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German Pages 251 [253] Year 2014
Mishima Yukios „Zur Verteidigung unserer Kultur“ (Bunka bōeiron)
WeltLiteraturen World Literatures Band 6 Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien
Herausgegeben von Irmela Hijiya-Kirschnereit, Stefan Keppler-Tasaki und Joachim Küpper Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Kenichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa/ University of Chicago), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)
Rebecca Mak
Mishima Yukios „Zur Verteidigung unserer Kultur“ (Bunka bōeiron) Ein japanischer Identitätsdiskurs im internationalen Kontext
Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin, 2011. Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.
ISBN 978-3-11-035317-4 eISBN 978-3-11-035318-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter Coverabbildung: unter Verwendung von Typus orbis terrarum (Weltkarte des Abraham Ortelius). Kupferstich, koloriert, 1571. akg-images. Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
FÜR MA
Inhaltsverzeichnis
Dank ............................................................................................................................ 8 Vorbemerkungen ....................................................................................................... 9 I
Einführung ......................................................................................................... 11 1 Mishima Yukio: Star, Samurai und Skandalfigur der japanischen Literatur .................................................................................. 11 2 Forschungsstand ............................................................................................... 16 3 Bunka bōeiron – ein kulturkritischer Essay als Fragment des nachkriegszeitlichen japanischen Identitätsdiskurses ...................................... 21
II
Textanalyse des Essays Bunka bōeiron ........................................................ 29 1 Formale Ebene .................................................................................................. 1.1 Aufbau und Argumentationsstruktur ......................................................... 1.2 Sprache, Stil und Übersetzung ................................................................. 1.3 Genredefinition .........................................................................................
29 29 30 35
2 Inhaltliche Ebene .............................................................................................. 2.1 Kultur, Kulturalismus und dessen Umkehrung ......................................... 2.1.1 Die japanische Kultur ................................................................... 2.1.2 Kulturalismus und Umkehrung des Kulturalismus ...................... 2.1.3 Der Schutz der Kultur .................................................................. 2.2 Nationalismus und Internationalismus ...................................................... 2.2.1 Die erste Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus ........... 2.2.2 Die zweite Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus ......... 2.2.3 Die dritte Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus ........... 2.2.4 Die vierte Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus .......... 2.3 Totalitarismus und Freiheit ......................................................................
43 43 43 54 58 61 62 65 69 75 78
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Inhaltsverzeichnis 2.4 Der Kaiser als kulturelles Konzept .......................................................... 2.4.1 Kaiser und Kaiserideologie ........................................................ 2.4.2 Zitierte Fremdmeinungen zur Bedeutung des nachkriegszeitlichen Tenno ........................................................ 2.4.3 Mishimas Kaiser-Konzeption .....................................................
81 81 90 94
III Intertextuelle Verweise ................................................................................... 103 1 Verweise auf ‚Japanisches‘ .............................................................................104 1.1 Zitate zur Bestimmung des kokutai .........................................................104 1.1.1 Watsuji Tetsurō ...........................................................................104 1.1.2 Tsuda Sōkichi und Sasaki Sōichi .................................................111 1.1.3 Maruyama Masao ........................................................................ 114 1.2 Bezüge auf japanische Texte ................................................................... 117 1.2.1 Genji-Monogatari und Masukagami .......................................... 118 1.2.2 Die japanische Dichtung ............................................................. 121 1.2.3 Die Reichsannalen ...................................................................... 127 1.2.4 Hasuda Zenmei und Niwa Fumio ...............................................128 1.2.5 Kokutai no hongi und Shinmin no michi ....................................130 2 Verweise auf ‚nicht-Japanisches‘ ..................................................................... 133 2.1 Bezüge auf westliche Literatur ................................................................ 133 2.1.1 Bezugnahmen auf marxistisch beeinflusste europäische Schriften ......................................................................................138 3 Funktionen der intertextuellen Verweise in Bunka bōeiron ............................ 145 4 Bunka bōeiron als Kulturkritik ........................................................................148
IV Zur (Be)Deutung von Bunka bōeiron .......................................................... 157 1 Paratexte zu Bunka bōeiron ............................................................................. 157 2 Rezeption von Bunka bōeiron ......................................................................... 161 2.1 Japanische Rezensionen vor 1970 ........................................................... 161 2.2 Japanische Rezensionen nach 1970 und gegenwärtige essayistische Auseinandersetzungen ....................................................... 165 2.3 Bezugnahmen auf Bunka bōeiron in der westlichsprachigen Forschung ................................................................................................ 171
V
Schlussbetrachtung ......................................................................................... 177 1 Abschließende Überlegungen zu Bunka bōeiron ............................................ 177 2 Bewertung und Ausblick ................................................................................. 185
Inhaltsverzeichnis
7
VI Übersetzung von Bunka bōeiron .................................................................. 191 VII Anhang ..............................................................................................................229 Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................229 Literaturverzeichnis .............................................................................................230
Dank
Der vorliegende Band ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation. Ich möchte all denjenigen – meinen Betreuern und meinen Kollegen sowie meiner Familie und meinen Freunden – danken, die mich während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit unterstützt haben. Dazu gehören diejenigen, die inhaltliche Fragen beantwortet und mit mir über Strukturen, Argumente und Formulierungen nachgedacht haben, aber auch all diejenigen, die nicht unmittelbar involviert und dennoch immer da waren.
Vorbemerkungen
Japanische Namen werden in der in Japan üblichen Reihenfolge wiedergegeben: Der Familienname geht dem Vornamen voraus. Die Transkription japanischer Begriffe folgt der modifizierten Hepburn-Umschrift. Lexikalisierte Termini wie Tenno, Tokyo oder Shogun werden im Fließtext in ihrer eingedeutschten Variante ohne Längungszeichen wiedergegeben. Tenno wird in der vorliegenden Arbeit synonymisch mit Kaiser verwendet; gemeint ist der japanische Kaiser mit seinen jeweils epochenspezifischen Charakteristika. Liegen Übersetzungen japanischsprachiger Publikationen vor, wird deren Titel kursiviert in runden Klammern angeführt. Titeln japanischsprachiger Werke wurde eine deutsche Übersetzung in eckigen Klammern beigefügt. Die Übersetzung von Bunka bōeiron kann als eigenständiger, von der Textanalyse unabhängiger Teil gelesen werden. In den Fußnoten zur Übersetzung knapp erläuterte Begriffe werden im Analyseteil ausführlich beleuchtet. In der Übersetzung wurden die von Mishima eingesetzten Betonungsstriche, bōten, als Majuskeln wiedergegeben.
I Einführung
1 Mishima Yukio: Star, Samurai und Skandalfigur der japanischen Literatur Kein japanischer Autor der Moderne ist gleichermaßen populär und polarisierend wie Mishima Yukio 三島由紀夫. 1925 als Hiraoka Kimitake 平岡公威 geboren, veröffentlichte er 1941 noch als Schüler die Erzählung Hanazakari no mori [Ein Wald in voller Blüte]. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Mishima kurze Zeit im Finanzministerium, bevor er sich ausschließlich der Literatur widmete. Die autobiographische Erzählung Kamen no kokuhaku (Geständnis einer Maske) verhalf ihm im Jahr 1949 schlagartig zum Durchbruch in der Literaturszene. In den 1950er Jahren gehörte Mishima zu den bedeutenden Figuren der Theaterwelt, seine Adaptionen klassischer Nō-Stücke wurden bereits ab 1957 international inszeniert. Wichtige prosaische Werke dieser Zeit waren Shiosai (Die Brandung, 1954) oder der zwei Jahre später erschienene Roman Kinkakuji (Der Tempelbrand). Mit Beginn der darauffolgenden Dekade wurde Mishimas Fiktion ebenso wie sein essayistisches Werk offensiv politisch und war gezeichnet von einem „rückwärtsgerichteten, romantischen Utopismus, der sich auf Samurai-Ideale und die staatstragende Idee des Gottkaisertums beruft“1. Wiederholt setzte sich der Autor mit der Frage nach der Bedeutung und Funktion des Kaisers für die japanische Geschichte, Kultur und Identität auseinander, in theoretischer Form im Essay Bunka bōeiron [Zur Verteidigung unserer Kultur] 文化防衛論 aus dem Jahr 1968.2 Mit der Gründung seiner Privatarmee, dem ‚Schilderbund‘ Tatenokai 縦の会, welche für eine Stärkung der kaiserlichen Rechte eintrat, trug Mishima seinem beständig proklamierten bunbu ryōdō 文武両道 -Ideal Rechnung,
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Hijiya-Kirschnereit 2000: 247. In den drei fiktionalen Werken, in denen es um den Niniroku jiken, den Putschversuch des Jahres 1936, geht – nämlich: Yūkoku (Patriotismus), Eirei no koe (Die Stimmen der toten Helden) und Tōka no kiku [Die Chrysantheme am 10. Tag] – befasst sich Mishima ebenfalls mit der Bedeutung des Tennos.
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Einführung
Schreiben und Handeln müssten miteinander einhergehen.3 Am 25. November 1970 setzte er seinen mehrfach angekündigten Selbstmord in die Tat um: Mishima drang in das Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte ein, nahm einen General als Geisel und versuchte anschließend, die auf sein Geheiß hin versammelten Soldaten von der Notwendigkeit eines Putsches und der Wiedereinsetzung des japanischen Kaisers in seine Position als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, die ihm gemäß der Meiji-Verfassung zugekommen war, zu überzeugen. Seine Forderungen wurden von den Zuhörern verlacht, woraufhin Mishima sich in das Gebäude zurückzog und rituellen Selbstmord durch Bauchaufschlitzen, seppuku, beging.4 Mishimas Freitod stellt einen gravierenden Einschnitt für die japanische Nachkriegsgesellschaft dar, seine Bedeutung geht über die einer individuellen Tat hinaus. Der gescheiterte Coup d’État wird bisweilen mit dem „Tod der literarischen Moderne“5 gleichgesetzt und kaum ein Werk zur japanischen Nachkriegsgeschichte kommt ohne einen Verweis auf den Selbstmord des Autors aus. Dies ist nur bedingt auf die medienwirksame Inszenierung seines Endes oder seine schillernde Persönlichkeit zurückzuführen. Viel eher verkörpert Mishima den provokanten Gegenpol zur vorherrschenden politischen Meinung und Wertvorstellung der Nachkriegszeit. Seine Literatur und seine Taten rufen gleichermaßen dazu auf, den Status Quo zu reflektieren und den in seinen Augen drohenden moralischen Niedergang zu verhindern. Zwar spiegeln Mishimas politisch problematische Forderungen nicht die Anschauung der breiten Masse, in ihrer Radikalität komprimieren sie allerdings Probleme, mit denen sich die japanische Gesellschaft in den 1960er Jahren konfrontiert sah. Obgleich ungern über das Ereignis gesprochen wird, ist Mishimas Selbstmord unvergessen, wie der Literaturnobelpreisträger Ōe Kenzaburō 大江健三郎 (*1935) eindrucksvoll formuliert: Mishima’s suicide is an incident which can never be effaced from our memory, for he supposedly had prepared a baleful ghost to appear time and time again whenever Japan encountered a political crisis.6
Diese zwar inzwischen abgeschwächte, aber doch kontinuierliche Präsenz von Mishimas Suizid resultiert aus dem damit postulierten Appell zur Wiederbelebung eines ‚JapaniDer Ausdruck bunbu ryōdō (wrtl. „Der doppelte Weg von Pinsel und Schwert“) bezeichnet das Ideal, im Verfassen von Literatur ebenso geschult zu sein wie bei der Ausübung der Kriegskünste. Dieser konfuzianische Gedanke der Edo-zeitlichen Samurai-Ethik beschäftigte Mishima zeitlebens (vgl. Huffman 1998: 23). 4 Ausführliche biographische Daten Mishimas sowie Angaben zu seinen wichtigsten Werken in Übersetzung finden sich etwa bei Hijiya-Kirschnereit 2000: 238–267; Keene 1998: 1167–1224. Eine Auflistung aller Werke sowie detaillierte biographische Angaben in japanischer Sprache finden sich bei Matsumoto 1990. 5 Vgl. Washburn 2007: 213. 6 Ōe 1989: 199. Ähnlich wie bei anderen einschneidenden Ereignissen, sei es den Anschlägen des 11. September 2001 oder den 1995 verübten Giftgasanschlägen auf die Tokyoter U-Bahn, wissen die meisten Japaner, wo sie sich befanden, als die Nachricht von Mishimas Selbstmord sie erreichte (vgl. Nakagawa 2010: 5). 3
Mishima Yukio: Star, Samurai und Skandalfigur der japanischen Literatur
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schen‘ als Reaktion auf das angeblich geistig und kulturell dekadente Nachkriegsjapan, wodurch dieser öffentlich inszenierte persönliche Akt eine uneinreißbare Brücke geschlagen hat zwischen Mishima, seinem Werk und Fragen nach Nationalität und kultureller japanischer Identität.7 Die nachhaltige Erschütterung, die das Ereignis auf die kulturellen Kreise Japans ausübte, zeigt sich daran, dass Mishimas seppuku – stellvertretend für sein Wirken und seine Person – auch in der gegenwärtigen Literatur und Kunst noch immer thematisiert und verarbeitet wird.8 Darüber hinaus ist die Faszination und Inspiration, die vom Phänomen Mishima auf nicht-japanische Künstler ausgeht, bemerkenswert. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang Musiker wie Hans Werner Henze (1926–2012) und HansUlrich Treichel (*1952), Regisseure wie Robert Wilson (*1941) und Paul Schrader (*1946), die über Mishima reflektierten, Opern aus seinen Werken generierten, Libretti schrieben, Stücke inszenierten oder sein Leben verfilmten, sowie die zahlreichen Mishima-Essays aus berühmter Feder, etwa von Marguerite Yourcenar (1903–1987), Arthur Miller (1915– 2005) oder Javier Marías (*1951). In den letzten Jahren lässt sich in Japan auch bei der jüngeren Generation ein verstärktes Interesse an Mishima verzeichnen. Dies hängt wohl nur bedingt mit seinem 40. Todestag im Jahr 2010 zusammen, sondern rührt viel eher daher, dass immer wieder junge Künstler auf ihn Bezug nehmen: Der Autor und Filmemacher Yomota Inuhiko 四方田犬彦 (*1953) bezeichnete Mishima unlängst als Beispiel des Japanese Cool, und im Jahr 2005 drehte der damals 30-jährige Akutagawa-Preisträger Hirano Keiichirō 平野啓一郎 (*1975) den Mishima-Film Miyabi. Ob in der Wissenschaft oder der Kunst, die anhaltende Präsenz Mishimas, für die sein literarisches Werk lediglich die Grundlage bildet, ist zurückzuführen auf seine meisterhaften medialen Selbstinszenierungen sowie das verbreitete Bild des Autors, welches er beständig mithilfe von Erläuterungen zu seinen Vorlieben, seinen Reisen oder durch die Zurschaustellung seines Körpers – etwa in Hosoe Eikōs 細江英公 (*1933) Fotoband Barakei – sowie durch seine öffentlich proklamierte politische Haltung genährt hat.9 As many have observed, Mishima performed as much if not more than he wrote. And in fact, many who comment on Mishima today tend to focus on his performances, especially his final one, more than his written work.10
Aufgrund der zahlreichen Rollen, die Mishima zeitlebens einnahm, und seinen Inszenierungen, von denen sein Freitod nur die spektakulärste darstellt, ist es weniger sein Werk, Vgl. Iida 2002: 1f. Igarashis Meinung, Mishimas Tod sei bedeutungslos gewesen und habe keinerlei Spuren hinterlassen (vgl. Igarashi 200: 196ff.), wird angesichts der Auseinandersetzung, die bis heute mit Mishimas Leben und seiner Person stattfindet, nicht geteilt. 8 Ein Beispiel von vielen stellt der Beginn von Murakami Harukis 村上春樹 (*1949) Werk Wilde Schafsjagd dar (vgl. Murakami 1991: 15; Murakami 1990: 21). Auch Ōe Kenzaburō beschäftigt sich etwa in Sayonara, watashi o hon yo! mit Mishimas politischer Haltung (vgl. Ōe 2005). 9 Vgl. Hosoe 1986 [1984]. Mishima ließ sich verschiedentlich als Kendō-Praktizierender ablichten. Genau wie Judo wurde auch die Kampfkunst Kendō in den 1960er Jahren Gegenstand nationalistisch ausgerichteter Leibeserziehung, durch welche die Energien des Volkes gebündelt werden sollten (vgl. Seifert 1977: 39). 10 Yasko o. J. [1995?]: 5. 7
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Einführung
welches sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, als die Person. Darüber hinaus wurde Mishima nie müde, sich in der Tradition des Genie-Kults zu vermarkten.11 Auseinandersetzungen erfolgen aufgrund dessen bis heute weniger mit dem Œuvre des Autors, als mit dem Phänomen Mishima, welches unweigerlich vor dem Hintergrund seiner gelebten Rolle als ultrakonservativer, kaisertreuer Reaktionär betrachtet wird. Die Verflechtung von Künstler und Literatur scheint in der Fach- wie Populärliteratur unauflösbar: Die Interpretation von Mishimas Taten erfolgt anhand der Analyse seiner Werke, die wiederum als Erklärungsmuster seines Lebens gelesen werden. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht versperrt die Biographie Mishimas den Blick auf sein Werk, denn die Interpretationsmöglichkeiten sind so eindeutig prädisponiert, dass sich die Ergebnisse ausschließlich innerhalb eines festgelegten Bezugsfeldes bewegen.12 Mishimas Freitod spiegelt exemplarisch die performative Kraft medienwirksamer Autoreninszenierungen. Seine Schriften lassen sich nicht aus dem Kontext lösen und werden durch ihre Rezeption geradezu neu geschrieben: „through his death, he in effect rewrote all of his works.“13 Unmittelbar nach Mishimas Tod wurden seine wichtigsten fiktionalen Werke neu aufgelegt. Dass dabei das eben skizzierte Bild des Autors dominierte, lässt sich an der Gestaltung der Einbände ablesen, die Mishima häufig als leicht bekleideten Schwertkämpfer mit einem Stirnband mit der Aufschrift „Lang lebe der japanische Kaiser“ zeigen. Die akademische Beschäftigung mit Mishima hingegen ließ bis in die frühen 1980er Jahre, in denen auch zahlreiche Übersetzungen seiner Werke entstanden, auf sich warten.14 Diese verzögerte wissenschaftliche Auseinandersetzung hängt neben seinem schockierenden 11
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Bezeichnenderweise argumentiert Nakagawa, der sich mit den Reaktionen auf Mishimas Selbstmord befasst, Mishima sei kein beliebter Schriftsteller gewesen, sondern viel eher der Superstar seiner Zeit, sei es in seiner Rolle als Schauspieler, Sportler oder Dandy (vgl. Nakagawa 2010: 6). Parallelen zwischen europäischen Inszenierungen des Künstler-Mythos und Genie-Kults etwa bei Charles Baudelaire (1821–1867) oder Anton Tschechow (1860–1904) und Mishima zeigen sich vor allem im Virtuosenideal (vgl. Neumann 1986: 32ff.) und der Vorstellung der Zusammengehörigkeit von Leid und schöpferischem Genie (vgl. Neumann 1986: 57–60). Versuche Mishimas, sich als Genie zu präsentieren, lassen sich anhand von Notizen und Entwürfen nachweisen, in denen Mishima seine Leser nachweislich über den Entstehungszeitraum von Werken täuscht, so etwa, wenn er behauptet Eirei no koe in einer Nacht geschrieben zu haben (vgl. Nakamoto 2006: 65f.; Mak 2010: 113). Diese Problematik tritt selbstredend nicht nur im Falle Mishimas auf. Galloways Anleitung zur Rezeption von Edgar Allan Poe lässt sich auf Mishima übertragen: „The fiction demands that we look at the life that produced it, but the critic must approach such analysis with more than the usual caution; the temptation is to see Poe’s work simply as the outpouring of a profoundly disturbed mind, denying, therefore the conscious artistry in its composition. […] Nonetheless, Poe remains the perennial victim of the idée fixe, and of amateur psychoanalysis of the most blatant variety. […] and yet too often it confuses the man with his narrators, and in so doing obscures the author’s imaginative achievement.“ (Galloway 2003 [1986]: xxxii). Washburn 2007: 239. Der nicht immer vollständige, aber dennoch abgeglichen mit den Informationen der Japan Foundation als Anhaltspunkt dienende Index Translationum listet 365 Übersetzungen von Mishimas Texten auf, wovon allein ca. 126 im Zeitraum von 1979–1989 entstanden sind (vgl. http://databases.unesco. org/xtrans/xtra-form.shtml [30.09.2013]).
Mishima Yukio: Star, Samurai und Skandalfigur der japanischen Literatur
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Freitod sicherlich auch mit der Tabuisierung der von Mishima bearbeiteten politischen Themen zusammen.15 Doch obwohl Mishimas literarische Verarbeitung traditionalistischer und nationalistischer Thematiken beständig angeführt wird, um sein Leben zu erklären, wurde gerade die literarische Umsetzung dieser Aspekte lange Zeit keiner kritischen Analyse unterzogen; eine Forschungslücke, die der vorliegende Band zu schließen sucht.
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Die Auseinandersetzung mit dem Tenno war in den 1960er Jahren keinesfalls unproblematisch: In den 1960ern gab es zwei Attentate aus rechten Lagern gegen Literaten, die sich kritisch mit dem Tenno befasst hatten. Nach der Veröffentlichungen der Erzählung Fūryū mutan [Die Geschichte eines Traumes von höfischer Eleganz] von Fukuzawa Shichirō 深沢七郎 (1914–1987), in welcher der Protagonist träumt, der Kaiser werde enthauptet, wurde 1961 auf Fukuzawas Verleger ein Attentat verübt, das als Shimanaka-Zwischenfall bekannt ist (vgl. Harada 1991, Bd. 12: 99). Ōe Kenzaburōs Erzählung Seiji shōnen shisu 政治少年死す[Tod eines politischen Jungen] erregte Aufsehen, weil der Protagonist vor dem Bild des Kaisers onaniert. Auf Druck rechter Organisationen wurde die Erzählung nicht wieder aufgelegt; sie findet sich bis heute in keiner der Werk-Ausgaben des Literaturnobelpreisträgers. Auch Mishima äußerte sich keinesfalls ausschließlich positiv über den Kaiser, sondern kritisierte ihn in seiner zeitgenössischen Gestalt bisweilen harsch und drohte, ihn umzubringen (vgl. etwa Miyajima 2005: 51). Tabuisiert wurden darüber hinaus auch manche unpolitischen Themen Mishimas: Die Literaturkritik war etwa derart irritiert von der Beschreibung des homosexuellen Protagonisten in Mishimas Werk Kamen no kokuhaku (Geständnis einer Maske), dass der Roman von einigen Rezensenten als Parodie abgetan wurde. Der Kritiker Nakamura Mitsuo 中村光夫 (1911–1988) beklagte, dass er sich mit gleichgeschlechtlicher Liebe nicht auskenne und das Werk deswegen nicht in dem Maße beurteilen könne, wie dies der Fall wäre, wenn Mishima über das Verlangen nach Frauen geschrieben hätte (vgl. Keene 1998: 1184).
Einführung
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Forschungsstand
Auch mehr als vierzig Jahre nach dem Tod Mishimas hat die Anzahl der Publikationen zu seinem Werk und seiner Person nicht abgenommen. Neben Neuauflagen seiner Texte – nicht nur Romane erscheinen in regelmäßigen Abständen neu, häufig findet seine Kurzprosa Eingang in Kompilationen – reißt auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor nicht ab. Eine knapp 800 Seiten umfassende Bibliographie von Yamaguchi Motoi 山口基 aus dem Jahr 2009 listet 1 707 japanischsprachige Monographien und Zeitschriftenartikel auf, 281 werden als „wichtige Nachschlagewerke“ klassifiziert. Aufgezählt werden darüber hinaus die „Mishima Yukio-Sonderausgaben“ verschiedener Zeitschriften sowie ein Namensregister aller Autoren, die sich in japanischer Sprache mit Mishima befasst haben.16 Das ungebrochene Verlangen nach weiterem Material demonstriert die im Jahr 2005 erstmals zum 80. Geburtstag respektive 35. Todestag Mishimas herausgegebene Zeitschrift Mishima Yukio kenkyū [Mishima Yukio Forschung]. Die zweimal jährlich erscheinende, bislang dreizehn Ausgaben umfassende Zeitschrift behandelt, genau wie die übrige Sekundärliteratur, die bekanntesten Werke und gängigsten Themenkomplexe, die mit Mishima in Verbindung zu bringen sind.17 Gegründet wurde die Reihe von den Herausgebern Matsumoto Tōru 松本徹 in Zusammenarbeit mit Inoue Takashi 井上隆史 und Satō Hideaki 佐藤秀明, alle drei prominente Kenner von Mishimas Œuvre. Eben diese Forscherkonstellation hat darüber hinaus drei Bände mit dem übergeordneten Titel Mishima Yukio ronshū 1–3 [Mishima Yukio Aufsatzsammlung 1–3]18 sowie eines der beiden Mishima-Lexika, Mishima Yukio jiten [Mishima Yukio Nachschlagewerk]19, herausgegeben und dominiert 16
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Vgl. Yamaguchi 2009. Geht man davon aus, dass Mishima seit etwa 60 Jahren Gegenstand des öffentlichen Interesses ist, bedeutet dies statistisch gesehen, dass seitdem etwa alle zwei Wochen eine Publikation zu Mishima erscheint. Da zumindest im Fall von Bunka bōeiron die Nennung der Sekundärtitel nicht vollständig ist und die nicht-japanischsprachige Mishima-Forschung nicht in die Bibliographie aufgenommen wurde, ist davon auszugehen, dass tatsächlich weitaus mehr Titel im Umlauf sind. Einschränkend ist zu bemerken, dass Wissenschaftler gelegentlich ihre in den letzten Jahrzehnten in Literaturzeitschriften erschienenen Artikel als Monographien neu zusammenstellen; so geschehen etwa im Fall der Publikation Mishima Yukio no bungaku [Die Literatur Mishima Yukios], welche eine Kompilation der Artikel von Satō Hideaki aus den Jahren 1984–2008 darstellt (vgl. Satō 2009). Darin sind mehrere Aufsätze zu Kamen no kokuhaku enthalten, was darauf zurückzuführen ist, dass der Untersuchungsgegenstand ein aus vergleichsweise wenigen Werken bestehender Mishima-Kanon ist. Somit wird Die Literatur Mishima Yukios vornehmlich auf die ohnehin bekannten Texte Geständnis einer Maske, Der Tempelbrand, Das Meer der Fruchtbarkeit, Die Brandung, Patriotismus oder Nach dem Bankett beschränkt. Diese häufig vorgenommene Selektion aus der 42 Bände umfassenden Mishima-Gesamtausgabe bedeutet selbstredend auch eine qualitative Beurteilung der MishimaTexte seitens der Forschung. Vgl. Matsumoto 2005–2013. Vgl. Matsumoto 2001. Vgl. Matsumoto 2000. Bereits 1976 wurde ein erstes „Mishima Yukio Nachschlagewerk“ veröffentlicht, vgl. Hasegawa 1976.
Forschungsstand
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gegenwärtig die Mishima-Forschung. Trotz der relativ hohen, konstanten Anzahl an Veröffentlichungen konnte in Japan zum 40. Todestag des Autors ein zusätzlicher Publikationsanstieg verzeichnet werden. Über die laufenden Printpublikationen hinaus gestaltete Matsumoto von Juni bis September 2010 in den NHK Shirīzu, einer Radioproduktion des Senders NHK, einige Sendungen anlässlich des 40. Todestages des „großen Schriftstellers“. Darin ging er auf wichtige Ereignisse in Mishimas Leben ein und brachte diese in Zusammenhang mit der Entstehung von Werken wie Der Tempelbrand, Geständnis einer Maske oder Meer der Fruchtbarkeit.20 Tatsächlich hat sich am Wesen der Mishima-Forschung, wie es von Hijiya-Kirschnereit in ihrer Dissertationsschrift aus dem Jahr 1976 charakterisiert wurde, bis heute wenig geändert.21 Essayistische hyōden 評伝, „kritische Würdigungen“, dominieren die japanische Mishima-Forschung, wohingegen dezidiert philologische Herangehensweisen nach wie vor eine Ausnahme darstellen.22 Die Charakteristika der Sekundärliteratur zeigen einmal mehr, dass sich die Popularität Mishimas vornehmlich vor dem Hintergrund seines wohldurchdachten, schillernden und inszenierten Daseins und Sterbens erklären lässt: der „polyedrische Mensch“ Mishima lädt immer wieder zu Spekulationen ein.23 Während anlässlich seines 40. Todestag erstaunlicherweise keine nennenswerte Mishima-Konferenz in Japan abgehalten wurde, spricht für die Bedeutung der internationalen Mishima-Forschung, dass im März 2010 in Berlin eine dreitägige Konferenz zum Thema Mishima! Worldwide Impact and Multi-Cultural Roots stattfand.24 Neben Biographien und Die NHK Shirīzu liegen auch in gedruckter Form vor (vgl. Matsumoto 2010). Vgl. Hijiya-Kirschnereit 1976: 17–22; 26. Anhand einer aktuellen, strukturell wie konzeptionell repräsentativen Monographie des Mishima-Spezialisten Inoue Takashi lässt sich die dominante Herangehensweise der Sekundärliteratur verdeutlichen. Bereits im Titel Hōjō naru kamen. Mishima Yukio [Die Fruchtbarkeit der Maske. Mishima Yukio] stellt Inoue eine Verbindung zwischen zwei bedeutenden Werken Mishimas und dessen Leben her, um dann in 25 Kapiteln Mishimas Vita nachzuerzählen. Die biographischen Informationen belegt Inoue mit Zitaten aus verschiedenen Aufzeichnungen des Autors, etwa aus Watashi no henreki jidai [Meine Wanderjahre], aber auch mit Auszügen aus dem fiktionalen Werk Geständnis einer Maske. Dieser 1949 erschienene Text wird in Japan gemeinhin als autobiographisches Zeugnis, als shishōsetsu, gelesen, wodurch die Fiktion bedenkenlos als Erklärung für Mishimas Leben herangezogen wird. Entgegen der durch den Titel aufgeworfenen Erwartungen beinhalten die Ausführungen keine Werkanalysen, sondern beschränken sich auf äußerst knappe Inhaltsangaben und wenige Zitate, die angeblich Mishimas persönliche Gesinnung spiegeln (vgl. Inoue 2009). 22 Als solche zu nennen sind Miyoshi Yukios Untersuchung zu Kinkakuji sowie die Monographie von Terenguto, die sich mit Metaphern in Mishimas Werk beschäftigt. 23 Vgl. Inoue 2009: 15: Zitat ebd. Die Frage nach Mishimas ‚wahrem Ich‘ wird in den meisten Publikationen gestellt; Hashimoto macht sie gar zum Titel einer Arbeit, in der er sich mit Mishimas Homosexualität, Mishimas Kindheit und seinem Sadismus auseinandersetzt (vgl. Hashimoto 2002). Nennenswert ist die umfangreiche, 2012 ins Englische übersetzte und dabei wesentlich erweiterte Mishima-Biographie des Publizisten und Politikers Inose Naoki 猪瀬直樹 (*1946), der seit 2012 Gouverneur von Tokyo ist. Auch der Gouverneur spart allerdings kritische Fragen bezüglich des politischen Gehalts von Mishimas Schreiben aus (vgl. Inose 2012). 24 Die japanischsprachige Publikation der Konferenzbeiträge findet sich bei Hijiya-Kirschnereit 2010a. 20 21
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Einführung
überblicksartigen Arbeiten, die Mishima einer breiten Öffentlichkeit vorstellen, gibt es in westlichen Sprachen diverse Publikationen zu Mishimas Ästhetik sowie Abhandlungen, die Einflüsse auf den Schriftsteller etwa durch Friedrich Nietzsche (1844–1900), Georges Bataille (1897–1962) oder Marguerite Duras (1914–1996) untersuchen. Darüber hinaus sind komparatistische Arbeiten zu erwähnen, die sich mit Mishima und Jean Genet (1910– 1986) oder Mishima und André Gide (1869–1951) befassen. Auch außerhalb Japans geht die Faszination von der Person Mishima aus: Obgleich die erste strukturalistische Analyse eines Mishima-Romans bereits im Jahr 1976 auf Deutsch publiziert wurde, gibt es noch immer wenige auf seine Texte fokussierte Untersuchungen.25 Dank der Mishima-Bibliographie von Yamaguchi ist es nun möglich, sich relativ schnell einen Überblick über den Forschungsstand zu einzelnen Publikationen zu verschaffen. In Zusammenhang mit Bunka bōeiron führt Yamaguchi 21 Sekundärtitel von 15 Autoren an, wobei eine Suche in der Datenbank CiNii weitere 14, von Yamaguchi nicht genannte Artikel zu Tage bringt. Den Auseinandersetzungen mit Bunka bōeiron ist gemein, dass ihr Augenmerk auf Mishimas Ausführungen zu Kaiser und Politik gerichtet ist – Überlegungen zu Mishimas Kultur-Begriff hingegen finden sich selten.26 Darüber hinaus wird Bunka bōeiron in beinahe jeder einführenden Schrift respektive Biographie zu Mishima erwähnt, wobei die Ausführlichkeit und der Grad der Textbezogenheit stark variieren.27 Dass sich auch Bunka bōeiron einer nicht abnehmenden Leserschaft erfreut, legt die im Jahr 2010 erschienene Neuauflage des 2006 erstmals herausgegebenen Bandes Mishima Yukio. Bunka bōeiron in der Reihe Chikuma bunko nahe. Das knapp 400 Seiten umfassende, in drei Teile untergliederte Taschenbuch enthält im ersten Teil, Aufsätze, neben dem Essay selbst den zwei Monate nach Bunka bōeiron erschienenen Text Hankakumei sengen [Manifest der Gegenrevolution]. Darüber hinaus ist in diesem Abschnitt Mishimas Reaktion auf eine unmittelbar im Anschluss an Bunka bōeiron von Hashikawa Bunzō 橋川文三 (1922–1983) verfasste Rezension abgedruckt sowie die Aufsätze „Dōgiteki kakumei“ no ronri – Isobe ittō shukei no ikō ni tsuite [Die Logik der „moralischen Revolution“ – über das hinterlassene Manuskript des Schatzmeisters Itobe] und Jiyū to kenryoku 25
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Vgl. Hijiya-Kirschnereit 1976. Allerdings lässt sich diesbezüglich eine langsame Veränderung ausmachen: 2010 erschien ein deutschsprachiger Sammelband, der einen Zugang zu bislang wenig beachteten Mishima-Texten schafft und diese philologisch untersucht (vgl. Hijiya-Kirschnereit 2010). Dass Bunka bōeiron fraglos mit der politischen Figur Mishima in Verbindung gebracht wird, zeigen Bezugnahmen anderer Autoren auf den Essay: Der Untertitel von Matsumoto Michihiros Werk Nihon no kigai – welches auf dem Cover zusätzlich den englischen Schriftzug The spirit of a Nation trägt – nimmt auf Bunka bōeiron Bezug, ohne dass Mishima dabei genannt wird. Matsumoto, der Bunka bōeiron als „göttliche Offenbarung“, reimu 霊夢 (vgl. Matsumoto 2007: 15), bezeichnet, führt den Text im Zuge seiner nationalistischen Theorien an, welche sich unter Berufung auf bushidō und Samurai eine Rückkehr zum „Inselland Japan“ beschwören. Der Autor ruft damit auf, wofür Mishima politisch steht: Nationalismus, Monarchismus und Konservatismus. Während Yoshida Kazuaki in seinem Band Mishima Yukio For Beginners gemessen an der Länge des Kapitels verhältnismäßig viele Textstellen von Bunka bōeiron zitiert, um die Quintessenz des Essays zu extrahieren, begnügt sich Inoue mit einem Abschnitt zu Bunka bōeiron, der die wörtliche Wiedergabe eines Teilsatzes enthält (vgl. Yoshida 1998 [1985]: 54–59; Inoue 2009: 214f.).
Forschungsstand
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no jōkyō [Die Situation hinsichtlich Freiheit und Autorität]. Bei diesen Texten handelt es sich um eine Neuauflage einer Zusammenstellung aus dem Jahr 1969, für welche Mishima ein Nachwort verfasste, in dem er die Intention der Texte erläutert und sein politisches Handeln der damaligen Zeit thematisiert.28 Darin erklärt er, dass ihn Fragen von Studenten bei einem Teach-In dazu veranlassten, zunächst Hankakumei sengen zu schreiben, aus welchem er den in seinen Augen vollständigeren Essay Bunka bōeiron entwickelt habe.29 Der zweite Teil der Kompilation, Gespräch, besteht aus der Mitschrift einer Diskussion zwischen Mishima und Iida Momo いいだもも (1926–2011) über die Symbolhaftigkeit politischer Handlungen. Der dritte und längste Abschnitt schließlich enthält die Aufzeichnung eben jenes Teach-Ins aus dem Jahr 1967, bei welchem Fragen zur Umgestaltung des Staates diskutiert wurden sowie den autobiographischen Text Hatashiete inai yakusoku – Watakushi no naka no nijūgo nen [Ein wie erwartet nicht eingelöstes Versprechen – 25 Jahre meines Lebens]. Der Band schließt mit einer überblicksartigen Auflistung wichtiger japanischer aber auch internationaler Ereignisse des Jahres 1968, wobei allerdings gerade die schwerlich nachvollziehbaren Andeutungen zur Tagespolitik, auf die in den Texten Bezug genommen wird, nicht erläutert werden. Die Beigabe eines Aufsatzes des Literaturkritikers Fukuda Kazuya 福田和也 (*1960), welche den Band abschließt und dessen Titel verspricht, Mishimas Funktion als Demagoge zu erörtern, wird von den Herausgebern nicht kommentiert.30 Von dieser Neuauflage abgesehen, ist Bunka bōeiron zudem in einer weiteren Kindai roman-ha bunka betitelten Reihe enthalten, in welcher Werke der Mitglieder der japanischen romantischen Schule Roman-ha, verlegt werden.31 In der Mishima Yukio-Ausgabe, dem 42. Band der Reihe aus dem Jahr 2007, sind neben einigen frühen Werken, etwa den Gedichten Mishimas und seinem Erstlingswerk Hanazakari no mori [Ein Wald in voller Blüte] auch die Schriften Yūkoku (Patriotismus), Taiyō to tetsu [Sonne und Eisen] und eben Bunka bōeiron enthalten. Die vorgenommene Textauswahl wird von den ShingakushaHerausgebern nicht thematisiert, Mishima wird aber offenkundig als Autor in der Tradition der Roman-ha angesehen. In westlichen Sprachen hat Bunka bōeiron, wohl bedingt durch die Tatsache, dass der Essay bislang nicht in Übersetzung zugänglich war, wenig Resonanz erfahren.32 Obgleich der Text, genau wie in Japan, immer dann zitiert wird, wenn 28 29 30 31
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Vgl. BBA: Kapitel IV.1. Die Texte Mishimas werden mit Siglen zitiert: Das Siglenverzeichnis ist der Bibliographie vorangestellt. Vgl. BBA: 432. Fukuda geht faktisch weniger auf Mishimas demagogische Fähigkeiten ein, als auf dessen Leben und seine politische Einstellung. Eine Einführung in die kulturelle und politische Bedeutung der japanischen romantischen Schule, Nihon Roman-ha, in den 1930er und 40er Jahren gibt Doak 1994: xi-xliii. Er stellt heraus, dass die Romantiker – die keinesfalls eine ‚spezifisch japanische‘ Erscheinung waren, als welche sie sich gerne darstellten – versuchten, ihre Schriften als a-politisch darzustellen, obgleich diese immer mit der Politik verwoben waren. Es liegt eine Teilübersetzung von Donald Keene vor, welche in den Band Sources of Japanese Tradition integriert ist (vgl. De Bary 2005: 1179–1182).
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Einführung
Mishimas Verhältnis zum Tenno erörtert wird, gibt es bislang keine Abhandlung, die sich explizit mit Bunka bōeiron beschäftigt. Die vorliegende Arbeit schließt diese Lücke und befasst sich dezidiert nicht mit der Person Mishima, sondern legt seinen wichtigsten Essay erstmals in kommentierter Übersetzung (Kapitel VI) vor.
Bunka bōeiron als Fragment des japanischen Identitätsdiskurses
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Bunka bōeiron – ein kulturkritischer Essay als Fragment des nachkriegszeitlichen japanischen Identitätsdiskurses
Erstmals in der Zeitschrift Chūō kōron veröffentlicht, richtet sich Bunka bōeiron an eine allgemeine, literarisch interessierte und gebildete Leserschaft. Mishima setzt sich in seinem Essay mit den Wechselbeziehungen von Kultur, Tradition, Monarchie und Nation auseinander. Einigen Grundüberlegungen zur Beschaffenheit der japanischen Kultur und deren Verfall in der Nachkriegszeit folgend, definiert er die Charakteristika einer idealen japanischen Kultur und erläutert die Notwendigkeit, diese zu schützen. Aufgrund des für Japan nicht angemessenen politischen Systems seit 1945, zu dessen Verantwortlichkeit Mishima die Bewahrung der Kultur zählt, sei deren Aufrechterhaltung unmöglich geworden. Im letzten und längsten Kapitel beschäftigt sich Mishima mit dem Wesen des Tenno, dem er ausschließlich kulturelle Funktionen zuschreibt und der, würde seine eigentliche Form wiederbelebt, als Schnittstelle zwischen Politik und Ästhetik den Garant der japanischen Kultur darstelle. Im Tenno liege die Möglichkeit, die Deckungsgleichheit von Nation und Staat wieder herzustellen und so die Kultur zu schützen; dazu könne sich der Tenno im Notfall politischer Instrumentarien bedienen. In der vorliegenden Arbeit werden entgegen der üblichen Fokussierung auf die Person Mishima, die Vita des Autors, seine Selbstaussagen und zunächst auch die Paratexte von Bunka bōeiron zugunsten eines close readings ausgeblendet. Obgleich diese Methode angesichts des gegenwärtigen Fokus auf Theorie bisweilen als veraltet bezeichnet wird33, stellt sie zweifelsohne gerade bei Texten eines politisch aktiven, medial präsenten und zudem polarisierenden Autors wie Mishima die einzige Möglichkeit dar, zum Text selbst zurückzukehren. Close reading can prepare us for this difficult task [to see the difference between what we expect and what is actually written] by giving us the habit of noticing unexpected words and allowing them to shake up our preconceived notions. Close reading schools us for the truly hard and really valuable task of learning to hear what the other is saying, not what we expect him to say, not a general impression of what he is saying, but – as much as possible – what he is actually, literally saying.34
Der Versuch, Bunka bōeiron zuzuhören und vermeintliche Widersprüche nicht abzutun, sondern sie in ihrer Vielschichtigkeit zu untersuchen, geht dabei nicht mit einer Ausgrenzung der Welt aus dem Text einher, sondern es wird viel eher ein „historically engaged close reading“ angestrebt.35 Dementsprechend muss die Textanalyse die Suche nach dem ‚Japanischen‘ als Kern eines notwendig gewordenen Identitätsbildungsprozesses erkennen, 33 34
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Vgl. Devereux 2012: 219ff. Gallop 2000: 13; vgl. auch McIntyre 2012: 236. Demzufolge wird in der vorliegenden Arbeit, auch wenn in letzter Zeit wieder vermehrt für die Rückkehr des Autors plädiert wird (vgl. etwa Kablitz 2008), von der Barth’schen Grundannahme ausgegangen, dass Autor, Sprecher und Werk nicht zu verwechseln sind (vgl. Barthes 1977). Gallop 2000: 12.
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Einführung
der bei Mishima vornehmlich über den Bezugspunkt der Ästhetik verläuft. Die Betonung der japanischen Ästhetik – von Marra definiert als die Fähigkeit Japans, Bilder davon zu produzieren, was Japan genannt werden sollte – wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts im japanischen Identitätsdiskurs als wirkungsvolles Mittel zur unabdingbar gewordenen Differenzierung vom Westen eingesetzt.36 Einhergehend mit den „Schmerzen der Moderne“ verfestigte sich die Annahme, Kultur könne die Last der Konfrontation mit dem westlichen Anderen abfangen, die eine komplexe Reaktion der Selbstbestätigung und Selbstbehauptung hervorgerufen hatte. Dieser Rückgriff auf die Ästhetik, die Traditionen beziehungsweise die kulturelle Sphäre ist auch für nachkriegszeitliche nationalistische Diskurse charakteristisch.37 Kultureller Nationalismus – der häufig mit einer Neuinterpretation scheinbar althergebrachter Symbole arbeitet – dient meist dazu, Brüche zu kitten, welche durch weitreichende, innerhalb eines kurzen Zeitraums vollzogene Veränderungen hervorgerufen wurden.38
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„The expression ‘Japanese aesthetics’ therefore, refers to a process of political negotiation between Japanese thinkers and Western hermeneutical practices in the creation and development of images of Japan.“ (vgl. Marra 1999: 1f., Zitat: 2). Bilder von Japan wurden in literarischen Erzeugnissen – erinnert sei an Werke wie Bushidō. The Soul of Japan (1900) von Nitobe Inazō 新渡戸稲造 (1862–1933), The Book of Tea (1906) von Okakura Tenshin 岡倉天心 (1862–1913) oder Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik (1933) von Tanizaki Jun’ichirō 谷崎潤一郎 (1886–1965) – ebenso beschworen wie in der Kunst und insbesondere den per se als typisch Japanisch ausgewiesenen ‚Wegen‘, sei es dem Teeweg, Ikebana, oder den Kampfkünsten. Der okzidentalen Hegemonie setzte Japan, ermutigt von der westlichen Wertschätzung der japanischen Kunst, die Ästhetik als Ausdruck kultureller japanischer Identität entgegen. Bis heute bemühen Versuche, ein ‚spezifisch Japanisches‘ zu eruieren, denen häufig eine nationalistischer Ton innewohnt, vornehmlich ästhetische Phänomene, wie sich an zahlreichen Nihonjinron 日本人論, Japaner-Diskursen, ebenso zeigen lässt wie an den Nobelpreisreden von Kawabata Yasunari 川端康成 (1899–1972) im Jahr 1968 und Ōe Kenzaburō im Jahr 1994 (vgl. Heine 1995). Iida, die Verflechtungen zwischen Ästhetik und Nationalismus untersucht, bemüht Eagletons Ästhetik-Begriff: Ästhetik sei gekennzeichnet durch eine gewisse definitorische Unbestimmtheit, durch welche sie vielseitig einsetzbar sei und gleichzeitig ein flexibler Signifikant werde, der „things excessive“ und „unrepresentable“ aufnehmen und repräsentieren könne. Dazu gehört etwa ein an Hoffnungen geknüpftes reaktionäres Gebaren (vgl. Iida 2002: 3). Bemerkt sei, dass auch in den westlichen Modernen eine Hinwendung zur Ästhetik als Gegenpart der Realität zu verzeichnen ist (vgl. Kösser 2006). Ivy erachtet die Moderne nachgerade als Voraussetzung für die Entstehung von Kultur als Sphäre, in der ein Anderssein ertragbar war: „[…] I prefer to emphasize the contradictions that always accompany the ruptures of modernity, such that the very formulation of the notion of ‘culture’ as that which could bear the burden of difference is unthinkable outside the transformations of the twentieth century.“ (Ivy 1995: 6). Igarashi argumentiert, dass durch Kultur eine Kontinuität hervorgerufen werden konnte, die verschleierte, dass Japan in der Nachkriegszeit von einem Feind Amerikas zu einem der wichtigsten Alliierten geworden war: „Many Japanese emphasized culture but not politics in their attempt to construct new images of a nation against the political reality of the postwar period.“ (vgl. Igarashi 2000: 73f.; Zitat 73). Kennyth Pyle differenzierte bereits 1971 verschiedene Arten, wie in Japan über Nationalismus gesprochen wird: Der kulturelle Blickwinkel ist dabei einer von vieren (vgl. Pyle 1971).
Bunka bōeiron als Fragment des japanischen Identitätsdiskurses
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More than a style and doctrine of politics, nationalism is a form of culture – an ideology, a language, mythology, symbolism and consciousness – that has achieved global resonance, and the nation is a type of identity whose meaning and priority is presupposed by this form of culture. […] In these “golden ages”, among idealized heroes and sages, they [artists] could recreate a vivid panorama of life wie es eigentlich war, which could suggest the nation’s antiquity and continuity, its noble heritage and the drama of its ancient glory and regeneration. Who, more than poets, musicians, painters and sculptors, could bring the national ideal to life and disseminate it among the people?39
Auch bei Mishima trägt Nationalismus das Gewand von Kultur und Ästhetik und geht mit einem nostalgischen Rückgriff auf die Literatur und Kunst einher, der das Gefühl einer Gemeinschaft evoziert. Mit der Suche nach Authentizität – allgemeiner gesagt nach Werten, welche für die Kultur als wahr und unantastbar gelten können und dem moralischen Relativismus entgegengesetzt sind40 – in der Ästhetik greift Mishima auf dieses gängige Muster zurück. Bunka bōeiron ist als Selbstbehauptungstext, Nihonjinron41 日本人論, zu lesen, in dem die japanische Kultur als der relevante Bezugspunkt des Volkes in der Nachkriegszeit etabliert wird. Mishimas Japanbild ist hochgradig emotionalisiert und ein Antwortversuch auf die bereits seit den 1950er Jahren artikulierte Notwendigkeit einer diskursiven Neuformierung der japanischen Nation.42 Um die Gemeinschaft zusammenzuhalten, bedarf es Mishima zufolge einer Realisierung seiner Kultur- beziehungsweise Tennovision, die sich einerseits aus selbstorientalisierten Japanbildern, andererseits aus supranationalen und -kulturellen Bezugspunkten speist. Bunka bōeiron ist Mishimas nationalistischer Beitrag zur einer Kulturkritik, welche keinesfalls allein auf Japan beschränkt ist, sondern die überregionalen Folgen der Moderne anprangert und als konkreten Lösungsvorschlag die Revitalisierung des Kaisers als der einigenden Figur des japanischen Volkes anbietet. Mishima kritisiert in seinem Essay die kulturelle, politische und ökonomische Hegemonie des Westens und entwickelt als Gegenentwurf dazu eine Utopie vom Wesen der japanischen Nation, die nur mithilfe einer Revolution gegen den Westen herbeizuführen sei. Durch die Verknüpfung von politischem Appell, Ästhetisierung des Politischen, Glorifizierung des eigenen Todes und Idealisierung der Mythen, um eine Alternative zur Gegenwart zu errichten, weist der Text die Grundzüge einer faschistischen Ästhetik auf.43 Smith 1991: 91f. Vgl. Washburn 2007: 3. 41 Als Nihonjinron, „Japanerdiskurse“, werden Schriften bezeichnet, die versuchen, die Besonderheit und häufig auch die Einzigartigkeit Japans auf verschiedenen Ebenen zu proklamieren (vgl. Befu 1993; Yoshino 2006). 42 Vgl. Igarashi 2000: 75. 43 Walter Benjamin führte aus, dass im faschistischen Moment eine Angleichung von Politik und Ästhetik stattfindet (Benjamin 1972 [1936]: Nachwort). Saul Friedländers Einschätzung des europä ischen Faschismus, dessen Ästhetik mache durch den Köder eines „ritualisierten, stilisierten, ästhetisierten und vergöttlichten“ Todes glauben, eine Flucht dem Elend der Gegenwart in die Reinheit des Mythos sei möglich, lässt sich, wie Tansman zeigt, auf Japan anwenden (vgl. Friedländer 1984: 43. Gleichfalls lässt sich Susan Sontags Faschismus-Definition auf Japan übertragen (vgl. Sontag 2001 [1980]:
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Einführung
1964 waren die Olympischen Spiele in Tokyo ausgetragen worden, und als Bunka bōeiron publiziert wurde, war die Weltausstellung in Ōsaka in Vorbereitung. Mishimas Bedürfnis, in dieser Zeit des wirtschaftlichen Hochwachstums und der steigenden internationalen Anerkennung Japans immer wieder an die Ursprünge des gefühlten Verlustes, die japanische Kriegsniederlage, zurückzukehren, war ein Versuch, gegen die nachkriegszeitliche Banalisierung des Traumas der Kriegs- und Besatzungszeit vorzugehen.44 Diese beständige Konfrontation mit der Vergangenheit, die den zeitgenössischen Verlust der vermeintlichen japanischen Einheit umso deutlicher vor Augen führt, geht bei Mishima einher mit einer Wiederbelebung von Argumentationsmustern der 1930er Jahre sowie einem Rückgriff auf die Ideale der japanischen Romantiker, Nihon Roman-ha 日本浪漫派. Als Ausweg aus der Degradierung und Vulgarisierung der Kultur sieht Mishima, vergleichbar mit Yasuda Yojūrō 保田與重郎 (1910–1981), einem Hauptvertreter der Romantiker, die Möglichkeit einer kulturellen Erneuerung in der Revitalisierung von Traditionen sowie der Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Der damit unweigerlich einhergehende Rückgriff auf Kategorien wie „japanischer Geist“, oder „kulturelle Tradition“, die emotional aufgeladen als unhintergehbar und selbstverständlich dargestellt werden und die durch ihre Ambiguität und Emotionalität vielseitig einsetzbar sind, gilt es herauszufiltern und zu diskursivieren. Dazu gehört auch, dass solche Kategorien, wie Iida Yumiko in ihrer Studie zum japanischen Nationalismus zeigt, nicht vorschnell abgetan werden, sondern als Versuch erkannt werden, mit der Moderne einhergehende, schwerlich in Worte zu fassende Verluste zu artikulieren.45 Vor diesem Hintergrund soll Bunka bōeiron als Auseinandersetzung mit den Folgen der Moderne und als Beitrag zum japanischen Identitätsdiskurs gelesen werden. Bunka bōeiron wird dabei im Sinne Jägers als nicht-wissenschaftlicher Interdiskurs des Identitätsdiskurses verstanden, der sich vom wissenschaftlichen Diskurs unterscheidet, mit diesem aber wie mit dem fiktionalen Werk Mishimas in einem reziproken Verhältnis steht.46 Mishima nimmt in simplifizierter Form Bezug auf verschiedenste japanische und westliche, wissen schaftliche und pseudo-wissenschaftliche Diskurse, kommentiert sie und schreibt sich in diese ein. 91)). Tansman befasst sich mit japanischer faschistischer Ästhetik und stellt heraus, dass sich diese als Entgegnung auf die Erfahrung der Moderne und die Begegnung mit dem Westen herausbildete: „The fascist response to modernity made its appeal through myths rather than histories, feelings rather than ideas, sentiments rather than rational thoughts. It drew its inspiration from the past, not merely in an act of nostalgia but as a means of providing a cure to malaise and anomie by regulating people’s lives and creating consensus through propaganda, indoctrination, repression, and terror directed at both internal and external enemies. It offered a cure to the ills of modernity with solutions that began in the imagination but ended in a politics of death.“ (vgl. Tansman 2009: 3). 44 Mishima war sich dabei durchaus bewusst, dass er angesichts einer Gesellschaft, welche die Kriegserlebnisse vergessen und nach Wohlstand streben wollte, Gefahr lief, sich und seine Nation mit seinen Forderungen lächerlich zu machen. Igarashi führt aus, dass der Wunsch nach einer Rückkehr immer nur als Farce möglich ist, denn faktisch wurde Mishimas Kritik erst aufgrund der nachkriegszeitlichen Bedingungen, die er revidieren wollte, möglich. (vgl. Igarashi 2000: 164–169). 45 Vgl. Iida 2002; hier: Iida 2002: 2. 46 Vgl. Jäger 2012: 80ff.
Bunka bōeiron als Fragment des japanischen Identitätsdiskurses
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In Bunka bōeiron versucht er, ‚authentische‘, moralische und ethische Werte so darzustellen, dass diese von seinen Zeitgenossen verinnerlicht werden können; denn erst wenn eine Identifikation mit diesen stattfindet, werden sie zu potenziellen Identitätsmarkern.47 Der vorliegende Band gliedert sich in sechs Teile. Im Anschluss an die Einleitung fächert die Textanalyse den Essay zunächst inhaltlich auf, indem die zentralen Themen gebündelt und Referenzen auf die zeitgenössische Tagespolitik, die dem heutigen Leser nicht geläufig sind, erläutert werden. Die Gliederung dieses zweiten Kapitels ist angelehnt an die vier Dichotomien, die Mishima in seiner Argumentation entfaltet: Kultur und Kulturalismus, ethnischer Nationalismus und Internationalismus, Totalitarismus und Freiheit sowie der Kaiser in seiner vorkriegszeitlichen und seiner zeitgenössischen Rolle. Die umfassende Analyse erhellt und reflektiert die von Mishima vorgenommenen Abgrenzungen, mit denen der Autor eine implizite Gegenüberstellung der idealisierten, ‚ursprünglich japanischen Tradition‘ und des rationalisierten und machtpolitisch agierenden Westens vornimmt. Mishima führt eingangs kulturelle Einschränkungen an, die Japan nach dem Krieg erfahren habe: Während Schwertkampffilme etwa von den Besatzern verboten worden seien, hätten sich die Japaner zudem einer Selbstzensur unterworfen, indem sie alles nicht ausschließlich Harmlose und Schöne aus der Kultur ausschlossen und sich als friedliebendes, apolitisches Volk präsentierten. Eine analoge, politische Entwicklung sieht Mishima im ethnischen Nationalismus der Nachkriegszeit, welchen er letztlich auf das vom Westen gegebene, für Japan inadäquate System zurückführt. Daraus resultiere das Auseinanderdriften von Volk und Staat, das sich in den gewaltsamen Protesten der 1960er Jahre ausdrücke, und nur aufzuhalten sei, wenn der Kaiser als Garant der Kultur rehabilitiert werde: Er allein könne die Redefreiheit garantieren und Japan vor rechtem und linkem Totalitarismus bewahren. Die Analyse arbeitet die weder klar dargelegten noch strukturierten Argumente heraus und macht deutlich, dass der Essay hintergründig von der Angst vor einer westlichen Hegemonie sowie dem Erstarken des Kommunismus motiviert ist. Den nachkriegszeitlichen Werteverlust führt Mishima auf die Verwestlichung seiner Heimat zurück, welche nur – und dies ist sein zentrales Argument, das allen Themenkomplexen eingeschrieben ist – durch die Revitalisierung des Tenno gerettet werden könne. Allerdings steht nicht allein der politische und moralisierende Aufruf im Fokus der Betrachtung, sondern die ästhetisch-formale Ebene des nicht fiktionalen, dennoch literarischen Essay ist ebenso Teil der Analyse wie die Erschließung des Inhalts. Im Anschluss an die Textanalyse werden im dritten Kapitel die zahlreichen intertextuellen Verweise erörtert. Unterschieden wird dabei zwischen Bezugnahmen auf Japanisches und Referenzen auf den außerjapanischen Kontext, da sich die Intertexte funktional unterscheiden. Zunächst werden in diesem Teil die direkten, teilweise jedoch nur ausschnittweise wiedergegebenen und deswegen unverständlichen Zitate von Intellektuellen, die sich zum Tenno-Diskurs äußerten, kontextualisiert. Deutlich wird dadurch, in welchem Ausmaß Mishima Argumente von konservativer wie progressiver Seite anführt, die seine Argumentation stützen, und somit den Eindruck erweckt, als gäbe es kaum 47
Vgl. Washburn 2007: 4.
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Einführung
relevante Gegenpositionen in der tennōsei-Diskussion. Darüber hinaus werden einerseits die Verweise auf die japanische Literatur, andererseits bloße Anführungen vornehmlich ästhetischer Termini, die Japanizität evozieren, eruiert. Wie in Nihonjinron üblich, wählt Mishima Referenzen, die japanische Traditionen und ein idealisiertes Japanbild heraufbeschwören und übernimmt diese selbstorientalisierend. Deswegen ist weniger deren literaturwissenschaftliche Untersuchung von Belang, als eine Analyse ihrer vielschichtigen inner- und extratextuellen Verweisfunktionen, die notwendigerweise die Frage aufwerfen muss, inwiefern die jeweiligen literarischen Werke im Zuge der Nationenbildung und Identitätsstiftung eine Rolle spielten. Überlegungen hinsichtlich der expliziten Intertexte legen implizite Hypotexte, etwa kriegszeitliche Propagandaschriften oder patriotische Autoren offen, die gleichermaßen analysiert werden. Dasselbe Prozedere wird in Hinblick auf nicht-japanische Intertexte durchgeführt, wobei sich herausstellt, dass Mishima keinesfalls, wie seine Vita suggeriert, allein auf konservative Schriftsteller Bezug nimmt, sondern sich mit Thesen von europäischen marxistischen Denkern wie Walter Benjamin oder Georg Lukács auseinandersetzt. Beschreibt Mishima den Tenno etwa als Quelle der japanischen Ästhetik, miyabi, und unter Rückgriff auf Kants Idee des „an sich“ gleichzeitig als „Wert an sich“, vereint er die Widersprüche der Moderne geradezu und löst seine Argumentation aus der innerjapanischen Diskussion um die Tenno-Beschaffenheit. Er positioniert sich in einem größeren Kontext, der nach den Erfahrungen der Moderne fragt und Möglichkeiten von Selbstständigkeit und nationaler Identität in einer globalisierten und von westlicher Hegemonie geprägten Welt reflektiert. Bunka bōeiron ist eine Kulturkritik, die nicht unabhängig von japanischen Vordenkern existiert und innerhalb bestimmter geistiger Strömungen zu verorten ist, aber auch Parallelentwicklungen aufweist, die in diesem Kapitel aufgezeigt werden.48 Derartige Überlegungen werfen die Frage nach der diskursiven Bedeutung des Textes auf. Im vierten Kapitel wird diesbezüglich zunächst die Rezeptionsgeschichte des Essays beleuchtet. Die kontextuelle Verankerung von Bunka bōeiron – ein Themenkomplex, der nicht mithilfe von Mishimas Selbstaussagen beantwortet wird, sondern anhand einer Auseinandersetzung mit den sozialgeschichtlichen Gegebenheiten zur Entstehungszeit des Textes – trägt zu einem Verständnis der intellektuellen Strömungen der 1960er Jahre bei. Mishimas Essay ist als Fragment des nachkriegszeitlichen Identitätsdiskurses zu verstehen, der eng mit der Figur des Kaisers verwoben ist und in der japanischen Geschichte seit 1868 wurzelt. Das Bedürfnis nach einem identitätsstiftenden Moment, das Nationen in Zeiten westlicher Hegemonie und einem globalen Mächteungleichgewicht ihre Eigenständigkeit nicht nur politisch, sondern auch kulturell behaupten lässt, wurde darin beständig reformuliert; Mishima liefert mit Bunka bōeiron einen Beitrag dazu. 48
Zu unterscheiden ist deswegen zwischen Intertexten und voneinander unabhängigen Parallelentwicklungen: Lukács und Benjamin greift Mishima zwar implizit auf, ihr Gedankengut verarbeitet er jedoch eindeutig. Im Gegensatz dazu lässt sich nicht behaupten, dass in Bunka bōeiron eine Auseinandersetzung mit der Konservativen Revolution stattfindet; der hier erkennbare gemeinsame Grundtenor ist vielmehr auf die Erfahrung mit der Moderne zurückzuführen.
Bunka bōeiron als Fragment des japanischen Identitätsdiskurses
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Die umfassende Analyse des nicht-fiktionalen, dennoch literarischen Textes ist ein erster Schritt, das noch immer marginalisierte essayistische Werk Mishimas aus seinem Schattendasein zu befreien und zu einem Untersuchungsgegenstand zu machen. Bunka bōeiron dient als Schlüssel, um das Zusammenspiel von Text, Autor und dessen politischem Handeln zu begreifen und zu analysieren. Die Untersuchung der zentralen Topoi lässt Rückschlüsse auf deren Verwendung in anderen Texten Mishimas zu, so dass diese zu einer (Neu-)Bewertung von Mishimas Gesamtwerk beitragen kann. Dadurch wird die festgefahrene Mishima-Rezeption aufgebrochen und es eröffnen sich, etwa in Bezug auf Identitätsfragen, neue Forschungsperspektiven.49 Mishimas Essay stellt den Versuch dar, die japanische Identität, die es in der Nachkriegszeit aufgrund der veränderten Umstände neu auszuloten galt, mithilfe einer Heraufbeschwörung der angeblich einzigartigen japanischen Kultur zu generieren; als solches ist Bunka bōeiron auch Teil des als Nihon kaiki 日本回帰 bekannten Musters der „Heimkehr nach Japan“.50 Andererseits lässt sich an diesem theoretischen Text problematisieren, in welcher Form Mishima auf eine faschistische Ästhetik zurückgreift und was dies in Übertragung auf sein fiktionales Werk bedeutet.
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In Hinblick auf die Analyse von Eirei no koe erweist sich die Folie der japanischen Identität als aufschlussreich (vgl. Mak 2010). Der Begriff bezeichnet die „[…] Hinwendung zum Eigenen, Indigenen als Reaktion auf das Bemühen um Anverwandlung des Fremden, das in diesem Fall immer mit dem Abendländisch-Westlichen gleichzusetzen ist.“ (Hijiya-Kirschnereit 1999: 15; vgl. auch Duus 2003: 743ff.). Der Begriff wurde durch den Essay „Nihon e no kaiki“. Waga hitori utaeru uta [„Rückkehr nach Japan“. Das Lied, das wir alleine singen können] von Hagiwara Sakutarō 萩原朔太郎 (1886–1942) aus dem Jahr 1937 geprägt (vgl. Hagiwara: 1989 [1937]). Nach einer intensiven Rezeption der westlichen Literatur verschrieb sich Hagiwara in den späten 1930er Jahren dem Ziel einer Revitalisierung des ‚indigen Japanischen‘. An seine Ausführungen anschließend bezeichnete der Begriff des Nihon kaiki die Möglichkeit, aus dem beengenden Korsett der Moderne auszubrechen: „‘Return to Japan’ became a rallying cry for a broad spectrum of Japanese society, including romantics, fascists, government officials, and traditionalists who, in the alacrity with which they seized on it, seemed to have found release from some long confinement.“ (Doak 1994: 48; James Dorsey erschließt den komplexen Aufsatz Hagiwaras, vgl. Dorsey 2007: 472–478).
II Textanalyse des Essays Bunka bōeiron
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Formale Ebene
1.1 Aufbau und Argumentationsstruktur Der 36 Seiten umfassende Essay Bunka bōeiron ist durch Zwischenüberschriften in acht nicht nummerierte Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel erörtert Mishima die zentralen Begriffe Kulturalismus und Umkehrung des Kulturalismus. Dem folgen unter Rückgriff auf Stereotype Erläuterungen über Die nationalen Charakteristika der japanischen Kultur. Diese werden im dritten Kapitel Drei Eigenschaften der nationalen Kultur zusammengefasst, zunächst abstrahiert und anschließend mit weiteren Beispielen versehen. Der einzige mit einer Frage überschriebene Abschnitt, Wovor muss Kultur geschützt werden?, liefert, obgleich das Thema den Titel des Essays bestimmt, keine eindeutige Antwort. Vielmehr beinhaltet dieser Teil eine mit philosophischer Terminologie angereicherte Auseinandersetzung darüber, wie Kultur geschützt werden könnte. Inhaltlich und stilistisch daran angelehnt ist auch der darauf folgende, nur etwas über eine Seite lange, fünfte Abschnitt Die Übereinstimmung von schöpferischem Handeln und Schutz. Im Kapitel Die vier Stufen des ethnischen Nachkriegsnationalismus werden politisch relevante Ereignisse der Nachkriegszeit thematisiert. Ein kürzerer Teil mit dem Titel Die Ganzheitlichkeit der Kultur und der Totalitarismus führt zum letzten und ausführlichsten Textteil Der Kaiser als kulturelles Konzept, auf welchen die gesamte Argumentationslinie des Textes, die Gleichsetzung von Tenno und Kultur, hinzielt. Das alle Ebenen durchziehende und durch etliche Beispiele veranschaulichte Hauptthema des Essays ist die Unterbrechung der japanischen Kontinuität (renzokusei 連続性). Mishima beschreibt zunächst den Status Quo, welcher durch einen Werteverfall gekennzeichnet sei. Diesem setzt er eine idealisierte Vergangenheit entgegen. Dass Vor- und Nachkriegszeit sich konträr zueinander verhalten, zeigt Mishima am deutlichsten an zwei übergeordneten entgegengestellten Themenkomplexen: Erstens sei Kultur nach 1945 zu einem verdinglichten, utilitaristischen Konzept, dem Kulturalismus, geworden und zweitens lasse sich seit Kriegsende ein Auseinanderdriften von Volk und Staat beobachten. Aufgehoben
Textanalyse des Essays Bunka bōeiron
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werden können diese Dualismen allein durch eine Rehabilitierung des Kaisers als unpolitisches, kulturelles Konzept, der die Ganzheitlichkeit der Kultur wahrt. Theoretisch verkörpere nämlich der Tenno, würde er nicht seit 1945 banalisiert, als „Wert an sich“ die nach Ende des Krieges verlorengegangene Kultur und garantiere somit ihre Kontinuität: Der Kaiser ist Symbol und Bürge der japanischen Kultur. Er ist formal vom Politischen – und damit von der jüngsten japanischen Vergangenheit, der Kriegsniederlage – abgelöst und wird dadurch zu einer Figur, die der dekadenten Nachkriegszeit und dem bemängelten Werteverlust entgegensteht. Das Auseinanderdriften der einstigen Entitäten führt Mishima auf die Verwestlichung, also die Ereignisse der Nachkriegszeit, bzw. die grundlegende Angleichung Japans an die internationale Gemeinschaft seit der Meiji-Zeit zurück. Dieser Annahme zugrunde liegt Mishimas Zweifel, ob genuin westliche Konzepte in Japan identitätsstiftend wirken können.
1.2 Sprache, Stil und Übersetzung Das auffälligste sprachliche Merkmal von Bunka bōeiron ist die beinahe schon aufgesetzt anmutende Verwendung von Schrift- bzw. Hochsprache. Sowohl syntaktisch als auch hinsichtlich der Wortwahl weicht der Text nicht nur vom gesprochenen Japanisch, sondern auch von üblichen, gehoben formulierten Darstellungen ab. Der Essay ist durchsetzt von vornehmlich in der Schriftsprache gebräuchlichen chinesischstämmigen Wörtern, kango 漢語. Diese semantisch weit auslegbaren Lexeme, eingebettet in komplexe Satzstrukturen mit bisweilen unklaren Bezügen, tragen wesentlich zur begrifflichen Uneindeutigkeit etlicher Passagen bei.1 Dem Muttersprachler mag die Bedeutungsvielfalt der kango kaum auffallen, erst der Versuch, diese zu übersetzen, demonstriert ihre fehlende Eindeutigkeit, insbesondere wenn verschiedene kango mit ähnlicher Bedeutung zum Einsatz kommen.2 Verfremdend wirken im Falle von Bunka bōeiron nicht allein die kango, sondern auch die in den Text eingestreuten, westlichen Sprachen entlehnten Begriffe. Treten katakana-Nen1
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Diese ist freilich auch dadurch bedingt, dass der Text der Essay-Gattung zuzuordnen ist (vgl. hierzu Kapitel II.1.3). In Mishimas fiktionalem Werk sind schon immer ironische, widersprüchliche und paradoxe Tendenzen zu finden (vgl. Hijiya-Kirschnereit 2000: 241), allerdings unterscheidet sich die Verwendung solcher Stilmittel in einem theoretischen Aufsatz funktional. Im Fall der Substantive, die die Bedeutung „Form“ tragen, unterstreicht der vom Autor unternommene Versuch einer Begriffsdefinition den Klärungsbedarf. Keishiki 形式 (BB: 19) wurde – um in der Übersetzung zu spiegeln, dass verschiedene Lexeme verwendet werden – als „äußere Form“ ins Deutsche übertragen, was sich inhaltlich auch deswegen nicht von der Übertragung „Form“ für kei 形 (BB: 21) unterscheidet, weil sich im Japanischen genauso wenig wie im Deutschen eine divergierende Konnotation ausmachen lässt. Da kata 型 (BB: 22, 24) hingegen in Verbindung mit tradierten, vorgegebenen Theaterformen eingesetzt wird, wurde der Term als „Aufführungsform“ transponiert. Mishima fügt interessanterweise nach der Verwendung des einzelnen Lexem kei eine Klammer mit dem westlichen Sprachen entlehnten und in katakana wiedergegebenen Begriff „Form“, forumu フォルム (BB: 21) ein und suggeriert so die Notwendigkeit einer Abgrenzung. Aufgrund der fehlenden inhaltlichen Bedeutungszuschreibung bleibt die Differenzierung der Ausdrücke jedoch vage.
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nungen gehäuft auch dann auf, wenn durchaus indigene japanische Begriffe zur Verfügung stünden, liest sich dies befremdlich.3 Bereits in der aristotelischen Poetik wird Sprache, die das Gewöhnliche etwa durch fremdartige Ausdrücke vermeidet, als Merkmal guter Dichtung angeführt.4 Darauf rekurrieren im 20. Jahrhundert die russischen Formalisten, insbesondere Viktor Šklovskij (1893– 1984), der seinen Ausführungen zur ostranenie den Gedanken zugrunde legt, dass Wahrnehmung Automatismen unterliege.5 Damit die Wahrnehmung einer Sache nicht automatisiert und dadurch selbstverständlich werde, müsse ihr ihre Vertrautheit genommen werden. Ein Widerstand – etwa die Verwendung sperriger Sprache oder unverständlicher Elemente – provoziere Wahrnehmung; „Konstruktions-Sprache“6 sei es, die zu einer Umbewertung und einem neuen Sehen führe.7 Aus Rezipientensicht erschwert die inhaltliche Neubelegung zentraler Termini sowie die verfremdete Sprache die Lektüre, zumal die konzeptuelle sprachliche Vagheit des Textes auch inhaltlich aufgegriffen wird. Nicht aufgrund unklarer Begrifflichkeiten, sondern aufgrund mangelnder Positionierung, fehlender Begriffsdefinition und doppeldeutiger Metaphern ist beim ersten Lesen oftmals nicht auszumachen, ob zentrale Konzepte wie „Kulturalismus“ oder „ethnischer Nationalismus“ positiv oder negativ besetzt sind. Obgleich bereits mit der ersten Nennung von Kulturalismus negative Beispiele angeführt werden, verwirrt die darauf folgende Beschreibung, Kulturalismus bewirke, dass Kultur etwas „Harmloses, Schönes, ein Gemeingut der Menschheit, ein schöner Springbrunnen auf dem Marktplatz“ werde. Erst aus einem umfassenden Textverständnis kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass die Springbrunnen-Metapher an dieser Stelle der Quellenmetaphorik entgegengesetzt ist.8 Während die sprudelnde, sich kontinuierlich erneuernde Quelle 3
Die terminologische Uneindeutigkeit wird verstärkt, wenn Begriffe wie nashonarizumu (ナショナリ ズム nationalism), emōshon (エモーション Emotion) oder puragumatizumu (プラグマティズム prag-
matism) in katakana wiedergegeben werden, für die sich durchaus Termini finden ließen, die nicht dem Englischen entlehnt sind. Tāningu pointo (ターニング・ポイント turning point), furasutorēshon (フラストレーション frustration), und momento (モメント moment) sind in dieser Schreibweise unüblich (vgl. BB: 33). Undurchsichtig bleibt für den Leser auch, wieso innerhalb eines Absatzes ohne erkennbare inhaltliche Unterscheidung sowohl mit katakana-Begriffen, als auch mit den entsprechenden Kanji operiert wird (etwa im Falle von furagumento フラグメント und danpen 断片. BB: 16). 4 Vgl. Kap. 22 in Aristoteles [1994], hier: 71. 5 Seine Überlegungen zur Entfremdung formulierte Šklovskij zunächst in dem Aufsatz Die Kunst als Verfahren aus dem Jahr 1917 (vgl. Šklovskij 1971 [1917]; Lachmann 1970). 6 Šklovskij 1971 [1917]: 34. 7 Vgl. Lachmann 1970: 237f. Ähnlich – wenn auch mit anderer Intention – argumentierte der romantische japanische Schriftsteller Kitamura Tōkoku 北村透谷 (1868–1894), der die politische Sprache für das „Verkalken“ gängige Worte verantwortlich machte. Er forderte eine Sprache, die über das moderne – und damit implizit westliche – Denken ebenso hinausgehe wie über das mit dem Auge Wahrnehmbare (vgl. Tansman 2009: 36). 8 Vgl. BB: 16; Zitat ebd. Derartige Eigenschaften sind selbstredend nicht nur Mishimas Texten oder Bunka bōeiron im Besonderen zu eigen. Exemplarisch für die relationale Bezugnahme von Begriffen innerhalb eines Textes ist Lukács Werk Die Theorie des Romans. Im Vorwort zur zweiten Auflage thematisiert Lukács sein Vorgehen: „Es wurde Sitte, aus wenigen, zumeist bloß intuitiv erfaßten Zügen
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mit einem lokalisierbaren Ursprung für die positiv besetzte Kultur steht, symbolisiert der künstliche – und seiner Idee nach aus dem Westen stammende – Springbrunnen auf dem von Menschenhand errichteten Marktplatz, der das immer gleiche Wasser innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zirkulieren lässt, den negativ verstandenen Kulturalismus. Das Spiel mit Wiederholungen, angelegt etwa im Wiederaufgreifen einzelner Metaphern, veranschaulicht die klare Konstruktion des Essays, die beim ersten Lesen zunächst nicht ersichtlich ist.9 So schließt das zweite Kapitel beispielsweise mit einem Rückgriff auf die bereits zu Beginn des Essays eingeführte Metapher der Quelle; das Bild steht wiederum im Zusammenhang mit dem davor genannten Springbrunnen auf dem Marktplatz. Indem Mishima Begriffe wie Damm, Austrocknung, Bewässerung, oder Überschwemmung verwendet, nimmt er immer wieder auf die Wasser-Metaphorik Bezug.10 Ähnlich wie die terminologische Uneindeutigkeit von Bunka bōeiron sprachlich und inhaltlich angelegt ist, finden auch Wiederholungen auf verschiedenen Ebenen Anwendung. Im ersten Absatz des Essays beklagt der Autor, dass es in der Nachkriegszeit keine großen Schriftsteller mehr gäbe: In einer Shōwa-Genroku-Zeit, in der es weder einen Chikamatsu noch einen Saikaku oder einen Bashō gibt, verbreiten sich allein dekadente Bräuche. Das Pathos versiegt, der eiserne Realismus ist hinweggefegt und an die Tiefe der Poesie kann man sich nicht zurückerinnern. Es existieren also weder ein Chikamatsu noch ein Saikaku oder ein Bashō.11
Im ersten und dritten Satz wird die identische Aussage getätigt, nämlich dass die Zeit der großen japanischen Autoren vorbei sei. Um zu erkennen, dass der zweite Satz ebenfalls keine neuen Informationen beinhaltet, bedarf es einiger Kenntnisse der Werke der Autoren: Das „versiegende Pathos“ ist eine Metapher für das Werk von Chikamatsu Monzaemon 近松門左衛門 (1653–1725), Ihara Saikaku 井原西鶴 (1642–1693) ist für seine realistischen Romane bekannt und Matsuo Bashō 松尾芭蕉 (1644–1667) ist das Paradebeispiel für die „Tiefe der Poesie“. Die redundante Wort- und Sinnwiederholung wird damit auf die metaphorische Ebene ausgedehnt.12
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einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, aus denen man dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabstieg und so eine größere Zusammenfassung zu erreichen meinte.“ (Lukács 1963 [1916]: 7). Augenfällig ist auch die Mehrfachverwendung einzelner Kanji, beispielsweise die in wechselnden Konstellationen dreimalige Anführung des Zeichens für Transparenz (tō 透) im vierten Satz, welche als Stilmittel zu deuten ist. Die Transparenz-Thematik durchzieht Mishimas Gesamtwerk und bedürfte einer eigenen Untersuchung, interessant ist hier, dass sich das Motiv in Verbindung mit dem von Mishi ma ebenfalls häufig herangezogenen Kristall-Topos erneut findet (vgl. BB: 21f.). Vgl. BB: 24. Der Tropus des „Mutterleibes“ als Metapher des Ursprungs und der Kontinuität ist in Bunka bōeiron ebenso präsent wie der Verweis auf Chrysantheme und Schwert, der als Intertext und Metapher gleichermaßen fungiert (vgl. BB: 16, 22, 25, 27, 31, 48ff.). BB: 15. Tatsächlich könnte auch der folgende Satz auf die drei genannten Schriftsteller bezogen werden, wenn die beklagte gegenwärtige Rätsellosigkeit so verstanden wird, dass niemand mehr in der Lage ist, der Realität Geheimnisse oder Rätsel einzuschreiben wie Bashō, Chikamatsu oder Ihara dies taten.
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Beispiele, die nicht auf die Tradition rekurrieren, beziehen sich häufig auf das tagespolitische Geschehen.13 Sie veranschaulichen die theoretischen Passagen und ermöglichen dem Rezipienten ein intuitives Erfassen des Textes, das eine Detailanalyse der theoretischen oder philosophischen Erläuterungen hinfällig werden lässt.14 Die Einschübe kurzer, prägnanter Sätze dienen ebenfalls dem intuitiven Verstehen des Essays.15 Sie markieren Leitthemen und bündeln nachfolgende Ausführungen, so dass Kernthematiken und -aussagen erfassbar werden. Auch die Argumentation mit simplen, eingängigen Dualismen erleichtert das intuitive Verstehen des Textes. Gut einprägsame Gegensätze, die Grenzen ziehen und polarisieren, erleichtern Kategorisierungen sowie wertende Zuschreibungen. Holz und Stein, Vorkriegs- und Nachkriegszeit, Kultur und Kulturalismus: Pauschalisierende Dichotomien vereinfachen komplexe Sachverhalte und dienen dazu, die japanische Kultur gegen die westliche zu behaupten und die Vorzüge der Vergangenheit sichtbar zu machen, wodurch der Grundtenor des Textes gestärkt wird.16 Der Anspruch an die vorliegende Übersetzung von Bunka bōeiron war, eine Grundlage für die künftige Beschäftigung mit dem Text zu schaffen. Die Übersetzerin geht davon aus, dass es keine Formel oder Theorieanwendung gibt, die gleich einer Folie über einen Text gelegt werden kann, um ihn anhand dieser Schablone zu bearbeiten.17 Übersetzung 13
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Faktisch entstammen viele der Beispiele dem Erfahrungshorizont des Autors: Mishima schrieb shingeki-Stücke, war Teil der angura-Bewegung und befasste sich in einem Text mit dem Selbstmord des Olympioniken Tsuburaya Kōkichi 円谷幸吉 (1940–1968). Mit der Studentenbewegung stand Mishima insofern in direktem Kontakt, als er sich im Jahr 1969 mit Studenten der Zenkyōtō zu einem Gespräch an der Universität von Tokyo traf, um über die gegenwärtige politische Lage zu diskutieren. Eine Aufzeichnung der Diskussion, die sich unter anderem um die Frage drehte, wie tennō und minzoku miteinander verbunden werden könnten, findet sich bei Mishima 1969, ein Kommentar bei Yasko o. J. [1995?]. Weitere Debatten mit Zenkyōtō-Mitgliedern lassen sich bei Mishima 2000 nachlesen. Folgende Textstelle demonstriert diesen Sachverhalt: „Das heißt, dass die Kettenglieder von Chrysantheme und Schwert durchgeschnitten sind und nur die wirksamen Teile der Kultur bei der Bildung der bürgerlichen Moral Verwendung fanden und die schädlichen Teile unterdrückt waren. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass die zu Beginn der Okkupationspolitik erlassenen politischen Maßnahmen wie das Verbot des Rachedramas im kabuki und das Verbot von Schwertkampffilmen äußerst primitiv waren.“ (BB: 16). Der Leser, der nicht hinterfragt, was mit bürgerlicher Moral gemeint ist, oder der den intertextuellen Verweis auf Chrysantheme und Schwert nicht erkennt oder ihm keine Bedeutung beimisst, weiß dank des konkretisierenden Beispiels im zweiten Satz dennoch, worauf der Text abzielt. „Irgendetwas ist unterbrochen worden.“ (BB: 16); „Kultur wird von jedem Standpunkt als geformtes Ding betrachtet.“ (BB: 24); „Was ist ‚schützen‘?“ (BB: 27); „Welche Bedeutung hat diese Situation für die Kultur?“ (BB: 34); „Diesen schlüssel giBt es nur in Der Kultur.“ (BB: 38). Mithilfe des Klischees, der Westen habe eine Kultur des Steins, Japan hingegen eine des Holzes, beschreibt Mishima – durchaus provokant, wenn man sich die Bedeutung des Altertums nicht nur für die Renaissance, sondern die komplette Entwicklung der modernen europäischen Geistesgeschichte vor Augen hält – die Überreste der Antike als steinerne Statuen, die auf dem Grund des Mittelmeers schliefen (vgl. BB: 23). Fragwürdig bleibt, was Übersetzungstheorie meint: Die „Theorien“ versuchen, Mechanismen zu beschreiben, die den Prozess einer Übertragung von A nach B kennzeichnen, wobei sie jedoch naturgemäß keinerlei normatives Regelwerk aufstellen können (vgl. Albert 2001 [2000]: 12–19).
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wird verstanden als Kette nicht willkürlicher, aber dennoch subjektiver, vom individuellen Textverständnis des Übertragenden abhängiger Entscheidungen.18 Es handelt sich dabei um einen vielschichtigen Prozess, der zusätzlich zum interlingualen Transfer immer auch kulturelle und semiotische Übertragungen beinhaltet. Bevor ein Text in einer anderen Sprache wiedergegeben werden kann, muss er aus seinem Entstehungskontext heraus verstanden werden, wobei dieses Verständnis der jeweiligen Rezipientenerfahrung unterworfen ist. In Äquivalenzbegriffen formuliert, geht es um die Herstellung einer Übereinstimmung des Gemeinten im Ausgangs- und Zieltext, welcher ein umfassendes Verständnis zugrunde liegt. Für die Übersetzung von Bunka bōeiron bedeuten diese Annahmen, dass die Sperrigkeit des Textes ganz bewusst ins Deutsche übernommen und Unschärfen beibehalten wurden.19 Mit Walter Benjamin gesprochen, wurde die Aufgabe des Übersetzers als darin bestehend gefasst, „diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird“.20 Während der Leser der Übersetzung dem Text über weite Strecken konzeptionell und inhaltlich folgen kann, sind die sprachlichen und stilistischen Eigenheiten von Bunka bōeiron gewöhnungsbedürftig. Da sich auch der Leser des Originals zunächst mit dessen Stil und Argumentationsweise vertraut machen muss, wurde dieses Element in der deutschen Version des Essays bewusst aufrechterhalten. Denn „[d]ie wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen.“21 Dabei konnte die Übertragung von Stilmitteln, Sprache sowie der ästhetischen Ebene naturgemäß nicht immer gewährleistet werden. Selbst simple Stilmittel wie etwa Mehrfachverwendungen des gleichen Wortes innerhalb eines Satzes, die aufgrund der Bildlichkeit der japanischen Schriftzeichen das Gesagte in besonderem Maß betont, konnten nicht immer Eingang in die Übersetzung finden.
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Vgl. etwa Levý 1981 [1967]. Der in die Translation übernommene Nominalstil, welcher die Übersetzung sperrig wirken lässt, ist neben der Satzstruktur des Essays auf die kango zurückzuführen. Benjamin 1972 [1921]: 16. Bei Schleiermacher lautet die Forderung, dass sich der Leser dem Original entgegenbewegen solle, und die Aufgabe des Übersetzers sei, dem Leser einen Eindruck der Ursprache zu vermitteln (vgl. Schleiermacher 1973 [1838]: 47f.). Rudolf Borchardt wendet sich ebenfalls gegen „gönnerhafte Kulturvermittlung“ wenn er sagt: „Ich bin so hochmütig, Äschylus eben nicht klarer zu wollen, als er selber sich gewollt hat, auch Pindar nicht, auch Swinburn und George nicht. Ich bin zu blöde, dem ungeheuren Gesicht eine falsche scheinhafte Deutlichkeit anzuwünschen […] es kommt auf den ‚Sinn‘ nicht an; es kommt nicht an auf das, was bleibt, wenn die Formen zerbrochen sind. Die Formen als freie Erscheinung wollen als das, was sie sind, nicht als das, wozu sie angeblich dienen, ergriffen sein, und wer überhaupt reich genug ist, sie zu erleben, wird sie so erleben, wie kein anderer vor ihm und nach ihm es kann.“ (Borchardt 1987 [1905]: 34–35). Benjamin 1972 [1921]: 18.
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1.3 Genredefinition Die erörterten Texteigenschaften signalisieren bereits, dass Bunka bōeiron als Essay zu klassifizieren ist. Um jedoch nicht ungeprüft die europäische Gattungsbezeichnung auf einen japanischen Text anzuwenden, werden exkursorisch die Unterschiede zwischen dem europäischen Essay und der klassischen japanischen Textform, dem zuihitsu 随筆, aber auch deren Gemeinsamkeiten erörtert.22 Den Essay kennzeichnet – darin zeigt sich zugleich die Problematik der Abgrenzung von anderen Genres wie dem Traktat, der Abhandlung oder dem Aufsatz – seine offene Form, welche unsystematische Betrachtungen über beliebige Themen zulässt.23 Dennoch ist die Form des Essays keinesfalls willkürlich, sondern die Reflexionen sind getragen von der übergeordneten Einheit seines Gegenstandes.24 Der Versuchscharakter des Essays wird neben seiner Offenheit und Spontaneität auch dadurch deutlich, dass Begriffe nicht abgeleitet und definiert, sondern „durch ihr Verhältnis zueinander“ 25 präzisiert werden: Überinterpretation und Zuspitzung kennzeichnen ihn eher als philologische Präzision, er bedient sich Vorläufigkeiten, Widersprüchen, Assoziationen, Verhüllungen und Mehrdeutigkeiten. Dabei verschmelzen diese mit dem Anspruch auf Erkenntnis: Verstrickungen sind es, die nachgerade die Voraussetzungen für eine Beurteilung darstellen.26 Ohne auf Antworten zu hoffen, nähert sich der Essay seinen Fragestellungen dialektisch.27 Dabei regen die Zwiespältigkeit der getroffenen Aussagen, die bisweilen kritische Distanz des Essayisten zum Text sowie das sokratische Vorgehen den Rezipienten zur eigenen Meinungsbildung an. Lukács verwendet „Essay“ und „Kritik“ synonym, Bense spricht davon, dass alle Essayisten Kritiker seien und Adorno nennt die Textsorte „kritische Form par excellence“.28 Die experimentierende Form und die Beweglichkeit des Essays schaffen die Bedingung, um einen Gegenstand neu zu beleuchten, ihn zu bearbeiten und damit gegebene Positionen infrage zu stellen. Lukács und Adorno gehen davon aus, dass sich der Essay thema-
Für die folgenden Ausführungen zur Form des deutschen Essays werden hier exemplarisch die theoretischen Auseinandersetzungen von Lukács (1910), Bense (1952) und Adorno (1958) herangezogen. An dieser Stelle kann kein Versuch unternommen werden, die verschiedenen Arten des Essays in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext historisch und mit ihren Vorläufern zu untersuchen oder die Frage zu klären, ob der Essay eine Gattung sei. Ausführungen hierzu finden sich bei Haas 1969. 23 „Der Essay lässt sich sein Ressort nicht vorschreiben. […] Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte […]. Er fängt nicht bei Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will […].“ (Adorno 1972 [1958]: 62). „In Freiheit denkt er zusammen, was sich zusammenfindet in dem frei gewählten Gegenstand.“ (Adorno 1972 [1958]: 70). 24 Vgl. Adorno 1972 [1958]: 76. 25 Adorno 1972 [1958]: 71. 26 Vgl. Adorno 1972 [1958]: 62, 68, 78, 80ff; Bense 1968 [1952]: 61. 27 Vgl. Lukács 1972 [1910]: 40, 43–46; Bense 1968 [1952]: 59. An anderer Stelle beschreibt Bense das Vorgehen des Essays als „sokratisch“ (vgl. Bense 1968 [1952]: 68). 28 Adorno 1972 [1958]: 77. Vgl. auch Lukács 1972 [1910]: 28, 30, 31; Bense 1968 [1952]: 62. 22
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tisch mit kulturell Vorhandenem, Geformtem auseinandersetze und dieses neu ordne.29 Der Gattung ist eine kulturkonservative Tendenz zu eigen, die zu Benses Beobachtung geführt haben mag, dass der Essay häufig ein Produkt der Krise sei.30 Ein Blick auf den Essay im 20. Jahrhundert, in welchem dieser lyrischer und seine Form ästhetisiert wird, zeigt, dass er oft Zivilisationskritik und Kunstenthusiasmus vereint. Der Essayist, der sich nicht wie der Dichter vollständig ins Reich der Kunst zurückzieht, sondern mit der Realität konfrontiert bleibt, verarbeitet gesellschaftliche Missstände. Die Projektion dieser auf den Text führt häufig zu einer Idealisierung des Vergangenen und einer Verherrlichung der Geschichte als Ideal der Gegenwart.31 Die „Methoden“ der essayistischen Annäherung an einen Gedanken sind vielfältig. Historische Ereignisse werden mit dem Tagesgeschehen, scheinbar willkürlichen Assoziationen und Selbsterfahrungen des Autors verwoben, die zudem meist mit vorherrschenden Diskursen verschränkt sind. Im Gegenzug zur fortschreitenden Ausdifferenzierung der Wissensdiskurse, deren Ergebnisse er [der Essay] aber verwertet, dringt er auf die Verknüpfung der Erkenntnisse und Erfahrungen zu einer Einheit des „Lebens“, zu einer Totalität der „Kultur“ und fungiert so als ein kultureller „Interdiskurs“.32
Neben der dem Essay inhärenten Reflexion spiegelt der Text vorhandene Diskurse und wirkt als Interdiskurs auf diese zurück. Damit changiert der Essay zwischen Wissenschaft und Dichtung33: Einerseits bedient er sich literarischer Stilmittel und Motive, andererseits bietet er die Möglichkeit, vorwissenschaftliche Hypothesen zu äußern. Trotz des Spiels des Verfassers mit Argumenten und Widersprüchen bleibt es die vielleicht verzerrte aber dennoch subjektive Stimme des Autors, die sich im Essay Gehör verschafft – und die Textsorte damit als nicht-fiktionale kennzeichnet.34 Der Essay lässt sich als prozessuales, dem Denken ähnliches und auf persönliche Erfahrungen zurückgreifendes Schreiben mit Gesprächscharakter und inhärenter Dialektik fassen. Er behandelt Möglichkeitsaussagen und weist bisweilen restaurative, kulturkritische Züge auf. Weitgehend identische Merkmale kennzeichnen den klassischen japanischen Essay. Die Anfänge der heute als Genre anerkannten Gattung des zuihitsu (Essay, Miszellenliteratur, wrtl. „dem Pinsel folgend“), dem Paradebeispiel japanischer Essayliteratur, werden in der Vgl. Lukács 1972 [1910]: 38; Adorno 1972 [1958]: 76–79; Bense 1968 [1952]: 66. Vgl. Bense 1968 [1952]: 64, 69. 31 Vgl. Schlaffer 1975. 32 Burdorf 2007: 210. Adorno verweist sowohl auf den intertextuellen Charakter des Essays, als auch darauf, dass dieser „Begriffe und Erfahrungen von draußen absorbiert; so auch Theorien.“ (vgl. Adorno 1972 [1958]: 76, 79, Zitat: 77). 33 Vgl. Lukács 1972 [1910]: 40ff. Bense beschreibt den Essay als zwischen Poesie und Prosa bzw. zwischen Ästhetik und Ethik angesiedelt: „Auf diese Weise wird verständlich, daß eine bloße literarische Form, der Essay, durch die ästhetische Hülle hindurchstößt und ethisch, existentiell wird; es wird verständlich, daß eine existentielle Kategorie, die des Versuches, bildlich und methodisch getreu zu einer literarischen Form wird.“ (vgl. Bense 1968 [1952]: 56–59, 64f., Zitat: 67). 34 Vgl. Bense 1968 [1952]: 67f. 29
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späten Heian-Zeit (794–1185) veranschlagt.35 Genau wie beim Essay fällt eine Abgrenzung von anderen Textgattungen schwer: Einerseits bezeichnet zuihitsu das planlose, der Willkür und Neigung des Autors überlassene Notieren von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Überlegungen und das Zitat in beliebiger Länge und Form (Idealtypus: Makura no sōshi). Das Produkt ist in diesem Fall eine Sammlung von Textabschnitten in unsystematischer Folge. Andererseits wendet man den Begriff aber auch auf Werke aus einem Guß und auf den modernen Essay (nicht nur die Essay-Sammlung) an, also auf durchaus homogene Gebilde, deren innere Struktur von klarer Logik bestimmt ist (Idealtypus Hōjōki).36
Bei aller Bandbreite der zuihitsu-Gattung bleibt bestimmend, dass der Autor eigene Reflexionen über ein beliebiges Thema zu Papier bringt. Diese können philosophischer Natur und auf einen Gesamtzusammenhang gerichtet sein oder aber Einblicke in die Psyche des Autors geben. Ihr experimenteller Charakter mag zur anhaltenden Beliebtheit der Gattung beigetragen haben, denn er ermöglicht die Artikulation jeglicher Art von Gedanken, Hypothesen und wissenschaftlich nicht notwendigerweise fundierten Möglichkeitsaussagen.37 Als eines der bekanntesten Werke der Gattung zuihitsu gilt das Tsurezuregusa 徒然草 (1330–1332) aus der Feder von Yoshida Kenkō 吉田兼好 (1282/83–1350?).38 Das Tsurezuregusa weist eine kulturkritische Tendenz auf, welche auf die von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Entstehungszeit des Werkes zurückzuführen sein mag. Der Schwertadel dominierte in der Kamakura-Zeit die politische Szenerie und kämpfte gegen den Kaiserhof um die politische Vorherrschaft. Einhergehend mit der schwindenden höfischen Macht der friedlichen Heian-Zeit, wurde um den Erhalt von Kunst und Kultur 35 36 37
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Die Bezeichnung zuihitsu findet sich erstmals im Tōzai-zuihitsu (東西隨筆) der Muromachi-Zeit (vgl. Midorikawa 1986; 1030ff.). Naumann 1990³: 1104. Midorikawa verweist auf den Nennen zuihitsu von Ishihara Masaakira 石原正明 (1760–1821), einem kokugaku-Gelehrten, dessen Darlegung der zuihitsu-Eigenschaften deckungsgleich ist mit den Charakteristika des Essays: Alles, was einem in den Sinn komme, adagoto mo mamegoto mo (Midorikawa 1986: 1030), Nichtigkeiten und Wichtiges könne im zuihitsu festgehalten werden. Midorikawa stellt jedoch keine direkten Einflüsse der Genres aufeinander heraus, sondern vermerkt lediglich, dass sich die Definition des zuihitsu durch die Studien des westlichen Essays in der Moderne verengt hätte (vgl. Midorikawa 1986: 1030ff.). Vgl. Yoshida 1977. Die englische Übersetzung von Donald Keene aus dem Jahr 1967 lautet Essays in Idleness, William Porter gab seiner Übertragung sieben Jahre später den Titel The Miscellany of a Japanese Priest. Oscar Benls Titel aus dem Jahr 1940 lautete Tsurezuregusa oder Aufzeichnungen aus Mußestunden von Yoshida Kenkō, die mehrfach aufgelegte Fassung von 1963 dann Tsurezuregusa. Betrachtungen aus der Stille. Wolfram und Nelly Naumann entschieden sich für Allerlei aus Mußestunden. Bei Keene finden sich Hinweise zu Autor, Werk und Gattung (vgl. Keene 1993: 852–867). Linda Chance kommt dank ihrer Ausführungen zu Form, Inhalt und dem Verhältnis von Autor und Leser im Text zu dem Schluss, dass das Tsurezuregusa nicht der zuihitsu-Gattung angehört. Diese Diskussion sei an dieser Stelle aus Platzgründen ausgespart; zumal sie vor allem zu der Erkenntnis führt, dass die Form des Werkes nicht willkürlich ist, sondern einer inneren Logik folgt (vgl. Chance 1997).
