage miteinzubeziehen weiß. Gerade weil die einzelnen Felsen in Färbung und Aussehen beinahe uniformiert wirken, bilden sie eine Einheit. Was aber auf diese Weise zum Vorschein kommt, ist das »Zwischen« dieser Einheit; wir erblicken eine Zusammengehörigkeit, die aus dem Zwischengeschehen respektvollen gegenseitigen »Zulassens« erwächst. Auch die Felsklötze, die man in dem kleinen Gartenhof des Hōrin-ji 法輪寺 oder Dharma-Tempels (Daruma-dera だるま寺) in Kyōto unter einem alten Ahornbaum versammelt hat, strahlen eine große Versöhnlichkeit und Gelassenheit aus. Eingelassen in den frischgrünen Moosgrund, wirken diese mächtigen Steine wie »zugelassen« in die Nähe zueinander, die zugleich auch eine Nähe zu uns stiftet. Wie nirgendwo sonst schlägt in diesem schmalen Saum unser Nahblick um in das Ereignis einer Näherung, eines gegenseitigen In-die-Nähe-Lassens der Gartendinge. »Natur« als solche begegnet uns wohl überhaupt erst in einem derart »gelassen-lassenden« Erscheinen; da zeigt sich das »von selbst« einer Zugehörigkeit aller Elemente zueinander im »gelassen-lassenden« Miteinander-Erscheinen. Auch Figal geht davon aus, dass »die φύσις nicht die Natur im Sinne eines vom Künstlichen unterschiedenen Bereichs ist«, dass die φύσις viel eher als der »Ursprung der Bewegung und Ruhe eines Lebewesens« zu begreifen sei. 178 Wenn dies nun nichts anderes meint als »das Herausspringen und Herausstehen des Lebendigen aus einem Zusammenhang«, so ergibt sich daraus womöglich nicht 178 Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 371.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

nur, dass in der Folge etwas »als Äußerliches begegnet«. 179 Vermutlich kann diesem Gedanken von einer Art Selbstentäußerung des Lebens in der φύσις, vom »Herausspringen und Herausstehen des Lebendigen aus einem Zusammenhang« darüber hinaus ein wichtiger Hinweis darauf entnommen werden, wie Naturwüchsiges in seinem »von selbst« in die Erscheinung tritt. 180 Wenn sich zwischen der immergrünen Kiefer und dem herbstlich gefärbten Ahornlaub »Wehmut um die Dinge« einnistet, so zeigt sich doch recht handgreiflich folgendes Phänomen: Nicht allein zwischen der Kulturtätigkeit des Menschen und dem natürlichen Wachstum entspinnt sich ein wechselseitiges »Lassen«; auch die Naturdinge untereinander spielen in ihrem Erscheinen dieses wechselseitige Antwortspiel, auch Bäume und Felsen, Moos und Steine sind ineinander eingelassen; sie lassen sich aufeinander ein und lassen sich gegenseitig ins Erscheinen zu. In einem japanischen Garten bietet sich nicht einfach – wie in einem Werk der bildenden Kunst – die überaus feinsinnige künstlerisch-technische Gestaltungsarbeit menschlicher Kultur dar. Doch auch die Auffassung, ein solcher Garten steigere die schlichte Versammlung natürlicher Dinge zur eindrucksvoll verdichteten Darstellung, verfehlt ein wesentliches Moment, das in der gesamten Erscheinung wie in allen ihren Elementen mitschwingt. Wie Natur da leibhaft begegnet, umgibt sie nicht, gleich einer Aura, das jeweilige Hervortreten einzelner Elemente aus dem großen Ganzen. Was da erscheint, ist Anderes denn die φύσις als diejenige Macht, die jedes einzelne Seiende in sein jeweiliges Sosein hineinträgt. Hier handelt es sich nicht um jene φύσις, die Heidegger als »das sich verbergende Entbergen« des Seins, 181 als »die Anwesung im Sinne des Hervorkommens in das Unverborgene, das Sichstellen in das Offene« versteht. 182 In der Gartenerscheinung begegnet AndeEbd. Held schreibt (Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, S. 263): »Die Lebenswelt hat vielmehr als ›von selbst‹ geschehendes Erscheinen den Charakter der ›Natur‹.« 181 Martin Heidegger, »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1 (1939)«, M. Heidegger, Wegmarken, 2., durchgesehene Auflage, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1996 [GA 9], S. 301. 182 Ebd., S. 272; ganz ähnlich formuliert Held (Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, S. 206/ 218). 179 180

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Für ein anderes Verständnis von Kultur und Natur

res als ein durch φύσις geleistetes »›Wachsen‹ (das In-sich-zurück-, Aus-sich-Aufgehen)« 183 oder eine »Gestellung in das Aussehen«. 184 Sofern da ein Inbegriff von Naturwüchsigkeit aufscheint, bedeutet diese das »von selbst« in seiner innigen Verschmelzung mit der kulturellen Sphäre und dem Erscheinen. Der Besucher kann in japanischen Gärten sehr intensiv Erfahrungen dieser Art machen: Bäume und Felsen, Wasser und Moos, alle naturwüchsigen Gartendinge treten miteinander ins Erscheinen. Dieses gemeinschaftliche Sich-Zeigen wird möglich, indem sich allem Anschein nach die einzelnen Elemente innerhalb eines responsiven Beziehungsgeflechts wechselweise hervortreten »lassen« – ins Erscheinen ein- und zulassen. Im Zuge ihres gegenseitigen In-die-Erscheinung-kommen-Lassens lassen sich alle Dinge »von selbst« aufeinander ein, sind sie ineinander eingelassen. Diese Anwesenheit der Gartendinge ist nicht ein »Wachsen« und »Aus-sich-Aufgehen«; eher kommt sie einem »Gelassen-Werden« gleich. In ihrer Naturwüchsigkeit werden die Dinge voneinander und zueinander zugelassen – statt dass jedes jeweils aus sich selbst, aus seiner jeweiligen φύσις her in sein unverhülltes und wesenhaftes Aussehen herausstünde. Eine allseitige »Gelassenheit« zieht sich durch die Gartenerscheinung. Naturwüchsigkeit zeigt sich da nicht als ein »Gewordensein« von Seiendem; stattdessen wird sie phänomenal erfahrbar als die »gelassen-lassende« Bewegtheit des Erscheinens selbst. Es geht nicht um ein Sein; angeschaut wird hier Naturwüchsigkeit als Hervortreten eines Ensembles. Das »Zwischen«, in dem dieses Hervortreten entspringt, bezeichnet weder eine Wachstumskraft noch ein schöpferisches Hervorbringen. Das »Zwischen« offenbart sich als ein gegenseitiges »Zu-lassen«. Dieses »Zu-lassen« kennzeichnet nicht Heideggers ontologisches »sein lassen«. Insofern es in der leibhaften Gartenerfahrung phänomenal hervortritt, bedeutet dieses »Zu-lassen«: »In-die-Erscheinung-Hervorlassen« und »Sichins-Erscheinen-Einlassen«. Das naturwüchsige Aufgehen der Dinge entpuppt sich vorrangig als das responsive und dynamische Wechselgeschehen eines Zeigens; Naturwüchsiges zeigt sich, indem es zu allem anderen Naturwüchsigen in einem »lassenden« und 183 184

Heidegger, Wegmarken, S. 289. Ebd., S. 276/ 287.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

»sich-einlassenden« Verhältnis steht; allein aus diesem Verhältnis tritt Naturwüchsiges »von selbst« in Erscheinung. Was immer hier erscheint, zeigt sich nicht an den Dingen, es zeigt sich zwischen den Dingen. Das Erscheinen schwebt als »gelassen-lassende« Wechselbewegtheit zwischen den sichtbaren Gegenständen. Wo Natur zum Vorschein kommt, findet ein Zwischenereignis statt; dieses erst stiftet die Sichtbarkeit der Natur. Insofern die Kunstfertigkeit des Gärtners als eine »Kunst« anzusehen ist, wird aus dieser Sicht vollends fraglich, was Adorno aus seinem europäischen Blickwinkel heraus behauptet: »Das affirmative Moment ist eins mit dem von Naturbeherrschung. […] Damit gerät Kunst in unauflöslichen Konflikt mit der Idee der Rettung unterdrückter Natur.« 185 Findet sich nicht in japanischen Gärten durchweg das Moment von »Naturbeherrschung« aufgehoben in eben jener »Rettung unterdrückter Natur«, dies freilich auf paradoxe Weise? Der »Konflikt« zwischen menschlichem Eingriff und rein Naturwüchsigem tritt als ein allseitiges »Lassen« in Erscheinung, das gewiss nicht frei ist von Spannungen; der Widerstreit ist darin keineswegs aufgelöst. Allerdings hat er sich in eine eigentümliche »Gelöstheit« aller Beteiligten verwandelt, die sich in zeitlicher Offenheit auf eine responsive Begegnung miteinander einlassen. Ein japanischer Garten zeigt die »gelassen-lassende« Auseinandersetzung zwischen Kultur und Natur in ihrer geschichtlichen Dimension. Dabei lässt er die naturwüchsigen Dinge ihrerseits »von selbst« zueinander zu und lässt sie ein in ein wechselseitiges Zeigen.

5.

»Erscheinen« und »Lassen«

Zuletzt bestätigen die voranstehenden Beobachtungen noch einmal mit Nachdruck die eingangs anhand der atmosphärischen Anmutungen skizzierte Schlussfolgerung für die Methode der Phänomenologie. Die Anschauung der alten Kiefer durchkreuzt das erkenntnistheoretische Muster vom wahrnehmungsmäßigen Erfassen sichtbarer Gegenstände durch ein Subjekt oder Bewusstseins-Ich. Die Gartenerfahrung ist in umgekehrter Richtung so zu analysieren: Die Anschauung ist ihrerseits ein Ereignis, das den anschauen185

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 240.

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»Erscheinen« und »Lassen«

den Menschen in seinem Sein-zur-Welt erfasst, das ihn in seinem Leib-Sein anrührt und in ein bestimmtes Welthaben einlässt. Die lebendige Tanzgebärde der Baumgestalt bringt die Leiblichkeit des Betrachters ins Spiel und zum Vorschein. Er kann nicht anders, als mithilfe der in seinem leiblichen Selbst abgelagerten Bewegungsund Ausdruckserfahrungen anschauen, was sich ihm zeigt – noch bevor sich botanische, gartentechnische oder ästhetische Beobachtungen einstellen. Angeschaut als »Bewegungsgestalt«, ist der Kiefernbaum nie »Objekt«; von vornherein zeigt er sich in einer innigen Zusammengehörigkeit, in einem Resonanzverhältnis mit dem leiblichen Selbst des Schauenden. Aufgrund der stets miterscheinenden Verwandtschaft im »Fleisch« – um an dieser Stelle noch einmal Merleau-Pontys generischen Ausdruck für die Dimension der Leiblichkeit in aller Phänomenalität in Erinnerung zu rufen – ist die Baumerscheinung imstande, über eine »Wehmut um die Dinge« den Schauenden affektiv anzurühren; so erst bindet sie ihn mit ihrer Anmutung und affektiven Kraft in eine bestimmtere Gegenstandswahrnehmung ein. Die Anrührung im Leiblichen lässt das Sichtbare Konturen annehmen und sich »als etwas« zeigen, indem sie die leibliche Dimension mitaufscheinen lässt. Die Anschauung der alten Kiefer in ihrem in sich spannungsreichen Wuchs bietet grundlegende Einblicke in die phänomenale Doppelstruktur des Sehens. Nach Waldenfels ist dieses, ist überhaupt jede Wahrnehmung in sich ein paradoxes »Doppelereignis«. 186 Was ist damit gemeint? Beim Anblick des Kiefernbaumes lässt die »Wehmut um die Dinge« ein Befremden im – in ästhetisch-phänomenologischer Einstellung – Schauenden aufkommen: Trotz einer leiblich verwurzelten Vertrautheit mit der Tanzgebärde des Baumes, trotz eines Mitschwingens im »Fleisch« verkörpert der Baum doch die Fremdheit eines naturwüchsigen »von selbst« gegenüber dem Menschen und seiner gestaltenden Tätigkeit. Die »auratische«, »wehmütige« Weise, in der da Abständigkeit als nächste Nähe aufscheint, markiert ein Schnitt-Kontinuum, welches das Naturwüchsige für den Menschen dasein lässt. Doch führt diese Gartenerfahrung nicht etwas weit Grundlegenderes vor Augen? Durchzieht und konstituiert ein solches Schnitt-Kontinuum nicht letztlich alles Erscheinende in seinem Erscheinen? Eine »Undurchsichtigkeit« und 186

Waldenfels, Sinne und Künste, S. 110.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

»Undurchdringlichkeit« liegt ja nach Barbaras, wie bereits erwähnt, zwischen dem schauenden Menschen und dem Fremden der Erscheinung; diese zieht sich noch hinter die Andersheit des anderen Menschen zurück. Im Erscheinen erweisen sich die Dinge als fremder und ferner denn der Andere. In eins mit diesem Schnitt stellt der Akt des Schauens indes eine Kontinuität her zwischen Schauendem und Geschautem. Indem der Schauende vermittels einer »Wehmut um die Dinge« im Geschauten aufzugehen glaubt, hat seine Schau von den geschauten Dingen her die Abständigkeit des Erscheinens bereits in ein Schnitt-Kontinuum verwandelt. »Eingelassen« in das Erscheinende schaut nun der Schauende. Die Erscheinung lässt ihn zu dem werden, der er ist: »wehmütig« Schauender. Aber auch der Schauende seinerseits »lässt« erscheinen, was sich da zeigt; dabei »belässt« er es in seiner unnahbaren Fremdheit. Weder sucht und erfasst der Blick Gegenstände, die vor ihm, ihm gegenüber sich zeigen wie flache Abbilder, bloße Bildoberflächen, die auf »Dinge an sich« dahinter verweisen; noch treffen Seheindrücke von den wahrgenommenen Gegenständen her auf das Sehorgan und ein Bewusstsein, als wäre dieses eine mechanische Registrierapparatur. Das antike Paradigma des »Eindrucks« trügt ebenso wie die neuzeitliche Rede von »Sehbild« und »Vorstellung«, französisch »représentation«, englisch »representation«. Sowohl eine Erscheinung als auch ein Phänomen, beides ist etwas ganz anderes als ein »Abbild von etwas«. Nur in der Ereignishaftigkeit des Erscheinens kann dasjenige greifbar werden, was Phänomenalität ausmacht: »Gelassenheit«, ein »Lassen«. Dem Vorgang des Anschauens wohnt ein Wechselspiel gegenseitigen »Lassens« inne. Als geschehnishaftes Schnitt-Kontinuum verstanden, besagt dieses wechselweise »Lassen« in allem Erscheinen, dass der Anschauende nicht frei verfügt über das Angeschaute, dass er indes auch nicht als Gefäß oder Empfänger fungiert, der passiv auf- und zur Kenntnis nimmt, was sich darbietet. Damit Erscheinung und Anschauung einander begegnen, damit überhaupt Wahrnehmung zustande kommen kann, dazu bedarf es eines Waldenfels’schen »Doppelereignisses«. Soll der Blick »von den Dingen initiiert« 187 werden, muss er sich je schon auf die Dinge eingelassen, sich ins Feld ihrer Ankunft hineinbegeben, sich leibhaft zu ihnen hin geöffnet haben. 187

Ebd., S. 143.