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gebangt, die vornehmlich am Hof florierten. Zudem glaubte man, im mappō-Zeitalter, der Periode, in der die buddhistischen Gesetze schließlich zugrunde gehen, angekommen zu sein. So haftet auch Kenkōs Schrift eine in dieser Zeit nicht ungewöhnliche, nostalgische Note an: Im Moment der gefühlten Krise hält er der Gegenwart das Idealbild der friedfertigen Heian-Zeit entgegen.39 Einen der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Gattungen zuihitsu und Essay sieht Yoshida-Krafft darin, dass für den zuihitsu aufgrund seines Ursprungs in der höfischen Kultur vor allem ästhetische Elemente bestimmend gewesen seien.40 Zwar hätten zuihitsu in der Edo-Zeit als Möglichkeit gegolten, Wissen verfügbar zu machen, doch seien die meisten Texte aus dieser Zeit vornehmlich aufgrund ihres literarischen Wertes bekannt. Der Stil japanischer Autoren, der, wie in den Texten Motoori Norinagas 本居宣長 (1730–1801) klar zum Vorschein komme, sei von einer Leichtigkeit und Wendigkeit, welche bei den englischen Essayisten verzweifelt gesucht würde.41 Der zuihitsu-Autor gebe dem Leser Einblicke in die Motive für sein Schreiben und verbürge sich für den dokumentarischen Wert des Geschriebenen.42 Yoshida-Krafft ist um eine Darstellung der Andersartigkeit des zuihitsu bemüht, doch bleibt ihre These aufgrund eines konkreten Vergleichs von Essay und zuihitsu schwach, zumal der westliche Essay des 20. Jahrhunderts durchaus als literarisches Zeugnis gilt.43 Viel eher als Unterschiede lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen Essay und zuihitsu feststellen. Dass es sich hierbei um parallele Entwicklungen innerhalb verschiedener Kulturen handelt, ist angesichts der Merkmale des didaktischen, gleichzeitig offenen und prozesshaften Genres keineswegs verwunderlich. Während dem Essay der japanische zuihitsu weitgehend hinsichtlich Charakter und Form entspricht, gibt es weitere Übersetzungen des Essay-Begriffs ins Japanische: Die direkte Übertragung lautet essei (エッセイ, auch エッセー), eine weitere Lehnübersetzung, shiron (試論), spiegelt durch die Verwendung des Lexems für „Versuch, Probe, Prüfung“ (tameshi 試し) explizit den Versuchscharakter des Essays wider. Neben jiyūsakubun (自由作文, wrtl. „freier Aufsatz“) ließen sich auch shōron (小論) und ronsetsu (論説) 39
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Vgl. Yoshida 1991 [1963]: 22; Yoshida 1977: 31f. Während es bei Benl heißt: „Mag die Welt auch immer mehr in Verfall geraten […]“ findet sich bei Yoshida/Kawase der Ausdruck „おとろえたる末 の世とはいえど[…]“ wodurch eindeutig auf den mappō-Gedanken verwiesen wird. (Yoshida 1991 [1963]: 23; Yoshida 1977: 32). „Wenn heute in Japan zuihitsu ohne Differenzierung als Essay bezeichnet werden, so ist das insofern unkorrekt, als für beide unter dem Gesichtspunkt sprachlicher Ästhetik unterschiedliche Kriterien gelten.“ (Yoshida-Krafft 2000: 42). Vgl. Yoshida-Krafft 2000: 36ff. Vgl. Yoshida-Krafft 2000: 28–32. Yoshida-Krafft vertritt die Position, dass der zuihitsu keinen Traditionsbruch erlitten hätte (YoshidaKrafft 1981: 9) und Japan mit seinen traditionellen Künsten lebe, als sei deren Geschichtlichkeit aufgehoben (Yoshida-Krafft 2000: 44). Zweifellos fraglich ist auch die Aussage, dass die assoziativen Verknüpfungen des japanischen Essays Ausländern Verständnisschwierigkeiten bereiteten und sie zudem beim Verfassen eigener zuihitsu scheitern ließe (vgl. Yoshida-Krafft 2000: 42).
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als „Essay“ wiedergeben.44 Oftmals wird auch die „kritische Abhandlung“, hyōron (評論), mit dem Essay in Verbindung gebracht. Der Begriff lenkt die Aufmerksamkeit bereits auf den kritischen Gestus, als hyōron werden kritische Kommentare zum tagespolitischen Geschehen ebenso verstanden wie Auseinandersetzungen über den Wert von Kunst.45 Augenfällig ist das wiederholt zu findende Lexem ron bei allen genannten Termini. Das Lexem beinhaltet neben dem Radikal 言 (Wort, Rede, Sprache), das in diesem Fall das Signifikum ist, den Bestandteil 冊 für geheftete und gebundene Gegenstände und trägt die Bedeutung „Argument, Beweisführung, Argumentation, Erörterung, Diskussion, Abhandlung, Meinung, Ansicht, Problem“.46 Kennzeichnend sind jeweils die offene Form und freie Themenwahl sowie ein Autor, der intertextuelle Verbindungen mit Assoziationen, Reflexionen und persönlichen Ansichten verknüpft. Angesiedelt zwischen Wissenschaft und Dichtung ist die Sprache des Genres häufig durch literarische Stilmittel wie Metaphern oder Perspektivwechsel geprägt, zudem gestalten sich Aussagen oft widersprüchlich. Bunka bōeiron lässt sich als Essay, zuihitsu oder hyōron klassifizieren: Der Rezipient wird durch den Text geleitet und begreift dessen Argumentation intuitiv und mithilfe der zahlreichen Beispiele. Verständnis wird nicht deduktiv erlangt und auch das Hinterfragen der Begrifflichkeiten bringt keine Erkenntnis, die nicht im Text selbst enthalten wäre. Viel eher lebt der Text von seiner Bildhaftigkeit, Literarizität und der subtilen Vermittlung des Gemeinten. Literarästhetisches Lesen konstruiert Sinn anders als pragmatisches und Bunka bōeiron macht von essayistischen Methoden, etwa vor-wissenschaftliche Thesen in poetologische Strukturen einzubetten, Gebrauch. Dabei wirkt der Text als Ganzes, er ist in sich konsistent und obgleich er auf historische Ereignisse Bezug nimmt, beugt er sich keiner stringenten Terminologie, sondern widersetzt sich viel eher rhetorischen und logischen Erwartungen. Bunka bōeiron lässt sich formal und aufgrund seines kritischen Gestus als Essay definieren; inhaltlich ist der Text eindeutig der ethnozentrischen Gattung der Nihonjinron47 zuzuordnen. Die essayistischen Nihonjinron thematisieren die kulturelle japanische Iden-
Bereits im Titel der Analekten des Konfuzius, Lunyu (jap. rongo 論語) findet sich das Lexem ron, der Titel spiegelt den Frage-Antwort-Charakter der von Konfuzius Schülern vorgenommenen Aufzeichnungen (vgl. Tōdō 197827: 689; Konfuzius 1994 [1985]: 30f.). In der Edo-Zeit waren zudem die Synonyme zakki 雑記 (Miszellen), manroku 漫録 (sorglos Notiertes) oder manpitsu 漫筆 (aus der Feder Geflossenes), konwa 懇話 (Plauderei), und oriorisō 折々草 (Gelegenheitsschreiben) gebräuchlich (vgl. Yoshida-Krafft 2000: 34ff.). 45 Vgl. Kunimatsu 1998 [1985]: 717; Kimura 1937: 735; Stalph 2009: 2196; Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972], Bd. 11: 561. Dass Bunka bōeiron in der Mishima Yukio hyōron-Ausgabe enthalten ist, hebt neben dem kritischen Charakter des Aufsatzes auch die von außen vorgenommene Kategorisierung des Textes hervor. 46 Vgl. Tōdō 1990 [1978]: 1229f.; Tōdō 197827: 689. 47 Weitere, nicht eindeutig von diesem Terminus abgrenzbare Begriffe wären Nihonron 二本論 (Abhandlungen über Japan), Nihonbunkaron 日本文化論 (Abhandlungen über die japanische Kultur) Nihon shakairon 日本社会論 (Abhandlungen über die japanische Gesellschaft).
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tität und stellen die japanische Besonderheiten heraus, womit eine Abgrenzung des Landes von anderen Nationen – in der Moderne insbesondere vom Westen – einhergeht.48 The logic [of Nihonjinron] is reductive: supposedly ahistorical categories, such as biology or ethnicity, are employed as essentialist sources of Japanese uniqueness. Indeed, Japan is purportedly so unique that others cannot possibly comprehend it. Japan’s cultural uniqueness functions as an ideological device to assure the superior status of Japan in relation with other countries.49
Die generalisierenden Nihonjinron-Texte richten sich vorwiegend an eine allgemeine Leserschaft und behandeln häufig die immer gleichen, kontrastiven Themen.50 Egal ob sich diese mit der Organisation der japanischen Familie, der Struktur des amae oder den Auswirkungen des Klimas auf die japanische Kultur51 befassen, die Homogenität der japanischen Rasse sowie deren Reinheit und ihr angeblich auf eine göttliche Linie zurückzuführender Ursprung ist das grundlegende Thema der Nihonjinron.52 Clearly in Nihonbunkaron publications, revivalism of old values is never far or implicit. Although the rituals of old nationalism are not advocated or encouraged explicitly, it is manifest that the underlying framework of Nihonbunkaron consists of a holistic view of the Japanese as a Gemeinschaft, a pre-industrial form of community. Such a community is characterized by familial ties, of which the emperor system (tennōsei) constitutes the ultimate form, and by the mura metaphor.53
Japanizität wird dabei bereits durch die Anführung einschlägiger Stichwörter evoziert.54 Metaphorisch verwendete Begriffe wie Nihon no kokoro („Das japanische Herz“) oder Nihon no seishin („Der japanische Geist“) verweisen auf eine angebliche japanische Essenz. Ähnlich verhält es sich, wenn ästhetische Konzepte wie wabi, sabi oder yūgen als Schlüssel für das Verständnis Japans ausgewiesen werden.55 Durch das implizierte Alleinstel48
Vgl. Befu 2001: 2. Vor der Landesöffnung durch die westlichen Mächte definierte sich Japan in Auseinandersetzung mit dem chinesischen Festland (vgl. Befu 2001: 10; Nosco 1990: 9–14). Ko setzt Nihonjinron mit „der Ideologie der Japanizität “ gleich und formuliert provokant: „All countries lay claim to uniqueness. […] However, there is one country which believes that its culture is ‘uniquely’ unique. This is ‘Japan’. Since its emergence as a modern nation-state, Japan has been obsessed with its alleged uniqueness, and its uniqueness has continuously been narrated in a set of discourses called ‘nihonjinron (discourses of Japaneseness).“ (Ko 2010: 11). 49 Igarashi 2000: 73. 50 Vgl. Befu 2001: 4f. Nihonjinron sind dem „passiven Nationalismus“ zuzurechnen (vgl. Befu 1993: 126f.). 51 Vgl. Doi: 1982 [1971]; Watsuji 1972 [1935]; Nakane 1985 [1971], die zu den bekanntesten Nihonjinron gehören. 52 Vgl. Pang 2000: 88. Eine ältere, aufgrund der vorgenommenen Systematisierung jedoch aufschlussreiche Studie zu Nihonjinron ist die von Mourer 1986, hier: 43. 53 Pang 2000: 102. 54 Vgl. Befu 2001: 5. Der Literaturwissenschaftler Karaki Junzō 唐木順三 (1904–1980) etwa veröffentlichte 1965 den Band Nihonjin no kokoro und diskutierte darin Figuren wie Matsuo Bashō 松尾芭蕉, Mori Ōgai 森鷗外 (1862–1922) oder Suzuki Daisetsu 鈴木大拙 (1870–1966). Dabei evozieren allein deren Namen das angeblich Nationaltypische, das der Autor allerdings nicht näher erklärt (vgl. Befu 2001: 32f.). 55 Vgl. Befu 2001: 34. Auch auf politischer Ebene wurde der Einsatz derartiger Termini befürwortet: „However, by focusing attention on a number of intangible areas such as the spirit, the mind and emotional feelings, Japan’s leaders implanted a belief that the inalienable superiority of these more fundamental traits would later manifest itself in material terms.“ (Mourer 1986: 41f.).
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lungsmerkmal eignen sich derartige Konzepte besonders für Nihonjinron-Argumentationen; funktionale Äquivalente für Begriffe wie on, giri, wabi und sabi ließen sich selbstredend in anderen Kulturen finden, doch werden diese nur selten gesucht.56 Das Narrativ eines monokulturellen, durch Blutsbande geeinten Japan wurde dergestalt instrumentalisiert, dass es sich ungeachtet der vollkommen anders gearteten Wirklichkeit in den Köpfen und Seelen der Japaner festsetzte und zum dominierenden Selbstbild der Nation wurde.57 Das Genre wirkt, weil die als empirisch deklarierten Erkenntnisse deskriptiv und normativ zugleich funktionieren: Japaner, die von amae als angeblich spezifisch japanischem Gefühl gehört haben, bestätigen dessen Existenz. Folglich können Nihonjinron, wenn sie ideologisiert oder offizieller Teil der Kulturpolitik werden, durchaus politische Bedeutung erlangen.58 Dazu wurden Ideen, die in den 1930er Jahren virulent waren, in den 1960er Jahren leicht modifiziert und befreit vom militaristischen Jargon wiederbelebt.59 Nihonjinron dominated the postwar historical landscape for those who were emotionally invested in the category of Japan.60
Befu wirft die These auf, dass die Beliebtheit der Nihonjinron nach dem Krieg darauf zurückzuführen sei, dass der wandelbare Diskurs einen Ersatz für die hinfällig gewordenen nationalistischen und militärischen Symbole bot.61 Die Popularität des Genres sei unge-
Vgl. Pang 2000: 92–98. Eine zentrale Rolle für die Nihonjinron spielt die japanische Sprache, deren Unübersetzbarkeit – beziehungsweise deren Seele, kotodama 言霊 – ebenso proklamiert wird wie der Isomorphismus zwischen Japanischsprechenden und Trägern der japanischen Kultur. Die These der Unübersetzbarkeit des Japanischen führt nicht allein zu einem Überlegenheitsgefühl, sondern auch zu der unhaltbaren Behauptungen, Japanischsprecher könnten sich allein aus sprachlichen Gründen nicht dem westlichen Logozentrismus unterwerfen. 57 Vgl. Denoon: 268; Oguma 1996: 5. Obgleich die angeblich ethnische Homogenität Japans immer wieder bezweifelt wurde – bereits 1918 verfocht der Historiker Kita Sadakichi 喜田貞吉 (1871–1939) die These eines hybriden Japan – so war die Annahme der Besonderheit des Landes unumstößlich und die ununterbrochenen Kaiserlinie wurde als das einende Band Japans beschrieben (vgl. Morris-Suzuki 1998: 91). Der Rhetorik der Politik des kōminka 公民化 (imperial subjectification, das „Untertan-Werden“ im Kaiserreich) verpflichtet, erklärte der japanische Erziehungsminister im Kriegsjahr 1942, dass Japan zwar ethnisch hybride sei, die anderen Völker aber in die organische Gesellschaftsform unter dem Kaiser integriert seien. So wurde die Bevölkerung von Okinawa, Taiwan und Korea unter Missachtung der kolonialen Realität zu imperialen Subjekten. „No matter how vociferously and generously the claim of isshin-dojin (‘being equal under the emperor’) was made, there was a distinct racial hierarchy among the ‘imperial subjects’, not to mention discrimination and oppression.“ Ko 2010: 13f. 58 Vgl. Pang 2000: 100; Befu 2001: 78–83. 59 Vgl. Mourer 1986: 50. 60 Igarashi 2000: 74f. 61 Die Annahme, dass das Kaiserhaus in den nachkriegszeitlichen Nihonjinron kaum noch eine Rolle spiele (vgl. Befu 2001: 121f., 139f.) ist strittig, denn der Topos des Kaisers ist unabhängig von dessen veränderter Position in der Nachkriegszeit einer der aufgeladensten (vgl. Ivy 1995: 12). 56
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fährdet, solange es an alternativen Identifikationsangeboten mangle.62 Im Anschluss an diese These wird Bunka bōeiron als Nihonjinron gelesen werden. Mishima argumentiert nach dem plakativen Nihonjinron-Muster und beschränkt sich auf die repräsentative Nennung einzelner, dadurch fragwürdig exponierter Werke oder Gattungen. Die Gleichsetzung von japanischer Kultur und dem Kaiser als kulturellem Konzept stellt dabei ein eindeutiges Identifikationsangebot dar.
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Vgl. Befu 2001: 103, 118. In den 1980er Jahren sah sich Japan mit dem Vorwurf konfrontiert, ökonomische Gewinne für sich zu behalten und sich dem Westen nicht zu öffnen. Kultureller Exzeptionalismus diente als Rechtfertigung: Der Westen könne die besondere japanische Situation – sei es seine Kultur, Kommunikation, Verhandlungsstrukturen oder die industrielle Organisation – nicht verstehen (vgl. Befu 2001: 1). Dass das Interesse und damit vielleicht auch das Bedürfnis nach weiteren Erklärungs- oder Definitionsversuchen an Nihonjinron ungebrochen ist, zeigen gegenwärtige Publikationen wie etwa Aoki Tomotsus Geschichte der modernen Nihonjinron aus dem Jahr 1990, oder eine Reihe des Iwanami Verlages, der zwischen 1996–1999 eine 24-bändige Reihe über gegenwärtige Nihonjinron veröffentlichte. Die Nihonjinron der 1980er Jahre erörtert Ivy 1995.
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2.1 Kultur, Kulturalismus und dessen Umkehrung Die einleitende Unterscheidung zwischen Kultur und Kulturalismus bestimmt die Argumentation Mishimas grundlegend. Im ersten Kapitel wird zunächst erläutert, dass Kulturalismus die Zeit nach 1945 dominiere. Dieser orientiere sich ausschließlich an Konsum und Materiellem und sei darüber hinaus ein utilitaristisches, manipulier- und instrumentalisierbares Konzept. Kulturalismus wird als nachkriegszeitliche Verkehrung einer einst ‚wahren, ursprünglichen‘ Kultur beschrieben, dem es an ‚traditionellen‚ typisch japanischen‘ Komponenten mangle. Dem entgegengestellt wird in Kapitel zwei und drei die idealisierte, einzigartige, in der Zeit vor dem Krieg wurzelnde japanische Kultur. Beispiele weisen zunächst die Charakteristika der japanischen Kultur aus, bevor diese als „Ganzheitlichkeit, Subjektivität und Reflexivität“63 abstrahiert werden. 2.1.1 Die japanische Kultur Zu Beginn des zweiten Kapitels wird Kultur zunächst bestimmt als weder rein immaterieller Geist noch ausschließlich materielles Ding64, sondern viel eher als Form. Als solche sei Kultur transparent, enthalte neben Gegenständlichem wie Kunstwerken auch geistiges Gut und Handlungen und lasse den nationalen Geist und die japanische Seele durchscheinen. Weil Kultur dynamisch und nicht statisch sei, könne sie Handlungsmuster in Kunstwerke verwandeln und schaffe somit eine Übereinstimmung von Leben und Kunst.65 Spricht Mishima von Kultur, die, wie er im letzten Kapitel ausführen wird, identisch mit dem Kaiser ist, meint er immer die japanische Kultur, deren Besonderheit er unter anderem auf historische und klimatische Bedingungen zurückführt.66 Die transparente Form sei das nicht-statische Rahmenwerk der Kultur, welches in sich spezifisch japanisch ist und auf den Inhalt übertragen wird. Form und Inhalt können nicht getrennt voneinander gedacht werden, doch die Form gewährt die Freiheit, den In63
Mishimas Ausführungen zur Kultur finden sich in BB: 22–25. Durch bōten 傍点, Betonungsstriche am Rand, wird der Begriff der Kultur als Ding (mono もの) im Text immer wieder optisch hervorgehoben. 65 Alle hier genannten Aussagen finden sich in BB: 21f. Der Wunsch, Leben und Handeln, Worte und Taten in Einklang zu bringen und bunbu ryōdō zu verwirklichen, bestimmte nicht nur Mishimas Literatur zeitlebens, sondern auch sein Handeln. Hinsichtlich der Idee des Zusammenfallens von Leben und Kunst wäre ein Vergleich interessant zwischen dem japanischen Konzept und der von Friedrich Schlegel und Novalis entwickelten „progressiven Universalpoesie“, wie sie etwa im 116. Athenäumsfragment dargelegt ist. Bunbu ryōdō erinnert darüber hinaus auch an Friedrich Nietzsches Vorstellung von „Kunst als Leben“. Auch waren die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts bemüht, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben, die mit der Modernisierung und dem Verständnis von Kunst als dem „Anderen der Welt“ einherging (vgl. Kösser 2006: 12–19). 66 Vgl. BB: 24. Die Aussage erinnert an Watsuji Tetsurōs Argumentation in Fudō (vgl. Watsuji [1997] 1993). 64
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halt – solange er den japanischen Charakteristika entspricht – neu zu gestalten. Die Nennung des hinreichend mit Klischees angereicherten althergebrachten Exempels budō 武道, also der Kriegs- bzw. Kampfkünste, verweist nicht allein auf eine japanische Geisteshaltung, sondern auf die daraus resultierenden Handlungen, die zu Verhaltensmustern werden können. Der vor Neuguinea als menschlicher Torpedo auftauchende Marineoffizier hingegen ist ein Beispiel, das der Realität des Pazifischen Krieges entnommen, und somit eine Form neueren Inhalts ist.67 Mishima setzt Form und Kultur gleich. Wenn er im letzten Kapitel den japanischen Kaiser als „kulturelles Konzept“ beziehungsweise als „Garant der Kultur“ entwickelt, wird klar, dass er den Kaiser als formgebend für Japan erachtet. Darüber hinaus erklärt Mishima Tradition und Kontinuität als Parallelismen von Kultur und damit als Eigenschaften des Kaisers. Folgerichtig rekurrieren die Beispiele für die kristalline Form der Kultur auf die japanische Tradition; im literarischen Bereich wird auf das Man’yōshū 万葉集 oder das Genji-Monogatari 源氏物語 verwiesen, darüber hinaus gibt es Bezugnahmen auf die japanische Theaterformen nō 能 und kabuki 歌舞伎 sowie auf verschiedene Kampfkünste oder bushidō 武士道.68 Die Exempel sind verschiedensten Bereichen und Zeiten entnommen, so dass Bunka bōeiron, einem Nihonjinron entsprechend, einem Sammelsurium an hinreichend mit Japanizität durchtränkten Beispielen gleicht. Budō 武道, bushidō 武士道, sadō 茶道 und Ikebana, kadō 華道, dienen als Beispiele dafür, dass Verhaltensmuster in Japan zu Kunstwerken werden. Hier sticht die Häufung des allen Begriffen enthaltenen Zeichens für „Weg“ (dō 道) ins Auge, welches die Künste mit dem japanischen Zen-Buddhismus in Verbindung bringt. Die Kunstfertigkeit und Ästhetik der verschiedenen ‚Wege‘ ist religiös verankert, da sie letztlich auf Erleuchtung hinzielen.69
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Vgl. BB: 22. Vgl. BB: 22. Die beiden Werke Man’yōshū, eine Gedichtanthologie aus dem 8. Jahrhundert, sowie das Genji-Monogatari, ein um die Jahrtausendwende entstandenes, oftmals als erster psychologischer Roman der Weltgeschichte bezeichnetes Werk, gehören zu den bekanntesten literarischen Zeugnissen Japans. Bei nō und kabuki handelt es sich um klassisch japanische Theaterformen und auch bushidō, der „Weg des Kriegers“ verweist auf ein unweigerlich mit Japan assoziiertes Handlungs- bzw. Lebensmuster. In der Heian-Zeit (794–1185) war der Begriff michi/dō 道 Ausdruck für die Kunstfertigkeit oder das Geschick in einzelnen Professionen. In den ‚Wegen‘ ist immer die Verbindung zwischen dem geistigen, meditativen Weg und dem Endprodukt entscheidend. Wichtiger als das materielle Ergebnis, etwa eine Schale Tee, ist der Weg, das Handlungsmuster, welches zum Ergebnis führt. Pinnington diskutiert den Term als Äquivalent des europäischen Kunst-Begriffs, da es im mittelalterlichen Japan einen subsumierenden Ausdruck wie art nicht gegeben habe (vgl. Pinnington 2006: 15ff.). Ab dem 13. Jahrhundert kommt es unter Dōgen 道元禅師 (1200–1253) und durch die Einflüsse des Tendai-Buddhismus 天台宗 zu einer Gleichsetzung des ‚Weges‘ mit dem buddhistischen Erleuchtungsbegriff und einer Betonung des allen ‚Wegen‘ inhärenten, universellen Charakters. Dieses Verständnis ist grundlegend für die weitere Auseinandersetzung in ästhetischen und kunsttheoretischen Schriften ab dem 14. Jahrhundert (vgl. Vollmer 1995: 116–120; Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972], Bd. 12: 729f.).
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Mit der Betonung der kulturellen Besonderheit Japans einher geht eine Abgrenzung von allem Westlichen. Mishima expliziert diese Differenzierung durch einfache Dualismen: Die westliche Kultur sei vornehmlich aus Stein, die japanische hingegen aus Holz, und in Japan werde, bedingt durch diese materielle Beschaffenheit, kein Unterschied zwischen Original und Kopie gemacht.70 Da Verfall in der steinernen Kultur des Westens nicht rückgängig zu machen sei, sterbe Kultur zwangsläufig aus. Einem moralischen Niedergang komme zudem gleich, dass im Westen der nationale Geist geopfert und die Unterwerfung unter den Feind hingenommen werde, um Materielles zu retten.71 In Japan hingegen werde nur schwach auf Dingen beharrt; durch die dem Holz immanenten Möglichkeiten wirke die japanische Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Dieser Prozess der kulturellen Fortdauer in Japan, belegt etwa durch die Neuerrichtung des höchsten Shintō-Heiligtums, des Ise-Schreins, oder den Charakteristika des Kaisersystems, bezeichnet Mishima als einzigartiges kulturelles Konzept, welches er mit dem Kaiser gleichsetzt.72 2.1.1.1 Die japanische Kultur als Einheit von Chrysantheme und Schwert Die erstrebenswerte, ganzheitliche Kultur, so Mishimas Argumentation, sei nur existent, wenn sowohl Chrysantheme als auch Schwert darin enthalten seien.73 Der sich hier augenfällig eröffnende Referenzpunkt ist das 1946 erschienene Werk Chrysanthemum and Sword. Patterns of Japanese Culture von Ruth Benedict. Der US-amerikanischen Anthropologin war während des Zweiten Weltkrieges die Aufgabe zugekommen, den US-Soldaten den japanischen Feind zu erklären und so griff sie, ohne Japan jemals bereist zu haben, auf ihr vorliegende Materialien zurück, um eine Charakterstudie des Volkes zu erstellen.74 Es verwundert nur auf den ersten Blick, dass Mishima Kultur, die für ihn den Inbegriff des Japanischen darstellt, indirekt – die Aussage wird nach Kriegsende tätigen Bürokraten in den Mund gelegt75 – über eine Studie einer US-Amerikanerin definiert. Chrysantheme und Schwert zählt zu den ersten von Ausländern verfassten Nihonjinron und verarbeitet
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Vgl. BB: 23. Die Zuschreibung, die japanische Kultur sei hölzern, die westliche hingegen aus Stein, findet sich immer wieder (vgl. Hirata 2009: 13). An dieser Stelle erinnern die Ausführungen offensichtlich an Walter Benjamins Aufsatz zur Reproduzierbarkeit von Kunstwerken (vgl. Benjamin 1972 [1936]; Kapitel III.2.1.1.1). Vgl. BB: 20. Mishima wählt den Erhalt von Paris beim Waffenstillstand von 1940 als Beispiel für den Untergang des nationalen Geistes. Vgl. BB: 23f. Vgl. etwa BB: 22, aber auch weniger explizit zu Beginn des Essays, vgl. BB: 16. Wörtlich übersetzt als Kiku to katana 菊と刀 erschien der Band auf 1948 Japanisch; Mishima setzt den Titel gar in Anführungszeichen. Da der Ausdruck weder lexikalisiert noch eine Redensart ist (vgl. Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972]: Bd. 3: 725f., Bd. 4: 35; Sōga 1982: 316), handelt es sich fraglos um eine Bezugnahme auf den Text Benedicts (vgl. Benedict 2006 [1946]: 11–26). Vgl. BB: 16.
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für Japan bedeutungsreiche Klischees und Vergleiche.76 Einfache Dualismen dieser Art sind vielseitig instrumentalisier- und einsetzbar, da die vage Bestimmung der beiden Pole diverse Bedeutungszuschreibungen ermöglicht. Als Repräsentationsformen des Schwertes führt Mishima Kampfkünste, budō, menschliche Torpedos während des Pazifischen Krieges, aber auch bushidō, den „Weg des Kriegers“ an. Bushidō bezeichnet eigentlich den Kodex für Samurai in Feudalstrukturen, assoziiert wird damit jedoch meist – und genau diesen Kontext ruft Mishima auf – die über Japan hinaus bekannte erste Zeile der Samurai-Ethik Hagakure: „Der Weg des Samurai ist der Tod.“, die angeblich unerschrockene Bereitschaft der Krieger zur Selbstaufopferung.77 Die mentale Dimension des Schwerts veranschaulicht Mishima mithilfe verschiedener Kriegspraktiken und -einstellungen, darunter etwa die im Westen besser als Kamikaze bekannten tokkōtai-Einheiten.78 Mishima verschränkt Handlung und Ästhetik, bzw. im Fall von bushidō gar Handlung, Moral und Ästhetik, wenn er bushidō sowohl als „Verschönerung der Ethik“ als auch als „System der Ethik der Schönheit“79 beschreibt und bedient sich dafür eines Gedankens, der aus Nitobe Inazōs Eloge Bushidō. The Soul of Japan aus dem Jahr 1899 bekannt ist.80 Anders als Nitobes schwärmerische Aufzählung japanischer Tugenden, kennzeichnet Mishimas bushidō-Begriff die faschistische Verschränkung von Ästhetik und Politik. Sein Tenno-Ideal, das Politik, Moral und Ästhetik subsumiert und das von den genannten Handlungsmustern getragen wird, verharmlost den Einfluss, die Macht und die Konsequenzen derartiger in Kriegszeiten instrumentalisierter Narrative. Die Forderung, die gepriesene Moral von kendō oder bushidō ästhetisch umzusetzen, ermöglicht einen Einschluss von nicht ausschließlich Schönem und Nützlichem in die Kultur. Gleichzeitig fallen Kultur und Kunst in eins.81 Diese Ästhetisierung der Kultur ist für die Umsetzung der Idee eines unpolitischen und suprahistorischen Kaisers notwendig und bedarf der klischeehaften Darstellung des japanischen Ästhetik- und bushidō-Ideals
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Vgl. Ryang 2004: 87ff.; Pang 2000: 83. Yamamoto 2002: 25; im Original lautet der Satz: „武士道と言ふは、死ぬ事と見付けたり。“ (Yamamoto 1984: 58; vgl. BB: 22, 27). Das 1716 kompilierte Werk Hagakure kikigaki 葉隠聞書 ist ein elf Bände umfassendes Werk mit Weisheiten und Geschichten des ehemaligen Samurai Yamamoto Jōchō 山本常朝 (1659–1719), in dem ein Idealbild der Samurai des 12.–16. Jahrhundert entworfen wird. Aufgrund der proklamierten Werte Loyalität, Ehre oder der Bereitschaft zu sterben wird das Hagakure häufig als Grundlage der „Ethik der Samurai“ bezeichnet. Während des Pazifischen Krieges war das Werk insbesondere unter Soldaten weit verbreitet (vgl. Yamamoto 2002; Yamamoto 1984). Mishima verfasste ein Jahr vor dem Erscheinen von Bunka bōeiron einen Kommentar zum Hagakure (vgl. HNY). Vgl. BB: 20. Der hier genannte Oberbegriff für verschiedene Selbstmord-Sondereinheiten lautet tokkōtai 特攻隊 und ist die Kurzform von Tokubetsu kōgeki tai 特別攻撃隊. Beide Zitate BB: 22. An anderer Stelle führt Mishima aus, dass über Schönheit nicht moralisch geurteilt werden solle, sondern dass es Moral ästhetisch zu betrachten gelte (vgl. BB: 25). Vgl. Nitobe 2004 [1899]: etwa 1–10; Bierwirth 2005: 19–24. Diese Überlappung klingt auch in den Ausführungen zur Übersummativität an (vgl. BB: 16); streng genommen ist das Zusammenfallen der beiden Begriffe in Mishimas Kultur-Definition per se angelegt.
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Kunst, das Schöne und das Harmonische hingegen assoziiert Mishima mit der Chrysantheme, so etwa sadō oder Ikebana, aber auch ästhetische Konzepte wie yūgen 幽玄, wabi 侘び oder sabi 寂び.82 Mishima übernimmt die Orientalisierung Benedicts, setzt sie selbstexotisierend ein und stellt dieser weitere klischeehafte, japanspezifische Verweise zur Seite, um die Originalität seines Heimatlandes zu beschreiben. Die genannten – oftmals als un-übersetzbar bezeichneten83 – Begriffe sind zentrale Termini der japanischen Ästhetik, die im Laufe der Jahrhunderte jedoch unterschiedlich konnotiert waren. Wabi und sabi beschreiben einen Zustand, der häufig als „geschmackvolle Einfachheit“ wiedergegeben wird: Nicht das offenkundig Schöne besitze den höchsten ästhetischen Wert, sondern viel eher das Verhüllte. Wabi ist ein in der Teezeremonie verwurzelter Terminus, der zunächst die Kunst des Meisters Sen no Rikyū 千利休 (1522–1591) beschrieb, während sabi zur Charakterisierung der Gedichte Matsuo Bashōs 松尾芭蕉 (1644–1694) herangezogen wurde. Während der Begriff zunächst einen poetischen Stil meinte, der bestimmte Effekte in der Dichtung erzeugen sollte, wird yūgen heute meist als „unergründliche Tiefe“ übersetzt und charakterisiert eine angeblich spezifisch japanische Empfindsamkeit.84 Seit der Meiji-Zeit gab es Bestrebungen, eine japanische Ästhetik zu generieren und in diesem Zusammenhang wurde die fortdauernde Existenz einzelner Motive in der japanischen Tradition behauptet. Thanks to masterful translations [of the Genji-Monogatari in the early 20th century] […], the Heian period came to be known as the refined age of a cult of beauty (miyabi) and of feminine sensibility an emotional age characterized by the ‘ahness’ (aware) of things; the Kamakura and Muromachi periods were interpreted as a time of perishability, irregularity, simplicity, and impermanence; Vgl. BB: 16, 48, 49. Vgl. Marra 2010: 189. 84 Vgl. Marra 2010: 20, 28f. Die genannten Begriffe sind der japanischen Ästhetik entnommen (vgl. Yamaguchi 2008: 523f., 549, 236; eine ausführlichere Auseinandersetzung zu hana 花 und yūgen 幽玄 findet sich bei Akiyama 1984; zu einer ersten, leicht zugänglichen Annäherung auf Englisch, vgl. Carter 2008: 78–85). Übersetzt werden wabi und sabi meist als „geschmackvolle Einfachheit“, yūgen als „unergründliche Tiefe“, wobei deren im Laufe der Geschichte veränderte Konnotationen außer Acht gelassen werden (vgl. Hisamatsu 1963: 107–112; Marra 2010: 27ff.). Miner beschreibt yūgen als „Mystery and depth. One of the most enduring but changing ideals in Japanese poetry and aesthetics. It was introduced positively by Fujiwara Shunzei, who associated it with sabi and a deep mysterious beauty accompanied by sadness or deprivation. In renga, nō, and haikai aesthetics, it comes to mean something more like beauty. Its earlier overtones were darker, more religious.“ (Miner 1985: 304). Wabi und sabi erfahren bei ihm folgende Definition: „[Wabi is] A feeling of powerlessness; a sensation of great loneliness, or its cause; painfulness, shabbiness, wretched appearance.“ (Miner 1985: 303). „[Sabi is] the desolation and beauty of loneliness; solitude, quiet. […] Some posit stillness as the basis, other deprivation and attrition. There is usually one or the other to a striking degree, but also the presence of an added element to intensify and qualify the experience.“ (Miner 1985: 295). Hana, die anmutige Darstellung des Schauspielers, welcher das Publikum immer wieder aufs Neue zu begeistern weiß, ist nach Zeami eine notwendige ästhetische Kategorie im Theater (vgl. Zeami 1975, insbes. 35–37, 85– 103). Hisamatsu Sen’ichi, dessen Werk zur japanischen Ästhetik teilweise ins Englische übersetzt wurde, führt aus, dass sich die Charakterisierung der Ästhetik seit dem 19. Jahrhundert an westlichen Vorgaben und Kategorien orientiert (vgl. Hisamatsu 1963: 40ff.; Marra 2010: 5). 82 83
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Textanalyse des Essays Bunka bōeiron the Edo period came to be seen as the pleasurable moment of the floating world, a period ‘obsessed with entertainment’. In a sense, these translators completed the process that had begun in Japan during the Meiji period, when, under the mounting pressure for proving to the West the greatness of their culture, the Japanese intelligentsia packaged their country as an aesthetic product, ‘the museum of Asiatic civilization,’ to use a famous expression by Okakura Tenshin (1862–1913).85 When in the early twentieth century Japanese scholars confronted the issue of the cultural aspect of nation formations […] the yūgen style became one of the most promising candidates for inclusion in aesthetic explanations of Japan.86
Yūgen wurde, genau wie andere ästhetische Termini, in der Moderne zur einer ethnischen ästhetischen Kategorie (minzokuteki biishiki 民族的美意識) stilisiert, die sich – ungeachtet der Tatsache, dass erst die Auseinandersetzung mit der westlichen Ästhetik dazu führte, dass japanische Begriffe unter Aspekten der Erhabenheit, Intuition oder Anschauung betrachtet wurden – dazu eignete, eine vermeintlich japanische Originalität herauszustellen. Das Reich der Ästhetik eröffnete eine Sphäre, in der gegen die Moderne und die auf diese zurückgeführten Einschränkungen aufbegehrt werden konnte und sich Eigenes formulieren ließ.87 Mishimas Verwendung der Ästhetik-Termini in Bunka bōeiron funktioniert nach eben diesem Schema: allein deren Nennung ruft die Tradition und kulturelle Blütezeiten auf. Gleichermaßen exotisierend und romantisierend wirkt die Anführung der einzelnen Wege michi/dō (道). Ikebana, Bogenschießen und die verschiedenen Kampfkünste wurden ebenfalls zu Beginn der Meiji-Zeit diskursiv zu Zen-Künsten gemacht, denen eine angeblich nur in Japan vorherrschende Essenz zugeschrieben wurde, die oftmals mit japanischer Ästhetik, Spiritualität und Reinheit verbunden wurde.88 In allen von Mishima genannten Beispielen, die der orientalisierten Symbolik von Chrysantheme und Schwert zugeordnet sind, werden Tradition und Japanizität sorgfältig thematisch sowie zeitlich konstruiert: Einem vormodernen Element wird dabei ein dem gleichen Themenbereich entstammendes, modernes gegenübergestellt. So wird das GenjiMonogatari mit dem modernen Roman und die Buddha-Statuen des Chūson-ji mit Skulpturen der Gegenwart in Bezug gesetzt und somit eine Konstante zwischen Vergangenheit und Gegenwart etabliert. Dass das moderne Äquivalent dabei immer unspezifisch und blass im Vergleich zu seinem Konterpart bleibt, ist Bedingung für die Argumentation, die auf eine Kritik an der Nachkriegszeit angelegt ist. Die Metapher von Chrysantheme und Schwert beinhaltet darüber hinaus eine weitere, politisch motivierte Sinnebene. Als Symbol des japanischen Kaiserhauses macht die Chrysantheme den Kaiser zum ungenannten Referenzpunkt hinter den Beispielen. Die Pflanze ziert nicht nur das Wappen des Hofes, sondern findet in Zusammenhang mit dem Kaiserhaus ver85 86 87 88
Marra 2010: 4f. Marra 2010: 55. Vgl. Marra 2010: 39f. Yamada veranschaulicht dies am Beispiel von Eugen Herrigels Werk Zen in der Kunst des Bogenschießens (vgl. Yamada 2009: 44–102). Generell finden sich in Nihonjinron häufig Verweise auf die ‚Wege‘ (vgl. Befu 2001: 108).
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schiedentlich Verwendung.89 Das Schwert hingegen verweist auf die Samurai als historischen Gegenpart des Hofes. Parallel zur Blüte der Heian-zeitlichen Hofkultur etablierte sich der Schwertadel, der innerhalb kurzer Zeit zu einer landbesitzenden Klasse wurde. 1185 schließlich übertrug der Hof die militärische Macht an das Shogunat und erkannte die politische Überlegenheit der Kriegerschicht an. Obgleich der Kaiserhof beim Ringen um die Vorherrschaft politisch unterlegen war, konnte es der nicht fest umrissene Stand der Samurai hinsichtlich kultureller Errungenschaften nicht mit den gebildeten Hofeliten aufnehmen: Die Hofaristokraten, kuge, blickten auf die als unkultiviert und brutal geltenden Krieger herab.90 Fortan bestand eine duale Machtstruktur zwischen Militärregierung und Kaiserhof, die sich auch auf kultureller Ebene fortsetzte. Bis zur Öffnung Japans kann von zwei einflussreichen Zentren gesprochen werden, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass das Shogunat sich 1603 in Edo ansiedelte, um dem höfischen Einfluss aus Kyōto zu entkommen.91 Chrysantheme und Schwert verweisen in Bunka bōeiron also über die konkreten Beispiele zu Kultur und Krieg hinaus auf hinter diesen liegende, kulturell und geschichtlich verankerte Strukturen. Die Beispiele Mishimas explizieren, dass Kultur neben dem positiv besetzten Schönen auch nicht zwingend harmlose Elemente enthält. Umfasst Kultur alles Japanische, so sind nicht nur Schwertkampffilme Teil derselben, sondern eben auch faschistische Überzeugungen wie die ichioku gyokusai-Mentalität.92 Kultur lässt sich nicht in Positives und Negatives, Gutes und Böses unterteilen, sondern vereint notwendigerweise beide Seiten. Aus dieser Annahme leitet sich Mishimas Forderung ab, dass auch in der Nachkriegszeit die Bereitschaft vorhanden sein müsse, sich selbst aufzugeben. Das kaiserliche Wappen kiku no gomonshō 菊の御紋章 ziert eine 17-blättrige Chrysantheme. Man spricht etwa von „Chrysanthementhron“ (vgl. Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972], Bd. 5: 1096) oder „Chrysanthemenvorhang“, kiku no kaaten 菊のカーテン, womit die Trennung von Kaiser und Volk in der Meiji-Zeit bezeichnet wird (vgl. Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972], Bd. 4: 35). „Chrysanthementabu“, kiku no tabū 菊のタブー, beschriebt die von den Medien selbst auferlegten Zensur nach dem Tod des Shōwa-Tenno im Jahr 1989 (vgl. Hara 2005: 281ff.). 90 Vgl. etwa Ikegami 1995: 47–50; Schwentker 2004: 19f., 36; Butler 2002: 11. Ikegami untersucht, ob, und wenn ja in welcher Form sich das Ehrgefühl der Samurai gewandelt hat. Interessant – von Ikegami allerdings nicht behandelt – scheint die Frage, ob sich das gesteigerte Ehrgefühl innerhalb der Samurai-Klasse auch herausgebildet hatte, um der Bildung und Kultur des Hofes etwas entgegensetzen zu können. Wie Schwentker und Bierwirth betonen, erfordert die Samurai-Thematik ein besonderes Bewusstsein für die Ideologisierung des Begriffs, denn die Samurai als homogene Gruppe hat es nie gegeben (vgl. Bierwirth 2005). 91 Butler zeigt, dass der Hof zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert mehr Einfluss ausübte, als gemeinhin angenommen und kulturell besser gestellt war als um 1400. Der Hof verlieh den Kriegern nicht nur Titel, sondern die Samurai brauchten die Hofelite als Lehrer, um selbst soweit wie möglich sozial aufsteigen zu können. Obgleich sich eine bürgerliche Kultur einerseits und eine Samurai-Kultur andererseits herausbildeten, bedienten sich die Krieger oftmals höfischer Themen, so dass sich die Bereiche vermischten (vgl. Butler 2002: 1–19, 287–301). 92 Vgl. BB, 21, 22. Mit dem Propagandaslogan des „ehrenhaften Heldentodes der 100 Millionen“, ichioku gyokusai 一億玉砕, wurden die Japaner vor der erwarteten Endschlacht des Zweiten Weltkrieges auf den japanischen Hauptinseln dazu aufgefordert, ihr Leben für das Land zu opfern (vgl. Harada 1991, Bd. 7: 95, 109).
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2.1.1.2 Die japanische Kultur als Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität Zu Beginn des dritten Kapitels werden die vorausgehenden, vornehmlich exemplarischen Ausführungen abstrahiert und „Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität“ als Charakteristika der japanischen Kultur eingeführt.93 Diese Eigenschaften liegen allen genannten Ausführungen zugrunde; das dritte Kapitel ist durch seine explizite Dreiteilung auf diese Theoretisierung hin angelegt und verhandelt die Beispiele unter den genannten Gesichtspunkten. Vereint werden sie durch den Gedanken der Kontinuität.94 Im vierten Kapitel werden Kontinuität und Kultur parallelisiert, was auch durch die an sich paradoxe Aussage suggeriert wird, dass zum Schutz der Kultur Bemühungen um die Wiederherstellung ihrer Kontinuität erfolgen müssten.95 Reflexion (saikisei 再帰性) wird in Bunka bōeiron im neuzeitlichen Verständnis als Selbstvergewisserung gefasst.96 Indem die Vergangenheit thematisiert und auf sie Bezug genommen wird, wirkt die in ihr verwurzelte Kultur in die Gegenwart hinein. Diese reflexive Selbstvergewisserung wird im Exempel „vom Man’yōshū bis zu den tanka der Avantgarde“ verdeutlicht: Ohne das Vorbild Man’yōshū gäbe es kein Abbild „moderne tanka“, denn die zeitgenössischen Gedichte rekurrieren, wenn auch nicht zwingend inhaltlich, so doch zumindest durch ihre Form auf historische Vorläufer.97 Direkt veranschaulicht wird der reflexive Charakter der japanischen Kultur am Beispiel des honkadori 本歌取り, einer Praxis der waka-Dichtung, bei der durch Adaption eines kanonischen Gedichtes ein neues geschaffen wird. BB: 24. Den Termini saikisei 再帰性, zentaisei 全体性 und shutaisei 主体性 kommt durch die fett gesetzte Schrift besondere Aufmerksamkeit zu. Im ersten Moment könnte man annehmen, dass sich die Eigenschaften Ganzheitlichkeit und Reflexivität insofern ausschlössen, als Reflexivität immer eine Erweiterung eines Sachverhalts oder Gedankens bedeutet. Für Mishima ist jedoch gerade die Koexistenz der beiden Komponenten entscheidend. 94 Bestätigt wird diese Annahme, wenn das „Wiederaufleben der Kontinuität der Kultur“ (BB: 20) als Mittel gegen den Kulturalismus angeführt wird. Renzokusei 連続性 wird immer in Verbindung mit Kultur in ihrem Idealzustand, also der Übereinstimmung ihrer drei Charakteristika verwendet (vgl. BB: 16, 20, 25ff., 30, 35, 38f., 45–48, 50). Darüber hinaus nennt Mishima Kontinuität als Ausweg aus der Schwächung der nachkriegszeitlichen Kultur (vgl. BB: 20), zudem schreite Kultur nicht dialektisch voran, sondern existiere kontinuierlich (vgl. BB: 24). 95 Vgl. BB: 26. Damit ist auch die dezidiert im ersten Kapitel aufgeworfene Frage beantwortet, ob man Kultur durch ein Wiederaufleben der Kontinuität oder einen Abbruch derselbigen heilen könne (vgl. BB: 20). 96 Zum Begriff „Reflexion“ vgl. Ritter 1971–2005, Bd. 8: 396–405. 97 Die relevante Textstelle findet sich in BB: 22–25; Zitate: 22. Bei den in Bunka bōeiron genannten zen’ei tanka 前衛短歌, „tanka der Avantgarde“ (vgl. BB: 22), handelt es sich um eine Bezeichnung für sozialkritische junge Dichter der 1950er Jahre, deren tanka oft ironisch, weniger bildlich in ihrem Ausdruck und zudem weniger formalisiert waren als ihre historischen Vorläufer. Das Ziel der zen’ei tanka sei es, so einer der bekanntesten Avantgarde-tanka-Dichter, Tsukamoto Kunio 塚本邦雄 (1920– 2005), Visionen auszudrücken. Diese entstammten jedoch keineswegs einer harmonischen Welt, sondern spielten mit Kontrasten und riefen ironische Allusionen aus dem westlichen und japanischen Kontext auf (vgl. Ueda 1996: xxxif.). Einen Einblick in das Schaffen eines modernen tanka-Dichters findet sich bei Shimauchi 1998. 93
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Die Behauptung, Reflexivität könne von Japanern gefühlt werden, sei also eine an Rasse gebundene Eigenschaft – Mishima bindet die Reflexionsfähigkeit der Japaner an deren Affinität zum Material Holz –, bestärkt die Kontrastierung zwischen Japanern und anderen Völkern. Es sei ein Privileg der Europäer, die Kontinuität ihrer Kultur ausgehend von den Ruinen der Antike zu fühlen, bei Japanern hingegen lösten die als europäisch klassifizierten Ruinen keine Reflexion auf das eigene Subjekt aus. Problematisch ist einerseits, dass die Voraussetzung für ein Verständnis von Kultur in Relation zu Rasse gesetzt wird, andererseits die Aussage, kulturelle Kontinuität könne gefühlt werden.98 Die Proklamation eines intuitiven, prä-rationalen Erkennens von Kultur gepaart mit einer Beschränkung dieser Erkenntnisfähigkeit auf eine ethnische Nation, macht Kultur für Außenstehende zu einem undurchdringbaren Spezifikum einer erklärten Blutsverwandtschaft und begründet eine kulturell legitimierte Abgrenzung. Ein ähnlich separatistisch und ethnisch fundiertes Konzept, welches auf einer sozialen Homogenisierung beruht, findet sich im Kultur-Begriff von Johann Gottfried Herder (1744–1803).99 Der Gedanke der Subjektivität (shutaisei 主体性) von Kultur ist die am schwierigsten zu fassende Bestimmung.100 Indem Mishima Kultur als reflexiv im Sinne von selbstvergewissernd definiert, kommt ihr jedoch unweigerlich der Status eines Subjektes zu: Dem Ich als Subjekt von Denk- oder Philosophiervorgängen ist per se ein reflexives Moment eingeschrieben, da ein Freiheit und Entscheidungen auf sich nehmendes und sich damit von der objektiv gesetzten Welt distanzierendes Subjekt sich seiner nur reflektierend selbst bewusst werden kann. Für Mishimas Argumentation ist die Handlungsfähigkeit des Subjekts ausschlaggebend, dieses soll nicht ausschließlich objektiv wahrnehmen, sondern tätig werden.101 Kultur wird damit selbst Subjekt und Erschaffendes. Versteht man shutaiVgl. BB: 25. Kanjiuru 感じうるist der Ausdruck, der im Deutschen mit „fühlen können“ wiedergegeben wurde. Der Heidegger-Schüler Kuki Shūzō 九鬼周造 (1888–1941) argumentierte in seinem bekanntesten Aufsatz „Iki“ no kōzō [Die Struktur des „Iki“] aus dem Jahr 1930, dass das ästhetische Konzept iki いき, welches Kuki auf das 18. Jahrhundert zurückführte und als zentralen Bestandteil der japanischen Kultur auswies, alleine von Japanern gefühlt werden könne (vgl. Tansman 2009: 14f.). 99 Vgl. Welsch 2000: 328–332; Herder 1989. 100 Mishima greift mit shutaisei einen Begriff auf, der gerade im Zuge der Auseinandersetzung mit einer erneuten kulturellen Modernisierung fundamental war, belegt diesen aber neu. Koschmann führt die Bedeutung, Verwendung und den Wandel des shutaisei- Begriffs – der von Nishida Kitarō 西田幾多郎 (1870–1945) nach dessen Kant-Lektüre in Japan eingeführt worden war – vor Augen: „[…] the success of the postwar Japanese democratic revolution involved an intrinsic connection to a suitable revolutionary subject, and ‘subjectivity’, or shutaisei, was to be understood to be that subject’s normative criterion.“ (Koschmann 1996: 1f.). Der Psychologe Miyagi Otoya 宮城音弥 (1908–2005) machte bereits 1948 sieben verschiedene Verwendungsweisen des Terms aus. Zum Begriff des Subjekts, der Subjektivität und der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, die der neuzeitlichen Scholastik geschuldet ist, vgl. etwa Ritter 1971–2005, Bd. 10: 374–474; zur neuzeitlichen, für das Abendland grundlegenden Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum, vgl. Riedel 1989. 101 Vgl. BB: 24ff. Mishima verweist hier auf die Begebenheit, dass der Schriftsteller Hasuda Zenmei 蓮田 善明 (1904–1945) seinen Kollegen Niwa Fumio 丹羽文雄 für dessen Werk Kaisen 海戦 [Seeschlacht] kritisierte, in welchem er detailliert die Seeschlacht vor den Salomonen im August 1944 schildert. Niwa hätte, so der Vorwurf, statt zu schreiben lieber der Besatzung helfen sollen, die Geschosse zu tragen. 98
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sei in seiner weiteren Bedeutung als „Eigenständigkeit“, wird deutlich, was gemeint ist: Das Subjekt ist die Schnittstelle, in der Kultur als Produzierendes zu Tage tritt und immer wieder Neues aus sich selbst heraus erzeugt. Erklärend fungiert der Vermerk, die Subjektivität der Kultur sei wie die Gottheiten der Hindu-Trinität. Die Attribute der Trimūrti, sie ist erschaffend, zerstörend und erhaltend, weisen ähnliche Eigenschaften auf wie japanische Kunstwerke, deren Gestalt „in kurzer Zeit entsteht, andauert und vergeht“.102 Die Form bestimme, wie im Fall von budō oder sadō, vergängliche Handlungsmuster, zu deren Umsetzung es eines kreativen Subjekts bedürfe. Ferner verweist die Hindu-Trinität auf die Bedeutung Asiens für die japanische Kultur. Der Gedanke, dass die Quelle der asiatischen Kultur in China und Indien zu lokalisieren sei, sich diese aber in der japanischen Kunst spiegle, wurde etwa von Pan-Asianisten wie Okakura Tenshin 岡倉天心 (1862–1913) vertreten.103 Deutlich wird die Relationalität der Charakteristika Subjektivität und Reflexivität in dem Beispiel, dass durch die festgelegte Aufführungsform japanischer Theater ein Ausgangspunkt für deren Überlieferung gegeben sei. Die Form ist das Rahmenwerk, innerhalb dessen kreative Subjekte den Inhalt gemäß gewisser Vorgaben gestalten. Mithilfe des Genji-Monogatari demonstriert Mishima diesen Gedanken: Das Werk reflektiere auf die gegenwärtigen Subjekte und werde durch die Bestätigung seiner Reflexivität selbst zum Mutterleib der Neuerschaffung.104 Hier wird auf die anhaltende Beliebtheit des Genji-Monogatari, ersichtlich an zahlreichen Neu-Übersetzungen oder der Verarbeitungen des Stoffes in der Pop-Kultur, angespielt.105 Mishima zufolge gibt es also nicht ein ursprüngliches erschaffendes Subjekt, sondern dieses multipliziere sich durch die fortwährenden Spiegelungen und so bewirke Reflexivität, dass Kultur nicht nur sichtbar, sondern auch sehend, also gleichzeitig Subjekt und Objekt sei.106
Vgl. BB: 25; Zitat: 22. Die Hindu-Trinität, trimūrti, besteht aus den Göttern Shiva, dem Zerstörer der Welt, Vishnu, ihrem Erhalter, und Brahman, ihrem Schöpfer (vgl. Schumann 1996: 38). 103 Vgl. BB: 22f.; Zitat: 22. Okakura formuliert dies wie folgt: „Thus Japan is a museum of Asiatic civilisation; and yet more than a museum, because the singular genius of a race leads it to dwell on all phases of the ideals of the past, in that spirit of living Advaitism which welcomes the new without losing the old.“ (Okakura 2005 [1904]: 3). Die Strategie, die Vergangenheit auf die Gegenwart abzubilden, ist Okakura nicht fremd, er idealisiert angeblich japanische Werte wie Geduld, Wohlwollen oder Höflichkeit. „It was and still remains a key tendency of the ethics of identity – one that tries to define identity in terms of traditional valued but is ultimately caught up in the self-referential circularity of the terms denoting those values.“ (Washburn 2007a: 15). 104 Vgl. BB: 25. 105 Vgl. etwa Teil IV in Shirane 2008. 106 Vgl. BB: 24f., 29. Dieser Gedanke wird mit der Differenzierung vom Zuschauenden und dem Angeschauten erneut aufgegriffen (vgl. BB: 33). Das Konzept erinnert an den hinduistischen darśana-Gedanken: Der Gläubige sieht die Statue einer Gottheit an und wird im Gegenzug auch von dieser gesehen (vgl. Eck 1998 [1981]). Vielversprechend scheint, dieses Konstrukt mit psychoanalytischen Ansätzen zu verbinden, etwa mit dem späten Lacan’schen Spiegelstadium, welches auch in die Kulturtheorie Eingang gefunden hat. 102
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Auf die Natur des Begriffes zurückzuführen ist, dass die dritte Eigenschaft der japanischen Kultur, Ganzheitlichkeit, vornehmlich anhand von Negativdefinitionen illustriert wird: Unterbrechung, Abtrennung vom Mutterleib, Durchtrennung einer Saite, die Spaltung von Chrysantheme und Schwert, Form und Inhalt sowie das Kriegsende sind Bilder für die fehlende Ganzheitlichkeit der Kultur. Allein die Kritik der nur scheinbar übersummativen Kunst der Nachkriegszeit birgt implizit eine positive Definition der Ganzheitlichkeit: Wenn Kunst alles umfasste und als wirkliches Abbild der fragmentarischen Menschheit auch in den düsteren Bereich vordränge, wäre sie ganzheitlich. Im Kulturalismus gelingt dies jedoch nicht, weil das Dunkle ausgeblendet und der Fokus allein auf dem Schönen läge. Deswegen bleibt Kultur letztendlich der „Springbrunnen des Markplatzes“, der nicht nur die gefällige Kunst repräsentiert, sondern als ursprünglich europäische Erfindung erneut den Unterschied zwischen Japan und dem Westen herausstellt.107 Ganzheitlichkeit, so zeigen die Beispiele, bedürfe sowohl einer zeitlichen Unversehrtheit, als auch der Einheit ihrer Teile.108 Eine argumentative Schwachstelle offenbart der Versuch, die Ganzheitlichkeit an die beiden anderen Charakteristika der Kultur anzubinden. Weil eine positive Definition von Ganzheitlichkeit fehlt, bleibt es bei der Tautologie: „[…] die ganze Kultur anzuerkennen ist unerlässlich für die Erkenntnis der Ganzheitlichkeit der Kultur […]“. Doch da Mishima Ganzheitlichkeit mit zeitlicher und räumlicher Kontinuität gleichsetzen wird, ist sie nachgerade Bedingung für Reflexivität, die wiederum grundlegend für die Subjektivität ist. Die Trias deutet sich in Mishimas Aussage an, moderne Literaturgeschichte ab 1868 solle nicht isoliert von der klassischen Literaturgeschichte betrachtet werden, weil sonst die Kette von Reflexion und Subjektivität – denkbar beispielsweise im Falle des Genji-Monogatari – unterbrochen werde. Der Gedanke wird durch das Argument pointiert, die Übereinstimmung von Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität sei genau das, was Tradition genannt werde.109 Der Traditions-Begriff meint hier die Überführung alter Werte in die Gegenwart, wobei diese Tradierung als netzförmig aufgefächert gedacht werden muss. Das Genji-Monogatari spiegelt sich nicht nur in der Gegenwart, sondern es ist durch diverse Umsetzungen in verschiedenen Sujets in diesem Netz auf unterschiedlichen Ebenen als Subjekt präsent. Mishima erachtet Verbesserung und Fortschritt in der Kultur als unmöglich und erteilt damit einem linearen Traditionsverständnis – und implizit dem als westlich verstandenen linearen Denken – eine Absage.110 Mishima erläutert im Anschluss an die Ausführungen zu den Charakteristika der japanischen Kultur, es sei denkbar, „[…] dass auch die französische Kultur für Franzosen dieselbe Art von Eigenschaften besitzt.“111 Mishima vergleicht Frankreich als das europäische Paradebeispiel einer Nationalkultur – in der Volk, Sprache und Land als weitBB: 16. Zur Übersummativität, einem Gedanken, der sich nicht nur bei Aristoteles, sondern auch bei Laotse findet, vgl. Ritter 1971–2005, Bd. 3: 20. 108 Vgl. BB: 38. 109 Vgl. BB: 25; Zitat ebd. 110 Vgl. BB: 25. Die Vertreter der japanischen romantischen Schule, allen voran Yasuda Yojūrō, lehnten die Vorstellung von Geschichte als einem linearen Prozess entschieden ab (vgl. Tansman 2009: 55). 111 BB: 24. 107
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gehend kongruent dargestellt und durch das patrimoine, das materielle und immaterielle Kulturerbe, zusammengehalten werden – mit der japanischen Kulturnation112, welche die Einheit des Insellandes garantiere. Den aus einem Unbehagen am Staat entstandenen Begriff der Kulturnation verstand Friedrich Meinecke (1862–1954) als einen „Selbstthematisierungsbegriff, der auf Differenz und die Rechtfertigung der eigenen kollektiven Größe abstellte, auf die eigene Würde und Erhabenheit, deren Darstellung und deren Einzelstellung“113 und in dieser Bedeutung findet er in Bunka bōeiron Verwendung. 2.1.2 Kulturalismus und Umkehrung des Kulturalismus Die kulturkritische Programmatik von Bunka bōeiron wird bereits im ersten Absatz des Essays deutlich, in dem Mishima „kulturelle Erfolge“ als Maßstab für eine Beurteilung der Nachkriegszeit anlegt und diese als „äußerst unbefriedigend“ beurteilt. Zudem setzt er Kulturalismus im Laufe des Textes explizit mit Modernität gleich.114 Dass der Idealzustand der Kultur ausschließlich in der Vergangenheit zu verorten ist, lässt sich allen Beispielen entnehmen, die immer einen Dualismus zwischen Vor- und Nachkriegszeit, Kultur und Kulturalismus eröffnen. So erklärt sich auch die Nennung der Genroku-Zeit (1688–1704) als Paradebeispiel der japanischen Kultur im Eingangssatz. Die Entstehungszeit von Bunka bōeiron wird aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs bisweilen als Shōwa-Genroku-Zeit betitelt: Mishima erachtet die Bezeichnung im Hinblick auf die kulturellen Errungenschaften jedoch als unangemessen, denn der Gegenwart mangle es nicht nur an herausragenden Künstlern und literarischen Größen, sondern es verbreiteten sich allein „dekadente Bräuche“. Mit dem Kulturalismus einher gehe auch die Separation der beiden Elemente Chrysantheme und Schwert; das Schwert sei in der Nachkriegszeit abhandengekommen. Beispiele verweisen auf die Zensur von Schwertkampffilmen und Rachedarstellungen nach dem Krieg, wodurch die Okkupationspolitik, der Westen, für den Kulturalismus verantwortlich gemacht wird, der bewirke, das seit 1945 „in der Kultur nichts Schädliches“ vorkomme.115 Die bloße Umkehrung des Kulturalismus verwandle diesen jedoch keinesfalls in Bielefeld macht den Unterschied zwischen den beiden Begriffen deutlich: „Kulturnation erscheint auf den ersten Blick als eine Variante von Nationalkultur. Wenn aber unter Nationalkultur spezifische Ausprägungen von Praktiken und Traditionen, von kollektiven Verhaltensformen, politischen Symbolpraktiken und auch künstlerischen Ausdrucksformen innerhalb und unter Bedingung eines Nationalstaats verstanden werden können, dann unterscheidet sich Kulturnation hiervon grundlegend. Kulturnation entstand als eine behauptete Voraussetzung von Nation. Es ist die im 19. Jahrhundert entstehende Behauptung, dass es das als real behauptete, empirische Volk sei, welches Anspruch auf einen Staat habe. Denn Kulturnation ist die Behauptung einer dem Staat vorauslaufenden und vorgegebenen Gemeinsamkeit von Sprache, kultureller Tradition oder schließlich biologisch-rassisch-kultureller Qualitäten, kurz: eine objektive emotionale Vergemeinschaftung eines tatsächlich gegebenen Volkes.“ (Bielefeld 2010: 67). 113 Bielefeld 2010: 69. 114 Vgl. BB: 30; Zitat: BB: 15. 115 Vgl. BB: 16f., 19. Sowohl Schwertkampffilme als auch Rachedarstellungen waren vom GHQ im Jahr 1945 verboten worden (vgl. Harada 1991, Bd. 7: 154, 172). Die Alliierten setzten sich nominell ne112
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Kultur. Ist die Chrysantheme ausgeblendet, habe dies „Schwindel und Heuchelei“ zur Folge, „emotionale Unachtsamkeit“ stelle sich hingegen ein, wenn die Eigenschaften des Schwertes keine Beachtung fänden.116 In Japan zeige sich die Einseitigkeit des Kulturalismus, wenn – in Umkehrung der bedingungslosen Aufopferung aller Japaner zu Kriegszeiten – nach 1945 der Wunsch nach Frieden soweit gehe, dass der Tod vieler Menschen für die Ideale der Verfassung der Nachkriegszeit als akzeptabel erachtet würde.117 Die Kritik an der chinesischen Kulturrevolution exemplifiziert, dass auch die Zerstörung von Materiellem, um den immateriellen, revolutionären Geist zu fördern, nicht wünschenswert sei.118 Mishima kritisiert, Mao Zedongs Ehefrau, Jiang Qing, habe den Geist des Theaters beschnitten, als sie das Repertoire der Peking-Oper von über 1 300 Stücken auf einen Kanon von acht Gegenwartsstücken reduzierte, um die Realität der Arbeiter und Bauern zum Gegenstand der Kunst zu machen. Jiang Qing fürchtete das Potenzial des Theaters und versuchte dies mithilfe kulturalistischer Reglementierungen, in diesem Fall dem Verbot angeblich bourgeoiser Themen, auszumerzen.119 Mishima untermauert seine Kritik an derartigen Praktiken durch Verweise auf das Leningrad-Ballett sowie auf das nō- und kabuki-Theater: Kunst sei nur dann mehr als ein vergnüglicher Zeitvertreib für Touristen, wenn der immaterielle Gehalt traditioneller Formen erkannt und gewahrt werde. Gegenwärtig fungiere Kultur als Ablassbrief gegen das Ausland: Weil sie die martialischen, mit dem Schwert verbundenen Eigenschaften abgelegt habe, verkomme Kultur zum Freikaufschein und diene als Beweis für den mentalen Wandel der Japaner seit 1945.120 Heute werde Kultur ausschließlich in Form des materiellen Erbes gewürdigt, das als „tote Kultur aus ben den USA aus Großbritannien, China und der Sowjetunion zusammen, ihnen unterstanden der Kaiser sowie die japanische Regierung. Der amerikanische General Douglas MacArthur wurde nach Kriegsende zum Supreme Commander of the Allied Powers (SCAP) ernannt und mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet; das General Headquarter (GHQ) in Tokyo war für die Durchführung der Okkupationspolitik verantwortlich. Faktisch kann die amerikanische Prägung der Besatzungspolitik kaum überschätzt werden, denn Gremien wie der im Dezember 1945 gegründete Allied Council for Japan (ACJ), dem die vier wichtigsten Sieger angehörten sowie die später in Washington etablierte, alle Kriegsgegner Japans einschließende Far Eastern Commission (FEC) hatten so gut wie keinen Einfluss (vgl. Krebs 2009:87–90; Nishida 2007: 115–130). 116 Vgl. BB: 27. Heuchelei sei im Kulturalismus gang und gäbe und zeige sich etwa an der Neuauflage des gemeinhin als „Handbuch der Samurai“ rezipierten Hagakure 葉隠 in Friedenszeiten (vgl. BB: 27; Zitate ebd.). 117 Vgl. BB: 21. Diese von einem Gesprächspartner Mishimas geäußerte Meinung bezieht sich auf eine mögliche Invasion Japans durch ausländische Mächte, ein Szenario, welches nach dem Pazifischen Krieg oder während des Korea-Konflikts denkbar gewesen wäre. 118 Mishima kritisiert hier die chinesische Kulturrevolution explizit, was von der Rezeption oftmals ausgeblendet wird (vgl. Mishima 2010 [2006]: 387f.). 119 Vgl. BB: 19. Zur Reform der Peking-Oper, vgl. Kascha 2005: 58; Chiang 1968. 120 Vgl. BB: 17. Mishima bedient sich hier einer christlichen, auf der Vorstellung von Sünde und Buße beruhenden Metaphorik. Indulgentia, die Bitte um Erlass einer zeitlichen Strafe vor Gott, kann nur für Sünden, deren Schuld bereits getilgt ist, geleistet werden. Im Mittelalter wurde Ablass jedoch häufig als voller Bußersatz verstanden (vgl. etwa Hauck 20029: 7; Beringer 189310: 1–21). Mishima verwendet den Begriff, wie im Volksmund üblich, im Sinne des Freikaufs von einer Sünde.
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Museen“ unproblematisch verwaltet werden könne.121 Dadurch orientiere sich Kulturalismus allein am Rezipienten, welcher Kultur zwar als Ding schätze, aber selbst nicht kreativ sei und nicht als Schnittstelle ihrer Neuerschaffung fungieren könne. Im Museum gefangene, verdinglichte Kultur wird damit ihrer charakteristischen Möglichkeiten der Reflexivität und Subjektivität beraubt. Museale Aufbewahrung sei jedoch im Vergleich zu wahrer Kultur, welcher der nationale Geist zugrunde liege, verfälschend, zumal die erhaltene Kultur keinesfalls das Beste oder Auserlesene sei, sondern eine dem Zufall geschuldete Auswahl. Durch die Anerkennung der Kontingenz der erhaltenen Kulturgüter wird die Forderung verstärkt, dem Geist eine größere Bedeutung beizumessen, denn die Fokussierung auf Materielles führe letztendlich zu einer Gleichsetzung von Wohlfahrt und Kultur.122 Die konsumorientierte Masse fordere den Kulturalismus und fungiere gleichzeitig als dessen Aushängeschild.123 Allerdings verortet Mishima die Verschränkung von Kultur und Wohlstand bereits vor dem Krieg, denn er stellt eine Analogie zur Taishō-Demokratie her und rekurriert damit auf eine Periode, die sowohl den Beginn der Konsumgesellschaft markiert, als auch von erstarkenden bürgerlich-demokratischen Bewegungen geprägt war, mit welchen eine Ablehnung der absolutistischen Rechte des Tenno und Forderungen nach mehr politischer Mitbestimmung des Volkes einherging. Die errungenen Erfolge wurden allerdings durch das „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“, 治安維持法 chian iji hō, im Jahr 1925 umgehend wieder beschränkt.124 Utilitaristische Tendenzen sind ein weiterer, klar herausgearbeiteter Kritikpunkt am Kulturalismus: Die Quelle der ganzheitlichen Kultur sei durch einen Damm isoliert und werde in kulturalistischen Zeiten „nur zur Stromerzeugung sowie zur Bewässerung wirksam gemacht“125: Kulturalismus wird als manipulierbar und instrumentalisierbar verstanden. Verweise auf kontrollierende Eingriffe seitens der UdSSR und Chinas in Kultur und Literatur, aber auch auf das zitierte Parteiprogramm der Sozialistischen Partei Japans (SPJ, shakaitō 社会党) stützen die These.126 Das Parteiprogramm stellt nach gewonnener Wahl die Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung an der Erschaffung einer bürgerlichen Kultur in Aussicht: Zwar gelte es, die Form bestehender Kultur zu wahren und zu tradieren, Vgl. BB: 17, 19ff., 23, 25, 27; Zitat: 17. Die Aussage, es sei selbstverständlich, dass Kulturalismus in demokratischen und sozialistischen Ländern wertgeschätzt werde, generalisiert kulturalistische Tendenzen. Einschränkend bezeichnet Mishimas die Zeit der chinesischen Kulturrevolution als Ausnahmeerscheinung, auf welche die Aussage nicht zutreffe. Zu vermerken ist, dass China in Mishimas Argumentation immer eine Sonderrolle einnimmt: Sowohl die Kulturrevolution als auch die Rolle der KP in China kritisiert Mishima als exzeptionell. 122 Vgl. BB: 17. Fukushi 福祉 wurde als „Wohlfahrt“ übersetzt. 123 Tatsächlich hatte das bilaterale Verhältnis zwischen Japan und den USA deutlichen Einfluss auf die japanische Selbstwahrnehmung, weswegen die nachkriegszeitliche Identitätsbildung vor dem Hintergrund der Wirtschaftslage zu betrachten ist (vgl. Igarasahi 2000: 75). 124 Vgl. Hartmann 1996: 114–117. 125 Vgl. BB: 15f.; Zitat: 16. 126 Vgl. BB: 18ff. Die Gliederung des Parteiprogramms ist verwirrend; der Inhalt ließe erwarten, dass nicht a) und b), sondern 3. und b) auf einer Ebene lägen. 121
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andererseits müsse Volkskunst neuer Inhalt hinzugefügt werden.127 Einerseits steht dieser Gedanke Mishimas Grundannahme entgegen, dass Kultur nicht revidier- oder verbesserbar sei. Andererseits befürchtet Mishima, dass die Form manipuliert werde, weil das Volk, das den Kaiser nicht mehr als Zentrum der Kultur erachtet, diese beliebig mit nützlichem, neuem Inhalt anreichere.128 Des Weiteren kritisiert Mishima die Einmischung der Politik in kulturelle Angelegenheiten. Als Beispiel nennt er die russische Regierung, die Dostojewski noch immer zensiere und politische Schriftsteller inhaftiere, sowie die Tatsache, dass in Polen einem russlandkritischen Theaterstück Aufführungsverbot erteilt wurde.129 Mishima legt durch die Nennung der Einmischung und Manipulation der öffentlichen Meinung in Kriegszeiten oder der Edo-zeitlichen Interpretation des Genji-Monogatari dar, dass sich derartige Mechanismen nicht ausschließlich in sozialistischen Staaten, sondern auch in Japan ausmachen lassen.130 Politik unterbräche die Ganzheitlichkeit und Kontinuität der Kultur, obgleich sie behaupte, eine Schwächung der Kultur verhindern und Traditionen wahren zu wollen. Davon abgesehen, dass vor dem Hintergrund der genannten Beispiele durch diese Argumentation gegen die beiden großen sozialistischen Länder, China und die UdSSR, sowie im gleichen Atemzug gegen linke Bestrebungen im eigenen Land angeschrieben wird, erfolgt eine Darstellung von Kultur nach 1945 als einem von Amateuren geschaffenen, kontrollierten, bewachten Politikum, welches bereits in seiner Entstehung gezielt in eine als vorteilhaft erachtete Richtung gelenkt wird.131 Zusammenfassend lässt sich Kulturalismus beschreiben als Mechanismus, der Vor- und Nachkriegszeit und analog Chrysantheme und Schwert voneinander trennt und damit nicht nur die Ganzheitlichkeit der Kultur, sondern auch deren Reflexivität und Subjektivität beschneidet. Kulturalismus ist die Reduzierung der Kultur nach 1945 auf ein materialistisches und utilitaristisches Prinzip, welches allein Dinge und Schöngeistiges würdigt, Körperlichem sowie gewaltbereitem Handeln und ‚traditionellen Werten‘ jedoch kein Gewicht mehr beimisst. Darüber hinaus wird Kulturalismus als manipulierbares, kontrollier- und Widersprüchlich, aber ebenfalls deutlich durch das von Mishima angeprangerte utilitaristische Gedankengut geprägt, liest sich die Argumentation, dass einerseits das Ausströmen der japanischen Kultur nach Übersee verhindert und damit die eigenen Museen und Galerien gefüllt bleiben sollen – bemerkt sei die Nähe zum Begriff des „Ausverkaufs der Kultur“ von Horkheimer und Adorno –, während andererseits ein Austausch mit ausländischen kulturellen Künsten zu betreiben sei (vgl. BB: 18). 128 Vgl. BB: 25. Der Unterschied zwischen Mishimas Vorstellung von Kultur als Form und dem KulturGedanken des Parteiprogramms ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, da beide unter anderem nō, kabuki und bunraku als Parameter der japanischen Tradition ins Feld führen und Kultur an Form knüpfen. Bei Mishima ist Form jedoch die übergeordnete, mit Kultur gleichgesetzte Kategorie; sie bedingt den Inhalt, der durch ihre Transparenz hindurch sichtbar ist. Form wird dabei nicht grundsätzlich als unveränderbar verstanden, sondern neuer Inhalt kann sich ergeben, wenn die Form veränderten Umständen angepasst wird (vgl. BB: 22). 129 Vgl. BB: 20. 130 Vgl. BB: 26. Mishima erachtet machtpolitische Interessen keinesfalls als Charakteristikum der Nachkriegszeit, sondern verortet diese bereits in der Vormoderne. 131 Vgl. BB: 19f., 26. 127
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damit instrumentalisierbares, politisierbares Konzept erachtet, das der subjektiven, sich reflexiv erneut zeigenden, ganzheitlichen Kultur entgegensteht. Weil der Kulturalismus alles Japanspezifische aufgibt, ist er der Verwirklichung einer „Kultur der Menschheit“ dienlich.132 Japan könne sich im internationalistischen Kulturalismus, der nach einem nivellierenden Universalismus strebt, nicht abgrenzen: Mishima lehnt eine solche Kultur ab, weil sie den nationalen Eigenheiten einer jeden Kultur nicht Rechnung trage.133 Die Betrachtung der Charakteristika des Kulturalismus verdeutlicht gleichzeitig, wie Kultur idealerweise beschaffen sein sollte. Während sie qua Definition Form ist, die Handlungen, Verhaltensmuster und Dinge subsumiert und damit nichts Japanisches auszuschließen scheint, wird diese Annahme durch die Erläuterungen zum Kulturalismus eingeschränkt: Nicht in Kultur inbegriffen sei das Materielle, das Utilitaristische sowie das Politische. Um ganzheitliche Kultur zu erreichen, bedarf es immer eines Zusammenspiels materieller und immaterieller Faktoren zu einer Form; wird etwas nur als Ding wertgeschätzt und rekurriert dies nicht auf Handlungsmuster oder Geist, bleibt es im Kulturalismus verhaftet. Mishimas Kultur-Definition134 geht einher mit der Erschaffung einer Pseudo-Authentizität, der Etablierung eines nicht mehr hintergehbaren Japanischen, welches den bereits klischeebehafteten Beispielen aufgesetzt wird. Auf dieser Grundlage gelingt es Mishima, eine Einzigartigkeit der japanischen Kultur zu postulieren, wodurch die Abgrenzung vom Westen erleichtert wird. 2.1.3 Der Schutz der Kultur Die Notwendigkeit des Schutzes (防衛 bōei) der Kultur ist ein Postulat des Essays, das sowohl dessen Titel als auch seinen Grundtenor bestimmt. Dezidiert beschäftigen sich Kapitel vier Wovor muss Kultur geschützt werden? und fünf Die Übereinstimmung von schöpferischem Handeln und Schutz mit der Thematik. Insbesondere der vierte Teilabschnitt des Essays ist schwer nachvollziehbar, weil auf erklärende Beispiele verzichtet und zudem mit nicht definierten Begriffen wie Zustand, Wesen, Existenz und Freiheit operiert wird. Die Argumentation in diesen Kapiteln erschließt sich, wenn Kultur und Kaiser als Synonyme gedacht werden, denn Mishima hat hier vornehmlich den Schutz des Tenno im Blick. Der Autor entwickelt in diesem Kapitel die Idee der „Paradoxie des Schützens“ und etabliert damit einen weiteren Dualismus: Fälschlicherweise werde im Kulturalismus angenommen, dass Gleiches durch Gleiches, etwa Friede friedlich und Redefreiheit durch Redefreiheit geschützt werden könne. Tatsächlich bedürfe effizienter Schutz jedoch immer der entgegengesetzten Aktion zum erwünschten Zustand; also etwa der Bereitschaft zur Vgl. BB: 34f. Vgl. BB: 21. Mishima argumentiert, dass eine solche „Kultur der Menschheit“ vom „kulturalistischen Unterbau“ angestrebt werde. Die marxistische Terminologie verdeutlicht Mishimas Ablehnung und stellt darüber hinaus einen Zusammenhang zur Zengakuren her, in deren Kontext das Argument angeführt wird. 134 Es erfolgt lediglich eine normative Abgrenzung zwischen Kultur und Kulturalismus, eine eindeutige Begriffsbestimmung bleibt aus. 132 133
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Gewalt, um Frieden zu schützen, oder der Bereitschaft zur Selbstaufgabe zum Schutze des Selbst. Im verdinglichten Kulturalismus werde diese Erkenntnis jedoch ausgeblendet und irrtümlich gefolgert, dass die Gegenstände die Art des Schutzes bestimmten. Würden Achtung und Schutz in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht, bedeutete dies jedoch, Kultur als Ding in Museen zu konservieren. Die Metapher des passiven Diamanten im Museum steht für den von den Westmächten ausgestellten Kaiser. Aufgrund seiner eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeit ist die Identifikation zwischen ihm und seinen Untertanen unmöglich; er kann nicht bewahrt werden, sondern verkommt zu einem Gegenstand.135 Mishima kritisiert, dass aufgrund der fehlenden Wertschätzung der Kultur, und damit auch des Kaisers, im Status Quo Aktionen zum Schutz der Kultur ebenfalls nicht mehr honoriert würden. Wirksamer Schutz könnte von schaffenden Subjekten ausgehen, die ihren Egoismus sowie ihr Verlangen nach Selbstsicherheit ablegten. Aufgrund des selbstlosen Wesens der Kultur beziehungsweise des Kaiser müsse auch der Einzelne bereit sein, sich für den Erhalt der Kultur aufzugeben. Die Forderung steht in Zusammenhang mit Mishimas fortwährender Glorifizierung des bushidō als kulturelles und indigen japanisches Handlungsmuster: Das aufgerufene Narrativ fordert die Bereitschaft, jederzeit für die richtige Sache zu sterben und sich dem Wohl des übergeordneten Großen zu verschreiben. Mishima erkennt, dass ein Ablegen der egoistischen Fixierung auf persönliche Sicherheit, Selbstschutz sowie materielles Wohlbefinden unrealistisch ist angesichts einer Gesellschaft, die sich aus „emotionalen Pazifisten“, Frauen, die Kriege instinktiv ablehnen und Menschen mit kleinbürgerlichen Eigenheimwünschen zusammensetzt. Statt sich aktiv politisch zu beteiligen, begnügten sich seine Zeitgenossen mit einer passiven Zuschauerposition, von der aus sich leicht Beifall spenden und damit das schlechte Gewissen über die eigene Untätigkeit beruhigen ließe, ohne selbst aktiv sein, oder von den eigenen Privilegien abrücken zu müssen.136 Wenn Subjekt und Objekt in eins fallen und die schützenden Subjekte idealiter Schöpfer und Träger der Kultur gleichzeitig sind, falle notwendigerweise auch Erschaffung und Schutz in eins. Verwirklicht worden sei dies im bunbu ryōdō-Ideal, in dem naturgemäß auch Chrysantheme und Schwert zusammenfallen. Mishima überträgt die unzeitgemäße Samurai-Ethik auf die Gegenwart: Schützen bedeute handeln, weswegen der Körper konstant trainiert werden müsse.137 Während sich unter taiwanesischen Politikern Kung-FuVgl. BB: 17, 28f. Vgl. BB: 28ff. 137 Vgl. BB: 25. Mit diesem Kommentar schließt Mishima an den Eingangssatz des vierten Kapitels an, in welchem die Bedeutung der Körperlichkeit für das Erlernen von Handlungsmustern herausgestellt wird. Körperlichkeit war ein zentraler Aspekt in den Künsten der 1960er Jahre: Das Tanztheater butō 舞踏 verstand sich beispielsweise als Ausdrucksmöglichkeit zur Beanstandung sozialer Missstände, sei es des Kapitalismus, der Einförmigkeit der Gesellschaft oder der Fragmentierung des Subjekts. Das gefühlte Chaos und die Instabilität der Nachkriegszeit wurden häufig durch Körper in Bewegung ausgedrückt (vgl. Fraleigh 2006: 71–76). Zudem verweigerte sich butō üblichen Interpretationsmustern: „Ein gemeinsames Merkmal der verschiedenen Butoh-Richtungen ist die Ablehnung rationaler Interpretierbarkeit, mit der sich zumindest in den Anfangsjahren auch die Weigerung verband, den Zuschauern einen unterhaltsamen Abend zu bieten. Als Ausdruck der Rebellion gegen die Verwestlichung der Kultur wie gegen die erstarrten Formen der Kunst sollte das Publikum provoziert, in seiner Erwartungshaltung enttäuscht werden.“ (Schwellinger 1998: 11). 135 136
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Meister fänden, sei die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper in Japan auf das Erkennen von Gebrechen beschränkt. Analog dazu sei es bezeichnend, dass selbst in der Literatur seit der Meiji-Zeit keine Kendō-Szenen mehr dargestellt würden, dafür immer mehr Kranke und psychisch Angeschlagene. Diese Attitüde sei auf die westliche Obsession mit dem Romantizismus zurückzuführen, körperlichen Gebrechen metaphysische Bedeutungen zuzuschreiben.138 Die Weiterführung des Gedankens, dass Gewalt nicht per se verneint werden dürfe, da sonst auch die Idee von Staatsgewalt nicht mehr glaubhaft sei, suggeriert, dass Mishima seine Zeitgenossen dazu anhält, aktiv und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Gewalt zu handeln: Das Wesen schützender Handlung sei „nichts anderes, als die Unbedingtheit der relativen Wertschätzung durch den Tod zu vollenden.“139 Die Parallelisierung von Kultur und Kaiser erhellt, dass dieser Aufruf zur Gewaltbereitschaft dem Schutz des Tenno dient. Da in Kultur alles vereint ist, bedarf es der Paradoxie des Schützens zufolge Selbstverzicht und Unterbrechung, um Kultur zu schützen.140 Die Verherrlichung und Ästhetisierung des Todes, welche dem Selbstverzicht in letzter Konsequenz eingeschrieben ist, geht auf Mishimas faschistische Ästhetik zurück.141 Die zweite Aufforderung, Kultur zu unterbrechen, um sie zu wahren, ist ein Aufruf zur Revolution. Mishimas Revolutionsbegriff ist aufgrund seiner beiläufigen Verwendung schwer greifbar: Am deutlichsten wird er in der Formulierung, dass die Kontinuität der Kultur nur durch einen „aktiven Abbruch (eine Revolution)“142 zu heilen sei. Kultur ist hier Synonym für das kontinuierliche Kaisersystem. Die Aufforderung, dieses durch eine Unterbrechung des gegenwärtigen Zustandes wiederherzustellen, ist im Sinne der Paradoxie des Schützens zu verstehen: Die Zurückwälzung meint ein aktives Aufbegehren gegen den dominierenden Westen, der alle trennenden Mechanismen sowie den Kulturalismus zu verantworten hat.143 Mithilfe des Paradoxon des Schutzes, einer irrigen, nicht generalisierbaren Annahme, die lediglich in Hinblick auf die von Mishima genannten Beispiele anwendbar ist, löst Mishima den Widerspruch auf, dass Politik Kultur unterbreche, aber gleichzeitig nötig sei, um ihre Kontinuität zu schützen. Die Eigenschaften des notwendigen politischen Systems entwirft Mishima im folgenden Kapitel.144
Vgl. BB: 31. BB: 28. 140 Vgl. BB: 30. 141 Vgl. Breuer 1995; Friedländer 1984: 43; Sonntag 2001 [1980]; für den japanischen Kontext vgl. Tansman 2009: 1–17. 142 BB: 20. 143 So wird der Begriff auch an den folgenden Textstellen eingesetzt (vgl. BB: 32, 34, 37). 144 Vgl. BB: 28. 138 139
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2.2 Nationalismus und Internationalismus Im sechsten Kapitel, Die vier Stufen des ethnischen Nachkriegsnationalismus, wird die Nachkriegszeit in vier Entwicklungsstufen eingeteilt. Für die jeweils nur eine halbe Seite einnehmenden Analysen der Stufen eins und zwei des minzokushugi lassen sich die Zeiträume von 1952–1960 respektive 1960–1968 eruieren. Mishima erläutert darin nationale und internationale Entwicklungen des ethnischen Nationalismus. Die dritte Stufe beschäftigt sich ebenfalls mit Ereignissen des Jahres 1968. Die ausführlichere und theoretische Beschreibung der dritten Epoche hebt sich vom Rest des Kapitels ab: In diesem Abschnitt thematisiert Mishima die kulturellen und politischen Auswirkungen des ethnischen Nationalismus für Japan. Die vierte Stufe des ethnischen Nationalismus befasst sich mit einer konkreten Begebenheit, nämlich dem „Kim Hyi-ro Zwischenfall“. Auf Grundlage dessen erarbeitet Mishima drei für die Beurteilung der Nachkriegszeit grundlegende Themenkomplexe.145 In Bunka bōeiron finden sich zwei Definitionen des minzokushugi.146 Zunächst fasst Mishima den Begriff wie folgt: In keinem anderen Kapitel des Essays wird ein derart umfassendes Wissen um zeitgeschichtliche Ereignisse vom Rezipienten verlangt wie in diesem. Während Mishimas Zeitgenossen weniger Schwierigkeiten gehabt haben dürften, die Andeutungen auf tagespolitische Ereignisse zu verstehen, bleibt dem heutigen Leser dieser Teil von Bunka bōeiron ohne die Kenntnis der außertextuellen Bezugspunkte unverständlich. Mishimas Analyse ist dabei weitgehend objektiv; er sympathisiert mit keiner ideologischen Gruppierung und bezeichnet etwa den „Umkehrkurs“ als eine „Neigung nach rechts“ (BB: 32). 146 Die Begriffsgeschichte des Terms minzokushugi 民族主義 – einer der drei wichtigen japanischen Nationalismus-Begriffe minzokushugi 民族主義, kokuminshugi 国民主義 und kokkashugi 国家主義 (vgl. hierzu Doak 2007) – ist für Bunka bōeiron relevant. Prägend für den minzoku-Diskurs war zunächst die Zwischenkriegsphase der Jahre 1895–1904, in welcher die Japaner ihre gefühlte Überlegenheit dem Verlierer China gegenüber auf einer kulturellen Grundlage formulierten; zu dieser Zeit waren weder die kolonisierten Taiwanesen noch die japanischen Christen aus dem Konzept des japanischen minzoku ausgeschlossen. Diese zunächst lose Definition änderte sich im 20. Jahrhundert mit der zunehmenden Bedeutung der Nation und der aufkommenden Diskussion um eine nationale Identität; erstmals entstand die Vorstellung von minzoku als einem gemeinsamen japanischen Bewusstsein. Der minzoku-Diskurs florierte insbesondere ab Mitte der 1930er Jahre, einer Zeit, in der es galt, die kulturelle Besonderheit Japans herauszustellen, sei es durch eine Abgrenzung vom Westen, einer Verwurzelung des Landes in Asien, oder aber der Betonung einer japanischen Einzigartigkeit. Minzoku erwies sich als äußerst flexibles Konzept, welches sowohl politisch als auch unpolitisch verstanden werden konnte und mal dazu beitragen sollte, die Moderne zu überwinden, mal um die Errichtung der Vorherrschaft Japans in Asien zu proklamieren. Entgegen gängiger Annahmen erlosch die Debatte um die japanische Nation auch nach Ende des Pazifischen Krieges nicht, sondern gerade der völkische minzoku-Begriff bot sich in der Besatzungszeit, in der es offiziell keinen japanischen Staat gab, an, um Fragen der nationalen Identität zu erörtern. Dabei diente das häufig als kontinuierlich existierend dargestellte minzoku-Konzept sowohl rechten als auch linken Lagern dazu, den zu diesem Zeitpunkt staatenlosen Japanern durch die Betonung einer gemeinsamen kulturellen und ethnischen Grundlage ein Identitätsgefühl zu vermitteln (vgl. Doak 2007, Kapitel VI). Um diesen Zweck zu erfüllen, musste minzoku notwendigerweise unter Rückgriff auf traditionalistische Argumentationsmuster 145
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Textanalyse des Essays Bunka bōeiron Ethnischer Nationalismus ist eigentlich nichts anderes als die Leidenschaft für die politische Einheit eines Volkes mit einem Staat, einer einzigen kulturellen Tradition mit einer einzigen sprachlichen Tradition.147
Ein Volk, das sich über eine gemeinsame Tradition und Sprache definiert, sich also aus einer Ethnie zusammensetzt, solle den Staat, gemeint ist hier das durch politische Strukturen verwaltete Staatsgebiet, bilden. Verwirrend ist, dass diese Definition nicht die einzige Beschreibung ist, die Mishima von minzokushugi gibt. Gegen Ende des Kapitels erfolgt eine negative Setzung des Konzeptes: Die Betonung des ethnischen Nationalismus an sich bedeutet die Betonung dieses Zustandes der Trennung [von Volk und Staat] und das ist letztendlich nichts anderes als ein taktischer Plan zur Verneinung des Landes und zur Bejahung des Volkes. Mit anderen Worten dient der „ethnische Nationalismus als Mittel“ zur Trennung des Untrennbaren.148
Der Widerspruch zwischen den beiden Definitionen lässt sich nur über eine Differenzierung zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand lösen. Theoretisch bedeutete ein verwirklichtes Gemeinschaftsprinzip, dass Volk und Staat, Kultur und Sprache übereinstimmen. Nach Ende des Krieges sei dieses ursprüngliche Gefühl verlorengegangen, weil die „Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der blutsverwandtschaftlichen Gemeinschaft und dem Staat“ zerstört waren. Den Zerfall des japanischen Gemeinschaftsprinzips beschreibt Mishima anhand eines vierstufigen Schemas. 2.2.1 Die erste Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus Die erste Stufe des ethnischen Nationalismus beginnt mit dem Friedensvertrag im Jahr 1952 und erstreckt sich über die in Zusammenhang mit dem Koreakrieg ausgelöste wirtschaftliche Rezession bis zur Erneuerung des Friedensvertrages und den damit einhergehenden Protesten von 1960.149 Gekennzeichnet sei diese Phase von einer schleichenden Übernahme des amerikanischen Gemeinschaftsgefühls: Mishima versteht ethnischen Nationalismus keineswegs als spezifisch japanisches Phänomen, sondern als eines, das allen Nationen zu eigen ist. Durch die Projektion amerikanischer Werte auf das japanische Volk und die Beschränkung der Redefreiheit sei die Entwicklung einer indigen japanischen Eine tabliert werden, wobei häufig die Bedeutung des Kaisers als Staatsoberhaupt oder Oberhaupt der japanischen Familie hervorgehoben wurde. Betont wurde dabei auch die Reinheit und Exklusivität des japanischen minzoku, welche gleichzeitig die als einmalig postulierte kulturelle Identität Japans belege (vgl. Seifert 1977: 124, 266ff.). Die Übersetzung von minzokushugi als „ethnischer Nationalismus“ ist insofern problematisch, als die zusammengesetzte deutsche Übertragung eindeutig die ethnische Komponente des Ausdrucks in den Vordergrund stellt, wenngleich sich nicht eruieren lässt, ob dem japanischen Leser diese Konnotation so deutlich bewusst ist, beziehungsweise ob er den Unterschied zu kokuminshugi reflektiert (vgl. McVeigh in: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=13514 [30.09.2013]). 147 BB: 35. Minzoku wurde als „Volk“, kokka als „Staat“ wiedergegeben. 148 BB: 36. 149 Die gesamte Textstelle zur ersten Stufe des ethnischen Nationalismus findet sich in BB: 32.
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heit unterdrückt worden. Weil der japanische ethnische Nationalismus, der in der Bevölkerung schlummerte, sich nicht emanzipieren konnte, übernahmen die Japaner zunächst gewissenhaft das von den Besatzern vorgegebene Gemeinschaftsverständnis.150 Das hier thematisierte Gefühl der Amerikanisierung ist auf die Realität der Nachkriegszeit zurückzuführen, in der sämtliche Entscheidungen Japans Politik und Gesellschaft betreffend von General Douglas MacArthur als Supreme Commander of the Allied Powers (SCAP) und der US-amerikanischen Regierung getroffen wurden. Die obersten politischen Ziele der Besatzer waren Entmilitarisierung und Demokratisierung, darüber hinaus wurde die zivile Geheimpolizei und das für die Repressionspolitik verantwortliche Innenministerium abgeschafft sowie die „Sicherheitsgesetze“, die die Redefreiheit beschnitten hatten, rückgängig gemacht. Zudem wurde eine Bodenreform durchgeführt, die Wirtschaftskonglomerate, zaibatsu 財閥, zerschlagen und 200 000 Menschen aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Erziehungswesen ausgeschlossen, die als vom Krieg belastet galten.151 Die Proklamation der neuen Verfassung sowie die Einführung neuer, häufig kulturfremder Werte, die der japanischen Kriegsideologie entgegenstanden, bedeuteten einen einschneidenden Wandel für die japanische Gesellschaft. Mishima wirft dem Yoshida-Kabinett vor, Japan in dieser Phase um die nationale Einheit betrogen zu haben. Diese Anspielung bezieht sich auf die Außenpolitik des 1946/47 und 1948–1954 amtierenden japanischen Ministerpräsidenten Yoshida Shigeru 吉田茂 (1878–1976), der den wirtschaftlichen Wiederaufbau Japans auf Kosten der außenpolitischen Unabhängigkeit forcierte. Yoshida nahm eine harte Haltung gegenüber Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften ein und verfolgte eine konservative, pro-amerikanische und anti-kommunistische Linie, die mit einer Reihe rückschrittlicher politischer Entwicklungen einherging: Das Streik- und Demonstrationsrecht wurde eingeschränkt und Gesetze erlassen, welche dem Staat eine Einmischung in die Vereins- und Parteipolitik erleichterten.152 Auf die politischen „Reinigungen“ folgte zu Beginn der 1950er Jahre aus Angst vor den starken, gut organisierten Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei der sogenannte red purge („Säuberungen von den Roten“). 153 Mishima kommentiert diese Entwicklungen, von denen etwa 13 000 als linksextrem gebrandmarkte Personen betroffen waren, wenn er die Besatzungspolitik als zunehmend rechtslastig beschreibt. Der angemahnte Betrug des Yoshida-Kabinetts ist demzufolge so zu verstehen, dass die Etablierung einer nationalen Einheit vorgetäuscht wurde, während realiter eine An150 Der Ausdruck, der Nationalismus könne sich nicht aus den „flüsternden Erzählungen der Kneipen be-
freien“ („酒場のひそひそ語りを脱してゐなかった“) deutet an, dass dieser nicht öffentlich, sondern nur heimlich diskutiert werden konnte. 151 Vgl. etwa Krebs 2009: 90–96. Eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Reformen und deren Bedeutung sowie des Wandels in der amerikanischen Japanpolitik findet sich bei Nishida 2007: 140–329. 152 Unter Premierminister Kishi Nobsuke 岸信介 (1896–1987) wurde 1958 ein Polizeigesetz verabschiedet, welches grundlegende Rechte, darunter die Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie das Demonstrationsrecht einschränkte und zudem Verhöre und das staatliche Eindringen in die Privatsphäre erleichterte (vgl. Nakamura 1992: 124ff.). 153 Vgl. Iida 2002: 89ff.; Krebs 2009: 98–103; Nishida 2007: 207–238.
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bindung an die Vereinigten Staaten erfolgte, von denen Japan abhängig war. Sowohl die scheinbare Opposition gegen die Besatzer, als auch die fortwährende Verkündung einer japanischen Gemeinschaft habe Mishima zufolge jedoch im Volk den Wunsch nach Veränderungen geweckt. Tatsächlich weiteten sich seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Jahr 1952 die von einer breiten Masse getragenen Proteste gegen die japanische Regierung aus. Ausschlaggebend für die sich langsam entwickelnde Opposition war, dass unter dem Deckmantel des Friedensvertrages auch der US-amerikanisch-japanische Sicherheitsvertrag, Anpo 安保, ratifiziert werden sollte, welcher den Amerikanern militärische Stützpunkte in Japan sowie deren Kostendeckung zusicherte.154 Vornehmlich aus Angst vor kommunistischen Aufständen war laut Sicherheitsvertrag zudem die Wiederbewaffnung Japans in Form einer nationalen Polizeireserve vorgesehen, welche streng genommen Artikel 9 der japanischen Nachkriegsverfassung, der die Aufstellung eines Heeres untersagt, widerspricht.155 Der Korea-Krieg schließlich bescherte Japan aufgrund seiner Lage als Operations- und Nachschubbasis einen derartigen wirtschaftlichen Aufschwung, dass Premier Yoshida den Konflikt als „Geschenk der Götter“ 156 bezeichnete. Studentengruppierungen hingegen protestierten bereits seit 1950 gegen Japans Funktion in diesem Stellvertreterkrieg.157 Den Höhepunkt dieser ereignisreichen Zeitspanne bildet für Mishima der Widerstand gegen die Erneuerung des Sicherheitsvertrages im Jahr 1960. Zwar waren bereits die späten 1950er Jahre von Unruhen gegen das Kishi-Kabinett geprägt, doch erst die Anpo-Proteste mobilisierten weite Teile der Gesellschaft, da der Großteil der Japaner eine Fortschreibung der militärischen Verpflichtungen gegenüber den USA ablehnte.158 Gleichzeitig war der Protest gegen den bilateralen Vertrag unmittelbar mit einer Abneigung gegenüber dem Vgl. etwa Krebs 2009: 103–106; Iida 2002: 88–92. Der Friedensvertrag wurde von 44 der 47 an der Konferenz teilnehmenden Staaten unterschrieben, nicht jedoch von der UdSSR, Polen und der Tschechoslowakei. Die Volksrepublik China war zu den Verhandlungen erst gar nicht eingeladen worden. Einblicke in die Verflechtungen verschiedener ökonomischer und sicherheitspolitischer Interessen sowie in die Verhandlungen zwischen den USA und Japan gibt Nishida 2007: 389–392. Der Sicherheitsvertrag ist in Japan als Nichibei anzen hoshō jōyaku 日米安全保障条約, kurz anpo 安保 bekannt; der japanische Name des Friedensvertrages lautet Tai nichi heiwa jōyaku 対日平和条約. 155 Bereits 1950 gründete MacArthur die „nationale Polizeireserve“, kokka keisatsu yobitai 国家警察予備隊, einen Vorläufer der 1954 entstandenen „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ jieitai 自衛隊. Da der Begriff „Militär“ in Zusammenhang mit den Streitkräften, jieitai 自衛隊, jedoch sorgsam vermieden wurde, bewegte sich diese Polizeieinheit in einer rechtlichen Grauzone. (vgl. etwa Krebs 2009: 105f.; Nishida 2007: 371). 156 Shinobu 1967, Band IV: 1151. Zu den Ursachen für den Boom durch den Korea-Krieg, vgl. Nishida 2007: 372f. 157 Vgl. Nishida 2007: 378f., 405–408. 158 Die Linken sowie viele Bürger waren aufgrund der unmittelbaren Kriegserfahrung, gestützt von aufkeimenden Friedensbewegungen, gegen eine japanische Wiederbewaffnung, welche im Sicherheitsvertrag in Form einer „gegenseitigen Kooperation zwischen Japan und den USA“ vorgesehen war (vgl. Iida 2002: 92f.). Die Konservativen hingegen forderten mehr Eigenverantwortlichkeit für die Nation und den Kaiser und waren deswegen gegen die Anbindung Japans an die USA (vgl. Nakamura 1992: 122). 154
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amtierenden Premierminister Kishi Nobusuke 岸信介 (1896–1987) verbunden, der als verurteilter Kriegsverbrecher, als „Ungeheuer der Shōwa-Zeit“, den Pazifischen Krieg und dessen Werte verkörperte.159 Den Protesten des Volkes zum Trotz ratifizierte die Regierung Kishi den neuen Sicherheitsvertrag am 19. Mai 1960 unter dem Schutz tausender Polizisten und in Abwesenheit der Opposition.160 Obgleich das Aufbegehren gegen den Vertrag eine wichtige Phase für die Adoleszenz der japanischen Demokratie darstellte, hinterließ die Niederlage bei der Bevölkerung ein Gefühl von Ohnmacht: Die Proteste hatten keinerlei Veränderung der machtpolitischen Prozesse zur Folge, und die Demonstranten mussten sich eingestehen, dass sich die verantwortliche japanische Elite ebenso wie die USA außerhalb ihres Einflussbereichs befanden. Als Reaktion auf diese Desillu sio nierung erhielt eine schnell zunehmende Mittelschichtmentalität Einzug, die von einer Abwendung von Politik, einem Rückzug ins Private sowie der Sorge um den eigenen Lebensstandard gekennzeichnet war.161 Diese Einstellung beanstandet Mishima mit seiner Kritik an der nachkriegszeitlichen Fokussierung auf Wohlstand und persönliche Interessen.162 Festhalten lässt sich also, dass die erste Stufe des Gemeinschaftsgefühls „ethnischer Nationalismus“ von einer langsamen Emanzipation Japans von den USA geprägt war. Die faktische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten bei gleichzeitiger, scheinheiliger Proklamation eines japanischen Gemeinschaftsprinzips habe in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Veränderung hervorgerufen, welches sich in den Protesten gegen die Anlehnung an die USA ausdrücke. 2.2.2 Die zweite Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus In der zweiten Stufe des ethnischen Nationalismus befasst sich Mishima mit der Weiterentwicklung des japanischen Gemeinschaftsprinzips nach dem Abzug der japanischen Truppen. Die Regierung der LDP erwog nach und nach die Ausbeutung des ethnischen Nationalismus durch die Staatsgewalt. Dies geschah nicht immer systematisch, aber die locker konsumorientierte Politik des Ikeda-Kabinetts brachte eine unerwartete, gegenteilige Wirkung mit sich und die größte Kooperation der Friedensverfassung mit dem ethnischen Nationalismus nach dem Krieg durch den heiligen Vermittler Staat war bei den Olympischen Spielen gelungen. Das war der Höhepunkt der ethnisch-nationalistischen Verwirklichung durch einen Staat und eine Nation. Aber die Einschränkung des ethnischen Nationalismus durch den Sicherheitsvertrag hat genau in diesem Moment eine Veränderung der Eigenschaften des ethnischen Nationalismus heimlich erforderlich gemacht. Das Satō-Kabinett hatte das Schicksal nach verschiedenen Seiten hin ein „aufrichtiges Kabinett“ sein zu müssen. Der Selbstmord des Olympioniken Tsuburaya, unmittelbar bevor die Auseinandersetzungen über den Verteidigungsetat im Parlament fehlschlugen, war symVgl. Igarashi 2000: 136. Kishi wurde als Monster oder Ungeheuer, yōkai 妖怪, bezeichnet. Zu den Protesten gegen die Erneuerung des Sicherheitsvertrages, welche an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden können, vgl. etwa Akazawa 2010; Iida 2002: 92–98; Hartmann 1996: 247–253. 161 Vgl. Iida 2002: 95; Koschmann 1993: 409. 162 Vgl. BB: 17, 28. 159
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Textanalyse des Essays Bunka bōeiron bolisch. Der Staatsmacht misslang es erneut knapp, dem ethnischen Nationalismus staatlichen Ruhm zu geben, welcher das einzige Geschenk ist, das der Staat dem ethnischen Nationalismus bieten kann.163
Anhand der Nennung der Kabinette lässt sich die zweite Stufe des ethnischen Nationalismus zeitlich einordnen: Die Regierung von Ikeda Hayato 池田勇人 (1899–1965) war von 1960–1964 an der Macht und verantwortlich für die Ausrichtung der Olympischen Spiele von Tokyo, bevor sie vom Satō 佐藤-Kabinett (1964–1972) abgelöst wurde. In beiden Teilabschnitten wird eine Aussage über den jeweiligen Zustand des ethnischen Nationalismus getroffen164: Bei der Olympiade von 1964 sei minzokushugi unter Mithilfe des Staates verwirklicht worden, wohingegen vier Jahre später versäumt worden sei, dem ethnischen Nationalismus den notwendigen Ruhm zuteilwerden zu lassen. Der Vorwurf, die Machthabenden versuchten, den minzokushugi mithilfe der Staatsgewalt auszubeuten, spielt darauf an, dass Ikeda, der Nachfolger des nach den Anpo-Protesten zurückgetretenen Premierministers Kishi, als Ziel seiner Politik die Einleitung einer Hochwachstumsphase verkündet hatte. Der Gedanke, die Bürger an den Staat zu binden, um die Frustration, die mit den negativen Aspekten des Wirtschaftswachstums einherging, abzuschwächen, war grundlegend für Ikedas Idee einer Neupositionierung der Nation. Seine Slogans sprachen auch diejenigen an, die sich verdrossen und enttäuscht vom Ausgang der Anpo-Proteste vom politischen Geschehen abgewandt hatten.165 Mishima zufolge habe die Mobilisierung des Volkes zu Zwecken der Produktivkraftsteigerung wider Erwarten nicht dazu geführt, dass sich das Volk ausgebeutet fühlte, sondern die Japaner arbeiteten dem Staat in die Hände. Ikedas Bemühungen um das Volk und seine Auseinandersetzung mit der Konstitution, Bestimmung und Aufgabe des Staatswesens, ist im Sinne Mishimas insofern eine Kooperation von Friedensverfassung, Volk und Staat, als sie ein Vehikel für das Zusammenwachsen von Staat und Volk darstellte.
BB: 32f. Der hier vollständig zitierte Absatz zur zweiten Stufe des ethnischen Nationalismus verdeutlicht das Prinzip des bloßen Andeutens von Sachverhalten, welches vom Leser ein hohes Maß an Wissen und verknüpfendem Denken erwartet. 164 Was Mishima später Einheit von Ethnie und Staat 一民族一国家 (BB: 35) nennt, bezeichnet er an dieser Stelle als ethnisch-nationalistische Verwirklichung durch ein Volk (kokumin 国民), gemeint ist die Einheit der Japaner. 165 Vgl. Koschmann 1993: 411–414. Im Jahr 1963 ließ Ikeda Richtlinien publizieren, in denen das Volk dazu angehalten wurde, nicht nur offen für Internationalisierung zu sein, sondern auch die nationale Identität zu wahren (Der Adressat der Kitai sareru ningen zō 期待される人間像 betitelten Leitlinien, ist insofern nicht eindeutig, als das Subjekt ausgelassen ist und das Verb im Passiv steht; Iida übersetzt den Titel als Image of the Ideal Japanese (Iida 2002: 119)). In den Leitlinien wird das Bild eines Modelljapaners entworfen, der unterschiedlichste Rollen einzunehmen in der Lage ist: Er ist Teil der Gesellschaft und der Familie, aber auch der Nation und neben der Wahrung traditioneller und kultureller Werte erweitert er diese, indem er neue Fähigkeiten erlernt – eine Position, die durchaus verbreitet war, wie das in Bunka bōeiron zitierte, über vier Jahre später publizierte Parteiprogramm der SPJ veranschaulicht, in welchem ebenfalls die Forderungen nach dem Erhalt der Traditionen kombiniert wird mit der Aufforderung, sich gleichzeitig nicht vor Neuerungen zu verschließen (vgl. BB: 18). 163
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Die Olympischen Spiele bezeichnet Mishima als Höhepunkt der Kooperation von Volk und Staat. Nur 19 Jahre nach Kriegsende und zwölf Jahre nach Wiedererlangung der Souveränität präsentierte sich Japan der Welt bei den Spielen als friedliebendes Land. Seine enormen ökonomischen Erfolge manifestierten die Inbetriebnahme des ersten Schnellzugs, Shinkansen 新幹線, sowie die Offenlegung der beeindruckenden zweistelligen Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes.166 Das Großereignis Olympiade verlangte hinsichtlich des japanischen Selbstverständnisses eine Auseinandersetzung mit dem Status Quo: Erst im Zuge der Spiele wurde der Gebrauch der japanischen Nationalhymne und Flagge definiert.167 Auch die Legitimität, Berechtigung und Zuständigkeit der Selbstverteidigungsstreitkräfte, jieitai, wurde in diesem Zusammenhang neu diskutiert. Ohne die Truppe, die im Zuge des Sicherheitsvertrages von den US-Amerikanern ins Leben gerufen worden war, um die Lücke der nach Korea abberufenen GIs zu füllen, und die gemäß Artikel 9 der japanischen Verfassung unrechtmäßig war, hätte die Durchführung der Spiele nicht gewährleistet werden können. Die nicht eindeutig definierte Position des Kaisers als „Symbol des japanischen Volkes“ erwies sich ebenfalls als diskussionswürdig, denn laut Statuten eröffnet das Staatsoberhaupt des Gastgeberlandes die Spiele. Bei der Planung zu den letztendlich abgesagten Spielen von Tokyo 1940 sollte vermieden werden, dass der Gottkaiser Hirohito zum Volk sprechen und die Spiele einleiten müsse, 1964 sollte der Tenno das Ereignis hingegen eröffnen. Die prekäre Frage, ob der Kaiser das japanische Staatsoberhaupt sei, wurde umgangen, indem man ihn zum Schirmherrn der Spiele ernannte, wodurch ihm die Leitung der Eröffnungszeremonie zukam.168 Die Olympiade kann im Sinne Mishimas als Höhepunkt des Zusammenwirkens von Verfassung, Staat und Volk bezeichnet werden, denn nie waren in der Nachkriegszeit die Aufgaben von Kaiser und Militär so klar definiert und nie war das nationale Gemeinschaftsgefühl so spürbar. Dass die Einheit von Volk und Staat nicht dauerhaft etabliert werden konnte, führt Mishima auf den reglementierenden Sicherheitsvertrag zurück: Zwar beugte sich die Regierung Satō nicht mehr uneingeschränkt den USA – Japan war durch den Aufstieg zu einer wirtschaftlichen Macht und der Tatsache, dass es seit 1966 einen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehatte, eigenständiger geworden – doch war die Politik weiterhin an den USA orientiert. Darüber hinaus entzweite das notwendige Austarieren innerund überstaatlicher Interessen Volk und Staat.169 166
Vgl. Iida 2002: 119.
167 Als nationale Symbole wurden Flagge und Hymne offiziell sogar erst im Jahr 1999 festgelegt. 1998
hatte das Erziehungsministerium verkündet, dass sich die Ansprache kimi in der Hymne auf den Kaiser beziehe (vgl. Befu 2001: 92–95). 168 Zur Olympiade und den damit zusammenhängenden Veränderungen, vgl. Tagsold 2002: 77–85; Krebs 2009: 103f. 169 Ein ewiger Streitpunkt war die US-amerikanische Präsenz auf dem Inselstaat. Mehr noch als die Stützpunkte, deren Anzahl im Zeitraum von 1952–1968 von 2800 auf 149 reduziert worden war, ereiferte sich die japanische Bevölkerung aufgrund der Tatsache, dass die Amerikaner auf japanischem Boden Nuklearwaffen besitzen und durch das Land transportieren durften. Schließlich forderte die von verschiedenen Friedens- und grass root-Bewegungen unter Druck gesetzte Regierung auch in militärischen
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Analog zum Scheitern der dauerhaften Vereinigung von Staat und Nation bewertet Mishima den „Dritten Plan zur Verstärkung der Verteidigungskräfte“, Daisanji bōei ryoku seiri keikaku. Dieser etliche Male nachverhandelte Fünfjahresplan für den Verteidigungshaushalt der Jahre 1967–1971 sah zur Freude der japanischen Industrie vor, dass fast 2 % des Bruttosozialproduktes für die Erneuerung der Ausrüstung der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte sowie für die Herstellung und Anschaffung neuer Waffentechnologien ausgegeben werden sollte – eine Entwicklung, die auf das veränderte Machtgleichgewicht zwischen den USA und Japan zurückzuführen war. Von diesem Zeitpunkt an konzentrierte sich Japans Wirtschaft, begünstigt durch die materiellen Engpässe der USA aufgrund des Vietnamkrieges, vermehrt auf die Waffenproduktion.170 Relevant sind die zitierten Etatverhandlungen für Mishimas Argumentation insofern, als sie einen Schritt in Richtung einer japanischen Eigenständigkeit – nicht nur hinsichtlich der Bejahung einer Armee zur Landesverteidigung, sondern auch verstanden als Emanzipation von den USA – bedeuteten. Inwiefern der Staat versäumte, dem minzokushugi Ruhm zukommen zu lassen, erschließt sich erst nach der Lektüre der dritten Stufe: Weil das Parlament die Verbindung zwischen Kaiser und Militär, Moral und Schutz, negiert habe, sei die Chance einer Annäherung von Volk und Staat vergeben worden.171 Der als symbolisch bezeichnete Freitod des Läufers Tsuburaya ist eine Allegorie des Versagens des japanischen Staates, das Gemeinschaftsgefühl zu erhalten. Obschon die Gründe für den Selbstmord des Marathonläufers kurz vor der Olympiade in Mexico City im Jahr 1968 nicht eindeutig sind, wird davon ausgegangen, dass Tsuburaya, der bei den Spielen in Tokyo als Zweiter ins Stadion eingelaufen und auf der Zielgeraden von einem englischen Athleten überholt worden war, diese Niederlage nie verwinden konnte.172 SinnBelangen eine partielle, administrative Mitbestimmung bei den US-Amerikanern ein, und setzte damit ein Zeichen, dass die Rückgabe der noch immer okkupierten Gebiete ebenfalls zeitnah erfolgen solle (vgl. Tucker 1994: 117–120). Ein weiterer Konfliktherd bestand in der Forderung der USA, Japan möge sich durch ein klares Statement politisch und in Folge auch ökonomisch am Vietnamkrieg beteiligen. Da die Mehrheit der japanischen Bevölkerung den Krieg ablehnte, sah sich die japanische Regierung auch in diesem Fall gezwungen, den USA eine Absage zu erteilen (vgl. Tucker 1994: 99ff.; 116f.). 170 Die Industrie spekulierte darauf, Waffen exportieren zu können, allerdings wurde diese Hoffnung bereits 1967 zunichtegemacht, als das Kabinett Kriegslieferungen an kommunistische und in Konflikte verwickelte Länder untersagte (vgl. Green 1995: 51f.). 171 Vgl. BB: 33. 172 So stellt es etwa Buruma dar, der allerdings auf keinerlei Quelle verweist (vgl. Buruma 2003: viif.). Harada hingegen nennt in seinem Jahrbuch zwar den Tod des Sportlers, geht aber nicht auf mögliche Beweggründe ein (vgl. Harada 1991, Bd. 14: 34f.). In einem Abschiedsbrief schrieb Tsuburaya, dass er zu müde sei, um weiter laufen zu können (vgl. http://npo-kazokusou.net/column/isyo.html [30.09.2013]). Die öffentlichen Reaktionen auf den Suizid veranschaulichen dessen Bedeutung: Als Antwort auf die Spekulationen über die angeschlagene mentale Verfassung des Sportlers lobte zunächst Kawabata Yasunari in einem öffentlichen Beileidsbrief das tadellose Dasein des Läufers und brachte seine unermessliche Trauer zum Ausdruck (Der Tsuburaya Kōkichi senshu no isho [Das Testament des Sportlers Tsuburaya Kōkichi] betitelte Text, welcher in der Märzausgabe der Zeitschrift Fūkei erschien, ist weder in der Kawabata Gesamtausgabe enthalten noch lässt er sich anderweitig
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bildlich ist hier das Scheitern in letzter Sekunde, die Tatsache, dass Tsuburaya auf der Zielgeraden, vor den Augen der Zuschauer geschlagen wurde. Obgleich Japan sich der Welt bei den Spielen als gereifte, friedliche Industrienation präsentiert hatte, konnte dieser Erfolg nicht über die Ziellinie gerettet werden, weil der Staat das Gefühl, ein eigenständiges, funktionierendes, unabhängiges Land zu sein, nicht über den Augenblick hinaus erhalten konnte, sondern sich erneut in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Westen begab. Die zweite Stufe des minzokushugi bot durch die Olympiade theoretisch die Möglichkeit, den nachkriegszeitlichen japanischen ethnischen Nationalismus dauerhaft ins Positive zu verkehren. Allerdings gelang es dem Staat nicht, das Gemeinschaftsgefühl des Volkes zu erhalten, und die Chance einer Vereinigung von Volk und Staat wurde vergeben. 2.2.3 Die dritte Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus Die dritte Stufe des ethnischen Nationalismus umfasst ebenfalls Ereignisse des Jahres 1968. Mishima analysiert einerseits das Zusammenspiel von Nationalismus und Internationalismus und expliziert die Folgen der Trennung von Subjekt und Objekt. Andererseits erörtert er konkrete politische sowie kulturelle Auswirkungen des ethnischen Nationalismus und stellt damit eine Verbindung zu den ersten Kapiteln von Bunka bōeiron her.173 2.2.3.1 Die Trennung zwischen Zuschauendem und Angeschautem Ähnlich wie in der ersten Stufe, als die Übernahme des amerikanischen Gemeinschaftsgefühls ein Erstarken des japanischen minzokushugi bewirkt hatte, sei dessen dritte Stufe gezeichnet durch einen „Auftritt des ‚Internationalismus als der mit Zuckerguß glasierte Nationalismus’“.174 Einen Wendepunkt in dieser Phase markiere der Enterprise-Zwischenfall: Im Januar 1968 hatte die Regierung Satō der USS Enterprise, einem atomgetriebenen, hochmodernen Flugzeugträger, welcher zudem unter Verdacht stand, Atomwaffen zu auffinden). Kurz darauf äußerte sich auch Mishima schriftlich zum Freitod Tsuburayas und verwehrte sich gegen Spekulationen zu Neurosen des Athleten (vgl. TSU). Die anhaltende Popularität des Sportlers zeigt ein Blick auf die youtube-Homepage: Noch heute spielen durchaus auch junge Bands in regelmäßigen Abständen das Lied Hitori no michi ein, welches von Tsuburayas Leben handelt. 173 Zwei in die Ausführungen integrierte Fragen gliedern das Kapitel in Themenblöcke: Zum einen wird nach der Bedeutung der geschilderten Situation für die Kultur gefragt, zum andern nach den Spezifika des ethnischen Nationalismus in Japan. Der erste Teil erstreckt sich von Beginn des Kapitels bis S. 34 unten, der zweite Abschnitt umfasst die erste Hälfte von S. 35, Analyseeinheit drei den Rest des Kapitels. 174 BB: 33. Obgleich Nationalismus und Internationalismus häufig als Gegensatzpaar dargestellt werden, schließen sie sich nicht aus, sondern stützen sich häufig gegenseitig (vgl. Stegewerns 2003): „The complexity [of the term ‘nationalism’] has been increased by the usually separable distinction between nationalism (selfish pursuit of a nation’s interests as against others) and internationalism (co-operation between nations). But internationalism, which refers to relations between nation-states, is not the opposite of nationalism in the context of a subordinate group seeking its own distinct identity; it is only the opposite of selfish and competitive policies between existing political nations.“ (Williams 1985 [1976]: 214, zitiert nach Stegewerns 2003: 10).
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transportieren, das Einlaufen in den Hafen Nagasaki Sasebo erlaubt. Das Schiff sollte aufgetankt und den Soldaten ein Landgang gestattet werden, was dem japanischen hikaku sangensoku 非核三原則-Prinzip widerspricht, keine Nuklearwaffen herzustellen, zu besitzen oder ins Land zu lassen. Parteimitglieder der Kōmei-Partei (Kōmeitō 公明党), der Sozialistischen Partei (Shakaitō 社会党), der Kommunistischen Partei (Kyōsantō 共産党) sowie Anhänger verschiedener Friedensbewegungen demonstrierten zunächst gewaltfrei gegen das Einlaufen des Flaggschiffs des Vietnamkrieges. Im Laufe des Vormittages jedoch durchbrachen mit Holzstöcken bewaffnete Mitglieder der als Zengakuren bekannten Studentengruppierungen die Polizeiabsperrungen am Hafen und konnten nur mithilfe von Wasserwerfern, Tränengas und hartem Durchgreifen der Polizei aufgehalten werden. Das Ereignis trug zu einer Verschärfung der allgemeinen Proteste gegen die Präsenz USamerikanischer Stützpunkte in Japan bei.175 Mishima folgert, die amerikazentrierte Politik der Liberaldemokratischen Partei (LDP, Jimintō 自民党) sowie die US-Stützpunkte hätten den japanischen Wunsch nach Unabhängigkeit verstärkt, wodurch sich das passiv schlummernde Gemeinschaftsgefühl der ersten Stufe des minzokushugi emanzipieren konnte. Allerdings richte sich dieser erstarkte ethnische Nationalismus nicht unmittelbar auf die nationalen Belange Japans, sondern manifestiere sich als internationalistische Sympathie für die unterdrückten Vietnamesen. Der Internationalismus sei vorgeschoben und bequem, weil das Protestpotenzial in die Ferne 175
Vgl. Harada 1991, Bd. 14: 36f. Bei den hier genannten Zengakuren 全学連 (Zen nihon gakusei jichikai sō rengō 全日本学生自治会総連合 „Alljapanischer allgemeiner Verband der studentischen Selbstverwaltung“) handelt es sich um den 1948 gegründeten Dachverband der Studentenbewegung, welcher sich ab 1957 dem Einfluss der etablierten Linken, etwa der KPJ entzog und eigene Formen der politischen Partizipation entwickelt hatte, die keineswegs auf hochschulinterne Belange beschränkt war (vgl. Takayanagi 1975: 223). Eindeutige Forderungen der Studenten waren schwer auszumachen, neben der allgemeinen Unzufriedenheit über die Nachkriegszustände wehrten sie sich u. a. gegen eine Reduzierung des Lebens auf Arbeit und Firmenzugehörigkeit (vgl. Nakamura 1998 [1993]: 394–399). Die Forderungen der Studentenvertreter waren teilweise denen der internationalen Studentenbewegung angepasst, gleichzeitig befassten sich die Studierenden mit aktuellen innerjapanischen Problemen. Ab den späten 1960er Jahren radikalisierte sich ein kleiner Teil der Bewegung; 1967 marschierten erstmals behelmte und mit Holzstöcken bewaffnete Studenten auf den Flughafen Haneda zu, um den Abflug von Premier Satō nach Vietnam zu verhindern. Wie vielfältig die politischen Themen waren, derer sich die Studenten annahmen, zeigte sich bei den Demonstrationen gegen eine weitere Verlängerung des Anpo-Vertrages in den Jahren 1969–1970. Damals wurde zusätzlich gegen den Vietnamkrieg, die Besatzung Okinawas und die Diskriminierung von Ausländern, vor allem von in Japan lebenden Chinesen und Koreanern protestiert (vgl. Takayanagi 1975: 223; Derichs 1995: 107–133). Die Studenten verstanden sich als unbescholten von Kriegsideologien und „[d]as zentrale Thema des Kampfes hieß ‚Frieden’“ (Derichs 1995: 71). Zur Geschichte und Entwicklung der Zengakuren, deren Verhältnis zur Kommunistischen Partei Japans und deren zunehmenden Radikalisierung vgl. Derichs 1995; Kan 1996 [1982]. Die Entwicklung der Zenkyōtō 全共闘 (Zengaku kyōtō kaigi, „Allgemeines Universitätskampfkomitee“), dem Zusammenschluss – um nicht zu sagen: der Organisation – der unorganisierten, nicht an eine Institution gebundenen Studentengruppen, die den gewaltbereiten und prominentesten Teil der Bewegung darstellte, der sich in die Köpfe der Unbeteiligten einbrannte, schildert Mihashi 2010.
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projiziert werde, statt sich auf die Situation im eigenen Land zu richten.176 Tatsächlich engagierten sich ab 1965 breite Bevölkerungsschichten friedlich für eine Beendigung des Krieges, wobei diese häufig ihr eigenes Wohlbefinden, keineswegs aber die Belange des Landes in den Vordergrund rückten. Kollektiv auf Japan fokussierter Protest – Mishima meint hier ein Aufbegehren gegen die westliche Dominanz – bleibe hingegen aus.177 Zwar sei der bislang in den Menschen schlummernde, „zusehende“ ethnische Nationalismus zur treibenden Kraft der Zengakuren geworden, aber dem Großteil der Gesellschaft verschaffe die tatenlose Beobachtung der studentischen Aktionen gegen die übermächtig empfundene, durch die Enterprise symbolisierte USA Genugtuung: die Trennung von Zuschauendem und Angeschautem, von Subjekt und Objekt kann nicht aufgehoben werden.178 Drei Beispiele veranschaulichen die Gründe für die fehlende Einheit von Volk und Staat. Das Versagen des Staates belegt Mishima anhand einer parlamentarischen Debatte aus dem Jahr 1968. Als Premier Satō gefragt wurde, wie er sich eine „autonome Verteidigung“ Japans vorstelle, habe Satō ausweichend auf den Etat verwiesen, die moralische Implikation der Frage jedoch ignoriert. Die Umsetzung der nationalen Verteidigung ist für Mishima nicht von der Figur des Kaisers zu trennen; Satō hingegen degradiert sie zu einem finanziellen Problem. Der „Narita-Zwischenfall“ spiegle das Unvermögen, die politischen Ziele Japans mit denen des Volkes zu vereinen. Die auch als „TBS (Tokyo-Broadcasting-System)-Zwischenfall“ bekannten Proteste richteten sich im März 1968 gegen die Beschränkung der Pressefreiheit.179 Vgl. BB: 16, 20, 31. Ivy beschreibt den Internationalismus ähnlich wie Mishima, allerdings würde dieser wohl nicht zustimmen, dass mit diesem eine Verbreitung der japanischen Kultur einhergegangen sei: „As many observers, both domestic and foreign, have noted, kokusaika is a conservative policy that reflects the other side of a renewed sense of Japanese national pride, if not nationalism. It has thus been remarked that instead of opening up Japan to the struggle of different nationalities and ethnicities, the policy of internationalization implies the opposite: the thorough domestication of the foreign and the dissemination of Japanese culture throughout the world.“ (Ivy 1995: 3). 177 Ab 1965 engagierten sich breite Bevölkerungsschichten friedlich für eine Beendigung des Krieges, wobei häufig auch hier das eigene Wohlbefinden im Vordergrund stand. Die Beheiren べ兵連 („Friede in Vietnam Komitee“)-Bewegung, der außerhalb institutioneller Strukturen operierende Dachverband der Anti-Vietnamkriegsbewegungen, verstand sich als Bürgerbewegung, die nicht hierarchisch strukturiert war. Ein Ziel der Beheiren war, weltpolitische Geschehnisse als bedeutend für den Einzelnen darzustellen, eine Haltung, die Mishima explizit kritisiert. Die Mitglieder sahen die Gesellschaft als vom Staat instrumentalisiert, etwa wenn es um Positionen zu Vietnam oder Okinawa ging, und wollten nicht zuletzt ihre eigene Glückseligkeit verteidigen (vgl. Iida 2002: 121ff.; Koschmann 1993). Auch hier zeigt sich eine Parallele zu Mishimas Kritik am Stellenwert des Wohlstandes und persönlichen Wohlbefindens in der Nachkriegszeit. 178 Mishima kritisiert, dass es den Studenten ihrerseits nicht gelungen sei, den zuschauenden, passiven Teil auszumerzen, denn sie seien nicht in Aktion getreten, sie hätten weder getötet noch seien sie getötet worden (vgl. BB: 34), weil sie nicht bereit seien, ihr Leben zu geben. 179 Ausgelöst wurden sie durch die Zensur zweier Dokumentationen des Senders TBS – es handelte sich um eine Umfrage zur Bedeutung der japanischen Flagge sowie eine als pro-nordvietnamesisch gebrandmarkte Reportage – und die darauf folgende Zwangsversetzung der verantwortlichen Produzenten. Als der Sender eine Dokumentation über die Protestaktionen gegen den Bau von Narita drehen wollte, wurde zunächst die Produktion der Sendung behindert und letzten Endes ihre Ausstrahlung vereitelt (vgl. Harada 1991, Bd.14: 46; Kuroda 1996). 176
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Die verbotene Ausstrahlung einer TV-Dokumentationssendung über kollektiv getragene Protestaktionen in Zusammenhang mit dem Neubau des Flughafens Tokyo-Narita180 exemplifiziert die Konfliktsituation zwischen Volk und Staat: Der Vorfall spiegelt das Aufbegehren der Japaner gegen den Staat ebenso wie dessen Versuch, die Proteste unter Verschluss zu halten. Die Situation in Vietnam erachtet Mishima – im Gegensatz zur erfolglosen japanischen Einheit – als gelungenen Kampf für die Einheit von Volk und Staat. Tatsächlich wurde der Vietnamkonflikt häufig als harmonisches Miteinander von Nationalismus und Sozialismus beschrieben, beziehungsweise der Nationalismus als treibende Kraft des Sozialismus erachtet. Die revolutionäre Bewegung sei keine fremde, von außen auf Vietnam angewandte Doktrin, sondern diene der Neubehauptung der nationalen vietnamesischen Identität.181 Hinsichtlich des Gemeinschaftsgefühls war Vietnam zu diesem Zeitpunkt sowohl ethnisch als auch politisch zerrissen, aber der vietnamesische Nationalismus hatte den Kampf gegen die japanischen und französischen Besatzer motiviert.182 Die kommunistische Regierungsform schloss dabei die Existenz einer patriotischen Basis keinesfalls aus; Ho Chi Minh selbst begriff sich an erster Stelle als Patriot und erst an zweiter Stelle als Kommunist.183 Wie den Kulturalismus führt Mishima die Tatsache, dass das vietnamesische Gemeinschaftsgefühl im Gegensatz zum japanischen intakt sei, auf die unterschiedlichen Modernisierungsgrade der Länder zurück. Während Japan verwestliche, widersetze sich Vietnam den hegemonialen Bestrebungen: Erneut fordert Mishima implizit eine Auflehnung Japans gegen den Westen.184 Zwei weitere auf den internationalen Kontext bezogene Beispiele demonstrieren, dass das Auseinanderdriften von Volk und Staat im ethnischen Nationalismus für alle Länder problematisch ist. Einerseits spielt Mishima auf eine Rede des damaligen US-Präsidenten vom März 1968 an, in der Lyndon B. Johnson verkündete, nicht für eine weitere Kandidatur zur Verfügung zu stehen und die Luftangriffe auf Nordvietnam zu beenden, um Friedensgespräche anzuregen: The ultimate strength of our country and our cause will lie not in powerful weapons or infinite resources or boundless wealth, but will lie in the unity of our people. […] For 37 years in the service of our Nation, first as a Congressman, as a Senator, and as Vice President, and now as
Die Demonstrationen wurden in den späten 1960er Jahren nicht mehr ausschließlich von den betroffenen Bauern getragen, sondern von weiten Teilen des Volkes unterstützt. George formuliert, die Studenten hätten die Bauern im Kampf gegen Narita aufgesaugt, um sie für ihre Zwecke zu mobilisieren (vgl. George 2001: 282). 181 Mishima greift hier die offizielle Position der Vietminh auf. „The struggle of Vietnam was, of course, seen as the clearest possible example of this harmony between nationalism and socialism. This view was strongly reinforced by the argument of some distinguished analysts of the Marxist movement in Vietnam that the whole process of the revolution on Vietnam was not a crude imposition of an alien doctrine on the Vietnamese people, but a reassertion of Vietnam’s national and traditional identity.“ (Christie 1982: 18). 182 Vgl. Duiker 1976: 291. 183 Vgl. SarDesai 1998: 50–55. 184 Vgl. BB: 34. 180
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your President, I have put the unity of the people first. I have put it ahead of any divisive partisanship. And in these times as in times before, it is true that a house divided against itself by the spirit of faction, of party, of region, of religion, of race, is a house that cannot stand. There is division in the American house now. There is divisiveness among us all tonight. […] So I would ask all Americans, whatever their personal interests or concern, to guard against divisiveness and all its ugly consequences. […] What we won when all of our people united must not now be lost in suspicion, distrust, selfishness, and politics among any of our people.185
Johnson appelliert an das Gemeinschaftsgefühl der Bürger: Was als Einheit erreicht worden sei, dürfe nicht durch Argwohn, Missgunst, Eigennutz und Politik verkommen. Aus Mishimas Perspektive beendete Johnson mit dieser Rede die Einmischung in die Belange Vietnams, beugt sich darüber hinaus sowohl den massiven Protesten des eigenen Volkes sowie dem vietnamesischen Widerstand und fügt sich somit der Macht, die von einem geschlossen agierenden Volk ausgehen kann. Weitere mögliche Konsequenzen des Konfliktes zwischen Volk und Staat spiegeln andererseits die Unruhen, die nach dem Attentat auf Martin Luther King am 4. April 1968 über 40 Todesopfer sowie die Verhaftung Zehntausender zur Folge gehabt hatten, bevor eine Verbesserung der Situation der Afroamerikaner zu verzeichnen war.186 Mithilfe der historischen Ereignisse veranschaulicht Mishima die Wirksamkeit von Protestbewegungen und suggeriert, dass nur eine Revolution Japan aus der kulturellen und politischen westlichen Unterdrückung befreien könne. Der nicht moderne, vietnamesische ethnische Nationalismus, der sich gegen die Einmischung des USA auflehne, fungiert als positives Gegenstück zum japanischen minzokushugi. 2.2.3.2 Kulturelle Auswirkungen des ethnischen Nationalismus und innerjapanische Konsequenzen Im Teilabschnitt „Welche Bedeutung hat diese Situation für die Kultur?“ bindet Mishima die Ausführungen zum ethnischen Nationalismus an die Kapitel zur Kultur an und etabliert so den ethnischen Nationalismus als politische Komponente des Kulturalismus. Mishima transferiert seine Kritik am Internationalismus von der politischen Ebene auf die Kunst, indem er das neue Theater (shingeki 新劇) heranzieht, um universale, internationalistische Aspekte in verschiedenen Lebensbereichen zu bezeugen und auszuführen, dass auch die Theater-Bewegung vom universalistischen Gedanken einer „Kultur der Menschheit“ 185 186
National Archives and Records Service 1970, Bd. 1: 469–476. Indikatoren dieser langsamen Verbesserung der Situation der afroamerikanischen Bevölkerung sind etwa die Verabschiedungen von Gesetzen zur Gleichberechtigung bei Mietpreisen und beim Kauf von Wohnungen (vgl. Chafe 1986). Mishimas Beispiel lenkt den Blick darüber hinaus auch auf die Herausforderung, die eine Realisierung des ethnischen Nationalismus für einen Vielvölkerstaat wie die USA bedeutet.
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i nfiltriert sei. Shingeki bezeichnet die Übersetzung, Adaptation und Inszenierung von westlichem, vornehmlich realistischem Bildungs- und Aufklärungstheater in Japan seit der Meiji-Zeit. Mit der Einführung des westlichen Theaters einher ging eine Abkehr von klassischen japanischen Dramen-Schemata, weswegen shingeki als Unterbrechung der japanischen Theatertradition bezeichnet wurde.187 Implizit steht diesem Exempel als Gegenstück die moderne Theaterform angura gekijō アングラ劇場 entgegen: In den 1960er Jahren erfolgte eine Abkehr vom shingeki; Vertreter des Avantgarde-Theaters bezeichneten dieses als Establishment und Erzeugnis der westlichen Moderne. Als Alternative zum westlichen shingeki versuchten sie, das japanische Gegenwartstheater angura zu etablieren, in welchem japanische Traditionsbezüge mit anarchischem Pop gepaart wurden.188 Mishima demonstriert mit diesem Beispiel die Trennungsmechanismen des ethnischen Nachkriegsnationalismus auf kultureller Ebene: Das internationalistische, westliche shingeki verhinderte zunächst die Entfaltung des modernen eigenen japanischen Theaters.189 Das oftmals politische neue Theater ist die nationale Ausprägung einer universal gültigen Idee und entspricht insofern dem minzokushugi190: Unterschiede lassen sich nicht im Konzept, sondern geringfügig im Inhalt umsetzen; das Eigene wird zugunsten des Universalen aufgegeben. Die Orientierung an westlichen Vorbildern habe die in Japan historisch eigentlich verwirklichte Einheit von Volk und Staat unterbrochen.191 Deswegen sei der Verlust der kolonialisierten Gebiete nach der Kapitulation ironischerweise als positiver Effekt zu verzeichnen,192 weil das Inselland nun ausschließlich ein Volk, die Japaner, beheimate und es keine gravierenden Probleme mit anderen Ethnien gebe. Widerspruch an dieser haltlosen und zudem schwachen Argumentation – die er in der vierten Stufe weiter ausführt – erVgl. Watanabe 2005: 209. Bevor sich ein neues Verständnis von Interaktion und Raum im Theater entwickelte, enthielt shingeki zunächst noch traditionelle kabuki-Elemente (vgl. Eckersall 2006: 3; Melanowicz 1992: 3). 188 Eine 1969 gegründete angura-Gruppe kündigte in einer Pressemitteilung an: „Ultimately it is our intention to destroy shingeki [Western-style modern theater] as an art, shingeki as a system and in its place to present before you a concrete alternative contemporary theatre.“ (zitiert nach Goodman 1999: 5). Eckersall führt aus, dass ein konstantes Merkmal des angura die Darstellung der gefühlten Identitätskrise und der kulturellen Entfremdung war (vgl. Eckersall 2006: 21–81). 189 Die angura-Bewegung kritisierte neben der Institutionalisierung des shingeki auch dessen Internationalismus, welchen sie etwa in den shingeki-Plakaten vorzufinden glaubten (vgl. Goodman 1999: vii). 190 Vgl. Eckersall 2006: 6f.; Shinchiji 2009: 45. 191 Vgl. BB: 30–33, 36, 45; Zitat: 35. Der Verweis auf die USA ist an dieser Stelle forciert, denn nur vereinzelte Splittergruppen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wollten einen afroamerikanischen Staat errichten. 192 Korea war seit 1910 japanische Kolonie, Formosa (Taiwan) bereits seit 1895 und 1931 wurde die Mandschurei japanischer Marionettenstaat. Die japanische Invasion Südostasiens umfasste bis Mitte des Jahres 1942 Französisch-Indochina, die Philippinen, die malaysische Halbinsel, Niederländisch-Indien (das heutige Indonesien), Teile Neubritanniens und Neuirlands (beide gehören heute zu PapuaNeuguinea). Darüber hinaus hatte Japan Bündnisse etwa mit Thailand, den Satellitenstaaten Mengjiang und Nankin sowie der Provisorischen Regierung des Freien Indiens. Eine Karte des japanischen Staatsgebietes aus dem Jahr 1942 findet sich etwa bei Nishioka 1956: 300f. 187
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stickt Mishima im Keim, indem er hinzufügt, dass gegenteilige Positionen dem politischem Kalkül der Regierenden entspringe, die den ethnischen Nationalismus für ihre Zwecke instrumentalisierten.193 In der dritten Phase des ethnischen Nationalismus etabliert Mishima minzokushugi als politische Komponente des Kulturalismus. Die Solidarität der japanischen Bevölkerung mit Vietnam hatte eine „wilde Ehe“, eine nicht legalisierte Verbindung, zwischen Internationalismus und ethnischem Nationalismus zur Folge.194 Dass sich die Unzufriedenheit der Japaner über die eigene Abhängigkeit in einer Ersatzhandlung, der Sympathie für das vietnamesische Volk, entlädt, bezeichnet Mishima als internationalistisch glasierten minzokushugi. Dieser demonstriert erneut die Trennung von Volk und Staat: Während die japanische Regierung die USA unterstützten, sympathisierten die Japaner mit dem vietnamesischen Volk. 2.2.4 Die vierte Stufe des ethnischen Nachkriegsnationalismus Die Beschreibung der letzten Stufe des minzokushugi befasst sich wieder mit dessen Auswirkungen auf Japan. Mishima prophezeit, dass der ethnische Nationalismus auch nach Ende des Vietnamkrieges bestehen bleiben und sich in anderen Themen, nämlich der Okinawafrage und der Problematik der in Japan lebenden Koreaner, ausdrücken wird. Die These elaboriert er anhand des sogenannten „Kim Hyi-Ro-Zwischenfalls“: Der koreanischstämmige Kim hatte im Februar 1968 im Zuge eines Bandenkrieges einen Rivalen getötet, zwei Geiseln genommen und eine Entschuldigung von japanischen Polizisten gefordert, die ihn rassistisch beleidigt hatten.195 Das Ereignis beinhaltet laut Mishima drei zentrale Themenkomplexe und zwei als idealtypisch deklarierte Bilder Japans.196 Das erste Szenario, „die Japaner als Geiseln“, stelle – Mishima verweist zusätzlich auf die Besatzung der Inseln Niijima und Okinawa – Japan als Opfer dar: Ein friedfertiges Volk werde durch ausländische Waffengewalt gegeißelt.197 Das zweite Narrativ hingegen, eine „Ethnie, Vgl. BB: 35f. Die Behauptung, Japan bestehe nur aus einem einzigen Volk, über die Argumentation zu führen, es gäbe in Japan kein Problem mit Ausländern, steht auf tönernen Füßen. Davon abgesehen, dass diese Aussage äußerst fragwürdig ist – zwar ist die Anzahl an Immigranten in Japan gering, allerdings werden die in Japan lebenden Ausländer häufig diskriminiert, was durchaus für einen problematischen Umgang mit Einwanderern spricht –, lässt sie sich nur bedingt mit einer tatsächlichen Einheit eines Volkes in Verbindung bringen. 194 Vgl. Theimer 19819: 144, Zitat ebd. 195 Kim verbüßte im Anschluss eine 25-jährige Haftstrafe in Japan und ging nach seiner Freilassung nach Südkorea, wo er manchem als koreanischer Held gilt, der sich gegen die japanische Diskriminierung aufgelehnt hat (vgl. Sasaki 1991: 191). 196 Die folgende Passage findet sich in BB: 36f. 197 Indem Mishima Okinawa und Niijima als Referenzpunkte für das Bild der Japaner als Geiseln verwendet, spricht er einen in dieser Zeit emotional diskutierten Punkt an: auf Niijima waren, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang als in Okinawa, ebenfalls US-amerikanische Truppeneinheiten stationiert. Erst 1966 gelang es einer Anwohnervereinigung, erfolgreich gegen das Alleinnutzungsrecht eines Raketenübungsgeländes der US-Amerikaner zu klagen; das Beispiel belegt die Einschränkung der 193
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die aus ihrer Unterdrückung ausbricht“, zeige die Japaner als Tätervolk, welches aufgrund der einstigen Unterdrückung anderer Ethnien in seiner Macht begrenzt werden müsse. Mithilfe dieser Analogien beschreibt Mishima das koreanische Volk als Opfer der japanischen Diskriminierung und die US-Amerikaner als Tätern am vietnamesischen Volk. Die dritte Thematik: „die Staatsgewalt, welche die Japaner nur friedlich retten kann“, wird erst in der Übertragung auf das hegemoniale Mächteungleichgewicht verständlich. Mishima greift die Debatte um den Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der jieitai auf und plädiert bereits an dieser Stelle unterschwellig für eine größere Handlungsbefugnis der japanischen Armee, die aufgrund der Einschränkungen durch den Friedensvertrag und Artikel 9 der japanischen Verfassung nur friedlich agieren kann. Tatsächlich gäbe es in Japan jedoch – Mishima schwächt hier die Bedeutung des Kim-Zwischenfalls ab und untermauert die bereits im vorigen Kapitel aufgeworfene These – kaum Schwierigkeiten mit anderen Ethnien: Die koreanische Minderheit in Japan sei keine innerjapanische Angelegenheit, sondern eine internationale, die Fragen nach dem Bleiberecht aufwerfe.198 Diese fragwürdige Argumentation weicht nicht weit von der offiziellen japanischen Position der 1960er Jahre ab: Während die Japaner 1946 von shinmin 臣民, kaiserlichen Untertanen, zu japanischen Bürgern, kokumin 国民, wurden, waren die in Japan lebenden Koreaner seit der Annektierung Koreas im Jahr 1910 theoretisch – aufgrund staatlicher Bestrebungen, eine japanische Homogenität zu kreieren, wurden sie nicht als solche behandelt – japanische Staatsbürger. 1947 wurde den in Japan lebenden Koreanern die japanische Staatsbürgerschaft aberkannt, wodurch sie zu Ausländern degradiert wurden, die sich in Japan registrieren mussten, und denen der Anspruch auf staatliche Wohlfahrt sowie den Männern das Recht zu wählen genommen wurde. Die Diskriminierung verschärfte sich zunehmend: 1953 wurde ein Gesetz erlassen, laut welchem Stellen der öffentlichen Verwaltung ausschließlich von japanischen Staatsbürgern besetzt werden durften. Durch den Koreakrieg wurden die in Japan lebenden Koreaner schließlich staatenlos, da Japan keinen der beiden koreanischen Staaten anerkannte.199 Nach anhaltenden Protesten, die ihren Höhepunkt erlebten, als 15 000 Koreaner in Hibiya demonstrierten, wurde im Zuge der Unterzeichnung wirtschaftlicher Abkommen zwischen Japan und Korea im Jahr Japaner durch die Besatzer (vgl. Harada 1991, Bd. 13: 196). Die bekanntere Inselgruppe Okinawa wird im gleichen Atemzug mit Niijima genannt. Dort befinden sich bis in die Gegenwart US-amerikanische Militärstützpunkte, welche naturgemäß noch lange nach der Unabhängigkeit Japans mit der Unterdrückung durch die USA assoziiert wurden. Von der geschichtlichen Sonderrolle Okinawas abgesehen, steht der Name des Archipels auch für den Schauplatz verheerender Kämpfe im Jahr 1945, welche die japanische Niederlage im Zweiten Weltkrieg bereits vor den Atombombenabwürfen besiegelte. Zudem spiegelt die Tatsache, dass die Japaner das Königreich Okinawa in der Meiji-Zeit eingliederten und die indigenen Dialekte und Bräuche unterdrückten, ebenfalls das Bild von Japan als Täter (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 1: 1156–1165; Miyume 2006). 198 Der an dieser Stelle von Mishima verwendete Begriff rifyujī リフュジー, der sich vom englischen Wort refuge oder eher refugee ableitet, ist verwirrend, denn Japan bot Koreanern bis dato nie Asyl oder Zuflucht. Deswegen ist davon auszugehen, dass Mishima an dieser Stelle auf die Frage des Bleiberechts für Koreaner anspielt. 199 Vgl. Chapman 2008: 68f.
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1965 vereinbart, dass Koreaner, die bereits vor 1945 in Japan lebten, sowie deren in Japan ansässigen Kinder ein besonderes permanentes Bleiberecht, tokubetsu eijūken 特別永住権, erhalten sollten.200 Mishima folgt dieser Argumentation, welche den Status der in Japan lebenden Koreaner zu einer internationalen, durch bilaterale Verträge zu klärenden Angelegenheit deklariert, welche mit dem japanischen Volk insofern nichts zu tun habe, als sie kein Teil des japanischen kokumin seien.201 Mishimas Argumentation soll an dieser Stelle belegen, dass der japanische minzokushugi allein durch den Westen zerstört wurde und nicht auf Differenzen innerhalb des angeblich reinrassigen japanischen Volkes zurückzuführen sei. Die Koreaner als größte und durchaus integrierte Minderheit Japans, die darüber hinaus die Probleme des japanischen Kolonialismus vor Augen führt, als irrelevant zu marginalisieren, beziehungsweise als zwischenstaatliche Streitfrage zu bezeichnen, die als innerstaatliches Politikum inszeniert werde, ist zynisch. Als weiteren Kritikpunkt am nachkriegszeitlichen ethnischen Nationalismus führt Mishi ma dessen flexible Instrumentalisierbarkeit an. Der ethnische Nationalismus lasse sich zur Verharmlosung der Okinawa- und Niijima-Frage ebenso heranziehen, wie er ein internationalistisches Solidaritätsgefühl generieren könne. Im Narita-Zwischenfall zeige der minzokushugi seine nützlichste und gefährlichste Seite gleichermaßen:202 Darin spiegelt sich einerseits das Potenzial, das Protesten innewohnt, andererseits führen die Ereignisse die Konsequenzen einer unterdrückten Redefreiheit vor Augen. Der ethnische Nationalismus habe innerjapanische Grabenkämpfe zwischen rechten und linken Parteien ebenso verschuldet,203 wie er sich international von faschistischen und kommunistischen Regierungen vereinnahmen lasse. Dass der nachkriegszeitliche minzokushugi Staat und Volk nicht an sich binden könne, demonstriert für Mishima die Untauglichkeit der politischen Form.204 Die willkürliche Anpassbarkeit des ethnischen Nationalismus führt er auf dessen Emotionalität, das „sentimentale, humanistische Mitgefühl“ zurück, das Mishima ablehnt, weil daraus Egoismus resultiert. Das Gesetz ist bekannt als 日本国と大韓民国との間の基本関係に関する条約, kurz: 日韓基本条約 Nikkan kihon jōyaku, „Agreement Between Japan and the Republic of Korea Concerning the Legal Status and Treatment of the People of the Republic of Korea Residing in Japan“. Hanami listet sowohl die Anzahl der in Japan lebenden Ausländer auf als auch die Anträge auf Erhalt der japanischen Staatsbürgerschaft (vgl. Hanami 2004: 40, 44). Der Studentenbewegung bot dieses Abkommen erstmals seit den Anpo-Protesten Grund zum Widerstand: Sie sahen in den Verträgen ein Bündnis zwischen den USA, Japan und Korea und befürchteten, dass Japan und Korea zum Bollwerk gegen den Kommunismus werden sollte (vgl. Derichs 1995: 110f.). 201 Vgl. Chapman 2008: 70. 202 Vgl. BB: 34. Die Instrumentalisierbarkeit des minzokushugi spiegelt sich auch in dessen Bezeichnung als shudan 手段, „Mittel, Instrument oder Maßnahme“ (vgl. BB: 37). 203 Vgl. BB: 37. Mishima spielt auf die Rivalitäten zwischen den politischen Lagern an, die im Alltag der 1960er Jahre durchaus präsent waren, als Attentate rechter Lager die Bevölkerung ebenso einschüchterten wie die Radikalität einzelner linker Studentengruppierungen. 204 Vgl. BB: 35. Die Instrumentalisierung des minzokushugi in kommunistischen Staaten belegt Mishima mit einem Verweis auf China und Laos; explizite Beispiele für die faschistische Aneignung des ethnischen Nationalismus hingegen bleiben aus. 200
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Die Analyse der vier Stufen des ethnischen Nationalismus zeigt eindeutige Übereinstimmungen der Wirkungsweisen des minzokushugi und des Kulturalismus. Beide Phänomene lassen sich in einen vergangenen Idealzustand und eine gegenwärtige, unvollkommene Erscheinungsform differenzieren. Kulturalismus wie ethnischer Nationalismus sind durch Kriegsende und Besatzungszeit entstandene, politische und utilitaristische Prinzipien, welche vielseitig vereinnahm- und instrumentalisierbar sind: Minzokushugi ist die politische Komponente des Kulturalismus.205 Bei beiden Phänomenen verurteilt Mishima den Egoismus und stellt den vornehmlich durch Sentimentalitäten geleiteten Mensch als typisch für die Moderne dar.206 Zusammengelesen offenbaren minzokushugi und bunkashugi eine umfassende Kritik am Westen: Der Kulturalismus einerseits interveniere in die kulturellen Angelegenheiten Japans, indem er etwa vorgebe, was in Museen ausgestellt werden müsse. In der Moderne sei die eigentlich konstant fließende, reflexive japanische Kultur fruchtlos geworden: Modernität – und damit implizit der Westen – wird somit zum Inbegriff der Vorherrschaft des Egoismus und dem Ausbleiben der Selbstlosigkeit.207 Der ethnische Nationalismus stülpe Japan hingegen das westliche Staatssystem über, das aber für Japan inadäquat sei, weil Staat und Volk darin nicht zusammenfänden. Obgleich im Zuge der Olympischen Spiele kurzzeitig ein wahres japanisches Gemeinschaftsgefühl realisiert worden sei, konnte sich dieses nicht dauerhaft etablieren. Ebenso wie die politische Idee eines Nationalstaates ein auf die westliche Moderne zurückzuführendes Konzept zur Schaffung einer Gemeinschaft darstellt, welches ungeachtet der regionalen Besonderheiten der einzelnen Länder als universell angesehen wird, kritisiert Mishima die Übernahme kultureller westlicher Vorstellungen, exemplifiziert im shingeki. Die Kritik, der Westen gebe anderen Nationen die Standards für Politik, Soziales, Kultur und Ökonomie vor, wird als sogenannte Orientalismus-Debatte in den 1970er Jahren im postkolonialen Diskurs erneut aufgegriffen.208
2.3 Totalitarismus und Freiheit Das zentrale Thema des vorletzten, knapp über zwei Seiten langen Kapitels Die Ganzheitlichkeit der Kultur und der Totalitarismus ist die Setzung von Kultur als Bindeglied zwischen Volk und Staat, wodurch alle Teilabschnitte von Bunka bōeiron miteinander verDies zeigt auch die Gleichsetzung der beiden Begriffe im nächsten Kapitel, wenn davon die Rede ist, dass die „Masken von Kulturalismus und ethnischem Nationalismus“ getragen würden (BB: 38). 206 Vgl. BB: 30f. 207 Vgl. BB: 29. 208 Vgl. etwa Said 1978; Dirks 2006. Mishima nimmt hier Saids Kritik vorweg, dass im Zuge der Kolonialisierung im 20. Jahrhundert Staat und Kultur weltweit den westlichen Idealvorstellungen angepasst würden (vgl. Said 2003 [1978]: 9–28). Mishima formuliert implizit auch, dass durch die Verknüpfung von Kultur und Staatssystem der hegemoniale Fortbestand im postkolonialen Zeitalter gewährleistet werden solle (vgl. Dirks 2006). 205
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bunden werden. Darüber hinaus führt Mishima ein Plädoyer für die Redefreiheit als Bedingung für Kultur und grenzt Ganzheitlichkeit und Totalitarismus voneinander ab. Zwischen den beiden Begriffen zu unterscheiden ist unumgänglich, um den politischen Totalitarismus von der unpolitischen Ganzheitlichkeit der Kultur abzugrenzen.209 Totalitarismus, verstanden als System, welches in die sozialen Verhältnisse eingreift und die Massen zu ideologisieren sucht, verfolgt genau die Ziele, welche Mishima Kulturalismus und ethnischem Nationalismus vorwirft. Dem Totalitarismus widerstehen kann nur die ganzheitliche Kultur, die wiederum durch ein politisches System geschützt werden müsse, das die Redefreiheit garantiert.210 Für die Ganzheitlichkeit der Kultur sind sowohl die zeitliche Kontinuität als auch die räumliche Kontinuität unerlässlich. Erstere garantiert Traditionen, Schönheit und Geschmack, letztere garantiert die Verschiedenartigkeit des Lebens. Die Redefreiheit ist, wenn auch nicht für Erstere, so für Letztere ein einwandfreier Beschützer.211
Kultur ist an zwei Bedingungen geknüpft: zeitliche und räumliche Kontinuität. Die temporale Vertikalachse, die den Mythos der ungebrochenen kaiserlichen Genealogie aufruft, setzt Mishima mit Tradition, Geschmack und Feierlichkeiten gleich. In Übereinstimmung mit der Tenno-Ideologie der Meiji-Zeit argumentiert Mishima, dass sich die Einheit von Religion und Staat im Jahr 1868 erneut manifestiert habe, als Tenno Mutsuhito 睦仁 (1852– 1912) den shintoistischen Ursprung der kaiserlichen Herrschaft sowie die Abstammung der Monarchen von der Sonnengöttin Amaterasu am Hirakawa-Schrein proklamiert habe.212 Das Gottkaisertum statte den Tenno einerseits mit verschiedenen rituellen Funktionen aus, als Verwalter der höfischen Dichtung sei er andererseits der Garant für Ästhetik und Ge-
Mishima führt an dieser Stelle aus, die Frage, ob ein Regierungssystem Kultur anerkennen könne, sei gleichbedeutend mit der Frage, ob ein Regierungssystem fähig sei, Erotik anzuerkennen (vgl. BB: 38). Einerseits wird hier die Unvereinbarkeit von Politik und Kultur bekräftigt, andererseits werden Erotik und Kultur parallelisiert. Der Kaiser als Kultur symbolisiert die Sublimation der Erotik ins Künstlerische, wodurch er die Politik transzendiert und als Prinzip sowohl chaotischen, als auch geregelten politischen Verhältnissen übergeordnet ist. Mishima thematisiert den Kaiser als Fetisch, als gottgleiches Objekt der Verehrung, welches aufgrund der Reflexivitätsprämisse auf den Blick anderer angewiesen ist, damit es diesen zurückwerfen und letztlich zur Quelle der Kultur werden kann. (Jacques Lacan zufolge ist der Fetisch zudem ein Symbol der Macht (vgl. Roudinesco 2004: 247– 250). Auch hier fällt die Parallele zum darshan-Ritual, dem reziproken Ansehen zwischen Gott und dem Gläubigen, auf.) Was sich an dieser Stelle wie der gesuchte Berührungspunkt zwischen Kaiser und Politik liest, ist in Wahrheit viel eher eine Ästhetisierung oder Poetisierung des Politischen, welches dadurch aus seiner Verhaftung in der politischen Sphäre gelöst und in die Kunst oder das kulturell Unbewusste transferiert wird. Diese Argumentation gesteht dem an sich kulturellen Kaiser unter gewissen Umständen zu, politisch aktiv zu werden und dennoch den Bereich der Kultur nicht zu verlassen. 210 Insofern ist auch nicht verwunderlich, dass die Redefreiheit als politisch instrumentalisiert, unsittlich und in Relativismus resultierend beschrieben wird. Das Kapitel findet sich in BB: 38ff. 211 BB: 38. 212 Vgl. BB: 47; Aoki 1992–1994, Bd. 3: 962f. 209
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schmack.213 Die räumliche Kontinuität von Kultur beschreibt Mishima als Horizontalachse des Koordinatensystems, welche neben der Verwirklichung der Verschiedenartigkeit des Lebens auch die Möglichkeit politischer Unordnung, gemeint sind Revolutionen, biete. Mishima verurteilt sowohl rechten als auch linken Totalitarismus, da dieser die Meinungsfreiheit beschneide. Seine emphatische Bejahung der Redefreiheit, die die gedankliche Toleranz gegenüber Anderem garantiere, dominiert das Kapitel. Da Mishima neben der fehlenden Redefreiheit in der Edo-Zeit und während des Pazifischen Krieges verschiedentlich die gegenwärtige Kontrolle der Meinungsfreiheit in kommunistischen Staaten und linken Bestrebungen in Japan bemängelt, scheint es, als bange der Autor angesichts eines erstarkenden Linksdrucks um seine eigene Redefreiheit.214 Mishima ist sich bewusst, dass es in demokratischen Systemen keinerlei Handhabe gegen Werterelativismus gibt, und zieht die Entstehung unterschiedlicher politischer Positionen der Beschränkung der Meinungsfreiheit im Totalitarismus vor. Offensichtlich vertraut er dabei auf die durchschlagende Überzeugungskraft seiner Kaiservision, wenn er davon ausgeht, dass, sobald von der Möglichkeit, zu sagen, was beliebt, Gebrauch gemacht wurde, eine Selektion in edle und unedle Aussagen erfolge.215 Gleichzeitig weiß er auch, dass die autoritäre Unfreiheit der Freiheit überlegen ist, weil diese sich nicht ideologisieren lasse, und somit gerade in Krisenzeiten wenig Überzeugungskraft besitze. Deswegen seien auch freie Länder – Japan offensichtlich eingeschlossen – von der Angst geplagt, von innen heraus durch den Totalitarismus zerfressen zu werden. Mishima bekräftigt dies mit zwei bruchstückhaften Zitaten aus Cyril Northcote Parkinsons 1958 erschienenem Werk The Evolution of Political Thought216, der darlegt, dass Kommunisten häufig ahistorisch argumentierten, und findet, es sei eine „Torheit“, Monarchien per se abzulehnen. Mit diesem nicht kommentierten Zitat bekräftigt Mishima seine Kritik an der gegenwärtigen japanischen Verfassung ebenso wie seine Ablehnung des Kommunismus. Gleichzeitig leitet er zum letzten Kapitel über, in welchem er den Kaiser zum konstituierenden Element des modernen japanischen Staates erklärt. Letztendlich könne nur eine auf Kultur basierende Verbindung zwischen Volk und Kaiser rechtem wie linkem Totalitarismus trotzen.217 Vgl. BB: 46ff., 27. Vgl. BB: 19, 26, 39, 45, 50f. 215 Vgl. BB: 39. Obgleich sich der Ursprung des eingeschobenen Sprichworts, man müsse alle schmutzigen Wörter einmal gesagt haben, nicht klären lässt, erschließt sich dessen Bedeutung im Zusammenhang mit dem nächsten Argument: Darin erläutert Mishima, es brauche Zeit, bis sich die Redefreiheit durchgesetzt habe und dieser Prozess könne durchaus mit einer Verschlechterung des Geschmacks oder einer Abwertung der Schönheit einhergehen. 216 Die japanische Fassung von The Evolution of Political Thought, welches nicht ins Deutsche übersetzt ist, erschien im April 1967, also ein Jahr vor Bunka bōeiron (vgl. Itō 1967). 217 Mishima verweist nicht ohne Grund auch auf gewaltbereite rechte Organisationen: Neben den linken Gruppierungen wurden meist vor dem Hintergrund der als verletzt verstandenen Ehre des Kaiserhauses diverse Anschläge aus dem rechtskonservativen Milieu verübt. Im Jahr 1960 wurde etwa nach der Veröffentlichung einer Kurzgeschichte, welche von der Ermordung des Kaisers handelte, ein Anschlag auf den Verleger des Autors Fukuzawa Shichirō verübt. Daraufhin zog der Verlag Chūō kōron eine geplante Ausgabe zum Kaisersystem zurück. Die Asahi Shinbun, eine der liberalen Zeitungen Japans, 213 214
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2.4 Der Kaiser als kulturelles Konzept Im letzten, beinahe zehnseitigen und damit längsten Kapitel Der Kaiser als kulturelles Konzept entwickelt Mishima eine Vision des Kaisers, welcher den absoluten moralischen Wert sowie das Zentrum der Kultur darstelle und somit Volk und Staat einen könne. Im ersten Drittel des Kapitels zitiert Mishima beinahe ausschließlich Positionen Intellektueller, wodurch er sich mit seiner Idee des Kaisers als „kulturelles Konzept“ innerhalb einer gewissen Tradition verortet. Um die Debatte nachvollziehen zu können, muss der Leser mit der Entwicklung und den Veränderungen des japanischen Kaisersystems sowie des kokutai vertraut sein.218 2.4.1 Kaiser und Kaiserideologie Zumindest nominell stand Japan vom 7. bis ins 11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung unter kaiserlicher Direktherrschaft. Innerhalb der im Kernland Japans angesiedelten Yamato-Konföderation hatten sich im 6. Jahrhundert Regierungsstrukturen um einen als „Oberhaupt des Sonnengeschlechts“ bezeichneten Herrscher entwickelt, die es ab dem 7. Jahrhundert zu legitimieren galt.219 Nachdem der Yamato-Clan einen innerjapanischen Konflikt für sich entschieden hatte, wurden erste Vorkehrungen für die Etablierung eines zentralisierten Staates nach chinesischem, konfuzianischem Vorbild getroffen, mit welchem auch die Etablierung eines Himmelssohnes einherging. Im Zuge der Mitte des 6. Jahrhunderts einsetzenden Sinifizierung, entstand im Jahr 701 der Taihō-Kodex 大宝律令, ein Kompendium steuerlicher und administrativer Vorschriften. Die Regierung wurde umstrukturiert, und 710 wurde in Nara die erste permanente japanische Hauptstadt errichtet.220 Um den Herrschaftsanspruch des nun etablierten Kaiserhauses zu rechtfertigen, kommentiert das Attentat mit der Aussage, die Meinungsfreiheit dürfe nicht soweit ausgedehnt werden, dass das Gemeinwohl im Sinne der Kunst vergessen werde (vgl. Treat 1994: 100–103). Zudem fiel im selben Jahr der Führer der Sozialistischen Partei einem politisch motivierten Mordanschlag zum Opfer. Das Ziel der kaisertreuen Gruppierungen war zwar keine Rückkehr zum Vorkriegssystem, aber weitreichende Rechte für den Kaiser. „The ideas of the constitutional revisionists gradually changed with the times, but, generally speaking, their aims were first to increase the authority of the emperor as ‘the spiritual foundation of the Japanese nation’.“ (Nakamura 1992: 122). Obwohl rechte Gruppierungen gesellschaftlich weitgehend isoliert waren, vermochten sie das öffentliche Leben soweit einzuschüchtern, dass sich viele Intellektuelle einer Selbstzensur unterwarfen, welche als „Chrysanthementabu“ bekannt ist (vgl. Tagsold 2002: 72f.). 218 Die Darstellung ist in diesem Rahmen verkürzt und vereinfacht; darüber hinaus folgt sie der in der Nachkriegszeit vorherrschenden Sicht auf die Entstehung und Entwicklung des Kaisersystems, welche, wie Gluck zu Recht kritisiert, die sozialen Praktiken der Menschen und die Frage, inwieweit sich das Leben von etwa Bauern durch die Ideologie verändert habe, außer Acht gelassen wird (vgl. Gluck 1985). Da Bunka bōeiron allerdings Positionen Intellektueller reflektiert, ist die Frage nach sozialen Praktiken an dieser Stelle zu vernachlässigen. 219 Hall bemerkt, dass bereits in dieser Zeit der Führer des Sonnengeschlechts zu einer machtlosen Puppe herabgewürdigt worden sei (vgl. Hall 1997: 41–54, insbes. 46). 220 Zur Geschichte Japans vor der Heian-Zeit, vgl. Yoshida 2006: 2–63; Ōtsu 2009 [2001]: 32f.
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ordnete der Kaiser die Verfassung von Reichsannalen an, bekannt als Kojiki 古事記 (712) und Nihonshoki 日本書紀 (720), in denen eine direkte Verbindung zwischen dem Zeitalter der Götter und der Gegenwart hergestellt und der Kaiser zu einem direkten Nachfahren der Sonnengöttin Amaterasu erklärt wurde.221 Die auf diese Periode folgende Heian-Zeit 平安時代 (794–1185) gilt als Hochphase der Kultur und Künste am Hof, von welchen zahlreiche literarische und kunsthistorische Werke zeugen. Die Machtverhältnisse variierten seit dieser Zeit: Ab dem 9. Jahrhundert lag die tatsächliche Macht weniger beim Tenno als bei der Fujiwara-Familie, welche die Posten der Regenten besetzte und in die Kaiserfamilie einheiratete. Den Kaisern kamen in dieser Zeit vornehmlich zeremonielle Aufgaben zu.222 In der Kamakura-Zeit 鎌倉時代 (1185– 1333) hingegen waren es die aus Klöstern heraus agierenden ehemaligen Kaiser, die mithilfe verbündeter Samurai-Familien die Regierungsgeschäfte lenkten. Es gab immer wieder Versuche von Seiten des Kaiserhauses, die politischen Verhältnisse umzukehren und die direkte Herrschaft zu übernehmen, so etwa während der Kemmu-Restauration 建武の 新政 von 1333–1336.223 Die Heian-Zeit war nicht nur eine kulturelle Hochphase, sondern auch die Zeit des Aufstiegs der Samurai, der buke 武家, welche im 14. Jahrhundert dem Hof endgültig die Macht entrissen und das Shogunat etablierten, welches bis 1867 das politische Geschehen Japans bestimmte.224 Der Hof hatte in der Zeit der Shogunate kaum politischen Einfluss, doch die Bevölkerung bewunderte die kulturellen Errungenschaften und Kenntnisse der Aristokraten.225 Ab dem 18. Jahrhundert forderten Vertreter der philosophisch-philologischen kokugaku 国学-Schule immer lauter die Abschaffung des Shogunats und die Wiedereinsetzung des Kaisers in seine ehemalige, angeblich angestammte, direkte Machtposition. Unter Berufung auf den Shintō und ein idealisiertes Altertum, in welchem die kokugaku-Gelehrten das japanische Volk und seine Kultur verwurzelt sahen, erklärten sie Japan zum „Götterland“, das anderen Nationen überlegen sei.226 Die Ankunft von Commodore Perrys schwarzen Schiffen im Jahr 1854 leitete die Landesöffnung sowie die Meiji-Restauration von 1868 ein. Den Monarchisten gelang es, den Shogun durch den erst 15-jährigen, bislang unbekannten Kaiser Mutsuhito zu ersetzen.227 221
Graphiken, welche die Erstellung der Genealogie gemäß der Reichsannalen bis Kaiser Kammu 桓武 天皇 (767–806) zeigen, finden sich bei Ōtsu 2009 [2001]: 37, 42, 45, 65. Zur Ordnung des Kaiserreiches, wie in den Annalen beschrieben, siehe Ōtsu 2009 [2001]: 318–336.
222 Vgl. Hane 1991: 44–60. Eine Auflistung der durch den Kaiser zu vollziehenden Riten und deren Ver-
änderung zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert findet sich bei Ōtsu 2009 [2001]: 184–232. Hintergrundinformationen zur Kemmu-Restauration 建武の新政 (1333–1336) finden sich bei Goble 1996. 224 Vgl. Yoshida 2006: 111–175. 225 Vgl. Antoni 1991: 22. 226 Vgl. Iwai 1998: 44–49. Bedingt durch die historischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, wandelte sich die bei Motoori Norinaga religiöse Idee des Tenno zu einer politischen. (vgl. Naumann 1987: 182–185). Einführende Informationen zur kokugaku finden sich etwa bei Burns 2003. 227 Die erzwungene Öffnung Japans und die darauf folgende Meiji-Restauration 1868 kann an dieser Stelle nur angerissen werden, wichtig für die Interpretation von Bunka bōeiron ist die in diesem Zu223
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Der Tenno sollte jedoch nicht nur zum Staatsoberhaupt avancieren, sondern, so das formulierte Ziel der Meiji-Ideologen, zu der Achse für Japan werden, welche das Christentum für den Westen darstelle.228 Gemeint war, dass der Monarch nicht nur dem Ausland gegenüber als Repräsentant Japans gelten, sondern zudem als einigende Kraft Japans fungieren sollte. Um dieses Ziel zu realisieren, mussten die Bürger zunächst von der Existenz des neuen Oberhauptes unterrichtet werden, weswegen staatliche Propagandisten und „nationale Priester“ ausgesandt wurden. Diese erklärten den Menschen nicht nur, wer der Tenno war, sondern sie führten zudem Rituale als Gedächtnisstützen ein, um das Bewusstsein für den neuen Herrscher im Alltag zu verankern.229 In dieser Zeit zeigte sich der Kaiser in westlicher Militäruniform auf einem Schimmel reitend erstmals seinem Volk als ein Herrscher, der das politische und militärische Geschehen mitbestimmt.230 Der bislang im Kaiserpalast verborgen lebende Tenno war damit zu einem sichtbaren und sehenden Herrscher geworden, der für das japanische Volk ebenso präsent war wie für ausländische Politiker. Dies war jedoch nur der erste Schritt im Zuge der Erschaffung eines „dualen Tenno“, dessen physischer Körper als sterblich galt, während der politische den physischen transzendiere und beim Tod des Kaisers direkt auf seinen Nachfolger übergehe. Um den metaphysischen Körper zu betonen, musste dem Staatsmann in Uniform ein göttliches Antlitz gegeben werden. Dementsprechend verließ der Kaiser ab den 1880er Jahren seinen Palast immer seltener und wurde von nun an als Herrscher beschrieben, der in archaische Gewänder gehüllt, als Nachkomme der wichtigsten japanischen Götter Riten vollzog.231 In der Folge wurde die überreligiös verstandene, shintoistische Ideologie zum verbindlichen Staatskult.232 Man schloß, auf der Basis der national gesinnten Shintō-Theologie, bewußt wieder an die Tradition des Altertums an, postulierte – nun für alle verbindlich – das Dogma vom „Götterland“ Japan mit einem heiligen Tennō an der Spitze.233
sammenhang aufkommende Frage nach der Funktion und der Position des Kaisers als neuem Oberhaupt des zu definierenden Meiji-Staates. Die Hintergründe und Ereignisse der Meiji-Restauration sowie die Diskussion um die Frage, ob der Kaiser oder der Shogun dem Land vorstehen sollte, erörtern etwa Keene 2002; Yoshida 2006: 180–195; Hartmann 1996: 11–78. 228 Vgl. Naumann 1987: 185. 229 Vgl. Fujitani 1996: 10–13. Bedeutung von Ritualen bei der Erschaffung von Traditionen vgl. Hobsbawm 1996: 4. 230 Vgl. Shimada 2000: 206; Ōhama 1973. 231 Vgl. Iwai 1998: 61–70. Gluck stellt die verschiedenen Stadien der Repräsentation dar: Anfangs wurde der Kaiser mit dem Fortschritt verbunden, gegen Ende des russischen Krieges wurde er im sozialen Bereich angesiedelt, galt als Patriarch des Familienstaates und repräsentierte die Harmonie. Seit dem sino-japanischen Krieg wurde der Tenno als Oberbefehlshaber der Armee in der Öffentlichkeit inszeniert (vgl. Gluck 1985: 78–88). 232 Vgl. Iwai 1998: 120–146. Zu den neu eingeführten Kaiser-Ritualen siehe Lokowandt 1997; Gluck 1985: 138–142. 233 Antoni 1991: 20.
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Auf diese Weise konnte der Tenno dem gemeinen Volk als mythologischer Kaiser und als lebender Gott präsentiert werden, vor Intellektuellen wurde hingegen die rationale und demokratische Interpretation eines Monarchen betont, wie er in der Eidescharta festgeschrieben und von der Verfassung limitiert war.234 Durch diese Doppelstrategie gelang es, den Kaiser als Kern der nationalen Einheit zu manifestieren. Verschiedene ideologische Maßnahmen der folgenden Jahre, etwa das Erziehungsedikt, die Schaffung der kokutai 国体-Idee und schließlich die Indoktrinierung während der Kriegszeit stellten Instrumentarien zur Festigung dieser Einheit dar. Die göttlich-menschliche Figur des Meiji-Kaisers lässt sich dementsprechend als invented tradition bezeichnen, welche sich ab 1890 langsam und dank stetiger Ideologiepflege in den Köpfen der Menschen festsetzte. Entscheidend war die Frage nach der Beschaffenheit des kokutai, ein Begriff, welcher wörtlich als „Staatskörper“ zu übersetzen ist. Am eindeutigsten lässt sich über das kokutai sagen, dass dieses zu keinem Zeitpunkt klar definiert war, der Tenno aber unzweifelhaft als dessen Garant galt.235 Im Anschluss an Antoni sind drei Phasen des kokutai-Denkens zu unterscheiden: die formative Phase zwischen 1825–1890, die zweite, klassische Phase (1890–1937) und schließlich die Phase der Hybris der Jahre 1937–1945.236 Erstmals verwendet wurde der Begriff kokutai von Aizawa Seishisai 会沢正志斎 (1782–1863) in einem Aufsatz aus dem Jahr 1825. Unter Berufung auf die Mythen argumentierte Aizawa – er war der Überzeugung, Japan müsse sich gegen den Westen abschließen und die rivalisierenden Fürstentümer, han, zu einem Körper vereinen –, dass Japan im Gegensatz zum christlichen Westen eine Einheit unter der Herrschaft der Götter beziehungsweise der Kaiser in deren Regierungsauftrag bilde. Aizawa gehörte zu den neo-konfuzianischen Mito 水戸-Gelehrten, die den kokutai-Begriff in den späten bakufu-Jahre häufig verwendeten, um Japan als Land darzustellen, das eine ethnische Einheit bilde und eine ununterbrochene, auf die Götter zurückgehende Genealogie vorweisen könne.237 Zur Eidescharta und zur Meiji-Verfassung, siehe Gordon 20092: 76–92. Vgl. Doak 2007: 84, 106. Antoni fasst es in folgende Worte: „Der Kern des kokutai als Begriff für japanische Identität im Sinne einer als sakral verstandenen Natur des Landes war trotz aller Entwicklung und Erweiterung stets unberührt geblieben: Er bestand in der Idee – oder Illusion – von der Göttlichkeit der kaiserlichen Linie.“ (Antoni 1991: 52). 236 Vgl. Antoni 1991: 37. 237 Die Mito-Gelehrten trugen entscheidend zur Entstehung der sonnō jōi 尊皇攘夷-, „Verehrt den Tenno, vertreibt die Barbaren“-, Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts bei. Die Ansicht der Mito-Anhänger war in den 1880er Jahren jedoch keinesfalls die einzige Meinung zum kokutai: So beschreibt etwa Fukuzawa Yukichi 福沢諭吉 (1835–1901), einer der ersten, der die Notwendigkeit einer Einheit Japans formulierte, in Bunmeiron no gairyaku [Aufriss über eine Theorie der Zivilisation] (1875) das kokutai nicht als spezifisch japanisch, sondern als „Nationalwesen“, welches in jedem Land vorzufinden sei. Deswegen gäbe es auch nichts Unveränderliches, keine Essenz, welche dem kokutai zugrunde liege, sondern das kokutai sei in den freien, souveränen Bürgern begründet (vgl. Maruyama 1999 [1943]: 43–47; Fukuzawa 2008 [1875]). Letzten Endes sollte sich jedoch nicht Fukuzawas Konzeption durchsetzen, sondern die derjenigen Theoretiker, die im kokutai einen Ausdruck der japanischen Kontinuität und Besonderheit sahen. Ein Auszug aus Aizawas Text sowie weitere für die Entwicklung der Mitō-Schule relevante Quellen finden sich bei De Bary 2005: 618–628; für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Mito-Schule vgl. Bitō 1977. 234 235
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While emphasizing the monarchy as the source of continuity in Japanese cultural and political life, and juxtaposing this system to the foreign Chinese culture in which dynastic revolutions were a constant feature throughout history, the Mito writers presented a theological-political system in which loyalty to the emperor was not merely an obligation of rulers, but also an emblem of Japanese identity.238
Diese Vision der Mito-Anhänger entspricht der Idealform von Mishimas ethnischem Nationalismus, welche dem nachkriegszeitlichen minzokushugi entgegensteht. Im kaiserlichen Erziehungserlass Kyōiku chokugo 教育勅語 vom Herbst 1890 wurde erstmals in einem offiziellen Dokument eine Verbindung zwischen kokutai, Loyalität und kindlicher Pietät hergestellt.239 Der Erlass schuf eine Kausalität zwischen japanischen Werten und nationalem Stolz und erklärte den Kaiser zur Quelle der Moral.240 Das Edikt diente der Festigung des kokutai: Singularität wurde dabei durch die Betonung der japanischen Tradition evoziert. In the process of definition and diffusion, kokutai, the unbroken imperial tradition, was increasingly invoked as the symbolic embodiment of the nation, and the emperor acquired ever more elaborated roles as the Confucian fount of moral virtue and the Shintō manifestation of a divine ancestral line.241
Maruyama Masao 丸山眞男 (1914–1996) formulierte nach dem Krieg, dass der japanische Staat im Erziehungsedikt das Recht monopolisiert habe, Werte zu setzen, wodurch politische Loyalität mit religiöser Tenno-Verehrung verknüpft wurde.242 Der Doppelbezug auf die kaiserlichen Vorfahren einerseits und die Verfassung beziehungsweise die Gesetze andererseits machte den Kaiser zur Schnittstelle zwischen Staat und Religion. Darüber hinaus begründete der Erziehungserlass offiziell die Familienstaatsideologie, welche die Gesellschaft unter der Autorität des Monarchen subsumierte.243 Der Familienstaat – welcher nicht im übertragenen Sinn, sondern tatsächlich als ethnisch-genetische Großfamilie verstanden wurde, deren Glieder durch die göttliche Herkunft verbunden waren – war ein Postulat der Homogenität des Volkes unter dem Kaiser.244 Dadurch war der Tenno, welchem sowohl eine universelle als auch indigene Position zukam, zum Garant der Gesellschaftsordnung geworden und die formative Phase des kokutai-Denkens beendet. Doak 2007: 85. Als Ziel der Bildung wurde in konfuzianischer Rhetorik festgehalten, dass der Einzelne dem Wohl der Gesellschaft und dem des Staates dienen sollte (Vgl. Gordon 2009: 103f.). 240 Vgl. Gluck 1985: 113ff. Eine Übersetzung findet sich bei De Bary 2005: 779ff. Großen Einfluss auf die Rezeption des Edikts hatte die Interpretation von Inoue Tetsujirō 井上哲次郎 (1856–1944), welcher davon ausging, dass Japan sich gegen den Rest der Welt behaupten müsse. Dies könne laut Inoue gelingen, wenn sich alle Japaner unter den genannten Werten vereinten (vgl. De Bary 2005: 781f.; Iida 2002: 18). 241 Gluck 1985: 102. 242 Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 119; Maruyama 2007a [1946]; Maruyama 1995 [1946]. 243 Vgl. Antoni 1991: 78, 80–85. Der Kaiser stellte dabei die Verbindung zwischen den Institutionen (Struktur) und deren leitenden Prinzipien (Super-Struktur) dar (vgl. Iida 2002: 18f.). 244 Vgl. Antoni 1992 [1991]: 118. 238 239
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Der erste wichtige Punkt der klassischen Phase des kokutai ist die erstmalige offizielle juristische Verwendung des Terminus im „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ aus dem Jahr 1925, in welchem festgehalten war, dass Verschwörungen und Rebellionen gegen das kokutai strafbar seien. Die unklare Definition machte den Begriff zu einem willkürlichen Instrument der Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender. Erst 1929 wurde schließlich vom Obersten Reichsgericht festgehalten, dass das „[…] kokutai die Staatsform ist, in welcher ‚der aus einer seit jeher ununterbrochenen Abstammungslinie stammende Tennō gnädigst selbst die Oberaufsicht über die Staatsgewalt ausübt’“.245 Indem das Gericht sich auf den ersten Artikel der Meiji-Verfassung bezog, wurde im Nachhinein offiziell festgelegt, dass der Kaiser dem kokutai vorstand; tatsächlich bestätigte dies lediglich, was die Menschen angenommen hatten.246 Ein Unterhausmitglied, der emeritierte Rechtswissenschaftler Minobe Tatsukichi 美濃部 達吉 (1873–1948), löste 1935 die sogenannte „Kampagne zur Klarstellung des kokutai“ aus, indem er den Kaiser als „Organ“ des Staates bezeichnete. Diese Kampagne zog in den späten 1930er und 1940er Jahren unzählige Abhandlungen nach sich, welche die ‚nationale Essenz‘ Japans zu fassen suchten, indem sie sich auf das Altertum beriefen und versuchten, das Wesen Japans aus seinen Mythen zu extrahieren.247 1937, im Jahr des japanischen Angriffs auf China, fand der kokutai-Gedanke in der Schrift Kokutai no hongi 国体の本義 [Grundprinzipien des Staatswesens] seinen Höhepunkt und leitete die „Phase der Hybris“ ein. Das Pamphlet machte die Moderne für das ideologische und soziale Übel des gegenwärtigen Japan verantwortlich und versuchte Alternativen zu westlichen Denkschemata wie dem Individualismus aufzuzeigen, indem erneut die Hinwendung zur Einzigartigkeit des kokutai, den ‚japanischen Traditionen‘ und dem ‚japanischen Geist‘ propagiert wurde.248 So wird in dem Aufsatz etwa bushidō als Charakteristikum der japanischen Moral stark gemacht, welches in der Armee verwirklicht werden müsse.249 Darüber hinaus wurden erneut moralische Grundpfeiler, insbesondere die Tugenden Loyalität und Pietät beschworen, die nun vollkommen auf den Kaiser als Zentrum des kokutai bezogen waren.250 Japans Mission sei es, auf Grundlage der japanischen Traditionen eine Synthese zwischen analytischem, intellektuellem, westlichem Denken und den intuitiven, ästheti245
Zitiert nach Naumann 1987: 186.