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»Erscheinen« und »Lassen«

Der Ort des Erscheinens muss seinerseits je schon den Blick eingelassen und zugelassen haben, noch bevor dieser beginnt, »etwas« zu erblicken. Auf dieser Grundlage wird nach Waldenfels jeder Anblick, den ein erscheinender Gegenstand darbietet, tatsächlich zum auf den Blickenden zukommenden »An-blick«, zur »An-kunft« des Geschauten 188 – statt dass es sich um eine »Gegebenheit« vor dem Auge handelt. Denn was sollte das Auge veranlassen, eine bloße »Gegebenheit« zu erfassen? Braucht es dazu nicht die eindringende Anrührung, den »An-blick«? 189 Noch ehe die Schau eingesetzt hat, haben sich in einem Geschehen wechselweiser »Gelassenheit« bereits Schauender und Geschautes zueinander zu- und aufeinander eingelassen. Die Husserl’sche Rede von »Affektion« und »passiver Synthesis« unterstellt letztlich doch wieder das Angeschaute, so, wie es sich dem Anschauenden gibt, als einen vorgegebenen Inhalt der Wahrnehmung. Den Wahrnehmungsgegenstand, von dem die uranfängliche Affektion ausgehen soll, kann Husserl jedoch nur nachträglich und rückwirkend aus dem Resultat der bereits vollzogenen Anschauung rekonstruieren, will er seinen phänomenologischen Grundsätzen treu bleiben. Letztlich bedeutet dieser Ansatz, dass es zuerst Gegenstände – Ontisches, Dinge – gibt, die vermittels der wahrnehmenden Einstellung eigens in »Erscheinungen« verwandelt werden müssen, um sodann erst aufgrund ihrer »affektiven Kraft« die wahrnehmungsmäßige Synthese »motivieren« und anleiten zu können. Den entscheidenden Gedankenschritt vom gegebenen – letztlich ontologisch gesetzten oder empirisch gewussten – Gegenstand zum erscheinenden Gegenstand bleibt Husserls Analyse des Wahrnehmens schuldig. Ebd., S. 153. Schon Heidegger hebt an zentraler Stelle in einer ähnlichen Bedeutungsumkehr auf den »An-blick« ab, der unserem Blicken als einem »entbergenden« innewohne. Jedem Blicken sei das »Sichzeigen« eines »Objektes« und seines »Aussehens« eingeschrieben (Martin Heidegger, Parmenides, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1982 [GA 54], S. 153–154/ 184/ 217). Unser Blicken ist demnach ein seinerseits gewissermaßen »angeblicktes«, d. h. ein vom geschauten Gegenstand und seinem Anblick herkommendes und getragenes »Er-blicken« (ebd., 158). Allerdings denkt Heidegger in erster Linie noch an den uns begegnenden Menschen, weshalb er ohne weiteres die Dinge »selbst blicklos« (ebd.) nennen kann. Insofern erfasst seine Einsicht das an Kunstwerken und Gartendingen hervortretende Phänomen der Blickumkehr nicht hinreichend.

188 189

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Der stumme Blick von Baum und Stein

Falls die Phänomenologie ihren methodologischen Sinn behalten und vom »Phänomen« in seiner Phänomenalität ausgehen möchte – statt von naiv empirisch Gegebenem oder ontologischen Hypostasen –, muss sie Waldenfels’ »Sehereignis« als den Ursprungsort des Sehens ansetzen. Allein das Sehereignis gebiert Sichtbares und Gesehenes in der Art und Weise, wie es tatsächlich phänomenal erlebt wird. Es gibt kein Trägerding hinter der Erscheinung und vor dem Erscheinen, welches für letzteres verantwortlich zu machen wäre. Allerdings kommt dieses »Sehereignis« nicht ohne eine den Schauenden – beinahe mit derselben Wucht wie bei Emmanuel Levinas das »Antlitz« (visage) 190 des Anderen – je schon »an-blickende« und insofern vorgängige Anrührung aus. Andererseits darf diese Anrührung hinwiederum nicht als dem Blickgeschehen wie eine Ursache vorweggehend gedacht werden. Erst im vollzogenen Blicken kann sich der »An-blick« wie ein Heidegger’sches »sich vorweg« entfalten. Ein Blicken muss je schon stattfinden, damit ich, von einem »An-blick« betroffen, auf Sichtbares aufmerksam werde und schaue. Demnach bedeutet jedes »Schauen« ein »Antworten«. »Antworten« wiederum heißt leibhaft sich einlassen auf einen fremden Anspruch. Uns leibhaft einlassen auf den Anblick, der uns vom Geschauten her ereilt, können wir indes nur, wenn wir je schon in unserer Befindlichkeit »eingelassen« sind ins Feld des Erscheinens. Das Erscheinen hat immer schon begonnen, noch ehe »etwas als etwas« sich zeigt. Das menschliche Dasein ist »eingelassen« in Phänomenalität als in die dia-chronie 191 einer »unvordenklichen Vergangenheit« (passé immémorial); 192 andernfalls könnten wir gar keine Erscheinungen haben, könnten wir sie nicht tatsächlich erscheinen »lassen«. Levinas und mit ihm Waldenfels haben die responsive Struktur dieser paradoxen »Nachträglichkeit« in der »Diastase« 193 eindringlich beschrieben als ein unumgängliches »Zu-spät-

Levinas, Autrement qu’être, S. 14–15. Ebd., S. 31/ 113. 192 Ebd., S. 112–113/ 123/ 191. 193 Bernhard Waldenfels, Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 83/ 93/ 96/ 238; B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006, S. 65. 190 191

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Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

Kommen« 194 jeder Antwort gegenüber der Frage. Auch unsere Schau ist ein »Vor-Vergangenes«, eine »ältere Vorgängigkeit« (antériorité plus ancienne), 195 ist das Eingeholtwerden von einer Anmutung, die so nie stattgefunden hat. Über die Kausalrelation eines »vorher-nachher« ist diese »lassend-gelassene« Konstellation von Erscheinen und Wahrnehmen nicht hinreichend zu erfassen. Das Schnitt-Kontinuum zwischen Phänomenalität und Schau berührt in seiner strukturellen »Gelassenheit« das Rätsel der Zeit.

6.

Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

Ein Element darf in keinem japanischen Garten fehlen: der naturbelassene, unbearbeitete Stein. »Steinsetzungen« (tateishi 立石) oder »Steingruppen« (ishigumi 石組み) sind seit den iwakura, den geweihten Felsen des Altertums, ein unverzichtbares Element japanischer Gartenästhetik. Mit Bedacht werden kleinere Ufersteine oder mächtige Felsklötze in den Gartenbezirk verfrachtet, wo sie ohne weitere Bearbeitung einzeln oder in sorgsam gegliederten Gruppen tief in den Boden eingelassen werden; in feinsinniger Ausrichtung treten sie dann mal flach, mal aufgerichtet aus dem Grund hervor, als handelte es sich um Mahnmale, Skulpturen oder Rauminstallationen. In ihrem ursprünglichen Zustand belassen, gewinnen die Gartensteine infolge der Witterung eine eigene Patina. So verleihen sie ihrer Umgebung – wie sicherlich schon die heiligen Felsen der Frühzeit – eine feierliche Weihe, die nicht unerheblich von der Wirkung pflanzlicher Gartenelemente abweicht. Natürlich lassen sich auch hinsichtlich der Steinsetzungen Verbindungen zur älteren chinesischen Gartenkunst herstellen. Auf dem Festland suchte man schon früh bizarr geformte, vielfach durchlöcherte und gewundene Felsen jeden Formats – von der Miniaturvariante bis zum Hinkelstein –, um sie sei es wie Topfpflanzen in Wohnräumen, sei es in Gärten oder Innenhöfen zur Schau zu stellen. Der »besondere« oder »seltene Stein« (qí shí 奇石) und der »bizarre Stein« (guaì shí 怪石) werden bis heute in der chinesischen Kultursphäre mit Leidenschaft gesammelt. Jedoch strebt man mit 194 195

Waldenfels, Hyperphänomene, S. 97. Levinas, Autrement qu’être, S. 127/ 141/ 157.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

hervorstechenden Gestaltmerkmalen, die mal an berühmte Bergformationen oder dichterische Landschaften, mal an menschliche Figuren gemahnen, offenkundig in erster Linie nach einem gesteigerten Gefühl von Künstlichkeit im Naturwüchsigen und geistreicher, nicht selten literarisch untermauerter Anspielung. Mit den Steinen und Felsen in Japan verhält es sich anders. Zwar werden sie auch dort vielfach als symbolische Anspielung auf einen realen Landstrich oder auf mythische Gebirge und Inseln der buddhistischen Überlieferung gesehen. So gelten viele Steingruppen als Verkörperungen des »Sumeru-Berges« (Shumisen 須彌山) oder der daoistischen »Insel der Seligen« (chin. Penglai shān 蓬萊山/ Penglai dǎo 蓬萊島, sinojap. Hōraijima 蓬萊島). Es fällt jedoch selbst bei oberflächlicher Betrachtung auf, dass japanische Steinsetzungen mit ihren chinesischen Pendants kaum den Sinn für groteske, sensationell ausgefallene Bildungen teilen. Die Schlichtheit japanischer Steine wird gerade durch diesen Kulturkontrast noch unterstrichen. Oft genug gewinnt der Betrachter den Eindruck, dass diese Felsen für nichts weiter als sich selbst stehen. In ästhetisch-phänomenologischer Einstellung erfahren, wirken sie wie rätselhafte Objekte oder namenlose Findlinge; es sind offenkundig Dinge, die einfach so erscheinen wollen, wie sie sind. Figal beschreibt seinen Eindruck von diesem Phänomen so: »Die Steine in einem Zen-Garten […] sind nicht bearbeitet; sie sind keine Skulpturen, sondern so, wie sie sind, in ihrer Gestalt und Oberflächenbeschaffenheit, als schön entdeckt worden. Die Aufstellung im Garten soll sie als die, die sie sind, zeigen. Aber sie sind nicht nur ausgestellt, sondern werden im Garten zu Momenten einer dezentralen Ordnung, die ihrerseits in den Steinen besteht.« 196

Dass die Gartenfelsen nicht mit künstlerisch intendierten Plastiken zu verwechseln sind, gilt es mit Nachdruck festzuhalten. Die kleinen und großen Steine sind nicht nur unbearbeitet, sie wollen auch ausdrücklich nicht-bearbeitet aussehen. Ob sie dabei freilich eine natürliche »Schönheit« zur Schau stellen möchten, mag dahingestellt bleiben. In dieser ästhetischen Anschauung wirkt sicherlich eine Prägung durch Werke der zeitgenössischen Kunst nach. Gegenüber einer allzu eilfertigen »Ästhetisierung« japanischer Gar-

196

Figal, Erscheinungsdinge, S. 203.

120 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

tensteine macht indes nicht nur die lange Tradition geweihter Felsen skeptisch; auch aus phänomenologischer Sicht lässt sich genauer differenzieren, was sich in Steinsetzungen darbietet und wie es sich jeweils darbietet. Der Gesichtspunkt einer »dezentralen Ordnung« wird in ähnlicher Weise von zahlreichen Autoren hervorgehoben, und er ist sicherlich ein wesentliches Moment an der anschauungsmäßigen Wirkung eines Steinensembles. Die Assoziation mit einer geometrischen Raumordnung springt meist rasch ins Auge. Doch leicht gerät darüber das Moment der Zeitlichkeit in den Hintergrund – vielleicht gerade weil es sich um leblose Felsen handelt, die scheinbar in einem absoluten Kontrast zu den pflanzlichen Gartenelementen stehen. Wo Steine zu Gruppen gebündelt auftreten, kann ein erzählerisches Moment freigesetzt werden, das indes nicht auf einen allegorischen Symbolismus oder die Mitteilung ideeller Gehalte reduziert werden sollte. Im shintoistischen Matsunoo-taisha松尾大社-Schrein in Kyōto beispielsweise findet man mehrere zeitgenössische, von Shigemori gestaltete Steingärten, die auf vielfältige Weise das Medium ausreizen. Von der Warte der jüngeren Kunstentwicklung aus betrachtet, verkörpert der klar überschaubare Binnengarten Sokkyō no niwa 即興の庭 – »Garten der Improvisation« – auf einer streng geometrisch aufgeteilten Grundfläche so etwas wie eine konkrete Abstraktion. In seltener Reinheit und Präsenz tritt hier eine vergeistigte Seite am »Fleisch« der Felsen in Erscheinung. Es ist, als wohnten wir einem Zwiegespräch der Steine bei. In dem mit seinem Namen ans Altertum gemahnenden Jōko no niwa 上古の庭 wiederum ragen zahlreiche übergroße Felsen aus einer von dickblättrigem Gras überwucherten Böschung steil vor dem Betrachter auf; in Anbetracht ihres Gewichts und ihrer klobigen Gestalt wirkt ihre Beschwingtheit ausnehmend humorvoll und heiter. Ungeachtet der Monumentalität dieser Steinklötze steigt der nicht große Garten über Stufen empor wie ein musikalisches Gebilde; die Anlage bietet sich in einer vibrierenden, wie choreographierten Bewegung dar. Es ist, als werde da – vielleicht ein wenig ironisch – vom Uralten als einem Freien und Einfachen erzählt. Fast plakativ kommt gegenüber dieser gelassenen Großzügigkeit der Kyokusui no niwa 曲水の庭 mit einem mehrfach gewundenen Rinnsal zwischen dicht mit Rundsteinen gepflasterten Ufern 121 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Der stumme Blick von Baum und Stein