246 Zu Überlegungen hinsichtlich der Definition und Position des Kaisers in der Meiji-Verfassung, vgl.
Yoshimitsu 1998; Takeda 1988: 2f.; Ando 2000. Der japanische Ausdruck der Kampagne, deren Taktik von Maruyama darin gesehen wird, mithilfe des Tabus „kokutai“ politische Gegner auszuschalten, lautete: Kokutai meichō undō 国体明徴運動 (vgl. Hasegawa 2008:70ff.; Maruyama 2007 [1946]: 124). Lokowandt beschreibt den Wandel in der Organismustheorie, die zunächst dazu diente, die Stellung des Kaisers als Gehirn oder Kopf des Staates zu definieren, bevor sie obsolet wurde, als die Familienstaatsideologie zu einem festen Bestandteil der Gesellschaftsordnung geworden war (vgl. Lokowandt 1978: 51–55). 248 Vgl. Hosaka 2006. 249 Vgl. Kaiduka 2003: 24ff., 110f. 250 Die Loyalität dem Kaiser gegenüber, die keine Selbstaufopferung, aber das Beiseiteschieben des eigenen Selbst zu Gunsten des Staates einschließt, könne, so der Text, vom individualistischen Standpunkt des Westens nicht verstanden werden (vgl. Naumann 1987:178ff.). 247
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schen, östlichen Qualitäten zu vollziehen. Fast fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung des Erziehungserlasses diente das Kokutai no hongi also zur Stärkung der Idee eines homogenen Volkes mit einer gemeinsamen Kultur, welches sich um den Kaiser im Zentrum gruppieren sollte. In dieser Idee, gepaart mit dem Staats-Shintō, verwirklichte sich nun das langersehnte Ziel der kokugaku: die Manifestation des reinen japanischen Geistes.251 Während der Kriegszeit wurde auch in Japan die Indoktrinierung verstärkt, wofür neben dem Kokutai no hongi auch die 1941 vom Erziehungsministerium herausgegebene Schrift Shinmin no michi [Der Weg der Untertanen] eine wichtige Rolle spielte.252 Die Parolen, die in Propagandaschriften in Bezug auf kokutai und das japanische Vaterland angeführt wurden, lauteten beispielsweise „Die himmlisch-kaiserliche Mission in jeden Winkel der Erde tragen“, tengyō kaikō, oder nach dem Angriff auf Pearl Harbor hakkō ichiu, „Die acht Ecken der Welt unter einem Dach vereinen“.253 Der Kaiser galt nun als offizieller, geistiger Führer des japanischen Volkes, der als lebender Gott verehrt und in dessen Namen der „Großostasiatische Krieg“ ausgetragen wurde, für den die Soldaten zu sterben bereit sein mussten.254 Das Kernstück des kokutai-Fundamentalismus war die Postulierung einer idealisierten, ethnischen Gemeinschaft. Deren moralischen und ästhetischen Werte wurden auf den Kaiser zurückgeführt, wodurch das Bild der Japaner als historisches Volk komplementiert wurde.255 Nach den Atombombenabwürfen und dem Eintritt Russlands in den Krieg blieb Japan im August 1945 nur die bedingungslose Kapitulation und die Unterordnung unter die Besatzungsmacht USA. Die von General MacArthur geleitete demokratische Reorganisation des Landes war allumfassend, wobei die Demokratisierung das zentrale Anliegen aller Reformen darstellte.256 Die bis dato gültige Meiji-Verfassung wurde durch eine neue, Vgl. Naumann 1987: 186. Dass die Menschen die Logik des Papiers auch zu Kriegszeiten annahmen, obgleich die Argumentation des Pamphletes, welches als Abhilfe für die Probleme der Moderne den Krieg propagierte, keine logische Verbindung zwischen den beiden Komponenten herzustellen vermochte, sieht Iida nicht nur in der von Gluck beschriebenen Indoktrinierung begründet, sondern auch in den immensen Veränderungen, denen die Menschen seit Beginn der Meiji-Zeit ausgesetzt waren. Diese machten sich sowohl in der instabilen Struktur der nationalen Hegemonie bemerkbar als auch in der Beschreibung eines Gefühls der „inneren Leere“ und Heimatlosigkeit. Das Kokutai no hongi war nicht nur ein Versuch, eine Verbindung zwischen Staat und nationalem Ethos zu schaffen, sondern sollte auch die soziale und subjektive Leere füllen (vgl. Iida 2002: 21). 252 Vgl. Kaiduka 2003a: 1–92; übersetzte Auszüge daraus finden sich bei Lu 1997: 435–441. Das Kokutai no hongi war nach dem Krieg das einzige Werk, dessen Verbreitung von den amerikanischen Besatzern ausdrücklich untersagt wurde (vgl. Hall 1949, Prefatory Note). 253 Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 113. 254 Vgl. Lu 1997: 438f.; Maruyama 2002 [1965]; Maruyama 2007 [1946]: 130. 255 Vgl. Iida 2002: 39. 256 Man war sich der Notwendigkeit bewusst, mit der Etablierung von neuen Institutionen auch deren politische Werte vermitteln zu müssen und bediente sich dazu der Zensur (vgl. Iida 2002: 69ff.). Die Besatzungszeit wurde von den Menschen zunächst jedoch nicht als eine Periode unter dem Joch der USA wahrgenommen, sondern viele Intellektuelle beschrieben die Ära als eine Zeit, in der sie sich frei und autonom fühlten (vgl. Iritani 1991: 223). Dies war vornehmlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Demokratie eher sozial als politisch definiert wurde, wodurch Demokratie mit Freiheit gleichgesetzt 251
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praktisch von den USA gegebene ersetzt, in welcher der Tenno als „Symbol“ festgeschrieben war. Japan verzichtete in Artikel 9 der Nachkriegsverfassung auf das Recht, Krieg zu führen. Die Kriegsverbrecherprozesse sowie die Umstrukturierungen in der Bürokratie hielten zumindest anfangs die alten Eliten von der Macht fern.257 Darüber hinaus wurde der kaiserliche Erziehungserlass zugunsten einer breiten Allgemeinbildung verworfen, der Staats-Shintō abgeschafft, eine Landreform durchgeführt, die Wirtschaftskonglomerate, zaibatsu 財閥, entflochten und die Kolonien in die Souveränität entlassen beziehungsweise zurückgegeben.258 Im Zuge der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung musste eine Alternative für die bisherige Position des Kaisers gefunden werden. Anstatt die Verantwortlichkeit des Tenno für den Krieg zu thematisieren, entschieden sich die USA, Hirohito nicht abdanken zu lassen, sondern sowohl das Amt als auch den Amtsträger zu erhalten. Der erste Schritt in Richtung einer Neudefinition des Kaisers war die „Menschlichkeitserklärung“, ningen sengen 人間宣言, des Tenno am Neujahrstag 1946. In dieser Radioansprache gab der Monarch bekannt, die Annahme, er sei ein Gott, sei ebenso falsch wie der Glaube, dass die Japaner anderen Völkern überlegen seien.259 Die Tatsache, dass der Tenno als „Symbol Japans […] und Symbol der Einheit des japanischen Volkes“260 festgesetzt wurde, wird gemeinhin als entscheidender Faktor für die weiteren Entwicklungen des Landes in der Nachkriegszeit gesehen.261 werden konnte (vgl. Gluck 1988: 69). Neben der inneren Leere, die viele Menschen empfanden, hegte man große Erwartungen und Hoffnungen. Das kulturelle und intellektuelle Leben blühte auf, viele Zeitschriften entstanden. Die Linke sah in den Nachkriegsreformen die Möglichkeit, die in der MeijiZeit begonnene Modernisierung zu vollenden (vgl. Iida 2002: 72–87), zumal die Tendenz aufkam, die Ursache für die Entwicklungen, die letztlich zum Krieg geführt hatten, in der fehlenden Moderne Japans zu suchen (vgl. Gluck 1993: 67). Den Kritikern der Verwestlichung, die aufmerksam machten auf die von der Moderne verursachten Schmerzen (vgl. Koschmann 1991 [1988]: 182f.), wurde der Wunsch nach einer neuen besseren Moderne entgegengehalten (vgl. Gluck 1996: 69). 257 Von den 25 vor Gericht gebrachten Kriegsverbrechern wurden sieben gehenkt, die restlichen wurden in Zeiten des red purge rehabilitiert (vgl. Tagsold 2002: 59). Einer der freigelassenen Kriegsverbrecher der Kategorie A war Kishi Nobosuke, der von 1957–1960 das Amt des japanischen Ministerpräsidenten bekleidete. 258 Vgl. Hartmann 1996: 210–221. 259 Vgl. Ishikawa 2004: 21; Kawanishi 2010: 44–56. Nakamura stellt den Erarbeitungsprozess der Proklamation dar und erörtert die Beteiligung des Kaisers. Der Tenno bestand interessanterweise darauf, den alleinigen Fokus nicht auf seine veränderte Stellung zu legen, sondern eine Verbindung zur Eidescharta der Meiji-Zeit herzustellen und somit zu betonen, dass die neue Demokratie kein vom Westen übernommener Wert sei, sondern die Vollendung der durch den Meiji-Kaiser angeregten Demokratisierung (vgl. Nakamura 1992: 11f., 109–112). 260 Der erste Artikel der japanischen Verfassung lautet: „天皇は、日本国の象徴であり日本国民統合の 象徴であって、この地位は、主権の存する日本国民の総意に基く。“ (Nagai 1968: 252). 261 Da die Grundstruktur der Staatsform beibehalten wurde, konnten sich die Menschen auch das Gefühl für die politische und soziale Ordnung bewahren (vgl. Tagsold 2002: 68). Die Kriegsschuld wurde vornehmlich auf das Militär abgewälzt: „As a nation, Japan survived its devastating defeat in 1945 by reinventing itself as a peaceful nation that attained economic prosperity in the following decades.“ (Igarashi 2000: 11).
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Wie jedoch mit der neuen Position des Tenno umgegangen werden sollte, war nicht nur unter Rechtswissenschaftlern und Besatzern ein viel diskutiertes Thema der späten 1940er Jahre.262 Erneut galt es, ein Bild des Tenno zu entwerfen und der Bevölkerung nahezubringen. Dazu sollte dem Kaiser abermals, wie in der Meiji-Zeit, ein menschliches Antlitz, passend zu seiner neuen Funktion als Symbol gegeben werden, weswegen der Monarch auf Reisen durch das Land geschickt wurde, um sich in verschiedenen Medien als friedliebender Staatsmann im Anzug zu präsentieren. Ab 1948 jedoch zog er sich auf Geheiß seiner Berater in den Kaiserpalast zurück, um die Erhabenheit seiner Person nicht zu gefährden.263 Obgleich mancher die Position des Tenno in der neuen Verfassung von 1947 als eindeutig definiert verstehen mag,264 waren weder seine Aufgaben zweifelsfrei geklärt, noch in welcher Form er als Symbol der japanischen Einheit dienen sollte. So war beispielsweise nicht festgelegt, ob der Kaiser das Staatsoberhaupt war, oder ob ihm, wie dies noch im Staats-Shintō definiert war, als oberstem Shintōpriester eine religiöse Funktion zukam.265 Der Status des Kaisers als „Symbol der Einheit des japanischen Volkes“266 führte dazu, dass die Identität Japans nach dem Krieg erneut nur unter Berücksichtigung des Kaisers definiert werde konnte, zumal der Tenno den Krieg beendet hatte, um das kokutai zu retten.267 Die über Jahre hinweg etablierte tennōsei-Ideologie ließ sich nicht durch das Kriegsende vergessen machen, und so hatte jegliche Diskussion um die japanische Nation mit den Begrifflichkeiten der Kriegsideologie zu kämpfen.
Vgl. etwa Takeda 1988; Takeda 1989; Watanabe 1991; Suzuki 2000. Direkt nach dem Krieg gab es überraschenderweise etliche Liberale, darunter Tsuda Sōkichi, die während des Krieges kokutai-Gegner gewesen waren, nun aber die Monarchie verteidigten, da sie diese für vereinbar mit Demokratie und parlamentarischer Politik hielten (vgl. Doak 2007: 115–120; Iida 2002: 86). 263 Vgl. Kawanishi 2010: 51–56; zur Medienpräsenz des Tenno ebd. 70–84; Nakamura 1992: 113. 264 Antoni sieht trotz der Diskussion um die Verfassung in der Nachkriegszeit hinsichtlich der Position des Kaisers keinerlei Fragen offen und begründet dies durch folgenden Absatz der Verfassung: „[…] seine Stellung bezieht der Kaiser aus dem Willen des souveränen Volkes, ‚er besitzt keinerlei Befugnisse hinsichtlich der Staatsführung‘ (Artikel 4, Absatz 1).“ (Antoni 1991: 14). 265 Obgleich der Staats-Shintō offiziell nicht mehr existierte, war die religiöse Funktion des Kaisers nicht eindeutig geklärt (vgl. Kawanishi 2010: 190; Tagsold 2002: 76; Doak 2007: 119; Shimazono: 2010). Ōtsu et al. beleuchten den veränderten Umgang mit der Geschichtsschreibung hinsichtlich des Kaisersystems vor und nach 1945 (vgl. Ōtsu 2009 [2001]: 10–18). 266 Dieser erste Artikel der Nachkriegsverfassung ist ein Paradebeispiel für die Übersetzungsproblematiken von kokumin, für dessen Einheit der Kaiser Symbol ist. Die offizielle englische Version des GHQ lautete: „the Unity of the People“. Wird der Artikel hingegen in Sekundärliteratur zitiert, ist die Übersetzung keinesfalls einheitlich. Während Antoni kokumin in diesem Kontext als „Volk“ übersetzt (vgl. Antoni 1991: 23) gibt Tagsold den Terminus als „Bürger“ wieder (vgl. Tagsold 2002: 67). Interessant ist Doaks Übersetzung des ersten Artikels der japanischen Verfassung in die Begriffe, welche er in seinem Werk zu japanischen Nationalismusformen überzeugend herausarbeitet: „The Emperor is a symbol of the Japanese State (nihon koku no shōchō) and a symbol of the unity of the Japanese nation (nihon kokumin tōgō) and this position is founded in the general will of the Japanese nation (nihon kokumin) which is sovereign.“ (Doak 2007: 118). 267 Vgl. Bix 2000: 527, 530. 262
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Neben der völligen Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens wurden durch die „Menschlichkeitserklärung“ schlagartig alle bislang gültigen Werte negiert. Dass der Kaiser im Radio nicht verkündete, er sei kein Gott mehr, sondern die Annahme, er sei ein Gott, als falsch bezeichnete, bedeutete nicht nur, dass eine Verschiebung von einem lebenden Gott zu einem konstitutionellen Monarchen stattfand. Vielmehr verneinte der Kaiser dadurch die Ziele des Krieges auf politischer und ideologischer Ebene und schätzte damit in den Augen vieler Japaner die Opfer dieses Krieges gering. Erschwerend kam hinzu, dass sich Japan nach Ende des zweiten Weltkrieges erneut mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sah wie zu Beginn der Meiji-Zeit; allerdings existierte der Kaiser als einigende Figur nicht mehr. Faktoren, die bereits das erste Zusammentreffen mit dem Westen geprägt hatten, wiederholten sich in ähnlicher Form: Durch die Niederlage und die Besatzung fühlte sich Japan erneut dem Westen unterlegen. Durch die Konzentration auf wirtschaftliche Belange war der Bruch, den das Kriegsende und die damit einhergehenden Veränderungen darstellten, anfangs überbrückbar. Spätestens seit den 1960er Jahren jedoch wurde, vornehmlich unter Intellektuellen und Künstlern, das Gefühl einer ‚geistigen Leere‘ artikuliert, welche nicht zuletzt von einer ausbleibenden Reflexion der Kriegsgeschehnisse herrührte, und die sich nicht dauerhaft durch persönlichen Wohlstand befriedigen ließ.268 Bunka bōeiron erscheint nun genau in diese Zeit der Suche nach neuen Werten, die entscheidend geprägt war von Auseinandersetzungen mit einem relevanten Bezugspunkt. Als solchen etabliert Mishima den Kaiser als kulturelles Konzept, der die Tradition sowie die Kontinuität der Kultur zu verkörpern in der Lage ist. 2.4.2 Zitierte Fremdmeinungen zur Bedeutung des nachkriegszeitlichen Tenno Zu Beginn des Kapitels Der Kaiser als kulturelles Konzept zitiert Mishima zunächst Aussagen von Sasaki Sōichi 佐々木惣一 (1878–1965), Tsuda Sōkichi 津田左右吉 (1873–1961), Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889–1960) und Maruyama Masao 丸山眞男 (1914–1996), den vier wohl bekanntesten Intellektuellen, die sich mit der Funktion und Bedeutung des Kaisers in der Moderne befassten.269 Über die Wiedergabe der akademischen Standpunkte hinaus beruft sich Mishima zudem auf Umfragen, welche die Beliebtheit des Kaisers im Volk herausstellen. Mishima resümiert zunächst teilweise nur bruchstückhaft wiedergegebene Positionen zum Wesen des kokutai, die alle belegen sollen, dass der Kaiser in der Kultur verankert sei und ungeachtet der Staatsform die Einheit der Japaner garantiere. Mishima führt Sasaki Sōichis Meinung an, dass das kokutai der Meiji-Verfassung sich in Richtung des symbolischen Kaisers gewandelt habe. Daran habe Watsuji Tetsurō die notwendige strikte Trennung in eine politische und eine geistige Komponente des kokutai 268
Vgl. Igarashi 2000: 12; Iida 2002: 84f.; Lincicome 2009: xxii.
269 Die hier besprochenen, das erste Drittel des letzten Kapitels umfassenden Zitate finden sich auf den
Seiten 40–44.
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kritisiert. Watsuji selbst behauptete im Zuge der Diskussion um die Nachkriegsverfassung – bemerkenswerterweise, wie Mishima betont – dass das kokutai als politische Form vergänglich, die geistige Haltung der Japaner jedoch unverändert sei. Mishima begrüßt, dass Watsuji den Tenno als vom Staat losgelöstes Oberhaupt einer kulturellen Gemeinschaft verstehe; so könne die Kluft zwischen Demokratie und Monarchie überbrückt werden. Ein langes Zitat aus Watsujis Text Das Symbol der Einheit der Nation, ein Titel, der sich auf den ersten Artikel der bereits im November 1946 bekannt gegebenen neuen Verfassung bezieht, akzentuiert Watsujis Vorstellung des Kaisers als Einheit der japanischen Volkes, kokumin:270 Das Volk sei seit jeher dem Tenno, nicht dem Staat verbunden.271 Aufgrund dessen wohne dem Kaiser die Möglichkeit einer Revolution gegen den Staat inne, so Mishimas Folgerung, die der Leser als Bestätigung von Mishimas eigener Kaiservision erkennen muss. Unter Rückgriff auf die EdoZeit argumentiert Watsuji, dass die Einheit zwischen Monarch und japanischem Volk von der Herrschaftsform unabhängig und damit nicht politisch, sondern ausschließlich kulturell zu verstehen sei.272 Aufgrund seiner Geschichte, seiner Sitten, seiner Sprache und Kultur bilde das Volk eine „kulturelle Gemeinschaft“. Mishima interpretiert, Watsuji spräche dem gegenwärtigen Tenno eine größere Souveränität zu als den Kaisern der Muromachi- oder Edo-Zeit, wenn er davon ausgeht, dass der Monarch den Willen des gesamten japanischen Volkes repräsentiere. Vermutlich spielt er darauf an, dass ein Kaiser, der den Willen des Volkes bündelt, eher Souverän sein kann, als dies in Zeiten möglich war, als dieser ein vergessenes Dasein am Kaiserhof fristete.273 Mithilfe eines weiteren Zitates aus dem Jahr 1948 kritisiert Mishima Watsujis nachkriegszeitliche Ansicht, das kokutai habe sich innerhalb der letzten zwölf Jahre geändert und der Schutz des kokutai habe nichts mit der Aufrechterhaltung der Volkssouveränität Vgl. BB: 41. Watsuji verweist hier auf den ersten Artikel der Nachkriegsverfassung und nimmt darüber hinaus, wenn er von nihon no piipuru 日本のピ-プル spricht, auf die englische Fassung Bezug. 271 Watsujis Formulierung, dass Japan „politisch in unzählige Länder geteilt“ gewesen sei, verweist auf das japanische Feudalsystem und die einzelnen Daimyate. Unabhängig von den verschiedenen politischen Systemen im Laufe der Geschichte und trotz der über 200 existierenden han, kann in Japan – anders als in den meisten europäischen Staaten – von einem Gemeinschaftsgefühl gesprochen werden, das sich zumindest seit der Edo-Zeit auf die Heian-zeitliche Kaiserkultur beruft (vgl. Sakai 1997: 106). 272 Im folgenden Zitat erörtert Watsuji die Verbindung zwischen Kaiser und Volk zunächst als eine geschichtliche, immerwährende: Das japanische Volk sei ganzheitlich, eben weil es unter dem Tenno als lebendigem Repräsentanten dieser Ganzheitlichkeit vereint sei (vgl. BB: 42). Indem Watsuji diese Ganzheitlichkeit als nicht objektiv messbaren Wert bezeichnet und den Kaiser als ein Symbol beschreibt, welches auf emotionalen Bindungen beruhe, macht er eine Hinterfragung dieser Konzeption unmöglich. Denn eine emotionale, allein von den Mitgliedern einer Gruppe fühlbare Verbindung ist eben nicht theoretisierbar (rironka suru 理論化する), wie Mishima bei der Einleitung des Zitats behauptet, sondern beruht allein auf einer gruppenspezifisch gebundenen, emotionalen Nachvollzieh barkeit. 273 Mishimas Behauptung, für Watsuji repräsentiere der Kaiser den Willen des ganzen Volkes, kann den Zitaten nicht entnommen werden, sondern muss aus der Bezugnahme Watsujis auf die Nachkriegsverfassung geschlossen werden, in deren erstem Artikel es heißt: „The Emperor shall be the symbol of the State and of the Unity of the People, deriving his position from the sovereign will of the People, and from no other source.“ (Nakamura 2003: 306). 270
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zu tun, als „umgekehrte Logik“, die heute aber gemeinhin anerkannt sei.274 Tatsächlich sind die beiden Komponenten voneinander abhängig, wenn der Kaiser als Garant des kokutai gedacht wird und gleichzeitig das Symbol des Volkswillens ist. Bedenkt man jedoch, dass Watsuji eine Unterscheidung in ein politisch wandelbares kokutai und ein geistig stabiles vornimmt, kann das politische kokutai tatsächlich als unwesentlich für die Volkssouveränität angesehen werden, deren geistige Quelle der Tenno ist. Mishima verurteilt Watsuji scharf: Er bezichtigt ihn der Polemik, wirft ihm „umgekehrte Logik“ und eine „hartnäckige Haltung“ vor und stellt in Frage, ob sich Watsuji der Konsequenzen seiner Argumentation bewusst gewesen ist. Den „polemischen“ Aussagen Watsujis entgegen stellt Mishima zwei Zitate von Tsuda Sōkichi, welche die kulturelle Bedeutung des Kaisers hervorheben: Darin beschreibt Tsuda das Kaiserhaus, dessen Mitglieder sich seit jeher friedlich den Künsten widmeten, als Kern der Kultur.275 Als sich das Zentrum der Kultur in Richtung der Krieger und Bürger verschoben habe, sei der Kaiser als Überlieferer der alten Kultur verehrt worden. Die Kaiser hätten nie militärische Talente gehabt und seien deswegen nicht in komplizierte Staatsangelegenheiten involviert gewesen, dafür gäbe es zahlreiche Berichte, die von den Fertigkeiten der Monarchen auf den Gebieten der Literatur oder der Künste zeugten. Die diesem Zitat beiseite gestellte, ästhetisierte Definition, Kultur sei die Art, zu leben und den Geist zu verschönern, bekräftigt Mishimas Kulturbegriff, für welchen der Einschluss von Handlung und Leben eine zentrale Rolle spielt. Diese unkommentierte Definitionsübernahme beendet Mishimas Exkurs zu Tsuda, der faktisch nur aus zwei Zitaten sowie der Aussage besteht, Tsuda habe im Gegensatz zu Watsuji einen „gesunden Menschenverstand“. Diese Gegenüberstellung verdeutlicht Mishimas Position: Offensichtlich bemängelt er gerade die Politisierung des Kaisers bei Watsuji, denn wie Tsuda befürwortet er einen kulturellen Tenno. Im folgenden Absatz greift Mishima auf verschiedene Umfragen zum Kaisersystem zurück und setzt der theoretischen Beschäftigung mit dem Kaisersystem die soziale Wirklichkeit in Form der öffentlichen Meinung entgegen. Einem Zeitungsbericht aus dem Jahr 1968 zufolge seien nicht nur die Wähler der Demokratischen Partei (Minshūtō 民主党) und der Demokratisch Sozialistischen Partei (Minshatō 民社党) mehrheitlich Befürworter des Kaisersystems, sondern sogar unter den Anhängern der KPJ (Kyōsantō 共産党), welche nach dem Krieg als einzige Partei für die Abschaffung des Kaisersystems plädiert hatte, befürworteten 12 % das Kaiserhaus, während 39 % keine Meinung hätten. Interessant ist, dass die Meinung konservativer Wähler zum Kaisersystem offenkundig nicht erfasst wurde, ganz so, als befürworteten diese den Tenno prinzipiell.276 Dem folgt ein Verweis auf eine vom Ministerpräsidenten im selben Jahr in Auftrag gegebene Studie, laut Vgl. BB: 42. Vgl. BB: 43. 276 Das intendiert auch der einleitende Satz, in dem es heißt, die Spaltung der öffentlichen Meinung lasse annehmen, dass es zwei Staaten innerhalb Japans gäbe: einen, der dem Kaiser wohlgesonnen sei, und einen, der dem System entgegenstehe. Die Aussage bezieht sich auf die politische Wirklichkeit des sogenannten 55er Systems, in welcher die konservative Jinmintō über Jahrzehnte regierte und die sozialistischen Parteien die Opposition bildeten. 274 275
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welcher 73 % der Befragten einer nicht spezifizierten politischen Couleur, den Kaiser als Symbol für gut befinden. Obwohl Mishima keine sinnvolle Schnittstelle zu den vorherigen Ausführungen schafft, da im Dunkeln bleibt, ob der Kaiser politisch oder kulturell verstanden wird, belegen die Zahlen, dass der Tenno für die meisten Japaner unabhängig von ihrer politischen Überzeugung eine Rolle spielt. Im nächsten Schritt, welcher die Auseinandersetzung mit den Fremdmeinungen abschließt, stellt Mishima diesen Meinungsumfragen einen Auszug aus Maruyama Masaos Schrift Logik und Psyche des Ultranationalismus (1946) zur Seite. Der Politologe befasst sich darin ebenfalls mit dem Verhältnis von Volk und Kaiser sowie mit den Faktoren, welche die Begeisterung der Massen für Vaterland und kokutai möglich machten. Mishima zitiert aus diesem wohl bekanntesten Maruyama-Text das Bild des Kaisergeschlechts als Längsachse, die das Zentrum konzentrischer Kreise bilde. Die Kreise symbolisierten das Volk, welches dem Tenno aus unterschiedlichen Entfernungen beistehe. Die Unendlichkeit der Längsachse symbolisiere die Ewigkeit des Kaiserhauses, welchem ohne Unterlass Werte entsprängen.277 Dem zweiten Maruyama-Verweis zufolge seien die Strukturen des Kaisersystems dafür verantwortlich, dass Privates nicht als solches anerkannt würde, weswegen – die Schlussfolgerung bleibt ohne Kontext kryptisch – private Dinge als schlecht erachtet würden. Mishima hält dem entgegen, dass diese Entwicklung des tennōsei auf das „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ aus dem Jahr 1925 zurückgehe und keine grundlegende Eigenschaft des Systems sei.278 Durch dieses Gesetz sei die „Selbstlosigkeit“ des tennōsei unbemerkt vom Volk aufgegeben worden, weil das kokutai darin zu einem Synonym des kapitalistischen Privateigentum degradiert worden sei. Mishimas Logik zufolge verliert das zu wirtschaftlichen Zwecken missbrauchte Kaisersystem seinen Selbstzweck und die Einschränkung der Redefreiheit macht ganzheitliche Kultur unmöglich. Tatsächlich verfolgte die Gleichsetzung von kokutai und Privateigentum im ersten Artikel des Gesetzes ein völlig anderes Ziel: Es schuf die legale Grundlage, Feinde des kokutai politisch ebenso auszuschalten wie all diejenigen, die das Konzept von Privateigentum ablehnen: Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten. Ungeachtet dessen, dass Mishima die Beschränkung der Redefreiheit verurteilt, stellt er die Auswirkungen des Gesetzes einseitig dar.
Vgl. BB: 44; Maruyama 2007 [1946]; Maruyama 1946. Mishimas Kommentar, der Abschnitt lese sich, als sei Maruyama erfüllt von Ressentiments gegen das Kaisersystem, ist anhand der Textstelle nicht nachvollziehbar, sondern bezieht sich auf die Person Maruyama sowie auf die Entstehungszeit des Textes, in welcher die japanischen Strukturen tatsächlich durch die „Verneinung des Geistes“, nämlich die „Menschwerdung“ des Kaisers, zerstört wurden. 278 Interessanterweise markiert Mishima hier den Bruch erstmals nicht in Zusammenhang mit der USamerikanischen Besatzung Japans, sondern führt diesen zurück auf die japanische Rechtsgrundlage für die Verfolgung und Unterdrückung zunächst vornehmlich linker Intellektueller, später der gesamten Opposition. 277
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2.4.3 Mishimas Kaiser-Konzeption Den zitierten Fremdmeinungen entgegen stellt Mishima seine Kaiser-Konzeption, in der all die bisher dargelegten Argumente und Aspekte: Ästhetik, Ethik, Revolution, Selbstaufgabe, Volk und Staat sowie die Kontinuität kulminieren. Mishima strebt eine Rehabilitation des kulturellen Tenno an, der als intrinsischer Wert in jeglicher Erscheinungsform von Kultur enthalten sei und vereine, was in der Nachkriegszeit getrennt wurde: Chrysantheme und Schwert, Subjekt und Objekt, Zuschauer und Angeschautes.279 Da der Kaiser nicht allein die unendliche Längsachse, sondern zugleich die Horizontalachse der Kultur verkörpere, auf welcher die räumliche Kontinuität liege, bilde er das Gerüst der Kultur: Alles, was der Kaiser entstehen lässt, wird auf ihn zurückprojiziert, er ist ganzheitlich, subjektiv, reflexiv und damit Inbegriff von Kontinuität.280 Allerdings habe der Kaiser in der Moderne diese kulturelle Gestalt nie zeigen können. Die Unvollkommenheit des Meiji-zeitlichen Kaisersystems belege, dass „[d]er Kaiser als politisches Konzept […] den Kaiser als freieres, umfassenderes, kulturelles Konzept in großem Umfang zum Opfer [brachte].“281 Der kulturelle Herrscher wurde politisiert und an eine nach westlichen Vorbildern modellierte, für Japan unangemessene Verfassung gebunden. Das Beispiel der von Meiji-Beamten im Garten des Kaiserpalastes ergänzten Steinbrücke veranschaulicht den Vorwurf: Der versuchte Brückenschlag zwischen Japan und dem Westen führte dazu, dass die verantwortlichen Beamten die westliche „Steinkultur“ der traditionellen japanischen Kunst aus Holz vorzogen. Die ausgerechnet im Kaiserpalast in Kyōto erbaute Steinbrücke überspannt und überschattet die japanische Tradition mit ihren Errungenschaften und Charakteristika und drückt dem Kaiserhaus durch die vorgenommene Veränderung ihren Stempel auf. Den Prozess der Degenerierung des Kaisersystems beschreibt Mishima als graduellen, mit der Meiji-Restauration einsetzenden Vorgang. Zunächst musste der Kaiser seine kulturelle Seite aufgegeben, in der TaishōZeit habe das Bildungssystem dann die Massengesellschaft als Vorläufer des Kulturalismus hervorgebracht und Kultur sei mit Wohlstand gleichgesetzt worden, bevor in der Nachkriegszeit letztendlich die politische Seite des Kaisers entmachtet wurde. Nach und nach habe das Kaisersystem seine Würde eingebüßt und sei nun ein „WochenmagazinKaisersystem“. Diese Bewertung des Tennosystems ist insofern mit der Realität der 1960er Jahre in Einklang zu bringen, als das Interesse am Kaiserhaus das Fernsehzeitalter in Japan eingeleitet hatte. Im Jahr 1959 heiratete Kronprinz Akihito 明仁 (*1933), der heutige Die Quintessenz von Mishimas Kaiserkonzeption – der Tenno als „Wert an sich“ muss in jeglicher Form von Kultur enthalten sein – ist verklausuliert in der Aussage enthalten, dass aus der „Deduktion des ‚Wert an sich’“ die gesamte japanische Kultur abgeleitet werden könne (BB: 45). Mishima wiederholt hier, was er bereits zu Beginn des Essays ausführt (vgl. BB: 25), nämlich dass diese Deduktion nicht mehr funktioniere, seitdem die an westlichen Vorbildern orientierte Meiji-Verfassung in Kraft getreten und der Kaiser durch die alleinige Betonung seiner politischen Seite zu einem Abstraktum verkommen sei. 280 Vgl. BB: 45f. 281 BB: 47. 279
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Kaiser Japans, die bürgerliche Großindustriellentochter Shōda Michiko 正田美智子 (*1934) und löste damit ein als „Michi-Boom“ bekanntes Phänomen aus: Bereits mit der Bekanntgabe der Heirat begannen die Medien umfassend über die Braut aus dem Volk zu berichten und tasteten sich langsam an die verschiedenen Möglichkeiten und damals noch unausgeloteten Grenzen der Berichterstattung über das Kaiserhaus heran.282 Die Heirat selbst wurde zu einem medial inszenierten, live übertragenen Großereignis, das mit einer massiven Verbreitung von Abbildungen des Paares einherging, deren Absatz allein mit dem von Rockstarpostern vergleichbar war. Diese Entwicklung war im Sinne des Hofes: Aufgrund der Fokusverschiebung auf den unschuldigen, nicht in den Krieg involvierten Kronprinzen Akihito brachte die Hochzeit dem Volk die Kaiserfamilie näher.283 Im Zuge dessen verschwammen die vormals gültigen Kategorien hare und ke, das Heilige und Profane, die bislang die Welt des Kaisers und die der Menschen unterschieden hatte: Anlässlich der Hochzeit wurde das innerste Heiligtum des Palastes im Fernsehen gezeigt.284 Der für seine Theorie zur Massengesellschaft bekannt gewordene Politologe Matsushita Keiichi 松下圭一 (*1929) schrieb 1959 anlässlich des Michi-Booms, dieser unterlaufe das göttliche Image der Kaiserfamilie und sei Ausdruck eines neuen, erwachsen gewordenen Geistes, welcher der Nachkriegsverfassung entspräche.285 Die Vermarktung der Hochzeit demonstriert in besonderem Maße den Wandel, welchen das tennōsei innerhalb von vierzehn Jahren erfahren hatte: Das trivialisierte Kaiserhaus beschränkte sich auf ein Medienspektakel um das Privatleben des Kronprinzen. Obgleich die Eigenschaften des Tenno in der Moderne nicht umgesetzt worden seien, bilde der Hof auch gegenwärtig die Norm für Kultur. So lebe der Kaiser in seiner Funktion als Dichter und Priester noch immer inmitten der Rituale und Zeremonien der heiligen Orte des Kaiserpalastes, dort, wo sich der Spiegel Amaterasus und die Lyrik der Kaiser befinde. Mishima zufolge ist „[d]ie Tradition des Ortes, an dem die Kompilationen am Kaiserhof aufbewahrt werden, […] Beweis für die Existenz der kulturellen Gemeinschaft seit dem Man’yōshū“286. Unabhängig von seiner eigenen dichterischen Fähigkeit bündle der Tenno die „Volksgedichte“ – gemeint sind Verse, die in den Nijūichidaishū 二十一代集, den 21 auf Geheiß des Kaisers verfassten Anthologien, 勅撰集 chokusenshū, enthalten sind – mithilfe des miyabi. Der meist in hiragana wiedergegebene Begriff miyabi 雅 bedeutet „Eleganz“ oder „Geschmack“ und ruft immer ein Heian-zeitliches, im Kaiserhof verwurzeltes Ästhetikideal Vgl. Kawanishi 2010: 180f. Vgl. Fujitani 1996: 241; Kawanishi 2010: 169–189. 284 Vgl. Tagsold 2002: 71. 285 Während der Großteil des Volkes von der neuen Nähe des Kaisers begeistert war, gab es auch kritische Stimmen gegen die Verbindung des Kronprinzen mit einer Bürgerlichen, die erstmals nicht innerhalb des (vormaligen) Adels vollzogen wurde (vgl. De Bary 2005: 1092f.). Die Frage, ob der Kaiser eine Braut heiraten dürfe, die er auf dem Tennisplatz kennengelernt habe und ob es gut sei, dass normales Blut sich mit dem reinen Blut des Kaiserhofes mische, wurde von den Medien ausführlich diskutiert (vgl. Kawanishi 2010: 181ff.). 286 BB: 48. 282 283
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auf.287 Im Vordergrund stehe dabei, dass diese Gedichte durch ihre Aufnahme in die Anthologien am miyabi teilhaben und sich, so die Metapher, vom Volk als Fuß des Berges zu dessen Spitze, dem Kaiser, erstreckten; ihre Originalität hingegen sei zweitrangig. Das Volk betrachte den Kaiser nicht nur, sondern dieser blicke im Gegenzug zurück: Das sei das Grundprinzip der reflexiven, kontinuierlichen japanischen Kultur, bei der eine Verbindung zwischen Subjekt und Objekt, Schauendem und Angeschautem besteht.288 Mithilfe des Verweises auf den Ise-Schrein sowie die Erntedank-Riten daijōsai 大嘗祭 und niinamesai 新嘗祭 demonstriert Mishima, dass der amtierende Kaiser gleichzeitig immer auch auf seine göttlichen Ahnen verweise.289 Mishima thematisiert hier einen heiklen Punkt des Nachkriegskaisersystems: Der zum Symbol gewordene Shōwa-Kaiser vollzog auch unter der säkularisierten Verfassung weiterhin Zeremonien zu Ehren der Sonnengöttin. Zwar mochte es die Ansicht geben, dass sich der Staats-Shintō in Nebel aufgelöst habe290 und tatsächlich gewährte die Nachkriegsverfassung gemäß Artikel 20 Religionsfreiheit, doch veranschaulicht das Beispiel die Bedeutung des Shintō in der Nachkriegszeit.291 Kulturelle Ganzheitlichkeit ist Mishima zufolge idealiter in der dreidimensionalen Struktur von Freiheit, Verantwortung und miyabi verankert.292 Die richtige Balance der Gabun 雅文 bedeutet „eleganter/klassischer (Heian-zeitlicher) Stil“, gagen 雅言 „schöne/künstlerische/ klassische Sprache“ und gashu 雅趣 „feiner, ästhetischer Geschmack“. Besonders der Begriff für „altjapanische Hofmusik“, gagaku 雅楽 (vgl. Nihon daijiten kankō-kai 2001 [1972], Bd. 3) spiegelt die Verbindung zum Hof. In der Moderne wurde die Heian-Zeit stilisiert als Periode der Vervollkommnung der japanischen Schönheit und höfischen Eleganz in Form des miyabi (vgl. Marra 2010: 4). Im Zuge des entstehenden Kaiserkults in den 1930er Jahren erst wurde miyabi Teil der Alltagssprache (Mostow zitiert nach Lillehoj 2004: 17), wobei die Bedeutung des Terminus selten definiert, sondern synonym mit Vervollkommnung einer spezifisch japanischen, höfischen Eleganz eingesetzt wird (vgl. Akiyama 1984: 22f.). Tatsächlich sei es weniger der Begriff als solcher, der sich in den Heian-zeitlichen Schriften nachweisen ließe, als viel eher dessen „Struktur und Mechanismus“, die vervollkommnete höfische Eleganz (vgl. Akiyama 1984: 5): Das Genji-Monogatari sei Paradebeispiel für die Kraft des sowohl im Politischen als auch im Kulturellen verankerten miyabi (vgl. Akiyama 1984: 26ff.) 288 Vgl. BB: 48f., Zitat: 48. Interessant ist, und auch dies erinnert an das darshan-Ritual, dass bei der ideologischen Erschaffung des Gottkaisers in der Meiji-Zeit das wechselseitige „sehen“ des Kaisers und „gesehen werden“ vom Kaiser, welches auch Mishima mehrfach herausstellt, eine wichtige Rolle spielte, um die Menschen an den Kaiser zu binden (Fujitani 1996: 84, 104). 289 Vgl. BB: 48. Daijōsai 大嘗祭 bezeichnet die erste Erntezeremonie nach der Thronbesteigung eines Kaisers. Bei den folgenden niinamesai 新嘗祭 genannten, öffentlich durchgeführten Ritualen, welche in der Meiji-Zeit die Bindung des Volkes an den Kaiser stärken sollten, isst der Kaiser vom ersten Reis, dankt den Göttern für die Gaben und bietet Amaterasu die Speise dar. Der gemeinsame Verzehr demonstriert die direkte Verbindung zwischen dem gegenwärtigen Kaiser und den Göttern (vgl. Huffman 1998: 74f; Iwai 1998: 109–113). Zur Verbindung zwischen dem Kaiser und den Göttern und der Frage, ob der Tenno bei der Zeremonie selbst zum Gott wird, vgl. Breen 2010: 168–198. 290 Yanagita Kunio 柳田國男 (1875–1962) zitiert nach Iwai 1998: 151. 291 Noch prekärer ist die Tatsache, dass auch Akihito, der 1989/90 bereits als Symbol inthronisierte Sohn Hirohitos und heutiger Kaiser Japans, beide Zeremonien abhielt (vgl. Iwai 1998: 151ff.; Breen 2010: 168–198). 292 Die Anführung von Vernunft und Freiheit lässt in diesem Zusammenhang an Jean-Jacques Rousseaus Menschenbild und seine Überlegungen zur Politik denken. Mishimas Andeutungen sind allerdings zu knapp, als dass sich dieser Gedanke plausibilisieren ließe.
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Kultur zwischen der Verantwortlichkeit gegenüber der Form und der Freiheit, diese mit neuem Inhalt zu füllen, ist alleine nicht ausreichend, sondern Kultur muss immer miyabi enthalten und somit auf den Kaiser Bezug nehmen. Die waka seien das einzige Beispiel für die Inklusion von Chrysantheme und Schwert: Aus ihnen beziehungsweise ihrer assoziativer Wirkung hätten sich nicht allein die Monogatari entwickelt, sondern alle japanischen Genres.293 Im Verlust der repräsentativen ästhetischen Konzepte wie yūgen, wabi, sabi und hana spiegle sich der Schwund des miyabi in der Moderne: die japanische Kultur sei einer wurzellosen Wasserlinse gleich. Mishima setzt Kaiser und miyabi gleich: Miyabi sei die kulturelle Blüte, nach deren Verwirklichung der Hof immerfort gestrebt habe. Als Vollendung des Klassizismus – Mishimas Kultur-Definition entsprechend wird der Kaiser nicht als ursprüngliche Klassik bezeichnet, sondern als Klassizismus, als rückbezogene Nachahmung der Klassik, wodurch die Irrelevanz einer Unterscheidung zwischen Kopie und Original herausgestellt wird – verkörpere der Kaiser ästhetische Vollkommenheit.294 Miyabi bleibt aber keinesfalls auf die Ästhetik beschränkt, sondern könne notfalls die Gestalt von Terrorismus annehmen, also gewaltsam gegen die politische Ordnung aufbegehren, denn der Tenno stünde nicht zwingend auf Seiten der staatlichen Ordnung, sondern könne auch die Unordnung unterstützen, wenn dies der Bewahrung der Kultur diene.295 Manifestiert habe sich ein solches miyabi beim Zwischenfall am Sakurada-Tor 桜田門. Im Frühjahr 1860 ermordeten Anhänger des Kaisers Kōmei 孝明天皇 (Reg. 1846–1867) dessen politischen Gegner Ii Naosuke 井伊直弼 (1815–1860), der auf Seiten des Shogunats Verhandlungen mit den Westmächten geführt hatte. Der Tod von Ii rief landesweite Übergriffe von TennoAnhängern hervor, die das Ende des Shogunats und die Wiedereinsetzung des Kaisers mitverantworteten.296 In der von westlichen Werten geprägten Shōwa-Zeit sei ein solch „entschlossenes Aufstehen“297 im Namen des Kaisers jedoch unmöglich geworden, was sich an der Reaktion des Tenno auf den Niniroku-Aufstand 二・二六事件 exemplarisch gezeigt habe. Bei diesem Putschversuch im Februar 1936 hatten etwa 1 400 Soldaten unter der Führung von Kōdōha 皇道派-Offizieren versucht, durch Besetzung strategisch wichtiger Punkte in Tokyo eine „Shōwa-Restauration“ zu erzwingen, welche dem Kaiser seine Position als direkter Herrscher zurückgeben sollte. Der Aufstand wurde allerdings nach drei Tagen auf Befehl des Kaisers, der den Aufstand zu seinen Gunsten ablehnte, niedergeschlagen.298 Vgl. BB: 48. Mishima ist der Überzeugung, dass die Massenkultur sich ebenfalls auf die Tradition beziehe und die reflexive Verbindung zwischen Kaiser und Untertanen spiegle, auch wenn die Linken diese Tatsache nicht wahrhaben wollten, weil sie eine Beziehung zwischen Volk und Kaiser negierten. 295 Vgl. BB: 46. 296 Vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 3: 604f. 297 Der hier verwendete Begriff lautet kekki 決起. BB: 47. 298 Vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 4: 548f. Die Anhänger des „Kaiserlichen Weges“, kōdōha 皇道派, verfolgten innenpolitisch eine Verschränkung von Militär, Bürokratie und Monopolkapital unter direkter kaiserlicher Herrschaft sowie die Errichtung eines totalen Kriegssystems, außenpolitisch befürworteten sie eine Expansionspolitik gegen die Sowjetunion (vgl. Hartmann 1996: 183ff.). 293 294
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Mishimas Urteil zufolge habe der Tenno das miyabi in den Handlungen der Aufständischen nicht anerkannt, beziehungsweise es sei ihm aufgrund seiner politischen Form unmöglich geworden, dieses anzunehmen. Die Beispiele dokumentieren – wobei die Ausblendung der geschichtlichen Ereignisse der dazwischenliegenden 76 Jahre eine verzerrte Kausalkette erzeugt – den angeblichen Verfall des Kaiserhauses. Darüber hinaus demonstrieren die Exempel die Möglichkeit, Revolutionen zugunsten einer Stärkung der Kaiserposition einzusetzen. Erneut wird die bushidō-Thematik evoziert und die Selbstaufgabe für Kaiser und Vaterland glorifiziert. Im Gegenzug garantiere der Tenno den Erhalt der wahren Kultur sowie der richtigen Staatsform, wofür er sich aller notwendigen Mittel bedienen kann. Mishima erachtet den Kaiser jedoch nicht nur als ästhetische Vervollkommnung, sondern gleich einem Vulkan bringe er neben den ästhetischen auch moralische Eruptionen hervor. Ersichtlich wird dies an der zweiten Zuschreibung, mit welcher Mishima den Kaiser belegt: kachi jitai 価値自体. Der Begriff, den er mit der katakana-Umschrift veruto an jihhi ヴエルト・アン・ジッヒ versieht, verweist somit auf den deutschen Begriff des „an sich“ und damit auf Kants „Ding an sich“: „an sich“ bildet den Gegensatz zu dem, was ein Ding mit Rücksicht auf ein anderes ist. „Ding an sich“ nennt daher Kant (1724–1804), indem er das andere als das menschliche Bewußtsein nimmt, einen von den menschlichen Erkenntnisformen unabhängigen Gegenstand, während er die Dinge, insofern sie durch die menschliche Erkenntnis in Raum und Zeit erfaßt werden, Erscheinungen nennt. Nach Kant erkennen wir die Dinge nicht, wie sie an sich sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen.299
Analog zum „Ding an sich“, mit welchem seit Kants Kritik der reinen Vernunft aus dem Jahr 1781 die von der menschlichen Erkenntnis unabhängige Wirklichkeit bezeichnet wird,300 wäre ein „Wert an sich“ demnach ein Wert, welcher jenseits von Erfahrung besteht und demnach nicht geschichtlich oder gesellschaftlich hervorgebracht sein kann. Indem Mishima den Kaiser mit einem nicht über Verstandeskategorien fassbaren Begriff definiert, versucht er ihn als absoluten Wert zu behaupten, welcher vor oder jenseits von historischen Erfahrungen Geltung hat. Damit enthebt Mishima den Tenno der Geschichte und enthebt ihn seiner politischen Verantwortung. Diese im Text grundsätzlich angelegte Argumentation, die sich im Begriff des „an sich“ exponiert, ist angesichts der jüngsten japanischen Vergangenheit und der Opfer des „Großostasiatischen Krieges“ fragwürdig.301 Die Behauptung, nur eine ästhetisch-moralische Monarchie könne Egoismus beschränken, knüpft Mishima an ein mythologisches Beispiel. Die Sonnengöttin Amaterasu habe Kritik nicht machtpolitisch durch Autorität, sondern in ästhetischer und moralischer Weise Kirchner 19075: 45. Oder anders formuliert: „Seiner zweiten Bedeutung nach wird das D.a.s. als ontologisch unabhängiger Seinsgrund bzw. als ‚Ursache der Erscheinung‘ aufgefasst, die sich zwar unserem erkennenden Zugriff entzieht, deren Existenz jedoch feststeht.“ (Prechtl 2008 [1995]: 116). 300 Vgl. Prechtl 2008 [1995]: 116. 301 Vgl. BB: 40. Wichtig ist hierbei nicht, ob Mishima Kant rezipiert oder richtig verstanden hat, sondern dass er auf die gemeinhin bekannte Bedeutung der Formel des „an sich“ zurückgreift, um seine Argumentation zu untermauern. 299
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geübt.302 Die relevante Passage erzählt von der Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami und deren ungestümen Bruder, dem Windgott Susanoo no mikoto. Susanoo fiel endgültig in Ungnade, als er einem Himmelsfohlen das Fell abzog und es so heftig von sich schleuderte, dass es durch das Dach des Palastes in die Räumlichkeiten schlug, in denen die Gewänder der Götter gewebt wurden. Daraufhin verkroch sich die Sonnengöttin in Gram über die Streiche ihres Bruders in eine Höhle und verdunkelte die Welt. Als sie das Gelächter der Götter hörte, welche sich, vor der Höhle auf ihre Rückkehr wartend, über einen obszönen Tanz von Amenōzume no mikoto amüsierten, wurde Amaterasu neugierig und lugte aus ihrem Versteck. Schnell hielten die anderen Götter Amaterasu einen Spiegel vor und versperrten ihr den Rückweg in die Höhle mit einem großen Stein.303 Susanoo hingegen wurde aus dem Himmel verstoßen und auf die Erde verbannt.304 Mishima führt aus, dass sich in diesem Mythos die ganzheitliche japanische Kultur offenbare, denn er umfasse sowohl die Chrysantheme, das friedfertige Lachen Amenōzumes, als auch die verwüstenden, mit dem Schwert assoziierten Kräfte Susanoos.305 Dass der aufgrund eigenen Verschuldens aus der Götterwelt verbannte Windgott zum Helden werden konnte, ist eine Anspielung auf die Episode, in der Susanoo die achtköpfige Schlange Yamata no orochi 八岐遠呂智 besiegte und in dieser das Schwert fand, das heute eines der japanischen Reichsinsignien darstellt. An dieser Stelle wird die Metapher Schwert tatsächlich zum Symbol für Japan, wodurch Mishima bekräftigt, dass dieses in der ganzheitlichen Kultur Anerkennung und Berechtigung finden müsse.306 Für die Versöhnung zwischen Gott und der Welt bedarf es des Lachens der Kultur, der Chrysantheme ebenso wie des Schwertes. Diese Episode dient Mishima als Grundlage für die Behauptung, dass Amaterasu – respektive das Kaisergeschlecht – immer schon Gegenstand von Revolutionen gewesen sei.307 Er parallelisiert den Aufruhr in den himmlischen Gefilden mit den bereits angeführten historischen Beispielen, der Kemmu-Restauration, dem Sakuradamon-Zwischenfall und dem Aufstand vom Februar 1936; Ereignisse, die alle zum Ziel hatten, dem Kaisergeschlecht seine Macht zurückzugeben. Für den Leser unerwartet knüpft Mishima an diesen Gedanken die Forderung, dass vom kulturellen Tenno auch militärischer Ruhm ausgehen müsse. Dabei betont er, es ginge nicht Vgl. BB: 49. Ob Amaterasu die Vergehen Susanoos ausschließlich mit ästhetischer und moralischer Kritik quittierte und nicht durch die Verweigerung ihres zum Leben notwendigen Sonnenlichtes auch Autorität ausübte, sei dahingestellt. 303 Der Grund, der Amaterasu dazu veranlasste, die Höhle schließlich zu verlassen, variiert mit den unterschiedlichen Versionen der Annalen (vgl. Breen 2010: 131–139, Naumann 1996: 77–81). 304 Vgl. Chamberlain 1932: 64–67; Naumann 1996: 67–86; zur Instrumentalisierung des Mythos und dessen Bedeutung für die Etablierung der Kaiser als himmlischer Herrscher auf Erden, vgl. Breen 2010: 129–167. 305 Vgl. Naumann 1996: 62f. 306 Als Gegenstück fungiert an dieser Stelle die Nennung des Spiegels Yata no kagami 八咫鏡, welcher Amaterasu dazu brachte, ihre Höhle zu verlassen und der seitdem neben dem Schwert Susanoos und den Krummjuwelen zu den drei japanischen Reichsinsignien gehört. 307 Vgl. BB: 49. 302
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um die juristische Definition des Kaisers in der nachkriegszeitlichen Verfassung, sondern darum, den Kaiser in seiner Funktion als taiken 大権, also mit seinen Befugnissen gemäß der Meiji-Verfassung zu rehabilitieren: Der Tenno brauche ein militärisches Ehrengeleit und müsse befugt sein, den Soldaten die Regimentsflagge zu übergeben und ihnen direkt Befehle zu erteilen.308 Unglaubwürdig bleibt folglich Mishimas Versicherung, nicht die politische Form des Kaisers rehabilitieren zu wollen, sondern ausschließlich die kulturelle. Mishima spricht dem Kaiser folglich das Recht zu, in seiner ästhetischen Funktion als miyabi notfalls die Gestalt des Terrorismus anzunehmen, um die Einheit des Landes zu garantieren.309 Diese faschistische Tenno-Konzeption, die Politik und Ästhetik vermischt und dem Monarchen darüber hinaus das Militär unterstellt, ist nicht nur höchst problematisch, sondern in den 1960er Jahren völlig unzeitgemäß. Der Entwurf eines im Notfall aktiv handelnden Souveräns ruft die Schriften Carl Schmitts in Erinnerung. Schmitt definiert den Souverän als denjenigen, der über den Ausnahmezustand entscheidet, präziser: Souverän sei derjenige, der sowohl darüber entscheide, wann ein Ausnahmezustand vorliege, als auch was in einem solchen Falle zu tun sei.310 Stehe die Verfassung auf dem Spiel, so trete der Souverän, der je nach Definition sowohl Repräsentant Gottes, Monarch oder das Volk sein kann, in seiner Reinheit hervor und stelle die Rechtssätze wieder her.311 Dabei nehme der Ausnahmezustand für die Politik dieselbe Stellung ein wie ein Wunder innerhalb der Natur: Er durchbreche die Norm.312 Auch Mishimas vorgeblich rein kultureller Kaiser kann in Krisensituationen zum politisch agierenden Souverän werden, der sich jedes Mittels, gegebenenfalls sogar des Terrorismus bedienen kann, um eine Rückkehr zum Normalzustand zu ermöglichen. Schmitts wie Mishimas Denken war geprägt von einer ablehnenden Haltung gegenüber der Moderne, welche sie für den kulturellen Niedergang, für das Abhandenkommen gültiger Werte und den Verlust eines sinn- und identitätsstiftenden Moments verantwortlich machen. Beide überführen ihre Kulturkritik in Staatstheorie und stellen ein Verhältnis zwischen Politik und Theologie beziehungsweise Religion her, was sich mit Schmitts These deckt, dass alle wichtigen Begriffe der modernen Staatstheorie säkularisierte theologische Begriffe seien.313 Dies lässt sich in der extratextuellen Wirklichkeit Japans an der Figur Vgl. BB: 50. Der von Mishima an dieser Stelle verwendete Begriff taiken 大権 weist explizit auf die Regierungsgewalt des Tenno gemäß der Meiji-Verfassung hin. „Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Kaisers überstiegen die des Parlaments bei weitem, da es u. a. in seiner Kompetenz lag, dieses ‚zu berufen, zu eröffnen, zu schließen und zu vertagen sowie die Auflösung des Abgeordnetenhauses anzuordnen‘ (§ 7). Er galt als ‚heilig und unverletzlich‘ (§ 3), war Oberbefehlshaber über die Land- und Seestreitkräfte (§ 11), erklärte Krieg, schloß Frieden, ratifizierte Verträge (§ 13) und konnte Verordnungen mit Gesetzen erlassen.“ (Hartmann 1996: 64). Verwunderlich ist, dass Mishima nun den Meiji-Kaiser als Ideal aufruft, nachdem er ausführlich dargelegt hat, dass es bereits in der Meiji-Zeit keine Meinungsfreiheit mehr gegeben habe, weil der Kaiser seine kulturelle Komponente zugunsten seiner politischen Kompetenzen geopfert habe. 309 Vgl. BB: 46. 310 Vgl. Schmitt 1991 [1963]: 39f; Schmitt 1922: 9f. 311 Vgl. Schmitt 1922: 10f., 13. 312 Vgl. Schmitt 1922: 37. 313 Vgl. Rissing 2009: 21–24; vgl. Schmitt 1922: 37. 308
Inhaltliche Ebene
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und Funktion des Kaisers nach dem Krieg demonstrieren: Durch die Menschlichkeitserklärung verschwindet der Gottkaiser offiziell, gleichzeitig führt der Tenno als Symbol weiterhin religiöse Rituale aus.314 Mishima rechtfertigt diesen unzeitgemäßen und angesichts der japanischen Kriegsvergangenheit unangemessenen Apell, indem er auf eigene Beobachtungen in südostasiatischen kommunistischen Ländern verweist: Vertreter der kommunistischen Pathet Lao, die unterstützt von Nordvietnam gegen pro-westlich orientierte Royalisten kämpften, verehrten und liebten ihren laotischen König.315 Als weiteres Beispiel für die Koexistenz von Kommunismus und Monarchie dient die Aussage, dass die kommunistisch-patriotische Front in Thailand zur Stärkung ihrer Einheit Loblieder auf ihren Monarchen sänge. Mishima befürchtet ein Übergreifen ähnlicher Entwicklungen auf Japan, welche im Extremfall bedeuten könnten, dass neben dem symbolischen Kaisersystem eine kommunistische Regierung geduldet würde, oder das souveräne Volk auf friedlichem Wege eine kommunistische Staatsform unter dem Kaisersystem wählte. Hier formuliert Mishima erstmals explizit, dass er den Kommunismus als konkrete Bedrohung für Japan erachtet. Dieser gefährde die Redefreiheit und bedrohe Kultur und damit auch den Kaiser.316 Im Kommunismus gebe es nur zwei denkbare Schicksale für den Tenno: ebenso wie die Kultur zugrunde zu gehen oder als Politikum instrumentalisiert, ausgenutzt und fallen gelassen zu werden. Diese nicht nur im Angesicht der jüngsten japanischen Vergangenheit äußerst problematische Forderung nach Umsetzung der „Präventivmaßnahme“, Kultur und Militär aneinander zu binden, ist bereits im Titel des Essays angelegt. Der im Deutschen als „Verteidigung“ wiedergegebene Begriff bōei 防衛 meint explizit die „Verteidigung (gemäß Art. 9 der japanischen Verfassung)“317, also nach dem umstrittenen 9. Artikel, der Japan das Recht abspricht, Krieg zu führen.318 Theoretisch folgt aus der „Paradoxie des Schützens“ tatsächlich, dass ausschließlich ein politisches System die Kultur schützen kann. Mishima entwirft seine Vision einer japanischen Staatsform, die wie jeder autonome Staat ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Die Positionierung am Ende des Essays sowie die feh314 Eine Untersuchung der religiösen Seite des japanischen Nachkriegskaisers findet sich bei Shimazono
2010. Vgl. Stuart-Fox 2001: 232. 316 Vgl. BB: 50. 317 Schmidt 2003: 12. Obwohl der Term selbst in der Verfassung nicht genannt wird, bezieht er sich eindeutig auf die militärische Verteidigung des Landes. 318 Im Wortlaut: 315
第九条 日本国民は、正義と秩序を基調とする国際平和を誠実に希求し、国権の発動たる戦争と、 武力による威嚇又は武力の行使は、国際紛争を解決する手段としては、永久にこれを放棄する。 二 前項の目的を達するため、陸海空軍その他の戦力は、これを保持しない。国の交戦権は、こ れを認めない。Die offizielle englische Übersetzung lautet: „Article 9. Aspiring sincerely to an inter-
national peace based on justice and order, the Japanese people forever renounce war as a sovereign right of the nation and the threat or use of force as means of settling international disputes. (2) To accomplish the aim of the preceding paragraph, land, sea, and air forces, as well as other war potential, will never be maintained. The right of belligerency of the state will not be recognized“.
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lende Ausführung beziehungsweise Kommentierung des Gedankens einer Verbindung von Armee und Kultur gewichtet die Aussage schwer: Die Sätze über das Verhältnis von Kaiser und Armee werden häufig einerseits als Quintessenz von Bunka bōeiron deklariert und dienen andererseits als Beleg für Mishimas revisionistische Ambitionen, seine Angst vor einem Erstarken des Kommunismus und seinen Wunsch, dem Kaiser seine Position als Oberbefehlshaber der Armee zurückzugeben. Daran kann auch der letzte Satz von Bunka bōeiron nichts ändern, in welchem Mishima die zentralen Themen des Essays nochmals zusammenfassend nennt.
III Intertextuelle Verweise
Im Anschluss an die textimmanente Analyse werden im Folgenden explizite wie implizite Intertexte unter Berücksichtigung ihres Kontextes untersucht und deren Funktionsweise im Text analysiert.1 Zu diesen zählen einerseits die Zitate der japanischen TennoTheoretiker, andererseits Verweise auf die literarische Werke und Ästhetikkonzepte. Mishima beschränkt sich diesbezüglich vornehmlich auf hinreichend bekannte Anspielungen, die der Evokation einer angeblichen japanischen Einzigartigkeit sowie der Selbstorientalisierung dienen. Wie in Nihonjinron üblich, ruft meist allein deren Nennung die ‚Tradition‘ oder ein angeblich japanisches Erbe auf, wodurch Kontinuität und Authentizität erzeugt werden. Wichtiger als deren Inhalt ist demzufolge deren Funktion für Mishimas Argumentation. Thematisiert werden darüber hinaus offenkundige gedankliche Übereinstimmung mit den Propagandaschriften.2 Die Analyse der japanischen wie westlichen Referenzpunkte zeigt einerseits auf, welche Diskurse Mishima aufgreift, andererseits lässt sich das ideologische Spektrum veranschaulichen, dessen sich Mishima bedient.3 Die Einbettung von Bunka bōeiron in den kulturkritischen Kontext erhellt darüber hinaus, auf welches Gedankengut Mishima zurückgreift und in welche Diskurse er sich einschreibt.
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Intertextualität wird in dieser Arbeit im Sinne Genettes als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen“ verstanden, wobei diese die Gestalt eines Zitates, eines Plagiates oder einer Anspielung annehmen kann (vgl. Genette 1993: 10). Ob es sich dabei um Intertexte handelt, oder sich diese in den Köpfen der damaligen Erwachsenen festgesetzt hatten und jederzeit abrufbar waren, steht dabei nicht zur Debatte. Von den expliziten Referenzen kann bisweilen auf implizite Bezugnahmen geschlossen werden. Zu problematisieren ist dabei, dass das Verhältnis zwischen den erkannten westlichen Referenzen und den japanischen möglicherweise in einem Ungleichgewicht steht, welches der kulturellen Verwurzelung der Verfasserin geschuldet ist. Deswegen soll die von Hijiya-Kirschnereit formulierte Erkenntnis dieser Analyse als Motto dienen: „Erst wenn wir bewußte Eurozentriker sind, vermögen wir das Fremde unvoreingenommen, d. h. unverstellt durch unsere unbewußten Vorurteile, wahrzunehmen. So gesehen, wäre Eurozentrismus geradezu die Bedingung der Erkenntnis.“ (Hijiya-Kirschnereit 1988: 210).
Intertextuelle Verweise
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1.1 Zitate zur Bestimmung des kokutai Obgleich die intertextuellen Verweise nicht uneingeschränkt durch Kontextualisierungen erschlossen werden können, ist im Fall der zitierten Philosophen eine Beschäftigung mit deren ideologischen Wurzeln von Belang. Eine Auseinandersetzung mit den Autoren sowie den zentralen Aspekten ihres Œuvres erhellt beispielsweise im Fall von Watsuji Tetsurō, dass Mishima, in weitaus größerem Umfang als die Zitate vermuten lassen, auf dessen Werk zurückgreift und diverse Aspekte seines Denkens übernimmt. 1.1.1 Watsuji Tetsurō Der Philosoph und Kulturhistoriker Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889–1960) gehört zu den wichtigsten japanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts.4 Auf Grundlage seiner umfassenden Kenntnis der abendländischen Philosophie beschäftigte sich Watsuji vornehmlich mit philosophischer Ethik und der japanischen Geistesgeschichte. Ab 1920 lehrte Watsuji an verschiedenen Universitäten, bis er 1925 auf den Lehrstuhl für Ethik an die Universität von Kyōto berufen wurde. Nach einem zweijährigen Auslandsstudium der Moralphilosophie und Geistesgeschichte in Deutschland folgte er 1934 einem Ruf an die literaturwissenschaftliche Fakultät der Universität Tokyo; dort war er bis zu seiner Emeritierung tätig. Als seine wichtigsten Werke gelten Ningen no gaku to shite no rinrigaku (Ethik als Wissenschaft vom Menschen) (1929), dessen Thesen er in dem dreibändigen Werk Rinirigaku [Ethik] (1937, 1942 und 1949) ausbaute, sowie Fūdo (Fūdo – Wind und Erde) (1929, publiziert 1935). Wie bereits für Nishida Kitarō 西田幾多郎 (1870–1945), der bestrebt war, die von asiatischen Denksystemen beeinflusste japanische Philosophie in eindeutig definierte westliche Begriffe zu fassen, spielte auch für Watsuji die Beschäftigung und zunehmend die Abgrenzung der japanischen Philosophie von der westlichen eine entscheidende Rolle. Mishimas Bezugnahmen auf Watsuji sind von ablehnenden, bisweilen bissigen Kommentaren begleitet. Dass Mishima mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Watsuji derart hart ins Gericht geht, verwundert insofern, als die Quintessenz der zentralen Argumente der beiden Autoren, wie im Folgenden gezeigt wird, erstaunlich nah beieinander liegen.5 Anzunehmen ist, dass Mishima sich an Watsujis Neuinterpretation von Kaiser und kokutai gestört und seinem Missfallen dergestalt Ausdruck verliehen hat.
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So nicht anders gekennzeichnet, sind die Angaben zu Watsuji bei Nakamura 1982 entnommen; eine umfassende Einführung in Leben und zentrale Aspekte des Werkes von Watsuji findet sich bei Kumano 2009. Eine Einführung in die Philosophie der Kyōto-Schule, der Watsuji gedanklich nahestand, geben Najita 1998; Goto-Jones 2008. Vgl. BB: 40ff.
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Zum Verständnis von Tenno, Staat und Individualismus bei Mishima und Watsuji Wie bereits den Titeln der in Bunka bōeiron zitierten Watsuji-Werke sowie Mishimas Kommentaren zu entnehmen ist, beschäftigte sich Watsuji Tetsurō in verschiedenen Schriften mit der Frage nach der Beschaffenheit des japanischen Staates und dessen (einstigem) Oberhaupt, dem Kaiser. Die Publikation des Werkes Sonnō shisō to sono dentō [Die Idee der Kaiserverehrung und die kaiserliche Tradition] aus dem Jahr 1943 war ausschlaggebend dafür, das Watsuji als reaktionärer, nationalistischer Denker bekannt wurde.6 Drei Jahre nach Kriegsende distanzierte sich Watsuji dann, vor allem in dem von Mishima zitierten Kokumin tōgō no shōchō [Das Symbol der nationalen Einheit], von seinen einstigen Thesen.7 In dieser Schrift, die den Wortlaut des ersten Artikels der Nachkriegsverfassung im Titel aufgreift, befasst sich Watsuji mit der Bedeutung des symbolischen Kaisers. Bei Watsuji stehen nicht allein Kaiser und Staat in einem Abhängigkeitsverhältnis, sondern bedeutend für das staatliche Gefüge ist die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft. Den Staat fasst Watsuji als allumfassende Autorität, welche er als „Kulturgemeinschaft“, bunka kyōdōtai 文化共同体 bezeichnet, einen Begriff, den er gleichbedeutend mit minzoku verwendet. Diese Kulturgemeinschaft konstituiere sich durch die Verbindung von Blut und Boden und nehme eine in sich geschlossene Form an.8 Andere Ethnien werden durch diese Formulierung, die Mishimas Verwendung des Terms minzoku entspricht, aus dem japanischen Staatsgefüge ausgeschlossen. Mishimas nachkriegszeitliche Gemeinschaft, kyōdōtai 共同体, definiert sich ebenfalls über Rasse und Territorium.9 Der Gemeinschaftsbegriff, kyōdōtai, stellt für Watsuji einen zentralen Terminus darstellt, der gleichzeitig als Kritik an der ‚westlichen Philosophie‘ fungiert, welche in Watsujis Augen die Gemeinschaft marginalisiere.10 Darüber hinaus kritisiert Watsuji die einseitige Betonung des Zeitlichen vor dem Räumlichen im Westen. Diesem Gedanken ist eine Ablehnung des als westlich gebrandmarkten Individualismus eingeschrieben, welche sich auch in Watsujis Verständnis des Staates
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Vieldiskutiert ist das Verhältnis Watsujis zum Militarismus und Nationalismus während des Pazifischen Krieges und die Frage, ob er – unabhängig von seiner Position als Verfasser ideologischer Schriften – den Kaiser immer als Zentrum einer kulturellen Einheit verstanden habe (vgl. Doak 2007: 115f.; Ruoff 2001: 49). Dass seine Kulturkonzeption auf einer problematischen rassistischen Unterscheidung basiert, ist hingegen unbestritten. Vgl. Watsuji 1961–1963, Bd. 14. Joos wertet Watsujis Verständnis von Monarchie in seinem vorkriegszeitlichen Denken als Ausdruck des japanischen Geistes. Nach 1945 sei es ihm gelungen, dieselbe als Verkörperung des Rousseau’schen Willens auszugeben (vgl. Joos 2008: 393). Vgl. Watsuji 1962 [1942]: 16f. Watsuji bezeichnet die japanische Gesellschaft als heisasei 閉鎖性, was hier als „abgeschlossen“ übersetzt wurde. Vgl. BB: 20f. Vgl. Dilworth 1998: 222. Aufgrund der Annahme, dass Mishima den Begriff kyōdōtai in Anlehnung an Watsuji verwendet, wurde dieser in der deutschen Übersetzung als „Gemeinschaft“ wiedergegeben und nicht als „Holismus“ wie Donald Keene dies in seiner Teilübersetzung bevorzugt (vgl. De Bary 2005: 1182).
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niederschlägt: Für ihn stellt der Staat die höchste Form der ethischen Gemeinschaft und gleichzeitig einen Gegenentwurf zum Individualismus dar.11 The most adequate and comprehensive kyōdōtai is the state, expressed most fully when embodied in the Japanese emperor who expresses a mediate way, the only possible way, absolute value.12
Watsuji wie Mishima erachten den Kaiser als absoluten Wert, der die kulturelle japanische Gemeinschaft in der japanischen Tradition verankere.13 Zudem ist die Einheit von Volk und Staat für beide der entscheidende Faktor für die Umsetzung einer idealen japanischen Gesellschaft, welche auseinanderfalle, wenn die Verbindung zwischen den Japanern und dem Staat nicht gegeben sei.14 Watsuji argumentiert, es sei die althergebrachte Art und Weise der Kaiserverehrung, welche die Japaner befähige, das Absolute zu begreifen. Er stellte die Kaiserverehrung über jegliche Religion oder Philosophie und bezeichnet sie als höchste Form des kulturellen Ausdrucks.15 Für den Philosophen ist das Verbindungsglied zwischen den Menschen und dem Kaiser die durch den Staat gegebene soziale Struktur.16 Seine Ängste um den aktuellen Zustand des Staates, oder eben die kulturelle Gemeinschaft, formuliert er kontinuierlich: Während der Autor zunächst im ersten Band seines Werkes Rinrigaku von 1934 schreibt, der Gegensatz des Idealzustandes Kulturstaat sei die Gesellschaft, shakai 社会, spezifiziert er im zweiten Band von 1942 das mögliche Verfallsstadium des Staates und nennt es nun rieki shakai 利益社会 oder dasan shakai 打算社会, was sich mit „Profitgesellschaft“ oder „Gewinnsuchtgesellschaft“ übersetzen lässt. Diesen Zerfallsprozess des Staates führt Watsuji auf dessen zerbröckelnde Ganzheitlichkeit zurück, die entstehe, wenn der Staat gespalten werde in einen nicht mehr regierenden, sondern lediglich verwaltenden Apparat einerseits und die Gemeinschaft andererseits. Idealiter sollten die im Staat verwirklichte Nation und das Individuum eine Einheit bilden, in welcher die Interessen des Staates vorgehen. In Profitgesellschaften hingegen seien die Interessen des Einzelnen denen des Staates übergeordnet, wie sich an Paradebeispielen für gewinnsüchtige Staaten, nämlich den USA oder europäischen Ländern zeigen ließe, die nicht mehr von moralischen Grundsätzen, sondern allein von wirtschaftlichen Interessen gelenkt
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Individualismus wird von Watsuji auch als die Auflehnung des Einzelnen gegen soziale Regeln, Erwartungen oder die Überlegenheit der Gruppe beschrieben (vgl. Carter 2009; Sakai 1997: 88f.). Bellah 1965: 592. „[…] Watsuji is thinking in the rather regressive language of culturalism in which the formula of the individualistic = West being versus the collectivist East = emptiness or nothingness [the Emperor] is accepted as a truism.“ (Sakai 1997: 95). Diese Trennung drückt sich für Mishima auch im Auseinanderdriften von Subjekt und Objekt aus, welches nichts anderes symbolisiert als die Trennung von Volk und Staat (vgl. BB: 35). Vgl. Bellah 1965: 590. Vgl. Sakai 1997: 93. Eine Gefahr für die notwendige soziale Verbindung zwischen dem Volk und dem Absoluten sieht Watsuji darin, dass soziale Verbindungen von auftretenden religiösen Substituten verdrängt würden. Paradoxerweise könne dadurch die Heiligkeit des Staates verloren gehen und in Konsequenz die Verbindung zur Gemeinschaft abbrechen (vgl. Bellah 1965: 580f.).
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würden.17 Diese Idealisierung der japanischen, auf Kaiserverehrung basierenden Gemeinschaft, kyōdōtai, welche Watsuji den anglo-amerikanischen Profitgesellschaften entgegenstellt,18 findet ihre Entsprechung bei Mishima; dieser bemängelt ebenfalls den Zusammenschluss von Konsumgesellschaft und Kultur, welche zu bloßer Politik verkomme, sowie die egoistische Konzentration der Menschen auf persönliche Belange.19 Ein Ausweg aus der Situation der Nachkriegszeit besteht für Mishima wie für Watsuji in der Revitalisierung einer kulturellen, japanischen Gemeinschaft mit dem Tenno an ihrer Spitze. Wie Watsuji begreift Mishima den Kaiser als absoluten, nicht hinterfragbaren Wert.20 Obgleich Watsuji zur Bestimmung des Kaisers auf Begriffe der Kyōto-Schule zurückgreift und diesen als Negation der Negation definiert, ist der Tenno in letzter Konsequenz genau wie bei Mishima nichts anderes als die Ganzheitlichkeit des japanischen minzoku, welches sich über die gemeinsame japanische Kultur definiere. The emperor expresses nothing but the predominant harmony of this symmetrical reciprocity, pure sympathy and “communion” in aesthetic experience. […] But precisely because his status is arbitrary (he expresses only the totality without any content), people can project their communalist desire onto his figure.21
Die Definition des Kaisers als Einiger der Gemeinschaft ist bei beiden Männern ebenso identisch wie dessen Beschreibung als Form ohne Inhalt.22 Für Watsuji ist das Klima – und damit auch die Kultur – bedingt durch die subjektive menschliche Existenz, für Mishima kann Kultur nur aus dem schaffenden Subjekt entstehen.23 Der in diesem Zusammenhang für beide zentrale, identisch verwendete Begriff des Subjektiven (shutaiteki 主体的) meint die handelnde, erschaffende, tätigkeitsbezogene Seite des Subjekts in Anlehnung an die Kyōto-Schule.24 Bei beiden spielt auch hinsichtlich des diskutierten Individualismus die Frage nach einer Abgrenzung des Subjekts vom Objekt eine Rolle. Im Vorwort von Fudō schreibt Watsuji bezüglich der Beziehung von Subjekt und Objekt, dass der Mensch bei Vgl. Opitz 1989: 363f; Watsuji 1962 [1942]: 415–434. Watsuji schrieb häufig gegen den in seinen Augen westlichen Individualismus an und betonte die zwischenmenschlichen Beziehungen, bekannt aus seinen Überlegungen zum „Dazwischen“, aida 間. 18 Vgl. Bellah 1965: 583. 19 Vgl. BB: 17, 28f., 31f. Das geschilderte utilitaristische, materialistische Szenario ist allerdings für Mishima kein in den USA zu lokalisierendes Phänomen, sondern nachkriegszeitliche Realität, weil den Japanern die Fähigkeit, eine eigene Gemeinschaft zu bilden, abhandengekommen sei. 20 Mishima geht allerdings noch weiter und bezeichnet den Tenno zusätzlich als Schoß der Ästhetik, was sich bei Watsuji in dieser Form nicht findet. 21 Sakai 1997: 114. 22 In der Nachkriegszeit versuchte Watsuji den Kaiser, anders als noch während des Krieges, als kontinuierliche kulturelle Instanz, ohne exekutive oder machtpolitische Befugnisse zu etablieren, wozu er sich bisweilen offenkundiger Zirkelschlüsse bediente (vgl. Sakai 1997: 106–116). 23 Auch Mishima führt das Klima als Charakteristikum der japanischen Kultur an (vgl. BB: 21). 24 Vgl. Kapitel II.2.1.1.2; vgl. Watsuji 1997 [1935]]: 3f.; Watsuji 1961–1963, Band 8; Sakai 1997: 78f. Zur Begriffs- und Übersetzungsgeschichte des schillernden Begriffs shutai in Japan, für den es vor der Meiji-Zeit und der Einführung westlicher philosophischer Begriffe kein Äquivalent gab, vgl. Sakai 1997: 78–82 sowie Sakai 1997a. 17
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der Bewusstwerdung von natürlichem Klima und kulturellem Klima, in welchem er sich befindet, Natur und Kultur gleichermaßen als objektiviert betrachte. Des wegen werde Zwischenmenschliches als Beziehung zwischen Objekten wahrgenommen, wodurch die Verbindung zur subjektiven Existenz verloren gehe.25 Bei beiden ist die Subjekt-Objekt-Spaltung durch eine Rückbesinnung auf die Tradition definiert, das idealisierte Archaische aufzuheben:26 Watsuji argues that the true pathway to access the Japanese spirit is to re-appropriate Japan’s indigenous culture, while emphasizing the fact that the “active subject” that has engendered that culture is the Japanese people itself.27
Die Möglichkeit einer Abkehr vom kulturellen Universalismus durch die Betonung des Völkischen einer jeden Kultur ist hier wie dort mit dem Gedanken verbunden, dass sich Kultur weiterentwickle, wenn sie das individuell Besondere bewahre;28 eine in Nihonjinron durchaus gängige Argumentation, mithilfe derer sich die Spezifität Japans herausstellen lässt. Ein weiterer, an die Terminologie der Kriegszeit erinnernder Gedanke, der bei Watsuji ebenso wie bei Mishima anklingt, ist die Selbstaufgabe des Einzelnen zum Wohle der Nation beziehungsweise für den Tenno in deren Zentrum. Diesen Akt, der gleichbedeutend mit der Negation des Individualismus ist, thematisiert Watsuji in seinen von Kriegsrhetorik bestimmten Schriften der frühen 1940er Jahre. Das Individuum, so Watsujis von Heidegger geprägte Einsicht aus dem zweiten Ethik-Band, sei in modernen Nationalstaaten durch die in der Wehrpflicht angelegte Eventualität für das Land zu sterben an den Staat gebunden.29 Durch die Loyalität der Bürger gegenüber dem Staat, die gegebenenfalls in 25
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Furukawa 1961: v. Watsuji ging von einer nicht-dualen Unmittelbarkeit von Erfahrung aus, ein Gedanke, der bei Nishida Kitarō entnommen ist, der ebenfalls von „reiner Erfahrung“ spricht (vgl. Carter 2009). Zugleich erinnert dieser Gedankengang an die Idee einer Verdinglichung der Kultur (vgl. Kapitel III.2.1.1.2). Geprägt von Nishida schreibt Watsuji in Nihon kodai bunka [Die alte Kultur Japans] aus dem Jahr 1920 bezüglich der Trennung von Subjekt und Objekt: „When we look at this distinction [of subject and object] from a psychological point of view, we find that the poets of the Manyoshu concentrate their feeling upon themselves and gaze at it with themselves, or separate it from themselves and enjoy it in nature confronting them as beauty in the objective world, while the ancient poets, whose feelings still retain a virgin simplicity as a single undivided experience, are not yet troubled by this division of the subjective and the objective.“ (Watsuji zitiert nach Furukawa 1961: 224.) Dilworth 1998: 228. Watsuji vertritt, sich auf Nietzsche berufend, ebenso wie Mishima die Ansicht, dass die kreative Elite der Masse überlegen sei, die sich am liebsten ausschließlich mit Materiellem beschäftige. In der Hinwendung zur eigenen Kultur sah er eine Möglichkeit, aus der materialistischen Realität auszubrechen (vgl. Najita 1998: 241). Diese These wurde im kriegszeitlichen Japan ebenso diskutiert wie im faschistischen Deutschland (vgl. Otabe 2006a: 78). Diese Annahme hatte bis vor nicht allzu langer Zeit Gültigkeit: „Thus, the idea of universal conscription teaches the masses that they can belong to their nation through the possibility of their own death. Until recently, the nation-state could not shed its determination as the community of death.“ (Sakai 1997: 99).
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Selbstaufgabe gipfele, so Watsuji, vereinten sich die Bürger mit dem staatlichen Gefüge; im Moment des Todes werde der Einzelne eins mit der Nation und der Totalität, dem Kaiser.30 Mishimas Kritik an der kaum mehr vorhandenen Selbstaufgabe in der Nachkriegszeit ist eine Klage über die abhandengekommene Bereitschaft, sich bedingungslos der Nation zu verschreiben. Indem Mishima das bunbu ryōdō-Ideal propagiert, ruft er einerseits das Samurai- und bushidō-Ideal auf, welches aber zunächst kein sofortiges, konkretes Handeln verlangt, sondern „allein“ die Bereitwilligkeit, gegebenenfalls zu kämpfen.31 Die Aufforderung, den Künsten und der Literatur ebenso viel Aufmerksamkeit beizumessen wie der Kriegskunst, geht Hand in Hand mit dem propagierten kulturellen Idealzustand eines Miteinanders von Chrysantheme und Schwert. Die kongruente Gedankenführung und die identische Wortwahl in der Argumentation bezüglich des Staates, Kaisers und der Gemeinschaft lässt auf eine eindeutige Bezugnahme Mishimas auf Watsuji über die Zitate hinaus schließen.32 Betont sei, dass es trotz dieser Übereinstimmung in der Konzeption des Tenno als immerwährender japanischer Wert bei Mishima und Watsuji einen entscheidenden Unterschied in ihrer Beurteilung der Nachkriegszeit gibt: Mishimas Beschreibung ist die eines nicht verwirklichten Idealzustandes, welcher aufgrund der Dekadenz und des Egoismus nach 1945 nicht umgesetzt werden kann. Watsuji hingegen sieht die von ihm geschilderten Eigenschaften zumindest theoretisch im symbolischen Kaiser der Nachkriegszeit enthalten. Generell ist bei einem Vergleich von Watsuji und Mishima weiter anzumerken, dass sie ihre Gedanken unterschiedlich entfalten; Watsujis Schriften ist die Nähe zur Kyōto-Schule anzumerken, seine Ausführungen, die sich hinsichtlich der Textsorte und ihrer Bestimmung nicht unterscheiden, sind in sich geschlossen, er arbeitet mit klar definierten Termini und abgeleiteten Bedingungen.33 Watsuji vertrat zudem die Meinung, dass die japanische Kultur nicht eigentümlich, sondern entscheidend durch die Einfuhr, Nachahmung und Aneignung des Ausländischen beeinflusst sei. Demzufolge gibt es bei Watsuji auch keinen lokalisierbaren Ursprung, sondern er begreift Kultur als ein durch Wechselseitigkeit geprägtes Phänomen. Er betont, dass der Blick der Japaner auf die Weltkultur und vornehmlich auf das antike Griechenland – einen Referenzpunkt, den auch Mishima 30
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Vgl. Sakai 1997: 100ff. In der Nachkriegszeit formulierte Watsuji den Loyalitätsgedanken um und argumentierte, der Kaiser pflege zu den Untertanen keine persönliche Beziehung wie einst der Samurai zum Vasall, sondern der Tenno sei das vereinende Moment eines komplexen, aus verschiedenen sozialen Organisationen bestehenden Ganzen, ähnlich dem Durkheim’schen Konzept der „organischen Solidarität“. Er führt in diesem Zusammenhang auch aus, dass der Kaiser weder Kommandant noch Ausdruck des Volkswillens und damit kein Repräsentant der Nation sei, sondern politische Entscheidungen von Beamten und Offiziellen getroffen würden (vgl. Sakai 1997: 103ff.). Vgl. BB: 30. In seinen kriegszeitlichen Propagandaschriften forderte auch Watsuji, den bushidō wiederzubeleben. Dass Mishima die erörterten Begriffe von Watsuji übernommen habe, führt auch Akasaka an, der dies allerdings nicht mit Textstellen belegt (vgl. Akasaka 2007 [1990]: 110–113). Beispielsweise beschreibt Watsuji den Kaiser als „absolute Leere“, was letztlich Mishimas Formulierung des absoluten Ganzen entspricht. Seine Darlegung und Gedankenführung ist jedoch weit komplexer und logisch stringent dargelegt.
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wählt34 – dazu beigetragen habe, dass sich der Sinn und damit auch die Wertschätzung für die eigene Kunst habe herausbilden können. Der Blick auf das Andere bewirke auch, dass die eigene Tradition gestärkt wiederaufleben könne.35 Watsujis Auffassung steht Mishimas Idee einer aus sich heraus entstandenen und sich selbst speisenden japanischen Kultur entgegen. Ungeachtet dessen ist der übereinstimmende Grundtenor von Bunka bōeiron und den Schriften Watsujis erkennbar: With his emphasis on cultural specificity, climatic diversity, and the distinctive resources of Japanese culture, Watsuji attacked what he regarded as the abstract universalism of the Enlightenment philosophy of the West and its offshoots in the first waves of Westernizing “civilization and enlightenment” thought of the early Meiji period. He rejected modernity in the form of Gesellschaft society – or the profit-motivated bourgeois principle of individualistic and nationalistic will to power – in favour of an ethical image of Japan that combined pre-modern with modern modalities of human life. The internationalist agenda of communism he saw as another form of abstractionism. Like Nishida, Tanabe and Nishitani, therefore, he also thought that the Japanese spirit, which now combined both features, was in a position to stem the historical tide of Western imperialism and colonialism in Asia and to play a role in the coming world with its essential varieties of culture.36
Die Ablehnung einer profitorientierten Gesellschaft und des Internationalismus der kommunistischen Denker sind in beiden Argumentationen ebenso enthalten wie der Versuch, der „westlichen Moderne“ etwas notwendigerweise in der Vergangenheit wurzelndes Japanisches entgegenzusetzen. Mit der Kritik am utilitaristischen, individualistischen, instrumentalisierenden und darüber hinaus selbstgefälligen Dasein des Westens geht die Betonung des Eigenen einher, welches auf die Verbindung des japanischen Volkes mit den göttlichen Ahnen zurückzuführen sei und im Tenno als Absolutem seinen Höhepunkt habe. Mishima und Watsuji sahen in der japanischen Kultur einen möglichen Gegenpol zur westlichen Hegemonie. Watsuji revidierte nach Kriegsende – ob aufgrund von Überzeugung, Druck oder dem vorherrschenden Zeitgeist, lässt sich nicht klären37 – seine Ansichten zum Tenno und betonte fortan ausschließlich dessen kulturelle Komponente. Ungeachtet der Distanzierung von seinem kriegszeitlichen Kaiserbild findet sich jedoch auch in seinen Nachkriegsschriften kein Wertmaßstab, der die „Richtschnur Tenno“ ersetzen könnte.38 Da der Kaiser als kulturelles Konzept bei Mishima eine zu verwirklichende Vision ist und nicht der Status Quo, ist Mishimas Text ein Handlungsaufruf eingeschrieben. Watsuji hingegen akzeptiert die Position des Tenno als „Symbol der Einheit des Volkes“ wie in der Nachkriegsverfassung festgelegt und erklärt, dass er eben eine solche Konzeption, die dem Kaiser eine
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Vgl. BB: 25. Vgl. Watsuji 1961–1963, Bd. 2: 113f.; Otabe 2006. Dilworth 1998: 227. Diese Frage beschäftigt die Watsuji-Forschung, meist wird versucht nachzuweisen, dass Watsuji eben kein Nationalist war (vgl. etwa Sato 2006; Fischer-Barnicol 1992). Vgl. Fischer-Barnicol 1992: xvii.
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moralische, aber keine politische Bedeutung zuschreibt, schon immer gemeint habe, wenn er vom Kaiser als dem „absoluten Ganzen“ gesprochen habe.39 1.1.2 Tsuda Sōkichi und Sasaki Sōichi Der zweite japanische Intellektuelle, auf den Mishima in Bunka bōeiron direkt Bezug nimmt und dessen Meinung er Watsujis Position entgegenstellt, ist Tsuda Sōkichi 津田 左右吉 (1873–1961).40 Der Historiker ist in Japan vor allem dadurch bekannt, dass er die Existenz des angeblich ersten japanischen Kaisers, Jimmu 神武天皇, sowie dessen 13 Nachfolger in Frage gestellt und die Reichsannalen als sprachlich interpretierbare Mythen, nicht jedoch als historische Wahrheit gelesen hat. Daraufhin wurde Tsuda im Jahr 1940, unmittelbar vor der 2600-Jahrfeier des japanischen Reiches, wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und der Vertrieb seiner Schriften kurz darauf verboten.41 Tsuda vertrat die Ansicht, dass die aus dem 8. Jahrhundert stammenden Annalen, das Kojiki 古事記 sowie das Nihonshoki 日本書紀, von Bürokraten gezielt erschaffen worden waren, um die Herrschaft des Kaiserhofes zu legitimieren.42 Ohne auf den Partikularismus zurückzugreifen, der in dieser Zeit häufig unter Rückgriff auf die Mythen evoziert wurde, interpretierte er die japanische Kulturgeschichte in utilitaristischen Kategorien. So führte Tsuda etwa die Taika-Reform nicht wie gemeinhin üblich auf einen erhabenen ethischen Idealismus zurück, sondern auf machtpolitisches Kalkül. Ferner beschrieb er bushidō als Deckmantel, der es den Fürsten ermöglicht habe, sich Land anzueignen.43 Tsudas umfassende Kritik an der Wahrnehmung des Kaiserhofes war stets auf das System, nie direkt auf die Person des Kaisers gerichtet. Viele Intellektuelle stellten erst nach dem Krieg fest, dass Tsudas Ideen tatsächlich weitaus weniger revolutionär waren, als gemeinhin angenommen: Er wollte keinesfalls Ideologiekritik üben, sondern war vielmehr bestrebt, die Einzigartigkeit Japans zu belegen, welche er darin begründet sah, dass der Yamato-Staat sich ganz natürlich aus der japanischen Sozialstruktur entwickelt habe. Da Japan sich weder nach außen noch nach innen habe verteidigen müssen, basiere die Hierarchie auf Traditionen und natürlichen Gegebenheiten, und auf dieser Grundlage habe sich ein Bewusstsein von nationaler Zugehörigkeit entwickelt, welches sich etwa in der Literatur ausdrücke. Tsuda lehnte zwar die Vorstellung eines politischen, im Zuge der
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Vgl. Bellah 1965: 591. Tsuda Sōkichi studierte bis 1891 Geschichtswissenschaft und Geistesgeschichte, bevor er 1918 auf den ersten Lehrstuhl für asiatische Geschichte an der Waseda Universität berufen wurde. Fortan widmete er sich der positivistischen Erforschung des japanischen Altertums und publizierte seine Hauptwerke in den 1920er und 30er Jahren (so nicht anders angegeben, sind die folgenden Ausführungen Brownlee 1997 entnommen). Vgl. Nakamura 1982: 361f. Vgl. Brownlee 1997: 190. Vgl. Bellah 1965: 577, 584.
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Meiji-Restauration geschaffenen Kaisers ab, war jedoch überzeugt von der kulturellen Macht, die das japanische Kaiserhaus seit jeher ausübe.44 Im Jahr 1939 wurde Tsuda von Nanbara Shigeru 南原繁 (1889–1974), einem liberalen, sowohl Nazismus als auch Nationalismus ablehnenden Wissenschaftler, zu einer Vortragsreihe anlässlich des neu gegründeten Lehrstuhls für Geschichte der politischen Ideen Ostasiens an die Universität Tokyo eingeladen. Obgleich Tsuda in seiner Vorlesung über die chinesische Qin-Dynastie (ca. 897–207) wohlweislich kein Wort über die Mythen verloren hatte, wurde er von den wenigen Zuhörern dennoch auf seine Schriften zu den japanischen Reichsannalen angesprochen. Der rechtskonservative Denker Minoda Muneki 蓑田胸喜 (1894–1946) hatte extra für diesen Anlass ein 70-seitiges Exposé mit Zitaten Tsudas vorbereitet, das sich in der Zusammenschau eindeutig als Kritik am Kaiserhof las und ausschlaggebend dafür war, dass sich Tsuda und sein Verleger Iwanami Shigeo 岩波茂雄 wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht verantworten mussten.45 Eine von Maruyama Masao initiierte und von 89 Wissenschaftlern unterschriebene Petition gegen die Verurteilung Tsudas zeigt, dass Intellektuelle aus verschiedenen politischen Lagern für Tsuda Partei ergriffen. Obgleich die Unterzeichner nicht zwingend Tsudas Ansichten bezüglich der Mythen unterstützten, bekundeten sie ihren Unmut über die Beschneidung der Wissenschaft und der freien Meinungsäußerung. Auch Watsuji Tetsurō trat, obgleich er in seinen Propagandaschriften eine andere Meinung vertreten sollte, für Tsuda ein und sagte in einer der Verhandlungen aus, dass dessen Äußerungen dem Kaiserhaus nicht schadeten.46 Als Tsuda allerdings selbst zu den Vorwürfen befragt wurde, bejahte er zum Erstaunen der Prozessbeobachter und seiner Unterstützer die Existenz der ersten vierzehn Kaiser und widersprach der in seinen Werken vertretenen Ansicht. In einem Artikel vom April 1946 bejahte er sogar den historischen Glauben und die besondere Verbindung, ja Liebe, der Japaner zu ihrem Kaiser. Diese Aussagen, die von vielen als radikale Kehrtwende in seinem Denken verstanden wurden, haben für eine große Anzahl an Publikationen sowie für diverse Spekulationen gesorgt, die allerdings von Tsudas Seite unkommentiert geblieben sind.47 Dass sich Tsuda nach dem Krieg positiv über die kaiserliche Institution äußerte, wurde ebenso kritisch aufgenommen wie die Verleumdung seiVgl. Joos 2008: 390–393. Nur eine von neun Passagen Tsudas wurde vom Gericht als diffamierend empfunden und als Grundlage für eine Verurteilung herangezogen. Sowohl die Ankläger als auch Tsuda kündigten an, Revision einzulegen, doch nachdem die Anklage die Einjahresfrist hatte verstreichen lassen, verjährten die Vorwürfe (vgl. Joos 2008: 392). 46 Vgl. Yoshizawa 2006: 19–27. 47 Der Historiker Ienaga Saburō 家永三郎 (1913–2002) etwa kritisierte Tsuda deswegen und behauptete, er habe Angst vor einer Verurteilung gehabt. Tsudas Schüler Kimura Tokio hingegen vertrat auch nach dem Krieg die Ansicht, Tsuda habe immer konsistent argumentiert. Brownlee versucht Tsuda insofern zu rechtfertigen, als er erklärt, dass Tsuda als Nationalist an die Existenz der Kaiser geglaubt habe und lediglich darauf hinweisen wollte, dass sich diese nicht beweisen lasse (vgl. Brownlee 1997: 197ff. Darüber hinaus beschäftigt sich auch Joos 2008 mit dieser Frage). Kurita hingegen führt aus, Tsuda habe nach dem Prozess „volumes of apology“ (Kurita 1970: 12) geschrieben, eine Feststellung, die in dieser Form sicherlich hinterfragt werden muss. 44 45
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ner Thesen im Prozess. Ähnlich wie Watsuji argumentierte er in der Nachkriegszeit, dass das neue symbolische Kaisersystem mit der japanischen Tradition konform gehe und dessen kulturelle Essenz unverändert Bestand habe.48 In beiden von Mishima zitierten Textausschnitten aus den frühen 1950er Jahren befasst sich Tsuda mit der angeblich rein kulturellen Funktion des japanischen Kaiserhauses. Indem Mishima Watsuji als polemisch bezeichnet und Tsuda einen gesunden Menschenverstand attestiert, stärkt er seine These eines kulturellen Kaisers und distanziert sich von der kriegszeitlichen Kaiser-Ideologie. Er erweckt dadurch den Anschein, Tsuda, dessen Name durchaus für eine kritische Position gegenüber dem Hof steht, vertrete die gleiche Auffassung wie er, die Watsuji entgegenstünde.49 Mit ähnlichen Intentionen behaftet scheint die Nennung des an der Ausarbeitung der Nachkriegsverfassung beteiligten Rechtswissenschaftlers Sasaki Sōichi 佐々木惣一 (1878– 1965), dem am wenigsten bekannten der vier genannten Autoren.50 Sasaki absolvierte 1903 die Universität von Kyōto und wurde dort, nach Auslandsaufenthalten in Deutschland und Frankreich, im Jahr 1913 zum Professor berufen. Diesen Posten gab er 1932 aus Protest gegen die Beschränkung der akademischen Freiheit und die Entlassung seines Kollegen Takikawa Yukitori 瀧川幸辰 (1891–1962) gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der juristischen Fakultät auf und wurde Präsident der Ritsumeikan Universität.51 Nach Kriegsende wurde Sasaki gemeinsam mit Konoe Fumimaro 近衞文麿 vom naidaijin 内大臣, dem Kanzler des Inneren, berufen, um Vorschläge bezüglich einer Änderung der Meiji-Verfassung einzureichen. Sasaki präsentierte im November 1945 einen einhundert Artikel umfassenden Entwurf, bei dem die ersten vier, den Kaiser betreffenden Artikel, gleich waren wie in der Meiji-Verfassung. Sasaki verstand den Kaiser als tennō kikansetsu 天皇機関説, als Repräsentant, nicht als Souverän, und sah insofern keine Notwendigkeit, diesen Status zu verändern.52 Demzufolge beurteilt er das kokutai als den Japanern eigene, geistige Haltung, die nicht zwingend an die kriegszeitliche Interpretation 48
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Vgl. Joos 2008: 393. Tsuda selbst sah sich nicht als Opfer der Zensur, sondern sagte, es habe sich um einen Prozess gegen verschiedene Formen der Wissenschaft gehandelt, welcher von rechten Lagern inszeniert worden sei. Die gleiche Funktion erfüllt die dem ersten Zitat nachgestellte, einer anderen Schrift entstammenden Kultur-Definition Tsudas, welche Mishimas Ausführungen ebenfalls stützt, weil auch Tsuda Kultur als in der Ästhetik verhaftet und sie als Art zu leben beschreibt. Beide Tsuda-Zitate sind zu finden in BB: 42f. Obwohl Sasaki im Vergleich mit den anderen von Mishima zitierten Intellektuellen verhältnismäßig unbekannt ist, gehörte er neben dem liberalen Minobe Tatsukichi 美濃部達吉 (1873–1948) zu den wichtigsten Intellektuellen der Taishō-Demokratie (vgl. Tabata 1975: 292f.). Die Angaben sind an dieser Stelle, so nicht anders gekennzeichnet, Tabata 1975: 277–308 entnommen. In diesem Band findet sich auch eine Auflistung der relevanten Werke Sasakis. Vgl. Tabata 1975: 284ff. Takikawa wurde entlassen, weil er Lew Nikolajewitsch Tolstois (1828–1910) These verteidigt hatte, dass die Gesellschaft Mitschuld an Verbrechen Einzelner habe. Der von Sasaki unmittelbar nach Kriegsende eingereichte Vorschlag kann online eingesehen werden (vgl. http://www.ndl.go.jp/constitution/e/shiryo/02/042shoshi.html. [30.09.2013]; Nakamura 2003). Zur Interpretation des Tenno als Repräsentant, vgl. Yoshimitsu 1998a: 94.
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gekoppelt sein muss. Als positive Veränderung des Staatswesens beurteilte Sasaki die Tatsache, dass durch die Verneinung der kaiserlichen Göttlichkeit die Souveränität nun beim Volk liege.53 Durch die Anführung von Sasakis Namen in Bunka bōeiron kann Mishima seine Argumentation von den ultranationalistischen kokutai-Interpretationen abgrenzen und diese durch die Fremdmeinung eines der wichtigsten Vordenkern in Bezug auf den Nachkriegskaiser stützen. 1.1.3 Maruyama Masao Maruyama Masao丸山眞男 (1914–1996) ist der international wohl bekannteste der vier zitierten Intellektuellen, einer der bedeutendsten japanischen Politikwissenschaftler der Nachkriegszeit.54 Bereits unmittelbar nach dem Krieg betonte er die Notwendigkeit, die demokratischen Strukturen in Japan so zu gestalten, dass diese von der Bevölkerung angenommen würden und keine leere Hülle ohne Geist blieben. Der genannte Aufsatz Logik und Psyche des Ultranationalismus (1946) löste eine erste Diskussion über die in Maruyamas Augen zwingend notwendig zu bewältigende japanische Vergangenheit aus, und wies Maruyama als scharfen Kritiker des Tennosystems aus, der sich nicht scheute, das vorherrschende kokutai-Dogma anzugreifen.55 Demokratie war Maruyama zufolge nicht einfach durch die Veränderung politischer Institutionen verwirklichbar, sondern durch die Errichtung eines neuen, kulturellen Wertesystems. Dieses sollte den Menschen ermöglichen, das Private in die öffentliche Sphäre einzubringen, ohne dabei ihre Individualität oder das Recht, unberührt von staatlicher Kontrolle zu leben, aufgeben zu müssen. For Maruyama the difference in how the person was conceptualized in fascist and democratic systems was symbolized by the terms shutai (free subjects) and kokutai (the state).56
Maruyama hielt die freie Entfaltung des Individuums und das Recht auf Privates für unumstößliche Werte; das kokutai symbolisiert seiner Meinung nach die kriegszeitliche Ideologie, die es aufzuarbeiten und zu überwinden gelte. Angeregt durch die politischen Proteste gegen die Erneuerung des Sicherheitsvertrages beschäftigte Maruyama sich in den 1960er Jahren mit verschiedenen Möglichkeiten der
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Vgl. Joos 2008: 393. So nicht anders vermerkt, sind die folgenden Informationen zu Maruyama Seifert 2007 entnommen. Eine gut verständliche japanischsprachige Einführung zu Maruyamas Werk findet sich bei Tanaka 2009 oder Oguma 2006. Vgl. Seifert 1988: 12. Maruyama widersprach Tsuda, der den Krieg als Ausnahme erachtete und kritisierte dessen fehlende Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (vgl. Mamiya 2007: 98). Maruyama war davon überzeugt, dass nur durch die Abschaffung des Kaisersystems die moralische Autonomie der Japaner verwirklicht werden könne. Allerdings verlangte er nie die Tilgung des ersten Artikels der Nachkriegsverfassung: In seinen Augen bestand die Herausforderung der Nachkriegszeit darin, die Menschen zu Bürgern zu erziehen, die unabhängig vom institutionellen Rahmenwerk in der Lage seien, eine Nation zu bilden (vgl. Karube 2008 [2006]: 112). Mourer 1986: 44.
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politischen Partizipation des „atomisierten Individuums“ in einer Massengesellschaft.57 Zu dieser Zeit wandte sich Maruyama entschieden gegen die aufkeimende Tendenz, in der japanischen ‚Tradition‘ nach positiv besetzten Versatzstücken zu suchen, um diese zu Ausgangspunkten für eine bessere Zukunft zu stilisieren.58 Maruyamas Logik und Psyche des Ultranationalismus Mishima nimmt in Bunka bōeiron an zwei Stellen explizit Bezug auf Maruyamas Werk Logik und Psyche des Ultranationalismus. In diesem frühen Text beschreibt Maruyama die gedankliche Struktur und die psychologischen Grundlagen des japanischen Ultranationalismus, um auf Grundlage einer Analyse des Vergangenen in eine neue Zeit aufzubrechen zu können. Maruyama führt aus, dass der japanische Ultranationalismus kein weltanschauliches System gewesen sei und auch keine eindeutige Begrifflichkeit besessen habe, viel eher seien griffige Parolen instrumentalisiert worden. Weil keine „durch die öffentliche Gewalt gesicherte Fundierung“ existiert habe, sei die Macht des Systems, welche wie ein mehrschichtiges, unsichtbares Netz über Japan geworfen wurde, unbeschränkt geblieben. Eine Ursache für das kaum vorhandene politische Bewusstsein in der Nachkriegszeit sieht Maruyama in „einer psychologisch wirksamen Zwangsgewalt, die jenen Apparat durchdrungen und eine bestimmte Kanalisierung der Emotionen und Verhaltensmuster unseres Volkes erzwungen hat.“59 Auf der Grundlage von Carl Schmitts Entwurf des modernen europäischen Staates als neutralem Staat, der keine Werte vorgebe und nicht definiere, was Wahrheit oder Sittlichkeit sei, sondern dieses Urteil gesellschaftlichen Verbänden wie Kirchen oder dem Gewissen des Einzelnen überlasse, entwickelt Maruyama sein Argument, dass das japanische Werte-Verständnis anders geartet sei als das westliche. In Europa sei die Grundlage der Herrschaft im Äußerlichen, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zu suchen, es werde unterschieden zwischen Form und Inhalt, Außen und Innen, Öffentlichem und Privaten. Während Glaube und Moral im Westen der Sphäre des Privaten angehörten und die öffentliche Gewalt von einem äußerlichen Rechtssystem absorbiert wurde, sei in Japan hingegen der Charakter der Staatssouveränität nie neutral gewesen, sondern habe von Beginn an die inhaltliche Sphäre für sich beansprucht.60
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Maruyama kritisierte die Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre wegen ihrer mangelhaften Konzepte, ihrer Gewaltbereitschaft sowie der fehlenden Verbindung zwischen den Protestierenden und der sozialen Realität der Arbeiter. Im Gegenzug wurde ihm von studentischen Vertretern vorgeworfen, zu einem selbst-betrügerischen Symbol der Nachkriegsdemokratie geworden zu sein. Als Studenten dann im Zuge der Studentenunruhen von 1969 sein Büro durchsuchten, distanzierte er sich vollkommen von der Bewegung (vgl. De Bary 2005: 1094–1097; Karube 2008 [2006]: 5–9). Vgl. Seifert 1988: 14f. Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 114; Maruyama 1964: 12; Zitat ebd. Auffällig ist diese Übereinstimmung vor allem, weil Mishima verschiedentlich, genau wie Maruyama, von „psychologischen Mechanismen“ oder „psychologischen Strukturen“ spricht. Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 115ff.; Schmitt 1982 [1938].
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Wo der Staat die inneren Werte des Wahren, Guten, Schönen durch sein Beharren auf der „besonderen nationalen Verfaßtheit Japans“ (kokutai) in Beschlag genommen hatte, konnten natürlich auch weder Wissenschaft noch Kunst anders als in Abhängigkeit von diesen auf das kokutai bezogenen Wertsubstanzen existieren.61
Maruyama erachtet die Verschränkung von Sittlichkeit und Staatsgewalt im Souverän, der zur Quelle der absoluten Werte stilisiert wird, als ausschlaggebend für die fehlende Verinnerlichung der Moral von Seiten des Individuums. Die im Staatlichen begründete Moral werde allein aufgrund ihrer Wirksamkeit beurteilt; weswegen Moral einerseits in politische Macht transformiert werde, diese jedoch gleichzeitig neutralisiere.62 Dadurch sei die alltägliche Moral beherrscht vom Wunsch nach Nähe zum Tenno, so dass private Ziele mit denen des Monarchen in Einklang gebracht würden. Allerdings werde der Kaiser nicht qua Persönlichkeit, sondern qua Tradition – weil er direkt mit den göttlichen Ahnen in Verbindung stehe – als Quelle dieser absoluten Werte verstanden. Unter Rückgriff auf das bereits im Kaiserlichen Erziehungsedikt verwendete Bild des Volkes als konzentrische Kreise, erörtert Maruyama die Funktion des Kaisers als deren Mittelachse.63 Auf das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem zielt auch Mishima ab, wobei seine Ausführungen ohne die Kenntnis des Aufsatzes unverständlich bleibt. Tatsächlich hätte der ausgesparte Teil zwischen den beiden von Mishima wiedergegebenen Textstellen den Leser ins Bild gesetzt: Darin erläutert Maruyama, dass die Propagandaschriften eine keinesfalls auf das Öffentliche beschränkte Verbindung zwischen Kaiser und Untertanen anstrebten, sondern diese Beziehung ins Private fortgesetzt werden sollte.64 Mishima wirft dem Politikwissenschaftler vor, ahistorisch zu argumentieren: Das Kaisersystem sei nicht immer totalitär gewesen – was Maruyama allerdings im nicht zitierten vorangehenden Satz selbst einräumt –, sondern habe sich erst durch das „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ dahingehend entwickelt.65 61
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Maruyama 2007 [1946]: 119; Maruyama 1964: 15. Der von Seifert als „Wertsubstanzen“ übersetzte Begriff kachiteki jittai 価値的実体 lässt aufgrund der Ähnlichkeit der Schreibweise und der Phonetik sofort an Mishimas „Wert an sich“ kachi jitai 価値自体 denken. Maruyama veranschaulicht dies an einem geschichtlichen Beispiel, nämlich den Reaktionen auf den Austritt Japans aus dem Völkerbund im Jahr 1933 (vgl. Maruyama 2007 [1946]: 124ff.). Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 139. In einer Nachbemerkung zu diesem Aufsatz aus dem Jahr 1964, in welcher Maruyama auf die Kritikpunkte der Rezeption eingeht, fügt er dem Text ein Schaubild bei. Dieses habe bereits 1933 in einem Film mit dem Titel Hijōji Nippon [Japan im Notstand] dazu gedient, eine Rede des Heeresministers Araki zu veranschaulichen. Dass dies mit seinem in Logik und Psyche des Ultranationalismus erarbeiteten Entwurf übereinstimme, hat Maruyama aber laut eigener Aussage erst nach der Erstveröffentlichung des Essays bemerkt (vgl. Maruyama 2007 [1946]: 143). Vgl. Maruyama 2007 [1946]: 120; Maruyama 1964: 15. Indem er den Zeitpunkt der Entartung des Herrschaftssystems und die Unterbrechung der Beziehung zwischen Herrscher und Untertan an das chian iji hō knüpft, in welchem das kokutai über kapitalistische Begriffe definiert worden sei (vgl. BB: 44f.), schafft Mishima eine Übereinstimmung mit seiner Kapitalismus-Kritik, die er in den ersten drei Kapiteln von Bunka bōeiron entwickelt. Denn im Kontext von Logik und Psyche des Ultranationalismus gelesen wird schnell klar, dass das „Private“ aus dem Maruyama-Zitat nicht dasselbe meint wie das im Gesetz zitierte „Privateigentum“; Mishimas Aussagen suggerieren jedoch genau diesen Schluss. Zum Verhältnis von Privatem und Öffentlichem in Japan, vgl. etwa Mamiya 2007.
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Mishima räumt eine Veränderung des Kaisersystems ein und gibt zu erkennen, dass er dessen kriegszeitliche Form ablehnt. Er verschleiert, dass die Zitate nicht Maruyamas Position wiedergeben, sondern dessen historischer Analyse entnommen sind: Mithilfe der Metapher der konzentrischen Kreise, die auf Araki Sadao 荒木貞夫 (1877–1966) zurückgeht, illustriert Maruyama die Funktionsweisen des kriegszeitlichen Tennosystems. Mishima wirft dem Politikwissenschaftler eine Fehleinschätzung des tennōsei vor und drückt somit seine Ablehnung der Indoktrinierung ab 1925 aus. Offenkundig ist Mishima bemüht, alle wichtigen Intellektuellen, die sich mit der Nachkriegsverfassung und der Position des Kaisers beschäftigten, anzuführen, wodurch er eine umfassende Darstellung des Tenno-Diskurses suggeriert.66 Allerdings sind sämtliche Positionen verzerrt wiedergegeben: Mishima zitiert einerseits die nachkriegszeitlichen Positionen Tsudas, als hätten diese nie anders gelautet, äußert sich andererseits aber abfällig über Watsujis gedankliche Kehrtwende. Die als Maruyama-Zitat ausgewiesene Textpassage ist eigentlich eine rekapitulierte vorkriegszeitliche Position eines Militärs, und die Anführung von Sasakis Namen inhaltlich so gut wie nicht belegt.
1.2 Bezüge auf japanische Texte Sein Kultur- und Kaiserverständnis unterfüttert Mishima durch kulturelle Praktiken wie der Teezeremonie, japanische Theaterformen oder verschiedene Ästhetikkonzepte.67 Übereinstimmend mit seiner Argumentation, dass Japaner nur schwach auf Dingen beharrten, führt Mishima kaum materielle Kultur als Bestätigung der Tradition an. Durch die bloße Nennung von kabuki, sadō oder Ikebana ruft er die ‚geistige Komponente‘ der Kultur auf und reiht sich in gängige Nihonjinron-Argumentationsmuster ein. Die folgende Untersuchung der Funktionsweise der genannten Beispiele zeigt, dass sich Mishima vornehmlich auf Werke bezieht, die im Zuge der Erschaffung der modernen Nation als ‚Tradition‘ politisiert wurden. Die Architekten der Nation waren der Meinung, dass insbesondere die Literatur den Charakter des japanischen Volkes formen könne, weil sie Moral, Eleganz und Reinheit vermittle.68
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Akasaka nennt als die vier bedeutendsten Tenno-Theoretiker Abe Yoshishige 安倍能成 (1883–1966), Minobe Tatsukichi 美濃部達吉 (1873–1948), der nach dem Krieg genau wie Sasaki an der Ausarbeitung der Verfassung von 1947 beteiligt war, sowie die von Mishima zitierten Intellektuellen Tsuda Sōkichi und Watsuji Tetsurō (vgl. Akasaka 2007 [1990]: 49f.). Da Mishimas Kulturverständnis zufolge auch Schädliches Teil der Kultur ist, führt er auch budō, Yakuza-Schwertkampffilme, Kamikaze-Einheiten oder den Gedanke des bunbu ryōdō an. Schon vor dem 19. Jahrhundert lassen sich Tendenzen einer Instrumentalisierung der Literatur für nationalistische Interessen erkennen; die kokugaku-Gelehrten und ihre Differenzierung zwischen japanischer und chinesischer Literatur gehören dabei nur zu den bekanntesten Beispielen. Bei Mack findet sich eine Analyse der politischen Funktion eines literarischen Kanons (vgl. Mack 2010).
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1.2.1 Genji-Monogatari und Masukagami Das Genji-Monogatari 源氏物語 ist einer der häufig genannten Referenzpunkte Mishimas. Die wahrscheinlich von der Hofdame Murasaki Shikibu im frühen 11. Jahrhundert verfasste Geschichte vom Prinzen Genji wurde in der Moderne zu einem der bedeutendsten Werke der japanischen Literatur stilisiert. In vierundfünfzig Kapiteln des im Japanischen rund 4 200 Seiten umfassenden Epos wird vor dem Hintergrund des höfischen Daseins zur Jahrtausendwende von den Liebesabenteuern des Prinzen Genji und seinen Nachfolgern berichtet. Gegen Ende der Heian-Zeit, und damit zu Beginn des Niedergangs der höfischen Macht verfasst, vermischen sich idealisierte Schilderungen mit realistischen Alltagsbeschreibungen. Das in japanischer Silbenschrift verfasste Genji-Monogatari lebt von seiner bildhaften Sprache und der detaillierten Herausarbeitung der Wesenszüge seiner Figuren.69 Oftmals als erster psychologischer Roman der japanischen, wenn nicht gar der Weltliteratur bezeichnet, wird das Genji-Monogatari als „unübertroffene[ ] Darstellung des Heian-zeitlichen höfischen Ästhetizismus überhaupt“70 wahrgenommen. Die beinahe 800 waka, welche in die Handlung verwoben sind, sind nicht nur integraler Bestandteil des Werkes, sondern prägten die Standards für die Dichtkunst der folgenden Jahrhunderte entscheidend. Zudem lässt sich seit seiner Entstehung eine umfassende künstlerische Verarbeitung des Genji-Monogatari verzeichnen, die ausgehend von illustrierten Bildrollen sämtliche Bereiche der Bildkünste (genji-e) erfasste, sowie zur Ausbildung und Tradierung fester Ikonographien führte.71 Die Popularität des Genji-Monogatari ist genau wie die Anzahl an wissenschaftlichen Publikationen zu allen nur denkbaren Aspekten des Romans bis heute ungebrochen; anlässlich der Feierlichkeiten zum eintausendjährigen Bestehen des Werkes, dem Genji-Jahr 2008, ließ sich ein weiterer Anstieg an Veröffentlichungen verzeichnen.72 Auch in anderen Medien sowie in der Populärkultur ist der Schürzenjäger Genji nach wie vor präsent: 69
Vgl. etwa Árokay in Arnold: 2009: Bd. 11: 629ff. Das Chinesische, kanbun, fand in Japan ab dem 8. Jahrhundert vornehmlich in der Schriftsprache, für Amtliches sowie in der auf chinesischem Vorbild beruhenden shi-Dichtung Verwendung. Da es an einen hohen Bildungsstandard geknüpft war, galt kanbun häufig als „männlich“. Neben einer chinesisch-japanischen Mischform, gekennzeichnet durch die Japanisierung des chinesischen Wortschatzes, war zudem das reine Japanisch, wabun in Gebrauch. Durch die vergleichsweise einfache Silbenschrift kana, die eine weichere Diktion und die Möglichkeit einer lyrisch-emotionalen Ausdrucksweise ermöglichte, welche im Chinesischen schwer vermittelbar war, wurde wabun häufig als „weiblicher“ Stil bezeichnet. Ab dem 9. Jahrhundert nahm die Beliebtheit der japanischen Gedichte, waka, zu, was sich an der Häufung von Dichterwettstreiten, der Integration der Gedichte in Erzählungen, aber auch der Kompilation der ersten Gedichtanthologie, Kokin wakashū, zeigt (vgl. Hammitzsch 1990³: 873–881, 1522–1525). 70 Paul 1993: 316. 71 Vgl. etwa Árokay in Arnold: 2009: Bd. 11: 631. Eine Auswahl von Bilderrollen findet sich etwa bei Murase 2001; Tanaka 1958; Selliers 2007. 72 Der Forschungsstand und die Fülle der japanischsprachigen Publikationen lässt sich in diesem Rahmen nicht zufriedenstellend erörtern. Verwiesen sei allein auf einen Band, der sich zusammensetzt aus Beiträgen von internationalen Wissenschaftlern bei einem Symposium zum Genji-Jahr (vgl. Genji Monogatari Sennen Kinen Iinkai 2009).
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So wurde das Leben des Protagonisten sowohl zu einem anime als auch zu einem Spielfilm verarbeitet sowie im Manga-Genre umgesetzt, als Oper inszeniert und bildet die Grundlage für ein Videospiel.73 Doch dass das Genji-Monogatari heute wie sonst nur das Man’yōshū sowohl in Japan als auch im Westen häufig in Zusammenhang mit der japanischen ‚Tradition‘ angeführt wird, ist nicht zuletzt auf den „Heian-Boom“ seit dem 18. Jahrhundert zurückzuführen, welcher ein idealisiertes Wiederaufleben der Klassik zur Folge hatte.74 Die kokugaku-Gelehrten sahen im Genji-Monogatari eine spezifische japanische Empfindsamkeit angelegt, welche sich im mono no aware 物の哀れ ausdrücke. In der frühen Meiji-Zeit wurde das Werk zu einer wichtigen Komponente im Prozess der Etablierung der japanischen Nationalliteratur.75 Vornehmlich dem Suma-Kapitel entnommene Textstellen, die in den 1930er Jahren in Schulbücher integriert wurden, sollten den Lernenden die herausragende ästhetische Wirkung, jōshu 情趣, des „größten Meisterwerkes der japanischen Literatur“ vermitteln.76 Die politische Vereinnahmung des Werkes zeigt sich deutlich an der Tatsache, dass Tachibana Jun’ichi 橘純一 (1924–1991) nach der Veröffentlichung des Kokutai no hongi 73
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Auch in Europa wird das Genji-Monogatari seit seiner ersten vollständigen Übersetzung durch Arthur Waley rezipiert und ist nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen präsent, sondern auch immer wieder Gegenstand feuilletonistischer Betrachtungen. Vgl. Suzuki 2008: 251f.; vgl. Lillehoj 2004: 6–12. Bereits die kokubungaku-Gelehrten versuchten, das Genji-Monogatari trotz des sexuell und politisch bisweilen problematischen Inhalts als „Meisterwerk der Nationalliteratur“ zu etablieren. In den 1880er Jahren kreiste die Diskussion jedoch zunächst um die Fragen, ob Die Geschichte vom Prinzen Genji ein realistischer oder idealtypischer Roman sei, wie dessen Stil zu bewerten sei und welche Art von Moral das Werk zu vermitteln in der Lage sei, beziehungsweise ob man es für seine Unzüchtigkeit und Obszönität verdammen solle (vgl. Suzuki 2008: 254f.). Die Diskussionen um die Stärken und Schwächen des Werkes waren vielfältig und müssen vor dem Hintergrund der einsetzenden Beschäftigung mit Begrifflichkeiten und Funktionen von Literatur, auch in Hinblick auf die neuen Maßstäbe durch den Roman der westlichen Literatur betrachtet werden. So wurde in den Interpretationen bisweilen die hohe Stellung der Frau in Japan hervorgehoben, andere Kommentatoren hingegen waren der Ansicht, dass der monotone, auf das wabun zurückzuführende Stil unvermeidlich sei, da das Werk von einer Autorin stamme. Uchimura Kanzō 内村鑑三 (1861–1930) wollte das Genji-Monogatari gar aus dem Kanon verbannen, weil es Feiglinge aus den Japanern gemacht habe. Auch die chinesischen Einflüsse, ersichtlich in den vom Buddhismus geprägten Passagen, wurden bisweilen lobend hervorgehoben, weil diese die Entwicklung zeigten, die das Genji-Monogatari durchlaufen habe (vgl. Suzuki 2008: 254ff.). Während Watsuji das Werk als monoton und redundant kritisierte, lobte etwa Tanizaki gerade diesen Stil (vgl. Suzuki 2008: 267ff.). Vgl. Árokay in Arnold (Hg.) 2009: Bd. 11: 631; Suzuki 2008: 243–250. Diese Ansicht vertrat etwa Tsuda Sōkichi in seinem Werk Bungaku ni arawaretaru waga kokumin shisō no kenkyū (A Study of the Thought of Our Nation’s People as Reflected in Literature). Zugleich gab es Stimmen, die aus der Literatur den Zivilisationsgrad Japans ableiten wollten (vgl. Suzuki 2008: 246f.) oder die Literatur als einen Ausdruck des menschlichen Geistes beschrieben und darin einen Fortschritt in der Entwicklung der Nation und der sich ausweitenden Liebe der Menschen für ihre Nation sahen. Vgl. Suzuki 2008: 271f. Auf das Suma-Kapitel beziehen sich der Autor des Masukagami und Mishima gleichermaßen (vgl. BB: 46).
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eine Verbannung des Werkes aus allen Lehrmaterialien forderte: das Genji-Monogatari sei blasphemisch, da eine der Figuren sich unrechtmäßig des Thrones bemächtigt habe. Angesichts der Ideologie einer ungebrochenen Kaiserlinie wog dieser Vorwurf schwer und veranlasste Tanizaki Jun’ichirō 谷崎潤一郎 (1886–1965) dazu, die entsprechenden Stellen bis nach dem Krieg aus seiner Übersetzung ins moderne Japanisch zu streichen.77 Nach dem Krieg wurde das Genji-Monogatari schließlich re-kanonisiert und gilt seither als Kulturschatz der stilisierten friedlichen, kulturliebenden japanischen Nation.78 Das Genji-Monogatari ruft in Bunka bōeiron einerseits die Einzigartigkeit und Bedeutung der japanischen Literatur auf, andererseits dient es der Bezeugung der japanischen ‚Tradition‘, gemäß Mishimas Verständnis, dass japanische Kultur reflexiv sei und Altes wie Neues beinhalte. Die Reflexivitäts-These ist in jeder der vier Nennungen des GenjiMonogatari angelegt, und erzeugt so die Illusion einer literarischen Kontinuität, die sich vom Genji-Monogatari bis zu den tanka der Avantgarde erstrecke.79 Das Masukagami 増鏡, eine der inoffiziellen japanischen Geschichtschroniken, zieht Mishima als weiteren Beleg für die kulturelle japanische Kontinuität heran.80 In der 17-bändigen, auf Japanisch verfassten Chronik schildert die Erzählfigur, eine einhundertjährige Nonne, aus der Perspektive des Hofes die Ereignisse des Zeitraums zwischen 1180 und 1334. Der Bericht setzt mit der Thronbesteigung des Kaisers Go-Toba 後鳥羽 (Reg. 1183– 1198) ein und beschreibt Politik und Hofleben bis 1221, dem Jahr der Jōkyū-Unruhen, als Go-Toba vergeblich versuchte, die Macht des Hofes zu restaurieren und daraufhin ins Exil verbannt wurde. Beendet wird das Werk mit der Schilderung der Kemmu-Restauration (1333/34), dem letzten Versuch einer Restaurierung der kaiserlichen Macht durch Kaiser Go-Daigo 後醍醐 (Reg. 1318–1339). Die Verfasserschaft des Masukagami wird meist Nijō Yoshimoto 二条良基 (1320–1388) zugesprochen, definitiv kann gesagt werden, dass der Autor des Masukagami mit dem Genji-Monogatari bestens vertraut war: Die Schilderungen von Go-Daigos Exil lehnen sich nicht nur stark an das Buch Suma aus Murasakis Roman an – dieses beschreibt die Verbannung Genjis – , sondern verweisen direkt darauf.81 Den wertenden Kommentaren des Textes ist zu entnehmen, dass der Verfasser des Masukagami ein Anhänger des Kaiserhofes und nach der Spaltung in einen Nord- und einen Südhof ein Unterstützer Go-Daigos war. Diese Präferenz zeigt sich auch an den bemerkenswerten Stilwechseln zwischen der blumigen Sprache, wenn vom Hof die Rede ist und dem nüchternen Stil in den Passagen über das Shogunat. Der Verfasser glorifiziert das unterlegene Kaisergeschlecht und unter-
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Vgl. hierzu auch Kobayashi 2008. Vgl. Suzuki 2008: 276f. Vgl. BB: 22. Die letzte Nennung des Romans im Text dient schließlich durch ein Zitat aus dem Masukagami, in welchem wörtlich auf das Genji-Monogatari Bezug genommen wird, als textueller Beleg für Mishimas Reflexions-These (vgl. BB: 46). Zu den allgemeinen Fakten bezüglich des Masukagami, vgl. Midorikawa 1984: 520f.; Siegmund 1978. Eine annotierte Teilübersetzung findet sich bei Perkins 1998. Vgl. Siegmund 1978: 155–165; Perkins 1998: 1–25.
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mauert dessen Vorbildfunktion und Autorität etwa durch die Anführung kaiserlicher Gedichte.82 Das Masukagami-Beispiel belegt diverse Argumente Mishimas: Zunächst ist es das einzige Werk der inoffiziellen Reichsannalen, welches auf Japanisch verfasst ist, wodurch nicht nur die Geschichte, sondern die Verwendung der eigenen Sprache im Gegensatz zum Chinesischen in den Vordergrund rückt. Darüber hinaus wählt Mishima das Werk, welches auf das Genji-Monogatari Bezug nimmt und von entscheidenden Restaurationsversuchen der kaiserlichen Macht handelt. Zudem präsentiert sich der Verfasser des Masukagami als ein Bewunderer und Unterstützer der Kaiser, die dem Shogunat zu dieser Zeit unterlegen waren. Das Beispiel dient auf sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Ebene der Unterstützung von Mishimas Ausführungen in Bunka bōeiron und ist ein dem Text eingeschriebenes Beispiel für die vom Autor proklamierte kulturelle Reflexivität und Kontinuität. 1.2.2 Die japanische Dichtung Die Dichtung dient Mishima als Paradebeispiel der idealen Verfasstheit der japanischen Kultur: Waka – und damit gleichzeitig auch ästhetische Konzepte wie yūgen, wabi, sabi oder miyabi – bilden Mishima zufolge den Ursprung der japanischen Literatur; nur sie könnten Chrysantheme und Schwert vereinen und die Ganzheitlichkeit der Kultur ausdrücken.83 In der Heian-Zeit wurde zu Zwecken der Abgrenzung von der chinesischen Lyrik der Begriff waka, „japanische Gedichte“, geprägt. Ähnlich wie beim Genji-Monogatari wurde in der späten Meiji-Zeit versucht, die Lyrik als japanisches Kontinuum darzustellen, welches sich gleich einem roten Faden von den Ursprüngen bis in die Gegenwart durch die japanische Literatur ziehe: This “extended continuity” of tanka formed the groundwork for the crucial associations between tanka and both, the imperial system and the character of the Japanese folk or ethnos (minzoku) – that is to say, a people believed to share a common indigenous culture.84
Die waka unterstützten die Erschaffung einer kulturellen Gemeinschaft im Kontext des nationalen und kulturellen Selbstbehauptungsdiskurses. Das von Mishima mehrfach angeführte Man’yōshū 万葉集, die „Sammlung der zehntausend Blätter“ aus dem späten 8. Jahrhundert, wird gemeinhin als älteste japanische Anthologie bezeichnet, in welcher etwa 4500 Verse angeblich aller Gesellschaftsschichten, vom Kaiser bis zum einfachen Bürger, kompiliert sind.85 Tatsächlich war das Man’yōshū ein bis in die Meiji-Zeit weitgehend unbekanntes Erzeugnis der herrschenden Klasse, das
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Vgl. Siegmund 1978: 164f. Vgl. BB: 48. Vgl. Shinada 2000: 42. Vgl. etwa Kato 1990 [1975]: 12–40. Eine Übersetzung des Man’yōshū ins Englische findet sich bei Suga 1991.
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erst in der Moderne zum herausragenden japanischen Klassiker erklärt wurde.86 Genau wie im Falle des Genji-Monogataris wollten die Meiji-Ideologen, in der Annahme, dass ein Land sich nur mit einer solchen in der zivilisierten Weltgemeinschaft positionieren könne, eine einzigartige, ausgezeichnete, japanische Literatur präsentieren. Die Bewertung des Man’yōshū änderte sich in der Taishō-Zeit: Um dem Volk das Gefühl zu vermitteln, dass es ebenfalls an der Bildung des nun postulierten Nationalcharakters, kokuminsei 国民性, beteiligt sei, wurden einige der Gedichte auf Volkslieder zurückgeführt. Gestärkt wurde dadurch letztlich die Aussage, das Man’yōshū spiegle alle Teile der Nation, die mit dem Kaiser als deren Oberhaupt verzahnt wurde, woraus das Argument resultierte, das Man’yōshū sei Ausdruck der Kaiserverehrung.87 If there was one idea that accurately represented the character of the Japanese people and left nothing to be desired, it was the image of a harmonious world comprising a unified culture extending “from the emperor to commoners.” This was precisely the image that was discovered in the Man’yōshū.88
Eine Orientierung an und Nachahmung der Hoflyrik ließ sich auch in Zeiten beobachten, in denen der Kaiser machtpolitisch nicht die stärkste Figur im Land war, da man davon ausging, dass Zivilisation an Kaiser und Hof gebunden war und von dort ins Volk ausstrahlte.89 Faktisch war das Verfassen, Rezitieren sowie der Austausch von Gedichten zu keiner Zeit Angelegenheit aller Japaner, sondern schon immer Aufgabe der Oberschicht.90 Vgl. Shinada 2000: 31ff., 35. Vgl. Shinada 2000: 42f. Dass im Kokutai no hongi auf das Man’yōshū verwiesen wird und zudem daraus entnommene Gedichte zitiert werden, um die Loyalität des Volkes gegenüber dem Kaiser zu veranschaulichten, zeigt, für welche Zwecke die Anthologie in der Moderne eingesetzt wurde (vgl. Hall 1949: 84ff.; Kaiduka 2003: 42). 88 Shinada 2000: 38. Die Meiji-zeitliche Vorstellung, das Man’yōshū sei umfassender Ausdruck des ‚Japanischen‘, entstand in Rückbezug auf das Kokin wakashū 古今和歌集, einer im Auftrag des Kaisers im 10. Jahrhundert kompilierten Gedichtanthologie. Die Kompilation sollte die kaiserliche Herrschaft auf kultureller Basis stützen, weswegen auch in diesem Fall behauptet wurde, dass darin Gedichte aller Bevölkerungsschichten, von Göttern, Kaisern, aber auch einfachen Fischern enthalten seien (vgl. Shinada 2000: 39). Eine Übersetzung des Kokin wakashū, „Sammlung von Gedichten aus alter und neuer Zeit“ findet sich bei Rodd 2004; einführende Informationen etwa bei Árokay in Arnold 2009: Band 9: 235. Häufig wird Masaoka Shiki als eine der führenden Figuren für die Re-Evaluierung des Man’yōshū nach der Meiji-Restauration beschrieben. Shiki war bemüht, den literarischen Wert des Man’yōshū hervorzuheben, welchen er höher schätzte, als das jahrhundertelang als Vorbild für die waka-Dichtung herangezogene Kokinshū 古今集. Shikis Anliegen war, die konservativen, allein auf das Kokinshū fixierten Poeten seiner Tage aufzurütteln, wobei er keineswegs der erste war, der die Dekadenz der Poesie seit dem Kokinshū anprangerte (vgl. Shinada 2000: 34ff.). 89 Vgl. Miner 1968: 5–9. 90 Tatsächlich war Dichtung ein Zeitvertreib, welchem fast ausnahmslos Mitglieder des Hofes frönten: „Composing and exchanging poetry was an integral part of cultural life among courtiers, warriors, and clerics, and it was generally regarded as an area in which the court had supreme expertise. Moreover, the composition of waka poetry was perhaps the only activity of high prestige that turned people’s eyes away from the Asian continent, towards Japan’s ancient roots in an age when the land was populated by kami. The first and most renowned of all imperial collections of poetry, the Kokinshū (Col86 87
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In fact, civilization spread from the court to the provinces, and those who could not claim to be citizens of the capital imitated courtly attitudes as best as they could.91
Dieses Narrativ greift Mishima auf, wenn er vom Kaiser, dem Ursprung des miyabi, als eine Art Satellit spricht, der sämtliche Gedichte zusammenfasse und ästhetische Theorien ausstrahle. Die kaiserliche Lyrik erachtet Mishima als vollendete Dichtkunst, während das nachahmende Volk metaphorisch den Fuß des Berges bilde, deren Spitze der Tenno sei.92 Für Mishima ist wichtig, dass die aus verschiedenen Jahrhunderten stammenden Gedichte den reziproken Austausch zwischen Volk und Herrscher symbolisieren und damit eine entscheidende Komponente für die Verwirklichung von Kultur garantieren.93 Die Annahme, dass der Geist der waka und haiku bis heute existiere und die ästhetische Kultur beeinflusse, wird nicht allein in Japan gepflegt, sondern auch außerhalb Japans selten bezweifelt – das Narrativ hat losgelöst von einer Analyse der Literatur oder der Gedichte Bestand.94 Bereits im Vorwort zum Kokin wakashū 古今和歌集, welches Ki no Tsurayuki 紀貫之 (872–945) wahrscheinlich um das Jahr 905 verfasste, findet sich die Formulierung, dass sich der „japanische Geist“ oder die „japanische Gesinnung“, das kokoro, in der waka-Dichtung niederschlage und darüber hinaus gleichzeitig die Grundlage der schöpferischen Subjektivität der Poeten bilde.95 Die Kompilatoren waren bemüht zu
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lection of waka, old and new, 905), celebrated Japanese verse as an art that was begun by the kami at the time when heaven and earth were first separated from each other. In waka verse, and even in the prose of one of the Kokinshū prefaces, a strict distinction was made between Japanese and Chinese vocabulary, and the countless Chinese loanwords that had become part of the language were systematically shunned by poets. Thus, waka poetics naturally developed into a nativist discourse that stressed the inherent value of things Japanese and that sought to explain the qualities of Japanese poetry in terms of its divine origins.“ (Breen 2010: 141f.). Ein Vergleich zwischen den höfischen Gedichten und denen aus dem Volk zeigt den Unterschied in der Qualität der Lyrik, welcher unter anderem mit dem Bildungsniveau zu tun hat, denn japanische Gedichte sind etwa hinsichtlich der Wortverwendungen strengen Regularien unterworfen. Darüber hinaus beziehen sich einzelne Poeme häufig auf bereits bestehende Dichtung, von welcher der Verfasser Kenntnis besitzen muss. Miner 1968: 5. Vgl. BB: 48f. Tatsächlich kommt auch dem modernen Kaiser eine rituelle Dichterfunktion zu, nicht nur der Meiji-Kaiser ist für seine Poesie bekannt, auch vom Taishō- und Shōwa-Tenno sind Anthologien erhältlich (vgl. etwa Mainichi Shinbunsha (Hg.) 1987). Die Flexibilität der Konzepte sowie die Tatsache, dass zur Beschreibung der Anthologie immer kulturelle und keine politischen Begriffe bemüht wurden, hat dazu beigetragen, dass das Man’yōshū seit Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem es den Kampfgeist der Soldaten anregen sollte, „nur noch“ als einer von vielen Klassikern der japanischen Literatur gilt (vgl. Shinada 2000: 50). Diese Argumentation ist in Nihonjinron-Texten gängig und findet sich auch außerhalb Japans als Klischee weitverbreitet (vgl. Izutsu 1988 [1981]: 10). Vgl. Izutsu 1988 [1981]: 18ff. Izutsu und Izutsu führen in ihrem im Original auf Englisch erschienenen Werk aus, dass kokoro, sobald es sinnlich-wahrnehmbar sei, zu omoi werde. Das ideale Gedicht könne dann entstehen, wenn der waka-Dichter das spontane Hervortreten des omoi aus seiner Quelle, dem waka, erlebe und darin einen verbalen Ausdruck finden kann. Oder in anderen Worten: Kokoro ist Ausdruck der höchsten schöpferischen, von den Verfassern in Großbuchstaben wiedergegebenen Subjektivität (vgl. Izutsu 1988 [1981]: 26–38).
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definieren, was japanische Lyrik sei, weswegen das Kokinshū häufig in Abgrenzung seines chinesischen Vorbildes, der Wen Xuan 文選-Anthologie betrachtet wurde. Die Vorworte des Gedichtbandes setzen sich mit literaturtheoretischen Standpunkten etwa bezüglich Inhalt und Form auseinander sowie mit „grundsätzliche[n] Fragen […] nach den Merkmalen des Ästhetischen und Schönen, dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit und dem Wert von Imitation und Originalität“.96 Obgleich Mishima das Kokinshū nicht explizit nennt, ist anzunehmen, dass sich seine Überlegungen zu Form, Inhalt, Subjektivität, aber auch der Bedeutung und Funktion einer kaiserlichen Anthologie darauf beziehen, zumal das Kokinshū bis ins 19. Jahrhundert die Ansprüche an die japanische Dichtung definierte:97 Auf die angebliche ‚Japanizität‘ des Sammelbandes wurde nicht nur von den kokugaku-Gelehrten verwiesen, sondern Watsuji Tetsurō befasste sich in den 1920ern ebenso mit Dichtungskonzepten wie der patriotische Schriftsteller Hasuda Zenmei im kriegszeitlichen nationalistischen Diskurs.98 Mithilfe eines Rückgriffs auf die waka verdeutlicht Mishima verschiedene Thesen: Einerseits zeige sich die Nichtigkeit der Konzepte Original und Kopie in der dichterischen Technik des honkadori, bei der durch die Adaption eines bekannten Gedichts ein neues geschaffen wird.99 Andererseits evoziert allein die Nennung der ästhetischen Konzepte wabi, sabi, yūgen oder miyabi, aber auch der Verweis auf die Mythen oder Yata no kagami 八咫鏡 einen Zusammenhang mit dem Kaiser als Quelle der Ästhetik, Moral und Revolution. Mishima vertraut auf die Signalwirkung, die von nō, kabuki, den Literaten Chikamatsu und Saikaku oder den ‚Wegen‘ ausgeht, und das Gefühl eines ‚genuin Japanischen‘ hervorruft. Die Anrufung der japanischen Tradition zu Zwecken der Identitätsbildung funktioniert hier wie dort identisch. Sie entspricht dem Versuch einer Verteidigung des kulturellen Konzeptes und einem seit Beginn der Meiji-Zeit charakteristischen Argumentationsmuster, das auch Okakura Tenshin und Tanizaki Jun’ichirō einsetzen.
Paul 1993: 319. Das japanischsprachige Vorwort von Ki no Tsurayuki gilt als „Ursprung der japanischen Poetologie“ (Árokay in Arnold 2009: Bd. 9: 235). 97 Vgl. Árokay in Arnold 2009: Bd. 9: 234ff. 98 Vgl. Odakane 1989: 404; Ackermann 2000: 8; Suzuki 2008: 267ff. Ähnlich wie im Fall des GenjiMonogatari war auch der Einfluss des Konkinshū auf die bildenden Künste enorm (vgl. Komachiya 1991). Obgleich immer wieder betont wird, dass es sich beim Kokinshū um eine vom Kaiser in Auftrag gegebene Anthologie handle, ist dies faktisch nicht korrekt. Diese Zuschreibung tritt erstmals zwei Jahrhunderte nach dem ersten Erscheinen der Kompilation auf, woraus sich schließen lässt, dass die Anthologie von einem Fujiwara-Regenten in Auftrag gegeben und dem Hof nach ihrer Fertigstellung präsentiert wurde. Die Kompilation spiegelt die Interessen mehrerer mächtiger Figuren am Hof und muss als Palimpsest der Interessen von diversen sozialen Gruppierungen und historischen Augenblicken gelesen werden, in dem sich auch die verschiedenen Machtinteressen der Kaiser, der abgetretenen Kaiser und der Aristokraten spiegeln. Der Text ist ein Modell eines offiziell sanktionierten Textes, der die Autorität am Hofe und durch eine Poetikanthologie auch dessen Einheit spiegeln sollte (vgl. Heldt 2008: 131–136). 99 Vgl. BB: 24. 96
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Masaoka Shiki Einer der impliziten Verweise auf die japanische Dichtung, welcher nicht über die plakative Beschwörung des ‚Japanischen‘ funktioniert und der vielleicht aus diesem Grund bislang unkommentiert geblieben ist, referiert auf Masaoka Shiki 正岡子規 (1867–1902).100 Mishimas Charakterisierung der Volksgedichte als „banal“, tsukinami 月並, greift die Bezeichnung auf, mit der Shiki den haiku-Stil der Tokugawa-Zeit bezeichnete. Shiki, der ‚Vater des modernen haiku‘ und Initiator der Meiji-zeitlichen tanka- und haiku-Reform, wurde von seinem Großvater, einem überzeugten Samurai, in einer Zeit, in der dieser Berufsstand abgeschafft wurde, erzogen, der seinen Enkel klassisches Chinesisch und die konfuzianischen Lehren lehrte. An Samurai-Idealen wie der Verachtung von materiellem Wohlstand oder einer Unerschrockenheit vor dem Tod hielt Shiki fest, auch nachdem er sich für ein Leben als Literat entschieden hatte.101 Shiki verhalf den aus 17 Moren bestehenden Gedichten, welche in seiner Zeit nicht zu den angesehenen literarischen Gattungen gehörten, durch seine Reformen zu neuer Popularität. Nachdem sich Shiki mit den neuen, aus dem Westen kommenden Genres beschäftigt und sich in den meisten auch versucht hatte, wandte er sich der Dichtung zu und verschrieb sich einer Lyrik-Reform, um sich von den überkommenen Traditionen zu lösen. Diese sollte die haiku und tanka wiederbeleben, welche in der Edo-Zeit zu einem starren Genre verkommen waren, in dem vornehmlich der große haiku-Dichter Bashō nachgeahmt wurde.102 Shiki rief die Dichtergruppen dazu auf, haiku über ihre eigenen, alltäglichen oder als langweilig empfundenen Erfahrungen und Empfindungen zu schreiben und sich von den traditionellen Beschränkungen in Stil, Wortwahl und Thema zu befreien, die seit der Edo-Zeit zu einer mechanischen Landschaftsbeschreibung geführt hatten. Er regte zu mehr Freiheit und Natürlichkeit hinsichtlich der Form an – wobei Shiki keinesfalls die Morenzahl in Frage stellte, denn in der Kürze der haiku sah er deren Stärke – und plädierte für mehr Realismus bei Die Angaben zu Shikis Leben sind, so nicht anders vermerkt Beichman 2002 [1982] und Nihon Kindai Bungakukan hen 1977–78, Band 3: 227–231 entnommen. Den Wandel zwischen modernen und traditionellen haiku thematisiert Shiki in Dialogform in einem Haiku mondō [Diskussion über haiku] betitelten Aufsatz aus dem Jahr 1896 (vgl. Masaoka 1975 [1896]). 101 Shiki sollte in seiner Funktion als Kriegsberichterstatter in den chinesisch-japanischen Krieg geschickt werden. Letztlich traf Shiki allerdings erst nach der Unterzeichnung des Vertrages von Shimonoseki, der den Krieg beendete, in China ein. Aus seinen unmittelbar vor seiner Ankunft in China verfassten Briefen geht hervor, dass sein bushidō-Ideal durchaus ambivalent war und er dem Tod nicht ausschließlich gleichgültig entgegensah. Im Anschluss an seine Rückkehr nach Japan wurde Shiki in Matsuyama, wo er beim damals noch unbekannten Natsume Sōseki 夏目漱石 (1867–1916) wohnte, zum Mentor einer Gruppe von haiku-Dichtern, die er in seinen seit etwa 1892 entwickelten, neuen haiku-Stil einführte. 102 Vgl. Beichman 2002 [1982]: 18. Shiki wollte die strengen Normen und festgelegten Ausdrucksweisen aufbrechen, zu welchen etwa die Jahreszeitenworte kigo 季語 gehörten, ohne welches ein haiku nicht als haiku galt. Zudem kritisierte er das quasi nicht existente literarische Ich sowie die Ausschließlichkeit, mit der über das Thema Natur geschrieben wurde (vgl. Diakanova 2009: 87–90). Zu Shikis Zeit dienten die Gedichte aufgrund ihrer Kürze häufig als Ausdruck von Wortspielen, denen es aber an eigener Ausdrucksstärke, Inspiration und vor allem Tiefe mangelte (vgl. Masaoka 1997: 6). 100
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der Themenwahl.103 Die Reform Shikis war dabei mitnichten von der Tradition gelöst: Bei der Ausarbeitung seiner Theorie bemühte er der chinesischen Dichtkunst entnommene ästhetische und poetologische Begriffe, Ki no Tsurayuki als wichtigsten Dichter der HeianZeit sowie frühe waka-Traktate aus dem 10.–13. Jahrhundert.104 Der Literat ging von einer Unterteilbarkeit der Phänomene in das Elegante, ga 雅, und das Niedere, zoku 俗, aus: Obgleich der Hof, welchem das miyabi 雅 zu eigen sei, das Niedere ablehnte, vertrat er die Ansicht, dass beide Elemente Einzug in moderne Gedichte erhalten sollten, denn diese bedürften aufgrund der veränderten Erfahrungen auch neuer Darstellungsformen.105 Mishimas implizite Bezugnahme auf Masaoka Shiki ist durch die Wortwahl tsukinami für die aus dem Volk kommende Dichtung eindeutig. Sein Verständnis von miyabi als ursprünglich dem Hof zugeordneter Kategorie, die vom Volk nachgeahmt werden könne, deckt sich weitgehend mit Shikis Vorstellung. Zudem ist die Lebensgeschichte Masaokas Paradebeispiel für das von Mishima gepriesene bunbu ryōdō, der Verbindung von Kampfkunst und Literatur: Erzogen als Samurai, beherrschte Shiki die Literatur ebenso wie die Kampfkunst und realisierte die Einheit von Chrysantheme und Schwert, die Mishima zufolge allein in der Gedichtkunst verwirklicht werden könne.106 Masaoka Shiki hat durch seine Bemühungen um die Revitalisierung der haiku geleistet, was Mishima in Bunka bōeiron fordert: eine Wiederbelebung dessen, was er als ganzheitliche, traditionelle Kultur versteht. Der banale Stil der Volksgedichte seit der Edo-Zeit, den Mishima als „Austrocknung der Kreativität“ bezeichnen würde, wird von Shiki überwunden, indem er eine traditionelle Form neu aufleben lässt und das freie Subjekt zur Kulturproduktion anregt.107 Obgleich Shiki den Kaiser nicht als Ursprung der Dichtung und tanka nicht als die Essenz des Japanischen bezeichnete108, galt auch ihm das Man’yōshū als Quelle herausragender Poesie. Er verlangte, die aristokratische Dichtung auszuweiten und den festgefahrenen Blickwinkel, die starre Ausdrucksweise aufzubrechen. Shikis Lyrikreform bewegt sich innerhalb dessen, was Mishima die Möglichkeiten von Kultur als Form bezeichnet: Obgleich der Inhalt innerhalb gewisser Grenzen geändert wird, spiegelt er die ‚japanische Seele‘.109 Auf seine Vgl. Diakanova 2009: 87, 91; Masaoka 1997: 9. Die gleichen Maßstäbe wandte Masaoka Shiki auch bei seiner intendierten tanka-Reform an, mit der er allerdings einerseits aufgrund seiner Krankheit, andererseits weil er nicht der einzige war, der eine Öffnung dieses Genres anstrebte, nicht so erfolgreich war wie mit seiner haiku-Reform. Interessant wäre zu prüfen, in wie weit er zur Popularisierung der Dichterzirkel im Japan der 1880er und 1890er Jahre beigetragen hat, die eine Plattform für Laien darstellten, um gemeinsam und teilweise unter Anleitung eines Lehrers selbst Gedichte zu verfassen und darüber zu diskutieren. 104 Vgl. Diakanova 2009: 88. Shiki hatte zwar behauptet, Ki no Tsurayuki sei ein schlechter Kompilator und Dichter gewesen, seine Theorien dienten Shiki aber als Grundlage für seine Reform der Dichtkunst (vgl. Keene 1995: 355f.). 105 Vgl. Diakanova 2009: 99. 106 Vgl. BB: 48. 107 Vgl. BB: 22, 26f. 108 Vgl. Dolin 2009: 108. 109 Vgl. BB: 22. In Bezug auf Shiki formuliert Diakanova: „In other words, he [Masaoka Shiki] tried to improvise within the framework of the canon that provided such freedom.“ (Diakanova 2009:99). 103
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Weise war auch Shiki Traditionalist: Im Gegensatz zu manch anderem forderte er nicht die Abschaffung der Gattungen haiku und tanka, sondern bemühte sich um eine zeitintensive Reformierung der Genres, ohne dabei die ästhetischen Konventionen und das Heian-zeitliche, literarische Erbe zu missachten. Shiki bemühte sich um eine im Kern konventionelle Revitalisierung der Dichtung im Geiste des Man’yōshū – ähnlich wie die Vertreter der kokugaku, die als Quelle der Inspiration die Gedichte der Heian-Zeit ausmachten. Diese neuen haiku sind im Sinne von Mishimas Kulturverständnis nicht nur subjektiv, weil sie zur Neuerschaffung anregen, sondern aufgrund der Bezugnahmen auf Vorläufergedichte auch reflexiv. Da sich die waka- oder tanka-Tradition bis in die Heian-Zeit zurückverfolgen lässt, ist sie zudem Ausdruck kultureller Kontinuität. Somit erfüllen sie, wie von Mishima behauptet, alle Merkmale der japanischen Kultur und sind somit deren ideale Verkörperung. 1.2.3 Die Reichsannalen Mithilfe der Mythen aus dem Kojiki (712) beziehungsweise dem Nihonshoki (720) demonstriert Mishima, dass in der Verwirklichung der ganzheitlichen Kultur die Möglichkeit von Revolutionen liegt.110 Die Geschichte vom ungestümen Windgott Susanoo, der seine Schwester, die Sonnengöttin Amaterasu, so bekümmerte, dass diese der Welt ihr Sonnenlicht entzog, kennt jedes japanische Kind. Mishima ruft an dieser Stelle die Assoziation zur göttlichen Legitimation des japanischen Kaiserhauses auf, denn Susanoo wird schließlich auf die Erde verbannt, wo er das japanische Herrschergeschlecht begründet.111 Mishima nutzt die Assoziativkraft der Mythen, deutet diese aber um. Er setzt die Göttergeschichte in Bezug zu Chrysantheme und Schwert und erklärt, dass im Mythos beide Elemente, das Kämpferische und das Ästhetische, Susanoo und Amaterasu, vereint seien und gegebenenfalls durch die Kultur versöhnt würden. Diese Parallelisierung geht mit Mishimas Argumentation konform, dass Handlungen – etwa das Hervorrufen des göttlichen Gelächters, welches Amaterasu dazu bewegt, sich wieder in die Welt zu begeben – einen zentralen Teil der Kultur darstellen. Mishima leitet daraus ab, dass die Möglichkeit eines Aufruhrs, wie dieser durch den Entzug des Sonnenlichts von Amaterasu angezettelt wurde, bereits im Gründungsmythos des Herrschergeschlechts angelegt war. Solange Rebellionen zum Erhalt des miyabi vollzogen werde, sei ein Aufruhr legitim.112 Die forcierte Anbindung stellt einen Legitimationsversuch gegenwärtiger Revolten dar, die Mishima indirekt fordert.
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Vgl. hierzu etwa Brownlee 1991: 8–40; Takamitsu 2000.
111 Vgl. Chamberlain 1932: 64–67; Naumann 1996: 67–86. 112
Ob Amaterasu durch den Entzug des lebensnotwendigen Sonnenlichts tatsächlich nur ästhetische und moralische, jedoch keine autoritäre Kritik an Susanoo übte, bleibt allerdings fraglich. Mishima versucht durch diese Argumentation die Sonnengöttin und damit auch die japanischen Kaiser als per se kulturelle Wesen zu etablieren, die nicht machtpolitisch agierten, sondern ausschließlich ästhetische und moralische Standpunkte bezögen.
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1.2.4 Hasuda Zenmei und Niwa Fumio Die Trennung von Subjekt und Objekt exemplifiziert Mishima ebenfalls an einem literarischen Beispiel, wenn er die Kritik des patriotischen Schriftstellers Hasuda Zenmei 蓮田 善明 (1904–1945) an seinem Kollegen Niwa Fumio 丹羽文雄 (1904–2005) reflektiert:113 Hasuda habe Niwa kritisiert, weil dieser statt die Soldaten im Kampf zu unterstützen, lieber Aufzeichnungen über die Schlacht gemacht habe.114 Als Beobachter von Marineoperationen lief Niwa 1942 als Kriegsberichterstatter mit dem Kreuzer Chōkai aus. An Bord dieses Flaggschiffs erlebte er die Schlacht um die Salomonen und wurde bei Tulaghi verwundet. Diese Erfahrungen verarbeitete Niwa in den beiden während des Krieges zensierten, autobiographischen Texten Kaeranu chūtai [Nicht wiederkehrende Kompanie] und Kaisen [Seeschlacht]; letzteres zitiert Mishima in Bunka bōeiron. In Kaisen schildert der Erzähler detailliert das alltägliche Dasein auf dem Kriegsschiff, auf dem er sich mit elf anderen Kriegsberichterstattern, darunter Zeitungsleute, ein Kameramann und ein Maler, befindet. Die schweren Kämpfe mit dem amerikanischen Feind beschreibt Niwa ebenso en detail wie die verletzten und toten Körper, von denen er sich umgeben sieht. Auch seine eigene Verwundung und seine Schmerzen thematisiert Niwa.115 Hasudas Forderung, Niwa hätte lieber kämpfen statt schreiben sollen, möchte Mishima überdacht wissen. Eingebettet in seine Ausführungen zur Subjektivität der Kultur erklärt Mishima, Niwa habe in der Entstehungsphase von Kaisen seine Subjektivität abgelegt. Mishimas Kommentar, dass Niwas Wesen „zu jener Zeit selbst wie eine empfindliche Kamera war, abhängig von einer Objektivität ohne Subjekt“116, beschreibt die für Kaisen gewählte Darstellungsweise ebenso wie die Handlung des Werkes: Niwas Ich-Erzähler schließt sich dem Kameramann Maruyama an, der ebenfalls als Kriegsberichterstatter auf dem Schiff tätig ist und schildert die Ereignisse aus der Kameraperspektive.117 Mishima lobt, dass Niwa sich in dieser Situation für Objektivität statt für die Subjektivität entscheidet, weil damit das „bestmögliche“ Werk erzielt wurde. Mit diesem Hinweis auf die notwendige Entscheidungsfreiheit für Künstler, bezieht er Stellung zu einer nachkriegszeitlichen Debatte: Die Kommunistische Partei forderte, Schriftsteller sollten ihren subjektiven Blickwinkel zugunsten eines objektiven, die Masse berücksichtigenden Blicks
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Die Biographie Niwas sowie dessen literarisches Wirken lässt sich nachlesen im Nihon Kindai Bungakukan hen 1977–78, Band 3: 20ff. Hasuda beging nach der Kapitulation Japans am 19. August 1945 in Johor Bahru auf der malaiischen Halbinsel Selbstmord; einer Notiz in seiner Hand war zu entnehmen, dass er sich für das japanische Kaiserreich opfere. Die Gründe von Hasudas Selbstmord, vor welchem er seinen befehlshabenden Vorgesetzten erschoss, waren Anlass für zahlreiche an dieser Stelle unbedeutende Spekulationen (vgl. Nihon Kindai Bungakukan hen 1977–78, Band 3: 57). Vgl. BB: 25; Niwa 1975 [1942]. Vgl. Niwa 1975 [1942]: etwa 83ff. BB: 26. Interessanterweise lässt sich auch hier eine Verbindung zu Masaoka Shiki herstellen, der in seinem vieldiskutierten, von der Photographie beeinflussten Konzept des shasei 写生 versuchte Eindrücke und Natur so realistisch wie möglich wiederzugeben (vgl. Dolin 2009: 110f.).
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aufgeben.118 Mishima übt keine Pauschalkritik am Kommunismus, sondern betont, dass die Handlungen das beste Ergebnis hervorbringen müssten. Mishima pflegte eine freundschaftliche Beziehung zu Hasuda, einem Mitglied der japanischen romantischen Schule, Nihon Roman-ha, und frühen Bewunderer Mishimas. Im Vorwort zu Mishimas erstem Roman Hanazakari no mori [Ein Wald in voller Blüte] pries er den Nachwuchsautor als Erbe der japanischen Geschichte, der aus der Roman-ha hervorgegangen sei. Interessanterweise hat sich der glühende Patriot Hasuda in seiner kurzen literarischen Schaffensperiode in diversen Aufsätzen mit miyabi beschäftigt. In Chūseishin to miyabi [Loyalität und miyabi] – einem Text, der im Jahr 1944 erstmals im Rahmen einer Radiosendung vorgetragen und 1997 vom Verlag Ōzorasha als 39. Band in die Buchreihe Nihonjinron aufgenommen wurde – befasst sich Hasuda auch mit der Verbindung zwischen miyabi, Dichtkunst und dem Kaiserhaus.119 Hasuda kritisiert die Absenz von miyabi in der gegenwärtigen Literatur und fordert, die Japaner sollten nicht auf Grundlage der europäischen Ästhetik versuchen, indigen ästhetische Konzepte wie wabi, sabi oder yūgen zu verstehen, da sich die Gefühle des kaiserlichen Untertanen nicht durch externe Konzepte begreifen ließen.120 Auch sei miyabi nicht, wie dies von zeitgenössischen Literaten versucht werde, mit Logik zu erfassen, sondern müsse gefühlt werden. Hasuda stellt seinen Ausführungen zwei kaiserliche Gedichte aus dem Man’yōshū voran. Anhand dieser und weiterer Poetik-Referenzen führt er aus, dass das in den Gedichten enthaltene miyabi nicht ohne kokoro 心, „das Herz“, „den Geist“, seishin 精神, oder „das Gemüt“, jōi 情意, zu denken sei und erklärt damit einen angeblich spezifisch japanischen Begriff mit Termini, die er ebenfalls als unübersetzbar deklariert. Hasuda beruft sich an dieser Stelle auf das Kokinshū, in welchem die Existenz des kokoro für die Dichtung als notwendig beschrieben wird und bemüht ein Argument, welches sich bei den Vertretern der kokugaku ebenso findet, wie in zahlreichen vor- und nachkriegszeit lichen Nihonjinron.121 Während die Kaiserloyalisten und die kokugaku-Gelehrten die Gedichte des Man’yōshū noch zu schätzen wussten, sei die Fähigkeit, miyabi zu erkennen und in der Dichtung zum Einsatz zu bringen mit der Zäsur, welche die Ankunft des Westens in der Vgl. Koschmann 1991 [1988]: 164. Der zweite Verweis auf den Niwa zugeschriebenen „Enthüllungsroman“ Shinodake gibt keinen weiteren Aufschluss zu Mishimas Standpunkt; das Werk ist trotz intensiver Recherchen nicht ausfindig zu machen. 119 Vgl. Zenmei 1997 [1944]: 403–448. Dem Vorwort der Neuauflage ist zu entnehmen, dass in der 40-bändigen Reihe die wichtigsten Nihonjinron-Schriften bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gebündelt werden sollten, da sich kein anderes Land so intensiv mit der eigenen Nation und dem Volksgeist auseinandergesetzt habe wie Japan. Die Lektüre der Reihe trüge dazu bei, dass der Seelenzustand der Japaner zu verschiedenen Zeiten nachempfunden werden könne und sei auch für Überlegungen hinsichtlich des Weges, den die Großmacht Japan eingeschlagen habe von Nutzen. 120 Vgl. Akiyama 1984: 7, Fußnote 8: 33. Hasudas Argumentation veranschaulicht die japanische Selbst-Exotisierung, die im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Westen in der Meiji-Zeit einsetzte und zu einer Romantisierung der angeblich einzigartigen japanischen Ästhetik führte (vgl. Marra 2010: 49–56). 121 Der relevante Hasuda-Textteil findet sich bei Odakane 1989: 404–410. Hasuda nimmt im Verlauf seiner Ausführungen auch direkt auf das Kokinshū Bezug, wenn er die Einteilung der waka auf Grundlage der chinesischen Klassifizierungen übernimmt (vgl. Odakane 1989: 405). 118
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Meiji-Zeit bedeutet habe, verlorengegangen. Die japanischen ästhetischen Konzepte makoto 真, aware, yūgen oder sabi drückten die Gefühle des Kaiserreiches aus und könnten deswegen nicht auf Grundlage der Logik der „westlichen Barbaren“ verstanden werden.122 Auch Hasuda verwendet miyabi selbsterklärend und erläutert, dass der Begriff nicht rational definierbar sei, sondern allein von Japanern gefühlt werden könne und Ausdruck der japanischen Kaiserverehrung sei. Das Argument, der Westen habe den Verlust des ‚indigen‘ Japanischen – in diesem Fall eine Zeit ohne miyabi – zu verantworten, und sei für die gegenwärtige Dekadenz verantwortlich, ist im nationalistischen Diskurs gängig. Auch der Rückbezug auf die kaiserlichen Gedichte des Man’yōshū als archaisches Paradebeispiel für ‚wahre‘ Dichtung und die Behauptung, der Kaiser sei die Quelle des miyabi, welches allein von Japanern gefühlt werden könne123, gehören zu den sich wiederholenden Argumentationsmustern. Aufgrund der Übereinstimmung in der Argumentation ist zu vermuten, dass Mishima die Schriften des Freundes kannte und sich daran orientierte. 1.2.5 Kokutai no hongi und Shinmin no michi Einige der Kerngedanken von Bunka bōeiron, etwa die Idealisierung des bushidō sowie die Selbstaufgabe für den Kaiser, erinnern an Formulierungen aus den beiden zentralen Propagandatexten, dem Kokutai no hongi [Grundprinzipien des Staatswesens] von 1937 sowie dem vier Jahre später von Watsuji Tetsurō mitverfassten Shinmin no michi [Der Weg der Untertanen]. Beide Texte sollten den Kaiser im Mythos verankern und das Volk unter ihm einen. Die im Kokutai no hongi beschworene Ethik orientiert sich am bushidōIdeal, welches als Charakteristikum der japanischen Moral stark gemacht wird:124 Es gelte, bushidō in der kaiserlichen Armee zu verwirklichen, um eine nationale Verteidigung zu etablieren und eine moralische Werteordnung zu errichten.125 Vgl. Odakane 1989: 406. Seii 西夷 wurde als ‚westliche Barbaren‘ ins Deutsche übertragen. Die Verbindung zwischen Kaiserhaus und miyabi ist für Hasuda eine naturgegebene. 123 Vgl. Odakane 1989: 407; Akiyama 1984: 33, Fußnote 7. Interessant ist, dass Akiyama in seiner Erläuterung zu miyabi aus dem Jahr 1984 Hasudas Argumentation weitgehend übernimmt (vgl. Akiyama 1984). Darüber hinaus lassen sich hinsichtlich des Poesie-Verständnisses ebenfalls deutliche Parallelen zwischen Mishima und Hasuda ausmachen. In Shi no tame no zakkan [Gedanken zur Dichtung] erklärt Hasuda, der nicht näher definierbare Geist der japanischen Poesie sei die Originalität der japanischen Kultur (vgl. Odakane 1989: 47–50, hier: 47). Mishima hingegen spricht von den waka als originär japanischer Gedichtform und sieht darin die beste Möglichkeit der Verwirklichung der japanischen Kultur (vgl. BB: 48). 124 Mishima nennt zusätzlich mehrfach das Hagakure (Yamamoto 1984; Yamamoto 2002), und spielt auf den ersten Satz an, dass der Weg des Samurai der Tod sei. Dieser zu Kriegszeiten instrumentalisierte „Samurai-Kodex“ sollte den Kampfgeist der Japaner auf ihr japanisches Erbe zurückzuführen (vgl. Bierwirth 2005; hier insbesondere 37ff.). Mishima selbst hat sich intensiv mit dem Hagakure beschäftigt: 1967 verfasste er einen Kommentar dazu, durch welchen er die Bedeutung der Schrift in Friedenszeiten zu plausibilisieren versucht (vgl. HNY; Mishima 1987). 125 Vgl. Hall 1949: 144ff.; Kaiduka 2003: 24ff.; 110f. Loyalität dem Kaiser gegenüber, die keine Selbstaufopferung, aber das Hintenanstellen des eigenen Selbst zu Gunsten des Staates bedeute, könne, so der Text, vom individualistischen Standpunkt des Westen nicht verstanden werden (vgl. Naumann 1987:178ff.). 122
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Ähnlich wie im Kokutai no hongi, in welchem die westliche Moderne und der abendländische Individualismus für den geistigen Niedergang Japans verantwortlich gemacht werden, heißt es in der Präambel von Shinmin no michi: With the influx of European and American culture into this country, however, individualism, liberalism, utilitarism, and materialism began to assert themselves, with the result that the traditional character of the country was much impaired and the various habits and customs bequeathed by our ancestors were affected unfavorable.126
Dasselbe Gefühl motiviert Mishima 27 Jahre später zur Niederschrift des Essays Bunka bōeiron, in dem er Verwestlichung, materialistische und utilitaristische Denkweise und Individualismus an den Pranger stellt. Da die Situation Japans nach dem Krieg Parallelen zur ersten Begegnung mit dem Westen in der Meiji-Zeit aufwies, lässt sich auch die Angst vor einer unkontrollierbaren Übernahme westlichen Gedankenguts und dem Verlust der Tradition vor und nach dem Krieg in gleichen Phrasen artikulieren. Von Mishima und den Propagandaschriften wird gleichermaßen die Kritik hervorgebracht, dass japanische Werte vom Westen nicht verstanden würden, sondern nur Japanern intuitiv zugänglich seien. Darüber hinaus gleichen sich Themenkomplexe sowie das verwendete Vokabular: Der Weg des Untertanen ist laut den Propagandaschriften klar definiert: Die ganze Nation dient dem Kaiser in dem Geist, der den Japanern aufgrund ihrer Verbindung zu den Göttern zu eigen ist.127 Um den Kaiser, das Zentrum der Nation, gruppiert sich das Volk, welches im Einklang mit dem Tenno denkt, handelt und gar mit ihm identisch werden will.128 Um diese Vorstellung im Zuge der Ideologisierung in der Meiji-Zeit bildhaft zu vermitteln, wurde der Kaisers als Quelle tituliert, aus welcher der japanische Geist und die Moral des Landes entspringe. The Imperial Familiy is the fountain source of the Japanese nation, and national and private lives issue from this.129
Die Idee einer fortwährend sprudelnden Quelle dient der Veranschaulichung der Verbindung zwischen Kaiser und Volk. Diese wird zudem – äquivalent zum Verhältnis zwischen Amaterasu und den Kaisern – als eine zwischen Vater und Kind beschrieben.130 Genau wie das Bild des Kaisers als Quelle von Moral, Ästhetik und Ethik, greift Mishima auch die Konnotation der familiären Bindung auf und verstärkt sie durch die Verwendung von
Lu 1997: 436; Kaiduka 2003a: 1. Kaiduka 2003a: 79. 128 Vgl. Hall 1949: 99. 129 Lu 1997: 439; Kaiduka 2003a: 73f. Diesbezüglich heißt es weiter: „Japan is the fountain source of the Yamato race, Manchuko is its reservoir, and East Asia is its paddy field.“ (Lu 1997: 440, Kaiduka 2003a: 80). 130 Im Kokutai no hongi wird darüber hinaus angeführt, dass das besondere japanische Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan vom westlichen, individualistischen Standpunkt nicht begriffen werden könne (vgl. Hall 1949: 81f.; Kaiduka 2003: 35f.). 126 127
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Termini wie Ursprung, Strom, Mutterleib oder Weitergabe.131 Zwar bestimmten die Kritik an der japanischen Verwestlichung und der Wunsch nach einer Kaiserfigur bereits die Versuche der Meiji-Eliten, das Volk unter dem Kaiser zu einen, doch insbesondere die fortwährende Verherrlichung der Selbstaufgabe für den Kaiser in Bunka bōeiron legt nahe, dass Mishima von der Kriegspropaganda beeinflusst war.
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Eine Volltextsuche im Internet ergab, dass sich der von Hall als fountainhead, kongen 根源, übersetzte Begriff im Kokutai no hongi insgesamt neun Mal finden lässt und immer als Metapher für die Verbindung zwischen Kaiser und Volk fungiert (vgl. etwa Hall 1949: 79f.; Kaiduka 2003: 33f.). Gleichbedeutend verwendet Mishima den Ausdruck gensen 源泉, beziehungsweise bei der letzten Nennung genryū 源流 (vgl. BB: 16f., 29, 49).
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2.1 Bezüge auf westliche Literatur Ruth Benedicts (1887–1948) Werk The Chrysanthum and the Sword. Patterns of Japanese Culture ist der bedeutendste intertextuelle Verweis in Bunka bōeiron. Allerdings nennt Mishima weder die Autorin noch die Entstehungsgeschichte der insgesamt acht Mal genannten, außer bei der letzten Angabe immer durch Anführungszeichen gekennzeichneten Schrift. Die Anthropologin sollte während des Krieges den US-Bürgern den japanischen Feind, „the most alien enemy the United States had ever fought“, näherbringen.132 Benedict wollte japanische Denk- und Verhaltensweisen herausfiltern, beschreiben und zeigen, wie bestimmte Grundannahmen der Japaner sich auf deren Sichtweisen auswirken.133 Die Grundannahme Benedicts lautete, dass Ansichten eines Volkes in dessen Traditionen, den Mythen, aber etwa auch in Ansprachen zu Nationalfeiertagen Ausdruck fänden. Eine systematische Untersuchung solcher indirekter Manifestationen könne dazu dienen, die Einstellung eines Volkes, beziehungsweise das Ideal, an dem sich dessen Handeln orientiert, zu extrahieren und dadurch ein Destillat der unveränderbaren Essenz der japanischen Kultur zu erhalten.134 Da Benedict aufgrund des Krieges nicht in Japan direkt Feldforschung betreiben konnte, musste sie auf Informationen von Japanern, die in den USA lebten und Englisch sprachen sowie Literatur über Japan zurückgreifen.135 Das im Jahr 1946 erstmals veröffentlichte Werk ist vornehmlich aufgrund der Zuschreibung, Japan sei eine „Scham- und Schuldkultur“ im Gedächtnis geblieben, sowie dank der Ausführungen zu Tugenden und Pflichten, beziehungsweise angeblich typisch japanischen Konzepten wie on, giri oder gimu.136 Benedict legte mit ihrer Abhandlung den Grundstein für die Beschäftigung mit der japanischen Kultur in der Nachkriegszeit; Chrysantheme und Schwert gilt als eines der ersten, und wenn auch strittigen, so doch einflussreichsten Nihonjinron der Nachkriegszeit.137 Vgl. Benedict 1946: 1–19; Zitat: 1. Vgl. Benedict 1946: 16. 134 Vgl. Benedict 1946: 16f.; Ryang 2004: 91. 135 Vor allem in der zu dieser Zeit erhältlichen Literatur, etwa in Werken wie Nitobe Inazos Bushidō. The Soul of Japan oder in kriegszeitlichen Schulbüchern, wurde häufig ein einseitiges Japanbild verbreitet und dementsprechend von Benedict übernommen. 136 Als on 恩, giri 義理 und gimu 義務 differenziert Ruth Benedict drei Formen der Verpflichtung (obligations), mit denen verschiedene Handlungsappelle einhergehen (Benedict 2006 [1946]: 104–108; Benedict [1946]: 114–117). „Normatively, instrumental and expressive provision supplied by a superior for subordinates is summarized in the concept of ‚Indebtedness (on)‘. This concept implies a normative obligation known as giri, a moral imperative that one should repay one’s debt. For the subordinate, this is done through giving loyal service to the superior.“ (Befu 2001: 22.) 137 Vgl. Ryang 2004: 87ff; Pang 2000: 83. Zählt man die Nachdrucke der Hard-und Softcoverversionen der 1948 erschienenen japanischen Übersetzung von Chrysanthemum and Sword zusammen, so wurden bis 1989 mindestens 146 Auflagen und ca. 2,3 Millionen Exemplare gedruckt, womit das Werk noch immer als einer der Nihonjinron-Bestseller gelten kann. Zudem werden die Aussagen Benedicts in vielen japanischsprachigen Nihonjinron reflektiert oder kommentiert (vgl. Befu 2001: 51). 132 133
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Ungeachtet der Kritik an Benedicts Herangehensweise und dem Ergebnis ist eine Auseinandersetzung mit ihrer Methode in Zusammenhang mit Bunka bōeiron interessant:138 Als Schülerin von Franz Boas (1858–1942) sowie Freundin und Kollegin von Margaret Mead (1901–1978) vertrat Benedict die kulturrelativistische Ansicht, Kulturen könnten nur aus sich heraus verstanden werden und bedürften deswegen keines Vergleiches, sondern einer intensiven Beschreibung. Sich gegen Ethnozentrismus wendend, legte Benedict Wert darauf, dass Werte innerhalb verschiedener Kulturen variabel seien und forderte, Länder mit anderen ethischen Vorstellungen nicht per se als verwerflich und den eigenen Lebensstil nicht als den einzig denkbaren anzusehen.139 Diese Haltung deckt sich mit Mishimas Vorstellung von der Originalität der japanischen Kultur, die allein unter Berücksichtigung der nationalen Eigenheiten verstanden werden könne.140 Mishima greift Benedicts Bild eines von Dichotomien geprägten Japans auf: Both the sword and the chrysanthemum are part of the picture. The Japanese are, to the highest degree, both aggressive and unagressive, both militaristic and aesthetic, both insolent and polite, rigid and adaptable, submissive and resentful of being pushed around, loyal and treacherous, brave and timid, conservative and hospitable to new ways.141
Neben dem Bild von Japan als Einheit von Chrysantheme und Schwert übernimmt Mishima vor allem die für ihn positiv besetzte Zuschreibung, Japan sei sowohl „kriegerisch“ als auch „kunstsinnig“, wie der entsprechende Abschnitt in der deutschen Übersetzung lautet.142 Ebenso wie für Mishima fängt auch für Ruth Benedict das Begriffspaar Chrysantheme und Schwert die Essenz der japanischen Kultur ein. Dabei rekurriert Mishima nicht Zwei Jahre nach der Veröffentlichung der japanischen Übersetzung von Benedicts Schrift als Kiku to katana erschien in der Zeitschrift Minzokugaku kenkyū ein Sonderteil mit Essays zu ihrem Text. Kritisch äußerten sich darin etwa Watsuji Tetsurō und Yanagita Kunio 柳田國男 (1875–1962), aber auch Befürworter kamen zu Wort. Die missfälligen Positionen bemängelten Benedicts ahistorischen Zugang, ihre groben Generalisierungen sowie ihr Außerachtlassen der Unterschiede in den einzelnen Bevölkerungsschichten. Watsuji äußert in seinem Kommentar Bedenken hinsichtlich der Methode Benedicts: Sie habe aufgrund der Zensur während der Kriegszeit schlicht Ideologiefragmente zusammengetragen und von diesen auf die Gesamtgesellschaft geschlossen (vgl. Watsuji in Minzokugaku kenkyū: 285; Ryang 2004: 92–99). 139 Vgl. Benedict 1946: 13. Einen Überblick über die Quellen und Methoden Benedicts gibt Griesecke 2001. 140 Vgl. BB: 21. Douglas Lummis führt korrekterweise als eine Problematik von Benedicts Zugang an, dass sie durch die Berufung auf die Besonderheit Japans ausschließe, dass Japan von der westlichen Vernunft verstanden oder über politische Begriffe wie Faschismus, Totalitarismus oder dergleichen greifbar gemacht werden könne, wodurch ein Vergleich Japans mit Italien oder Deutschland unmöglich wird. „Militarist Japan was for her [Ruth Benedict] simply ‘Japan‘ – Japan as it had always been, and as it would continue to be unless changed from the outside. The criticisms that Benedict took the ideology of a class for the culture of a people, a state of acute social dislocation for a normal condition, and an extraordinary moment in a nation’s history as an unvarying norm of social behaviour, are by now well known in Japanese scholarly circles.“ (http://japanfocus.org/-C__Douglas-Lummis/2474. [30.09.2013]). 141 Vgl. Benedict 1946: 1f.; Zitat: 2. 142 Benedict 2006 [1946]: 12. 138
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direkt auf das Werk, sondern füllt den metaphorischen Titel mit Bedeutung. Die Gleichsetzung der japanischen Kultur mit Chrysantheme und Schwert, ohne Benedict als gedanklichen Ursprung zu nennen, gelingt, weil der Titel, der sowohl das Emblem des japanischen Kaiserhauses als auch die dem Samurai-Stand zugesprochene Schwertkunst aufruft, mit japanischen Klischees und Bildern gleichermaßen spielt. Mishima macht Chrysantheme und Schwert nicht nur zum Leitgedanken für seine Kulturdefinition, sondern die Idee wird im Ideal des bunbu ryōdō, dem bushidō und letztlich in Mishimas Forderung, den Kaiser an die Armee zu knüpfen, in Bunka bōeiron permanent aufgerufen. Die Publikation stieß eine Beschäftigung der Japaner mit ihrer eigenen Kultur an: Problematisiert wurde etwa der Universalismus, welcher seit der Meiji-Zeit mit dem Wunsch, sich dem Westen anzupassen, einhergegangen war, und der Besonderheiten der japanischen Kultur verdeckt oder diese gar in einem schlechten Licht erscheinen lassen habe.143 Der Band regte eine Annäherung an das von ihr gezeichnete, erfahrbare, menschliche, zugängliche Japan aus Chrysantheme und Schwert in den von Benedict bemühten Kategorien an: In diesem Prozess wurden die deskriptiven Momente aus Chrysanthemum and Sword zu interpretatorischen und der Gegensatz zwischen Japan und dem Westen zu einem Fakt.144 Mishima macht sich nun Benedicts Kategorien zu Selbstdarstellungszwecken zu eigen und lädt die Metapher zusätzlich mit neuer Bedeutung auf, wenn er die Verwirklichung beider Elemente zur Grundvoraussetzung von Kultur erklärt. Zwei weitere explizite intertextuelle Referenzen auf nicht-japanischsprachige Texte finden sich in der Nennung von Hans Magnus Enzensbergers (*1929) Essayband Politik und Verbrechen (1964) sowie Cyril Northcote Parkinsons (1909–1939) Werk The Evolution of Political Thought aus dem Jahr 1958. In Enzensbergers im deutschsprachigen Raum viel kritisierten Band sind neun Aufsätze enthalten, die sich anhand unterschiedlichster Themen, wie dem organisierten Verbrechen oder dem ehemaligen Diktator der Dominikanischen Republik, Rafael Trujillo, mit dem Zusammenhang zwischen Gewalt, Verbrechen und Politik befassen. Der erste fragmentarische Essay Reflexionen vor einem Glaskasten thematisiert den Eichmannprozess, gerät dabei aber gleichzeitig zu einer „Anklage gegen das atomare Wettrüsten“.145 Enzensberger bemüht sich darin eingangs – das ist der Teil, auf welchen Mishima Bezug nimmt – den Kern des Verbrechens und das Wesen des Verbrechers zu erörtern. Unter Rückgriff auf Elias Canetti (1905–1994) sowie Sigmund Freuds (1856–1939) Ausführungen zur „darwinistischen Urhorde“, stellt er eine Verbindung zwischen Verbrechen, vornehmlich Mord, und Politik her: Herrschaft werde immer von demjenigen ausgeübt, der seine Untertanen zu strafen, gar zu töten, also zu beherrschen in der Lage sei.146 Im Souveränität betitelten Unterkapitel führt Enzensberger Freuds Schrift Zeitgemäßes über Krieg und Tod aus dem Jahr 1915 an. Freud habe über den Ersten Weltkrieg geschrieben, das Volk habe feststellen können, „[…] was sich ihm gelegentlich schon Vgl. Koschmann 1993: 404f. Vgl. Ryang 2004: 106; Robertson 1998: 304f. 145 Krause 2002: 135. 146 Vgl. Enzensberger 1978 [1964]: 11ff. 143 144
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in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak. Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde.“147 Der monopolistischen Staatsgewalt der Nationalstaaten schreibt Enzensberger eine Mitverantwortung für die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu. „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ durch einen Einzelnen, so erläutert Enzensberger im Abschnitt Konkurrenz, erschüttere den Staat ungeachtet des eindeutigen Kräfteungleichgewichts unverhältnismäßig, weil der Verbrecher das staatliche Gewaltmonopol in Frage stelle, indem er dessen Vorrecht für sich beanspruche. Die Härte, mit der Delinquenten geahndet würden, zeige die Unsicherheit des Staates.148 Mishima versucht mithilfe von Enzensberger seine These zu stärken, dass der Staat erschütterbar ist und ein Auflehnen gegen diesen, egal ob vom Einzelnen oder in Form einer Revolution wirkungsvoll sein kann, um dem Auseinanderdriften von Volk und Staat beziehungsweise dem „falschen Staatssystem“ entgegenzuwirken. Auch Parkinson, der früh ins Japanische übersetzt und ausgiebig rezipiert wurde, zieht Mishima zur Unterstützung seiner Argumentation heran. Explizit – nicht implizit wie im Fall Benedicts – gelingt es ihm somit, einen prominenten ausländischen Unterstützer seines Plädoyers für das Wiederaufleben des Tenno ins Feld führen. Parkinson, der vor allem für seine Ausführungen zur Gesetzmäßigkeit von bürokratischen Prozessen bekannt ist, befasste sich in dem zitierten Werk aus dem Jahr 1958 mit der Entwicklung politischer Systeme und Theorien. Er untergliedert seine Ausführungen in vier Kapitel zu den Bereichen Monarchy, Oligarchy, Democracy und Dictatorship, um die politische Ideengeschichte nicht nur von den Schriften einzelner Personen, sondern auch vom westlichen Blickwinkel loszulösen. Parkinson spricht sich, nachdem er Entwicklungen des arabischen und asiatischen Raumes beschrieben hat, vehement gegen Eurozentrismus aus und betont, ganz im Sinne von Bunka bōeiron, dass unterschiedliche Gesellschaften unterschiedlicher Staatsformen bedürfen.149 Die Bezugnahme auf Parkinson besteht aus unzusammenhängenden Satzteilen, die Mishima nicht in seine Argumentation einbindet:150 Monarchien und Oligarchien, so der Parkinson zugeschriebene Textausschnitt, sollten nicht vorverurteilt werden, denn auch in diesen Staatsformen könnten Vorzüge liegen. Obgleich die Referenzen fragmentarisch sind, bestätigen sie Mishimas Kritik am ethnischen Nationalismus indirekt. Durch den Rückbezug auf internationale Meinungen stärkt Mishima sein Argument, dass für Japan nicht das politische System des Westens, sondern eben eine Monarchie die bestmögliche politische Form sei. Ein weiterer zentraler westlicher Referenzpunkt ist die bereits erörterte Übernahme von Kants „an sich“. Diesem Konzept kommt eine besondere Funktion zu, weil Mishima damit Enzensberger 1978 [1964]: 16f. Vgl. Enzensberger 1978 [1964]: 31f.; Zitat: 32. 149 Vgl. Parkinson 1958: 13. 150 Vgl. BB: 40. Da Mishima nicht mithilfe einer Seitenzahl auf das Original verweist und den Teilsatz zudem in japanischer Übersetzung wiedergibt, ist dieser in Parkinsons Werk nicht auffindbar. 147 148
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ausgerechnet die ‚Essenz Japans‘, den Kaiser, betitelt. Mishima wechselt von der emischen in die etische Perspektive, wenn er seine in der Meiji-Zeit wurzelnde Idee des Kaisers als moralische und ästhetische Quelle mithilfe der etischen Zuschreibung eines a priori existierenden Konzeptes stützt, welche denselben Sachverhalt in anderen Begrifflichkeiten ausdrückt.151 Indem er die vorherrschenden Klischees der angeblichen Divergenz von japanischer Ästehtik und westlicher Rationalität im Kaiser auflöst, entrückt er den Monarchen dem Konflikt. Die zahlenmäßig geringeren Referenzen auf Außerjapanisches sind vornehmlich negativ besetzt und stützen Mishimas Kritik an einer Übernahme westlicher Gedanken- und Staatssysteme. Dementsprechend sind die Beispiele aus dem westlichen Kontext politischer Natur, während die japanischen Exempel nahezu ausschließlich die Kultur betreffen. So bleibt eine zu Bashō oder Chikamatsu äquivalente Nennung eines großen westlichen Schriftstellers ebenso aus wie Referenzen auf nicht-japanische Theater- oder Lyrikformen. Bemüht Mishima doch, etwa wie durch die Anführung eines der bedeutendsten antiken Bildhauer, Praxiteles (390–320), die Tradition, so nur um der Darstellung willen, Japan und der Westen stünden sich konträr entgegen. Philippe Pétain (1856–1951) steht für den Erhalt von Paris zugunsten der Aufgabe des Geistes, Praxiteles für die antike, aus Stein gefertigte Kunst und Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) exemplifiziert die russische Zensur.152 Die Beschneidung der Meinungsfreiheit greifen darüber hinaus auch die Verweise auf die Reform der Peking-Oper, die polnischen Studentenunruhen und die Haft russischer Schriftsteller auf.153 Analog zur japanischen Situation ist die Bezugnahme auf die Aufführung des Dramenzyklus Dziady von Adam Mickiewicz (1798–1855) in Polen zu lesen. Das Stück thematisiert die polnische Teilung und die Gewaltherrschaft der Russen in Polen im späten 18. Jahrhundert. Bei der Aufführung des Theaters im Winter Ob Mishima dabei zu Unrecht von einem „Ding an sich“ auf einen „Wert an sich“ schließt, bleibt zu überdenken; dass die Referenz des „an sich“ aus der europäischen Philosophie kommt, ist hingegen unstrittig. 152 Interessant ist auch hier die Parallele im Leben der Autoren: Mishima war ein Bewunderer Dostojewskis, sowohl seiner Literatur als auch seines Lebens. Der Russe war Revolutionär und entkam nach Teilnahme an einem konspirativen Treffen der Todesstrafe nur, weil er vom Zaren begnadigt wurde. Darüber hinaus vertrat der antisemitisch eingestellte Dostojewski in seinen politischen Essays die Vorstellung eines pan-slavischen Reiches unter russischer Führung (vgl. Elsäßer-Feist 1991: 55–59, 44–77; Jens 1990, Band 4: 728–743). 153 Die namentliche Nennung russischer Dissidenten mag für das Verständnis des zeitgenössischen Leser Mishimas einen Mehrwert dargestellt haben, heute lassen sich die fraglichen Personen kaum recherchieren: Mishima transkribiert die Namen der dichtenden russischen Dissidenten, so dass aus Efgenij Kušev efugēnii kuchiefu エフゲーニィ・クチエフ (BB: 20) wird. Ist wie in diesem Fall die Ähnlichkeit zwischen der lateinischen und japanischen Umschrift gering und man nicht vertraut mit möglichen Lautkombinationen im Russischen, gestalten sich Nachforschungen, wer damit gemeint sein könnte, äußerst schwierig und zeitintensiv. Erschwert werden sie in diesem Fall zusätzlich durch den Mangel an westlichsprachiger Literatur über Dissidenten. Ist darüber hinaus der Vorname falsch wiedergegeben wie bei Vadim Delone (BB: 20), den Mishima fälschlicherweise Wladimir nennt, ist der hergestellte Bezug beinahe unmöglich nachvollziehbar. 151
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Intertextuelle Verweise
1967/68 bemängelte die polnische Regierung, einige der russlandkritischen Szene seien in einen falschen Kontext gesetzt, was beim Publikum Proteste gegen die Zensur hervorrief.154 Um Japans Besonderheit darzustellen, grenzt Mishima seine Heimat vornehmlich vom Westen ab. Allerdings finden sich in Bunka bōeiron auch einige Andeutungen auf den asiatischen Kontext, wobei diese in den meisten Fällen wie etwa im Falle der Nennung des Kung-Fu oder der Hindu-Trinität positiv besetzt sind. Die Hindu-Trinität führt Mishima als Vergleichsmoment zur Ganzheitlichkeit der japanischen Kultur an und greift damit einen Gedanken Okakura Tenshins auf.155 Mit der Nennung der Kampfkünste einher geht Mishimas Kritik, dass die Bereitschaft zu kämpfen in der japanischen Nachkriegszeit nicht mehr gegeben sei. Im Gegensatz dazu seien in der taiwanesischen Regierung – Mishima entscheidet sich an dieser Stelle für einen Verweis auf die Republik Taiwan, nicht auf das Ursprungsland des Shaolin Kung-Fu, China – die wichtigen Minister Shaolin-Meister, die ihre Körper trainierten. Von den Exempeln aus dem asiatischen Raum, sind neben dem kommunistischen Regime Chinas auch die laotische Organisation Pathet Lao sowie die Thai Patriotische Front negativ besetzt. Die beiden Vereinigungen, die zu den patriotisch-nationalistischen Bewegungen zählen, verehrten ungeachtet dessen, dass sie kommunistisch waren, ihren jeweiligen König. Die Beispiele dienen der Abschreckung, Mishima macht darauf aufmerksam, dass auch ein Volk und eine Monarchie eine kommunistische Regierung akzeptieren könne. Eine solche „kommunistische Staatsform unter dem Kaisersystem“ beschneide Mishima zufolge die Redefreiheit und unterbräche die Kontinuität und Ganzheitlichkeit der Kultur, weswegen sie unbedingt zu vermeiden sei.156 2.1.1
Bezugnahmen auf marxistisch beeinflusste europäische Schriften
2.1.1.1 Walter Benjamin: Kopie, Original und das Auratische Eine Bezugnahme auf marxistische europäische Argumentationslinien lässt sich aus der Verwendung der Begriffe „Kopie“ und „Original“ sowie der Evozierung von „Verdinglichung“ schließen. Mishimas Argumentation, dass es „in der japanischen Kultur ursprünglich keine Unterscheidung zwischen Original und Kopie [gebe]“157, verweist, zumal Mishima Original und Kopie durchgängig in katakana wiedergibt, auf Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz von 1935/36. Benjamin schildert in diesem kurzen Aufsatz den Verfall der Aura von Kunstwerken, welchen er auf die technische Reproduzierbarkeit – vornehmlich Film und Radio – zurückführt.158 Die Aura ist nach Benjamin etwas RaumVgl. Hagenau 1999: 136–150. Vgl. Okakura 2005 [1904]. 156 Vgl. BB: 49. 157 Vgl. BB: 23. 158 Der komplexe und auf verschiedenen Ebenen argumentierende Aufsatz kann an dieser Stelle nur verkürzt und auf die für diesen Kontext relevanten Aspekte reduziert wiedergegeben werden. Umfassendere Informationen lassen sich etwa Lindner 2006 oder Steiner 2004 entnehmen. 154 155
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Zeitliches, eine „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“159, die dem Original anhaftende, nicht reproduzierbare Echtheit und Originalität eines Werkes, durch welche dieses in der Tradition verwurzelt sei. Durch den technischen Fortschritt, der reproduzierend aus der Einmaligkeit ein massenweißes Vorkommen mache, verkümmere die Aura gegenwärtig. Reproduktionen, etwa in Form von illustrierten Wochenzeitschriften, seien durch „Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit“ gekennzeichnet, worin sie sich vom Urbild, welches durch „Einmaligkeit und Dauer“ charakterisiert werde, unterscheiden.160 Die fortschreitende Technisierung reiße das Kunstwerk aus seinem Traditionszusammenhang, in welchen es durch seine originäre Verwendung in Kultus und Ritus eingebettet gewesen war und fundiere sodann nicht mehr auf das Ritual, sondern auf die Politik.161 Mishima greift auf den Kunstwerk-Aufsatz zurück, um zu zeigen, dass der Sachverhalt auf Japan nicht zutreffe. Vehement argumentiert Mishima in Bunka bōeiron, dass die Zerstörung des Originals im Westen eine nicht rückgängig zu machende Vernichtung bedeute, während in Japan hingegen „vergleichsweise schwach auf Kultur als Ding beharrt [werde]“. So lasse sich am traditionellen Wideraufbau des Ise-Schreins exemplifizieren, dass die Zerstörung des Originals „kein[en] absolute[n] Verfall“ bedeute.162 Die Denkfigur des nicht ausschlaggebenden Originals überträgt Mishima im Verlauf des Textes auf NichtGegenständliches, zunächst etwa auf das Dichtungskonzept des honkadori, dann auf das japanische Kaisersystem.163 Obgleich Mishima die Grundannahme Benjamins, dass zwischen Kopie und Original unterschieden werde, für Japan nicht bestätigt, knüpft er seine weiteren Überlegungen dennoch an Benjamins Ausführungen zum Verfall des Auratischen an. Implizit greift Mishima diesen Gedanken auf, um die Veränderungen des Kaisersystems nach 1945 zu beschreiben, die das tennōsei trivialisiert und zu einem „Wochenmagazin-Kaisersystems“ gemacht habe.164 Wie Mishima nennt auch Benjamin als Beispiel der Flüchtigkeit von Reproduktionen die illustrierte Wochenzeitschrift, welche für Mishima den Ausbund der Banalisierung des Kaisers darstellt. Auf konzeptioneller Ebene lassen sich darüber hinaus Ähnlichkeiten im Kunst-Begriff bei Benjamin und der Idee des Kaisers aufzeigen, welcher bei Mishima der Inbegriff der Kultur ist: Für beide Autoren wurzelt die jeweilige Idee in der Tradition.165 Benjamin führt die Verbindung der Kunst mit ihrer originären Verwendung im Kultus und Ritus theoretisch aus,166 während Mishima dasselbe anhand von zahlreichen, auf kultische Praktiken am Kaiserhof verweisenden Beispielen veranschaulicht.167 Eine weitere Benjamin 1972 [1936]: 18. Vgl. Benjamin 1972 [1936]: 15f., 18. 161 Vgl. Benjamin 1972 [1936]: 21. 162 Vgl. BB: 23, Zitate ebd. 163 Vgl. BB: 24. 164 Vgl. BB: 47. 165 Vgl. BB: 25; Benjamin 1972 [1936]: 18f. 166 Vgl. Benjamin 1972 [1936]: 19f. 167 Mishima nennt explizit den heiligen Ort im Kaiserpalast, an dem die Reichsinsignien aufbewahrt werden (vgl. BB: 47) und bezieht sich damit auf die fraglos religiösen Zeremonien Daijōsai und Niinamesai, Erntedankzeremonien, bei denen der Kaiser den Göttern den neuen Reis darbringt (vgl. BB: 48). 159 160
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Intertextuelle Verweise
Übereinstimmung besteht in der Annahme, dass Kunst sich in der von Technisierung geprägten Moderne vom Ritual ablöse und stattdessen in der Politik verankert sei, eine Tendenz, die Mishima bezüglich des Kaisers feststellt und die er, genau wie Benjamin den Verfall der Aura, auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückführt.168 Die raum-zeitliche Aura des Kaisers gehe verloren, seitdem dessen „Einmaligkeit und Dauer“ abhandengekommen sei. Durch die Verneinung seiner Göttlichkeit nach Kriegsende sei der Monarch aus der Tradition abgelöst und nicht mehr im Ritual, sondern allein in der Politik verankert. Während die Kaiser vor dem Krieg durch ihre direkte Abstammung vom Göttergeschlecht mit diesem verbunden waren, war der Gedanke von Original und Kopie nichtig; im Moment der Negierung der kaiserlichen Divinität und der Politisierung des Kaisers bei gleichzeitiger Entrückung aus dem Ritual verfällt die kaiserliche Aura. Die manchmal bewundernd, ein anderes Mal verunglimpfend gemeinte Zuschreibung, Japan sei eine „Kultur des Kopierens“, wird seit der Meiji-Zeit aufrechterhalten.169 Mishima greift hier eine Diskussion auf, die häufig zuungunsten von Japan geführt wurde: Japan wird vorgeworfen, ohne dass dabei zwischen kulturellen und ökonomischen beziehungsweise technologischen Faktoren differenziert oder der beständige reziproke Austausch insbesondere in der Kunst bedacht würde, dass es westliche Errungenschaften abkupferte und selbst wenig Originalität besitze. Seit japanische Güter bei internationalen Ausstellungen gezeigt und in Folge dessen mit kommerziellem und ästhetischem Wert belegt und als Ausdruck nationaler Identität verstanden wurden, stellt sich die Frage, ob Reproduktion deren traditionellen Wert mindert. Im Gegensatz zum Westen wird dies in Japan, so eine gängige Position, nicht befürchtet, weil keine Unterscheidung zwischen dem Authentischen, Echten und der Kopie gemacht, sondern der Akt des Kopierens als kulturelle Handlung verstanden wird.170 Unter Rückgriff auf Benjamins Aufsatz, den er Vgl. Benjamin 1972 [1936]: 18–21; BB: 47, 50. Benjamin beschreibt die Zerschlagung der Aura, welche zu einer Demokratisierung und Befreiung aus dem Bannkreis von Autorität und Tradition beitrage und in seinen Augen den Beginn einer Wirkungs- und Rezeptionsästhetik darstelle, scheinbar zunächst als positive Entwicklung (vgl. Lindner 2006: 229–251; Fürnkäs 2000). Tatsächlich bleibt der Aura-Begriff zwar nicht, wie oft behauptet, ambivalent, so doch auf verschiedenen diskursiven Ebenen verankert. So ist der Verfall der im Kult wurzelnden Aura zwar geschichtsphilosophisch unumgänglich, jedoch als solcher zu beklagen, wohingegen die Zertrümmerung einer Pseudo-Aura, die selbst als eine Reaktion auf den Verfall der Kult-Aura erkannt werden muss und mit der die Fetischisierung von Waren einhergeht, wünschenswert ist (vgl. Fürnkäs 2000: 112f.; Lindner 2006: 236f.). 169 Ein von Rupert Cox herausgegebener Tagungsband The Culture of Copying in Japan. Critical and Historical Perspectives untersucht anhand konkreter Fallbeispiele verschiedene Formen des Kopierens in historischer Perspektive. Hinterfragt werden dabei sowohl negative westliche Beurteilung der japanischen copying culture als auch japanische Theorien, die ihrerseits die positiven kulturellen Werte betonen, die Imitation hervorgebracht habe. Im Fokus steht die westliche Faszination der japanischen Absorption alles Fremden bei gleichzeitiger negativer Beurteilung des Prozesses als rückständig oder primitiv. Die Tüchtigkeit und Fähigkeit der japanischen Imitation im späten 19. Jahrhundert forderte die westlichen Wirtschaftsmächte ebenso heraus wie deren imperialistische Ambitionen (vgl. Cox 2008: 3ff.). Cox erläutert, dass die „[…] association between copying and the ‚primitive‘ is also fundamental to the historical construction of Western ideas of Japanese difference.“ (Cox 2008: 4). 170 Vgl. Cox 2008: 7ff. 168
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auf Japan bezieht, rekurriert Mishima auf dieses Narrativ und versucht mithilfe des IseSchreins zu belegen, dass in Japan kein Original benötigt würde.171 2.1.1.2 Eine Anspielung auf Hegel und Lukács’ Verdinglichungstheorie Mishima verweist implizit auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Im Anschluss an die Zustandsbeschreibung der nachkriegszeitlichen japanischen Kultur konstatiert er, dass „[…] [diese] dem Konzept einer bis zum Gipfel dialektisch voranschreitenden Entwicklung [widerspricht].“172 Der Verweis ist offenkundig eine Anspielung auf und gleichzeitig eine Abgrenzung von Hegel, der, im Gegensatz zu Marx etwa, von einem affirmativen, höheren Dritten ausgeht, welches durch dialektische Verfahren hervorgebracht werden könne. Mishima distanziert seine Idee des ganzheitlichen kulturellen Konzepts von Hegels Dialektik.173 Dem Leser, der die Bezugnahme erkennt, wird erneut die Differenz zwischen westlichem und östlichem Denken vor Augen geführt, mit dem eine Abgrenzung von einem geistesgeschichtlichen und politischen Diskurs einhergeht.174 Benjamin und Hegel bilden zwei Punkte einer Geraden, die weiteren Überlegungen zu impliziter Intertextualität eine bestimmte Richtung gibt. Augenfällig, da in hiragana und mittels bōten hervorgehoben, ist die wiederholt verwendete Bezeichnung von Kultur „als Ding“175, die eine Kritik Mishimas am vorherrschenden, ausschließlich materiellen, dinglichen Kulturverständnis darstellt. Karl Marx verwendet den Begriff der Verdinglichung erstmals in seinem Spätwerk als eine Weiterentwicklung des Gedankens der „Entfremdung“ bzw. des „Fetischcharakters der Ware“. Er beschreibt damit den Prozess der Entfremdung des Arbeiters von seiner Tätigkeit, welcher durch Arbeitsteilung hervorgerufen werde. Diese bewirke, dass die Ware ein selbstregulatives Marktverhalten entwickle, wodurch ihr Subjektcharakter zuteil werde. Dies führe im Umkehrschluss dazu, dass die Menschen sich selbst und zwischenmenschliche Beziehungen als verdinglicht wahrnähmen. Die Argumentation steht allerdings auf tönernen Füßen, denn gerade im religiösen und rituellen Kontext ist das Original von Bedeutung (vgl. Cox 2008: 10f.). 172 Benshōhōteki hatten naishi shinpo no gainen to wa mujun suru 弁証法的発展乃至進歩の概念とは矛 盾する (BB: 24, Hervorhebung durch die Übersetzerin). Das komplette Zitat lautet: „Wenn man dieses kulturelle Konzept irgendwo vom Ursprung der bürgerlichen, freien, kreativen Subjekte abtrennt, ist eine kulturelle Austrocknung selbstverständlich und das Wesen der kontinuierlich existierenden Kultur (und deren vollständige Anerkennung) widerspricht dem Konzept einer bis zum Gipfel dialektisch voranschreitenden Entwicklung.“ 173 Bierwirth, der Hegels „Herrschaft und Knechtschaft“ überzeugend als Subtext von Mishimas literarischem Schaffen liest, geht davon aus, dass Mishima nicht mit Hegel vertraut war (vgl. Bierwirth 2010: 177). Da Mishima sich intensiv mit der Kyōto-Schule beschäftigt hatte, die zumindest mit den grundlegenden und breit rezipierten Gedanken Hegels vertraut war, ist dies allerdings unwahrscheinlich. 174 Die Verbindung des Revolutionsgedankens mit ästhetischen Theorien einerseits und dem Terror andererseits, lässt darüber spekulieren, ob Mishimas Revolutionsbegriff von Joachim Ritters Abhandlung Hegel und die französische Revolution (1957), welches bereits 1966 ins Japanische übersetzt worden war, beeinflusst war (vgl. Ritter 1957). 171
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丶丶 ものとしての […]. BB: 17, 19ff., 23, 25, 27.