und verstreut darin aufgerichteten Steingruppen daher. Das Zusammenwirken der wie zeitlos erstarrten Steine mit dem plätschernden Wasserlauf erzeugt einen verblüffenden Eindruck: Es ist, als steigerte die stumme Unbewegtheit und Härte der Felsen das geräuschvolle Fließen des Bachs, bis alles ins Schwimmen gerät. Das Gewässer schafft es, die festen Steine in seine unaufhaltsame, den ganzen Gartenraum von oben bis unten in Schlangenlinie durchströmende Bewegtheit hineinzuziehen. Auf einmal sind Felsen und Ufersteine keine Steine mehr; sie sind ein einziges Strömen. Im nächsten Augenblick mag es umgekehrt scheinen, als könnte das Wasser gar nicht wirklich durch diesen Steinwald hindurchlaufen, als müsste es vielmehr zum Stillstand gebracht werden von dieser versteinerten Welt. Nichts ist hier, was es als Ding in der Welt eigentlich darstellt. Alles ist anwesend und tritt hervor als das, als was es erscheint. In der Erscheinung stehen Wasserlauf und Felsen in einer nicht auflösbaren Korrespondenz miteinander; im gemeinsamen Erscheinen durchdringt das feuchte Element das trockene und umgekehrt. Noch aufschlussreicher ist der Obergarten im »Moostempel« genannten Saihō-ji-Park mit seinem weitläufigen Teich unter hohen Bäumen. Die überschaubare Steinsetzung am Hang darüber wird ausdrücklich unter der Bezeichnung »Trockengarten« angekündigt. Sie stellt einen Wasserfall ohne Wasser dar; mächtige Felsblöcke im Moosgrund zwischen Waldbäumen bilden da ein Bachbett, das in Kaskaden auf den Betrachter zukommt. Durch die Anordnung der Steine, infolge der Neigung, der abgestuften Schichtung und der Gerichtetheit des mit kleinen und größeren Steinblöcken übersäten Bezirks, kann sich diese »Rauminstallation« vor dem Auge unversehens in einen zeitlichen Vorgang verwandeln. Unwillkürlich wähnt man das Gurgeln von Wasser zu vernehmen, man sieht die Felsbrocken förmlich herabrauschen wie einen Bach. Sowie da freilich ein Fließen wahrgenommen wird, kippt der Eindruck sogleich wieder in die starre Steinformation um; der »Wasserfall« steht abermals still. Selbstverständlich lässt sich ein solches Erlebnis bloßer Einbildung zuschreiben. Doch von einer ästhetisch-phänomenologischen Warte aus darf das, was sich da zeigt, nicht auf einen Haufen Steine im Wald reduziert werden. Schwer lässt sich die Absichtlichkeit dieses Ensembles von der Hand weisen; zu sinnfällig ist sein Auf122 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

bau. Was in der geschilderten Erfahrung stattfindet, vollzieht sich nicht als Illusion im Anschauungsraum; da geschieht etwas am und mit dem Raum selbst. Das Wasserfall-Erlebnis dynamisiert den phänomenalen Raum um den Betrachter herum; gegen Physik und gesunden Menschenverstand organisiert es diesen um. Dieses Phänomen kann weder auf die Vorstellungskraft noch auf das räumliche Gebilde, die Steinansammlung, zurückgeführt werden. Die grüne Berglehne mit ihrer Anhäufung von Felsen wird erst zu diesem besonderen »Ort«, wenn das Erleben eines Bergbaches sich einstellt. Das steinerne und doch ganz leibhaft nachempfundene Herabfließen räumt den Bezirk als »Ort einer Näherung« ein. Eine eigentümliche Nähe birgt da für einen Augenblick die Herankunft eines Wasserlaufes. Für diese kurze Weile hat sich unsere Befindlichkeit gewandelt: Wir befinden uns vor einem kleinen Wasserfall. Weil es sich um eine wirkliche Phänomenerfahrung und nicht um bloße Einbildung handelt, kann dieses Erlebnis weder herbeigezwungen noch festgehalten werden; ebenso unabdingbar gehört das Zurückschlagen in die nackte Wirklichkeit der wasserlosen Steine dazu. In namenloser Fremdheit verschließt sich die Steinsetzung nach wenigen Augenblicken des Schwankens abermals vor unserem Blick; sie zieht sich wieder in die schlichte Gegenwart stummer Steine zurück. Das Wasser ist versiegt, und das Ganze entfaltet keinerlei Bedeutsamkeit mehr. Aufschlussreich ist Folgendes: Sowie der Betrachter in der trockenen Steinsetzung tatsächlich Wasser wahrzunehmen wähnt, entspringt diese vermeintlich irrige Sichtweise keineswegs einer assoziativen Deutung symbolischer Gegebenheiten, denn sie stellt nicht einfach einen allgemeinen Sinngehalt »Wasserfall« vor. Gewonnen wird hier nicht ein Sachverhalt mit dem Titel »Wasserfall«, sondern es handelt sich um ein wirkliches Sehereignis; erlebt wird ein konkretes Geschehen. In dieser Anschauung ereignet sich nicht ein Umschlagen der Bedeutung des Geschauten, so als hätten wir auf einmal »verstanden«. Das Sehereignis beansprucht eine gewisse Zeit, in welcher anschaulich Wasser hervorquillt und herabfließt. Davon aber wird für diese kurze Dauer unser Blick auf die gesamte Umgebung angerührt und eingefärbt. Das Stückchen Wald um uns verzeitlicht sich – wenn auch nur für einen Moment. Im Wahrhaben dieser Erscheinung zeitigt sich das Raumareal als »Ort mit Wasserfall«. 123 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Der stumme Blick von Baum und Stein

Gemäß dem phänomenologischen Urmotto erlebt das Bewusstsein immer »etwas als etwas«; allerdings kann dieser Sachverhalt nach der Gartenerfahrung nicht auf ein theoretisches Sinnverstehen und propositionale Gehalte beschränkt bleiben. »Etwas als etwas sehen« setzt ein tatsächliches Sehereignis voraus. Dieses erstreckt sich nicht nur in der Zeit, zudem bildet es seine je eigene Zeitordnung aus, verleiht es dem Sinn der Schau eine besondere zeitliche Struktur. Sodann betrifft das Sehereignis außer einem angeschauten Etwas auch dessen Hintergrund; es umgreift neben dem eigentlichen »intentionalen Gegenstand« ebenso die Umwelt des Schauenden und sogar dessen Selbstwahrnehmung: Der Trockengarten wird in der Anschauung zum feucht sprudelnden Bach. Dabei verwandelt sich die angeschaute Raumgestalt – ähnlich der »Bewegungsgestalt« des Gartenbaumes – in eine fließende Zeitgestalt; aus dem Schauenden aber wird ohne sein Zutun ein Lauschender. All dies lässt sich nicht unter dem Titel »Auffassungscharaktere« einer isolierten phänomenalen Gegebenheit zuschreiben; was hier phänomenal geschieht, beschränkt sich nicht auf den noematischen Gehalt eines bloßen Hinschauens. Angesichts dieser, Zeitlichkeit und Umwelt mitbetreffenden Verwandlung des Schauenden durch die Anschauung hindurch ist eher von einer Wirkmacht zu sprechen, welche eine phänomenale Situation und ihr Phänomenwerden entfalten. Die herkömmliche Reduktion des phänomenalen Gehalts auf einen umgrenzten »Auffassungssinn« greift zu kurz, ja sie verfehlt den Sinn der Intentionalitätsstruktur. Denn insgeheim bringt die Rede vom »Auffassungssinn« doch wieder den diesen Sinn gebenden Gegenstand mit seinen ontischen Eigenschaften ins Spiel. Ein intentionaler »Auffassungssinn« ist genau so weit bestimmbar wie die entsprechenden Gegenstandsqualitäten. Die phänomenologische Aufklärung eines sich gebenden Sachverhaltes wird unter der Hand angeleitet von einer ontologischen Teleologie. Die Intentionalitätsstruktur im Erleben des Phänomens bezieht sich jedoch gar nicht auf isolierbare Gegenstände, sondern stets auf einen Gesamthorizont, innerhalb dessen sie sich als ein ganzheitliches Ereignis in zeitlicher Weise verwirklicht. Dieses Ereignis der Intentionalität betrifft neben dem intentionalen Gegenstand und seinem Horizont überdies das Selbst des Bewusstseinslebens, so nämlich, dass es dieses Selbst leibhaft auf einen »Ort« in der Welt hin öffnet. 124 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

Um es an dem Gartenbeispiel zu verdeutlichen: Indem wir den »Wasserfall« erblicken, indem also ein intentionaler Gegenstand »Wasserfall« im Bewusstsein auftaucht, werden wir selbst zugleich unmittelbar vor diesen »Wasserfall« versetzt; es vollzieht sich mit uns eine leibhafte Öffnung auf den »Ort mit Wasserfall« hin. Dies alles geschieht ereignishaft; es handelt sich dabei nicht um einen einfachen Sachverhalt, gar um eine Tatsache. Wenn ferner das »Heraussehen« eines Wasserfalls aus der trockenen Steinsetzung und der synästhetische Aufgang einer Wasserfallumgebung sich unwillkürlich vollziehen, dann wird das in diesem Sehereignis wirksame »etwas als etwas sehen« – anders als eine mit Bedacht gesuchte oder willentlich aufgefasste Deutung – offenkundig von der phänomenalen Situation her angestoßen. Diesem Sehereignis sind wir ausgesetzt; es widerfährt uns mehr, als dass wir es mit unserer Einbildungskraft erzeugen könnten. Dem fraglosen Unterschied zwischen einem lebendig ausdrucksstarken Kiefernbaum und einem toten Felsbrocken zum Trotz sind offensichtlich auch Steinsetzungen mit Anmutung begabt; auch Felsen können uns mit einer affektiven Kraft anrühren, mit ihrem »An-blick« – indem sie sozusagen auffordernd zu uns herschauen – unsere responsive Schau wachrufen. Wie der Tanzgebärde des Kiefernbaumes kann auch den Felsen nicht abgesprochen werden, dass sie unser leibliches Selbst, dass sie uns im »Fleisch« unserer Existenz angehen. Merleau-Pontys Rede vom »Fleisch der Welt« erhält aus dieser Perspektive ein unerhörtes Gewicht, was im letzten Kapitel zu beleuchten sein wird. Noch auf andere Weise bringen leblose Gartensteine im Erscheinen Zeitlichkeit zum Austrag. Im Areal des Ninna-ji Goten findet sich neben dem Hauptgarten südlich des Kuro-shoin 黑書院 noch ein kleiner Innenhof mit Moosbewuchs, Steinsetzungen und ein paar Bäumen. Auf den ersten Blick bieten die wie Inseln aus einem samtweichen Moosmeer auftauchenden dunkel-harten Felsblöcke so etwas wie einen Halt inmitten des flauschigen, frischgrünen Gewoges sowie der dynamischen Vielstrebigkeit von Stämmen und Zweigen. Doch zugleich wirken die Steine in dieser lebendigen Szenerie merkwürdig distanziert, wie abwesend. Im Kontrast zur natürlichen Wachstumszeit der Pflanzen ringsum scheinen die Felsen reglos zu verharren, so als wären sie aus der Zeit gefallen. Oder gehören sie vielleicht einer anderen als der tages- und jahreszeitlichen Ordnung der Zeit an? In ein und derselben Schau treten so 125 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Der stumme Blick von Baum und Stein

zwei unterschiedliche Zeitqualitäten zutage; in der befremdlichen Gegenwart der Steine kommt eine Art »Ungleichzeitigkeit« zum Vorschein. Es ist, als erblickten wir zwei verschiedene Zeitgestalten – einmal die der Pflanzen, sodann jene andere der Felsblöcke. Wenn die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins sich ganz aus demjenigen »ekstatischen« Phänomen heraus entfaltet, das Heidegger »Zukünftigkeit« nennt, mag auch die zeitliche Dimension, welche die Pflanzen verkörpern, damit insofern noch übereinkommen, als sie mit ihrem Wachstum ebenfalls in eine Zukunft hinausstehen. Demgegenüber betreiben die Steine – zumal infolge des Umstandes, dass sie mit ihrem rohen, unbearbeiteten Aussehen nur einen minimalen Eingriff in das Gartenensemble vornehmen – eine ungeheuere Verlangsamung der Zeit; sie lassen den Fluss der Zeit gerinnen. So verkörpern sie eher einen »geschichtlich« zu nennenden Modus von Zeitlichkeit; ähnlich wie Mahnmale verkörpern die Gartenfelsen scheinbar lang Verschollenes. Anders und mit Husserl 197 ausgedrückt: In ein und demselben Phänomenfeld, in ein und demselben Erscheinungsgebilde zeigt sich einerseits Naturwüchsiges in seiner »protentionalen« Dimension, sprechen die grünen Pflanzen Erwartungsräume in uns an; andererseits zeigen sich zugleich starre Felsen, die der »Retention« näherzustehen, die Vergangenes zu speichern scheinen. Das Verhältnis zwischen beiden Zeitdimensionen ist hier indes kein ausgewogenes; zwischen Pflanzen und Steinen – »Protention« und »Retention« – herrscht eine unleugbare, leibhaft zu erfahrende Spannung. Die Gleichzeitigkeit der »Jetzt-Phase«, darin die Gesamterscheinung sich darbietet, birgt in sich weniger eine zeitliche Einheit, vielmehr einen Konflikt. Überdies taucht hier – im Gegensatz zu Husserls Zeitanalyse – das retentionale Moment der Wiedervergegenwärtigung sozusagen aus dem grünen Strom protentionaler Erwartung hervor, freilich nur, um allem Anschein nach finster, hart und scharf mit dem Erwartungshorizont zu brechen. Das ästhetisch-phänomenologische Erleben wird da durchzogen von der unaufhebbaren Kluft zwischen einer Zeitdimension der Felsen und einer andersartigen Zeitdimension des Organischen. Dieser Spalt in der Zeitlichkeit der Gesamterscheinung wird tatsächlich als phänomenaler Gehalt greifbar; wir Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893– 1917), hgg. v. R. Boehm, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1969 [Hua X].