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In dieser Gesellschaft, in der die Produktion ausschließlich der Vermehrung des Tauschwerts unterworfen ist, in der die Beziehungen zwischen den Menschen, die sich in den Werten der Dinge kristallisieren, selbst eine dinghafte Form annehmen, werden auch die Individuen zu Dingen; der Mensch ist kein individuelles Konkretum, sondern Bestandteil des gewaltigen Systems der Produktion und des Austausches, seine persönlichen Merkmale stehen nur der vollkommenen Vereinheitlichung und Rationalisierung des Produktionsmechanismus im Wege. Das Individuum ist ausschließlich Arbeitskraft, also eine Ware, die nach den Gesetzen des Marktes getauscht und verkauft wird. Folgen dieser Allgewalt des Tauschwertes sind u. a. die Rationalisierung der Rechtssysteme, die Geringschätzung der Tradition und Versuche, die Individuen auf juristische Personen zu reduzieren.176
Mit diesen Worten beschreibt der polnische Philosoph Leszek Kołakowski (1927–2009) die Verdinglichung und deren Auswirkungen, die allerdings erst von Georg Lukács in dessen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein von 1923 explizit auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogen wurden.177 Bei Lukács wird der „Fetischcharakter der Ware“178 zu einer weit über Marx’ Idee hinausgehenden „Universalkategorie des gesellschaftlichen Seins“179, weil er alle gesellschaftlichen Beziehungen als von der Warenstruktur beherrscht versteht und sie somit als verdinglicht erachtet.180 Vereinfacht gesagt beschreibt Lukács als Verdinglichung den Zustand, indem etwas mit nicht primär dinglichen Eigenschaften – etwa Menschen oder im Falle Mishimas die nicht ausschließlich über Gegenstände definierbare Kultur – wie ein Ding behandelt wird.181 Kolakowski 1981 [1978]: 300. Vgl. u. a. Haug 1994–2010, Bd. 4: 343–354; Bd. 3: 460–469; Fetcher 1976: 75ff. Erst nach der Veröffentlichung der Manuskripte von 1844 im Jahr 1932 entbrannte eine Diskussion darum, ob Marx’ ‚Verdinglichung‘ nur auf produktions- oder die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse bezogen habe (vgl. Haug 1994–2010, Bd. 3: 470ff.). Eben diese Ausführungen wurden nach der Erstveröffentlichung oft als sich selbst genügende Kulturkritik verstanden (vgl. Fetcher 1976: 75). 177 Vgl. Lukács 1968 [1923]. Relevant ist hier das Unterkapitel „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“. Erläuterungen und Problematisierungen des Verdinglichungsbegriffs bei Lukács liefern Honneth 2005: 19–28; Dannemann 1987. 178 Vgl. Haug 1994–2010, Bd. 4: 343–354. 179 Lukács 1968 [1923]: 260. 180 Vgl. Lukács 1968 [1923]: 95f. „Das Wesen der Warenstruktur ist bereits oft hervorgehoben worden, es beruht darauf, daß ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit und auf diese Weise eine ‚gespenstige Gegenständlichkeit‘ erhält, die in ihrer strengen, scheinbar völlig geschlossenen und rationellen Eigengesetzlichkeit jede Spur ihres Grundwesens, der Beziehung zwischen Menschen verdeckt.“ (Lukács 1968 [1923]: 257). Verdinglichung bei Lukács versteht Honneth wie folgt: „Damit einher geht, dass ‚Die Subjekte [ ] im Warentausch dazu angehalten [sind], (a) die vorfindlichen Gegenstände nur noch als potentiell verwertbare ‚Dinge‘ wahrzunehmen, (b) ihr Gegenüber nur noch als ‚Objekt‘ einer ertragreichen Transaktion anzusehen und schließlich (c) ihr eigenes Vermögen nur noch als zusätzliche ‚Ressource‘ bei der Kalkulation von Verwertungschancen zu betrachten.“ (Honneth 2005: 19f.). 181 Vgl. Lukács 1968 [1923]: 262, 266. Interessant für die Überblendung der Verdinglichung auf Bunka bōeiron ist darüber hinaus auch das, was Axel Honneth als Lukács’ inoffiziellen Ansatz herausarbeitet; nämlich dessen Kritik an der mangelnden aktiven Teilnahme und dem Interessiertsein der Menschen, beziehungsweise dem, was Heidegger als „anteilnehmende Praxis“ betitelte (vgl. Honneth 2005: 30–77). Verdinglichung ist demnach weniger eine habituelle Praxis als eine falsche Deutung der richtigen Praxis und könne überwunden werden, wenn, aufgrund der Annahme, dass eine exis176
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Auch hinsichtlich der Frage des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, die Mishima ebenfalls mehrfach thematisierte, ließe sich die Beschäftigung mit Fragen der Verdinglichung produktiv machen: Die bürgerliche Philosophie verstärkt diese Verdinglichungsprozesse; sie kann und will sich nicht zum Verständnis des Ganzen erheben: Sie kennt einerseits nur die Empirie, die jedoch aus sich keine „Totalität“ hervorbringt, und andererseits eine normative Ethik oder beliebig produzierte Utopien, die grundsätzlich mit den „Tatsachen“ in keinem Zusammenhang stehen. […] Alles, was die Totalität symbolisieren könnte, wird zum unerkennbaren „Ding an sich“ und von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgeschlossen. Der Widerspruch zwischen der Irrationalität der „Tatsache“ und dem Wunsch, zur Totalität zu gelangen, brachte die idealistische Dialektik hervor, welche die Einheit von Subjekt und Objekt durch die Aufhebung der Objektivität wiederherzustellen versuchte. Sie schrieb daher dem Subjekt eine schöpferische Rolle zu, aber weil sie diese schöpferische Rolle nicht als revolutionäre Praxis zu fassen vermochte, gab sie ihr eine moralische, innerliche Form.182
Was in Kolakowskis Passage vornehmlich auf die Produktionsbedingungen bezogen ist, lässt sich – mit Blick auf Honneths Aspekt der verweigerten Annerkennung in verdinglichten Gesellschaften – für Bunka bōeiron fruchtbar machen. Auch bei Mishima ist die Einheit von Subjekt und Objekt, welche im schöpferischen, kreativen Subjekt zum Ausdruck komme, die Grundbedingung für die Ganzheitlichkeit der Kultur, welche nichts anderes als die unpolitische Totalität des Kaisers als „Ding an sich“ ist. Oder in Lefebvres Worten gefasst: Der Entfremdungsbegriff kann als Komplementärbegriff zur Totalität verstanden werden; der „homme-total“ – bei Mishima der Kaiser – ist somit der nicht-entfremdete Mensch.183 Dass Mishima die genannten europäischen Denker rezipiert, ist insofern nicht verwunderlich, als diese Positionen seinerzeit umfassend diskutiert wurden.184 Obgleich es nicht tentielle Anteilnahme dem objektivierenden Werteverhältnis zugrunde liegt, eine besorgte ‚Teilnehmerperspektive‘ eingenommen werde. Unter Teilnehmerperspektive versteht Honneth eine grundlegende menschliche Interaktion, die Tatsache, sich in andere hineinversetzen zu können und deren Wünsche, Einstellungen und Überlegungen als handlungskonstitutiv zu erachten. Darüber hinaus sei bei Heidegger und Lukács das, was sie die verdinglichte, „zweite Natur“ (vgl. Lukács 1968 [1923]: 260) des Menschen nennen, der Wegfall dieser Teilnehmerperspektive, in der zudem eine affektive Bezogenheit, eine positive Befürwortung mit angelegt sei (vgl. Honneth 2005: 36–39, 46). „Die Form der ‚Anerkennungsvergessenheit‘ können wir nun, die Intentionen von Lukács auf höherer Stufe fortsetzend, ‚Verdinglichung‘ nennen; gemeint ist damit mithin der Prozeß, durch den in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewußtsein verlorengeht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt.“ (Honneth 2005: 68). Dies passt insofern zu Mishimas Ausführungen, als auch er kritisiert, dass die Menschen nur noch an ihre eigenen Interessen dächten und nicht mehr bereit seien, sich für etwas Übergeordnetes aufzugeben. 182 Kolakowski 1981 [1978]: 300f. 183 Vgl. Haug 1994–2010: 472. 184 Marx’ Kapital wurde im Jahr 1925 erstmals komplett ins Japanische übersetzt, Benjamins Kunstwerk-Aufsatz im Jahr 1966, also unmittelbar zur Entstehungszeit von Bunka bōeiron. Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein lag bereits seit 1962 auf Japanisch vor. Dieser Übertragung von Hiroi Toshihiko gingen Teilübersetzungen voraus.
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Intertextuelle Verweise
an Untersuchungen zu Intertextualität in den Werken Mishimas mangelt, sucht man eine Analyse von Bezügen zu zeitgenössischen linksintellektuellen Denkern bislang vergeblich. Selbstredend müssen die hier angestellten Überlegungen von Bezugnahmen Mishimas auf Hegel, Lukács und Benjamin mit dem Bewusstsein angestellt werden, dass die Intention der Autoren voneinander abweicht: Bei Mishima findet sich keine Herrschafts- und Ideologiekritik wie diese naturgemäß etwa im Werk Lukács angelegt ist, wohl aber eine Kritik an der postkolonialen Hegemonie des Westens und eine Gesellschaftskritik. Es geht hier demzufolge nicht um eine Ineinssetzung der Intention Mishimas mit der der westlichen Autoren, sondern darum, dass Mishima sich mit einzelnen Gedankengängen argumentativ auseinandersetzt.185
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Demzufolge ist auch nicht ausschlaggebend, ob Mishima die Werke ‚verstanden‘ oder in Gänze gelesen hat; auch die oftmals kritisierte Qualität der frühen Benjamin-Übersetzungen, auf die Mishima zurückgegriffen haben könnte, ist zweitrangig. Entscheidend ist nicht, ob Mishima Benjamins Idee der Aura ‚richtig‘ erfasst hat, oder dies aufgrund einer ‚falschen‘ Übersetzung von vorneherein unmöglich war, sondern dass Mishima Gedanken zu Papier bringt, die sich offenkundig auf bereits zirkulierende Ideen stützen.
Funktionen der intertextuellen Verweise
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Funktionen der intertextuellen Verweise in Bunka bōeiron
Mishima greift verschiedene nationale wie internationale Diskurse auf und positioniert sich dazu. Die Bezugnahmen sind präzise auf seine Argumentation abgestimmt und können folglich nicht, wie häufig geschehen, als Namedropping oder Inspiration abgetan werden. Mishima positioniert sich, indem er die bekanntesten Tenno-Theoretiker der Nachkriegszeit aufruft und kommentiert, in diesem innerjapanischen Diskurs. Er befindet sich in dem für die Nachkriegszeit nicht unüblichen Dilemma, in gefühlter Ermangelung alternativer Bezugspunkte nationalistische Diskurse revitalisieren ‚zu müssen‘. Er macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung Watsujis, greift jedoch gleichzeitig auf dessen Terminologie zurück. Mit Tsudas revidierter nachkriegszeitlicher Position bestätigt Mishima seine These des kulturellen Kaisers, und Maruyama und Sasaki werden, so lässt die fehlende inhaltliche Zuschreibung schließen, vornehmlich aufgrund ihrer Autorität und Bedeutung für den nachkriegszeitlichen Tennodiskurs genannt. Mishima verschleiert dabei, dass seine Kaiserkonstruktion zu Teilen auf kriegszeitlichem Gedankengut basiert, etwa indem er Kultur und Kaiser erst im letzten Kapitel gleichsetzt und somit verschweigt, dass seine Ausführungen zum Schutz der Kultur faktisch zu einer notfalls gewaltbereiten Verteidigung des Tenno aufrufen. Die Verweise auf die literarischen Klassiker dienen wie in vielen Nihonjinron dazu, die kulturelle Größe und Einzigartigkeit des Landes zu demonstrieren und ein klischeehaftes Japanbild zu zeichnen. Today, when we speak of the Japanese literary classics, we think of Man’yōshū, Kojiki, The Tale of Genji, The Tale of Heike, Tsurezuregusa, nō plays, and the works of Matuso Bashō, Ihara Saikaku, and Chikamatsu Monzaemon.186
Außer dem Heike-Monogatari und dem Tsurezuregusa187 nennt Mishima all diese auch außerhalb des Landes als kanonisiert geltenden Werke und Autoren als Indiz für kulturelle Größe und Kontinuität Japans. Naturgemäß werden dabei insbesondere Werke genannt, die wie das Man’yōshū, die Geschichte vom Prinzen Genji eine wichtige Rolle im Zuge der Nationalstaatsbildung spielten. Darüber hinaus verweisen die Beispiele, wie im Falle des Genji-Monogatari als Intertext des Masukagami, immer auch auf die kaiserliche Macht und den Hof als Zentrum der Kultur: Kaiser und Kultur werden dadurch fortlaufend parallelisiert. Gleich Molekülen, welche sich durch Hinzufügen eines weiteren Teilchens bei einer geringen Transformation ihres Äußeren netzförmig erweitern, spinnt Mishima sein Geflecht aus Referenzen, deren Bedeutung sich etwa im Fall des Kokinshū erst in der Zusammenschau der Einzel186 187
Shirane 2002: 165. Das Heike-Monogatari 平家物語, ein Epos aus dem Jahr 1371, beschreibt die Ende des 12. Jahrhunderts ausgetragenen Kämpfe zwischen den Familien Taira und Minamoto um die Vorherrschaft in Japan; das von Yoshida Kenkō 吉田兼好 verfasste Tsurezuregusa 徒然草 (Betrachtungen aus der Stille) wurde 1352 posthum veröffentlicht.
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Intertextuelle Verweise
teile erschließt.188 Der implizite Verweis Mishimas auf Masaoka Shiki, der die Reform der haiku anregte, nimmt wiederum Bezug auf waka, das Man’yōshū oder die im Kokinshū angelegten Reflexionen über Literaturtheorie. Miyabi ist des Weiteren für Masokas Überlegungen ebenso bedeutend wie die Heian-Zeit oder die Frage nach Gedichten aus dem Volk. Mögen dem Leser die Verzweigungen nicht bis in all ihre Verästelungen auffallen, so verstärken die Bezugsketten, welche sich für die meisten Beispiele aufzeigen ließen, durch die Mehrfachnennung und eventuell unbewusst aufgerufenes Wissen ihre Wirkung. Die Referenzen, vereint durch ihre ‚Japanizität‘, lassen sich weiter kategorisieren. Neben Verweisen auf den Ursprung, zu welchen Kaiserin Jitō, das Man’yōshū und die Reichsannalen zählen, wird Reflexivität etwa in der Nennung des sich im Masukagami spiegelnden Genji-Monogatari erzeugt. Subjektivität ist die dritte auszumachende Kategorie, welcher ebenfalls das Masukagami, aber auch die tanka der Avantgarde zuzuordnen wären. Jegliche intertextuelle Bezugnahme ist darüber hinaus per se ein Beleg für ein gewisses Maß an Reflexivität, so dass jeder einzelne Verweis über seine primäre, auf einen Sachverhalt referierende Aussage hinaus zu einem „Beweis“ von Mishimas Kultur-Verständnis wird. Dadurch stilisiert er Bunka bōeiron selbst als Kultur, tritt als ihr Verfasser auf und wird dadurch Teil dieser. Die von Mishima angeführten Beispiele auf Außerjapanisches dienen vornehmlich der Betonung der Opposition zwischen Japan und der westlichen Welt. Die Referenzen beziehen sich deswegen gerade nicht auf Kunst und Kultur, spiegeln aber durch die Absenz äquivalenter Nennungen zum Japanischen wiederum die Unvergleichbarkeit der japanischen Kultur. Dass die westlichen Exempel genau wie die japanischen so angelegt sind, dass sie mit dem nötigen Hintergrundwissen des Lesers ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen entfalten können, macht deutlich, dass es sich hierbei um ein Kompositions- und Gestaltungsmedium handelt, welches zu einem Darstellungsprinzip wird. Interessant ist dabei gerade die Doppelstruktur, die Bunka bōeiron zu einer Art transkulturellem Nihonjinron macht. Einerseits leistet Mishima seinen Beitrag zu den Auseinandersetzungen mit den Charakteristika Japans und des Japanischseins wie sie in den Nihonjinron geführt werden, andererseits positioniert er sich mit seinem Text, in welchem der Tenno nicht ausschließlich in japanischen Termini, sondern zudem als „Wert an sich“ definiert wird, in einem internationalen – aufgrund der Entstehungszeit von Bunka bōeiron vornehmlich europäischen – kulturkritischen Diskurs. Mishima zieht einen Bogen von Kant und Hegel über marxistische Denker und kritisiert den Westen für seine postkolo188 Ähnlich funktioniert auch die Nennung einzelner japanischer Beispiele: Führt Mishima im Zuge der
Erläuterung der Japanizität von Kultur die im Jahr 1124 erbaute Goldene Halle des Chūson-ji an, rekurriert er vordergründig auf einen erklärten japanischen Nationalschatz. Einem anlässlich der Weihungszeremonie verfassten Dokument lässt sich entnehmen, dass der Tempel einerseits gebaut wurde, um für Frieden und Wohlstand zu bitten, andererseits aber auch, damit die Seelen der Kriegstoten ins Reine Land geleitet werden mögen. Mit diesem Wissen wird offenkundig, dass Mishima mit dem Chūson-ji-Beispiel auch auf die seines Erachtens für die Konstituierung von Kultur entscheidende Bereitschaft der Selbstaufgabe anspielt.
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nialen Praktiken, die er etwa daran festmacht, dass Japan in der Nachkriegszeit sowohl kulturell als auch politisch westliche Vorstellungen übergestülpt wurden. Die meisten Referenzen bleiben dabei ungenannt – Mishima kann in diesem Fall tatsächlich kein Namedropping vorgeworfen werden –, sondern er analysiert mithilfe von Kant oder Lukács japanische Sachverhalte. Gemein ist Mishima und den marxistischen Kulturkritikern die Verurteilung von Verdinglichungs- oder Entfremdungsprozessen. Mishima prangert sowohl die museale, auf Gegenstände fokussierte Kultur an, als auch dass für den Einzelnen der materielle Wohlstand an erster Stelle stehe, womit eine Abkehr von politischem Interesse und Handeln einherginge. In Übereinstimmung mit Benjamin beklagt Mishima den Verlust des vom Kaiser verkörperten Auratischen. Aus verschiedenen Blickwinkeln üben Mishima und die von ihm Zitierten Kritik am selben System, welches ihrer Ansicht nach durch Werteverlust und dem Wunsch nach persönlicher Bereicherung gekennzeichnet ist. Die von Mishima offerierte Alternative, eine Rückkehr zu einer idealisierten und verklärten Vergangenheit mithilfe einer Revolution zugunsten der Widerbelebung des Tenno als Souverän, steht den marxistischen Lösungsvorschlägen naturgemäß konträr entgegen. Sein Versuch einer internationalen Positionierung ist dabei dennoch offenkundig, zumal gerade die Haltung von Lukács oder die Kritik an einer passiven, apolitischen Wohlstandsgesellschaft Hand in Hand mit der japanischen Moderne-Kritik gehen, in welcher die unreflektierte Übernahme westlicher Errungenschaften in Frage gestellt wird. Der Text beschäftigt sich aber nicht allein intensiv mit den Problemen Japans in den 1960er Jahren, sondern durch die Überblendung mit dem Vietnamkrieg und Mishimas USA-Kritik wird der Fokus auch auf den globalen Kontext gelenkt und Imperialismus, Kolonialismus, Postkolonialismus und Kapitalismus in den Blick genommen. Mishima beschäftigt sich in Bunka bōeiron nicht nur mit Themen, die Japan seit der Öffnung durch den Westen beschäftigt haben, sondern auch mit den internationalen Problemen der 1960er Jahre. Dazu greift er einerseits vorkriegszeitliche innerjapanische Diskurse auf, andererseits weist seine Argumentation Parallelen zu keinesfalls japanspezifischen Argumentationsmuster auf, die als parallele, eventuell zeitliche versetzte Entwicklungen zu verstehen sind und auf dieselben Verlusterfahrungen zurückgehen.
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Bunka bōeiron erweist sich mit seinen Klagen über die Nachkriegszeit und der Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit sowohl thematisch als auch hinsichtlich der Argumentationsweise als Paradebeispiel eines kulturkritischen Textes: Kulturkritik als Reflexionsmodus der Moderne – das meint […] bestimmte Haltungen und Denkmuster, die nicht Wissen sind, sondern die die Verarbeitung und Produktion von Wissen ermöglichen, indem sie mit dem Anspruch auf Totalkonstruktion bestimmte Abläufe und Lagen, Verhältnisse und Verhaltensweisen als Indikatoren einer Verfallsgeschichte thematisieren, ohne sie notwendigerweise zu analysieren.189
Indem Mishima ein von Dichotomien geprägtes polarisierendes Bild der mit Kriegsende einsetzenden allumfassenden Dekadenz zeichnet und gleichzeitig zu Gegenmaßnahmen aufruft, bewegt er sich innerhalb dieses Musters. Die Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen der Entfremdung ist ebenfalls charakteristisch für kulturkritische Texte, denn gerade Lukács’ unscharf bleibender Verdinglichungs-Begriff, in welchem Gedanken von Karl Marx (1818–1883) mit denen von Max Weber (1864–1920) und Georg Simmel (1858–1918) zusammenkommen und dadurch einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen, war einer der Leitbegriffe der Kulturkritik des frühen 20. Jahrhunderts: Wie in einem Brennspiegel schienen sich in diesem Ausdruck [der Verdinglichung] oder benachbarten Begriffen die historischen Erfahrungen zu konzentrieren, die die Weimarer Republik unter dem Druck wachsender Arbeitslosigkeit und ökonomischer Krisen prägten: Die sozialen Beziehungen erweckten zunehmend den Eindruck nüchtern-kalkulatorischer Zweckhaftigkeit, die handwerkliche Liebe zu den Dingen war offenbar einer Einstellung der bloß instrumentellen Verfügung gewichen, und selbst die inwendige Erfahrung der Subjekte ließen den eiskalten Hauch von berechnender Willfährigkeit erahnen.190
Die Konstanz solcher eingängiger Erklärungsmuster in kulturkritischen Argumentationen ist dabei insofern nicht verwunderlich, als Ressentiments gegen Neuerungen und die Angst des Individuums um sich selbst überhistorisch stabil sind. Da diese lediglich auf textueller Ebene unterschiedlich konkretisiert werden können, läuft Kulturkritik zwangsläufig Gefahr „immer wieder die gleichen Klagen über die Versachlichung, den Nihilismus, den Materialismus, den Rationalismus, die Vermassung, den Nützlichkeitsgeist oder die Ermüdung zu recyclen.“191 Diesem Charakter ist die Anfälligkeit der Kulturkritik für Generalisierungen und einfache Dichotomien geschuldet, die sich auch in Bunka bōeiron mühelos ausmachen lassen und welche durch ihren ständig alarmierenden Charakter häufig redundant sind. Doch gerade in der wertenden Differenz zwischen einem als normativ verstandenen Idealzustand und den angeprangerten zeitgenössischen Verhältnissen muss die Möglichkeit erkannt werden, Wissen zu generieren und gesellschaftliche Veränderungen Bollenbeck 2007: 11. Honneth 2005: 11. 191 Bollenbeck 2007: 16f. 189 190
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anzustreben.192 Dieses Anliegen verfolgt Mishima mit Bunka bōeiron, wenn er die kulturellen Verfallserscheinungen und deren Konsequenzen aufzeigt, den Kaiser als Lösungsvorschlag präsentiert und zu einer Revitalisierung des japanischen Geistes aufruft. Mit Bunka bōeiron als einer konservativen, antimodernistischen Kulturkritik, die erwartbaren Mustern folgt, reiht sich Mishima in eine Strömung ein, die sowohl im Westen als auch in Japan mit den Erfahrungen der Moderne einherging. Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900), in dessen geistige Tradition sich Mishima immer wieder stellte, gilt als Vordenker der Kulturkritik. Mishima Ken’ichi zeigt auf – nicht ohne zu betonen, dass Mishima sich in keiner Weise mit dem philosophischen Gedankengut Nietzsches auseinandergesetzt hat, sondern sein Nietzsche-Bild aus der Stimmung des Fin de Siècle generierte –, dass Mishima und Nietzsche in ihrer „unzeitgemäße[n] Distanzierung vom eigenen kulturellen Umfeld“ eine antimodernistische Ästhetik ebenso verband wie die Suche nach einer im einheitsstiftenden Mythos verankerten ‚authentischen‘ Kultur. Mishimas Hass gegen die „linkspazifistischen Diskurse der Nachkriegsintellektuellen in Japan und die Konsumversunkenheit der Masse“ ging einher mit seiner Ablehnung der gemeinhin positiv bewerteten Errungenschaften der Nachkriegszeit:193 Ungeachtet der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges proklamiert Mishima in Bunka bōeiron zweifellos einen Antimodernismus sowie eine faschistische Ästhetik. Die Übereinstimmungen in den Grundpositionen von Mishima und Nietzsche sind dabei weniger das Produkt einer vermeintlichen Nietzsche-Rezeption Mishimas, sondern dem kulturkritischen Denken beider geschuldet. Aus diesem Grund lassen sich auch Kongruenzen zwischen Mishima und Schriftstellern der sich ebenfalls häufig auf Nietzsche berufenden „Konservativen Revolution“, insbesondere Rudolf Borchardt (1877–1945), feststellen.194 Obgleich Mishima verschiedentlich Motive oder 192
Vgl. Bollenbeck 2007: 17ff.
193 Mishima Ken’ichi 2010: 32–40; beide Zitate: 39. 194
Mit der Frage, wer der Konservativen Revolution zugerechnet werden kann, befassen sich Mohler 2005, Ottmann 2010 und Breuer 1995. Insbesondere hinsichtlich des Rückgriffs auf die Poesie und die Mythen für die Erschaffung einer nationalen Identität lohnt ein Seitenblick auf Borchardt, der etwa in seiner Rede Schöpferische Restauration (1927) immer wieder eine Moderne skizzierte, die geprägt sei von einer „Abfallmenschheit“ und einem „Menschheitsabfall“, Synonyme für ein Volk, welches durch die Städte aufgesogen werde und in dem entstehenden Vakuum auf eine „Beute des Kapitalismus, der Sensation und der Reklame“ reduziert werde, „ohne Erinnerung an eine Vorzeit“ (Borchardt 1955 [1927]: 247). In der Rückbesinnung auf die Poesie, genauer: Indem die Ganzheitlichkeit des Volkes im Zuge einer restitutio in integrum wiederhergestellt werde, womit es seine Heiligkeit wiedererlange, sieht Borchardt die Möglichkeit, das deutsch-europäische Volk und dessen Geist zu retten (vgl. Borchardt 1955 [1927]: 252). Borchardt formuliert, dass der Ausweg aus der „Depravation unseres Volkes“ in der Wiederherstellung der Einigkeit liege und schließt mit der Einsicht, „daß der Verfall des Geistes nur durch den Aufbau des Geistes, daß Entgötterung nur durch Gott selber, Ideenfrevel nur durch Idee herzustellen wäre“ (Borchardt 1955 [1927]: 241). Darüber hinaus besteht eine Parallele zwischen Borchardt und Mishima in ihrer „narzisstische[n] Inszenierung des Dichter-Propheten“ (Kauffmann 2003: 108), in welcher es ihnen gelingt, die persönliche Unzufriedenheit mit dem Status Quo auf ein allgemeines Niveau zu heben und eine Brücke zu schlagen zwischen ihrer Zeit und ihrer Person.
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Szenen bei Thomas Mann (1875–1955) entlehnte195 und sich eindeutige Analogien zum Leben und Werk Gabriele D’Annunzios (1863–1938) nachweisen lassen, in Bezug auf Ästhetizismus und L’art pour l’art Übereinstimmungen mit Stefan George (1868–1933) auszumachen sind und hinsichtlich des Anspruchs an die Kunst ein Vergleich mit Filippo Tommaso Marinettis (1876–1944) Futuristisches Manifest erhellend wäre,196 sind diese Übereinstimmungen als Parallelentwicklungen anzusehen, die einem gewissen Muster folgend nebeneinander ablaufen, ohne sich konkret zu beeinflussen. Selbstredend deckt sich Mishimas Position nicht nur mit westlichen, sondern auch mit japanischen kulturkritischen Autoren. Grundlegend beeinflusst ist der Tenor von Bunka bōeiron vom Gedankengut der japanischen romantischen Schule, Nihon Roman-ha, unter deren Einfluss Mishima in jungen Jahren stand.197 Die japanischen Romantiker, entscheidend von Yasuda Yōjūrō, einem ihrer wichtigsten Mitglieder, geprägt, suchten in den 1930er Jahren eine Alternative zu modernen, rationalen Denkformen.198 Diese resultierten in der Formulierung einer faschistischen Ästhetik, die zurückzuführen war auf die Erfahrung der Moderne – verstanden als ein weitgehend unbestimmtes Gefühl der „Entzauberung der Welt“, in der Mythen und Riten nur noch geringe Bedeutung haben, die einstige Gemeinschaft zerbricht und der Glaube an eine ununterbrochene Tradition, welche Vergangenheit und Gegenwart verbindet, abhandenkommt.199 Um der gefühlten Entfremdung entgegenzuwirken, beschworen die Romantiker eine angeblich von westlichen Einflüssen unberührte japanische Kultur. Sie gelten als Vertreter des Nihon kaiki, der Wiederbelebung eines oftmals bewusst idealisierten Japanischen.200 Im Moment der Krise generierte die Suche nach Authentizität und das Evozieren von Schönheit den Mythos einer nationalen und ethnischen Einheit, wodurch eine Verbindung zwischen Kultur, Ästhetik und Politik und damit eine Grundlage faschistischer Ästhetik geschaffen war. Die ÄstheDas Verhältnis von Politik und Kunst, wie es Thomas Mann in Betrachtungen eines Unpolitischen thematisiert, weist Parallelen zu verschiedenen Gedankengängen in Bunka bōeiron auf. 196 Übereinstimmungen mit dem Werk Oswald Spenglers (1880–1936), Ludwig Klages (1872–1936), aber auch mit Schriftstellern wie etwa Ezra Pound (1885–1972), die nicht mit der „Konservativen Revolution“ in Verbindung zu bringen sind, liegen ebenfalls auf der Hand, können jedoch in diesem Rahmen nicht näher untersucht werden. Verwiesen sei jedoch auf die Selbstinszenierungen von Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) sowie Gabriele D’Annunzio (1863–1938) – dessen politische Attitüden darüber hinaus nach Mishimas Gusto gewesen sein dürften –, die an Mishimas öffentliches Auftreten erinnern (vgl. etwa Chytraeus-Auerbach 2003). 197 Zur japanischen romantischen Schule, Nihon Roman-ha, vgl. Doak 1994: xi–xliii. 198 Diesen westlichen Denkmustern setzte Yasuda das Narrativ von „Japan als Ironie“ entgegen: „But ultimately the emphasis on irony as a form of negative praxis proved impossible to reconcile with any concrete form of social and political intervention and was transformed from a promising critical practice to a latent desire for total culture and, finally, to an aesthetics of death as the ultimate form of totality.“ (Doak 1994: xli). 199 Ob der Faschismus-Begriff auf Japan angewendet werden kann, ist ein viel diskutiertes Thema (vgl. Schölz 2006; Tansman 2009: 5–8, 17f.). Die meisten japanischen Wissenschaftler gehen davon aus, dass das System bzw. bestimmte Ideologien als faschistisch zu deklarieren sind, ihre westlichen Kollegen meiden den Begriff weitgehend (vgl. Nishikawa 1990: xxiiiff.). 200 Vgl. Tansman 2009: 3, 8, 13ff., 46. 195
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tisierung von Gewalt und die Kreation neuer Mythen rief – meist unter Berufung auf die Tradition und unter Erschaffung eines idealisierten Japans – Bilder der Selbstauslöschung hervor, die suggerieren, dass der Einzelne sich mit dem großen Ganzen verbinden könne.201 Intellektuelle Analysen wurden zugunsten des Narrativs von nationaler Bestimmung und Heldenkult aufgegeben: Damit einher ging die Vorstellung, dass das erlöschende Individuum in die Sphäre der Kunst übergehe und die Vollendung des Individuums im Tod liege. Zerstörung und Erschaffung, Selbstaufgabe und Selbsterhöhung, Vergangenheit und Zukunft sowie traditionelle und gegenwärtige Kultur werden durch eine solche Ästhetik miteinander verbunden.202 According to the logic of fascist aesthetics, violence – be it actual or figurative – can heal the fractured intellect by engaging all the senses while producing an experience of sublimity.203
Diese japanische Ausprägung forderte häufig eine Unterwerfung, sei es unter eine absolute Ordnung, oder unter eine undifferenzierte, aber befreiende Erfahrung von Gewalt, welche mit der Glorifizierung des Todes einherging.204 Diesen Protest gegen die Moderne artikulierten nicht allein die japanischen Romantiker, sondern neben den äußeren Rechten auch die Vertreter der philosophischen Kyōto-Schule sowie diverse Intellektuelle und Künstler; alle wollten sie die mit dem Westen gleichgesetzte Moderne und den damit einhergehenden entfremdenden Individualismus ablegen und suchten nach gültigen Werten in der japanischen Kultur. Diese neue Identität sollte durch eine Identifizierung zwischen Mensch und Staat ausgehandelt werden. The individual came to be viewed not only as selfish but also as an inadequate source of meaning, while ‘the people’ and the state became idealized as sources of authentic action and identity. Intellectuals criticized modernity, by which they meant Western individualism and all its alienating ramifications, as an insufficient vehicle for both national and personal identity, for it had already lead to a dead end.205
In Kriegszeiten, besonders deutlich im Symposium zur „Überwindung der Moderne“ (Kindai no chōkoku) im Jahr 1942, spitzten sich die Formulierungen, verpackt in eine
201 Vgl. Tansman 2009: 4, 17ff. Im faschistischen Moment findet eine Annäherung und Angleichung von
Politik und Ästhetik statt, die, wie Walter Benjamin warnte, immer im Krieg enden würde (Benjamin 1972 [1936]: Nachwort). Alice Kaplan schreibt über den französischen Faschismus, dass dieser als Eintritt ästhetischer Kriterien in das Reich der Politik charakterisiert werden kann, wodurch das Auflehnen gegen die Modernisierung an sich ästhetisch modern sein kann (vgl. Tansman 2009: 17f.). 202 Vgl. Tansman 2009: 53–57. 203 Tansman 2009: 26. 204 Dies zeigt sich etwa in Yasudas Schriften: „First and foremost a writer of literature, Yasuda wrote prose that bestowed beauty on the act of self-immolation in war. Yasuda thereby offered a cure to individuals exhausted by the wounds of modernity (ironically through the piercing of his poetic arrow) – by the loss of cultural identity; alienation from native traditions; and feelings of inauthenticity, isolation, loneliness. If fascism attempted to resolve these conditions through a politics of action, it is appropriate to use the word fascist in describing Yasuda.“ Tansman 2009: 53 205 Vgl. Tansman 2009: 8ff.; Zitat: 9.
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kulturchauvinistische Rhetorik, merklich zu.206 Die Glorifizierung der japanischen Nation zu Kriegszeiten ging einher mit der Errichtung einer militärischen Hegemonie und eines autarken ökonomischen Reiches. Im Zuge der „nationalen Mobilmachung“, kokka sōdōin 国家総動員, wurden die Bürger dazu aufgerufen, „to consume oneself in service to the state“; das Volk sollte eine Einheit mit dem Kaiser bilden und einen Geist formen.207 Naturgemäß griff auch die Propaganda während des Pazifischen Krieges Fragen der japanischen Besonderheit, sei es im ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Sinn, auf und machte sich diese im Interesse einer Legitimation der Kampfhandlungen zunutze.208 Bereits vor Beginn des „Großostasiatischen Krieges“ war die literarische Diskussion in Japan bestimmt von verschiedenen Varianten des Umgangs mit einer ‚kulturellen Renaissance‘, bungei fukkō. Wie ‚kulturelle Produktion‘ realisiert werden könne, welche Möglichkeiten das Künstlersubjekt habe und wie individuelle Identität durch kollektive, meist in der Kultur verankerte Identität ersetzt werden könne, stellten dabei zentrale Fragekomplexe dar.209 Hayashi Fusao 林房雄 (1903–1975) und Kamei Katsuichirō 亀井勝一郎 (1907–1966), die sich von der proletarisch-kommunistischen Bewegung entfernten und sich unter dem Banner der kulturellen Renaissance der Roman-ha zuwandten, beschäftigten sich explizit mit der Frage, welche Auswirkungen eine Politisierung der Kultur auf die Kreativität der Japaner habe und wie eine solche unter dem zunehmenden nationalen Druck innerhalb des Landes erreicht werden könne.210 Der Nachweis der betonten japanischen Einzigartigkeit, welche einen Gegenpol zum Westen darstellen sollte, wird von Hayashi genau wie von Mishima über die apolitische Ästhetik geführt. Aufgabe der Literatur sei es, den Geist des Volkes auf der Grundlage des alltäglichen Lebens zu formen; in entscheidenden Momenten könne sich Literatur gegebenenfalls gar in das Alltagsleben einmischen und sich gegen Politik auflehnen.211 In Tenkō ni tsuite [Über meine Konversion], einem autobiographischen Text aus dem Jahr 1941, welcher Hayashis Abwendung vom Kommunismus hin zum Romantizismus beschreibt, setzt sich der Autor mit der Bedeutung des Tenno auseinander. Hayashi sieht den Tenno als Mensch gewordenen Gott und differenziert diesen somit von dem Kaiser, Das 1942 abgehaltene Symposium zur „Überwindung der Moderne“ bei welchem verschiedene Positionen zur Moderne diskutiert wurden (vgl. Calichman 2008), ist vornehmlich aufgrund der kulturchauvinistischen Äußerungen, welche die Position Japans im Pazifischen Krieg rechtfertigen sollten, im Gedächtnis geblieben (vgl. Hijiya-Kirschnereit 1999: 11). 207 Vgl. Tansman 2009: 11; Zitat ebd. 208 Vgl. Iritani 1991: 160-21; Bellah 1965: 579. Auch in diesem Zusammenhang wurden die Menschen unter Rückgriff auf die kulturelle und traditionelle Sonderstellung auf die Nation eingeschworen und die kulturelle Identität über den Staat definiert (vgl. Tansman 2009: 11ff.). 209 Vgl. Iida 2002: 35ff. 210 Vgl. Doak 1994: xxivf., 124f. Nicht alle Mitglieder der Roman-ha vertraten den Staats- oder ethnischen Nationalismus. Stattdessen wurde etwa auch über eine Umwertung von Fukuzawa Yukichis Idee (datsu-a nyū-ō) diskutiert, Asien zu verlassen und sich dem Westen zuzuwenden, um im Kontext des einflussreichen Westens überleben zu können. Okakura Tenshin etwa inspirierte Gedanken um einen „Wiedereintritt“ nach Asien. 211 Vgl. Doak 1994: 124f. 206
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der von den Amerikanern zur Menschlichkeitserklärung gezwungen wurde. Er beschreibt die menschlichen Züge des dichtenden, jagenden, singenden und liebenden Tenno, genau wie sie im Man’yōshū dargelegt seien.212 Der Tenno, der jenseits des homogenen japanischen Volkes angesiedelt sei und alle japanischen Kaiser in sich vereine, sei die zeitlose Essenz des Volkes und in der Lage, das mit der Moderne einhergehende kulturelle und politische Chaos zu ordnen. Das Kaisersystem könne nach 1945 trotz aller Modifikationen weiter bestehen, weil das tennōsei so tief verwurzelt sei und die Menschen mit dem Tenno als Symbol der Einheit zufrieden seien. Hayashi hebt den militärischen und kriegerischen Aspekt des Tennosystems – der schon bei der Taika-Reform und der Kemmū-Restauration entscheidend gewesen sei – hervor: Dieser habe die Nation und den Tenno während des Krieges eng miteinander verknotet. Da Japan in der Moderne beständig von den westlichen imperialistischen Staaten bedroht werde, musste das Tennosystem mit Waffen ausgestattet werden. Da das Kaisersystem schon mehrmals umgestaltet worden sei, hadert Hayashi nicht mit dessen nachkriegszeitlicher Funktion.213 In Tenkō ni tsuite argumentiert Hayashi, dass Konversion eine Möglichkeit darstelle, das Selbst neu zu gestalten und in Einklang mit den Wünschen des Tenno zu bringen, wodurch ein Weg in Richtung einer vom Kaiser geprägten Kultur eingeschlagen werden könne.214 Hayashi argumentiert, Loyalität dem Tenno gegenüber sei nicht mit dem Patriotismus zu verwechseln, den alle Barbaren an den Tag legen könnten; viel eher basiere die Kaiserloyalität auf der Einsicht, dass das japanische Volk nur dem Kaiser als menschgewordenem Gott, dem arahitogami diene. Mit dieser Einstellung einher gehe auch die Tatsache, dass Japaner bereit seien, ihr Selbst auf dem Schlachtfeld zu zerstören.215 Hayashi vertritt nicht nur die seit der Meiji-Zeit vorherrschende Kaiserposition, die in weiten Teilen auch von Mishima getragen wird, sondern er knüpft seine Vorstellung an eine auf den Kaiser abgestimmte Lebenspraxis. Auffällig ist die bei Mishima und Hayashi parallele Betonung, Selbstaufgabe müsse Bedingung für eine neue Literatur sein, wenn die Verfehlungen der modernen Kultur aufgefangen werden sollten.216 Den Intellektuellen der Meiji- und Taishō-Zeit, die keine authentische japanische Form der kaiserlichen Herrschaft zu formulieren in der Lage gewesen wären, lastet er an, dass sie die Kultur nicht vor Veränderungen geschützt hätten.217 Dieser romantische Tennoismus ignoriert dabei den historischen Funktionsverlust, die Verklärung zum Menschen soll die göttliche Seite in die Gegenwart hinüberretten. Die Göttlichkeit des Tenno ist für Hayashi ein entscheidender Punkt: „In Zeiten der geistigen Anspannung und Hochstimmung des einzelnen oder während einer Krise des Volkes nähert sich der Mensch Gott an. Er macht dann seinen eigenen Gott wieder lebendig.“ (Seifert 1977: 181). 213 Vgl. Seifert 1977: 181–188. 214 Vgl. Hayashi 1970 [1941]. 215 Vgl. Doak 1994: 123–130. 216 Doak 1994: 128f. Hayashi als Kenner proletarischer Kultur wusste um die politische Brauchbarkeit der Behauptung, apolitische Kunst sei existent. Seine Versuche den Wert einer apolitischen Kultur hervorzuheben waren hingegen keineswegs unpolitisch, sondern sind auf die Versuche zurückzuführen, ein Modell einer Gesellschaft zu kreieren, das auf Homogenität basiert. 217 Vgl. Doak 1994: 129ff. 212
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Eine Wahrung der Kontinuität der japanischen Kultur, so formuliert Hayashi bereits 35 Jahre vor Mishima im Angesicht des Krieges, sei nur über die Bewahrung des japanischen Kaisers möglich. Auf dem bereits erwähnten Symposium zur Überwindung der Moderne vertrat Hayashi gemeinsam mit Kamei Katsuichirō die Ansicht, dass die Moderne den Verlust des indigenen japanischen Geistes eingeleitet habe, weswegen eine von westlicher Rationalität unberührte japanische Identität nicht mehr verwirklichbar sei.218 Hayashi, der das Symposium als eine Revolte gegen den Westen begriff, ging es bei der Veranstaltung allerdings weniger darum, die tatsächliche Beschaffenheit der Moderne zu diskutieren, als vielmehr um die Etablierung einer japanischen Identität. Die durch westliche Einflüsse beschädigte japanische Kultur sei nur durch ein gestärktes Bewusstsein für die japanischen Klassiker erneuerbar.219 Während manche Literaten die Notwendigkeit direkter politischer Aktionen propagierten und sich wie Hayashi positiv zum bevorstehenden Krieg äußerten, verarbeiteten viele ihren Anti-Modernismus, den sie mit einer fehlenden kulturellen japanischen Identität erklärten, literarisch.220 Auch der einflussreiche Literaturkritiker Kobayashi Hideo 小林秀雄 (1902–1983), ein Freund von Hayashi und ebenfalls Befürworter des Krieges, beschäftigte sich mit der Frage, wie unter den gegebenen, hybriden Bedingungen einerseits japanisch und andererseits modern zu sein, japanische Identität generierbar sei.221 In seinem Aufsatz Kokyō wo ushinatta bungaku (Literature of a Lost Home) aus dem Jahr 1933 legt Kobayashi dar, dass er eine „Heimkehr nach Japan“ nicht für realistisch halte, weil mit der Moderne eine Heimatlosigkeit einhergegangen und eine klare Distinktion zwischen westlichem und japanischem Ursprung unmöglich geworden sei. Da Geschichte in seinen Augen Traditionen zerstöre, verspricht er sich nichts von der Suche nach einem ‚japanischen Geist‘. Obgleich auch Kobayashi bemängelt, dass das Charakteristische der japanischen Kultur abhandengekommen sei und Verlustgefühle die Moderne dominierten, gelingt ihm keine Spezifizierung der angeblich verlorenen Essenz, des ‚authentisch Japanischen‘.222 218 Vgl. Calichman 2008; Kawakami 1994 [1979]. Hayashi thematisierte auch in der zu diesem Anlass
gehaltenen Rede die Besonderheit der Loyalität der Japaner zu ihrem Tenno.
219 Vgl. Doak 1994: 138f.; Calichman 2008; Kawakami 1994 [1979]. Hayashi, der als „kultureller Kriegs-
verbrecher“ verurteilt wurde, änderte seine Position auch nach 1945 nicht, sondern verteidigte diese etwa in seiner Schrift Dai tōa sensō kōtei ron [Bejahung des Großostasiatischen Krieges] aus dem Jahr 1964. Darin erklärt er, dass der Pazifische Krieg ein asiatischer Befreiungskrieg gewesen sei (vgl. Hayashi 2002 [1964]). 220 Vgl. Doak 1994: xxviii. 221 Vgl. Washburn 2007a: 18. Zum Verhältnis von Hayashi und Kobayashi sowie der Einstellung des Letzteren zum Krieg, siehe Königsberg 1993: 133–162. Ausführlich beschäftigt sich James Dorsey mit der Person und dem Wirken Kobayashis an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ideologie (vgl. Dorsey 2009: 15f.) sowie der Frage, wieso Kobayashi, der als Kollaborateur des ultranationalistischen Regimes gilt, die nachkriegszeitlichen Säuberungen weitgehend unbeschadet überstehen konnte (vgl. Dorsey 2009). 222 Vgl. Washburn 2007a: 18f. Aus diesem Verlust, so resümiert Kobayashi, resultiere, dass Japan kosmopolitisch geworden sei und nun die westliche Literatur verstehen könne (vgl. Kobayashi 1995
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Die Rehabilitierung der Roman-ha, deren Mitglieder den Krieg mehrheitlich befürworteten, nach 1945 war das Verdienst von Hashikawa Bunzō und Takeuchi Yoshimi 竹内好 (1910–1977), die den Einfluss der Schule in verschiedenen Schriften analysierten.223 Mit seinem sperrigen Text Was bedeutet die Moderne? Der Fall Japan und der Fall China (1948) hat Takeuchi einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die kulturelle japanische Identität und die damit in Verbindung stehenden Selbstbehauptungsdiskurse geliefert. Takeuchi thematisierte bereits 1948 die wechselseitige Bedingung der europäischen und asiatischen Moderne. Die Frage nach der Entstehung der Moderne war für Takeuchi gleichbedeutend mit der Frage, was Asien sei, denn genau wie sich Europa erst durch seine Ausdehnung nach Asien seiner selbst bewusst werden konnte, entstand auch Asien erst angesichts des eindringenden Westens.224 Während China gegen das Eindringen des Westens Widerstand geleistet habe, sei in Japan kein Verlangen nach Selbsterhalt zu verzeichnen gewesen.225 Takeuchi kritisierte – und die Wortwahl macht Mishimas Bezug darauf deutlich –, dass die japanische „Musterschüler-Kultur“, wie sich seit der Meiji-Zeit zeige, dem Neuen nacheile, ohne sich jedoch innerlich damit befasst zu haben.226 Obgleich an dieser Stelle rahmenbedingt und um Simplifizierungen zu vermeiden nur Teile der diskursrelevanten Fragmente genannt werden können, wird die unauflösliche Verbindung zwischen der Moderne- und der Identitätsthematik ersichtlich. Die Frage nach einer japanischen Identität ist dabei an die Bestimmung von Authentizität geknüpft. Ist diese einmal glaubwürdig vermittelt, dient sie der Demonstration von Besonderheit und kann Autonomie generieren. Washburn fasst Authentizität als direkte Verbindung zwischen dem Individuum und den von der Gemeinschaft vergessenen oder verdorbenen Werten.227 [1933]: 50–54; Hideo 1968: 41–45). Interessant ist, dass Kobayashi genau wie Mishima die Chanbara, Schwertkampffilme, als Medium beschreibt, welches die Massen beeinflusse (vgl. Kobayashi 1995 [1933]: 52). 223 Der Sinologe und Literaturkritiker Takeuchi Yoshimi ist einer der einflussreichsten japanischen Kulturkritiker und Nachkriegsintellektuellen, dessen Analyse der politischen Relevanz der Roman-ha sowie der Bedeutung der Moderne-Diskussion ihn in der Nachkriegszeit zu einem viel diskutierten Autor machten. Gemeinsam mit Hashikawa Bunzō formulierte er die These, dass die Roman-ha die drei wichtigsten Quellen radikalen Gedankenguts der Shōwa-Zeit – Marxismus, Nativismus und die deutsche Romantik – vereinten (vgl. Hashikawa 1965; Doak 1994: 147; Takeuchi 1980 [1948]). 224 Takeuchi beschreibt diesen Prozess der Ablehnung als entscheidend für die Verwirklichung der westlichen Moderne (vgl. Takeuchi 2005: 10ff). Das Bild des Orients als Spiegel des Okzidents wurde spätestens seit Edward Saids Orientalismus-Text breit diskutiert (vgl. Seifert 2005: 297f.). 225 Vgl. Takeuchi 2005: 25. 226 Vgl. Takeuchi 2005: 29–34; Takeuchi 1980 [1948]: 149–154; Krämer 2007. Mishima bezeichnet die erste Stufe des ethnischen Nationalismus als „musterschülerhaft“, yūtōsei 優等生 (BB: 32), und verwendet den gleichen Begriff wie Takeuchi. In dieser Referenz auf Takeuchi fallen damit Parallelentwicklung und Intertext in eins. 227 Der Glaube, dass Identität auf mythische oder natürliche Ursprünge zurückgeführt werden könne, lässt dabei die Hybridität der modernen Kultur außer Acht, wobei dies auch darauf zurückzuführen ist, dass Authentizitätsgefühle dazu dienen, die Etablierung nationalistischer Ideologien beziehungsweise die Konstruktion idealisierter Formen, etwa der „japanischen Nation“ oder der „japanischen Nationalsprache“, zu vereinfachen (vgl. Washburn 2007a: 24).
IV Zur (Be)Deutung von Bunka bōeiron
1
Paratexte zu Bunka bōeiron
Mishima kompilierte im Jahr 1969 eine Sammlung als politisch ausgewiesener Texte. Außer Bunka bōeiron befinden sich darin die Texte Hankakumei sengen 反革命宣言 [Manifest der Gegenrevolution], „Dōgiteki kakumei“ no ronri – Itobe ittō shukei no ikō ni tsuite「道義的革命」の論理―磯部一等主計の遺稿について [Die Logik der „moralischen Revolution“ – über das hinterlassene Manuskript des Schatzmeisters Itobe] sowie ein an Hashikawa Bunzō gerichteter, offener Brief. Darüber hinaus enthält die Sammlung ein eigens dafür verfasstes Nachwort: Bunka bōeiron atogaki 文化防衛論後書 [Nachwort zu Bunka bōeiron].1 Darin erläutert der Verfasser, dass die Schriften des Bandes mit Ausnahme von „Dōgiteki kakumei“ no ronri politische Texte seien. Diese resultierten aus seinen Bemühungen, im Anschluss an die Erzählung Eirei no koe 英霊の声 (Die Stimmen der toten Helden) aus dem Jahr 1966, das bu 武 des Prinzips bunbu ryōdō 文武両道, den ‚Schwert-Teil‘, darzulegen: Da bu jedoch niemals alleine literarisch zu verarbeiten sei, sondern sich auch in Handlungen ausdrücken müsse, sei seine Privatarmee, Tatenokai 楯の会, als praktischer Anteil des bu zu verstehen.2 Hankakumei sengen bezeichnet Mishima als einen Vorläufertext des umfassenderen Essays Bunka bōeiron.3 Dieser sei nach einem Teach-In entstanden: Einerseits wollte er die Fragen linker Studenten nochmals aufgreifen, andererseits die Aufgaben und das Selbstverständnis der Tatenokai darlegen. Der als Tatenokai-Statuten ausgewiesene Text erinnert wegen des Wortspiels im Titel und vor allem aufgrund seines Aufbaus an das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels, welches als Kyōsantō sengen 共産党宣言 ins Japanische übersetzt wurde. Auch der erste Satz: „Wir sind nicht gegen 1 2 3
Eben diese Texte wurden im Jahr 2010 unter Beigabe einiger Mitschriften von öffentlichen Auftritten Mishimas neu aufgelegt (vgl. Mishima 2010 [2006], Kapitel I.2). Vgl. BBA: 428f. Vgl. BBA: 432f. Veröffentlicht wurde allerdings – laut dem in der Gesamtausgabe vermerkten Erscheinungsdatum – zuerst Bunka bōeiron.
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Zur (Be)Deutung von Bunka bōeiron
alle Revolutionen“4, nimmt auf den bekannten Eingangsparagraphen von Marx und Engels Bezug, in welchem Geschichte beschrieben wird als geprägt von Klassenkämpfen.5 Ebenso wie das Kommunistische Manifest ist Mishimas Text in fünf Thesen untergliedert; Mishima widmet sich allerdings den Gefahren des Kommunismus. Mishima führt aus, dass die Tatenokai unbedingt verhindern wolle, dass die japanische Regierung sich dem Kommunismus annähere. Dieser zerstöre Geschichte, Kultur und Traditionen und stünde der kokutai-Idee entgegen. Ein kommunistisches Regierungssystem gefährde die Redefreiheit und negiere die Existenz des Tenno, des Symbols der Einheit des japanischen minzoku. Die Tatenokai begreife sich als Essenz der japanischen Kulturgeschichte und Tradition und sei bereit, den Kommunismus mit Gewalt zu bekämpfen, wobei nicht der Schutz des Landes im Vordergrund stehe, sondern die Bewahrung der japanischen Seele.6 Der „japanische Geist“ sei es auch, aus dem die Mitglieder des Schilderbundes ihre Stärke bezögen.7 In den Annotationen zu den Statuten führt Mishima aus, dass an demokratische Regierungen prinzipiell keine Erwartungen gestellt werden könnten, weil diese den als gottgleich verstandenen Massen folgten. Die Tatenokai hingegen wolle weder den Menschen als Gott anerkennen noch die Inhumanität der Massengesellschaft tolerieren, sondern den Kaiser als Gott erachten. Zwar verstünde sich die Tatenokai nicht als Verfechter demokratischer Parteien, doch sei die gegenwärtige Demokratie noch immer die bestmögliche Voraussetzung für das tennōsei, in welchem der unpolitische Kaiser Spiegel der kulturellen Ganzheitlichkeit und Kontinuität sein könne.8 Die Parallelen zur Argumentation in Bunka bōeiron liegen auf der Hand: Der Kaiser wird auch in Hankakumei sengen als unantastbarer Garant der Traditionen, Kultur und damit Japans erachtet, der dem minzoku vorstehe. Deutlicher als in Bunka bōeiron wird die Bedeutung der Redefreiheit sowie eines geeigneten politischen Systems als Bedingungen für den Schutz des japanischen Geistes betont. Hier wie dort kann dieser Geist notfalls durch Revolutionen oder militärische Aktionen verteidigt werden. Allerdings unterscheiden sich die Texte grundlegend in Form, Stil und Aufbau. Als Statut ist Hankakumei sengen klar strukturiert, eindeutig in der Aussage und beinhaltet deutliche Handlungsaufforderungen. Dafür sind die Leitlinien weitgehend frei von philosophischen Überlegungen oder Versuchen, die aus dem alltäglichen Geschehen abgeleiteten politischen Beobachtungen zu theoretisieren, wie dies in Bunka bōeiron geschieht. Auch die Verbindung zwischen Kultur und Kaiser ist nicht annähernd so ausführlich ausgearbeitet wie im späteren Essay. Ungeachtet der offenkundigen Nähe der beiden Texte auf inhaltlicher Ebene, sollte deren Intention differenziert werden. Ein Rückschluss der Statuten auf Bunka bōeiron 4 5 6 7 8
Wareware wa arayuru kakumei ni hantai suru mono dewanai „我々はあらゆる革命に反対するもの
ではない。“ (HS: 389).
Vgl. Stammen 2009: 68. Vgl. HS: 391f. Die Tatenokai glaube zudem nicht an Versprechen, die eine bessere Zukunft verheißen, denn diese bedeuteten einen Abbruch der japanischen Traditionen. Vgl. HS: 389f. Vgl. HS: 405.
Paratexte zu Bunka bōeiron
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griffe kurz, da sich die Zielgruppen ebenso unterscheiden wie der jeweilige Fokus, der einerseits auf der Kultur, andererseits auf einem Schutz Japans vor dem Kommunismus liegt. Ein weiterer Aufsatz, der mit Bunka bōeiron thematisch in Zusammenhang steht, ist Eiyo no kizuna de tsunage kiku to katana [Verbinde Chrysantheme und Schwert durch die Bande des Ruhms].9 Wenngleich nicht unmittelbar als Paratext ausgewiesen, deckt sich die darin entfaltete Kultur- und Kaiser-Definition sowie die Annahme eines notwendigen Schutzes mit den Ausführungen in Bunka bōeiron. Mishima fragt darin explizit, was der in den Medien propagierte „Schutz Japans“ meine.10 Schützen könne weder auf die Familie (ie 家) noch auf das Land (kokudō 国道) oder das Volk (kokumin 国民) gerichtet sein, sondern es gelte dasjenige, was Japan ausmache, zu beschützen.11 Dieser japanische Geist sei Kultur, verstanden als Form, die Unsichtbares subsumiere. Kultur sei nicht zwingend materiell, sondern könne ihre Essenz, wie im Falle der tokkōtai-Einheiten, in Form von Resultaten ausdrücken. Sie definiere sich darüber, ob der japanische Geist oder die japanische Seele darin enthalten sei, irrelevant sei hingegen, ob etwas neu oder alt, gut oder schlecht sei.12 Da der Kaiser als lebendes Symbol die Einheit Japans sowie die Geschichte und Kultur des Landes verkörpere, sei Loyalität dem Kaiser gegenüber gleichbedeutend mit Loyalität gegenüber der japanischen Kultur – mit dem Schutz des Kaisers einher gehe die Wahrung der Kultur.13 Waffengewalt sei nur bedingt für den Schutz geeignet; wichtiger sei die innere Einstellung, die Macht des Schutzes liege in der Seele.14 Mishima beklagt, dass Kaisertreue oftmals als Eigenschaft des rechten Lagers bezeichnet und mit einem Betrug an der Demokratie gleichgesetzt werde und ruft zu einer offenen Auseinandersetzung mit der nach dem Krieg veränderten Position des Kaisers auf. Schließlich sei dieser Gegenstand des ersten Artikels der Verfassung und müsse damit öffentlich diskutiert werden dürfen.15 An den rechten Lagern kritisiert der Autor, dass sie zwar vom Erhalt eines „reinen Japan“ oder von der Harmonisierung von Volk und Sprache redeten, aber – im Gegensatz zu Bunka bōeiron, so ist anzunehmen – weder definierten, was genau gemeint sei oder wie sich ihre Ziele umsetzen ließen.16 9
10 11 12 13 14 15 16
Mishima geht weder auf den Ursprung der Begriffe kiku und katana noch deren Bedeutung ein. Er führt lediglich aus, dass Chrysantheme und Schwert Synonyme zum Kaiser und der japanischen Kultur seien (vgl. KK: 194). Diese Ausführungen machen dem heutigen Leser bewusst, wie präsent die Frage nach dem Schutz beziehungsweise der Verteidigung des Landes zur damaligen Zeit war. Vgl. KK: 188ff. Mishima sagt wörtlich, dass dasjenige erhalten bleiben müsse, was, ginge es verloren, dazu führte, dass Japan nicht mehr Japan sei (vgl. KK: 191). Vgl. KK: 192f. Explizit warnt Mishima auch in diesem Text vor den Gefahren eines instrumentalisierten minzokushugi, wie er etwa im Nationalsozialismus existiert habe (vgl. KK: 197). Vgl. KK: 195. Vgl. KK: 194. Vgl. KK: 191. Interessanterweise spricht Mishima von den Rechten als einer Gruppe, zu der er sich nicht zugehörig fühlt.
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In Eiyo no kizuna de tsunage kiku to katana, in Hankakumei sengen und naturgemäß im Nachwort zu Bunka bōeiron befasst sich Mishima im Kern mit der Thematik, die auch Zur Verteidigung unserer Kultur bestimmt. Gemein ist all diesen Paratexten, dass Mishima auf philosophische Exkurse verzichtet und die Aussagen präzise auf den Punkt bringt. Indem er die verwendeten Begrifflichkeiten definiert, bestimmt er zudem eine Diskussionsgrundlage. Deutlicher als in Bunka bōeiron wird dadurch die Beschaffenheit von Kultur und deren Gleichsetzung mit dem Tenno, insbesondere aber die Rolle, die der Geist für die Verteidigung Japans gegen ideologische wie tatsächliche Angriffe spielt. Liest man Bunka bōeiron im Licht dieser Paratexte, aus denen deutlich die Befürchtung hervorgeht, Japan könne kommunistisch werden, und welchen die Forderung nach einer Verteidigungseinheit gegen den Kommunismus explizit eingeschrieben ist, scheint die Einordnung von Bunka bōeiron in diesen politischen Kontext allzu naheliegend. Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Texte gemessen an ihren Darstellungsprinzipien, ihrer Argumentationsstruktur, ihrem Stil und dem sprachlichen Niveau grundverschieden sind. Freilich ist eine Überblendung der einzelnen Texte insofern interessant, als – insbesondere im Fall von Statuten – deren Intentionen dadurch augenfällig werden und sich die jeweiligen Zielgruppen bestimmen lassen. Offenkundig ist die Aussage von Bunka bōeiron jedoch um ein Vielfaches komplexer als die Prinzipien der Tatenokai; die Analyse der Intertexte und Anspielungen in Bunka bōeiron hat gezeigt, dass ein rein politischer Blick, wie er durch die Brille der Statuen zwangsläufig erfolgen müsste, dem Text nicht gerecht würde. Bedingt durch diese Haltung steht die vorliegende Interpretation von Zur Verteidigung unserer Kultur den im Folgenden analysierten Rezensionen entgegen: Diese rekurrieren großteils auf die Paratexte beziehungsweise die fiktionalen Werke des Autors.
Rezeption von Bunka bōeiron
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Rezeption von Bunka bōeiron
Anhand einer Nachzeichnung der Rezeptionsgeschichte von Bunka bōeiron, lässt sich die Wirkung des moralisierenden Textes erfassen. Um Veränderungen der Interpretation des Essays analysieren zu können, werden diese chronologisch besprochen, und die vor und nach Mishimas Tod entstandenen Rezensionen getrennt beleuchtet.17 Auch in wissenschaftlichen Abhandlungen in westlichen Sprachen wird Bunka bōeiron verschiedentlich thematisiert.18 Die Autoren interpretieren Mishimas Essay nicht vorrangig, sondern ziehen diesen für Einblicke in die Nachkriegszeit, Mishimas Gesamtwerk oder die Diskussion über den Umgang mit dem Kaisersystem heran.
2.1 Japanische Rezensionen vor 1970 Die ersten Reaktionen auf Bunka bōeiron folgten der Publikation des Textes prompt: Nur einen Monat nach dessen Erscheinen nahm Hashikawa Bunzō 橋川文三 (1922–1983)19 im August 1968 ebenfalls in der Zeitschrift Chūō kōron Stellung zu Bunka bōeiron.20 Sein Aufsatz setzt mit harscher Kritik ein: Obwohl er wisse, dass Mishima besser schreiben könne, sei Zur Verteidigung unserer Kultur so schlecht, dass selbst „banal“ ein beschönigender Ausdruck für den Text sei.21 Hashikawas Ausführungen werden im Weiteren sachlicher und versöhnlicher, wenn er die Wichtigkeit und Notwendigkeit betont, sich mit dem nachkriegszeitlichen Kaisersystem und den von Mishima aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen.22 17
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In diesem Band werden allein die in Zeitschriften erschienenen Aufsätze betrachtet, die in Monographien zu Mishima integrierten, in ihrer Anzahl nicht zu überblickenden Auseinandersetzungen hingegen ausgeblendet. In welchem Kontext Bunka bōeiron in Asien zitiert wird, kann aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht nachvollzogen werden. Interessant wäre hierbei, die chinesische und koreanische Auseinandersetzung mit dem Essay zu untersuchen, nicht nur, weil Mishima auf diese Länder explizit Bezug nimmt, sondern auch, weil diese beiden Staaten kulturelle Selbstbehauptungsversuche Japans mit Interesse und durchaus auch mit Befürchtungen zu beobachten pflegen. Einen Überblick über die Mishima-Rezeption in Asien geben Hong 2010; Terenguto 2010. Mishima stand in persönlichem Kontakt zu Hashikawa und bat diesen, seine Biographie zu schreiben. Dieser Wunsch resultierte in einem Aufsatz Hashikawas über Mishima (vgl. Nakajima 2011). Bei Miyajima Shigeaki, der ein Werk zum Verhältnis zwischen Mishima und Hashikawa publizierte, ist nachzulesen, dass Hashikawa vom Verlag gebeten worden sei, kritisch auf Bunka bōeiron zu reagieren, da Chūō kōrōn nichts publizieren wollte, was als Kaiserverehrung hätte gedeutet werden können (vgl. Miyajima 2005: 41). Vgl. Hashikawa 1968: 80. Hashikawa greift hier den von Mishima selbst verwendeten Begriff der Banalität, tsukinami, auf. Fraglich ist allerdings, ob er sich der Anspielung auf Masaoka Shiki bewusst ist, und das, was Shiki als unflexiblen, festgefahrenen Stil der Edo-Zeit beschreibt, nun selbst in Bezug auf Mishima verwendet. Auch inhaltlich lobt Hashikawa die eine oder andere Passage, etwa den Gedanken, den Kaiser, der als Gott nie Verantwortung übernehme, nicht über die Rousseau’sche Idee von Freiheit und Verantwortung zu fassen, sondern über Freiheit und Anmut (vgl. Hashikawa 1968: 91).
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Die Hauptkritikpunkte Hashikawas zielen auf die beiden augenfälligsten Widersprüche des Textes; er moniert, dass das japanische Kaisersystem realiter weder unpolitisch noch eine historische Gegebenheit sei. Mishimas Idee eines kulturellen Kaisers sei zudem unvereinbar mit der Forderung, dass der Kaiser der Oberbefehlshaber der Armee sein müsse. Mishima habe auf die Gefahren des Kommunismus – den es notfalls mithilfe einer Armee aufzuhalten gelte – hinweisen wollen und diesbezüglich einen militärischen Kaiser gefordert. In diesem Zusammenhang sei das Argument zwar nachvollziehbar, könne aber nicht aufrechterhalten werden, wenn der Kaiser gleichzeitig als apolitische, kulturelle Figur konstruiert werde.23 Zwei Monate nach der Reaktion Hashikawas, äußerte sich Mishima in einem offenen Brief zum Vorwurf der Inkonsistenz seiner Gedankenführung. Obwohl Mishima eingesteht, dass Hashikawa die Schwachpunkte seiner Analyse entlarvt habe, bemüht er sich um eine Rechtfertigung, die in beiden Fällen zu einer Verlagerung des Problems führt: Zunächst versucht Mishima die unmögliche Gleichzeitigkeit eines politischen und kulturellen Kaisers zu entschärfen, indem er diesen als Schnittstelle zwischen Politik und Kultur zu einer a priori-Erfahrung erklärt.24 Er entzieht sich Hashikawas Kritik, indem er anführt, dass der Tenno in der Nachkriegszeit weitaus politischer sei und seine Kompetenzen über die in der Meiji-Verfassung angelegten Möglichkeiten hinausgingen, denn heutzutage sei trotz der Existenz des Tenno gar ein kommunistisches System denkbar. Zudem sei seine Definition des Kaisersystems gewollt anachronistisch:25 Ihm sei bewusst, dass die Ganzheitlichkeit der Kultur bereits mit dem politischen Meiji-Kaiser unterbrochen worden sei. Dies sei jedoch ein Manko des Kaisersystems und kein logischer Denkfehler seinerseits.26 Auch auf Hashikawas zweiten Kritikpunkt, dass der kulturelle Tenno mit der Armee verknüpft sei, reagiert Mishima mit einer Ausflucht: Wenn der Tenno Zivilisten Ehre geben könne, dann sei eine Ausweitung dieser Fähigkeit auf die Armee nur eine Erweiterung dessen und verändere die Funktionalität des Kaisers nicht.27 Diese Antwort Mishimas auf Hashikawa beendete die öffentliche Debatte einer Art, wie sie von japanischen Intellektuellen nur noch selten ausgetragen wird.28
Vgl. Hashikawa 1968: 84. Vgl. HBK: 207. Die Verwendung des a priori-Begriffs bestätigt die vorgelegte Interpretation, dass Mishima sich auf Kants „an sich“ bezieht. 25 Vgl. HBK: 207. 26 Vgl. HBK: 206. Miyajima thematisiert die Hintergründe der öffentlichen Auseinandersetzung: Mishima habe bei einem Teach-In gesagt, er glaube, Hashikawa wäre eigentlich der gleichen Meinung wie er und hätte ihn nur aufgrund der Auflagen des Auftraggebers Chūō kōron kritisiert. Mishima habe sich postalisch bei Hashikawa für dessen Verständnis bedankt (vgl. Miyajima 2005: 64–69). 27 Vgl. HBK: 208f. Auch diese Ausflucht ist insofern unbefriedigend, als bereits die dem Einzelnen zuteilwerdende kaiserliche Ehrerbietung theoretisch selbst schon politisch sein könnte. 28 Hashikawa äußerte sich nicht erneut öffentlich zu Bunka bōeiron, schrieb aber nach Mishimas Freitod ein Buch, in welchem er verschiedene Aspekte der Diskussion erneut thematisiert (vgl. Miyajima 2005: 47f.). 23 24
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Zwei weitere noch vor Mishimas Tod erschienene Rezensionen befassen sich weniger mit dem Text als mit den politischen Ambitionen des Autors. Eine davon stammt aus der Feder des Literaturkritikers Tsuda Takashi 津田孝.29 Seine Rezension, Annäherung an Bunka bōeiron, steht im Zeichen der Proteste gegen die Erneuerung des Anpo-Vertrages von 1970 und beschäftigt sich mit der in dieser Zeit häufig diskutierten Frage nach der politischen Verantwortlichkeit von Literaten.30 Im Anschluss an Überlegungen zur Rolle diverser neuer Kultureinrichtungen, etwa dem Amt für Kulturelle Angelegenheiten, Bunkachō 文化庁, und der Kontrollfunktion des Staates im kulturellen Sektor, fordert Tsuda, dass sich die Literatur mit dem ‚wahren Leben‘ befassen und Schriftsteller politisch aktiv werden müssten. Tsuda, der sich anderweitig – etwa in einem öffentlichen Gespräch mit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Nakamura Mitsuo 中村光夫 und dem Jimintō-Politiker Fukuda Takeo 福田赳夫 – bereits mit Mishimas politischen Äußerungen beschäftigt hatte, liest Bunka bōeiron als schriftliche Bestätigung seiner politischen Forderungen. Da Tsuda Politik und Kultur nicht trennt, ist Bunka bōeiron für ihn ein durch und durch politischer Text – eine Herangehensweise, mit der Tsuda in der Rezeptionsgeschichte nicht alleine bleiben wird. Für erwähnenswert hält er insbesondere Mishimas Überzeugung der Notwendigkeit eines Konsens von Volk und Staat, der angesichts der fehlenden Bereitschaft zur Selbstaufgabe nicht erreicht werden könne.31 Tsuda erkennt, dass Mishima die Idee einer kulturellen Gemeinschaft der Japaner unter dem Tenno, bunka kyōdōtai, von Watsuji Tetsurō übernimmt.32 Bunka bōeiron wie Tsuda als Bejahung des Status Quo zu lesen,33 weil der Sicherheitsvertrag den Tenno vor seinen Gegnern schütze, fällt allerdings selbst dann schwer, wenn man den Text allein hinsichtlich einer möglichen Übernahme des Kommunismus in Japan liest, denn offenkundig schreibt Mishima massiv gegen den Zustand in der Nachkriegszeit an. Ebenfalls noch vor Mishimas Freitod erschien in der Literaturzeitschrift Kokubungaku eine Rezension, die ihrem Titel nach eine philologische Beschäftigung mit dem Essay verspricht. Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Noguchi Takehiko 野口武彦34 verfolgt Tsuda (*1930) war Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und aktiv an der Mitgestaltung von deren Organ Bunka hyōron beteiligt. Gleichzeitig war er in den 1960er Jahren Mitglied der Shin Nihon Bungakukai, kritisierte aber die Richtlinien des Schriftstellerverbandes und gründete nach seinem Ausschluss aus der Gruppe die Nihon Minshushugi Bunka Dōmei (Bündnis japanischer demokratischer Literatur). 30 Vgl. Tsuda 1968. Auch in Europa wurde die politische Verantwortlichkeit von Schriftstellern in dieser Zeit diskutiert; etwa im Umfeld von Jean-Paul Sartre, der auch in Japan stark rezipiert wurde. 31 Vgl. Tsuda 1968: 114. 32 Er führt zudem die Terminologie des „Kaisers als kulturelles Konzept“ auf Tsuda Sōkichi zurück, was sich jedoch nicht nachweisen lässt (vgl. Tsuda 1968: 114f.). 33 Vgl. Tsuda 1968: 115. 34 Noguchis (*1937) erste Publikation beschäftigte sich bereits zwei Jahre zuvor mit Mishima Yukio no sekai [Mishima Yukios Welt] (vgl. Noguchi 1968). Im Jahr 1985 befasste sich der mit diversen Preisen ausgezeichnete Kunst- und Literaturkritiker, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller erneut mit Mishima und veröffentlichte ein Werk und diverse Aufsätze zum Verhältnis von Mishima Yukio und Kita Ikki. 29
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in Bunka bōeiron als literarisches Werk die Argumentation, dass Zur Verteidigung unserer Kultur eigentlich ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz sei, obschon Mishima diesen explizit als politische Schrift bezeichnet. Sowohl der Stil als auch Mishimas Konzept eines kulturellen Kaisers zeige, dass Bunka bōeiron Literatur sei, denn Mishima erschaffe darin eine fiktive Welt. Da Mishima die Existenz seines Kaisers nicht belegen könne, bleibe dieser ein kyokōteki na kachi, 虚構的な価値, ein „fiktionaler Wert“.35 Noguchis Argumentation ist schwer nachvollziehbar; selbstredend ist Mishimas Kaiser-Konzeption visionär und ein Gegenentwurf zum Status Quo, der mit einer Handlungsaufforderung einhergeht, ungewöhnlich ist jedoch Noguchis Beurteilung einer literarischen Beschreibung anhand dessen, ob sich eine Entsprechung zur Realität aufweisen lässt, zumal gemeinhin anzunehmen ist, dass politische Texte wie etwa Regierungsprogramme oder Pamphlete sich gerade nicht mit Gegebenheiten, sondern mit Möglichkeiten befassen.36 Noguchi kritisiert des Weiteren Mishimas Logik: Wenn Kultur alles enthalte, könne es die beschriebenen Schwankungen innerhalb der Kultur oder eine Schwächung dieser nicht geben. Auch mit der Definition, Kultur sei reflexiv, ganzheitlich und subjektiv, zeigt sich Noguchi insofern nicht einverstanden, als diese Charakterisierungen keine Analysekategorien darstellten.37 Die Vorwürfe sind berechtigt, allerdings ist zu bezweifeln, dass in Bunka bōeiron analytische Kategorien geschaffen werden sollen, denn der Text beschreibt anhand einer subjektiven Wahrnehmung der Gegenwart eine Utopie, welche nicht als richtig oder falsch beurteilt werden kann. Interessanterweise erklärt Noguchi im Anschluss an einen Exkurs über den Zusammenhang zwischen dem philosophischen Begriff des Sollens und dem kulturellen Willen, die Bezeichnung des Kaisers als „Wert an sich“ erinnere zweifellos an Kants „Ding an sich“. Allerdings bleibt es bei dieser Feststellung Noguchis, der diesen Neologismus Mishimas als usosamui imēji うそさむいイメージ, eine „kalte Metapher“, beurteilt, welche sich jeglichem Verständnis entziehe.38 Ähnlich wie bei der Aufzählung anderer Schwachstellen des Textes bemüht er sich nicht, das Gemeinte zu verstehen. Ist die Analogie zu Kants „Ding an sich“ erst einmal erkannt, liegt die Interpretation der Metapher auf der Hand.
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Vgl. Noguchi 1970: 118, 122. Ein Problem der Rezension von Noguchi besteht in der fehlenden Begriffsklarheit, wodurch Ausdrücke wie „Fiktion“, „fiktionaler Wert“ und „Utopie“ durcheinandergeraten. In die gleiche Kerbe schlägt die Anführung eines zweiten Beleges für die Fiktionalität von Bunka bōeiron: Mishima beziehe sich bei der Nennung historischer Fakten nicht auf die geschichtlichen Prozesse, sondern nehme im Falle des Niniroku-jiken die psychologischen Mechanismen solcher Zwischenfälle in den Blick. Mit der Aussage, dass sich faktisch nicht prüfen lasse, ob die Soldaten tatsächlich von miyabi getrieben worden seien, verkennt Noguchi erneut die Tatsache, dass Mishima die Nachkriegszeit einem glorifizierten Idealzustand entgegenstellt, der so nie existiert haben mag (vgl. Noguchi 1970: 22). Vgl. Noguchi 1970: 119f., 123. Vgl. Noguchi 1970: 124. Im Original ist usosamui durch seitliche Betonungsstriche zusätzlich hervorgehoben.
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Die durch den Titel Bunka bōeiron als literarisches Werk hervorgerufenen Erwartungen, Noguchi könnte eine philologische Analyse vorlegen, bleiben unerfüllt; sein Hauptinteresse liegt in der Überprüfung des Wahrheitsgehaltes des Gesagten. Noguchi wirft mit Blick auf Mishimas Leben abschließend die Frage nach der Möglichkeit einer Einheit von Handeln und Schreiben auf. Er versucht die politischen Aktivitäten Mishimas, darunter die Gründung der Tatenokai, einzuschätzen und äußert, wenige Monate bevor dies Realität werden sollte, die Befürchtung, dass der Autor im Namen der Kultur oder des miyabi eine größere, eventuell auch gewaltsame Aktion plane.