197

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Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

erleben ihn leibhaft als einen »Zeit-Sprung«, der unsere Anschauung durchzieht. Zugegebenermaßen finden sich in dieser Beschreibung zwei Zeitaspekte am Erscheinenden innig verwoben mit derjenigen Zeitlichkeit, in welcher der Betrachter selbst lebt und die er über seine Schau einbringt. Doch lassen sich beide Sphären überhaupt trennen wie Subjekt und Objekt? Angesichts dieser sehr konkreten Erfahrung vom »Zeit-Sprung« ist aber das prinzipielle Verschmelzen von Retention und Protention in Husserls Idee des »lebendigen Jetzt« 198 zu überdenken. Das Gefüge der Zeitlichkeit muss im Ausgang von einem ereignishaften Schnitt-Kontinuum neu bestimmt werden. Näher kommt dem hier aufgedeckten phänomenalen Befund Heideggers Rede von der »Gewesenheit« als einem gelebten »je schon«, worin das aus seiner Zukünftigkeit »auf sich selbst zurückkommende« Dasein sich jeweils vorfindet. Dieses »Gewesen« bezeichnet nicht etwa strikt Vergangenes, wovon Husserl noch ausgeht; die Vergangenheitsdimension innerhalb der Zeitlichkeitsstruktur des Daseins wird vielmehr allein von der Zukünftigkeit gestiftet; es handelt sich bei dieser lebendigen Art und Weise, in der das Dasein von der Zukunft her seine Zeitlichkeit im Umgang mit den Dingen immer wieder neu ordnet, um ein weltstiftendes Geschehen, welches Heidegger mit »gewesendes Gegenwärtigen« umschreibt. 199 Was »Gegenwart« genannt wird, beispielsweise die scheinbar »synchrone« Gegebenheit von Steinen und Bäumen in ein und derselben Gartenerscheinung, bezeichnet gar keinen in sich einheitlichen Augenblickszustand; die Gegenwart wird jederzeit von einem Schnitt-Kontinuum durchzogen. Wenn aber innerhalb der lebendigen Gegenwart selbst ein solches Schnitt-Kontinuum sich auftut, dann bedeutet dies für alle Phänomenalität, dass sie nicht als in sich einheitliches Gegebensein und als Gegenständlichkeit aufgefasst werden kann; das Ereignis des Erscheinens ist kein Augenblicksvorkommnis in der Zeit, wie Husserl dies voraussetzt. Wahrnehmung als »leibhaftes«, »originäres« Erlebnis und als faktisches »Gegebensein von etwas« ist so eindeutig und unzweifelhaft nicht, wie der Begründer der Phänomenologie dies annimmt. Es dürfte sich stattdessen so verhalten, dass die menschliche Zeitlich198 199

Ebd., [§§ 25/ 26] S. 55. Heidegger, Sein und Zeit, [§ 65] S. 325–326.

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Der stumme Blick von Baum und Stein

keit dergestalt auf die Phänomenalität des Erscheinenden – auf die Gegebenheitsweise der Bewusstseinsinhalte – abfärbt, dass das Phänomensein selbst von dem Schnitt-Kontinuum einer komplexen Zeitlichkeit beherrscht wird. 200 Phänomene, Bewusstseinsinhalte und Bewusstseinserlebnisse sind nicht in der lebendigen Gegenwart eines leibhaftigen Gegebenseins verankert. Auch Husserls Idee einer »Jetztphase« als Sammelbecken für alle zurücksinkenden und sich ständig modifizierenden »Vergegenwärtigungen« löst das Problem nicht befriedigend, denn jede einzelne Vergegenwärtigung, jeder einzelne jeweils neu vergegenwärtigte Bewusstseinsinhalt wird auf diese Weise doch wieder einheitlich und punktuell vorgestellt, genau wie die Jetztphase als solche. Ein in sich einheitliches, punktuelles, die gesamte Ausdehnung der Zeitlichkeit zu einem fugenlosen nunc stans integrierendes »Jetzt« gibt es gar nicht, weder im Dasein noch in den Phänomenen. Wie die Zeitlichkeit des Selbst gekennzeichnet ist von einer Dezentrierung, einem »Zeit-Sprung«, so klafft auch im Feld des Erscheinens dieser Sprung des Zeitlichen. Phänomene »geben« sich nicht einfachhin, sind nicht »anwesend« wie Gegenstände. Phänomene ereignen sich; sie tauchen auf aus einem Horizont der Phänomenalität, um sich sogleich wieder zu entziehen. Im Anschauungsbeispiel schießen die inkongruenten Zeitlichkeiten von Steinen und Pflanzen zu einem Gesamtphänomen zusammen, ohne im Augenblickseindruck völlig zu verschmelzen. Genauso findet innerhalb jedes Phänomens, innerhalb eines jeden Erscheinens, ein derartiger »Zeit-Riss« oder »Zeit-Sprung«, mithin ein Schnitt-Kontinuum statt. Die Rede von »einem« Bewusstseinsinhalt oder »einem« Bewusstseinserlebnis verfehlt die in sich mehrfältige Gegebenheitsweise all dessen, was sich zeigt. Sogar der Gedanke der genetischen Phänomenologie und die Rede von einer passiven Synthesis bleiben in dieser Hinsicht unzulänglich, weil dasjenige, worauf die Ausdrücke »Genese« und »Synthesis« abzielen, letztlich doch wieder vom genetisch oder synthetisch bereits konstituierten, gewissermaßen alles zeitliche Werden unterlaufenZu einer ähnlichen Schlussfolgerung sieht sich auch Günter Figal in seiner kritischen Analyse von Husserls Zeit-Diskurs veranlasst, wenn er gegen die Annahme von einfachen und in sich geschlossenen »Urimpressionen« eine in jeder Wahrnehmung schon wirksam werdende, zeitlich verfasste »Offenheit« herausarbeitet: Figal, Gegenständlichkeit, S. 328–330.

200

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Steingärten und das Paradox der Zeitlichkeit

den Endpunkt her gefasst wird. Die paradoxe zeitliche Struktur der Gebung dessen, was allein durch Genese und nur währenddessen so ist, wie es sich zeigt, kann auf diesem Wege nicht in den Blick gelangen. Bei Husserl leitet insgeheim die prinzipiell fertige Konstitution eines vollerfüllten »Gegebenseins« des Phänomens die phänomenologische Rekonstruktion post festum von dessen »Genese« und »passiver Synthesis« an. So wird systematisch jenes zeitliche Schnitt-Kontinuum, welches die Gegebenheitsweise des Phänomens als eines »genetisch« sich-zeigenden – in der Genese hervortretenden – durchherrscht, von der Hypothese einer falschen Einheitsstruktur verdeckt. Insofern schließlich Naturwüchsigkeit, welche ja den wesentlichen Gehalt dieser besonderen Phänomenerfahrung im Garten ausmacht, früher als »gelassen sich einlassende« Bewegtheit eines wechselweisen Hervorlassens der Gartendinge in die Erscheinung bestimmt wurde, kann dieses wechselseitige »Lassen« aus einem »Zwischen« heraus nunmehr einen noch volleren Sinn erhalten. Das »lassend-gelassen-sich-einlassende« Verhältnis naturwüchsiger Dinge untereinander, das Verhältnis, in welchem sie sich uns zeigen, ist auch ein zeitliches Wechselverhältnis: Im Erscheinen für uns lassen die Gartenpflanzen aus ihrer andrängenden »Zukünftigkeit« heraus die Gartensteine ihrerseits in deren »gewesende Gegenwart« eintreten – ganz so, wie Felsblöcke aus dem Moos emportauchen oder unter Bäumen in stummer Fremdheit mitanwesend sind. Umgekehrt lassen auch die wie aus einer anderen Zeit herüberkommenden Felsen ihrerseits Moos und Bäume in ihrer eigentümlichen Weise naturwüchsigen Sich-Zeigens zum Vorschein kommen, indem sie in ihrer unerschütterlichen Ruhe für den Betrachter gleichsam die Geschichtlichkeit des Ortes »übernehmen«, diesen an sich selbst »überliefern«. 201 Dieses Phänomen birgt in sich das Erscheinen einer Andersheit, die aus dem »Zwischen« der Dinge als eine zeitliche Spannung, als Zeitkluft und Zeit-Sprung, zutage tritt. Erfahren wird in der Phänomenalität des Gartens nicht ein ontologisches Baum-Sein oder Stein-Sein; erlebt wird das wechselseitig einander tragende, »gelassen-lassende« Erscheinen der Dinge. Vgl. dazu Heideggers Erläuterungen zur Geschichtlichkeit des Daseins: Heidegger, Sein und Zeit, [§ 74] S. 383–386.

201

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Der stumme Blick von Baum und Stein

Dieses Erscheinen wird in der Wechselbeziehung durchwaltet von einem Zeit-Riss, vom Sprung der Zeitlichkeit, die nie »etwas als etwas«, vielmehr stets nur eines aus seinem Anderen und eines mit seinem Anderen hervortreten lässt – über den »Zeit-Sprung« in der lebendigen Gegenwart hinweg. Das Erscheinen selbst erweist sich schließlich als ein zeitlich veranlagtes, in der Zeitlichkeit fundiertes, responsives »Lassen«. Wie bereits festgestellt, liegt die Urstiftung der naturwüchsigen »Gelassenheit« in einem »Sich-Zeigen«, das »von selbst« geschieht, nicht in einem »Sein«. An dieser Stelle tritt darüber hinaus Folgendes ans Licht: Die Urstiftung der »gelassen-lassenden« φύσις – des »von selbst« – gilt nicht nur nicht einem In-der-Zeit-Sein; ebenso wenig gilt sie einem In-der-Zeitsich-Zeigen. Die gelassen-lassende Urstiftung des Erscheinens ist nichts anderes als dasjenige Ereignis, in dem Zeit »sich zeitigt«. 202 Festhalten lässt sich zumindest, dass eine klaffende Zeitlichkeit, ein befremdlicher »Zeit-Sprung«, nicht aber blanke Gegenwart die verschiedenen Gegenstandswahrnehmungen im Garten durchwaltet. Insofern muss der »Zeit-Sprung« als ebenso fundierend für die Phänomenalität angesehen werden wie die eingangs beschriebenen Stimmungswerte und die leibhafte Affektion des Erfahrenden in seiner situierten Befindlichkeit.

7.

Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst

Bei der Analyse der Zeitlichkeit fiel auf, dass die Felsen in japanischen Gärten wie gezeichnet sind von einer eigentümlichen Andersheit oder Fremdheit: Indem sie erscheinen, ziehen sie sich zugleich in eine eigenwillige Unnahbarkeit und unvordenkliche Ferne zurück. Anhand dieser Erfahrung soll zum Schluss auf die besondere Dinglichkeit der Gartensteine eingegangen werden. In ästhetischer Hinsicht strahlen diese häufig eine beeindruckende Präsenz und Wucht aus, die eine tief ernste Stimmung über den ganzen Garten legt. Jeder einzelne Stein spricht aufgrund seiner individuellen Ausmaße und Konturen, seines raumplastischen Volumens, seiner Färbung und Maserung sowie mit Wärme- und Kälteassoziationen, ausgelöst durch seine je besondere Stofflichkeit, auf viel202

Ebd., [§ 65] S. 328.

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Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst

fältige Weise Gesicht und Tastsinn an und entfaltet so eine eigenartige dingliche Wirkmacht. Allerdings bleiben die Gartensteine in ihrer Naturhaftigkeit bestimmungs- und formlos; zumindest verweigern sie sich einer klar bestimmbaren Erscheinungsgestalt durch ihre buchstäbliche »Vielseitigkeit« – sie lassen sich von mehreren Seiten betrachten –, sodann durch eine konstitutive Vieldeutigkeit oder Bedeutungsfreiheit. Was lässt sich daraus lernen? Jean-Luc Marion hat gegen die These vom vermeintlichen »Realismus« der Malerei Gustave Courbets aufzuweisen versucht, was es heißen mag, dass Kunst die »Dinge als solche«, vor jeder Erfassung durch den Verstand oder die Einbildungskraft, hervortreten lässt. Im Gefolge Jan Patočkas sucht Marion offenkundig über eine figurativ darstellende Kunst Zugang zu erlangen zum »gesättigten Phänomen« (phénomène saturé) 203 vor jeder eidetischen Reduktion durch ein Bewusstseinssubjekt. 204 Die Malerei Courbets gestattet ihm gewissermaßen zu einer Phänomenalität vorzustoßen, in welcher anstelle von »Objekten« (objets) – vor jeder »Gegenständlichkeit« und »Konzeptualisierung« – die »Dinge« selbst (choses und res) 205 in der Wahrnehmung ereignis- oder akthaft aus dem »Ungesehenen« (invu) »auftauchen« (surgir), 206 um unmittelbar mit ihrer Erscheinung übereinzufallen. Sind die Gartenfelsen vielleicht ebensolche »Dinge« avant la lettre, an denen sichtbar würde, wie »[d]ie Natur bisweilen hinter der Form der Dinge zurückbleibt, im Rückzug ihrer eigenen Form, kurzum außerhalb der Form«? 207 Falls dem so sein sollte, wäre freilich der Maler durchaus nicht – wie Marion dies im europäischen Kontext suggeriert – der Einzige, der sich »der Aufgabe annimmt« (en répond), »Form oder Antlitz« (forme ou figure) der Dinge so wiederzugeben, wie es ihnen »als solchen« (comme telles) »ent-spricht« (cor-respond). 208 Auch der japanische Gartenkünstler vollbrächte in den Gartensteinen eine ähnliche Leistung, auch er höbe in seinem »antJean-Luc Marion, Courbet ou la peinture à l’œil, Paris : Flammarion, 2014, S. 29/ 135. 204 Ebd., S. 94–95. 205 Ebd., S. 170. 206 Ebd., S. 48/ 85/ 114. 207 Ebd., S. 131 : »La nature parfois reste en retard sur la forme des choses, en retrait de sa propre forme, bref hors de forme.« 208 Ebd., S. 133. 203

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Der stumme Blick von Baum und Stein

wortenden«, »gelassen-lassenden« Eingehen auf die Natürlichkeit der ausgewählten Steine diese in ihrem reinen So-Sein ins Erscheinen. Damit aber diente der Gartengestalter nicht weniger als der Maler nach Marion der »Wahrheit«. 209 Womöglich sind die Steinsetzungen in japanischen Gärten sogar noch besser geeignet als Courbets Malerei, dem Phänomenologen einen Rückgang auf das Erscheinen und die blanke »Gebung« der Dinge 210 diesseits jedes sinnhaften »etwas als etwas« zu eröffnen. Der ästhetisch an der modernen und zeitgenössischen Kunst geschulte Betrachter ist leicht versucht, in jedem Gartenfelsen ein Kunstwerk zu erblicken, welches mit größter Freiheit und sinnlicher Präsenz das Thema »Ding als solches« durchzuspielen scheint. Doch ist diese ästhetische Sichtweise ausreichend? Ist sie überhaupt berechtigt? Und wenn ja, was – außer, dass sie naturbelassen, bisweilen geschichtsträchtig und stets nur im Zusammenhang einer Gartenanlage anzutreffen sind – unterscheidet die so ansprechenden Felsen gleichwohl von künstlerischen Gebilden? Ein erster Seitenblick auf die spröden »Objekte« der Minimal-Art mag helfen, Bezugspunkte und Grenzlinien aufzuklären. In Ablehnung des individualisierenden und expressiven Moments an traditioneller Kunst 211 erklärten sich einige nordamerikanische Nachkriegskünstler zum Feind gegenüber aller »Künstlerei und ›Künstelei‹« (artistry and ›artiness‹) 212 und verfolgten den skeptisch Kunst negierenden Traum vom völlig unkünstlerischen, »anonymen« Objekt. 213 Gegen das europäische »Bildermachen« (pictorialism) erstrebte man die Selbstüberbietung der Kunst durch ein »künstlerisch Äußerstes« (artistically furthest-out) und das streng dinghafte »Aussehen von Nicht-Kunst« (look of non-art). 214 Diese »Kunst der Buchstäblichkeit« (literalist art) 215 zielte ab auf Ebd., S. 197. Ebd., S. 10/ 114/ 158. 211 Oona Doyle et. alt., Minimal Art from the Marzona Collection, London : Galerie Thaddaeus Ropac, 2017, S. 27. 212 Ebd., S. 24. 213 Ebd. 214 Clement Greenberg, »Recentness of Sculpture«, Gregory Batcock (Hg.), Minimal Art. A Critical Anthology, Berkeley: UC Press, 1995, [180–186] S. 183. 215 Michael Fried, »Art and Objecthood«, Batcock, Minimal Art, [116–147] S. 117. 209 210

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Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst

die »einfache Gestalt« (single shape), 216 die »Nacktheit einheitlicher Objekte« (bareness of unitary objects), 217 die »nackte Einzigartigkeit« (bare uniqueness) reiner Dinglichkeit. 218 Bis hierhin scheinen Werke des Minimalismus Wesentliches mit Gartensteinen gemein zu haben: die individuelle Einzigartigkeit der nackten Gestalt ohne Bedeutungsgehalt, die scheinbar bestimmungsfreie Dinglichkeit, das nicht-künstliche und nicht-künstlerische Moment. Jedoch sehen beide Arten von Gegenständen ganz und gar verschieden aus. Wenn nach Donald Judd nur »das Ding als ein Ganzes, seine Beschaffenheit als ein Ganzes« 219 in die Erscheinung treten soll, widerspricht dem die reiche, ästhetisch oft ungeheuer aufregende Oberflächentextur von Gartenfelsen eklatant. Fraglich ist zudem, ob auch von ihnen gelten kann, was David Raskin von den Objekten der Minimal-Art behauptet: »Das physische Objekt wird zur ›gefühlsgeladenen Form‹, ein von Judd in ›spezifischen Objekten‹ geltend gemachtes Kunstwerk überträgt ›biopsychologische Energie‹ vom Künstler auf den Betrachter.« 220

Auch im Minimalismus behält schlussendlich doch »Kunst« die Oberhand; der Betrachter erwartet gefühlsmäßig bewegt zu werden von dem, was er ansieht. Die japanischen Steinsetzungen verweisen hingegen nicht auf einen Schöpfer und dessen »Energie« – sei es auch nur in der paradoxen Form negierter Kreativität. Ebenso bleibt ihre emotionale Wirkung – wenn überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann – weitaus ungebundener und offener. Die Anrührung, die dem Betrachter seitens der Gartensteine widerfährt, ist von gänzlich anderer Art als jenes ästhetische Spiel mit

Ebd., S. 119. Irving Sandler, »Gesture and Non-Gesture in Recent Sculpture«, Batcock, Minimal Art, [308–316] S. 311. 218 Richard Wollheim, »Minimal Art«, Batcock, Minimal Art, [387–399] S. 399. 219 Donald Judd, »Specific Objects« [Arts Yearbook 8, 1965], D. Judd, Complete Writings. 1959–1975; Gallery reviews, book reviews, articles, letters to the editor, reports, statements, complaints, Halifax: Nova Scotia College of Art and Design, 1975, [181–189] S. 187: »the thing as a whole, its quality as a whole«. 220 Brett Gorvy et alt., Donald Judd. Selected Works from the Judd Foundation, New York: Christie’s, 2006, S. 91: »The physical object becomes an ›emotive form‹, a work of art that Judd asserted in ›specific objects‹ transmits ›biopsychological energy‹ from the artist to the viewer.« 216 217

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Der stumme Blick von Baum und Stein

dem Kunstbegriff, welches der Minimalismus mit seinen »objects« zu inszenieren gedenkt. Haben die Gartenfelsen vielleicht mehr mit den – ebenfalls minimalistisch anmutenden – Steinskulpturen und Freiluftinstallationen eines Ulrich Rückriem gemein? Seine kaum bearbeiteten, nur geringfügig eingeschnittenen oder gespaltenen, überaus klobigen »Natursteine« stellt der Künstler als »Naturzitat« 221 vorzugsweise unter freiem Himmel auf. Anscheinend möchte er den Betrachter »eine Skulptur von innen wahrnehmen«, ihn »sich in den Stein hineinbegeben« 222 lassen. In der gewaltsamen Spaltung des Granits kann man den Versuch einer »Offenlegung der inneren Stein-Beschaffenheit« 223 erblicken. Dabei geht es Rückriem ausdrücklich um die Steine als Steine; 224 ausgestellt wird deren »elementare Naturhaftigkeit und archaische Kraft.« 225 Doch werden Gartensteine »ausgestellt«? Rücken sie eigens ihre »elementare Naturhaftigkeit« vor unseren Blick? Im Kontrast zu Rückriems Steinskulpturen wirken Gartenfelsen weitaus freier und würdevoller, als wären sie »von selbst« an diesen Ort gelangt, als ruhten sie in sich selbst. Insofern auch sie »als Steine« sich zeigen, insofern sie nur so erscheinen wollen, wie sie sind, kann doch festgehalten werden: Sie wollen dabei nicht in besonderer Weise Steine sein; ebenso wenig wollen sie offenbar ausdrücklich bloße Natur sichtbar machen – in Abhebung von Kunst und Kultur. Weder »reine Objekte« noch »naturhaft« wirkende Steininstallationen der Kunst sind in der Lage, uns den rechten Zugang zur ästhetischen Erfahrung von Gartensteinen zu eröffnen. So paradox es klingen mag, womöglich sind dazu am ehesten so explizit künstlerische, durch und durch künstlich geschaffene Gebilde wie einige Bronzeplastiken von Per Kirkeby 226 geeignet. Weist nicht die Jürgen Hohmeyer, Ulrich Rückriem, München: Schreiber, 1988, S. 10. Ebd., S. 7. 223 Ebd., S. 28. 224 Ebd., S. 78. 225 Max Wechsler, Ulrich Rückriem. Monteagudo, CABS, 2009, S. 69. 226 Heranzuziehen wären neben der Serie mit dem Titel Arm und Kopf (1983– 1985) Werke wie Neuer Läsö-Kopf (1984) oder Stehender Kopf (1986); siehe dazu: Erika Rödiger-Diruf u. a. (Hg.), Per Kirkeby, die Karlsruher Jahre [Ausstellungskatalog, Städtische Galerie Karlsruhe, 23. September bis 26. November 2000], Karlsruhe: Städtische Galerie Karlsruhe, 2000, Kat. Nr. 82–90. 221 222

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Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst

unbearbeitete, unebene Steinoberfläche mit ihrer reichen Maserung und schillernden Patina, weist nicht auch die unglaubliche Verdichtung, mit der Gartensteine in aller Regel ihr Raumvolumen erfüllen, eine aufschlussreiche Verwandtschaft mit Kirkebys Kunstwerken auf? Abgesehen vom Titel stellen dessen torsoartige Plastiken keine klar bestimmbare Bedeutung zur Schau. Allerdings wirken sie in der Binnenstruktur ihrer Oberflächen, worin sich ein aufwändiger und langwieriger Herstellungsprozess niedergeschlagen hat, äußerst »künstlich« und »gemacht«. In ihrer aufdringlich gewichtigen »Anonymität« 227 stellen diese Werke ein scheinbar völlig inhaltloses »autonomes Formereignis« 228 dar. Eine ästhetische Nähe zwischen Gartenfelsen und Kirkebys unförmigen Bronzeklötzen tritt zumal dann zutage, wenn letztere mit Ulrich Wilmes angeschaut werden als »figurative Reflexionen über die Entstehungs- und Verfallsprozesse in unserer Lebenswelt, die sich unserem Zugriff entziehen«. 229 Noch deutlicher formuliert Dieter Brunner: »Das Material wird Geschehen.« 230 Die vehement verdichtete Durcharbeitung und Oberflächenbildung von Kirkebys Arbeiten lasse »vermuten, dass der Prozess der Entstehung sowohl über das Machen als auch über das Wachsen erfolgt sein könnte«. 231 Wir können darin einer »Formung durch Naturgewalten durch die Zeit« ansichtig werden, »Affinitäten zu erd- und landschaftsgeschichtlichen Prozessen« 232 gewahren. Womöglich könnte unser moderner Blick auf Kirkebys Kunst sich umgekehrt am Anblick japanischer Steinsetzungen schulen. Die ästhetische Wirkung der Plastiken des ehemaligen Geologen Kirkeby mag eine ähnliche »Naturwüchsigkeit« ans Licht bringen, wie sie Gartengestalter in Japan bei der Auswahl und Aufstellung

Ulrich Wilmes, »Unterwegs zwischen Zuständen – Die Bronzeplastiken von Per Kirkeby«, Ulrich Wilmes, Per Kirkeby – Die Bronzen; Werkverzeichnis, Köln: König, 1998, [13–33] S. 16. 228 Ebd., S. 33. 229 Ebd. 230 Dieter Brunner, »Der figürliche Aspekt im plastischen Werk von Per Kirkeby«, Arie Hartog u. a. (Hg.), Per Kirkeby. Skulpturen und Zeichnungen, Terrakotten, Bremen: Gerhard Marx-Stiftung, 1997, [10–24] S. 16. 231 Ebd. 232 Ebd. 227

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ihrer Felsen verfolgten und bis heute verfolgen. Diese Naturwüchsigkeit tritt in Erscheinung als quasi-künstliche Verdichtung dinghafter Präsenz. In diesem Phänomen kreuzt sich unsere künstlich bedeutungsgeladene Anschauung in jedem Detail mit einem reinen »von selbst« diesseits jeder künstlerischen Intentionalität. Assoziationen wie die in der Fachliteratur zu Kirkeby vorgetragenen sind schwerlich von der Hand zu weisen, sobald wir Gartensteine ästhetisch erfahren. Dabei sollten wir sie indes nicht nur »als« Dinge, Steine oder Muster im Garten wahrnehmen; vielmehr wollen diese Dinge durchaus – analog zu Kirkebys Plastiken – bis in alle Einzelheiten ihres »Wuchses« sinnlich abgetastet und sinnhaft erlebt werden. Freilich entfalten selbst vereinzelte Steine im Ensemble eines Gartens noch andere Dimensionen als dies eine per definitionem individuierte Skulptur vermag. Diese Phänomene sollen nach dem vergleichenden Exkurs in die zeitgenössische Kunst nunmehr gezielter erkundet werden. Auf den ersten Blick mögen Felsen in japanischen Gärten, zumal wenn sie unter Bäumen, in Moosbeeten oder an Teichufern begegnen, im Kontrast zur organischen Welt ringsum tot, stumm, gestaltlos, sinnfrei wirken. Dennoch entfalten selbst diese Felsen eine überraschende Fülle von Anmutungscharakteren, darin gar nicht so verschieden von Bambus und Moos, Kiefernbaum und Ahornlaub. Schon vereinzelte Steinklötze verkörpern mitunter eine intensive Präsenz, die von ihrer undurchdringlichen Härte und ihrem Gewicht ebenso gefördert wird wie von dem Umstand, dass ihnen keinerlei Bedeutungsassoziation eine bestimmte Stelle im Gesamtkontext zuweisen kann. Nicht Unscheinbarkeit oder Belanglosigkeit resultieren in der ästhetischen Erfahrung aus der Konturarmut der Gartensteine; ganz im Gegenteil, durch ihre Bestimmungslosigkeit erlangt ihr Sich-Zeigen am jeweiligen Ort eine besondere Aura. Tatsächlich umweht diese »naturwüchsigen« Gebilde oftmals ein Benjamin’scher Hauch von Unnahbarkeit und Ferne. Nicht zuletzt dem Umstand ihres Unbearbeitetseins dürfte die einzigartige Anrührungs- oder gar Anziehungskraft zuzuschreiben sein, die zahlreiche Steinsetzungen entfalten. Gerade die Naturbelassenheit erhöht die in den Umrissen zumeist schlichte, gleichwohl unbestimmbar komplexe Gestalt zu einem schier unerschöpflichen Reichtum, was Tönung, Stoffsinnlichkeit, Muster der Gesteinsadern und Oberflächenpatina betrifft. Ein in ästhetischer Hinsicht 136 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