2.2 Japanische Rezensionen nach 1970 und gegenwärtige essayistische Auseinandersetzungen Die Herangehensweise des Literaturkritikers Murakami Ichirō39 ist exemplarisch für den Umgang mit Mishimas Werk. In dem Aufsatz aus dem Jahr 1972 kritisiert er zunächst Mishimas Spätwerk sowie den schlechten Stil seiner Essays.40 Im Folgenden geht er knapp auf die Kulturdefinition Mishimas ein und kritisiert dann Mishimas Tenno: Der Kaiser sei kein Gott, sondern ein Herrscher, der sich an die Gegebenheiten der Zeit anpasse und deswegen niemals jenes Prinzip der Revolution sein könne, als welches ihn Mishima darstelle.41 Murakami beurteilt den Inhalt von Bunka bōeiron als falsch und verweigert sich damit einer Interpretation: Mishima verstehe nicht, dass nicht der Tenno, sondern Rituale das entscheidende staatskonstituierende Merkmal darstellten. Unbegründet seien auch seine Bedenken gegenüber des Kommunismus, da die gespaltene Kommunistische Partei keine reelle Gefahr dargestellt habe. Dass Mishima, der immer auf die Bedeutung von Handlungen verwiesen haben, Bunka bōeiron zur Grundlage seines eigenen Handelns gemacht und sich deswegen für den Freitod entschieden habe, sei hingegen nur konsequent.42
Murakami Ichirō 村上一郎 (1920–1975) war ein der Nihon Roman-ha nahestehender Kunstkritiker und Schriftsteller, der im Jahr 1970 einen von Mishima geschätzten Aufsatz über Kita Ikki schrieb (Murakami 1970). 1975 nahm er sich mit einem japanischen Schwert das Leben. 40 Murakami führt aus, dass er Honba (Unter dem Sturmgott), Haru no yuki (Schnee im Frühling) und den Essay Taiyō to tetsu [Sonne und Eisen] schätze, Kyōko no ie [Kyōkos Haus], Kinkakuji (Der Tempelbrand) und die meisten gegen Lebensende entstandenen Schriften hingegen nicht. Die Annotationen von Hankakumei sengen seien gar so schlecht, dass Mishima diese aus Scham als nicht überarbeitete Mitschrift bezeichnet hätte (vgl. Murakami 1972: 99). 41 Die Kritik Murakamis an Mishimas Definition von Kultur als Form ist nicht nachvollziehbar, denn seine Alternative unterscheidet sich nicht wirklich von Mishimas Vorstellung. Murakami schränkt zwar ein, dass Kultur nicht alles sei, führt aber nicht aus, was diese nicht beinhalte (vgl. Murakami 1972: 99f.). 42 Vgl. Murakami 1972: 102f.
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Sieben Jahre später befasst sich der Literaturwissenschaftler Tasaka Kō43 in seiner Rezension Mishima Yukio no fūryū mutan. „Bunka bōeiron“ hihan [Mishima Yukios Geschichte eines Traumes von höfischer Eleganz. Eine kritische Begutachtung von Bunka bōeiron] mit Mishimas Essay. Deren Titel spielt auf den „Shimanaka-Zwischenfall“ an, den Anschlag auf den Verleger von Fukuzawa Shichirō, nachdem dieser die Erzählung Fūryū mutan [Die Geschichte eines Traumes von höfischer Eleganz] veröffentlicht hatte.44 Tasakas Beschäftigung mit Bunka bōeiron ist motiviert dadurch, dass er darin den Schlüssel zum Verständnis von Mishimas als politisch verstandenen Selbstmord sieht.45 Ähnlich wie Noguchi versteht Tasaka Bunka bōeiron als Fiktion Mishimas, denn in der dargestellten Form als „kulturelles Konzept“ und „Wert an sich“ habe der Tenno zu keinem Zeitpunkt existiert. Wenn Tasaka beinahe verwundert konstatiert, Mishima müsse doch gewusst haben, dass der Kaiser als letzte Bastion gegen die westlichen Mächte, als Garant der japanischen Seele in der Nachkriegszeit nicht mehr existiere, erkennt er die Intention Mishimas, verfolgt den Gedanken jedoch nicht weiter.46 Er fordert, statt so pathetisch wie Mishima zu sein, müsse das Meiji-zeitliche Kaisersystem überdacht und mit dem Kollaps des modernen Japan in Zusammenhang gebracht werden.47 Tasaka erkennt Mishimas Versuch, genau dies umzusetzen ebenso wenig wie den Appellcharakter des Textes. Im Jahr 1985 wandte sich Asukai Masamichi48, Geschichtsprofessor an der Universität Kyōto, im Rahmen einer Serie, in der das Verhältnis der Japaner zum Tenno thematisiert wurde, Mishimas Bunka bōeiron zu, und erachtet den Essay als kindaishugiron, als Abhandlung über die Moderne, und für gesellschaftliche Fragen relevant.49 Mishimas Auseinandersetzung sei in der Kernkritik den Positionen der linken Zengakuren-Studenten nicht unähnlich, allerdings differiere sein Lösungsansatz, der die Frage nach der Bedeutung des kokutai für die Kulturgemeinschaft ins Zentrum stelle und dazu aufrufe, den Kaiser aus den Restriktionen der Verfassung zu befreien, damit dieser nicht zu einem „Wochenmagazin-Kaiser“ verflache.50 Asukai zeigt durch die Entschlüsselung verschiedener Intertexte 43
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Der Literaturwissenschaftler Tasaka Kō 田坂昂 (*1927) schrieb im Jahr 1970 einen Aufsatz über Mishima, für den er von Mishima postalisch gelobt wurde. 1977 veröffentlichte Tasaka einen Ergänzungsband und im Jahr 1985 schließlich eine Einführung in das Werk Mishimas. Vgl. Harada 1991, Bd. 12: 99. Die Analogie der Titel von Rezension und Fukuzawas Erzählung suggeriert, dass Tasaka Bunka bōeiron als Mishimas Vision des Kaiserhauses versteht. Tasaka geht zudem Verschwörungstheorien nach: Er deutet an, dass es eine geheime Abmachung zwischen dem Schilderbund und den jiteai hinsichtlich des Coup d’État gegeben haben könnte und beruft sich diesbezüglich auf zwei Briefe Mishimas an japanische Militärs sowie die Aussage eines Verantwortlichen (vgl. Tasaka 1979: 146ff.). Vgl. Tasaka 1979: 147ff. Vgl. Tasaka 1979: 150. Asukai Masamichi 飛鳥井雅道 (1934–2000) studierte französische Literatur und befasste sich mit Kultur und Sozialismus sowie mit proletarischer Literatur. Als Professor an der Universität Kyōto lag sein Forschungsschwerpunkt auf der japanischen Geistesgeschichte. Vgl. Asukai 1985: 81ff. Leider geht Asukai nicht darauf ein, inwiefern Bunka bōeiron mehr ist als ein kindaishugiron 近代主義論 und was dies bedeutet. Vgl. Asukai 1985: 80.
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Mishimas intellektuelle Verortung auf, etwa wenn er Mishimas Verständnis des Genji-Monogatari auf Hasuda Zenmeis Interpretation von Motoori Norinaga zurückführt.51 Dem Literaturkritiker Tsubouchi Yūzō52 erschloss sich Bunka bōeiron nicht, weswegen er seine Interpretation 1996 in der Zeitschrift Shokun! auf nur zwei Seiten darlegte: Erstens sei Bunka bōeiron im Gegensatz zu anderen Essays weder klar strukturiert noch gut verständlich. Zweitens ergäbe die Lektüre der Paratexte, Mishimas Angst vor einer Einführung des Kommunismus resultiere daher, dass die KPJ ihre frühnachkriegszeitliche Forderung nach einer Abschaffung des Kaisersystems fallen gelassen habe. Mishima habe befürchtet – und das formuliert Mishima tatsächlich in Bunka bōeiron – dass die japanischen Kommunisten eine Vereinigung ihrer politischen Interessen mit dem Kaisersystem anstrebten.53 Im Jahr 2000 erschien eine Sonderausgabe der Zeitschrift Kokubungaku. Kaishaku to kanshō mit dem Titel Mishimas Welt. In einer Rezension von Bunka bōeiron befasst sich Takatera Yasuhito 高寺康仁54 mit Mishimas Verständnis der Shōwa-Genroku-Zeit. Takatera weist nicht nur auf die sprachliche Komplexität des Textes hin, sondern auch auf die Schwierigkeit, einen Zugang zur Interpretation zu finden, und rät, zunächst leichter verständliche Texte Mishimas zu konsultieren.55 Takateras Rezension ist klar strukturiert, er thematisiert zunächst die Untergliederung in die einzelnen Kapitel und rekapituliert, welche Eigenschaften der Kultur Mishima hervorhebt. Zu Recht weist Takatera darauf hin, dass Mishima aufgrund seines allumfassenden Kulturverständnisses nicht deutlich machen könne, was genau es zu schützen gelte, weswegen er Mishimas Forderung in einen historischen Kontext einbettet: Da Japan sich seit Beginn der Meiji-Zeit an westlichen Standards gemessen und versucht habe, mit dem Westen gleichzuziehen, habe das Land die eigene kulturelle Tradition vergessen, was in einem unbestimmten Gefühl des Verlustes des japanischen Geistes resultiere. Unter Zuhilfenahme von Paratexten erläutert Takatera Mishimas Tenno-Konzeption.56 Indem der Kaiser mit der Redefreiheit gleichgesetzt werde, solle dieser vor einer politischen Instrumentalisierung bewahrt werden. Deswegen konzipiere Mishima einen apolitischen Kaiser, welcher der Armee keine Befehle, sondern allein Ehre zuteilwerden lasse. Mishimas Kaiserideal sei nicht allzu weit vom tatsächlichen symbolischen Tenno entfernt, allerdings Vgl. Asukai 1985: 84f. Dahingestellt sei, ob Die Geschichte vom Prinzen Genji tatsächlich Mishimas Erotik spiegelt. 52 Tsubouchi Yūzō 坪内祐三 (*1958) ist Essayist und Literaturkritiker, der sich nicht nur mit moderner japanischer Literatur befasste, sondern einem breiten Publikum Meiji-zeitliche Werke nahezubringen sucht. 53 Vgl. Tsubouchi 1996: 272. 54 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Rezension war Takatera Doktorand an der Tōkaidō Universität. 55 Fragwürdig ist allerdings Takateras Ansicht, dass Mishima absichtlich Fehler in seinen Text eingebaut habe, was sich erst durch eine Lektüre der Paratexte erschließe. 56 Vgl. Takatera 2000: 158ff. Takatera greift vornehmlich auf die Diskussion zwischen Mishima und Hashikawa sowie Mishimas Äußerungen bei einem Teach-In an der Universität Ibaraki zurück. 51
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versuche er, durch die Erschaffung eines suprahistorischen Kaisers dessen Traditionalität in die Gegenwart hinüberzuretten. Eben weil der Kaiser politisch nicht aktiv sei, betone Mishima das Prinzip des Schwertes: Das Oberhaupt kämpfe nicht selbst, weswegen es eines loyalen Volkes bedürfe, das für den Tenno zu sterben bereit sei.57 Takatera fängt die zentralen tennorelevanten Aspekte des Essays ein und gibt die Kerngedanken in verständlichen Worten wieder. Seine Rezension bildet in der japanischsprachigen Sekundärliteratur insofern eine Ausnahme, als er nicht Mishimas Leben durch eine Interpretation von Bunka bōeiron erklären will, sondern das Gefühl eines verlorenen japanischen Geistes als relevant erachtet. Mishimas faschistische Ästhetik kritisiert er hingegen nicht. Der Aufsatz Ein melancholisches Land – eine nochmalige Lektüre von Mishima Yukios „Zur Verteidigung unserer Kultur“ von Kobayashi Toshiaki, erstmals 2007 erschienen, ist eine der ausführlichsten Auseinandersetzungen mit Bunka bōeiron.58 Kobayashi berücksichtigt Mishimas Gesamtwerk, Aspekte seines Lebens sowie Selbstaussagen des Autors, um eine Interpretation von Bunka bōeiron vorzulegen.59 Bunka bōeiron befasse sich weniger mit verlorenen Traditionen, einer Modernekritik oder der dekadenten Kultur, sondern drücke die Sehnsucht nach einem erotischen Tod aus, den es in der Nachkriegszeit in der von Mishima etwa in Patriotismus glorifizierten Form nicht mehr gebe. Mishima rekurriere auf Batailles Vorstellung, der erotische Tod könne die Kontinuität von naturgemäß nicht kontinuierlichen Lebewesen garantieren.60 Deswegen sei Kultur für Mishima erst verwirklichbar, wenn der erotische Tod Teil ihrer sei, was sich textuell in der Forderung nach einer Einheit von Chrysantheme und Schwert ausdrücke.61
Vgl. Takatera 2000: 160. Kobayashi Toshiakis 小林敏明 (* 1948) Forschungsschwerpunkte sind die japanische Ideengeschichte, die moderne japanische Literatur und die Philosophie der Kyōto-Schule. Er ist Professor am Institut für Japanologie der Universität Leipzig; der hier besprochene Text ist im Anschluss an ein Seminar zu Bunka bōeiron erschienen. 59 Kobayashi erklärt auch sein Interesse an Mishima: Dieser sei für ihn weniger als Romanautor wichtig, sondern als Kunst- und Literaturkritiker, dessen philosophische Bildung und Intelligenz an einzelnen Aufsätzen ausgemacht werden könne. 60 Vgl. Kobayashi 2007: 159–163. Die Klage darüber, dass der Tod in der Nachkriegszeit bedeutungslos sei, resultiere aus Mishimas Pervertierung seiner Kriegserfahrung, was Kobayashi durch Zitate aus Watakushi no henreki jidai (1964) belegt. Mishima beschreibt darin, ebenso wie dies von Hashikawa Bunzō bekannt sei, dass er den Anblick der zerstörerischen Raketen im Krieg wunderschön fand (vgl. Kobayashi 2007: 157ff.; die Kriegsbeschreibungen: 154f.). 61 Kobayashi beginnt seinen Aufsatz mit der These, Mishimas Sorge um das Vaterland, yūkoku 憂国, stelle die Grundlage seiner Kritik an der Gegenwart dar und beruhe auf einer idealisierten Vergangenheit. Basierend auf der Annahme, yūkoku müsse vom „Konzept des Todes“ begleitet werden, entwickelt Kobayashi die These, Mishimas Affinität zu Eros und Thanatos sei grundlegend für das Verständnis von Bunka bōeiron. Kobayashi zufolge drücke die Verbindung zwischen „Mutterleib“ und „Zeugung“, die Eros symbolisieren, mit dem Attribut „blutbefleckt“ aus, dass Mishima Eros und Thanatos nicht getrennt voneinander betrachte (vgl. Kobayashi 2007: 157). Diese Schlussfolgerung, welche die Grundannahme von Kobayashis Essay darstellt, ist logisch allerdings nicht nachvollziehbar (vgl. Kobayashi 2007: 152f.). 57 58
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Kobayashi befasst sich ausführlich mit dem Politik-Begriff in Bunka bōeiron: Das widersprüchliche Verhältnis zwischen Kultur und Politik sei erst durch eine Verlagerung des Problems in eine imaginäre Sphäre – in welcher Politik und Kultur nebeneinander existierten – erkennbar.62 Obgleich Mishima dieses Problem nicht abschließend diskutiert habe, verorte sowohl miyabi als auch die Betonung, die Hauptaufgabe des Kaisers als anti-westliche Bastion sei die kulturelle, unpolitische Durchführung von Ritualen, den Kaiser im Ästhetischen.63 Durch zahlreiche Bezugnahmen auf die westliche Philosophie, versucht Kobayashi, Mishimas Position zu eruieren. Die Verweise auf die Frankfurter Schule, Walter Benjamin oder auch die in Kyōto ansässigen Philosophen um Nishida Kitarō 西田 幾多郎 (1870–1945) sind erhellend, allerdings mangelt es an der Weiterführung der Gedanken. Kobayashi stellt die Verbindung zur Benjamin’schen Aura her, bringt diese aber – obwohl er erkennt, dass sie das ist, was laut Mishima abhandengekommen sei – nicht mit dem veränderten japanischen Kaisersystem in Zusammenhang. Viel eher verschmelzt er diese mit Heidegger zu einer „Aura des Todes“, wodurch sich die Theorie potenziert, jedoch keine neue Erkenntnis gewonnen wird. Eine ähnliche Verkomplizierung des Gesagten liegt in dem Argument Kobayashis, dass alles für Mishima Kultur sei, weswegen auch Eros und Thanatos eingeschlossen sein müssten. Zweifelsohne korrekt, bleibt die exponierte Stellung der beiden Begriffe unklar, zumal die These ebenso über die Elemente Chrysantheme und Schwert geführt werden könnte.64 Problematisch an Kobayashis Argumentation ist, dass er Bunka bōeiron aufgrund der enthaltenen westlichen Theorien als universalistischen Text ausweist.65 Der Essay ist aufgrund der nicht per se japanspezifischen Kulturkritik universalistisch, nicht jedoch aufgrund einer möglichen Bezugnahme auf westliche Denker, gleichwohl er in den kulturkritischen Diskurs einzubetten ist. Denn Bunka bōeiron erschließt sich nicht erst über die Applikation von Eros und Thanatos, sondern die Dichotomien von bunka und bunkashugi, minzoku und kokka, vorkriegszeitlichen Werten und solchen der Nachkriegszeit sind hin-
Im Gespräch – für das ich ihm sehr herzlich danke – erläuterte Professor Kobayashi überzeugend, dass Mishimas Politikbegriff den Regierungs- und Verwaltungsapparat ausschlösse und sich immer nur auf isolierte Ereignisse beziehe; er referiere allein auf die ordnungsstiftende, nicht die -wahrende Kraft (vgl. nicht ganz so explizit: Kobayashi 2007: 170). Kobayashis Interpretation, Ereignisse wie der Sakuradamon-Zwischenfall seien weniger politisch als ästhetisch relevant, weil es immer nur um das momentane Ereignis, nicht aber um die Hintergründe und Umstände gehe (vgl. Kobayashi 2007: 170f.), erschließt sich nicht, geht es doch bei all diesen Ereignissen um die Wiederherstellung der kaiserlichen Macht. 63 Kobayashi bemüht auch an dieser Stelle Benjamin und Bataille, um dann zu schlussfolgern, dass die „Reinigung“ des Tenno von der Politik einer Negierung aller Formen gleichkomme, was wiederum im Sinne der Kyōto-Schule bedeute, dass der Kaiser sich dem Zentrum der Leere annähere. Auch wenn Mishima selbst nicht direkt das Vokabular der Kyōto-Schule, also den Terminus mu verwende, werde durch seine Argumentation, dass „Banalität“ das Gegenteil von „Kreativität“ darstelle, deutlich, dass der Tenno und damit auch die japanische Kultur leer seien (vgl. Kobayashi 2007: 173f.). 64 Vgl. Kobayashi 2007: 157, 160. 65 Vgl. Kobayashi 2007: 159. 62
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reichend im Text thematisiert und lassen sich ohne den theoretischen Überbau nachvollziehen. Ein Jahr nach Kobayashis Rezension beschäftigte sich Ogura Kizō 小倉紀蔵66 mit Bunka bōeiron, um die Frage zu klären, was Mishimas Tod repräsentiere.67 Er kritisiert eurozentrische Haltungen, wenn er sagt, dass bezüglich Fragen der Repräsentation immer der westliche, mit der europäischen Moderne verknüpfte Standpunkt eingenommen werde, nimmt aber selbst, zumindest indem er die Namen nennt, vornehmlich Bezug auf die französische Denker wie Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Gilles Deleuze (1925–1995) und Jacques Derrida (1930–2004).68 Ogura vertritt die These, Mishimas Selbstmord stelle ein „Anti-Japan“, ein Auflehnen gegen das nachkriegszeitliche Japan dar, zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. Mishima sei einem „Jesus der Postmoderne“ gleich: Er sei gestorben, damit die Japaner die Ursünde vergessen und nun unbehelligt ihr Dasein fristen könnten. Ironisch sei allerdings, dass Mishima letztlich für den von ihm verabscheuten Frieden und die Leere der Nachkriegszeit in den Tod gegangen sei.69 Ogura verfolgt die ausgefallene Analogie nicht weiter: Jesus opferte sich, um die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen wiederherzustellen, weswegen er schlussfolgern müsste, dass Mishima für eine Rehabilitierung des Kaisers gestorben sei. Da Mishima genau diese Absicht den auf sein Geheiß versammelten Soldaten unmittelbar vor seinem Freitod auseinandersetzte, verwundert, dass Ogura diese Parallele nicht weiter ausführt. Laut Oguras Interpretation liegt die Möglichkeit des Schutzes der Kultur in der Selbstaufgabe des Einzelnen, weswegen er Mishimas Selbstmord als Versuch beschreibt, die Kultur zu schützen. Im Moment des Bauchaufschlitzens verwirkliche sich für Mishima miyabi, bunbu ryōdō und das Jenseits, so führt Ogura unter Berufung auf Honba- sowie Taiyō to tetsu-Zitate aus.70 Ogura schließt seine Ausführungen mit der Aussage, dass Mishima die Schaffung eines neuen kulturellen Bewusstseins bei der Bevölkerung intendiert habe, die zwar Träger der Kultur sei, sich diese Tatsache aber nicht mehr vor Augen halte.
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Der 1959 geborene Ogura Kizō 小倉紀蔵 forscht und lehrt an der Universität Kyōto im Bereich der Koreanistik und ostasiatischen Philosophie. 67 Vgl. Ogura 2008: 168. Möglicherweise ist Oguras Fragestellung beeinflusst von einer vermehrten Beschäftigung mit Strategien und Formen der Darstellung im Anschluss an die umfassende Rezeption des linguistic turn (vgl. Krämer 2006: 22). 68 Vgl. Ogura 2008: 170, 194f. Wenig überzeugend schließt Ogura, in Mishimas seppuku – den er mit einer nicht-westlichen Definition von Repräsentation belegen will, wofür er hara, den Bauch, wählt – seien die Ideen miyabi, Pinsel und Schwert sowie ritueller Selbstmord vereint. Eine Aussage darüber, wie sich diese Erkenntnis verallgemeinern und der westlichen Darstellung von Repräsentation entgegenstehen könnte, bleibt Ogura allerdings schuldig (vgl. Ogura 2008: 195). 69 Vgl. Ogura 2008: 168ff., 197. 70 Vgl. Ogura 2008: 193–196. Oguras zentraler Kritikpunkt an miyabi und bunbu ryōdō ist, dass Mishima diese wie mikkyō, die geheimen buddhistischen Lehren, behandle. Durch die fehlende Definition der Konzepte schließe Mishima die Leser aus seiner Kulturkonzeption aus (vgl. Ogura 2008: 191ff.).
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2.3 Bezugnahmen auf Bunka bōeiron in der westlichsprachigen Forschung In unterschiedlichsten Zusammenhängen wird in westlichsprachiger Sekundärliteratur auf Bunka bōeiron verwiesen. Einerseits wird der Essay naturgemäß in Mishima-Monographien thematisiert, andererseits nehmen Autoren auf Bunka bōeiron Bezug, die sich mit den japanischen Kaisersystem beziehungsweise der Nachkriegszeit auseinandersetzen. So etwa Satomi Ishikawa (*1969), die sich in ihrer japanologischen Dissertation Seeking the Self. Individualism and Popular Culture in Japan zum Ziel setzt, die japanische Selbstwahrnehmung über das Manga-Genre zu fassen, wozu sie im zweiten Teil der Arbeit verschiedene „Debatten und Ideologien“ über das Selbst in der Moderne rekapituliert. Im Kapitel From National to Cultural Japanesness [sic!] – the Postwar Period up to 1970 stellt sie die These auf, dass sich Japanizität in dieser Zeit von einem national konnotierten Ausdruck zu einem kulturellen gewandelt habe; eine These, die sie mithilfe von Mishimas Kulturalismus belegt.71 Ishikawas argumentatorisches Hauptproblem besteht weniger darin, dass sie Mishimas Leben und sein Werk als Einheit sieht,72 oder die in Bunka bōeiron entwickelten Begriffe als analytische Kategorien übernimmt, sondern liegt darin begründet, dass sie Mishimas pathetisches Gedankenspiel mit der Wirklichkeit der 1960er Jahre gleichsetzt. Mit Mishima übereinstimmend behauptet Ishikawa, Japan drohe in Folge des ningen sengen, dem Verlust der Achse, um die sich Japan drehte, ins Chaos zu verfallen, und macht Mishimas Ansicht zu einer allgemeingültigen.73 Damit verkennt die Wissenschaftlerin die Bedeutung von Bunka bōeiron: Der Text ist ein Interdiskurs, der an den nachkriegszeitlichen Identitäts- und Tennodiskurs ankoppelt, spiegelt aber nicht die Realität. Argumentiert Ishikawa, Mishimas seppuku sei der Gipfel seines Protestes gegen die Nachkriegszeit gewesen, weswegen man seine Idealvorstellung von Kultur eruieren müsse, schreibt sie Mishima einen größeren Einfluss zu, als dieser trotz der Auswirkungen seines Selbstmordes auf verschiedene Gesellschaftsbereiche hatte, denn sie erklärt die Verwirklichung von Mishimas faschistischen Visionen als erstrebenswert.74 Ebenfalls indirekt setzt sich Guy Yaskos Konferenzpapier Mishima Yukio vs. Tōdai Zenkyōtō: The Cultural Displacement of Politics mit Bunka bōeiron auseinander, da der Text als Auslöser für die verbale Auseinandersetzung zwischen Mishima und den linken
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Vgl. Ishikawa 2007: 28. Ishikawa führt aus, Mishima habe durch seinen Selbstmord das in der Nachkriegszeit abhandengekommene, kriegerische Element bu wiederaufleben lassen wollen; eine Interpretation, die eindeutig auf die Lektüre des Nachwortes zu Bunka bōeiron zurückgeht. Vgl. Ishikawa 2007: 152ff. Vgl. Ishikawa 2007: 143. Zu Lebzeiten war Mishima mit seinen Forderungen und Annahmen weitgehend isoliert, zwar war er als Person des öffentlichen Lebens interessant, aber seine politischen Thesen fanden keinen Anklang. An seinem Todestag wurde er von den Soldaten, denen er seine Tennovision unterbreitete, ausgelacht.
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Studentengruppierungen gilt.75 Yasko versucht, durch die Erschließung von Bunka bōeiron in Hinblick auf das viel zitierte Zusammentreffen von Mishima und der Zenkyōtō, Differenzen und Gemeinsamkeiten von rechten und linken Positionen der späten 1960er Jahre zu erörtern. Vergleichbare Intentionen zwischen Mishima und den Studenten sieht Yasko insofern, als beide versuchten, die gefühlte nachkriegszeitliche Entfremdung hinter sich zu lassen.76 Den Studenten sei es in Bezug auf den Kaiser nicht gelungen, sich ausreichend von Mishima abzugrenzen, weil sie dahingehend mit ihm übereinstimmten, „that the reality of the emperor will always compromise the ideal emperor.“77 Zunächst geht Yasko historisch auf die Wechselwirkung zwischen Kultur und Politik ein: Einerseits sei Kultur in Japan zur Behauptung einer Einheit des Nationalstaates instrumentalisiert worden, andererseits habe die Kultur als Fluchtpunkt vor Politik und Bürokratie gedient.78 Diesem Schema folge Mishima, wenn er den Staat durch die Kultur an die Nation bindet und gleichzeitig argumentiere, dass eben diese Einheit die Voraussetzung für die Verwirklichung der japanischen Kultur sei. Anstatt diese Tautologie durch ein Überdenken seiner Begriffe beiseitezuräumen, habe Mishima die Entfremdung von Staat und Nation nur durch die Anwendung von Gewalt zu überwinden gesucht, womit er die Rehabilitierung des japanischen Militärs unter kaiserlicher Flagge rechtfertige.79 Yasko ist der einzige Rezensent, der von Mishimas Verwendung des Terms mono auf die Verdinglichungs-Thematik schließt, dabei allerdings den marxistischen Hintergrund dieser Idee nicht thematisiert, sondern erläutert, dass Mishima dieser einen „muscular subjectivism“ entgegensetze.80 Darüber hinaus klassifiziert er Mishimas Aussagen nicht nur 75
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Allerdings ist der Text aufgrund der geringen Verbreitung des nicht in gebundener Form vorliegenden Working Papers nur schwer zugänglich und kann zudem aufgrund der fehlenden Nennung von Bunka bōeiron im Titel nicht eindeutig der Thematik zugeordnet werden. Problematisch sind zahlreiche Ungenauigkeiten des Papers, darunter gravierende, für das Verständnis des Textes entscheidende Übersetzungsfehler, etwa BB: 38. Vgl. Yasko o. J. [1995?]: 6. Yasko o. J. [1995?]: 30. Auch Kobayashi verweist darauf, dass die politische Differenz zwischen den Zenkyōtō und Mishima nicht so eklatant war, wie meist dargestellt (vgl. Kobayashi 2007: 165). Vgl. Yasko o. J. [1995?]: 10. Vgl. Yasko o. J. [1995?]: 13f. Für Mishima seien der kulturelle und der politische Kaiser unterschiedliche Entitäten, die in einer sich wechselseitig ergänzenden Beziehung stünden. Sei der Tenno als politische Figur schwach, belebe der kulturelle Aspekt die kaiserliche Institution wieder (vgl. Yasko o. J. [1995?]: 13). Vgl. Yasko o. J. [1995?]: 21. Yasko analysiert weiter, dass Mishima eine Trennung von Subjekt und Objekt angestrebt habe, was die Analyse von Bunka bōeiron nicht bestätigt. Derartige Flüchtigkeitsfehler durchziehen Yaskos Paper, die zu einer Fehlinterpretation des Textes führen. So versteht er etwa die Ästhetisierung der Politik falsch: „While arguing for a separation between politics and cultural – and choosing culture over politics, Mishima also rejected aestheticism. According to Mishima, not only did aestheticism end in the reification of culture, it also declawed culture, something which should always be dangerous.“ (Yasko o. J. [1995?]: 13). Yasko selbst unterläuft diese Behauptung an anderer Stelle, wenn er ausführt, dass die Reduktion der kulturellen Essenz auf miyabi die Kultur ästhetisiere (vgl. Yasko o. J. [1995?]: 39). Auch seine Interpretation des ‚Wochenmagazin-Kaisersystems‘ steht Mishimas – im Falle des Kaiserhauses sehr eindeutiger – Kritik am Wochenmagazin-Kaisersystem konträr entgegen (Yasko o. J. [1995?]: 40f.).
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inhaltlich konservativ, sondern als faschistisch und zeigt dies an seiner Vorstellung von Zeit oder der Ästhetisierung der Politik.81 Zumindest ansatzweise geht Yasko in diesem Zusammenhang auf den politischen Hintergrund ein, vor dem Bunka bōeiron entstanden ist und thematisiert den aufkeimenden Wunsch Japans nach einer Abgrenzung von den USA und Europa, wodurch er Bunka bōeiron eine diskursive Bedeutung zuspricht. In zwei Monographien zum modernen bzw. nachkriegszeitlichen japanischen Kaisersystem, wird Bunka bōeiron ebenfalls zitiert. Der Historiker Fujitani Takashi dekonstruiert in Splendid Monarchy. Power and Pageantry in Modern Japan den „göttlichen Tenno“, lobt Bunka bōeiron – präsent platziert zu Beginn des Epiloges – als Auseinandersetzung, die geprägt sei von einem exzeptionellen Blickwinkel auf die Verflechtung von kulturellen und traditionellen Elementen, die zur Erschaffung von Nationen beitragen.82 Mishimas Kaiserkonzeption sei eine anachronistische Reaktion auf das Erstarken der Massenkultur, den Kapitalismus und die Hegemonie der USA. Fujitani erläutert, dass Mishima in dieser gefühlten Krise, genau wie von den Meiji-Ideologen intendiert, den Kaiser als scheinbar immerwährenden Garant der japanischen Einheit revitalisieren wollte. Allerdings habe er dabei auch in der Nachkriegszeit weder das Konzept einer nationalen Einheit noch die Vorstellung des Kaisers als deren Repräsentant in Frage gestellt. Als Lösung für die gefühlte Kulturkrise schwebe Mishima die Wiederherstellung eines Ursprungs sowie der zeitlosen Essenz einer nationalen Einheit vor, welche er in der höfischen Eleganz des miyabi verwirklicht sah. Dabei ignoriere Mishima, dass die Japaner über weite Phasen nichts mit dem Kaiser, der Hofkultur oder miyabi zu tun hatten.83 Mishima ist es damit gelungen, sich innerhalb des Tennodiskurses sogar international Gehör zu verschaffen. Der Historiker und Japanologe Kenneth Ruoff, der in Portland forscht und lehrt, kommt im Rahmen seiner Forschung The People’s Emperor. Democracy and the Japanese Monarchy, 1945–1995 ebenfalls auf Mishimas Kaiserkonzeption zu sprechen. Er befasst sich mit dem Prozess der Erarbeitung der nachkriegszeitlichen Verfassung, verschiedenen Bemühungen, kulturelle Symbole wiederzubeleben sowie der veränderten Position des Monarchen. Ruoff stellt verschiedene Interpretationen des neuen, symbolischen Kaisers vor, darunter die von Mishima zitierten Positionen von Watsuji, Tsuda und Sasaki.84 Im letzten Kapitel, The Monarchy of the Masses, thematisiert Ruoff den Begriff des „Wochenmagazin-Kaisersystems“ und analysiert Mishimas miyabi-Begriff. Er kritisiert, dass miyabi zwar die höfische Elite geeint habe, mit der nationalen Gemeinschaft in der Moderne jedoch nichts zu tun gehabt habe. Allerdings, so Ruoff, sei den Lesern von Bunka bōeiron weniger Mishimas Versuch einer Revitalisierung des miyabi im Gedächtnis geblieben, sondern viel eher seine beißende Kritik am Trivialismus des nachkriegszeitlichen Kaisersystems.85 81 82 83 84 85
Vgl. Yasko o. J. [1995?]: 13f., 39f. Fujitani, der an der University of California in San Diego lehrt, befasst sich mit neuerer und neuster Geschichte Japans. Vgl. Fujitani 1996: 232ff. Vgl. Ruoff 2001: 42–51. Vgl. Ruoff 2001: 238f.
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Die in Nordamerika tätige Japanologin Iida Yumiko, die sich mit der Verschränkung von Ästhetik und Nationalismus in Japan beschäftigt, zitiert Bunka bōeiron bereits in der Einleitung ihres Bandes Rethinking Identity in Modern Japan. Nationalism as Aesthetics. Anders als Fujitani will sie Darstellungen, die auf den angeblich zeitlosen japanischen Kaiser als Symbol der Einheit Japans rekurrieren, nicht dekonstruieren, sondern durch deren Analyse verschiedene Formen des Nationalismus nachzeichnen. Sie fordert, Mishimas Hoffnungslosigkeit nicht zu verspotten, sondern diese als symptomatisch für den Zustand der japanischen Gesellschaft und Identitätsfragen zu verstehen. Iida beschreibt Bunka bōeiron als Mishimas Versuch, den Kaiser als kulturelles Zentrum und symbolische Autorität zu etablieren, um dem territorial und kulturell definierten nationalen Raum eine Einheit zu geben. Der von Mishima ebenso wie von anderen Vertretern nationalistischer Tendenzen geäußerte Behauptung, die kulturelle Sphäre sei nicht mit politischen Systemen kompatibel, hält sie entgegen, dass Kultur viel eher beständig neu definiert werde als das außerhalb institutioneller Strukturen Liegende: […] for rather than Japanese cultural particulars being incompatible with its Constitution, it is those aspects of Japanese experience that cannot be reduced to rational legal codes and governmental structures that have come to be labelled ‘Japanese culture.’86
Diesen Prozess beschreibt Iida als einen Protestakt gegen die Kräfte der aufklärerischen Vernunft, eine Revolte gegen die westliche Moderne, die mit der Suche nach etwas ‚Japanischem‘ einhergehe. Dabei müsse jedoch der Wunsch nach einer Generierung nationaler Identität und das Verlangen nach ästhetischer Darstellung unterschieden werden.87 Unter Rückgriff auf Mishimas Begriff „Wert an sich“ erläutert Iida, dass moderne Nationalstaaten ihre Grenzen sowohl nach außen als auch nach innen nur dann wahren könnten, wenn es einen solchen Wert gebe. Die Darstellung des Kaisers als Garant und Quelle der Kultur sei gleichbedeutend mit der Forderung, Politik mit dem Spirituellen zu verbinden, eine Vorstellung, die durch die moderne Säkularisierung unumstößlich untergraben worden sei. Mishimas Verachtung der nachkriegszeitlichen Heuchelei gehe mit der in einem anderen Zusammenhang aufgeworfene Frage einher, ob es Japan gelingen kann, nach der erfolgreichen Verwestlichung und dem Import vulgärer Massenkultur auch das Heilige zu importieren.88 Iida liefert damit interessante Interpretationsansätze für Bunka bōeiron und schreibt dem Text eine Bedeutung für die nachkriegszeitliche Diskussion über die japanische Identität zu. In Mishima-Monographien wird häufig auf Bunka bōeiron verwiesen, nicht unbedingt um einer Annäherung an seine Konzepte willen, sondern auch, um sein Leben zu illustrieIida 2002: 6. Vgl. Iida 2002: 5f.; Zitat: 6. „In modern Japanese history, this anti-modern revolt has most often been expressed in calls for Japanese identity in which the aesthetic desire cultivated by the inscriptional violence of the modern is confused with the desire for national identity“. 88 Vgl. Iida 2002: 149f. Iida definiert ‚Wert an sich‘ nicht, sondern verwendet den Begriff selbsterklärend in der Bedeutung wie sie auch in dieser Arbeit unter Rückgriff auf Kants ‚Ding an sich‘ herausgearbeitet wurde. 86 87
Rezeption von Bunka bōeiron
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ren. Roy Starrs schreibt in Deadly Dialectics. Sex, Violence and Nihilism in the World of Yukio Mishima, der Autor habe neben der Verwirklichung seiner privaten Phantasien Japans spirituelle Stärke vorantreiben wollen. Der Kaiser sei Eckpfeiler der japanischen Kultur, die für Mishima gleichbedeutend mit dem Samurai-Code sei, in welchem moralische Konflikte durch die Entscheidung für den Tod gelöst würden. Da nur ein gottgleicher Tenno den Soldaten Grund zu sterben gäbe, müsse in der Moderne die vernachlässigte Seite des Schwerts gestärkt, und der Tenno wiederbelebt werden.89 Starrs lässt die Tatsache, dass Samurai zu keiner Zeit für einen japanischen Kaiser starben ebenso beiseite, wie den Fakt, dass die Tennō heika banzai-Rufe in der Moderne nicht losgelöst von Kriegspropaganda und Ideologie zu betrachten sind und es in Mishimas Nachkriegsszenario darüber hinaus nicht um moralische Entscheidungen geht. Ungeklärt bleibt, welche Anhaltspukte Starrs zu einer solchen Quintessenz veranlassen; das Beispiel demonstriert allerdings, wie Bunka bōeiron wahrgenommen und wie die wenigen eingängigen Passagen immer wieder mit Mishimas Leben verschränkt werden. Gleiches zeigt sich an Chigusa Kimura-Stevens Abhandlung Terror in the Art and Lives of Mishima Yukio and Ōe Kenzaburō.90 Für Kimura-Steven ist die zentrale Aussage von Bunka bōeiron – wobei dies unter anderem dem Terror and Text betitelten Sammelband geschuldet sein dürfte, in dem ihr Beitrag erschien –, dass der Tenno gleichsam mit anarchistischer Macht versehen sei und sich des Terrorismus bediene, um die Einheit von Volk und Staat zu garantieren. Mishima wolle sich gegen die Gefahren des Kommunismus oder eines kommunistischen Umsturzversuches rüsten und habe aktiv dazu aufgerufen, Gewalt anzuwenden.91 Obgleich die Thematik in nicht mehr als drei Sätzen angedeutet wird, rückt sie ins Zentrum der Interpretation, wodurch die übrigen Aspekte des Essays in den Hintergrund geraten und die Rezeption in einer Analyse von Mishimas Leben verhaftet bleibt. Die Literaturwissenschaftlerin Noriko Thunman, die in Stockholm lehrt, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit verschiedenen Aspekten des Wirkens von Mishima Yukio beschäftigt. In Forbidden Colors. Essays on Body and Mind in the Novels of Mishima Yukio setzt sie sich unter anderem mit Mishimas Idee des kulturellen Kaisers auseinander und beruft sich neben Bunka bōeiron auf den Aufsatz Nihon Bungaku Shōshi [Eine kurze Geschichte der japanischen Literatur] (1969). Ihre These, Mishima habe sich in Bunka bōeiron vergeblich von nationalistischen Tendenzen abgrenzen wollen, falle aber aufgrund seiner kulturspezifischen Argumentation darauf zurück, lässt sich nur insofern bestätigen, als Mishima sein eigentliches Anliegen, die Revitalisierung des Kaisers erst auf den letzten Seiten expliziert. 89 90
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Vgl. Starrs 1984: 169. Chigusa Kimura-Steven lehrte in Neuseeland Japanologie und hat sich nicht nur mit Mishima, sondern auch mit Sōseki Natsume intensiver befasst. Zu dem Thema des hier besprochenen Essays hat sie eine Monographie auf Japanisch verfasst (vgl. Kimura-Steven 2004; Kimura-Steven 2002). Vgl. Kimura-Steven 2002: 158ff. Mishimas Abneigung gegen Politik im Allgemeinen habe in den späten 1960er Jahren zugenommen; kurz vor seinem Tod verachtete er das gesamte politische System als Feind und alle Politiker als Heuchler (vgl. Kimura-Steven 2002: 166ff.).
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Zur (Be)Deutung von Bunka bōeiron
Schließlich verortet auch Thunman Mishimas Motivation für seine politischen Schriften sowie seinen Freitod in seiner persönlichen Neigung für das Heroische und Tragische und seiner jugendlichen Kriegserfahrung. Mithilfe der Kontinuität habe er den Gegensatz zwischen Körper und Geist sowie Denken und Handeln überwinden wollen. Andererseits verfolgte Mishima mit der versuchten Revitalisierung kriegszeitlicher Werte eine gesellschaftliche Mission, sein Tod war zu Teilen Protest gegen die politische und ökonomische Ordnung der Nachkriegszeit.92 Thunman formuliert die Verquickung von Mishimas persönlichen Erfahrungen, seiner Ästhetik und dem größeren Anliegen, die Menschen auf den Status Quo aufmerksam zu machen. Da sie allerdings die Bedeutung der von Mishima aufgeworfenen Debatten in der Nachkriegszeit ausspart, bleibt die Aktualität von Bunka bōeiron im Dunkeln. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die japanischsprachigen Rezensenten vornehmlich einzelne Aspekte aufgrund ihrer fehlerhaften Logik kritisieren, Bunka bōeiron nie als Utopie oder Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Identitätsproblematik lesen, weswegen auch Mishimas faschistische Ästhetik nicht problematisiert wird, sondern vornehmlich der korrekte Realitätsbezug und die logische Konsistenz geprüft werden. In einem zweiten Schritt wird häufig eine Verbindung zwischen Text und Leben des Autors hergestellt und das eine durch das andere erklärt. Da sich die Rezensionen nur in den seltensten Fällen aufeinander beziehen, werden bereits thematisierte Aspekte nicht weitergedacht. Aus den Einzelerkenntnissen der Abhandlungen ergibt sich allerdings eine interessante Zusammenschau: auch implizite Bezüge auf Kant oder die Verdinglichung werden erkannt und thematisiert. Allerdings mangelt es an einer Interpretation der einzelnen Punkte ebenso wie an einer zusammenfassenden Analyse, welche sich direkt auf den Text bezöge, aber auch die gesellschaftliche Relevanz des Textes diskutierte.
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Vgl. Thunman 1999: 130–134. Thunmans Interpretation von Mishimas Tod als kanshi 諫死 hätte Mishima hingegen sicher gefallen: „Mishima’s death reminds me of the old ritual of ‘kanshi’ – a loyal vassal taking his own life by the ritual death of ‘seppuku’ to ask his master to reconsider a certain matter. The master in this case seems to be postwar Japan itself, and beyond it, a possible form of the Imperial institution as a cultural wholeness of the Japanese people, a form it has actually never really had in the course of history.“ (Thunman 1999: 132.)
V Schlussbetrachtung
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Abschließende Überlegungen zu Bunka bōeiron
1968 erschienen, richtete sich Bunka bōeiron über die Literaturzeitschrift Chūō kōron an die breite Öffentlichkeit. Dass nicht primär rechte Gesinnungsgenossen angesprochen werden, zeigt sich an Mishimas Verurteilung kriegszeitlicher Praktiken sowie des rechten und linken Totalitarismus.1 Mishima kritisiert in diesem Essay, der aufgrund der ausführlichen Darlegung von Themen, die sein Werk bestimmen, zu Recht als sein wichtigster theoretischer Text bezeichnet wird, verschiedene nationale und internationale Diskurse und positioniert Bunka bōeiron als Interdiskurs. Mishima thematisiert die Wechselbeziehungen von Kultur, Tradition, Tenno und Nation. Zunächst definiert er Kultur als transparente Form, die ihren Inhalt durchscheinen lasse. Dieser mache nicht allein Materielles aus, sondern auch Handlungsmuster und kulturelle Ausdrücke des japanischen Geistes wie bushidō oder kamikaze seien darin enthalten. Kultur sei zudem dynamisch: Zwar werde sie von Althergebrachtem gespeist, dennoch sei sie innerhalb der ihr gegebenen Form wandelbar und könne sich den Umständen anpassen.2 Mishimas Kulturverständnis ist holistisch: Alles Japanische, und sei es eine ‚typische‘ mentale Überzeugung, wird als Kultur verstanden, weswegen die für den westlichen Rezipienten auf der Hand liegenden Gegensatzpaare Kultur und Natur beziehungsweise Kultur und Zivilisation keine Rolle spielen. Faktisch kann Mishima diesen Holismus jedoch nicht konsequent aufrechterhalten: Obwohl im Text immer wieder betont wird, dass Kultur alles subsumiere, bleiben das Politische, der Utilitarismus, der Egoismus sowie der Materialismus explizit aus der Kultur ausgeschlossen, so dass Kultur ex negativo normativ festgeschrieben wird als das, was Kulturalismus nicht ist.
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Darüber hinaus unterscheidet sich der Essay in seiner Struktur, Konstruktions- und Argumentationsform deutlich von seinen Paratexten, die anderen Adressaten vorbehalten sind. Dass Mishimas Auffassung nicht unüblich war, zeigt sich am zitierten Parteiprogramm der SPJ, in welchem eine sehr ähnliche Kulturdefinition vertreten wird (vgl. BB: 18).
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Schlussbetrachtung
Kulturalismus trenne zusammengehörige Dinge wie Chrysantheme und Schwert oder Subjekt und Objekt voneinander und sei somit für den nachkriegszeitlichen Werteverfall verantwortlich. Als kulturalistisches Paradebeispiel wählt Mishima die weit verbreitete, egoistische, allein auf Selbsterhalt und Wohlstand konzentrierte Existenz, die letztendlich in Werterelativismus resultiere. Damit einher gehe der ethnische Nationalismus, eine nachkriegszeitliche Form des veränderten japanischen Gemeinschaftsgefühls: Er sei die soziopolitische Auswirkung des Kulturalismus und verantworte die Trennung von Volk und Staat. Mishima veranschaulicht dies mithilfe eines vierstufigen Modells, welches die Zeitspanne von Kriegsende bis zur Veröffentlichung von Bunka bōeiron einteilt und die auseinanderklaffenden Ziele der Regierenden und des Volkes beschreibt. Im letzten Kapitel werden die bis dahin nicht miteinander in Bezug gesetzten Thesen zusammengeführt. Nicht allein Tradition, Form und Kontinuität seien Bedingungen von Kultur, sondern erst das „kulturelle Konzept“, welches dem Kaiser entspräche, könne die Ganzheitlichkeit der Kultur garantieren und den trennenden Mechanismen der Nachkriegszeit Einhalt gebieten. Ist Kultur verwirklicht – oder anders gesagt: existiert der Kaiser als kulturelles Konzept –, sind Chrysantheme und Schwert vereint. Diese Idee eines einenden Kaisers prägte realiter bereits die Meiji-zeitliche Tennoideologie: Den ersten modernen Selbstbehauptungsdiskursen, die mit der vom Westen erzwungenen Öffnung Japans einsetzen, war gemein, dass sie den Tenno als nationale Identifikationsfigur etablierten. Der Gottkaiser, Paradebeispiel einer invented tradition, sollte die Achse darstellen, um die sich Japan drehen konnte; dem Tenno sollte eine äquivalente Position zukommen wie dem Christentum im Westen. Genau wie die Meiji-Ideologen muss Mishima in Bunka bōeiron dem Kaiser ein Profil geben, damit dieser als Symbol der Einheit Japans fungieren kann. Da dies nach dem Krieg und der „Menschlichkeitserklärung“ des Kaisers nicht mehr über die Person selbst oder das Gottkaisertum funktionieren kann, bemüht sich Mishima um eine unhintergehbare Definition: Der Kaiser sei ethischer Höhepunkt und gleichzeitig unerschöpfliche Quelle der Moral. Er schreibt den Kaiser als die Instanz fest, welche Sinn und Werte generiert und einen relevanten Bezugspunkt für das japanische Volk darstellt. Diese Vorstellung vom Kaiser als Symbol der kulturellen Gemeinschaft sowie als Ursprung und Quelle aller Werte untermauert er durch die Festlegung, der Tenno sei „Wert an sich“: Als moralische Instanz existiere der Kaiser a priori, sei nicht gesellschaftlich oder geschichtlich hervorgebracht und kann somit auch nicht hinterfragt werden. Somit kann er als Konstante gedacht werden, die losgelöst von Erfahrungen und damit auch von der jüngsten Kriegsvergangenheit und der Verneinung der kaiserlichen Göttlichkeit existiert. Der Tenno wird bei Mishima zu einem unabänderlichen, absoluten Wert, dem Kontinuität innewohnt und der als solcher den Gegenpol zum ethischen Relativismus, Kulturalismus und ethnischen Nationalismus der Nachkriegszeit bildet. Darüber hinaus erklärt Mishima den Monarchen zum Ursprung des miyabi und damit zum „höchsten ästhetischen Wert“, der in der Heian-zeitlichen Hochphase der höfischen Kultur und Künste wurzle. Wie in Nihonjinron üblich, bedient sich Mishima mit der Aussage, der Kaiser habe als Quelle des miyabi die klassischen Ästhetik-Konzepte wie wabi,
Abschließende Überlegungen zu Bunka bōeiron
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sabi, oder yūgen hervorgebracht, einer klischeebeladenen, der Schublade der Japanizität entnommenen Definition, denn eben diese Konzepte gelten, wenn nicht sogar als unübersetzbar, so doch zumindest als ‚authentisch japanisch‘. Die Behauptung, dass der Kaiser noch immer traditionelle Ästhetik hervorbringe, belegt Mishima, indem er die Funktion des Kaisers als Verwalter der japanischen Lyrik exponiert und damit eine Eigenschaft hervorhebt, die dem Kaiser tatsächlich auch nach der ‚„Menschlichkeitserklärung“ noch zukam. Indem Mishima den Kaiser als miyabi und als „Wert an sich“ bezeichnet, verankert er ihn in der japanischen Ästhetik und der westlichen Philosophie gleichermaßen. Doch Mishimas kultureller Kaiser ist keinesfalls allein in den Sphären von Ethik und Ästhetik zuhause. Behauptet Akiyama im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit des angeblich nicht definierbaren miyabi, dass das Genji-Monogatari dessen sowohl im Politischen, als auch im Kulturellen verankerte Kraft ausdrücke,3 entspricht dies der Bedeutung, die Mishima miyabi in Bunka bōeiron gibt: Obgleich Kultur und damit auch der Kaiser bei Mishima per se unpolitisch sind, kann der Kaiser als miyabi, wenn die Ganzheitlichkeit der Kultur gefährdet ist, „die Gestalt des Terrorismus annehmen“.4 Durch diesen Kniff ästhetisiert und poetisiert Mishima den politischen Spielraum, welcher dem Kaiser im Notfall zur Verfügung steht nach dem Muster faschistischer Ästhetiken.5 Am deutlichsten zeigt sich die Verschränkung von Politik und Ästhetik am Beispiel des bushidō, welcher für Mishima sowohl eine „Verschönerung der Ethik“ als auch ein „System der Ethik der Schönheit“ darstellt.6 Mishima ruft seine Mitbürger auf, das bushidōIdeal zu leben und bereit zu sein, ihr Leben für Japan zu opfern. Die Glorifizierung des bushidō – der im allgemeinen Sprachgebrauch gleichbedeutend ist mit dem ritualisierten und hochgradig ästhetisierten Heldentod, der in Kriegszeiten als apotheotisch galt – wird von Mishima als Ausweg aus der Dekadenz der Nachkriegszeit beschrieben und mit einem Rückgriff auf den Mythos geheiligt. Mishima gibt Mythen und Gefühlen Vorrang vor Akiyama argumentiert, dass die politische Überlegenheit Genjis von dessen kultureller Vormachtstellung herrühre, welche wiederum auf dessen Blutlinie zurückzuführen sei (vgl. Akiyama 1984: 26ff.). 4 BB: 46. 5 Vgl. Tansman 2009: 2; Friedländer 1984: 43. Die unglaubwürdige Versicherung, der Kaiser nutze diesen politischen Handlungsspielraum nicht machtpolitisch, sondern ausschließlich zur Aufrechterhaltung der Kultur, muss Mishima anbringen, um seine Argumentation nicht zu gefährden. Mishima wurde der Kniff, den angeblich unpolitischen Kaiser unter dem Schutz der Ästhetik dennoch mit politischem Handlungsspielraum auszustatten, verschiedentlich vorgeworfen und er wusste ihn in dem offenen Brief an Hashikawa nicht zu entkräften. Er muss diese berechtigte Kritik hinnehmen, um einen für seine Argumentation notwendigen, handlungsfähigen Kaiser erschaffen zu können, denn nur ein solcher kann der gestaltlosen Kultur vorstehen, dieser Format verleihen und gleichzeitig vorgeben, was Kultur nicht sein darf, damit sie nicht in Kulturalismus umschlägt: Politik, Utilitarismus, reiner Materialismus, die Trennung von Chrysantheme und Schwert oder ein Instrument machtpolitischer Berechnungen. 6 Beide Zitate BB: 22. Diese Bestimmung weicht nicht weit von der offiziellen Tennoideologie oder deren Jargon ab: Sowohl im „Erziehungsedikt“ von 1890 als auch im Kokutai no hongi aus dem Jahr 1937 wurde der Kaiser als das moralische und ästhetische Fundament Japans dargestellt, welches das Volk einen sollte und für das es zu kämpfen und notfalls sein Leben zu lassen gelte. 3
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Schlussbetrachtung
Rationalität und sucht die krankende Gegenwart durch ein Wiederaufleben einer idealisierten Vergangenheit zu heilen: eine faschistische Reaktion auf die Moderne. Hier offenbart sich eine Divergenz zwischen der Intention von Bunka bōeiron und dessen Inhalt, denn obgleich Mishimas Essay vorgibt, nicht über Politik zu sprechen, ist er programmatisch und beinhaltet eine konkrete Handlungsanweisung, die keinesfalls im Unpolitischen verharrt und in ihrer faschistischen Ausrichtung klar abzulehnen ist. Getreu der „Paradoxie des Schützens“ – einem gleichermaßen forcierten wie unplausiblen Argument – die davon ausgeht, dass Gleiches nicht durch Gleiches gewahrt werde, kann allein ein politisches System, welches die zeitliche und räumliche Kontinuität schützt, die Ganzheitlichkeit der Kultur garantieren. Da Totalitarismus die Redefreiheit nicht bewahre und der ethnische Nachkriegsnationalismus die zeitliche Kontinuität unterbräche, deutet sich Mishimas Vision eines für Japan geeigneten politischen Systems indirekt an: Der Kaiser soll diesem vorstehen, die Ziele des Volkes und des Staates vereinen und darüber hinaus Meinungsfreiheit und Pluralismus gewährleisten.7 Mishimas zu Ende des Essays unvermittelt vorgebrachte Forderung, der Kaiser müsse in seiner Funktion als taiken 大権 – als Souverän gemäß der Meiji-Verfassung, der sowohl das Staatsoberhaupt als auch Oberbefehlshaber des Militärs war – wiederbelebt werden, wirkt wie nachträglich eingeschoben. Die Analyse erhellt jedoch, dass Mishima die bis zu diesem Zeitpunkt in ihrer Deutlichkeit zurückgenommene Argumentation durchweg auf diesen Aufruf hinführt.8 Dank ihrer Platzierung kommt den beiden relevanten Sätzen der Charakter eines Fazits zu; die Schwerpunktsetzung in den Rezensionen bestätigt, dass sie dem Leser als dominantes Argument in Erinnerung bleiben. Da auch der Titel als zentraler Paratext auf eine militärische Verteidigung hinweist, wird die vom Text aufgeworfene Frage, wie sich Kultur im Falle einer Krise schützen lasse, mit Mishimas Ausführungen zur militärischen Gewalt beantwortet. Angesichts der empfundenen hegemonialen Bedrohung versucht Mishima seine visionäre Staatsform mit der Möglichkeit auszustatten, sich gegen äußere Machtansprüche zu verteidigen. Problematisch ist dabei nicht nur die Wortwahl, das Militär müsse durch die „Bande der Ehre“ mit dem Kaiser verbunden werden. Diese ist ebenso auf Mishi mas faschistische Ästhetik zurückzuführen wie die Aussage, dass die Selbstaufgabe des modernen Individuums für den Schutz der Kultur notwendig sei. Diese gerade im Angesicht der nachkriegszeitlichen Realität verquere Verknüpfung von Politik und Ästhetik konterkariert Mishimas Versuch, die Probleme der Nachkriegszeit etwa mithilfe des ethnischen Nationalismus systematisch zu erfassen ebenso, wie seine Bemühungen, den Kaiser als authentischen Wert für Japan zu etablieren.
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Verwirklicht worden sei dies bei der Olympiade im Jahr 1964, als Volk und Staat eins gewesen seien, Militär und Kaiser eindeutige Aufgaben gehabt hätten und die Menschen das Gefühl einer japanischen Gemeinschaft spürten. Die an dieser Stelle erneut vorgebrachte Versicherung, der Kaiser solle nicht politisch, sondern kulturell wiederbelebt werden, wird nun endgültig unglaubwürdig.
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Ebenso vage wie er die Beschaffenheit des Staatssystems ausführt, bleibt Mishima hinsichtlich dessen Umsetzung. Mishimas wiederholte Betonung der Bedeutung von Protestpotenzial – im Hinblick auf den Sicherheitsvertrag und den Vietnamkrieg gleichermaßen wie in historischer Perspektive, wenn er den Niniroku-Jiken und den Zwischenfall am Sakuradamon-Tor lobt – suggeriert, dass er in einem gewaltsamen Umsturz die Möglichkeit sieht, eine neue Staatsform zu etablieren und das vom Westen gegebene Nachkriegssystem abzulegen. Gestärkt wird diese These durch seine Behauptung, Rebellionen seien bereits Teil der japanischen Mythen und, solange sie sich im Rahmen des miyabi bewegen, keinesfalls verwerflich.9 Diese Annahme gipfelt in Mishimas Aufruf, jeder Einzelne müsse bereit sein, sich selbst aufzugeben. Gemeint ist einerseits eine Abwendung von Egoismus und dem Wunsch einer Wohlstandsakkumulation, über die sich das moderne Individuum definiert, andererseits die Bereitschaft, für Mishimas Utopie, den Kaiser, zu kämpfen und zu sterben. An dieser Stelle lässt sich nun, aller Vorbehalte gegenüber biographischen Interpretationen zum Trotz, die Person Mishima nicht mehr ausblenden. Dass er sich nach einem gescheiterten Coup d’État, der die Rehabilitierung des Kaisers und eine gesellschaftliche Revolution anstrebte, das Leben nahm, steht zu eindeutig mit seinen Ausführungen in Bunka bōeiron in Verbindung. Insofern ist anzunehmen, dass Mishima in der Realität seiner eigenen Handlungsaufforderung Folge leistete und am Tag seines Selbstmordes eine Revolution anfachen wollte. Wäre diese erfolgreich gewesen, hätte er Feder und Schwert gleichermaßen verwirklicht und wäre selbst zu einem Beispiel von Kultur geworden. Um diese mögliche, in ihrer Radikalität beängstigende Alternative zum liberalen kulturalistischen Nachkriegsjapan zu etablieren, bedient sich Mishima nicht mehr der Idee eines Gottkaisers, sondern artikuliert das gleich gebliebene Bedürfnis nach einem scheinbar höheren Sinn über den Aufruf, die Kultur wiederzubeleben. Damit folgt er einer seit dem 20. Jahrhundert gängigen Tendenz, das Religiöse in die Bereiche der Kunst und Ästhetik zu transferieren. Da Mishima Kultur und Kaiser gleichsetzt, bleibt sein Ziel letztendlich identisch mit dem der Meiji-zeitlichen Tennoideologen, die als Grundlage für die ultranationalistische Ausrichtung Japans im 20. Jahrhundert diente. Gleichwohl zielt Mishimas geforderte Umsetzung seines theoretischen Tennokonstrukts nicht, wie oft behauptet, auf eine Rückkehr zu einem historischen Punkt, denn in der von Mishima beschriebenen Form hat der Kaiser zu keinem Zeitpunkt existiert: Sein Kaiser ist ein Konglomerat aus einzelnen Versatzstücken, welches verschiedene Eigenschaften von Kaisern unterschiedlicher Epochen subsumiert. Keine der von Mishima bemühten Bestimmungen der kaiserlichen Eigenschaften und Aufgaben ist dabei neu, sie alle haben ihre Entsprechungen in der Meiji-Verfassung, in Propagandaschriften, bei Schriftstellern verschiedenster politischer Couleur oder in verschiedenen Ästhetik- oder Lyriktheorien. Mishimas Tenno changiert zwischen dem angeblich ausschließlich kulturell tätigen Monarchen der HeianZeit, dem Meiji-zeitlichen ideologischen Konstrukt des Gottkaisers, welcher notfalls 9
Vgl. BB: 49. Mishimas Klage, das miyabi sei in der verwestlichten Shōwa-Zeit bei den Versuchen, den Kaiser zu rehabilitieren, nicht mehr erkannt worden, stützt diese These ebenfalls.
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Schlussbetrachtung
politisch agiert, und dem Symbol des japanischen Volkes, als welches der Kaiser nach 1945 in der Verfassung festgelegt wurde. Die Analyse der für Bunka bōeiron relevanten Intertexte hat ergeben, dass Mishima diese nur partiell kennzeichnet. Ausgewiesen sind die im letzten Kapitel präsentierten Meinungen japanischer Intellektueller hinsichtlich der Funktion des nachkriegszeitlichen Tenno. Watsuji Tetsurō nimmt unter den Zitierten insofern eine Sonderrolle ein, als sich seine Position bezüglich der japanischen Gemeinschaft oder dem Verhältnis von Staat und Kultur weit über die Zitate hinaus mit Mishimas Ausführungen deckt. Gleichwohl distanziert sich Mishima durch seine Kommentare von Watsujis Haltung, worin sich sein Dilemma ausdrückt, einerseits auf der Kaiserideologie aufzubauen, andererseits deren Konsequenzen, etwa die Beschränkung der Redefreiheit abzulehnen. Mishima platziert alle Referenzen so, dass sie seine Thesen stützen und gleichzeitig ihre autoritative Wirkung als Fremdmeinung entfalten. Durch ihre Zurechtschneidung ebnen sie Mishimas Konzept den Weg auch dann, wenn der Autor, wie im Falle Maruyamas, ideologisch eine völlig andere Haltung vertritt.10 Indem Mishima die wichtigsten Vertreter des Tennodiskurses aufgreift, deren Meinungen gegeneinander stellt und sich selbst zwischen diesen positioniert, etabliert er Bunka bōeiron gleichzeitig als Interdiskurs. Die intertextuellen Referenzen rufen, ungeachtet dessen, ob es sich um Bezüge auf die Lyrik, die Prosa, die ästhetischen Theorien der Heian-Zeit oder um Rekurse auf die großen Schriftsteller der Edo-Zeit sowie implizit auf Masaoka Shiki handelt, immer ‚das Japanische‘ in Form von Kanon, Mythos oder Literaturgeschichte auf. Jeder Intertext ist dabei so in den Text verwoben, dass er verschiedene Thesen Mishimas gleichzeitig belegt: Das Masukagami stellt nicht allein eine inhaltliche Parallele zur Restauration des Kaisers dar, sondern dient sowohl als Beweis für die Reflexivität der Kultur als auch für deren zeitliche und räumliche Kontinuität. Die Referenzen bilden ein Netz, das sich um Bunka bōeiron legt und wie eine textimmanente Beweisführung für Mishimas Kulturdefinition funktioniert. Die Bezugnahmen auf die Traditionslinie Literatur stehen dabei immer im Vordergrund. Andere Künste oder die ‚Wege‘ werden teilweise erwähnt, Dingliches jedoch, etwa das Kunstgewerbe, bleibt völlig außen vor. Ähnlich vielschichtig wie die intertextuellen Verweise sind sämtliche Beispiele in Bunka bōeiron gestaltet: Keine der oftmals wenig originell erscheinenden Referenzen verweist nur auf einen einzigen Sachverhalt, so dass letztendlich ein fein verästeltes Geflecht aus Referenzpunkten und Intertexten entsteht, welches Mishimas Argumentation nach allen Seiten hin auffängt. Durch die Fokussierung auf die japanische Sprache und die Ausblendung von Gegenständen und Werken, welche durch chinesische Einflüsse geprägt sind, versucht Mishima, wie vor ihm etwa schon die Vertreter der kokugaku, aber auch die Ideologen des 20. Jahrhunderts, ‚Authentizität‘ und dadurch indirekt Identität zu generieren.11
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Aus diesem Grund gibt Mishima die Zitate auch nicht paraphrasiert, sondern im Wortlaut wieder. Eine Paraphrasierung des Inhalts der Zitate wäre für diesen Zweck weit weniger wirkungsvoll. Vgl. Washburn 2007: 27.
Abschließende Überlegungen zu Bunka bōeiron
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Beispiele aus dem außerjapanischen Kontext, Pétain, Praxiteles oder etwa der Springbrunnen, grenzen Japan vom Westen ab, da sie den Kontrast zur Vision des kulturellen Idealzustandes bilden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Mishima mit ungleichen Parametern argumentiert: Da die außerjapanischen Referenzen vornehmlich der Politik beziehungsweise der Kulturpolitik entnommen sind, können sie einem Vergleich mit der japanischen Kultur nicht standhalten, da die großen westlichen Schriftsteller und Denker ausgeklammert werden. Unterstützen westliche Intertexte die Argumentation Mishimas, sind diese hingegen nicht mit einer Wertung belegt. Die mit Klischees angereicherten, Ruth Benedicts Nihonjinron entlehnten Kategorien Chrysantheme und Schwert etwa, welche sich Mishima zu eigen macht, um darüber eine Bedingung der Ganzheitlichkeit der japanischen Kultur zu definieren, sind nicht deutlich als intertextuelle Referenz gekennzeichnet. Aufgrund der in beiden Metaphern angelegten Assoziativkraft und deren Bedeutung innerhalb der japanischen Kulturgeschichte, kann Mishima das Bild für seine Zwecke einsetzen. Die fragmentarischen Enzensberger- und Parkinson-Intertexte hingegen führt Mishima als externe Bestätigung seiner Position an. Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, die Auseinandersetzung mit Verdinglichungstheorien sowie die bei Kant entlehnte Formulierung des „an sich“ hingegen werden nicht thematisiert. Bunka bōeiron kann aufgrund seiner formalen Eigenschaften als Essay charakterisiert werden: Neben der offenen Form und den unsystematischen Betrachtungen scheinen die Beispiele bisweilen vom Thema losgelöst. Und doch ist kein Detail der Form oder des Inhalts von Bunka bōeiron willkürlich, sondern dem übergeordneten Thema, der Reflexion über ein identitätsstiftendes Moment für das japanische Volk, geschuldet. Dass Mishima Begriffe nicht oder erst im Verlauf des Textes ableitet, sondern sie vielmehr „durch ihr Verhältnis zueinander“12 präzisiert, trägt dabei dem Versuchscharakter des Essays Rechnung. Charakteristisch für Bunka bōeiron ist auch eine Ungenauigkeit, die zurückzuführen ist auf Überinterpretationen, Zuspitzung, Widersprüche, Assoziationen, Verhüllungen, Mehrdeutigkeiten und das Spiel mit Vorläufigkeiten, wobei diese Methoden einen Erkenntnisgewinn bezwecken. Denn gerade Uneindeutigkeiten regen den Rezipienten an, sich selbst Gedanken zur verhandelten Thematik zu machen; ein Anliegen das nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich der Leser auf dieses Spiel einlässt. Zudem weist Bunka bōeiron eine „kritische Form par excellence“ auf;13 als Produkt einer Krise ist dem Essay ein kulturkritischer Charakter sowie eine kulturkonservative, die Vergangenheit idealisierende Tendenz zu eigen, die mit einer gleichzeitiger Verschmelzung von Zivilisationskritik und Kunstenthusiasmus einhergeht. Weitere Charakteristika von Bunka bōeiron sind die Sprunghaftigkeit der Gedankenführung und die fehlenden Erklärungen zu bisweilen unentschlüsselbaren Sachverhalten. In Kombination mit der sprachlichen Gehobenheit sowie der Verwendung ungebräuchlicher Lexeme und des komplexen Satzbaus wird der Text schwer zugänglich. Diese sprachlichen Hürden bewirken, was Šklovskij als ostranenie bezeichnet: Automatismen werden 12 13
Adorno 1972 [1958]: 71. Adorno 1972 [1958]: 77. Vgl. auch Lukács 1972 [1910]: 28, 30f.; Bense 1968 [1952]: 62.
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Schlussbetrachtung
aufgebrochen und der von der Konstruktions-Sprache ausgehende Zwang, sich auf eine neuartige Wahrnehmung einzulassen, provoziert eine Umbewertung des Bekannten und führt zu einem neuen Sehen. Verfremdungseffekten bedient sich Mishima, um eine Neubelegung von Begriffen wie bunkashugi oder minzokushugi zu erreichen, die eine gründliche Lektüre sowie eine Reevaluation von Gegebenheiten unabdingbar macht. Das Arrangement der Argumente, etwa im Fall von irreführenden Überleitungen, führt häufig dazu, dass aufgebaute Erwartungen enttäuscht werden. Erst eine analytisch vorgehende Untersuchung kann den Argumentationsaufbau eruieren und eine zwar sprunghafte, aber dennoch vorhandene Logik nachvollziehen. Mishima vermittelt sein Hauptanliegen durch Beispiele, die auf zu differenzierenden Ebenen wirken sowie durch zahllose Wiederholungen, die das Gemeinte auf unterschiedliche Arten und in verschiedenen Zusammenhängen reformulieren. Der erschwerte Zugang zu Bunka bōeiron war der Rezeption und Bewertung der Textes insofern abträglich, als die Analyse bislang bestimmte Muster nicht zu durchbrechen wusste.
Bewertung und Ausblick
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Bewertung und Ausblick
Nur wenige Rezensenten thematisieren den Appellcharakter, den Aufruf zu einer aktiven Neugestaltung der Gegenwart, der Bunka bōeiron eingeschrieben ist. Doch nur vor dem Hintergrund des kulturkritischen Gestus des Essays und im Bewusstsein für den darin präsentierten Lösungsvorschlag lassen sich notwendige Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz des Textes anstellen. Die Veröffentlichung von Bunka bōeiron fällt in eine Zeit, in der die kulturpolitischen wie politischen Debatten von der Angst eines kulturellen Identitätsverlustes geprägt waren. Geschürt wurden diese Ängste durch die Modernisierungs- und Demokratisierungsschübe der industriellen wie sozialpolitischen Institutionen im Zuge der Besatzung, die enge sicherheitspolitische Anbindung Japans an amerikanische Interessen im Zuge der Anpo-Auseinandersetzungen sowie der gesellschaftlichen Spannungen durch die Studentenproteste der späten 1960er Jahre, wobei die militanten Proteste gegen den Bau des Narita-Flughafens den Konflikt zwischen Staatsgewalt und Gesellschaft besonders deutlich unterstrichen. Diese Ereignisse prägten das Denken liberaler wie konservativer Intellektueller und definieren bis heute die Bruchlinien der kulturpolitischen Debatten. Mishima artikuliert vor diesem Hintergrund und zweifelsohne im Einklang mit seinen persönlichen Erfahrungen und Wünschen einen simplen Ausweg aus der gefühlten Wertelosigkeit. Dabei gilt für ihn wie für Borchardt: Wenn er [Borchardt] die Gefühle der Desintegration und Desorientierung beschreibt, um dann die Idee der Nation als Heilsbotschaft zu verkünden, trifft er tatsächlich eine weit verbreitete Stimmungslage der Jugend nach der Jahrhundertwende. Man mag einwenden, daß weder die Selbststilisierung des Kranken, der zum Arzt wird, noch die Diagnose, noch das Rezept originell sind.14
Auch Mishima schwingt sich vom Patienten zum Arzt auf. Seine Diagnose, der Westen habe die gegenwärtige Dekadenz verschuldet, ist ebenso wenig neu wie der vorgeschlagene Ausweg: die Revitalisierung eines angeblich authentisch Japanischen, Versatzstücke aus Selbstorientalisierungen, Gemeinplätzen über das Japanische, Ideologien und einem angeblich kontinuierlichen Kaiser, der die jeweils besten Eigenschaften in sich vereint. Den Kranken oder die Anamnese zu tabuisieren, erweist sich jedoch insofern als fatal, als Texte wie Bunka bōeiron nicht ausschließlich die Psyche des eingebildeten Kranken spiegeln, sondern durchaus eine gesellschaftliche Stimmung abbilden. Bunka bōeiron ist als Auseinandersetzung mit dem vorhandenen gesellschaftlichen Verlangen nach der Bestimmung eines verloren geglaubten Japan sowie dessen politischer Umsetzung gegenüber dem Westen zu verstehen und eindeutig als Nihonjinron zu klassifizieren. Mishimas Argumentation ist von dem bereits seit den 1920er Jahren in Japan zu beobachtenden Muster des Nihon kaiki geprägt. Die „Heimkehr nach Japan“ im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem Fremden ist im Falle Mishimas eine doppelte: Sowohl das Land als auch der Schriftsteller haben sich zunächst dem Westen zugewandt, um diesem dann 14
Kauffmann 2003: 109.
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Schlussbetrachtung
zugunsten des Eigenen den Rücken zu kehren. Die damit einhergehende Idealisierung als traditionell ausgewiesener Werte dient dazu, dem gesuchten, wiederzubelebenden Unverzichtbaren Ausdruck zu verleihen und zu formulieren, was außerhalb des Artikulierbaren liegt. Liest man Bunka bōeiron vor dem Hintergrund einer verloren geglaubten Identität als einen Versuch, diesen Verlust zu kommunizieren und aktiv dagegen zu wirken, so präsentiert sich Mishimas Aussage, Kultur könne gefühlt werden im Licht einer altbekannten Zuschreibung. Emotion wird der Gegenpol zur angeblich westlichen Rationalität und zur versuchten sprachlichen Artikulation dessen, was abhandengekommen scheint. Japan hat seit der ersten Begegnung mit dem Westen seine Identität immer wieder über ästhetische Begriffe zu fassen versucht, welche sowohl die Artikulation einer japanischen Einzigartigkeit, als auch die Abgrenzung zum wirtschaftlich überlegenen und demokratisch erfahrenen Westen ermöglichte: Mishimas Kaiserkonstruktion, eine Kombination aus dem ästhetischen, japanischen miyabi und der westlich philosophischen Definition des „Wert an sich“, vereint diese Widersprüche der Moderne geradezu in sich. Ausgehend davon, dass das Verlangen nach historischer Kontinuität und Traditionen ein Indikator für das Bedürfnis nach Stabilität innerhalb veränderter sozialer Gegebenheiten ist, muss Bunka bōeiron als Pamphlet gegen die geistige Leere gelesen werden, die vor allem in den 1960er Jahren vielfach von Intellektuellen zum Ausdruck gebracht wurde. Dieser kulturellen und politischen Krise, welche keinesfalls allein Mishima gefühlt hat, sondern die aus dem nachkriegszeitlichen Werterelativismus und dem Rückzug der Menschen ins Private resultierte, entspringt die in Bunka bōeiron formulierte Utopie. Weil sich seiner Ansicht nach langfristig keine Befriedigung aus materiellem Wohlstand ziehen lässt, versucht Mishima seinen Zeitgenossen, die den Tenno vierzehn Jahre nach Kriegsende wie einen banalen Rockstar behandeln, die Wichtigkeit von gesetzten Werten vor Augen zu führen, welche seiner Ansicht nach im kulturellen Kaiser kulminieren.15 Der Glaube, dass die einer Kultur eigenen moralischen und ästhetischen Werte unantastbar und authentisch sind, will den destabilisierenden Effekten des moralischen Relativismus trotzen. Versucht Mishima in Bunka bōeiron unter Rückgriff auf den Tenno eine japanische Essenz zu extrahieren, bewegt er sich im üblichen Muster von Identitätssetzungsstrategien. Diese nutzen den unbestreitbaren Fakt, dass Kulturen verschieden sind, um in der Besonderheit der eigenen Kultur die Essenz der sie stabilisierenden Kräfte zu finden.16
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Mishima ist dabei keineswegs allein mit seinem Anliegen, Werte wiederaufleben zu lassen. Erste restaurative Tendenzen ließen sich bereits in den 1950er Jahren ausmachen und drückten sich vornehmlich in einer Rückbesinnung auf japanische Werte und Traditionen aus. Die politischen Krisen der 1960er Jahren schürten die Angst vor einem moralisch-kulturellen Verfall Japans sowie dem sich stets verringernden Zusammenhalt der Gesellschaft. Aufgrund dessen erstarkten jene Stimmen wieder, die sich gegen die bedingungslose Annahme der Modernisierung wandten und eine Bewusstmachung des Eigenen forderten. Zur Gruppe dieser sogenannten alten Liberalen, die sich mit dem kulturalistischen und ästhetischen Fokus des Vorkriegsdiskurses sowie der kulturellen Besonderheit Japans beschäftigte, gehörten u. a. Watsuji Tetsurō, Tsuda Sōkichi und Tanizaki Jun’ichirō (vgl. Iida 2002: 85ff.). Vgl. Washburn 2007a: 3.
Bewertung und Ausblick
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Ungeachtet dieses Kontextes der nachkriegszeitlichen Selbstbehauptungsversuche und des Kalten Krieges ist Mishimas Argumentation verwerflich, sein Anliegen problematisch. Mishima vertritt ein chauvinistisches, separatistisches, auf blutsverwandtschaftlichen Beziehungen beruhendes Kulturverständnis,17 aus welchem die Forderung nach einer Staatsform mit dem Kaiser an der Spitze resultiert. Vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts entwirft er die Vision eines kulturellen Kaisers, der allerdings nur theoretisch unpolitisch ist. Denn im Fall eines Auseinanderdriftens von Volk und Staat kann der Tenno als oberstes ästhetisches Prinzip politisch agieren, sich sogar des Terrors bemächtigen. Dadurch billigt Mishima jegliches Verhalten des Monarchen unter dem Schutz der Ästhetik und enthebt ihn dadurch seiner politischen Verantwortlichkeit. Nicht nur angesichts der anhaltenden Leugnungen japanischer Kriegsverbrechen von konservativer Seite sowie der Diskussion um die Verantwortlichkeit des Tenno für japanische Kriegshandlungen spottet eine solche Aussage den Opfern des Krieges. Mishima knüpft die durchaus bedenkenswerte Aufforderung, den japanischen Charakteristika der Kultur Rechnung zu tragen und Japanisches nicht ausschließlich dem westlichen Wertemaßstab zu unterwerfen, einerseits an die standardisierte, selbstorientalisierende Nihonjinron-Rhetorik, andererseits an die absurde und faschistische Forderung der Selbstaufgabe für den Kaiser, und unterwandert damit manchen nachvollziehbaren Gedanken in seinen Ausführungen. Mit seiner Kritik an den kolonialen und postkolonialen Praktiken des Westens, der den Maßstab für Kultur, Politik, Ökonomie und das Soziale setzt und diese Standards anderen Ländern ungeachtet deren Spezifika wie eine Hülse überstülpt, nimmt Mishima vorweg, was in der von Edward Said losgetretenen Orientalismus-Debatte ab den späten 1970er Jahren exzessiv diskutiert worden ist. Mishima hat in Bunka bōeiron im Kleinen, manchmal nur in Form von Andeutungen oder Intertexten alle Themen verarbeitet, die für sein Denken zentral sind. Bunka bōeiron ist die Zusammenschau, der Mikrokosmos dessen, was Mishima prägt: Nicht nur Ostentatives wie die Frage nach der Beschaffenheit des Kaisers ist darin enthalten, sondern auch seine Auseinandersetzung mit Watsuji, dem Niniroku-jiken oder den Zengakuren-Studenten; Motive wie Griechenland, die Anführung des Hagakure sowie die Nennung von Theaterformen, in denen sich der Autor selbst erprobt hat, stellen nur die eindeutigsten Konstanten im Gesamtwerk Mishimas dar. Bezüge auf Nietzsche etwa oder die gedankliche Nähe des Textes zur japanischen Roman-ha, Mishimas Beschäftigung mit Masaoka Shiki, dem bunbu ryōdō-Ideal oder die Reflexion über Artikel 9 der japanischen Verfassung sind weitere Punkte, die das Denken Mishimas entscheidend geprägt haben und die in diesem, zwei Jahre vor seinem Tod erschienenen Text kumulieren. Im Unterschied zu seinem fiktionalen Werk, in dem er verschiedentlich den Selbstmord für den Kaiser heiligt oder Samurai-Tugenden in einer Zeit propagiert, in welcher diese nicht mehr von Belang wa17
Dass Mishima für seine Kulturdefinition, freilich ohne dies zu kennzeichnen, nicht nur Abgrenzungen zum Westen vornimmt, sondern Ideen von Immanuel Kant oder Ruth Benedict darin verarbeitet, zeigt, dass sich auch Mishima bewusst ist, dass abgeschottete „inselartige“ oder „kugelhafte“ Kulturkonzepte in einer globalisierten Welt nicht mehr tragen.
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Schlussbetrachtung
ren, ist Bunka bōeiron vergleichsweise analytisch. Mishima resümiert die Gedanken, die ihn zeitlebens begleiteten und von denen sich die meisten direkt oder indirekt mit Japan beschäftigen. Die Frage, in welcher seine zentralen Überlegungen gipfeln, ist immer, wie oder woraus sich in der Nachkriegszeit Werte generieren lassen, welche die Haltlosigkeit der Menschen abfangen und die in Mishimas Augen sinnfreie Konzentration auf Materielles und Wirtschaftliches durch Ethik ersetzen können. Bunka bōeiron und Mishima teilen das Schicksal, dass nur in den seltensten Fällen hinter ihre Fassade geblickt wird. Während Mishima zumeist, wie die Buchumschläge suggerieren, als unzeitgemäßer Samurai wahrgenommen wird, gelingt es den wenigsten Rezensenten von Bunka bōeiron, über die vordergründigen Auslassungen zu den nationalistischen, kaisertreuen Tendenzen hinauszugehen. Obgleich in biographistischen Ansätzen die Beleuchtung verschiedener Rollen Mishimas gang und gäbe geworden ist, werden seine bewusst provozierenden, plakativ nationalistischen Inszenierungen und Aussagen selten hinterfragt. Dabei präsentierte er seine politischen Ideen so überspitzt und lebte diese etwa in Form seiner Privatarmee so absurd vor, dass er in dieser Pose fast nicht mehr ernst genommen werden konnte; dennoch bleibt diese Oberfläche unangetastet und Werke, die sein angeblich nationalistisches Gedankengut spiegeln, sind weitgehend unanalysiert. Dies ist Mishima sicherlich selbst zuzuschreiben: Die Komposition und die Ausdrucksweise, die er für Bunka bōeiron wählt, machen es dem Rezipienten leicht, dem Text keine allzu große Bedeutung beizumessen. Die sprachlichen Hürden, die bisweilen fehlende Kohärenz und das zum Teil eindeutig nationalistische beziehungsweise faschistische Gedankengut – etwa der rassistische Kulturbegriff, die Verbindung zwischen Armee und Kaiser und die Ästhetisierung des Politischen – versperren selbst aufgeschlossenen Lesern den Zugang zu tiefer liegenden Bedeutungsschichten des Textes. Eine Überblendung des Motivs der Identitätssuche verspräche jedoch neue Erkenntnisse und Interpretationsmöglichkeiten für Mishimas Gesamtwerk, welches immer vor dem Hintergrund der Ereignisse des 25. Novembers 1970 gelesen wird. Dabei darf eine Neulektüre Mishimas jedoch nicht das Ziel verfolgen, Mishimas nationalistisches Gebaren zu beschönigen oder ihn als unpolitischen Autor darzustellen, denn seine Ästhetik ist ebenso eindeutig als faschistisch zu klassifizieren, wie seine Intention, den modernen Entfremdungs- und Fragmentierungsprozessen Einhalt zu gebieten, auf der Hand liegt. Interessant ist, dass sich Bunka bōeiron, trotz seiner Sperrigkeit und der überwiegend kritischen Beurteilung der Rezensenten anhaltender Verkaufszahlen erfreut.18 Obgleich dies selbstredend nichts darüber aussagt, ob und in welcher Intensität eine Auseinandersetzung mit dem Text erfolgt, ließe sich spekulieren, dass der Essay noch immer eine gewisse Aktualität aufweist und dem Leser die ungebrochene Relevanz seines Inhalts zu vermitteln weiß. Während in Japan in zahllosen Publikationen noch immer konkret über den symbolischen Kaiser diskutiert wird, hat die Frage nach der Bedeutung und Aufgabe von Kultur global Konjunktur. Der Erhalt von Kultur und die Auseinandersetzung mit deren 18
Dies zeigt sich an der Neuauflage des Textes in Chikuma bunko im Jahr 2006 und vier Jahre später in zweiter Auflage.
Bewertung und Ausblick
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Veränderungen werden nicht allein in der Literatur thematisiert. Wird in der deutschen Politik über Integration diskutiert, steht hinter der vordergründig geführten Debatte meist genau die von Mishima aufgeworfene Frage, ob beziehungsweise wovor Kultur geschützt werden müsse. Die Angst vor kultureller Vereinnahmung, die Mishima in den 1960er Jahren artikulierte, ist überhistorisch, kulturunspezifisch und fragt nach Formen der Selbstbehauptung, welche sich tagesaktuell etwa in Begriffen wie der „deutschen Leitkultur“ ausdrücken. Analog dazu finden sich in der japanischen Tagespolitik Aussagen, die als Beschwörung der Stärke und Besonderheit der eigenen Kultur zu lesen sind. Besonders Ishihara Shintarō 石原慎太郎 (*1932), Schriftsteller, ehemaliges Mitglied der LDP, früherer Gouverneur Tokyos und seit 2012 gemeinsam mit Hashimoto Tōru 橋下徹 (*1969) Vorsitzender der nationalistischen Nippon Ishin no kai 日本維新の会 (Japans Restaurationspartei), gilt als treibende Kraft der Mobilisierung nationalistischer Kräfte in Japan. Bereits in den 1990er Jahren war Ishihara mit Werken wie „No“ to ieru Nippon („Das Japan, das ‚Nein‘ sagen kann“) als Vertreter eines esoterischen Kulturnationalismus bekannt geworden, den er in der politischen Debatte ergänzte durch die Forderung nach einer sicherheitspolitischen Autonomie, die Japan als einen von den USA unabhängigen Akteur etablieren sollte. Die Revision der japanischen Verfassung ist genauso Bestandteil dieser politischen Forderungen wie der Ruf nach einer atomaren Bewaffnung. Während Ishihara oder Hashimoto als Vertreter eines Amerika-kritischen revisionistischen Rechtskonservatismus gelten, hat sich im konservativen Mainstream ebenfalls eine Rhetorik etabliert, die mit kulturnationalistischer Ästhetik sowie politischem Revisionismus den Status Quo der japanischen Nachkriegsordnung in Frage stellt. Das von Abe Shinzō, damals wie heute Premierminister Japans, 2006 veröffentlichte Werk Utsukushii kuni e [Für ein schönes Land] sowie die 2013 erschienene erweiterte Fassung Atarashii kuni e [Für ein neues Land] sind Manifeste einer neuen Gesellschaftsordnung, die explizit das „Überwinden der Nachkriegsordnung“ fordern. Argumente einer Revision der Verfassung und dem Aufbau eines starken Japans werden hierbei im Einklang mit der Einzigartigkeit kultureller japanischer Werte präsentiert.19 Gleichwohl sich die gesellschaftliche Akzeptanz derartiger Argumente ebenso wenig belegen lässt wie im Falle Mishimas, fällt auf, dass in jüngster Zeit ein Rechtsruck die japanische Gesellschaft durchzieht, der sich erneut über eine Identifikation mit dem Tenno ausdrückt.20 Diese zeitnahen Entwicklungen verdeutlichen nicht nur die Aktualität von Bunka bōeiron, sondern auch die Notwendigkeit, sich mit Mishimas Appel und den daran anknüpfenden problematischen Inhalten kritisch auseinanderzusetzen, um Anfang des 21. Jahrhunderts tatsächlich 19
20
Vgl. Abe 2006; Abe 2013. Der signifikante Unterschied zwischen dem konservativen Denken Abes und Ishiharas liegt darin, dass Abe japanische kulturelle Werte mit einer pro-amerikanischen Ausrichtung in Einklang zu bringen versucht, was Ishihara und Hashimoto kritisieren. So stellte etwa die Wochenzeitschrift Aera im Oktober 2013 fest, dass nationale Werte und die Identifikation mit dem Kaiserhaus besonders bei Personen mit höherer Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen eine bedeutende Rolle spielen (vgl. Aera 42/7 (2013): 10–14).
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Schlussbetrachtung
Wege aus dem lange prognostizierten Wertemangel zu finden, die jenseits der eingefahrenen Gleise von Kaiserkult und Nihon kaiki verlaufen. Zumindest in dieser Hinsicht ist die Dynamik kultureller Prozesse, die erst durch Repetition normierter Abläufe gesellschaftliche Identität generiert, ein Gewinn – bietet sie, wenn schon nicht ein tragendes, unhinterfragbares Wertesystem, doch die beständige Möglichkeit, Identität neu zu (über)schreiben. In diesem Sinne dürfte beispielsweise die Ausrichtung der Olympischen Spiele in Japan 2020 erneut eine Gelegenheit bieten, kulturelle Identität zu verhandeln und aus den bestehenden Diskursen heraus neue, gehbare Wege zu beschreiten.
VI Übersetzung von Bunka bōeiron
Zur Verteidigung unserer Kultur Kulturalismus und Umkehrung des Kulturalismus Obgleich man von „Shōwa-Genroku-Zeit“1 spricht, ist diese Genroku-Zeit hinsichtlich ihrer kulturellen Erfolge äußerst unbefriedigend. In einer Shōwa-Genroku-Zeit, in der es weder einen Chikamatsu noch einen Saikaku oder einen Bashō2 gibt, verbreiten sich allein dekadente Bräuche. Das Pathos versiegt, der eiserne Realismus ist hinweggefegt und an die Tiefe der Poesie kann man sich nicht zurückerinnern. Es existieren also weder ein Chikamatsu noch ein Saikaku oder ein Bashō. Man fragt sich, was dies für eine Zeit ist, in der wir leben. Eigentlich sollte sie voller Rätsel sein, aber tatsächlich wird sie durch eine rätsellose Transparenz hindurch betrachtet. Ich beschäftige mich seit langem mit der Frage, warum das so gekommen ist. Einerseits sind wir aller sozialpsychologischer Verfahren wie Erklärungen zur Verbreitung und zur Entwicklung der Industrialisierung und Verstädterung, zum Abbrechen und zur Entfremdung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie andererseits aller psychoanalytischer Verfahren überdrüssig, wobei letztere solche sind, als untersuche man nach einem Mord die Kindheit des Mörders.
1
Seit 1868 entsprechen die einzelnen Ärabezeichnungen den jeweiligen, vom Kaiser gewählten Regierungsdevisen. Die Shōwa-Zeit bezeichnet die Regentschaft des Kaisers Hirohito von 1926–1989, deren Devise shōwa 昭和 „leuchtender Friede“ bedeutet. Die Genroku-Zeit 元禄時代 hingegen erstreckte sich über den Zeitraum von 1688–1704 und gilt als Blütezeit der städtischen, bürgerlichen Kultur. Die Zusammenführung der beiden Epochen im Ausdruck „Shōwa-Genroku“ betitelt die späten 1960er Jahre, die Blütezeit nach 1945, die durch die Hochwachstumsphase und den einsetzenden bürgerlichen Wohlstand gekennzeichnet ist (vgl. Harada 1991, Bd. 14). 2 Die erwähnten Literaten Chikamatsu Monzaemon 近松門左衛門 (1653–1724), Ihara Saikaku 井原西鶴 (1642–1693) und Matsuo Bashō 芭蕉松雄 (1644–1694) gehören zu den bedeutendsten japanischen Schriftstellern der Vormoderne und begründen den Ruf der Genroku-Zeit als kultureller Blütezeit.
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Übersetzung von Bunka bōeiron
Irgendetwas ist unterbrochen worden. Es ertönen keine vollen Klangfarben, weil es eine Zeit gab, in der irgendwo eine Saite durchtrennt wurde. Einhergehend mit der Austrocknung der Kreativität ist eine Art von Kulturalismus zu einem formgebenden, wichtigen Faktor der öffentlichen Meinung geworden. Ein eben solcher Kulturalismus herrscht nun in der Welt vor. Wie einer klebrigen Hand haftet er der Rückseite jedes kulturellen Ereignisses an. Kulturalismus ist, kurz gesagt, die Tendenz, Kultur vom Leben des blutbefleckten Mutterleibes und vom Zeugungsakt abzutrennen und sie anhand des auf seine Art erfreulichen, menschlichen Erfolges zu beurteilen. So ist Kultur etwas Harmloses, Schönes, ein Gemeingut der Menschheit, ein schöner Springbrunnen auf dem Marktplatz. Jegliche Kunst drückt die sich ins Fragmentarische ändernde Menschheit so aus, wie sie ist, aber auch wenn Kunst düstere Gegenstände behandelt, wird sie selbst durch diese Fragmentierung nie düster, sondern sie wird unweigerlich zum Springbrunnen des Marktplatzes. Das Elend der gesamten Menschheit wird nicht durch die Addition der Fragmente verifiziert. Wir betrachten uns nur als Fragment und beruhigen uns selbst. Weil auch das Elend, welches Elend auch immer, den Bereich des Fragments nicht verlässt, liegt eine Flucht zwar außerhalb unserer Fähigkeiten, aber immerhin existiert sie, da es eine Übereinstimmung zwischen dem Berauschen an unserem Unvermögen und dem Berauschen an unserer Flucht gibt.3 Auf die Frage, was die japanische Kultur sei, wurde nach Kriegsende von Bürokraten für auswärtige Angelegenheiten und von Bürokraten für Kultur eine wahrlich präzise Antwort gegeben, nämlich, dass infolge der Okkupationspolitik die ewigen Kettenglieder von Chrysantheme und Schwert4 voneinander getrennt worden seien. Die sanfte Kultur von Ikebana und sadō5 der friedliebenden Bürger sowie ihre architektonische Kultur, die nicht bedrohlich ist, die es sich aber erlaubt, kühne Zeichnungen zu erstellen, repräsentiere die japanische Kultur. Folgende politische Maßnahmen wurden zur Eindämmung der Kultur ergriffen: Die Quelle des kulturellen Lebens und deren Kontinuität wurden durch verschiedene Gesetze 3 4
5
Im Original bildet dieser Satz einen eigenen Absatz, obwohl er semantisch an den ihm vorausgehenden angebunden ist, da er Begründungen für die darin getätigte Aussage liefert. Hier wird auf das 1946 von Ruth Benedict (1887–1948) verfasste Werk The Chrysanthemum and the Sword angespielt, welches den Untertitel Patterns of Japanese Culture trägt. Die amerikanische Kulturanthropologin war während des Krieges damit betraut worden, ein Werk zu verfassen, welches den Amerikanern das Wesen des japanischen Feindes näherbringen sollte (vgl. Benedict 2006 [1946]: 11–25). Sadō 茶道 (auch chadō) ist die Bezeichnung für den japanischen Teeweg, die formalisierte Teezeremonie, welche sich seit der Ashikaga-Zeit (1338–1573) in Japan etablierte. Der Begriff des ‚Weges‘ (michi, dō 道), welcher im Text mehrfach eine Rolle spielt, war in der Heian-Zeit (794–1185) als Ausdruck der Kunstfertigkeit und des Geschicks in einzelnen Professionen gebräuchlich. Durch die Einflüsse des Tendai-Buddhismus ab dem 13. Jahrhundert kam es unter Dōgen 道元 (1200–1253) zu einer Gleichsetzung des ‚Weges‘ mit dem buddhistischen Erleuchtungsbegriff. Ab Ende des 13. Jahrhundert wurde der angeblich universelle Charakter aller ‚Wege‘ betont. Von diesem Begriff ausgehend argumentieren dann die ästhetischen und kunsttheoretischen Schriften ab dem 14. Jahrhundert (vgl. Vollmer 1995: 116–120). Eine englischsprachige Einführung zu dieser Thematik findet sich bei Carter 2008.