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hervorstechendes Merkmal, das immer wieder anzutreffen ist, lässt sich kennzeichnen als paradoxe Spannung zwischen sinnhaft-sinnlicher Fülle – dem Anschein von Bedeutsamkeit – einerseits und der Verweigerung jeder eindeutigen Sinngebung auf der anderen Seite. Ist diese leibhaft erfahrbare, unauflösliche Spannung vielleicht ein Beleg für jenes Phänomen, das der späte Merleau-Ponty unter dem Titel »Fleisch« zu denken suchte? Für Anschauung und Einfühlung sind Gartenfelsen gleichermaßen undurchdringlich. Im Grunde genommen fällt es daher nicht leicht, sie schlichtweg als das zu sehen, was sie rein für sich genommen sein könnten, nur wahrzunehmen, was sich da in einem nackten So-Sein zeigt, diesseits jeder allegorischen Bedeutsamkeit. Gerade inmitten der vom Menschen gestalteten Gartenumgebung, zwischen der in die Zukunft drängenden Naturwüchsigkeit der grünen Flora, tritt uns vonseiten unbehauener Steine eine ganz anders geartete Natürlichkeit entgegen. Es scheint, als wären diese naturbelassenen Blöcke noch natürlicher als Pflanzen, als käme überhaupt erst ihnen so recht jenes »von selbst« zu, das für die altchinesische Naturvorstellung leitend war. Diese Felsen sind offenbar am ehesten dazu angetan, die Dinglichkeit der Dinge als naturwüchsiges Sein nicht bloß zu verkörpern, sondern offenbar zu machen. Nach Abzug jeglichen metaphorischen Gehalts strahlen sie nur radikale Fremdheit aus. Es lässt sich gewiss nicht leugnen, dass auch die Steinklötze im Garten – darin den »Gebärden« alter Kiefernbäume verwandt – eine ausgeprägte Individualität und Ausdruckskraft an den Tag legen, dass sie wie Kirkebys Plastiken ihre je eigene Physiognomie darbieten. Indem sie sich jedoch ungeachtet dieses Eindrucks weitestgehend einer identifizierenden Bestimmung »als etwas« entziehen, indem sie jeweils ein radikal Partikulares verkörpern, behaupten die Steine so etwas wie eine konkrete Allgemeinheit. Sie stellen eine bestimmungslos diesseitige Andersheit zur Schau, die von keiner dialektischen Überbietungsfigur erfasst werden kann. Diese Felsen blicken ihrerseits den Betrachter stumm an; sie scheinen ihm lediglich bedeuten zu wollen: An diesem Ort ist nichts! Alles ist so, darüber hinaus gibt es nichts! Es ist, als ob mit ihrer totalen Negation von Transzendenz dem Betrachter sein diesseitiges »Da« in abgründiger Fremdheit eröffnet würde. In äußerster Konkretion

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scheinen Gartensteine den Ort aufzuschließen, den der Mensch in seinem Dasein »zu übernehmen hat«. 233 Im Garten des Rokuō-ji 鹿王寺 in Kyōto erblickt der Besucher auf der Seite der Reliquienhalle (shariden 舍利殿) eine Gruppe von Steinen, die in lose offener Ringformation um eine alte Kiefer herum ausgelegt sind. Der Anordnung fehlt es offenkundig an Symmetrie und Harmonie; eine Ordnung ist nicht recht zu erkennen. Besonders mehrere dunkle, flach liegende Steine, die nur ein klein wenig aus dem Moosgrund hervorragen, wirken in diesem Ensemble, als ob sie eine Art »Niemandsland« aus dem Bezirk herausschneiden wollten, gleichsam einen Ort der Nichtzugehörigkeit. Wie ein finsteres Loch in dem allegorisch an bewaldete Gebirgszüge erinnernden Ensemble zerbrechen diese Platten den Zug des Assoziierens; sie verweigern sich der Deutung. Die von ihnen markierte Stelle ist wie ein »Ort« ohne Bestimmung, ein blankes »So«. Ungeachtet buddhistischer Sinnzuschreibungen oder existenzphilosophischer Sichtweisen führt die Frage nach der Eigenart dieses Phänomens fast zwangsläufig zurück auf die »Wehmut um die Dinge« und die »Aura«. Was Didi-Huberman Kunstwerken zuschreibt, trifft ebenfalls auf diese rohen, bestimmungslosen Steine zu; sie sind »ein Ding zum Anschauen, das, so nah es auch sein mag, sich doch in die hohe Einsamkeit seiner Form zurückfaltet«. 234 Einem schwarzen Abgrund gleich, strahlen diese stumm beredten Flachsteine inmitten der Weltfülle wehmütigen Entzug, eine Sehnsucht ohne Namen aus. Allerdings geht die metaphorische Rede von »Loch« oder »Abgrund« angesichts dessen, was sich da zeigt, auch wieder völlig fehl. Denn an dieser Stelle gewinnt die auratische »Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag«, eine stoffsinnliche Qualität; die Aura wird hier sozusagen »Fleisch«. Diese Gartenfelsen sind nicht mehr als was sie sind; ihr offen zutage liegendes Erscheinen und ihr Sein fallen überein. Doch gerade darum bekommt der Betrachter in ihrer Erscheinung das Sein nicht zu fassen; eine Widerständigkeit und Andersheit wird da im dinglichen Erscheinen selbst, im »Fleisch« der Erscheinung, wirksam und entzieht dieses unserem Zugriff. Wir erfahren eine radikale Fremdheit Heidegger, Sein und Zeit, [§ 53] S. 264; [§ 58] S. 284/ 287. Didi-Huberman, Ce que nous voyons, S. 177: »une chose à voir qui, si proche soit-elle, se replie dans la haute solitude de sa forme«.

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des Seins, die wirksam wird als ein Befremden unseres leiblichen Selbst. Dem Schauenden schlägt eine Unverfügbarkeit entgegen, die vor jedem metaphysischen Seinsbegriff im Diesseits des Phänomenerlebens, im Leiblichen oder eben im »Fleisch der Welt« wurzelt. Letztlich betrifft jene Fremdheit, die Gartenfelsen exemplarisch austragen, die Erscheinungswirklichkeit insgesamt in ihrer widerständigen Undurchsichtigkeit. Solche Steine sind weder Natur noch Kunst. Umso mehr sind sie dazu angetan, zwischen beiden Sphären zu vermitteln; diese Vermittlung ereignet sich indes im Erscheinen selbst und betrifft nicht einen vermeintlichen ontologischen Status. Nach Abzug aller Sinngehalte führen Gartensteine mit größter Eindringlichkeit den Sinn von Phänomenalität schlechthin vor. Was Didi-Huberman an Werken der bildenden Kunst aufweist, gilt erst recht angesichts der auratischen Wirkmacht nicht weniger Steinsetzungen: Das Erscheinende tritt als »unnahbar« (inapprochable) hervor; ein »Abstand« (distance) versetzt denjenigen, dem solches Erscheinen widerfährt, unweigerlich in eine Haltung der »Ehrfurcht und Achtung« (respect) gegenüber dem Erscheinenden. 235 Von hier aus lässt sich erneut die von der jüngeren Phänomenologie verfolgte Frage zum Verhältnis von Immanenz und Transzendenz im Erscheinen aufwerfen. 236 Es stellt sich dabei heraus, dass im »Fleisch der Welt« als einem anderen Namen für Phänomenalität eine unnahbare Fremdheit mit dem lichten Erscheinen – das Moment der Transzendenz mit dem der Immanenz – aufs innigste verwachsen ist. 237 Wie können stumme Felsen ein so intensives Sehbegehren in uns anrühren? Auf den ersten Blick mögen die obenstehenden Beobachtungen und Überlegungen abwegig oder überzogen anmuten. Doch womöglich klärt das paradoxe Aufscheinen einer radikalen Unverfügbarkeit an Gartensteinen – das konkrete Sich-Zeigen desjenigen Entzuges, der allem Erscheinen als solchen innewohnt – den Sinn der Rede vom »Fleisch der Welt«. In ihrer befremdlichen PhäEbd. Barbaras, Le désir de la distance, S. 45; Barbaras, Dynamique de la manifestation, S. 49/ 128/ 321. 237 Barbaras, Dynamique de la manifestation, S. 171. In der Gesamttendenz ähnlich argumentiert Didier Franck in Chair et corps. Sur la phénoménologie de Husserl (Paris: Les Editions de Minuit, 1981). 235 236

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Der stumme Blick von Baum und Stein

nomenalität verweigern sich Gartenfelsen traditionellen philosophischen Zuschreibungen wie »Seiendes«, »Ding«, »Materie«. Mit diesen Begriffen lässt sich nicht angemessen denken, was solche Steine, als Phänomen genommen, ausmacht. Ihrer Phänomenalität kommt die metaphorische Rede vom »Fleisch« insofern näher, als darin die Zugehörigkeit zum Schauenden, zu dem das Phänomen als dieses Phänomen Wahrhabenden, in dessen Leiblichkeit benannt wird. Vermittels dieser Grundverbundenheit sind Felsen imstande, diesseits der Teilung von Natur und Kultur am jeweiligen Ort das Welthafte an allem Erscheinen aufgehen zu lassen. In der zentralen Rolle, die bei dieser Phänomenerfahrung der Leiblichkeit zukommt, mag sich auf einer höheren Fundierungsstufe erneut das Moment der stimmungsmäßigen Fundierung allen Erscheinens in der leiblichen Befindlichkeit wiedererkennen lassen. Einen starken Eindruck von der gleichsam »fleischlichen« Undurchdringlichkeit der Dinge vermittelt ein archaisch wirkender Steingarten mit Namen Senyū-en 仙遊苑, den Shigemori 1972 als Mahnmal um den winzigen Zennō-ji 善能寺 im Tempelareal des Sennyū-ji 泉湧寺 in Kyōto angelegt hat. Indem ich mich angeblickt wähne von den stummen Steinen, erzeugt sich unweigerlich eine Resonanz in meinem Leib-Sein. Im leibhaften Mitschwingen mit der kahlen Abgründigkeit der leblos starren und doch so lebhaft anrührenden Felsklötze verflüchtigen sich Bedeutsamkeit und Denken. Diese steinernen Zeugen der Wirklichkeit stehen diesseits aller sinnträchtigen Erscheinungen. Angesichts ihres versteinerten »Fleisches« mit seiner ganzen Widerständigkeit und Befremdlichkeit überkommt mich »Wehmut« um meine eigene Leiblichkeit. Am Felsen schaue ich das »Fleisch« meines eigenen Seins-zur-Welt an, werde ich meines leiblichen und verwundbaren Ausgesetztseins in der Öffnung auf die phänomenale Welt hin inne. Wo meine Leiblichkeit zum Leib der Dinge geworden ist, wo sie unmittelbar vom Leib der Dinge auf mich zurückstrahlt, da bedarf es keiner Deutung mehr. Der Leib der Dinge flößt – wie sonst nur der des Anderen – tiefe Wehmut und Achtung ein. Ist das »Fleisch der Welt« letztlich eine andere Bezeichnung für die altjapanische Erfahrung des mono no aware, der »Wehmut um die Dinge«? Merleau-Pontys Idee des »Fleisches« erweist sich vor diesem Hintergrund als nicht-metaphysische Kennzeichnung eines »reinen So«, ebenso als treffendste Charakterisierung dessen, was 140 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Die Fremdheit der Felsen zwischen Natur und Kunst

»Qualität« als phänomenaler Erlebnisbestand meint – noch diesseits aller phänomenologischen »Qualia«, die intentionalen Gegenständen zugeschrieben werden. Wenn Transzendenz, Andersheit oder Fremdheit der Welt nicht einfach ein Gegenüber setzen, wenn dieses Fremde seinerseits im menschlichen Weltzugang mit in Erscheinung tritt, dann muss diese Fremdheit die ganze Phänomenalität, muss sie das Phänomenwerden selbst durchziehen wie ein Schnitt-Kontinuum. Gegenüber herkömmlichen Bestimmungen der dinglichen Wirklichkeit wie gegenüber einer nach wie vor anthropomorph vorgestellten »Leiblichkeit« ist das an Gartensteinen erfahrene Phänomen des »Fleisches« eher in der Lage, der paradoxen Fremdheit der erscheinenden Welt in ihrer »fleischlichen« Verwandtschaft mit uns Menschen einen angemessenen Namen zu geben.

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V. Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

1.

Japanische Gärten und die Phänomenologie

Mit zunehmender Ausschließlichkeit ist der Zeitgeist heute ein technologisch geprägter; ein szientistisch reduktiver Naturalismus beherrscht unsere Weltsicht, und einseitig bestimmen materielle Güter unseren Zugang zum Wirklichen. Es besteht Anlass zu der Befürchtung, der Mensch könnte drauf und dran sein, sich selbst und das Menschliche an die Dinge – zumal an von ihm selbst produzierte – zu verraten; dabei gäbe er freilich gleichermaßen sich selbst und die Dinge auf. In der Regel wird diese Entwicklung einem entfesselten Materialismus angelastet. Doch was verbindet uns eigentlich noch mit materiellen Dingen? Die Digitalisierung aller Lebensvollzüge schreitet unaufhaltsam voran. Roboter und »künstliche Intelligenz« halten Einzug in unseren Alltag. Konsumistische und populistische Massenhysterien sind zur Plage des Zeitalters geworden. Anonyme Algorithmen treiben den allgemeinen Realitätsverlust auf die Spitze. Mit schwerwiegenden Folgen hält eine »virtuelle Welt« unsere gesamte Lebenswirklichkeit im Griff. Ist womöglich das Materielle seinerseits bereits dabei, vom »Virtuellen« verdrängt zu werden? Auf dem Spiel steht die Wiedergewinnung der Welt in Zeiten ihres Entzugs. Eine Schlüsselrolle kommt dabei unserer Haltung gegenüber der Natur zu. Die unleugbare Verwobenheit von Kultur und Natur betrifft indes nicht nur unsere Umwelt; sie betrifft ebenso unser Selbstverständnis als leibliche Wesen. In der gegenwärtigen Welt ist es nicht einfach, unseren Bezug zu naturwüchsigen Dingen gedanklich zu durchdringen, ihn gar neu zu regeln. Wir sollten uns fragen, inwieweit wir überhaupt noch bereit sind, uns im Rahmen unserer technizistischen Lebenswelt auf Natur einzulassen. Wo alle Dinge allein für den Menschen da zu sein scheinen, wo sie auf die menschlichen Bedürfnisse zu143 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

geschnitten und menschlicher Verfügungsgewalt unterworfen werden, sind letztlich wir selbst die Leidtragenden. Wir berauben uns so der Möglichkeit zur Begegnung mit einer Andersheit des Dinglichen und zur offenen Erfahrung im Umgang mit diesem. Eklatant tritt dieser Wesensverlust im Bereich künstlerischen und ästhetischen Verhaltens zutage. Ein breites Erschlaffen der Aufmerksamkeit gegenüber allem Nicht-Sensationellen, eine mangelnde Empfindungsfähigkeit gegenüber Nicht-Gängigem, Sperrigem, Uneindeutigem und Befremdlichem, eine zunehmende Trägheit, sich dem leibhaften Erleben sinnhaft-sinnlicher Verhältnisse überhaupt noch hinzugeben, all dies kommt am spürbarsten und schmerzlichsten auf dem Feld der Kunst ans Licht. Kunst macht freilich nicht nur Symptome eines allgemeinen Unbehagens sichtbar; womöglich ist ästhetische Praxis sogar ein ausgezeichneter Ort, um erneut Wertschätzung und Anerkennung gegenüber der Wirklichkeit zu lernen. Ansonsten droht der Mensch sich selbst zu liquidieren, indem er sich von einer technisch manipulierten Dingsphäre abhängig macht und sich ganz dem geschlossenen Schein seiner Objekte unterwirft. In ihrer Verschmelzung des künstlich-künstlerischen Moments mit naturwüchsiger Dinglichkeit ist die Gartenkunst besonders geeignet, das soeben umrissene Nachdenken zu inspirieren. Hauptthema der voranstehenden Erkundungsgänge durch japanische Gärten war denn auch die Begegnung mit kulturell überformter Natur. Ebenso ging es um unseren Zugang zu dieser Erscheinungswelt, um die Frage nach dem »Erscheinen«. Die Auseinandersetzung mit typischen Gartenerfahrungen gab dabei einen Probierstein ab für die Stichhaltigkeit philosophisch-kritischer Überlegungen. Im Bemühen um ein konkretes Denken fungierte die ästhetisch-phänomenologische Analyse eigenen Erlebens als Korrektiv systematischer Reflexion. Ausgehend von Phänomenen, die in namhaften Gartenanlagen für jedermann zugänglich sind, wurde versucht zu klären, wie sich diese Gebilde einer ästhetischen Sicht darbieten, auf welche Weise sich da Anschauung und Erleben konstituieren. In gewissem Sinne ging es also um eine »Phänomenologie des japanischen Gartens«. Verfolgt wurde jedoch nicht die systematische Auflistung wesentlicher Strukturelemente und klassischer Erscheinungsformen; vielmehr galt es, gegenüber alltagsmäßigen und naiven Betrachtungsweisen eine ästhetisch-phä144 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Japanische Gärten und die Phänomenologie

nomenologische Epoché aufrechtzuerhalten, um tatsächlich über Gärten in ihrem phänomenalen Gegebensein, nicht in ihrem ontisch-realen Bestand, nachzudenken. Nur auf diesem Wege konnte zugleich eine kritische Reflexion auf Phänomenalität als unseren allgemeinen Weltzugang ausgearbeitet werden. Neben den konkreten Verhältnissen, die sich dem Besucher eines japanischen Gartens in ästhetischer Einstellung darbieten, wurden philosophische Grundüberzeugungen und Vorannahmen sichtbar. Eine Selbstreflexion des phänomenologischen Verfahrens darf nie in abstracto durchgeführt werden; sinnvoll wird die methodologische Besinnung erst in der Erörterung welthafter Sachverhalte. Insofern für die Philosophie insgesamt, erst recht aber für die Phänomenologie jederzeit der Rückgang auf unseren fundamentalen Weltbezug geboten ist, soll das Nachdenken nicht in bloße Begriffsklauberei abdriften, wäre es allzu billig, die vorstehenden Beobachtungen und Analysen zu japanischen Gärten als lediglich illustrativ zu werten, sie gar als abwegige und unzulässige Vermengung zweier Argumentationsebenen abzutun. Aufgrund der phänomenologischen Ausrichtung dieser Studie mussten historische und buddhismuskundliche Implikationen japanischer Gartenkultur hintangestellt werden. Allerdings gewann diese Forschung nicht zuletzt durch Anregungen vonseiten ostasiatischer Philosophie und Ästhetik Konturen. Insbesondere das Phänomen des Schnitt-Kontinuums, wie es Ōhashi in der Nachfolge der Kyōto-Schule (Kyōto-gakuha 京都學派) für das ästhetische Denken erschlossen hat, erwies sich als fruchtbare Schlüsselfigur. Einen weiteren Leitfaden stellten die altjapanische Aufmerksamkeit für eine »Wehmut der Dinge« oder »Wehmut um die Dinge« (mono no aware 物の哀れ) und der Gesichtspunkt der »dunklen Hintergründigkeit« (yūgen 幽玄) dar. Einerseits entzieht sich immer etwas im Erscheinenden, das selbst nicht in Erscheinung tritt, ohne dass es sich dabei um ein metaphysisch zu überhöhendes Moment, um prinzipiell »Unsagbares« und »Unzeigbares« handelte; viel eher kommt da eine innige Verbindung des schauenden Menschen mit dem Geschauten ins Spiel, die im Erscheinen selbst wirksam wird. Gegen spiritualistische Vorurteile bedeuten diese in Ostasien früh aufgedeckten und reflektierten Phänomene, dass der Mensch von vornherein und in ganz und gar grundlegender Weise sowohl stim-

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Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

mungsmäßig als auch leiblich involviert ist in die Erscheinungen, noch bevor die eigentliche Anschauung derselben einsetzt. Der große Problembereich unseres Naturverständnisses wurde ferner an den Schnittpunkten zwischen Naturwüchsigkeit und der gärtnerischen Kulturtätigkeit durchleuchtet, also gleichsam von der Seite her, quer zu systematischen Behandlungsweisen. Aufschlussreiches Anschauungsmaterial dazu lieferte die Art und Weise, wie wir Gartenbäume und Steinsetzungen in ästhetischer Einstellung erleben. So lässt sich das heute vorherrschende Naturverständnis mit der vormodernen ostasiatischen Idee des »von selbst« konfrontieren. Im Zuge dessen gewinnt auch Heideggers Nachdenken über »Gelassenheit« eine verblüffende Bedeutung. An der »gelassen-lassenden« Wachstumsgestalt skurriler Kiefern wird bei entsprechender Beleuchtung etwas Entscheidendes sichtbar. Ihr zwischen Natur und Kultur vom Gärtner »gelenkter« Wuchs gleicht einer Gebärde; in ihrer statischen Gestalt kommen ein Wechselverhältnis und eine Bewegtheit von erheblicher Zeitdauer zum Vorschein. Angeschaut als »Bewegungsgestalt«, zeugt der ausdrucksstarke Baum von der spannungs- und konfliktreichen Auseinandersetzung zwischen menschlichem Eingriff und natürlichem Wachstum. »Natur« erscheint da erstens als ein Werden in offener zeitlicher Entfaltung, nicht als ein wesenhaft bestimmtes So-Sein. Zweitens umfasst diese »Natur« den Bereich des Menschengemachten; sie hat die geschichtlich-kulturelle Dimension menschlichen Tätigseins ganz und gar in sich aufgenommen. Drittens ergibt sich da Naturwüchsigkeit aus einem wechselseitigen, responsiven »Lassen« und »Eingelassen-Sein«: Der Gartengestalter lässt sich auf den Baumwuchs ein, wie der Baum sich umgekehrt, mit seinem in die Zukunft gerichteten Wachstum antwortend, auf die menschliche Gestaltungsarbeit einlässt. Insofern ist das »von selbst«, welches Naturwüchsigkeit dem ostasiatischen Begriff nach verkörpern soll, von vornherein nicht isoliert zu betrachten. Das »von selbst« des Naturwüchsigen antwortet auf die Kulturalität des Menschen, und in dieser Antwort offenbart es ein Moment der Widerständigkeit und Freiheit. Die sinnfällige Baumgestalt verkörpert den Hinweis auf ein gewandeltes Handlungsmodell. In der Anschauung des »von selbst« an der sinnfälligen Wachstumsgestalt eines Gartenbaumes können wir lernen, wie unser zielstrebig herstellendes Tun und Machen im 146 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Japanische Gärten und die Phänomenologie

Umgang mit Naturwüchsigem umschlägt in ein freies Lassen. Der Baumerscheinung kann eine Ethik des Lassens entnommen werden. Jedoch bedeutet dieses responsive Lassen durchaus keinen Gegensatz zu zielorientiertem Handeln; vielmehr wäre menschliches Tun einzulassen in einen Weltbezug, in welchem es Freiheit gewönne gerade aus dem »gelassen-lassenden« Verzicht auf eine totale Verfügung des Subjekts über Natur. Die technizistische Gegenwart müsste sich wieder besinnen auf ein responsives, »gelassen-lassendes« Miteinander mit einem nicht länger schroff entgegengesetzten Bezirk der Natur. So könnte der Mensch womöglich ein Stück weit zu seinem eigenen »von selbst«, zu seiner eigenen Freiheit gelangen. Diese Freiheit würde sich indes nicht im Handeln gegen die Welt und den Anderen behaupten; auch würde sie sich nicht länger als Beherrschung der Natur verstehen. Stattdessen wäre diese Freiheit, wäre dieses »von selbst« des Menschen ein »gelassen-lassendes«; eine »gelassene« und anderes »lassende« Freiheit weiß sich auf die Welt einzulassen und sie in sich aufzunehmen. Der Gartenbaum kann uns lehren, wie wir in unserem Handeln in welthafter und zeitlich offener Weise das responsive »von selbst« einer Gelassenheit leben können. Hier können wir einsehen, dass all unserem Streben und Treiben ein Lassen zugrunde liegt, das uns je schon in einer Nähe zu den Dingen zu wohnen gestattet. Das Sich-Einlassen auf die Dinge bringt ferner eine Begegnung mit dem Anderen, die Erfahrung radikaler Fremdheit mit sich. Insbesondere an japanischen Gartensteinen kommt eine befremdliche Unnahbarkeit zum Vorschein, die freilich in unserer Schau in allergrößte Vertrautheit umschlägt. Dies ereignet sich dann, wenn wir im abgründig Fremden, in der Undurchdringlichkeit und nackten Sinnfreiheit naturbelassener Felsen, unsere eigene Leiblichkeit gewahren. Merleau-Pontys Metapher vom »Fleisch der Welt« erhält hier einen fundamentalen Sinn: Die Schau im Garten ruft darum bisweilen eine tiefe »Wehmut um die Dinge« in uns wach, weil wir unserer Verwandtschaft mit ihnen im »Fleisch« innewerden; im befremdlichen Erscheinen von Gartensteinen schauen wir unser ureigenes leibliches Dasein an. Zumal diese intensive – und sicherlich paradoxe – Erfahrung ist imstande, inmitten aller modernen Verformungen und Entfremdungen gangbare Wege zu den Dingen der Welt wie ebenso zu unserem eigenen Leib-Sein zu bahnen. Die 147 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

Anschauung stummer Felsen kann unsere Wiedergewinnung des Wirklichen anleiten, indem sie uns in eine »gelassen-lassende« Haltung versetzt und uns Achtung einflößt für das Dingliche – diesseits aller Gegenständlichkeit und Sinnhaftigkeit. Eng verwoben mit diesen sachhaltigen Erörterungen ergaben sich kritische Überlegungen zur Phänomenalität und zur phänomenologischen Methode. So stellte sich erstens heraus, dass kein Phänomen isoliert auftritt. Jedes Einzelphänomen als solches steht in einem Weltzusammenhang – schon vor seiner Bedeutsamkeit, hinsichtlich seines bloßen Erscheinens. Was jeweils erscheint, kann weder auf die erscheinende »Gestalt« noch auf einen scharf umgrenzten »Auffassungssinn« zurückgeführt werden, geschweige denn auf einen »Gegenstand«. Die pauschale Rede von »Sichtbarem« oder »sinnlichen Gegenständen der Wahrnehmung« stellt eine unzulässige ontologisierende Reduktion dar. Solche Vorannahmen suggerieren eine prinzipielle Zugänglichkeit und Erfassbarkeit des Phänomenalen, von der in Wahrheit so nicht die Rede sein kann. Jedes Erscheinen führt vielmehr etwas Auratisches, Unnahbares mit sich. Ein Phänomen ist immer auch das paradoxe Hervortreten eines Nicht-erscheinen-Könnens. Neben den Horizonten, die jede Einzelerscheinung tragen, strahlen auch alle anderen Phänomene in jedes Einzelphänomen hinein. Ein allgegenwärtiger Hof von Möglichkeiten, gewissermaßen ein Überschuss an »Bildern«, umgibt jedes Phänomen in seiner je besonderen Sinnstiftung. Anhand einer Erkundung von »Schnitten« in der Gartenerscheinung, insbesondere bei Wasserspiegelungen, tritt ans Licht, wie weitgehend »Schein« oder »Möglichkeit« und »Wirklichkeit« ineinander verwoben sind. Gegen die Kategorisierung der klassischen Philosophie, die Husserls Phänomenologie in der Lehre von den Modi phänomenalen Gegebenseins auf folgenreiche Weise übernommen hat, muss festgehalten werden: Im Erscheinen ist das Wirkliche nie einfach das, als was es sich – für sich selbst genommen – gibt. Wo aber jedes Erscheinen notwendigerweise bildhafte Momente impliziert, wäre für die Phänomengenese versuchsweise die klassische Ordnung umzukehren: Die feste wahrnehmungsmäßige Gegenständlichkeit taucht aus fließenden Bildern auf; diese sind ein Erstes, nicht bloße Abbilder. Drittens hat sich herausgestellt, dass das Phänomen-Werden häufig verkannt wird. Stets geht dem In-die-Erscheinung-Treten 148 https://doi.org/10.5771/9783495824139 .

Japanische Gärten und die Phänomenologie

eine stimmungsmäßige Grunderschlossenheit der Phänomenhorizonte voraus, fundieren Anmutungen und Affektionen das Erscheinende in seinem Erscheinen. Das bedeutet auch, dass Erscheinungen in einem fundamentalen Sehbegehren entspringen, das sich weder auf noematische noch auf noetische Dimensionen phänomenalen Gegebenseins zurückführen lässt. Die Phänomengenese darf nicht auf die erkenntnistheoretisch-hermeneutische Formel des »etwas als etwas sehen«, mithin auf klar bestimmte und bestimmbare Auffassungs- und Sinngehalte, reduziert werden. Zudem erweist sich die Originarität leibhafter Wahrnehmung insofern als irreführend, als die Wahrnehmung in ihrer Leibhaftigkeit von einer unaufhebbaren Responsivität durchzogen wird. Phänomenalität fängt nicht bei dem an, der einen Bewusstseinsinhalt erlebt, sei dies auch Husserls »transzendentales Ego«. Phänomenalität hat immer schon eingesetzt in den Tiefen unseres leiblichen Ausgesetztseins gegenüber der Welt – noch bevor uns überhaupt irgendetwas erscheint. Schließlich wohnt dem Erscheinen eine eigene Zeitstruktur inne; jedes Phänomen weist in sich einen »Zeit-Sprung« auf. Die Phänomengenese greift nicht nur in weite Horizonte aus und reicht leiblich in ein responsives »Erscheinen-Lassen« zurück. Auch in zeitlicher Hinsicht kann das Erscheinen nicht an Husserls »lebendige Gegenwart« gebunden werden; das Erscheinen vollzieht sich in sich selbst nach Art eines paradoxen Schnitt-Kontinuums: Es zeitigt sich. Insofern tritt auch hier wieder ein Nicht-erscheinen-Können im Erscheinenden zutage. Gegen die gängige Vorstellung vom Erscheinenden als dem Ausgangs- und Bezugspunkt jeder »passiven Synthesis« entspringt der intentionale Gegenstand vielmehr als Resultat einer komplexen Selbst-Zeitigung. Der Konstitution eines Phänomens gehen Anmutungen voraus. Diese erwachsen aus der leiblichen Befindlichkeit des Schauenden; wie eine »Vorvergangenheit« können sie indes nie vom tatsächlichen Erscheinen und Anschauen eingeholt werden. So öffnet uns auch die Schau im Garten immer auf unsere eigene Zeitlichkeit, auf den »Zeit-Sprung« in unserem Dasein hin.

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Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

2.

Die phänomenologische Übung

Der gewundene Gang dieser Studie eröffnet zuletzt folgenden Ausblick auf das Geschäft des Phänomenologen: So etwas wie die anschauende Erfahrung eines japanischen Gartens ist nur als fortgesetzte und unabschließbare Übung zu vollziehen. Das SichGeben der Erscheinungen gründet nicht in einer an sich fertigen »Gegebenheit«, die nachträglich in Wahrnehmung und Denken aufzunehmen wäre. Das Erscheinen ereignet sich immer wieder neu zwischen einem Hervorgang-in-die-Sichtbarkeit und einem prinzipiell damit einhergehenden Nicht-erscheinen-Können; auch hat der Akt der Anschauung und des Nachdenkens über das Erscheinende in responsiver Weise teil an diesem Zwischen der Phänomengenese. Die Anschauung ist je schon eingelassen ins Erscheinende, und sie muss sich immer wieder neu einlassen auf das Erscheinen. So aber lässt uns Anschauung nicht nur zur Erscheinung gelangen; Anschauung erst lässt auch das Erscheinende ein in sein Erscheinen. Außerhalb der Anschauung gibt es kein Erscheinen. Aufgrund der aller Phänomenalität eignenden Geschehnishaftigkeit zwischen Nicht-erscheinen-Können, Sich-Zeigen und Anschauen kann letzteres jedoch nie zur Augenblicksanschauung festgestellt werden; ebenso wenig lässt sich Anschauung auf ein ergebnisfixiertes Haben von Erscheinendem reduzieren. Das »gelassen-lassende« Anschauen muss als ein Antworten auf das Erscheinen eigens geübt werden. Die fortgesetzte Anschauungsübung aber verschafft uns nicht nur einen Zugang zur angeschauten Welt; zugleich verwandelt sie uns selbst, die wir da schauen. 238 Phänomenologie ist vor allem Phänomeno-logie, ist ein »Sprechen« über Erscheinendes. Phänomeno-logisch denken besagt: anschauend sprechen von den Sachen her. Wo die phänomeno-logische Anstrengung sinnhaft-sinnliche Phänomene ins Denken Heidegger betont mehrfach, dass Philosophie eine Wandlungsübung aus Freiheit sein soll, nicht bloße »Kenntnisnahme«: M. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Frankfurt a. M.: Klostermann, 1988 [GA 42], S. 17; M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Klostermann, 1983 [GA 29/ 30], S. 511; M. Heidegger, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, M. H., Zur Sache des Denkens, Frankfurt a. M.: Klostermann, 2007 [GA 14], [67–90] S. 75.

238

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Die phänomenologische Übung

übernimmt, bringt sie diese Phänomene ihrerseits zum Sprechen. Es gilt, das anschauende Denken und Sprechen als eine Übung im Erzeugen – Sich-erzeugen-Lassen – der Erscheinungen zu betreiben. Wie das Philosophieren im Garten kann phänomeno-logisches Arbeiten überhaupt seinen vollen Sinn nur dann erfüllen, wenn es als eine wiederholte Wandlungsübung betrieben wird, die das Erscheinende in sein Erscheinen zulässt und den Denkenden ins Erscheinen einlässt. In der Begegnung mit der Erscheinungswelt, im Zugang zu den erscheinenden Dingen phänomeno-logische Übungen vollziehen – das bedeutet, dass wir uns einer »transformativen Phänomenologie« 239 hingeben. Die offene phänomeno-logische – anschauend-denkend-sprechende – Übung 240 führt uns zur Welt; indem sie aber den Sinn im anschauend-denkenden Sprechen sich ereignen, ihn sich hier einnisten lässt, ergreift und verwandelt sie auf diesem Wege unser tätiges Weltverhältnis. Phänomeno-logie im Ausgang von Gartenerfahrungen kann so zuletzt in eine erweiterte »Phänopraxie« 241 münden, die uns unsere je eigene, alltagsmäßig tätige Situiertheit im Wirklichen immer wieder neu und in lebendiger Offenheit stiftet. Der Sinn der Phänomene ist nun nicht länger nur »gewusster«, »gehabter«, »erlebter« Sinn; er wird zum zeitlich und leibhaft gelebten Sinn. Wer sich dem anschauend-denkenden Erleben eines Gartens aussetzt, zumal wer in ästhetisch-phänomenologischer Einstellung eine schichtenweise sich vertiefende Rückbesinnung auf die eigenen Erfahrungen anstellt und sie zur Sprache zu bringen sucht, der hat sich bereits eingelassen in ein offenes zeitliches Geschehen. Das leibhafte Sich-Ereignen von Sinn nimmt ihn hinein in all das, was zwischen den Gartendingen wie zwischen ihnen und ihm selbst sich ergibt als das Wirkliche. Sofern wir uns in solchen AnschauEntscheidende Anregungen zu diesem Ansatz stammen von Rolf Elberfeld; siehe R. Elberfeld, Transformative Phänomenologie«, Information Philosophie, 5 (2007), S. 26–29; R. Elberfeld, Philosophieren in einer globalisierten Welt. Wege zu einer transformativen Phänomenologie, Freiburg/München: Alber, 2017, S. 411–449. 240 Heidegger spricht einmal von dem neuen Anfang des Philosophierens als einer »Übung, gewissermaßen des Sehens im Denken«: M. Heidegger, »Aus Gesprächen mit einem buddhistischen Mönch«, Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, [589–593] S. 589. 241 Elberfeld, Philosophieren in einer globalisierten Welt, S. 434–440. 239

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Rückblick: Ein Zugang zum Wirklichen

ungs- und Denkübungen tatsächlich eingelassen haben auf das, was sich zeigt, werden uns die erscheinenden Dinge in Gärten ihrerseits einlassen in eine responsive Begegnung mit einem Naturwüchsigen, das als das Andere des Menschen gleichwohl innerhalb der kulturellen Sphäre zuhause ist. Der Aufenthalt im Garten stiftet uns einen Wohnort in der naturwüchsigen Welt.

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Index (Gärten, Personen, Begriffe)

Adorno 37, 87, 103, 105, 114 Affektion 45, 51, 117 Anmutung 45, 95, 119, 125 Arashiyama 嵐山 43 Atmosphäre 43, 45 Aura 56, 60, 90, 138 Barbaras 48 Befindlichkeit 46, 99, 123, 140 Berg-Wasser-Bild, shān shuǐ huà bzw. sansuiga 山水畫 22, 25, 33, 79 Bewegungsgestalt, shì bzw. ikioi 勢 99, 102, 115, 124 Bild 25, 32, 54, 72, 78, 95, 99, 116, 148 Byōdō-in 平等院 20 Conder 31 Daisen-in 大仙院 23 Daitoku-ji 大德寺 23 Daruma-dera だるま寺 111 Dinglichkeit 13, 16, 58, 63, 81, 87, 91, 113, 116, 120, 129–130, 136, 140, 147 Dufrenne 34 Ent-fernung 53–54, 62, 64 Entsū-ji 圓通寺 59 Epoché 14, 34, 75 Erscheinung 14–15, 36, 46, 51, 55, 57, 63, 66, 73, 82, 89, 96, 113, 115, 127, 138, 148 Figal 95, 105, 111, 120 Fleisch der Welt 58, 115, 125, 137, 147

Flusser 108 Freiheit 102, 109, 147 Fremdheit 51, 83, 123, 130, 137 Gelassenheit 103, 106, 108, 113, 116, 129, 147 Genkō-an 源光庵 56 Giō-ji 祇王寺 43 Ginkaku-ji 銀閣寺 22, 62 Ōhashi Ryōsuke 大橋良介 39, 41 Heidegger 45, 52, 104, 109, 112, 127 Hōgon-in 寶嚴院 49 Hisamatsu Shinichi 久松真一 89, 101 Horizont 52, 83, 128 Hōrin-ji 法輪寺 111 Husserl 45, 50, 78, 83, 117, 126 Jishō-ji 慈照寺 22, 62 Jōjakkō-ji 常寂光寺 44 Judd 133 Katsura Rikyū 桂離宮 49, 56 Kenroku-en 兼六園 97 Kiefernbaum 87, 97, 104, 115 Kimura Bin 木村敏 94 Kinkaku-ji 金閣寺 22, 87 Kirkeby 134 Kōmyō-in 光明院 25 Koishikawa-Kōraku-en 小石川後楽 園 29 Kokedera 苔寺 22, 122 Kultur und Natur 35, 37, 42, 65, 97, 103, 105, 107, 114, 131, 146 Kuro-shoin 黑書院 125

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Index (Gärten, Personen, Begriffe)

Kyū Shiba-rikyū-teien 旧芝離宮庭 園 29, 97

Rückriem 134 Ryōan-ji 龍安寺 23, 25, 38, 40, 68

Landschaft 22, 31, 94 Leiblichkeit 15, 21, 46, 53, 58, 61, 69, 96, 99, 102, 107, 115, 125, 140, 147, 151

Saihō-ji 西芳寺 22, 122 Schnitt-Kontinuum 39, 52, 55, 65, 69, 71, 76, 81, 91, 103, 115, 128 Sehbegehren 48, 66, 139 Sehereignis 69, 118, 123 Seiryū-en 清流園 74 Sennyū-ji 泉湧寺 140 shakkei 借景 20, 59 Shigemori Mirei 重森三玲 25, 28, 88, 90, 121 Shitao 石濤 98 Shugaku-in Rikyū 修學院離宮 59 Spiegelbild 71, 75, 81 Steingarten 23, 38, 119, 140 Steinsetzung 25, 41, 75, 119, 130, 136 Stimmung 44, 47, 50, 88, 91, 130

Marion 131 Matsunoo-taisha松尾大社 121 Merleau-Ponty 17, 47, 57, 140 Minimal-Art 132 mono no aware 物の哀れ 91, 94, 96, 115, 140 Moosgarten 43 Motivation 45, 51, 66, 117 Myōren-ji 妙蓮寺 111 Nähe 53, 55, 60, 91, 111, 115, 123 Natur 24, 31, 38, 88, 92, 97, 104, 107, 111, 134, 146 Nijōjō二條城 74 Ninna-ji Goten 仁和寺御殿 52, 55, 125

Teegarten 27 Tenryū-ji 天竜寺 22, 49 Tōfuku-ji 東福寺 25 Trockengarten 23

Ort 44, 52, 123, 138 Undurchdringlichkeit 57, 136 Palastgarten 19 pathisch 46, 51 Phänomen 15, 48, 50–51, 58, 71, 77, 83, 96, 99, 116, 124, 128, 131, 148 Phänomenalität 15, 36, 50, 60, 63, 69, 71, 84, 96, 112, 115, 127, 139, 148 Phänomengenese 50, 76, 116, 124, 128, 150 Pörtner 26, 37 Raum 52, 58, 68, 123 Renge-ji 蓮華寺 77 Responsivität 99, 110, 118, 149 Rikugi-en 六義園 29 Rokuō-ji 鹿王寺 138 Rokuon-ji 鹿苑寺 22, 87 Rozan-ji 鹿山寺 102

von selbst, zì rán, shizen / jinen 自然 92, 98, 104, 110, 114, 130, 146 wabi 侘 und sabi 寂 28 Wahrnehmung 46–47, 50, 61, 81, 96, 114, 117, 124, 127, 131, 149 Waldenfels 46, 115 Wandelgarten 29 Wirklichkeit und Schein 75, 81 yūgen 幽玄 28, 89, 94 Zeitlichkeit 109, 121, 124, 126, 130, 149 Zen-Garten 23 Zennō-ji 善能寺 140

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