Zur Verteidigung unserer Kultur
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und politische Maßnahmen hinter einem Damm isoliert und nur zur Stromerzeugung sowie zur Bewässerung wirksam gemacht und ihre Überschwemmung verhindert. Das heißt, dass die Kettenglieder von Chrysantheme und Schwert durchgeschnitten sind und nur die wirksamen Teile der Kultur bei der Bildung der bürgerlichen Moral Verwendung fanden und die schädlichen Teile unterdrückt wurden. Es ist unmittelbar ersichtlich, dass die zu Beginn der Okkupationspolitik erlassenen politischen Maßnahmen wie das Verbot des Rachedramas im kabuki6 und das Verbot von Schwertkampffilmen äußerst primitiv waren. Mittlerweile ist eine derart primitive Okkupationspolitik verschwunden, die Verbote sind aufgelöst und Kultur wird wertgeschätzt. Eine Periode des Erfolges verschiedener gesellschaftlicher und politischer Reformen hatte eingesetzt, weil man dachte, dass die regressive Tendenz der kulturellen Quelle beendet sei. In dieser Zeit begann der Kulturalismus. Mit anderen Worten: es Kann in Der Kultur nichts schäDliches vorKommen. Der Kulturalismus ist das höchste künstlerische Prinzip des großmütigen Rezipienten, welcher Kultur in erster Linie als Werke und Dinge würdigt. Natürlich kann nicht verhindert werden, dass politische Ideen zum Zeitvertreib am Kulturalismus teilnehmen. Die Kultur wird als Ding sicher verwaltet und friedlich vorangetrieben auf einem Kurs, der sie zum „Kulturgut der Menschheit“ machen soll. Die Erfolge des Kulturalismus sind, wie oben erwähnt, ungemein armselig, aber der Kulturalismus ist noch immer selbstzufrieden und wurde, begleitet vom Fortschritt der Massengesellschaft, zu deren größtem Aushängeschild. Dies war allerdings das eigentlich angestrebte Ergebnis des Bildungsprinzips der Taishō-Zeit.7 Gegenüber dem Ausland ist die japanische Kultur zu einem Ablassbrief Japans geworden, im Inland ist sie mit der friedlichen Wertschätzung der Wohlfahrt verbunden. Der Gedanke, dass die Wertschätzung der Wohlfahrt voreilig mit Kultur zusammengeschlossen ist, ist zur Grundlage des Prinzips der scheinbaren Achtung der Kultur geworden und auf den Humanismus der Masse zurückzuführen. Wenn wir davon sprechen „Kultur zu schützen“, bilden wir uns zwei Dinge ein, nämlich dass es sich dabei um tote Kultur aus Museen oder um die tote Existenz von Frieden im ganzen Land handle. Werden diese beiden Annahmen verschmolzen, entsteht eine sichere Verbindung. Diese Verbindung quält uns, aber die Wertschätzung gegenüber der Kultur als Ding, als Kulturgut, als kulturelles Erbe steht in demokratischen oder sozialistischen Ländern (abgesehen von der extremen Ausnahme der KP in China) nicht zur Debatte. Letztes Jahr verkündete die Sozialistische Partei8 folgende, nach der Regierungsübernahme zu ergreifende kulturpolitische Maßnahmen: 6 7 8
Kabuki 歌舞伎 ist eine japanische Theaterform, in der seit dem 17. Jahrhundert vorrangig der bürgerlichen Kultur entnommene Themen verarbeitet werden (vgl. Noma 1996: 90–107). Die Regierungsdevise des Kaisers Yoshihito (1912–1926), taishō 大正, bedeutet „großer Glanz“. Es handelt sich hierbei um die Sozialistische Partei Japans, Nihon Shakaitō 日本社会党 (SPJ), die nach dem Zusammenschluss der rechten und linken Parteiflügel innerhalb des 1955er Systems Japan die größte Oppositionspartei war und mit der Kommunistischen Partei Japans (Nihon Kyōsantō 日本 共産党) das progressive Lager bildeten. Seit 1996 nennt sich die Partei Sozialdemokratische Partei, Shakai Minshutō 民主社会党 (SDPJ) (vgl. Köllner 2006).
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3. Die Erschaffung einer bürgerlichen Kultur a) Arbeiter erschaffen Kultur
Ziel der Kulturpolitik der Regierung der sozialistischen Partei ist zu erreichen, dass die arbeitenden Bürger Kultur begreifen, sich zu eigen machen und sich daran freuen, indem sie selbst zu den Subjekten werden, die Kultur hervorbringen. Die Regierung der sozialistischen Partei will revidieren, dass fachspezifisch kultivierte Menschen Kultur machen und die Masse diesem Wesen der Kultur nur passiv zuschaut und zuhört. Stattdessen will sie, dass Kultur gemeinsam von kultivierten Menschen und arbeitenden Bürgern entfaltet wird. Während Arbeiter und Bauern sich an ihren Arbeitsplätzen und auf den Feldern betätigen, schaffen sie, ihrem persönlichen Geschmack entsprechend Musik, Schauspielkunst, Romane und Lyrik und die vortrefflichen Werke werden gesamtgesellschaftlich geschätzt und verbreitet. Die arbeitenden Bürger, die kulturelle Fähigkeiten besitzen, werden schnell als kultivierte Menschen ihres Fachgebiets auserlesen werden. Radio, Fernsehen und Zeitungen werden die Bühne sein, auf der die von den arbeitenden Bürgern geschaffene Kultur vorgestellt und verbreitet wird. Staatliche und öffentliche Schauspielhäuser, öffentliche Stadthallen, Kulturclubhäuser für die Jugend und Frauen sowie viele öffentliche Parks oder prachtvolle Gebäude für Jugendliche werden erbaut, welche vom Kreis der Arbeiter frei genutzt werden können.
b) Die Entwicklung einer Volkskultur
Die Regierung der Sozialistischen Partei will die kulturellen Künste des japanischen Volkes, die von den Vorfahren geerbt wurden, wertschätzen, erhalten und sich fördern. Selbstverständlich werden beispielsweise nō, kabuki oder bunraku9 sowie Volkslieder, regionale und andere Tänze, regionale Kunst und die Herstellung von Volkskunst geschätzt, gestaltlose Kulturgüter werden begünstigt sowie die Ausbildung der Nachfolger unterstützt. WährenD Die äussere Form Der traDitionellen Kulturellen Künste BeWahrt WirD, WirD ihnen neues leBen unD neuer inhalt gegeBen unD Dieser entFaltet. Die alten Hauptstädte wie beispielsweise Nara, Kyōto oder Kamakura werden bewahrt, des Weiteren wird auf die Konservierung und die öffentliche Zugänglichkeit von materiellen Kulturgütern wie Kunsthandwerksartikeln, Malerei, Bildhauerei oder Bauten sowie von Volkskapital oder Denkmälern (berühmte Orte, historische Stätten, Naturdenkmäler) geachtet. Ferner wird einem Ausströmen von japanischem Kulturgut nach Übersee vorgebeugt und die staatlichen und öffentlichen Galerien und Museen werden angereichert. Andererseits wird gleichzeitig zum oben erwähnten Schutz und zur Achtung der Volkskultur aktiv der Austausch mit ausländischen kulturellen Künsten vorangetrieben. (Publiziert am 5. November 1967,10 Redaktion der Abteilung für Erziehung und Werbung und des Beratungsausschusses für politische Maßnahmen, Hauptverwaltung der Sozialistischen Partei Japans; Lehrtext Nr. 7 ‚Erwartungen an Morgen‘, zitiert aus dem 10. Kapitel „Neue Menschen und neue Kultur“. Hervorhebungen durch den Verfasser.)
9 10
Neben kabuki gehören nō 能 und bunraku 文楽 zu den traditionellen Theaterformen Japans, die noch heute gespielt werden (vgl. Noma 1996: 19–57, 58–89). Die Nennung des Datums erfolgt durchgehend in der in Japan üblichen Form, also durch die Anführung des Regierungsjahres eines Kaisers. Um den Lesefluss nicht unnötig zu unterbrechen, wurden die Angaben für die Übersetzung transponiert.
Zur Verteidigung unserer Kultur
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Schon beim einmaligen Durchlesen versteht man, dass die Unterscheidung in a) und b) wahrlich das Wesen kulturpolitischer Maßnahmen sozialistischen Prinzips entfaltet und die beiden Seiten des Kulturalismus aufzeigt. Mit anderen Worten hat a) die Bedeutung, dass „Kultur, die verändert werden kann, verändert wird“ und b) „Kultur, die nicht verändert werden muss, nicht verändert wird“, aber bei b), deutlich durch die Betonung an dieser Stelle, werden die äußere Form und der Inhalt der Kultur als voneinander abtrennbare Dinge verstanden. Da die äußere Form selbst harmlos ist, kann nützlicher Inhalt zur Form hinzugefügt werden und die logische Begründung, durch welche im Extremfall die Reform der Peking-Oper durch Jiang Qing11 möglich wurde, ist ersichtlich. Aber hinsichtlich des lediglich als Ding zurückgelassenen, sicheren Kulturgutes sind weder nō, noch kabuki oder die sonstige traditionelle japanische Kultur im Allgemeinen schädlich, so wie auch das Leningrad Ballett12 für die Sowjetunion nicht schädlich ist. Das Kulturgut ist viel eher eine nützliche Touristenattraktion; einem kabuki-Schauspieler, der Mitglied der Akademie der Künste ist, wird so beispielsweise sofort der Titel eines Volkskünstlers gegeben. Kultur der Art wie in a) beschrieben ist Gegenstand einer neuartigen Ausbildung und Förderung, deren beharrliche Umsetzung im Rahmen politischer Maßnahmen selbstverständlich ist. In diesen kulturpolitischen Maßnahmen enthalten ist die Erkenntnis, dass die von Amateuren geschaffene Kultur im Vergleich zu der von Professionellen geschaffenen Kultur weitaus leichter zu kontrollieren sei. Wenn ein sozialistischer Staat das Monopol auf die Veröffentlichungsmaschinerie hat, ist es ein Leichtes, ohne die Kontrolle der Meinungsfreiheit vorsätzlich zu erzwingen, bei gewöhnlichen Amateuren an die Begierde nach Veröffentlichung und die Ruhmsucht zu appellieren und dadurch den Inhalt der Kultur zu kontrollieren. Aber selbstredend wird die vom Sozialismus streng verwaltete und unerbittlich bewachte Kultur in Wirklichkeit weiterhin erschaffen. Die Geschichte hat bewiesen, dass sie diesbezüglich keinerlei Rücksicht kennt. Es hat den Anschein, als erkenne die sowjetische Revolutionsregierung Dostojewski nach über 50 Jahren noch immer nicht an und entgegen des herrlichen Hörensagens der Liberalisierung schreitet die Unterdrückung erneut voran: Es gibt Gerüchte über die milde Haft für Jewtuschenko13, drei Schriftsteller 11
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Jiang Qing (1914–1991), die Ehefrau Mao Zedongs, reformierte während der chinesischen Kulturrevolution (1966–1976) die Peking-Oper, die sich ihrer Ansicht nach weniger mit bourgeoisen Themen als vielmehr mit den Arbeitern und Bauern beschäftigen sollte. Das einstige Repertoire von über 1300 Stücken wurde nach und nach auf einen Kanon bestehend aus acht Gegenwartsstücken beschränkt. Diese waren nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Radio und Fernsehen zu sehen und hören (vgl. Kascha 2005: 58; Chiang 1968: 8–12). Das Leningrad-Ballett war eine Kooperation zwischen dem Balletttheater Leningrad und dem Ballett M. S. Kirov, welches in den Jahren 1967–1968 Vorstellungen gab und sich als Bewahrer der russischen Tradition und klassischen russischen Choreografie sah (vgl. Čistjakova 1967: 282f.). Jewgeni Jewtuschenko (*1932) ist ein russischer Schriftsteller und Lyriker. Insbesondere in den 1960er Jahren sah er sich heftiger Kritik aus dem sowjetischen Kulturbetrieb sowie Repressionen ausgesetzt (vgl. Wilpert 1975²: 475f.).
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(Wladimir Bukowskij, Efgenij Kušev und Wladimir Delaunay14) wurden an Gerichte übergeben, und in Polen wurde dem russland- und zarkritischen Stück Totenfeier15 aufgrund der Kritik an der Sowjetunion Aufführungsverbot erteilt und Studentenunruhen wurden ausgelöst. Der zulässige Vorwand, dass jedwede politische Kontrolle eine Schwächung der Kultur verhindere, ist ein in der Kultur selbst enthaltener Widerspruch, der ewige Widerspruch zwischen Kultur und Freiheit. Eine Diagnose bezüglich der Schwächung der gegenwärtigen japanischen Kultur ist problematisch, aber es wird wohl eine unerschöpfliche Debatte darüber ausgefochten werden, ob man diese Schwächung durch ein Wiederaufleben der Kontinuität der Kultur oder durch einen aktiven Abbruch (eine Revolution) der Kultur heilt. Allerdings scheint es, dass der Kulturalismus der sogenannten freien ideologischen Staaten und die Achtung der sicheren Kulturgüter im sozialistischen Staat beide auf den ersten Blick den Eindruck machten, die Traditionen zu verteidigen und zu erhalten, und daher die Teile sind, welche am besten zusammenarbeiten. Kultur wird von jedem Standpunkt aus als ein geformtes Ding betrachtet. Wie es zu diesem Ergebnis kommt, ist gut an den Handlungen Pétains sichtbar, der Paris, welches architektonisch seit dem Mittelalter in voller Blüte stand, in die Hand des Feindes gegeben hat, um es von seiner Zerstörung zu verschonen. Weil Paris nicht nur die Kultur Frankreichs, sondern das kulturelle Erbe der ganzen Menschheit ist, gab es eine Einigung zwischen Freund und Feind, um es vor seiner Zerstörung zu beschützen und angesichts der politischen Lage unterwarf sich die eine Seite der anderen Seite. Die Entschädigung für den Verlust des nationalen Geistes war der Erhalt von Paris. Das brachte zweifellos einen moralischen Verfall des nationalen Geistes, eine unsichtbare Zerstörung mit sich, die, verglichen mit der sichtbaren Zerstörung, weitaus verzeihlicher ist!
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Der russische Dissident Wladimir Bukovskij (*1942), Oppositionskandidat für das Amt des russischen Präsidenten bei den Wahlen 2008, wurde für die Organisation einer Protestdemonstration 1967 gemeinsam mit Efgenij Kušev (1947–1995) und Vadim Delaunay (oder Delone 1947–1983) verurteilt. Auch wenn die vom Autor verwendete Lautschrift im Falle Delaunays auf den Vornamen Wladimir schließen lässt, so ist davon auszugehen, dass der russische Dichter und Dissident Vadim Delaunay gemeint ist, welcher zum Kreis der Verurteilten gehörte (vgl. Paxton 1993: 68; Hübner 1971: 771; De Boer 1982: 103). Der polnische Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) schuf den Dramenzyklus Dziady (deutsche Übersetzungen liegen unter den Titeln Die Ahnenfeier bzw. Totenfeier vor). Darin werden unter anderem die polnische Teilung und die Gewaltherrschaft Russlands in Polen thematisiert (vgl. Jens 1990, Band 11: 649f.; Hagenau 1999: 31–83). Im Winter 1967/68 inszenierte Kazimierez Dejmek die Dziady am polnischen Nationaltheater in Warschau. Während das Publikum begeistert war, sah die polnische Regierung einige russlandkritische Szenen in einem falschen Kontext dargestellt und setzte das Stück ab. Bei der letzten erlaubten Aufführung drängten Schüler und Studenten, die keine Karten mehr erhalten hatten, in das Theater. Neben Ovationen und Beifallsstürmen bei anti-russischen Szenen kam es immer wieder zu Sprechchören gegen die Zensur. Im Anschluss an die Aufführung setzten sich die Demonstrationen auf den Straßen Warschaus fort (vgl. Hagenau 1999: 136–150).
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Ein solcher Kulturalismus führt, wenn man ihn umwendet, zu einem „umgekehrten Kulturalismus“, einem „Kulturalismus, der die Innenseite nach Außen kehrt“, der all die sichtbare Kultur zerstört, um, wie bei der chinesischen Kulturrevolution, einen unsichtbaren revolutionären Geist zu formen. Der Kulturalismus und die Umkehrung des Kulturalismus sind beinahe wie die Vorder- und Rückseite einer Medaille. Als ich mich in einer Fernsehsendung mit sehr jungen Menschen unterhielt, hörte ich einen von ihnen seine Meinung zum entmilitarisierten Frieden äußern, die mein Interesse weckte: Er sagte, Japan solle den entmilitarisierten Frieden verfolgen und keinerlei Widerstand gegen eine Invasion des feindlichen Auslands leisten und auch ein so entstehender Massenmord sei akzeptabel, wenn dadurch das Ideal der Friedensverfassung in der Weltgeschichte neu belebt werde. Diese Meinung steht mit der des ehrenhaften Heldentodes des gesamten japanischen Volkes16 in der Kriegszeit in unmittelbarer Verbindung. Der Idee des ehrenhaften Heldentodes des gesamten japanischen Volkes zufolge dürfen, um die unsichtbare Kultur, die Seele eines Landes und die geistige Wertschätzung zu schützen, die Träger dieser selbst zugrunde gehen und des Weiteren die sichtbare Kultur völlig zerstört werden. Die Ereignisse der Kriegszeit wurden sozusagen wie ein Positiv und ein Negativ in die Ideen der Nachkriegszeit überliefert. Ein solch umgekehrter Kulturalismus ist, wie schon gesagt, die Rückseite des Kulturalismus der Nachkriegszeit, was wechselseitig jenes Paradox bestätigt, welches Kultur genannt wird.
Die nationalen Charakteristika der japanischen Kultur Im Grunde genommen ist die abstrakte Idee einer Weltkultur und einer Kultur der Menschheit recht fragwürdig. Besonders in einem Land wie Japan, welches über charakteristische Merkmale im Nationalcharakter, der Geschichte, der geographischen Lage und dem Klima verfügt, ist es wichtig, die nationalen Eigenheiten der Kultur zu begreifen. Erstens ist Kultur, auch wenn sie als Ergebnis ein Ding ist, für ihren derart lebendigen Zustand kein Ding und zudem auch kein formloser nationaler Geist, der sich noch nicht offenbart, sondern sie ist vielmehr eine Form17: ein auf eine Art durchsichtiger, kristalliner Körper, der den nationalen Geist durchscheinen lässt. Denn auch wenn die Kultur eine etwas getrübte Form annimmt, wird ihr Transparenzgrad als so durchsichtig gedacht, dass in der „Form“ ihre Seele durchscheint. Deshalb umfasst die Kultur nicht nur sogenannte 16
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Der Begriff „Ehrentod der 100 Millionen“, ichioku gyokusai 一億玉砕, entstammt der Propaganda des Pazifischen Krieges. Vor der erwarteten Endschlacht auf den japanischen Hauptinseln wurden die Japaner dazu aufgefordert, lieber ehrenvoll für ihr Land zu sterben, als sich gefangen nehmen zu lassen (vgl. Harada 1991, Bd. 7: 95, 109). An dieser Stelle wird im Text zuerst das Zeichen katachi 形 angeführt, welches gemeinhin mit „Form“ übersetzt wird, aber auch „Gestalt“ oder „Figur“ bedeuten kann. In Klammern findet sich unmittelbar dahinter in japanischer Lautschrift die Bezeichnung forumu フォルム, was in diesem Fall sowohl auf den englischen als auch den deutschen Begriff „Form“ verweist, wodurch darauf geschlossen werden kann, dass katachi hier als Form zu verstehen ist.
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Kunstwerke, sondern auch Handlungen und Handlungsmuster. Kultur umfasst von der Aufführungsform des nō-Theaters über die in Neuguinea in Mondnächten auf der Meeresoberfläche auftauchenden, menschlichen Torpedos auch die Handlungen von Marineoffizieren, die, japanische Schwerter schwingend, tänzelnd auf dem Schlachtfeld gestorben sind, und darüber hinaus subsumiert sie auch die vielen Testamente der tokkōtai18. Vom Genji-Monogatari19 bis zum heutigen Roman, vom Man’yōshū20 bis zu den tanka der Avantgarde21, von den Buddha-Statuen des Chūsonji-Tempels22 bis zu den Skulpturen der Gegenwart, von Ikebana und sadō bis Kendo und Judo23, darüber hinaus von kabuki bis zu den Yakuza-Schwertkampffilmen24, von Zen bis zu den Vorschriften der Armee; die Kultur weist auf eine transparente, sichtbare Form hin, die beide Seiten von Chrysantheme und Schwert völlig subsumiert und Japanisches durchscheinen lässt. Durch die Verwendung der japanischen Sprache ist die Literatur ein wichtiger, gestaltender Teil der japanischen Kultur als Form.
Tokkōtai 特攻隊 bedeutet wörtlich „Sonderangriffseinheit“ und ist der Überbegriff für alle Arten der Kampfführung, bei denen die Soldaten in den sicheren Tod gehen. Die bekannteste Einheit waren die Kamikaze-Piloten, es gab aber etwa auch menschliche Torpedos, ningen gyorai 人間魚雷 (vgl. Hill 2004: 7). In Neuguinea gab es gegen Ende des Krieges keine Marine mehr, sondern nur noch verstreute Einheiten des Heeres (vgl. Hastings 2008: 343), der inhaltliche Fehler ist jedoch zu vernachlässigen, da es Mishima an dieser Stelle um die Aufzählung verschiedener Handlungsweisen geht, die alle Teil der japanischen Kultur sind. 19 Monogatari 物語, „erzählende Literatur“ bezeichnet die japanische Prosa-Literatur des 9.–15. Jahrhunderts und grenzt diese damit von den Gedichten, waka 和歌, und den Essays, zuihitsu 随筆, ab. Das ca. 1000 n. Chr. verfasste Genji-Monogatari 源氏物語, welches wahrscheinlich aus der Feder der Hofdame Murasaki Shikibu 紫式部 stammt, schildert das Leben japanischer Adliger am Kaiserhof. Das Werk gilt als erster psychologischer Roman der Literaturgeschichte und hat immer wieder eine wichtige Rolle bei der Inszenierung der nationalen japanischen Identität und der Positionierung Japans gespielt (vgl. Suzuki 2008). 20 Das Man’yōshū 万葉集, die „Zehntausend-Blätter-Sammlung“, ist eine Gedichtanthologie aus dem 8. Jahrhundert. 21 Mit dem Begriff Avantgarde-tanka bezeichneten die Medien in Ermangelung eines besseren Ausdrucks junge Dichter in den 1950er Jahren, die einem neuen Modernismus zugerechnet wurden. Ihre Kunst war weniger lyrisch, dafür sozialkritischer, intellektueller und ironischer. Eine Anthologie moderner, ins Englische übersetzter tanka sowie eine Einführung findet sich bei Ueda 1996. 22 Die im Jahr 1124 erbaute Goldene Halle des Chūson-ji 中尊寺 in Hiraizumi gehört zu den erklärten japanischen Nationalschätzen. Im anlässlich der Weihungszeremonie von 1126 verfassten Dokument ist festgehalten, dass der Tempel gebaut wurde, um neben Frieden und Wohlstand für Japan gleichfalls darum zu bitten, dass die Seelen der Gefallenen aus zwei vorangegangenen Kriegen ins Reine Land geleitet werden (vgl. Fukuyama 1976 [1964]: 112; Sasaki 1999). 23 Die beiden Kampfsportarten Judo, jūdō 柔道, und Kendo, kendō 剣道 (fechten mit dem Bambusschwert), gehören wie auch der Teeweg oder Ikebana zu den japanischen ‚Wegen‘. 24 Die Yakuza-Schwertkampffilme チャンバラ映画 ― der Held kämpfte darin immer mit einem Schwert, nie mit einer Feuerwaffe ― erlebten ihre Blütezeit in den 1960er Jahren. Eine kurze Einführung findet sich bei Schilling 2003: 19–40 sowie bei Shiba 1998, insbes. 11–28. 18
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Es wäre nicht angemessen, aus der japanischen Kultur lediglich einen solch statischen Zustand zu extrahieren und ihre Dynamik zu ignorieren. Die japanische Kultur hat die eigentümliche Tradition, ein Verhaltensmuster als solches in ein Kunstwerk zu verwandeln. Ein japanisches Charakteristikum ist, dass Budō25 und andere Kampfkünste sowie sadō und Ikebana demselben Genre von Kunstwerken angehören, deren Gestalt innerhalb kurzer Zeit entsteht, andauert und vergeht. Bushidō26 ist eine solche Verschönerung der Ethik oder ein System der Ethik der Schönheit, eben eine solche Übereinstimmung von Leben und Kunst. Die Bedeutung der vorgegebenen Ausführungsform der Bühnenkunst entstammt dem nō und kabuki und bietet von Anfang an einen Ansatz für die Überlieferung, wobei dieser Ansatz selbst die Form ist, welche das freie, schaffende Subjekt anregt. Dass die Form eine andere Form hervorruft und diese Form ununterbrochen Freiheit erzeugt, ist ein Charakteristikum der japanischen Bühnenkunst. Auch hinsichtlich des modernen Romans, der auf den ersten Blick wie das freieste Genre erscheint, wurden seit dem Naturalismus unbewusst ein Mehrfaches an Bemühungen um die Gestaltung einer Romanform geleistet als Bemühungen um die Gestaltung von Ideen. Zweitens gibt es in der japanischen Kultur ursprünglich keine Unterscheidung zwischen Original und Kopie. Im Westen ist die Kultur als Ding hauptsächlich aus Stein gemacht, in Japan hingegen aus Holz. Die Vernichtung des Originals bedeutet die endgültige, nicht wiederzubelebende Vernichtung, die Kultur stirbt als Ding aus, weswegen Paris, um seine Zerstörung zu vermeiden, wie schon erwähnt, an den Feind abgetreten wurde. Aber bevor die Kultur als Ding durch den modernen Kulturalismus aktiv aufbewahrt wurde, wurde sie, sowohl im Westen als auch in Japan, völlig willkürlich behandelt. Denkt man an die Kriege und Feuerbrünste der Vergangenheit, so ist die gegenwärtige Kultur als Ding nichts anderes als nur ein Zufall, man kann nicht sagen, dass durch die Geschichte nur auserlesene, gute Qualität hinterlassen worden wäre. Die besten Stücke des griechischen Bildhauers Praxiteles27 schlafen wahrscheinlich noch heute auf dem Grund des Mittelmeers. Das Schicksal, welches die bildenden Künste Japans, die auf der Kultur von Holz und Papier beruhen, in der Vergangenheit erfahren haben, ist verglichen damit noch 25
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Budō 武道 wird vor allem in westlichsprachigen Publikationen häufig als Oberbegriff für die japanischen Kampfkünste verwendet, wobei die Betonung dabei auf der inneren Einstellung sowie der spirituellen Beschäftigung mit der Kunst, dem ‚Weg‘ 道, liegt (vgl. Lind 1992: 109ff.). Im gängigsten einsprachigen Wörterbuch sind budō und bushidō gleichgesetzt (vgl. Shinmura 1998: 2350), was dem Sprachgebrauch der Edo-Zeit (1604–1867) entspricht (vgl. Huffman 1998: 23). Im Westen sind die bushi 武士 besser als Samurai bekannt; bushidō 武士道, der „Weg der Samurai“ bezeichnet die Kodizes der Samurai in feudalen Abhängigkeitsverhältnissen. Der bushidō-Begriff wurde ab Ende des 19. Jahrhundert idealisiert – entscheidend dazu beigetragen hat die auf Englisch verfasste Schrift Bushidō. The Soul of Japan von Nitobe Inazō aus dem Jahr 1899 – und in den 1930er und 40er Jahren für Kriegszwecke instrumentalisiert, so dass diesem ein „pseudo-religiöse[r], theatralische[r] und fiktive[r] Charakter“ (Bierwirth 2005: 12) bescheinigt wurde. Der Grieche Praxiteles (ca. 390–320) gilt als einer der bedeutendsten Bildhauer der griechischen Spätklassik. Er schuf u. a. die erste großplastische Darstellung einer Nackten, die Aphrodite von Knidos (vgl. Nesselrath 1997: 623f.).
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extremer. Die im Ōnin-Krieg28 verlorengegangenen Kulturgüter sind unzählbar und die nicht durch Feuer zerstörten Tempel und Schreine Kyōtos sind zweifellos ein seltener Glücksfall. Dass vergleichsweise schwach auf Kultur als Ding beharrt wird und dass die Übertragung der äußeren Form der Kultur auf Handlungsmuster mit vergänglichem Wesen charakteristisch ist, liegt wahrscheinlich in jenem Verhältnis zum Material begründet. In der japanischen Kultur ist der Verfall des Originals kein absoluter Verfall und es gibt kein Gefälle innerhalb der entscheidenden Wertschätzung zwischen Original und Kopie. Das kann man am deutlichsten an der Errichtung des Ise-Schreins29 sehen. Der seit Kaiserin Jitō30 59 Mal – alle zwanzig Jahre – zeremoniell erneut errichtete Ise-Schrein ist immer das Original. Das alte Original übergibt zu diesem Zeitpunkt der Kopie sein Leben, stirbt damit aus und die Kopie selbst wird zum Original. Verglichen mit dem Nachteil, dass ein großer Teil der Bildhauerei der griechischen Klassik nur durch Kopien aus der römischen Zeit rezipiert werden kann, wird die Einzigartigkeit des kulturellen Konzepts der zeremoniellen Errichtung des Ise-Schreins deutlich. Das Gesetz des honkadori in der Kunst der waka-Dichtung31 beispielsweise ist als fundamentales kulturelles Konzept dieser Art noch heute tief in unseren Herzen verankert. Die Eigenschaften eines solchen kulturellen Konzeptes entsprechen den Charakteristika des Kaisersystems, in dem jede Kaisergeneration genau der Kaiser in Person ist und es zwischen Amaterasu-Ōmikami32 als Original und ihnen als Kopie keine solche Beziehung gibt, was ich später ausführen werde.
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Auslöser für den Ōnin-Krieg 応仁の乱 (1467–1477), bei dem die damalige Hauptstadt Kyōto fast völlig zerstört wurde, war ein Nachfolgestreit um das Amt des Shōguns. Der Ōnin-Krieg markiert einen Wendepunkt in der japanischen Geschichte, er kennzeichnet sowohl das Ende des Ashikaga-Shogunats, als auch die Beseitigung der kaiserlichen Zentralregierung zugunsten eines feudalistischen Herrschaftssystems. Das Land zerfiel in autonome, von Lokalherrschern, daimyō 大名, regierte Territorien, was eine grundlegende Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung nach sich zog (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 1: 985–988). 29 Der Schrein von Ise, Ise-jingu 伊勢神宮, ist die wichtigste shintoistische Kultstätte Japans, an der die Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami 天照大神 verehrt und die Reichsinsignien aufbewahrt werden. Alle 20 Jahre erfolgt ein ritueller Neubau des aus Zypressen errichteten Komplexes (vgl. Inoue 19947: 604). 30 Kaiserin Jitō 持統 (645–702) regierte der japanischen Genealogie nach von 690–697 als 41. Herrscherin (vgl. Hammitzsch 1990³: 1809f.). 31 Der in der Heian-Zeit (794–1185) eingeführte Terminus waka 和歌 bedeutet „japanisches Gedicht“ und grenzte die japanische Dichtung von der chinesischen ab. Während einst verschiedene Stilrichtungen unter der Bezeichnung waka subsumiert waren, denkt man heute bei diesem Ausdruck vor allem an das klassische 31-silbige tanka 短歌. Honkadori 本歌取り ist eine Technik innerhalb der waka-Dichtung, bei der durch Adaption eines bekannten Gedichtes ein neues geschaffen wird (vgl. LaCure 1997: 1f.; Kubota 2007: 320f.; 373f.). 32 Die Sonnengöttin Amaterasu Ōmikami ist die höchste shintoistische Gottheit, die ihren Enkel mit der Herrschaft über die Erde betraute. Das japanische Kaiserhaus beruft sich auf diesen Mythos und erachtet den jeweiligen Kaiser als direkt von der Göttin abstammend, wodurch bis 1945 dessen Herrschaftsanspruch legitimiert wurde (vgl. Naumann 1996: 147).
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Drittens ist die so hergestellte japanische Kultur, von Seiten des herstellenden Subjektes gesprochen, ein freies, kreatives Subjekt, und die Überlieferung der vorgegebenen Aufführungsform selbst fördert die Tätigkeit des ursprünglich kreativen Subjekts. Dabei handelt es sich um die Grundlage eines kulturellen Konzeptes, worin nicht nur das Kunstwerk, sondern auch Handlungen und Leben eingeschlossen sind. Wenn man dieses kulturelle Konzept irgendwo vom Ursprung der bürgerlichen33, freien, kreativen Subjekte abtrennt, ist eine kulturelle Austrocknung selbstverständlich und das Wesen der kontinuierlich existierenden Kultur (und deren vollständige Anerkennung) widerspricht dem Konzept einer bis zum Gipfel dialektisch voranschreitenden Entwicklung. Der Grund dafür ist, dass diese kreativen Subjekte die Beschränkungen der geschichtlichen Bedingungen überwinden, sich gelegentlich selbst verstecken, gelegentlich ausbrechen (es ist keine Kulturgeschichte der Aufzählung zufällig übrig gebliebener Werke) und eine konsequent einheitliche Kulturgeschichte des nationalen Geistes formen.
Drei Eigenschaften der nationalen Kultur Fasst man oben Stehendes zusammen, so hat die nationale japanische Kultur für Japaner die folgenden drei Eigenschaften: Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität; wobei denkbar ist, dass auch die französische Kultur für Franzosen dieselbe Art von Eigenschaften besitzt. Die von den wahren Griechen verlassenen Ruinen in Griechenland sind für die Griechen ein Ding der vollendeten Schönheit, von dem aus man nicht auf das eigene Subjekt reflektiert; die kontinuierliche Existenz der Kultur ausgehend von den griechischen Ruinen fühlen zu können, ist viel eher zu einem Privileg der Europäer geworden. Die japanische Kultur für Japaner hingegen übertrifft ihre eigene ästhetische Bewertung als Ding und löst Reflexivität und Kontinuität aus – so reflektiert sich das Genji-Monogatari beliebig oft auf uns als Subjekt der Gegenwart, lässt seine Reflexivität bestätigen und wird zum Mutterleib neuen schöpferischen Handelns. Genau das ist es, was die Menschen Tradition nennen, weswegen ich große Zweifel an jener Bedeutung von Literaturgeschichtsauffassung habe, innerhalb derer die klassische Literaturgeschichte von der modernen Literaturgeschichte seit der Meiji-Zeit isoliert ist. Die Reflexivität der Kultur ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass Kultur nicht nur ein „sichtbares“ Ding ist, sondern als „Sehende“ ihrerseits zurückblickt. Chrysantheme und Schwert nicht völlig anzuerkennen und über Schönheit nicht moralisch zu urteilen, sondern Moral ästhetisch zu beurteilen und die ganze Kultur anzuerkennen, ist unerlässlich für die Erkenntnis der Ganzheitlichkeit der Kultur und leistet jeglichem Kulturalismus sowie kulturpolitischen Ideen jeglicher politischer Systeme Widerstand. 33
An dieser Stelle wird kokumin 国民 nicht wie bislang in diesem Kapitel mit „national“ übersetzt. Da es sich hier um einen Verweis auf das oben zitierte Parteiprogramm der sozialistischen Partei zu handeln scheint, wird der Ausdruck wie auch im Zitat mit „bürgerlich“ übertragen.
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Die Kultur muss vollständig anerkannt und als solche vollständig erhalten werden. In der Kultur sind Verbesserungen und Fortschritt unmöglich und im Grunde genommen gibt es keine Revision von Kultur. Der blinde Glaube, dass es eine Revision geben könne, beherrschte Japan nach dem Krieg einige Zeit hartnäckig. Des Weiteren tritt Kultur in ihrer äußersten Form nur in der Subjektivität hervor, wie in der erschaffenden, erhaltenden und zerstörenden Hindu-Trinität von Brahman, Vishnu und Shiva34. Dies erinnert an die auf den ersten Blick radikal erscheinende Meinung von Hasuda Zenmei, welche es nochmals genau zu überdenken gilt. Hasuda kritisierte damals in der Kriegszeit Niwa Fumios Werk Kaisen [Seeschlacht] und sagte, dass die Einstellung eines echten Schriftstellers eher sein solle, beim Tragen der Geschosse zu helfen, als Notizen über eine Seeschlacht aufzuzeichnen, während diese in vollem Gange sei. Denn Niwa, der unverzüglich nach dem Krieg den Marine-Enthüllungsroman Shinodake35 schrieb, bewies, dass sein Wesen zu jener Zeit selbst wie eine empfindliche Kamera war, abhängig von einer Objektivität ohne Subjekt. Denn die Subjektivität der Literatur muss sich selbst in der Ausdehnung der Freiheit des Subjekts des kulturellen schöpferischen Handelns für das in eben jenem Moment beste Ergebnis opfern, entweder durch ein Werk oder durch ein Handlungsmuster, denn dafür lässt die japanische Kultur alle kulturellen Möglichkeiten offen. Die Definition des kulturellen Konzeptes regt durch die oben erwähnte Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität unwillkürlich zu Betrachtungen darüber an, was man tun soll, um die Kultur zu verteidigen und was der wirkliche Feind der Kultur ist.
Wovor muss Kultur geschützt werden? Es scheint, dass das kulturelle Konzept der Japaner, dass man durch den Körper Handlungsmuster erlernt und erst dann sein eigenes Original begreift, oder besser gesagt, der Gedanke, dass die Kultur und die Handlung miteinander vereint werden, unter jeglicher politischen Gestaltung größere oder kleinere Risiken mit sich bringt. Ein außerordentliches Beispiel der Beschränkung in politischen Systemen war die Meinungskontrolle in Kriegszeiten, allerdings gibt es bereits seit dem Edo-Shogunat36 unter konfuzianischen Gelehrten die Auffassung, dass das Genji-Monogatari ein obszönes Buch sei. Es waren immer politische Maßnahmen, die die Ganzheitlichkeit und Kontinuität der Kultur irgendwo unterbrechen und beeinflussen sollten. Aber denkt man an die Kultur selbst als eine große Kompilation von Handlungsmustern der Japaner, so wäre es unvernünftig, diese irgendwo abzutrennen und sie von da ab zu verbieten. Bemühungen sollten sich viel eher 34
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Die Hindu-Trinität, trimūrti, setzt sich aus den Göttern Shiva, Vishnu und Brahman zusammen (vgl. Schneider 1989: 148). Verkürzt dargestellt gilt Brahman als Schöpfer, Vishnu als Erhalter und Shiva als Zerstörer der Welt (vgl. Schumann 1996: 38). Der Niwa Fumio zugeschriebene Text Shinodake 篠竹lässt sich trotz umfassender Recherche nicht ausfindig machen. Das Edo-Schogunat, die Zeit, in der die Tokugawa-Familie in Edo regierte, währte von 1604–1867.
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stets auf die Wiederbelebung der Kultur durch die völlige Anerkennung und das Wiederaufblühen ihrer Ganzheitlichkeit und Kontinuität richten, doch gegenwärtig tritt als Ergebnis der Abtrennung des „Schwertes“ von Chrysantheme und Schwert – und auch das ist ein Charakteristikum der japanischen Kultur – eine grenzenlose emotionale Gleichgültigkeit in Erscheinung, während andererseits zu Kriegszeiten, als Ergebnis der Abtrennung der „Chrysantheme“, Schwindel und Heuchelei hervorgerufen wurden. Seitens des Unterdrückten wurde und wird, darin gibt es keine Veränderung zwischen der Kriegszeit und der Gegenwart, stets die Rolle hysterischer Heuchelei gespielt. Mit der Aufrechterhaltung der Kultur als Ding kann man, außer in extremen Beispielen wie der chinesischen Kulturrevolution, ohne große Sorge den Kulturalismus jedes Regierungssystems betrauen. Weil der Kulturalismus jegliche Art von Heuchelei erlaubt, wird innerhalb der Iwanami-Bunko-Reihe37 das Hagakure38 wiederveröffentlicht. Aber um die Freiheit des schaffenden Subjekts und die Kontinuität seiner Existenz zu schützen, muss man eine politische Form wählen. An dieser Stelle beginnt das Problem der Maßnahme, was geschützt wird und wie es geschützt wird. Was ist „schützen“? Kultur kann Kultur nicht schützen und der Plan, Meinungsäußerungen durch Meinungsäußerungen zu schützen, ist entweder ein garantierter Misserfolg, oder nichts weiter als eine bloße, stillschweigende Duldung. „Schützen“ ist immer ein zweischneidiger Grundgedanke. Die Handlung des Schützens ist also zweifellos von Gefahr begleitet, und um das Selbst zu schützen, wird sogar eine Selbstaufgabe unerlässlich. Um den Frieden zu schützen, ist stets eine Bereitschaft zur Gewalt erforderlich, und zwischen einem zu schützenden Gegenstand und einer Handlung zu seinem Schutz existiert ein ewiges Paradox. Man kann sagen, dass der Kulturalismus dieses Paradox umgeht und die Augen vor ihm verschließt. Mit anderen Worten legt der Kulturalismus seinen Schwerpunkt auf Gegenstände, die geschützt werden, und die besonderen Eigenschaften der Gegenstände, die geschützt werden, bestimmen demgemäß die Handlungen zum Schutz und suchen darin einen Grund für die Gesetzmäßigkeit der beiden. Um den Frieden zu beschützen, soll man ihn friedlich schützen, um die Kultur zu beschützen, soll man sie kulturell schützen, und die Redefreiheit zu beschützen ist nichts anderes, als dass man sie durch die Redefreiheit schützt. Nachdem diese Gesetzmäßigkeit entdeckt ist, ist es so, dass das, was man durch die Gewalt schützt, nichts anderes als die Gewalt selbst ist, und es ist eine logische Notwendigkeit, dass man die Wirksamkeit der Gewalt begrifflich begrenzt und schließlich die
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Iwanami-Bunko ist eine Reihe des Iwanami-Verlages, die sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf ihre äußere Gestaltung an die Reclam-Heftchen erinnert (vgl. Mathias 1992: 262). Das 1716 kompilierte Werk Hagakure kikigaki 葉隠聞書 ist ein elf Bände umfassendes Werk mit Weisheiten und Geschichten des ehemaligen Samurai Yamamoto Jōchō 山本常朝, in dem ein Idealbild der Samurai des 12.-16. Jahrhundert entworfen wird. Aufgrund der proklamierten Werte Loyalität, Ehre oder der Bereitschaft zu sterben wird das Hagakure häufig als „Ethik der Samurai“ bezeichnet. Während des Pazifischen Krieges war das Werk insbesondere unter Soldaten weit verbreitet (vgl. Yamamoto 2002, Yamamoto 1968).
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Wirkungslosigkeit von Gewalt behauptet. Wenn Gewalt39 moralisch verneint wird, ist man als Nächstes von der Notwendigkeit getrieben, die Wirkungslosigkeit dieser Gewalt zu beweisen, was in Wahrheit nichts anderes ist als eine Reihe von psychologischen Prozessen, die Furcht erregen. Der Kulturalismus, welcher diesem Kurs folgt, gerät von der Verneinung der Gewalt letztlich zur Verneinung der Staatsgewalt (Enzensberger definiert in Politik und Verbrechen die Staatsgewalt als das Alleinrecht der Gewalt und betrachtet Verbrecher als Konkurrenten, die dieses Alleinrecht bedrohen) und dann bewegen sich „Kultur“ und „Selbstschutz“ innerhalb der gleichen psychologischen Mechanismen. Mit anderen Worten werden Kultur und die humanistische Wertschätzung der Wohlfahrt zu Synonymen. Folglich resultiert aus den psychologischen Mechanismen des grundlegenden Egoismus und der grundlegenden Furcht, welche auf der Innenseite des Kulturalismus verborgen liegen, die hysterische Illusion, die Macht der anderen nicht zu sehen, um die eigene Machtlosigkeit zu schützen. Die unerbittliche Tatsache ist, dass zum Schutz der Kultur die identische Kraft notwendig ist, wie sie zum Schutz aller anderen Dinge notwendig ist, und dass diese Kraft von den Trägern und Schöpfern der Kultur selbst kommen muss. Und gleichzeitig ist der Gedanke, dass die Handlung und die Methode „den Frieden schützen!“ völlig friedlich sein muss, ein gewöhnlicher kulturalistischer, blinder Glaube, eine Art weibliche Logik, die großen Einfluss auf Japan in der Nachkriegszeit hatte. Außerdem stimmt das Wesen der zu beschützenden Gegenstände mit dem gegenwärtigen Zustand dieser Gegenstände nicht immer überein. „Lasst uns den Frieden schützen!“, „Lasst uns das parlamentarische System schützen!“, „Lasst uns das Volk schützen!“: die Darstellung des Gegenstandes wird vom Standpunkt beider Seiten, des Wesens sowie des Zustandes des Gegenstandes nach einem Idealbild der Weltanschauung mit denselben Worten ausgedrückt. So muss auch die Handlung „Lasst uns die Kultur schützen!“ wegen ihres Wesens, dass Freund und Feind existieren, relativiert werden. Aber gleichzeitig ist das Wesen der Handlung nichts anderes, als die Unbedingtheit der relativen Wertschätzung durch den Tod zu vollenden. Die Gemeinsamkeit ist jedenfalls, dass die Wertschätzung der zu schützenden Handlung bei der Aufrechterhaltung des Status Quo nicht existiert. Die Wertschätzung der zu schützenden Gegenstände ist bedroht und darum muss es eine gewöhnliche Situation sein, die die Handlung des Schützens in Richtung einer von innen kommenden Reform des gegenwärtigen Zustandes in Gang setzt, welche das zu schützende Objekt einschließt.40 Wenn der gegenwärtige Zustand eines zu schützenden 39
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In diesem Satz wird statt des mit Gewalt zu übersetzenden Lexems bōryoku 暴力, welches explizit physische Gewalt oder Gewalttätigkeit meint, das Wort chikara 力 verwendet. Durch die Verwendung dieses Begriffs, der „Macht“, „Autorität“ oder eben „Gewalt“ bedeutet, wird auf das abstrakte Konzept der „Gewalt“ verwiesen. An dieser Stelle ist nicht eindeutig festzumachen, ob sich その auf den Einschluss der Handlung oder den des Objektes bezieht. Dass es im folgenden Satz um Entwicklungsmöglichkeit und die Subjektivität des Objekts geht, lässt darauf schließen, dass an dieser Stelle das Objekt gemeint ist.
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Gegenstandes perfekt ist und wie ein sich im Museum befindlicher Diamant mit einigen hundert Karat nur eine passive Existenz ist, wenn, mit anderen Worten, die Möglichkeit der organischen Entwicklung und die Subjektivität im zu beschützenden Gegenstand nicht existieren, würde die Handlung, einen solchen Gegenstand zu schützen letztendlich, wie die Kapitulation von Paris, in einem Defätismus oder in der Vernichtung des zu Beschützenden enden. Deshalb muss ferner auch die Handlung des „Schützens“ die identische Reflexivität haben wie die Kultur. Mit anderen Worten müssen das Idealbild der schützenden Seite und die ideale Gestalt der beschützt werdenden Seite einen Anlass zur Identifikation haben. Folglich muss es eine Möglichkeit geben, dass die Identifikation der schützenden Seite mit der zu beschützenden Seite letztendlich realisiert wird. Zwischen einem Diamanten im Museum und dessen Beschützern gibt es eine solche Möglichkeit der Identifikation nicht und es ist denkbar, dass der glänzende Ruhm der Handlung des Schützens in dieser Art der Möglichkeit wurzelt. Auch die vom Staat gegebene Wurzel des Ruhmes entsteht aus diesem psychologischen Mechanismus. Folglich wird bei der Handlung „Kultur schützen“ die Identifikation der Reflexivität, Ganzheitlichkeit und Subjektivität der Kultur an sich mit der Freiheit des sich im Inneren befindlichen, schaffenden Subjekts der schützenden Seite im Voraus festgelegt und darin zeigt sich der wahre Charakter der Kultur. Mit anderen Worten verlangt die Kultur durch ihr Wesen vom Subjekt der Kultur (oder genauer gesagt von dem durch das Subjekt der Quelle hervorgebrachten, schaffenden Einzelwesen) die „Handlung des Schützens“ und der von uns geschützte Gegenstand ist weder eine Ideologie noch ein politisches System, sondern er ist letztendlich auf „Kultur“ in dieser Bedeutung zurückzuführen. An diesem Punkt wird die Kultur an sich durch das Erfordernis nach Selbstaufgabe zu einem Moment der Selbsttranszendenz. Folglich suggeriert Kultur unvermeidbar die Befreiung aus dem Egoismus des „Schutzes der Selbstsicherheit“. Gegenwärtig wird der Schutz der Friedensverfassung einerseits zur wehenden Fahne des Klassenkampfes erhoben und andererseits wird er von den Befürwortern des Selbstschutzes und der Selbstsicherheit, die mit diesem Kampf nichts zu tun haben, beispielsweise von emotionalen Pazifisten, Opportunisten, My-Home41-Verfechtern, die alle Kämpfe aufgeben und von ihrem eigenen Schutz und ihrer eigenen Sicherheit träumen, sowie von hartnäckigen Frauen, die Krieg instinktiv verabscheuen, umfassend unterstützt. Andererseits macht sich diese Tatsache des Widerspruchs schuldig, dass Anhänger, die sich aus ideologischen Gründen selbst aufgeben, von Menschen unterstützt werden, die sich gefühlsmäßig nur um ihren eigenen Schutz und ihre eigene Sicherheit kümmern. Und die Art von Menschen, die nur an Selbstschutz und Selbstsicherheit denkt, applaudiert gelegentlich aufgrund einer Art schlechten Gewissens den
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Mai hōmu マイ・ホーム, leitet sich vom englischen my home ab. Mai hōmu shugi bezeichnet den in den späten 1960er Jahren vermehrt zu beobachtenden Rückzug der Menschen ins Private und die Konzentration auf persönlichen Wohlstand, welcher oftmals mit einem Desinteresse an Politik und gesellschaftlichen Ereignissen einherging (vgl. Beer 1998 [1970]).
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Handlungen der drei Gruppen der Zengakuren42. Die Tendenz wird immer deutlicher werden, dass eine durch Urbanisierung zunehmende, desinteressierte Mittelschicht eine Balance des Gewissens aufrechterhält, indem sich ihr geringes politisches Interesse dem Traum von Pazifismus und von gesellschaftlicher Revolution annähert, die beide einen guten Eindruck erwecken.
Die Übereinstimmung von schöpferischem Handeln und Schutz Das existenzielle Selbstbewusstsein in der Kultur hingegen ermahnt die Menschen einem Naturgesetz nach zu einem Drang zum Selbstverzicht, um die Kontinuität des Lebens zu schützen. Wenn Kultur durch Selbstanalyse und durch die Einsamkeit der Vertiefung ins Ich in eine Fruchtlosigkeit verfällt, wird angenommen, dass eine Wiederbelebung der Kultur nur durch eine Befreiung davon gelingen kann. Diese Wiederbelebung erfordert gleichzeitig die Auslöschung des Selbst. Die fruchtlose Selbstvollendung der Kultur, die kein solch selbstloses Moment einschließt, wird „Modernität“ genannt. Und wenn in der Kontinuität der Existenz der Kultur verlangt wird, dass der Grund des Ruhmes der Selbstauslöschung nicht im toten Glanz der zu beschützenden Dinge, sondern in der lebendigen, grundlegenden Kraft (einer zurückblickenden Kraft) fortleben müsse, wird unwillkürlich deutlich, was wir schützen müssen. Folglich ist es selbstverständlich, die Vereinigung von Subjekt und Objekt, nämlich dass schöpferisches Handeln Schutz bedeutet, zu erfahren. Bunbu ryōdō43 ist ein solcher Gedanke; nicht die Bejahung des gegenwärtigen Zustandes und die Aufrechterhaltung des Status Quo, sondern das Schützen an sich war Erneuerung und gleichzeitig „Geburt“ und „Werden“. Da das Schützen also eine Handlung ist, muss man sich durch beständiges Training mit körperlichen Fähigkeiten ausrüsten. Ich habe gehört, dass die meisten wichtigen Persönlichkeiten der taiwanesischen Regierung Meister des Shaolin Kung-Fu44 sind, aber bei kultivierten Menschen im gegenwärtigen Japan mangelt es an einer Abhärtung des Körpers und die Tendenz, nur bei Krankheiten und durch Medikamente Anteilnahme am Körper zu zeigen, lässt die japanische Literatur abmagern und begrenzt ihren Gegenstand und ihr 42
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Zengakuren 全学連 ist die Abkürzung für Zen nihon gakusei jichikai sō rengō 全日本学生自治会総 連合 („Alljapanischer, allgemeiner Verband der studentischen Selbstverwaltung“), den studentischen, politisch linksorientierten Dachverband, welcher sowohl bei den Demonstrationen um die Erneuerung des Sicherheitsvertrages von 1960 als auch bei den Studentenunruhen der späten 1960er Jahre eine wichtige Rolle spielte (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 4: 260f.; Derichs 1995: 81–97, 107–133). Der Ausdruck bunbu ryōdō 文武両道 setzt sich aus den Schriftzeichen für „Feder“ und „Schwert“ zusammen und bezeichnet die geschulte Kenntnis sowohl beim Verfassen von Literatur als auch bei der Ausübung der Kriegskünste (vgl. Shinmura 1998: 2378). Dieser konfuzianische Gedanke beherrschte vornehmlich die Edo-zeitliche Samurai-Ethik (vgl. Huffman 1998: 23). In dem für Meditation berühmten Shaolin-Tempel (jap. Shōrin-ji 少林寺) in China, in dem der Legende nach Bodhidharma zur Erleuchtung gelangte, soll auch das Kung-Fu begründet worden sein (vgl. Shinmura 1998: 1336).
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Blickfeld. Ich finde es merkwürdig, dass sich in der sogenannten schönen Literatur45 seit der Meiji-Zeit46 keine einzige Kendō-Szene finden lässt. Wie viele Figuren mit blassen Körpern von schlechter Gesundheit nehmen doch, gleichsam wie Hungergeister auf Bilderrollen,47 in der modernen Literatur überhand. Zwar hat die Zahl der schwindsüchtigen Figuren abgenommen, aber die moderne Literatur ist nach wie vor ein Paradies, in dem sich Gruppen von beispielsweise an Schlaflosigkeit Leidenden, an Neurosen Leidenden, Impotenten, unansehnlichen Körpern mit Fettablagerungen unter der Haut, Krebspatienten, Menschen mit der Anlage zu Verdauungsstörungen, sentimentale Menschen und Halbwahnsinnige versammeln. Menschen, die kämpfen können, gibt es äußerst selten. Die alte Obsession, Krankheiten und körperlichen Gebrechen eine metaphysische Bedeutung zu verleihen, welche vom Romantizismus bis zum Fin de Siècle vorherrschte, ist noch immer nicht geheilt. Dieses abendländische Konzept scheint sogar manchmal dem Zeitalter zu schmeicheln und tritt in einer volkstümlichen Verkleidung in Erscheinung. Dabei handelt es sich um physiologische Gründe von Schwachen, die Handlungen ungerechterweise verachten, als gefährlich beurteilen oder diese, im Gegenteil, überschätzen.
Die vier Stufen des ethnischen Nachkriegsnationalismus Nun muss der Mutterleib des kulturellen Konzepts, der Chrysantheme und Schwert fortdauern lässt und der sich vom Erhabensten bis zum Einfachsten erstreckt und die sogenannte „Gefahr“ der Kulturalisten nicht meidet, irgendeine Gemeinschaft sein, aber leider ist das Gemeinschaftsprinzip Japans in der Nachkriegszeit zusammenhangslos. Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der blutsverwandtschaftlichen Gemeinschaft und dem Staat wurden grausam voneinander getrennt. Trotzdem ist das Gemeinschaftsprinzip ein großer, gefühlvoller Faktor geworden, welches hier und dort eine emotionale politische Reaktion auslöst. Heutzutage wird dies ethnischer Nationalismus genannt. Es ist offensichtlich, dass durch den ethnischen Nationalismus ein neues Gemeinschaftsprinzip, egal ob gut oder schlecht, verlangt wird. Der ethnische Nationalismus der Nachkriegszeit folgt meinen flüchtigen Beobachtungen nach in etwa einem vierstufigen Verlauf: Einige Zeit nach Kriegsende hatte es den Anschein, als verbinde sich der ethnische Nationalismus der Besatzer in der Situation des augenscheinlichen Zusammenbruchs staatlicher Konzeptionen mit gesellschaftlichen Reformen. Aber dabei handelte es sich um einen sanften, musterschülerhaften, Befehle 45 46 47
Jun bungaku 純文学 meint die schöne, hohe Literatur im Gegensatz zur Unterhaltungs- oder wörtlich Massenliteratur, taishū bungaku 大衆文学 (vgl. Schamoni 2001: 86, Hijiya-Kirschnereit 2008: 18). Die Regierungsdevise meiji 明治 bedeutet „aufgeklärte Herrschaft“ und betitelt die Regierungszeit von Kaiser Mutsuhito (1868–1912). Seit Ende der Heian-Zeit gibt es Darstellungen von Hungergeistern auf Bilderrollen, sogenannte gaki zōshi 餓鬼. Als ein solcher Geist mit vor Hunger aufgeblähtem Bauch, der sich von Kot, Urin und Leichenteilen ernähren muss, wird derjenige wiedergeboren, der zu Lebzeiten gierig war (vgl. Kadokawa Shoten 1960, Abb. 10 (o. S.), 12 (15f.), 13 (21f.), 14–21 (o. S.)).
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befolgenden, voranschreitenden ethnischen Nationalismus. Ein zynischerer, ethnischer Nationalismus konnte sich noch nicht aus der Unterdrückung der Redefreiheit in Kriegszeiten und den flüsternden Erzählungen der Kneipen befreien. Beim Schwindel um die nationale Einheit zeigte sich das Yoshida-Kabinett48 vergnügt. Die schwindlerische Opposition gegen die Besatzer ist einerseits zu einer heimlichen und nicht artikulierbaren Genugtuung des ethnischen Nationalismus geworden, andererseits haftet dem laut verkündeten, offensichtlichen, ethnischen Nationalismus die Vision einer Revolution an. Dies verstärkte sich zunehmend ab dem Zeitpunkt, an dem die Besatzungspolitik rechtslastiger zu werden begann. Es wird angenommen, dass dieser erste ethnische Nationalismus seiner Art mit dem Friedensvertrag begann und über die Rezession im Anschluss an die Korea-Unruhen nach dem größten Finale, dem Kampf gegen den Friedensvertrag, beim Abschluss des neuen Friedensvertrages49 seinem Ende entgegenging. Die Regierung der LDP50 erwog nach und nach die Ausbeutung des ethnischen Nationalismus durch die Staatsgewalt. Dies geschah nicht immer systematisch, aber die locker konsumorientierte Politik des Ikeda-Kabinetts51 brachte eine unerwartete, gegenteilige Wirkung mit sich und die größte Kooperation der Friedensverfassung mit dem ethnischen Nationalismus nach dem Krieg durch den heiligen Vermittler Staat war bei den Olympischen Spielen gelungen. Das war der Höhepunkt der ethnisch-nationalistischen Verwirklichung durch einen Staat und eine Nation. Aber die Einschränkung des ethnischen Nationalismus durch den Sicherheitsvertrag hat genau in diesem Moment eine Veränderung der Eigenschaften des ethnischen Nationalismus heimlich erforderlich gemacht. Das Satō-Kabinett52 hatte das Schicksal, nach verschiedenen Seiten hin ein „aufrichtiges Kabinett“ sein Yoshida Shigeru war zwei Mal japanischer Ministerpräsident, sowohl in den Jahren von 1946/47 als auch von 1948–1954. In seinen Amtszeiten wurde ein pro-amerikanischer Kurs eingeschlagen, der sich gegen das Erstarken von Gewerkschaften und kommunistischen Organisationen richtete, darüber hinaus wurden die Grundlagen für die japanische Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gelegt und der US-amerikanische-japanische Sicherheitsvertrag ratifiziert (vgl. Köllner 2006: 58; Iida 2002: 89ff.). 49 Gegen die Erneuerung des Friedensvertrages (die japanische Abkürzung der Bezeichnung für den Sicherheitsvertrag Anzen hoshō jōyaku 安全保障条約 lautet Anpo 安保) von San Francisco entbrannten 1960 heftige Proteste. Der Vertrag sah vor, dass Japan nicht nur die US-amerikanische Präsenz im Land dulden, sondern gleichzeitig eine aktive militärische Rolle in der „gegenseitigen Kooperation“ mit den USA einnehmen solle. Ungeachtet der Demonstrationen wurde das Abkommen unter Polizeischutz und in Abwesenheit der Opposition ratifiziert (vgl. Iida 2002: 92f., Derichs 1995: 81–97; Aoki 1992–1994, Bd. 1: 303f.). 50 Die Geschichte der Parteien im Nachkriegsjapan ist geprägt von ständigen Abspaltungen, Fraktionskämpfen, Neugründungen und Umbenennungen. Die Jiyū minshutō 自由民主党, die Liberaldemokratische Partei Japans (LDP), schloss sich 1955 aus den beiden großen konservativen Parteien zusammen und stellte mit Ausnahme der Jahre 1993–1994 den japanischen Ministerpräsidenten (vgl. Köllner 2006: 59). 51 Ikeda Hayato 池田勇人, der Nachfolger von Kishi Nobusuke 岸信介, welcher nach den Protesten gegen den Friedensvertrag zurücktreten musste, regierte Japan von 1960–1964 und forderte eine Konzentration auf wirtschaftliche Belange und die Erhöhung des Lebensstandards (vgl. Iida 2002: 115f.). 52 Das Kabinett von Satō Eisaku 佐藤榮作 (1964–1972) wird häufig mit einer Hinwendung zu konservativen Werten in Verbindung gebracht (vgl. Iida 2002: 118). 48
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zu müssen. Der Selbstmord des Olympioniken Tsuburaya53 unmittelbar bevor die Auseinandersetzungen über den Verteidigungsetat im Parlament fehlschlugen, war symbolisch.54 Der Staatsmacht misslang es erneut knapp, dem ethnischen Nationalismus staatlichen Ruhm zu geben, welcher das einzige Geschenk ist, das der Staat dem ethnischen Nationalismus bieten kann. In der dritten Stufe des ethnischen Nationalismus, mit dem Enterprise-Vorfall55 als einem Wendepunkt, scheint der Auftritt des „Internationalismus als der mit Zuckerguss glasierte Nationalismus“ erneut erlaubt. Die Handlungen der drei Gruppen der Zengakuren beim Enterprise-Vorfall bildeten ein bemerkenswertes Moment der präzisen Teilung zwischen „Zuschauendem“ und „Angeschautem“ des Nationalismus und Internationalismus in Japan. Mit anderen Worten regte die Existenz der US-amerikanischen Militärbasen durch den erhöhten ethnischen Nationalismus der vergangenen LDP-Politik entgegen den Erwartungen das Unabhängigkeitsgefühl an und ließ die Psyche der Bürger diese gestaltlose Last fühlen. Und in dem Moment, als Premier Satō, der in der Auseinandersetzung über den Verteidigungsetat im Parlament beharrlich nach konkreteren Maßnahmen der „autonomen Verteidigung“ gefragt wurde, antwortete: „Die autonome Verteidigung bedeutet mit anderen Worten die Verabschiedung des dritten Verteidigungsetats“ (9. Dezember, Erwiderung im Parlament), verlor die Auseinandersetzung an logischer Entwicklung und fiel zu einem bloßen Schauplatz der politischen Auseinandersetzungen ab, so dass die Wahrnehmung der autonomen Verteidigung der Nation ihre geistige Stütze verlor und unmittelbar mit einem politischen Pragmatismus verbunden wurde. Das symbolische Ereignis, dass japanische Jugendliche die Einzäunungen der Militärbasen einrannten, stellte entgegen der Erwartung ein emotionales Bedürfnis der Bürger zufrieden und leitete einen Wendepunkt des ethnischen Nationalismus ein. Ein solcher Turn bildete sich tatsächlich durch den Vietnamkrieg über einen langen Zeitraum heraus. Mit anderen Worten verursachte das sentimentale, humanistische Mitgefühl für den Vietnamkrieg unbewusst eine Verwachsung von ethnischem Nationalismus und Internationalismus, und deren Verbindung mit regierungsfeindlichen Empfindungen ließ eine Analogie entstehen. Diese Analogie ist eine Ersatzhandlung, die Frustration über das fehlende Unabhängigkeitsgefühl des eigenen Volkes durch die Empathie für das Unabhängigkeitsgefühl eines anderen Volkes abzubauen. Darin liegt, genau gesagt, der Unterschied der verschiedenen geschichtlichen 53
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Der japanische Marathonläufer Tsuburaya Kōkichi 円谷幸吉, der bei der Olympiade 1964 die Bronzemedaille in seiner Disziplin gewonnen hatte, beging 1968 Selbstmord (vgl. Harada 1991, Bd. 14: 34f.). Gemeint ist hier wahrscheinlich eine der Nachverhandlungen des Verteidigungsetats Daisanji bōei ryoku seiri keikaku 第三次防衛力整理計画, welcher von 1967–1971 gültig war. Dieser sah zur Freude der japanischen Industrie vor, dass fast 2 % des Bruttosozialproduktes für die Erneuerung der Ausrüstung der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte jieitai 自衛隊 sowie für die Entwicklung von neuer Waffentechnologie in Japan ausgegeben werden sollten (vgl. Harada 1991, Bd. 13: 264f.). Im Januar 1968 demonstrierten die Studenten der Zengakuren gegen das Einlaufen des atombetriebenen Flugzeugträgers USS Enterprise in den Hafen von Nagasaki Sasebo (vgl. Harada 1991, Bd. 14: 36f.).
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Voraussetzungen zwischen dem ethnischen Nationalismus in Vietnam, welches keine Entwicklung zu einem modernen Staat durchlaufen hat, und unserem ethnischen Nationalismus; die für den ethnischen Nationalismus wesentlichen Unterschiede werden übergangen und des Weiteren wird die wesentliche Differenz zwischen der Solidarität des Internationalismus und der Solidarität durch Mitleid und Gefühle übersehen oder verdeckt. Diese wilde Ehe von ethnischem Nationalismus und Internationalismus wurde hauptsächlich von sicheren Standpunkten der Zuschauer, von den Standpunkten sehender Menschen aus nach und nach verwirklicht. Zu dem Zeitpunkt, als das Voranschreiten dieser Situation und die Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Vietnamkrieges einen Synergismus bildeten, brachte die Verkettung symbolischer Handlungen wie des Anlaufens des Hafens durch die Enterprise und die Invasion der Basis durch die Zengakuren für den Nationalismus als „Zuschauer“ und als „Angeschautem“, zu welchem er wurde, ein Krisengefühl und ein Zufriedenheitsgefühl mit sich, während diese Verkettung viele Andeutungen beinhaltete (der Besuch des Premierministers in Südvietnam und das Gespräch mit Präsident Johnson56). Aber gleichzeitig gibt es kein Ereignis, welches die Trennung von „Zuschauer“ und „Angeschautem“ deutlicher zeigt als dieser Moment. Selbst für die drei Gruppen der Zengakuren war die Vorführung des Nationalismus als „Angeschautem“ innerhalb der Umzäunung der US-Militärbasis noch nicht ausreichend, um seine Rolle als „Zuschauendem“ auszumerzen. Sie töteten weder die landenden US-Soldaten noch wurden sie von US-Soldaten innerhalb der Basis erschossen. Sie führten lediglich gewaltsam die symbolische Handlung des „ethnischen Nationalismus als Angeschautem“ auf, was die Seite des von ihnen „künstlich erzeugten ethnischen Nationalismus“ aufdeckte. Die politischen Ziele der Verneinung des Staates durch den Internationalismus und der Bejahung des Volkes durch den Nationalismus genügten nicht für den entscheidenden Moment der Vereinigung von Verneinung und Bejahung, nämlich der Andeutung einer Revolution, sondern viel eher präzisierten die politischen Ziele deutlich das Bild ihrer Trennung. Der Narita-
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1967 stattete Premier Satō sowohl den USA als auch Südvietnam einen Besuch ab. Sein Abflug wurde begleitet von schweren Protesten linker Gruppierungen, die den „Haneda-Vorfall“ auslösten, als sie am 8. Oktober versuchten, den gleichnamigen Flughafen zu stürmen. Hinsichtlich der geplanten Gespräche mit US-Präsident Lyndon B. Johnson war Satōs erklärtes Ziel, Teilaspekte des Sicherheitsvertrages von 1951 zu diskutieren. Priorität hatten Verhandlungen bezüglich der Stationierung von Nuklearwaffen auf Okinawa sowie der Festsetzung eines Rückgabezeitpunktes der Inselgruppe an Japan. Gleichzeitig war natürlich auch der anhaltende Vietnamkrieg und die japanische Beteiligung daran ein Thema und so muss Derichs Aussage, dass die Neue Linke eine Verbindung zwischen dem Krieg in Vietnam und dem Sicherheitsvertrag herstellte, dahingehend berichtigt werden, dass die Verknüpfung der Thematiken tatsächlich existierte und auch von der japanischen Öffentlichkeit erkannt wurde (vgl. Derichs 1995: 114f.). Am 21. Oktober, dem Tag, an dem weltweite Proteste gegen den Vietnamkrieg stattfanden, flog Satō nach Vietnam, um mit Nguyen Cao Ky zu sprechen, allerdings musste er seine Visite aufgrund des Todes des ehemaligen Ministerpräsidenten Yoshida Shigeru verkürzen (vgl. Tucker 1994: 120ff.; Harada 1991, Bd. 13: 306ff.).
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Zwischenfall57 ist eine Form des Ereignisses, in dem diese Trennung extrem ist. Man kann sagen, dass der nützlichste, gefährliche, blinde Hauptbestandteil des Nationalismus hier gleichzeitig seine nützlichste Seite und seine gefährlichste Seite zeigte, welche desinteressierte Menschen in Angst versetzt.
Welche Bedeutung hat diese Situation für die Kultur? „Ihre“58 Kultur könnte als ein Verbindungspunkt des ethnischen Nationalismus und der Überwindung des Staates durch den Internationalismus betrachtet werden. Das ist eine Methode der äußerst radikalen politischen Verwendung des Kulturalismus und eine vom kulturalistischen Unterbau begonnene Reorganisation des Konzepts einer „Kultur der Menschheit“, welches der Kulturalismus an sich beinhaltet. Eine derartige Tendenz hat in kleinem Maßstab die japanische shingeki-Bewegung59 tief infiltriert. Der ethnische Nationalismus an sich als eine Idee von Gemeinschaft, auf welche sich die shingeki-Bewegung stützt, ist so „gestaltet“, dass er auf eine Übertragung der Bedeutung der Gemeinschaft hinweist. Aber auf jeden Fall wird im Augenblick nur der ethnische Nationalismus, der sowohl für den Kommunismus als auch für den Faschismus am leichtesten zu nutzen ist, nicht der Staat als Grundeinheit des Gemeinschaftsbewusstseins betrachtet, wodurch sich die Gefahr einer Abhängigkeit vom ethnischen Nationalismus umso mehr verstärkt. Ethnischer Nationalismus ist eigentlich nichts anderes als die Leidenschaft für die politische Einheit eines Staates mit einem Volk, einer einzigen kulturellen Tradition mit einer einzigen sprachlichen Tradition. Ein solcher ist eben der vietnamesische ethnische Nationalismus, der die Einheit als moderner Staat noch immer nicht kennt. Und was das Problem der schwarzen Amerikaner betrifft, so haben sie letztendlich nur ein „schwarzes Amerika“, eine Republik Schwarzer im Blick und durch diese umgekehrte Apartheid sollen
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Mit „Narita-Zwischenfall“ oder „TBS (Tōkyō-Broadcasting System)-Zwischenfall“ werden die Proteste gegen die einseitige Berichterstattung und die Einschränkung der Pressefreiheit im März 1968 bezeichnet (vgl. Gatzen 2001; Harada 1991, Bd.14: 46). Die Aktion war Teil der Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Proteste gegen den Neubau des Flughafens von Tokyo in Narita. Die vornehmlich von Bauern getragene Protestbewegung – die allerdings von unterschiedlichen, bisweilen radikalen, gewaltbereiten, aus verschiedenen Gründen gegen den japanischen Staat agierenden Gruppierungen unterstützt wurde – erreichte, dass der Flughafen nicht wie geplant 1971, sondern erst sieben Jahre später eröffnet werden konnte (vgl. George 2001: 281f.; Apter 1984: 1–12; Aoki 1992–1994, Bd. 5: 419f.). Der Kontext lässt darauf schließen, dass mit „ihre“ hier die Zengakuren-Gruppierungen gemeint sind, welche bereits im vorangehenden Absatz mit karera bezeichnet werden. Shingeki 新劇 bedeutet „neues Theater“ und spielt auf das moderne Theater an, welches sich ab ca. 1910 durch die Einflüsse aus den europäischen Theaterbewegungen entwickelte. Während shingeki einst alle neuen Theater bezeichnete, ist im heutigen Sprachgebrauch damit das westliche Theater gemeint (vgl. Eckersall 2006).
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die Weißen vertrieben werden, denn die Schwarzen streben keinesfalls einen Staat an, der die heutigen amerikanischen Bürger vereint. Was ist ethnischer Nationalismus also im Falle Japans? Der emotionale Wunsch nach Unabhängigkeit stimmt nicht immer vollkommen mit dem ethnischen Nationalismus überein. Japan ist ein Land, das, was selten in der Welt ist, aus einem einzigen Volk besteht und eine einzige Sprache spricht; der gemeinsame Besitz unseres Volkes sind die Sprache und die kulturellen Traditionen. Von alters her ist diese politische Einheit vollbracht und die Kontinuität unserer Kultur ist der Untrennbarkeit von Volk und Land zu verdanken. Und das Ironische daran ist, dass Japan, welches nach der Niederlage in sein gegenwärtiges Territorium hineingedrängt wurde, dadurch im Landesinneren nur wenige Probleme mit anderen Ethnien hat. Wie in Amerika gibt es in Japan weder eine teilweise widersprüchliche Beziehung zwischen Volk und Staat, noch den Zustand, dass der Staat gegenüber dem ethnischen Nationalismus eine passive stellung einnimmt.60 Folglich haftet der Taktik einer gewollten politischen Verfolgung des Problems mit anderen Ethnien nicht nur der Geruch einer künstlichen Spannung an, sondern diese Taktik identifiziert das Land auch mit Machtmechanismen der realen politischen Macht und eifert zielstrebig danach, die gegenwärtige Regierung als Makler der Regierungsgewalt zu bestimmen, die „die Nation an das Ausland verkauft“, und bemüht sich, den ethnischen Nationalismus in dieser Richtung zu benutzen. Aber, wie bereits erwähnt, hat Japan gegenwärtig weder ein ernstes Problem mit anderen Ethnien noch den Wunsch nach einer politischen Einheit von einem einzigen Volk mit einer einzigen kulturellen Tradition, denn diese wurde bereits in der japanischen Geschichte erzielt. Gäbe es diesen Wunsch, wäre im gegenwärtigen Japan die politische Einheit von einem einzigen Volk und einer einzigen kulturellen Tradition nicht gelungen und Volk und Staat getrennt. Die Betonung des ethnischen Nationalismus an sich bedeutet die Betonung dieses Zustandes der Trennung und das ist letztendlich nichts anderes als ein taktischer Plan zur Verneinung des Landes und zur Bejahung des Volkes. Mit anderen Worten dient der „ethnische Nationalismus als Mittel“ zur Trennung des Untrennbaren. Es wird folglich angenommen, dass der ethnische Nationalismus nach der Erklärung von Johnson und den Unruhen der Schwarzen61, die durch das Attentat auf King ausgelöst wurden, die vierte Stufe erreicht habe. Wie schon bei den Vorhergehenden war die dritte Stufe des ethnischen Nationalismus herausgebildet worden, indem durch den Vietnam60
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Auch wenn sich dies nicht grammatikalisch nachweisen lässt, so ist hier aufgrund der Tatsache, dass die USA als Vielvölkerstaat gelten, anzunehmen, dass sich der Vergleich amerika no yō ni アメリカ のように, als アメリカが持っているように auf die widersprüchliche Beziehung zwischen Volk und Staat bezieht, nicht auf das Problem mit fremden Ethnien. Das Attentat auf Martin Luther King am 4. April 1968 führte in den USA landesweit zu massiven, fünf Tage anhaltenden Unruhen, bei denen 40 Menschen getötet und 24 000 verhaftet wurden (vgl. Gilbert 1999: 388ff.). Mishima spielt hier auf die Rede Johnsons vom 31. März 1968 an, in welcher der Präsident nicht nur erklärt, dass er nicht für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehen wird, sondern auch anbietet, die Luftangriffe auf Nordvietnam zu beenden (vgl. National Archives and Records Service 1970, Bd. 1: 469–476).
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krieg an den argumentativen Verbindungsstellen vage Ausdrücke herausgebildet wurden, und der ethnische Nationalismus machte schließlich den Zustand jener Trennung deutlich. In der Zeit nach dem Vietnamkrieg wird der ethnische Nationalismus der vierten Stufe diese Trennung anhand der Okinawafrage und der Frage nach den Koreanern weiter präzisieren. Gesellschaftliche Ereignisse sind wie Kinderlieder aus alter Zeit manchmal sinnbildlich für kommende Zeiten. Der der Rede von Johnson vorausgehende Kim Hyi-ro-Zwischenfall62 geschah höchst allegorisch, als würde er eine gewisse Zeit vorhersagen. Der Zwischenfall behandelt drei Themen, nämlich das Thema „die Japaner als Geiseln“, das Thema „eine andere Ethnie, die aus ihrer Unterdrückung ausbricht“ und das Thema „die Staatsgewalt, die die Japaner nur friedlich retten kann“. Das erste Problem weist auf die Insulaner von Okinawa63 und Niijima64 hin, das zweite Problem eben auf das Koreanerproblem und das dritte Problem verweist offensichtlich auf die Hand- und Fußfesseln, die der gegenwärtigen Staatsgewalt durch die Friedensverfassung und die öffentlichen Meinung angelegt sind. Und gerade hier wurden zwei widersprüchliche Charakterbilder des japanischen Volkes, das auf Verlangen der politischen Ideologie geändert wurde, als idealtypisch dargestellt: Das Bild des von ausländischer Waffengewalt gegeißelten, unterdrückten, friedfertigen japanischen Volkes und das Bild des durch seine Sündenlast, der Unterdrückung anderer Ethnien in der Geschichte, in seiner Machtausübung eingeschränkten japanischen Volkes. Das erste Bild als Opfer wurde mit dem koreanischen Volk identifiziert, das letztere Täterbild wurde auf das Bild Amerikas aufgesetzt, welches den Vietnamkrieg führt. Aber für das Nachkriegsjapan existiert kein wirkliches Problem mit anderen Ethnien und das Problem mit den in Japan ansässigen Koreanern ist ein internationales Problem 62
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Der koreanischstämmige Kim Hyi-ro 金嬉老 (jap.: Kimu Hiro) hatte im Februar 1968 im Zuge eines Bandenkrieges einen Rivalen getötet, war anschließend mit zwei Geiseln in ein Hotel eingedrungen und verlangte von Polizeibeamten, die ihn aufgrund seiner Herkunft diskriminiert hatten, eine Entschuldigung. Nach einer 25-jährigen Haftstrafe in Japan ging Kim Hyi-ro nach Südkorea, wo er manchem als Held gilt, der sich der japanischen Diskriminierung entgegengestellt hat (vgl. Sasaki 1991: 191). Das Okinawa-Problem ist facettenreich; die Inselgruppe nimmt in der japanischen Geschichte seit jeher eine Sonderrolle ein. Das einstige Königsreich Ryūkyū 琉球 war sowohl Japan als auch China tributpflichtig und hat eine eigene Kultur und Sprache. Nachdem sich der Meiji-Staat das Territorium angeeignet hatte, sollten die Insulaner „zivilisiert“ und zu Japanern gemacht werden. Nachdem Okinawa 1944–1945 Schauplatz verheerender Kämpfe geworden war, die Japans Niederlage besiegelten, wurden die Inseln zur Basis der US-amerikanischen Besatzer und Sinnbild für die Unterdrückung Japans durch die Westmächte. Unabhängigkeitsbestrebungen setzten ein. 1972 erhielt Japan die Kontrolle über Okinawa zurück. Da noch immer ein Teil der Insel amerikanische Militärbasis ist, kommt es in regelmäßigen Abständen zu Konflikten zwischen den Interessen der Bevölkerung und denen des Militärs (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 1: 1156–1165; Miyume 2006). Niijima 新島 ist eine der sieben vor der Halbinsel Izu gelegenen Inseln. 1966 reichten 60 Bewohner Niijimas erfolgreich Klage gegen das Alleinnutzungsrecht eines Raketenübungsgeländes ein (vgl. Harada 1991, Bd. 13: 196).
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sowie ein Problem des Asyls,65 aber es kann kein inneres Problem des japanischen Volkes sein. Ein Teil der Behandlung, in der es wie ein inneres Problem betrachtet wurde, hat deutliche politische Absichten und diese sind nichts anderes, als den Nutzwert anderer Ethnien als Subjekte von Revolutionen in Industriestaaten zu erkennen. Obwohl der Widerspruch zum japanischen ethnischen Nationalismus in diesem Fall logischerweise vorhanden ist, rechtfertigten der Vietnamkrieg und der Aufstand der schwarzen Amerikaner unter der Maske des Humanismus diesen „ethnischen Nationalismus als Mittel“. Der ethnische Nationalismus als Mittel ist frei anpassbar: Er appelliert einerseits bei dem Okinawa- und Niijima-Problem an das Bild der „Japaner als Geiseln“ und andererseits drängt anlässlich der aktuellen Krise auf der koreanischen Halbinsel der logische Widerspruch des internationalen Solidaritätsgefühls im ethnischen Nationalismus erneut gefühlvoll in den Vordergrund. Durch die flexible Benutzung der beiden Bilder des Opfers Japans und des Täters Japan wird eine Aneignung des ethnischen Nationalismus beabsichtigt.66 Aber der Anblick der Trennung in der dritten Stufe des ethnischen Nationalismus würde immer weiter aktualisiert und gleichzeitig würde die Lage im Vietnam der Nachkriegszeit einen Aufschwung des konservativen ethnischen Nationalismus vorantreiben und das Gerangel zwischen rechts und links im ethnischen Nationalismus dadurch immer weiter verschärft werden.
Die Ganzheitlichkeit der Kultur und der Totalitarismus Wie oben beschrieben gibt es im Japan der Nachkriegszeit kein wirkliches Problem mit anderen Ethnien und selbstverständlich ist die Konsensbildung des Volkes auf alle Fälle für die rechte als auch für die linke Seite ein Ziel. Der Konsens des Volkes bedeutet, zumindest für Japan, dass Japan zu seiner ursprünglichen Form zurückfindet und dass die Ziele des Volkes und die Ziele des Staates, welche in kulturelle Konzepte gehüllt sind, übereinstimmen. Diesen schlüssel giBt es nur in Der Kultur. Auch das Gemeinschaftsprinzip als Mutterleib der Kultur existiert darüber hinaus nur bei dieser Übereinstimmung. Eigentlich ist die Ganzheitlichkeit der Kultur ein vollkommen gegensätzliches Konzept zum Totalitarismus in allen, sowohl rechten als auch linken Formen und darin liegen sehr alte Gegensätze zwischen Dichtung und Politik verborgen. Die Frage, ob ein Regierungssystem fähig ist, Kultur vollkommen anzuerkennen, nähert sich der Frage an, ob ein Regierungssystem fähig ist, Erotik vollkommen anzuerkennen. Während kulturpolitische Maßnahmen des rechten und linken Totalitarismus geschickt die Masken von Kulturalismus und ethnischem Nationalismus tragen, zeigen sie eine feindliche Gesinnung gegenüber der Ganzheitlichkeit der Kultur an sich und streben stets 65
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Der verwendete Begriff rifyujii リフュジー, der sich vom englischen Wort refuge oder eher refugee ableitet, ist verwirrend, denn Japan bot Koreanern bis dato nie Asyl oder Zuflucht. Gemeint ist an dieser Stelle wohl eher die Tatsache, dass den in Japan ansässigen Koreanern permanentes Bleiberecht gewährt wurde (vgl. etwa Chapman 2008). Der Satz steht im Original nicht im Passiv, allerdings erschließt sich das Subjekt des Satzes nicht.
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nach der Reduktion der Ganzheitlichkeit der Kultur. Der psychologische Grund für die Unterdrückung der Redefreiheit ist nichts anderes als die Eifersucht des Totalitarismus gegenüber allen Arten der Ganzheitlichkeit, denn das Wesen des Totalitarismus ist sein Monopol auf das „Ganze“. Für die Ganzheitlichkeit der Kultur sind sowohl die zeitliche Kontinuität als auch die räumliche Kontinuität unerlässlich. Erstere garantiert Traditionen, Schönheit und Geschmack, letztere garantiert die Verschiedenartigkeit des Lebens. Die Redefreiheit ist, wenn auch nicht für Erstere, so für Letztere ein einwandfreier Beschützer. Natürlich ist die Redefreiheit kein absoluter Wert, man sieht im heutigen Japan, wie sie selbst gelegentlich die Kultur verfaulen lässt, und sie neigt zu der Schwäche, den schöpferischen, traditionellen Charakter der Kultur und die Hierarchie verlorengehen zu lassen, nur die Oberfläche der Ganzheitlichkeit der Kultur zu unterstützen und die Dreidimensionalität der Ganzheitlichkeit verlorengehen zu lassen. Aber es findet sich nichts vergleichbares Besseres als die Redefreiheit und nichts bewahrt die geistige Überlegenheit, nämlich die gedankliche Toleranz gegenüber dem Anderen, besser als sie. Folglich ist die Redefreiheit zugleich eine notwendige, sowohl technische als auch politische Voraussetzung zur Unterstützung der Ganzheitlichkeit der Kultur. Aus diesem Grund ist die Wahl eines Regierungssystems, welches die Redefreiheit garantiert, die beste unter den praktischen Wahlen. Der Hauptfeind der Kultur ist kein anderer als ein politisches System, welches die Redefreiheit letztendlich nicht garantiert. Aber die Redefreiheit ist im Wesentlichen unsittlich und sie selbst ist ein politisch verwendetes Konzept, aus welchem Relativismus entsteht. Deshalb ist es selbstverständlich, dass der Gedanke des Sicherheitsvertrages, die relative Wahl der Zugehörigkeit zu einem sogenannten freien, ideologischen Lager mit dem politischen Prinzip zu identifizieren, nur eine schwache moralische Begründung hat und dieser Gedanke wird künftig zunehmend an Kraft verlieren. Der Kompromiss zwischen der Redefreiheit und dem demokratischen Repräsentativsystem hinsichtlich eben jener relativistischen Idee erfolgt nach dem Motto, dass man alle schmutzigen Wörter mindestens einmal gesagt haben muss, wodurch sich der Geist in das Edle und das Unedle unterscheiden lässt. Aber ein solcher, endgültiger Erfolg der Redefreiheit braucht immer Zeit und man kann in diesem Prozess einer Verschlechterung des Geschmacks und einer Abwertung der Schönheit nicht entgehen. Denn die Redefreiheit hat im Wesentlichen innerhalb der Ganzheitlichkeit der Kultur nichts mit der Vertikalebene, oder, mit anderen Worten, der zeitlichen Kontinuität zu tun. Zudem ist die Freiheit gegenüber der Unfreiheit einerseits durch die sofortige Wirkung und die äußere Autorität der Unfreiheit benachteiligt, andererseits wird die Freiheit in einer Krise leicht durch ihre unmögliche Ideologisierung von den Füßen gerissen, weil sie ein politisches Konzept ist, welches mit Techniken politischer Werbekampagnen ideologisch sehr schwer greifbar ist. Wie man an vielen Beispielen sehen kann, haben selbst freie Länder Angst davor, dass sie durch den Totalitarismus von innen zerfressen werden. „Anhänger demokratischer Regierungen […] sind sich der Gedanken, zu denen sie neigen, weniger bewusst als Kommunisten“, so schreibt Parkinson in seinem Werk The Evolution of Political
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Thought67. „Beispielsweise ist ihre Religion nicht immer eine Religion mit einer heiligen Schrift. Sie diskutieren öfter auf Grund unzuverlässiger geschichtlicher Kenntnis. […] Es wäre töricht, jedes Mal bei der Erörterung von Theorien und Tatsachen der Politik Monarchien oder Oligarchien in der Annahme zu verneinen, dass diese keine Vorzüge hätten.“68 Vom Standpunkt der absoluten Überlegenheit des Geistes, welche die Redefreiheit eigentlich garantieren sollte, ist die Etablierung der Idee einer kulturellen Gemeinschaft notwendig und nur diese kann der Ideologie widerstehen. Diese Idee der kulturellen Gemeinschaft muss mit einem absoluten moralischen Wert und gleichzeitig auch mit dem nicht differenzierenden Einschluss von Kultur verbunden werden. An dieser Stelle tritt der Kaiser als kulturelles Konzept auf.
Der Kaiser als kulturelles Konzept Hinsichtlich des symbolischen Kaisers in der bestehenden Verfassung ist der Gelehrte Sasaki Sōichi69 der Meinung, dass sich das „kokutai’70 der Meiji-Verfassung grundlegend in Richtung des symbolischen Kaisers verändert habe, wohingegen Watsuji Tetsurō71 dem hartnäckig zu widersprechen versuchte. Watsuji warf Sasaki einst logische Unklarheit bei der Einführung des kokutai-Konzeptes vor und wies auf den strittigen Punkt hin, dass nach Sasakis Meinung eine strenge Unterscheidung zwischen dem „kokutai-Konzept als politischem Stil“ und dem „kokutai-Konzept als geistiger Vorstellung“ notwendig sei und behauptete, dass es viel eher so sei, dass das erste einfach ein Konzept der „politischen Form“ sei und das kokutai in letzterer Bedeutung sich nicht verändert habe. Das war im Jahr 1947, als die aufblühende Debatte um die Verfassung die Kaiser-Frage viel ernsthafter behan67
Dieses Werk von Cyril Northcote Parkinson erschien 1958, eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor. Der vollständige Titel der im April 1967 veröffentlichten Übertragung ins Japanische lautet paakinson no seiji hōsoku パーキンソンの政治法則, „Parkinsons politische Gesetze“. Der japanische Titel spielt auf das bekannteste Parkinson Werk, Parkinson’s Law an, welches als Paakinson no hōsoku bereits ins Japanische übersetzt war. 68 An dieser Stelle findet sich eine syntaktische Ungenauigkeit: das Verb verneinen, hitei suru 否定する, benötigt ein Objekt mit dem Partikel を, auf welches hier verzichtet wurde, was den Lesefluss stört. Zudem fehlt in Mishimas Text der Punkt am Satzende. 69 Der japanische Rechtswissenschaftler Sasaki Sōichi 佐々木惣一 (1887–1965) beschäftigte sich nach dem Krieg mit Verfassungsfragen und insbesondere mit der Position des Kaisers in der Nachkriegsverfassung (vgl. Tabata 1975: 277–308). 70 Der seit dem Pazifischen Krieg negativ belegte Begriff kokutai 国体, „Staatswesen“, „Staatskörper“, wird verwendet, wenn die Staatsform Japans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeint ist. Zur komplexen Begriffsgeschichte, der Konstruktion und politischen Instrumentalisierung des Begriffes, die in den 1880er Jahren begann und in der Kaiser-Ideologie gipfelte, vgl. Gluck 1985 insbes. 143– 149, 248ff.; Antoni 1992 [1991]: 31–50 und Doak 2007, insbes. 102–120. 71 Watsuji Tetsurō 和辻哲郎 (1889–1960), japanischer Philosoph und Kulturhistoriker, beschäftigte sich hauptsächlich mit philosophischer Ethik und der japanischen Geistesgeschichte (vgl. etwa Nakamura 1982: 617–621).
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delte als heute, eine bemerkenswerte These. Und – die Angemessenheit von Watsujis Meinung beiseitelassend – ist bemerkenswert, dass er als theoretische Struktur, die den Widerspruch zwischen Demokratie und Kaiser beseitigt, mit Nachdruck das Konzept der Nation als „kultureller Gemeinschaft“ vertritt. Watsuji erachtet darüber hinaus sogar den Staat als getrennt von der Kaiserkonzeption: Nun habe ich als die wesentliche Bedeutung des Kaisers das „Symbol der Einheit des japanischen Volkes“ angeführt, was nicht immer mit dem Staat zu tun hat. Wenn man sagt, dass das Konzept der „Nation“ offensichtlich die Annahme eines Staates voraussetzt, kann man „Nation“ durch das Wort Volk oder Volksmassen ersetzen. Jedenfalls ist der Kaiser das Symbol der Einheit der Japaner.72 Weil der Kaiser auch würdevoll existierte, als der japanische Staat gespalten und zerlegt war, muss er als eine vom staat aBWeichenDe orDnung gesehen werden. Folglich ist die Einheit der Japaner Keine politische einheit, sonDern eine Kulturelle einheit. Die Japaner haben aus ihrer Sprache, ihrer Geschichte, ihren Sitten und anderen kulturellen Aktivitäten eine einzige Kulturelle gemeinschaFt gebildet. Der Kaiser symbolisiert als diese kulturelle Gemeinschaft die Einheit von Nation und Volksmasse. Die Tradition der Kaiserverehrung, welche die japanische Geschichte durchzieht, ist nichts anderes als das Bewusstsein um diese Einheit. (‚Sasaki zur Debatte um die Veränderung des kokutai73‘, Januar 1947 – „Das Symbol der Einheit der Nation’74).
Ob Watsuji hier, als er das Konzept des Kaisers vom Konzept des Staates abgetrennt hat, das Folgende beabsichtigte, ist ungewiss, aber es deutet sich wie von selbst an, dass der Kaiser als Symbol der Vereinigung von geschichtlichen Tatsachen, wie beispielsweise der, „dass die Einheit der Nation nicht verloren ging, auch als der Staat geteilt war“, eben weil er das symbolische Konzept der kulturellen Gemeinschaft war, die Idee einer Revolution sein konnte. Des Weiteren hat Watsuji zu Beginn der oben erwähnten Abhandlung das symbolische Konzept theoretisiert. Dass der Kaiser − wenn man so denkt75 − das Symbol der Einheit des japanischen Volkes ist, ist eine Tatsache, die sich durch die japanische Geschichte zieht. Der Kaiser ist der lebendige Ausdruck der Ganzheitlichkeit einer uranfänglichen Gruppe und des Weiteren der Repräsentant der „Einheit der einen Gesamtheit“ der Japaner, die politisch in unzählige Länder geteilt waren.76 72
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Das Zitat sowie die Wortwahl nihon no piipuru 日本のピ-プル suggerieren, dass Watsuji in diesem Zitat Bezug auf den ersten Artikel der Nachkriegsverfassung nimmt, weswegen kokumin in diesem Fall nicht als „Nation“, sondern als „Volk“ übersetzt wird. Der Titel des zitierten Kapitels Kokutai henkōron ni tsuite Sasaki hakase no kangae wo kofu 国体変 更論について佐々木博士の考えを乞ふ bedeutet wörtlich: „Erbetene Gedanken des Gelehrten Sasaki zur Debatte um die Veränderung des kokutai“. Der von Watsuji verwendete Titel Nihon kokumin tōgō no shōchō 日本国民統合の象徴 verweist auf den ersten Artikel der japanischen Nachkriegsverfassung, in welchem es heißt: „天皇は、日本国の 象徴であり日本国民統合の象徴であって、この地位は、主権の存する日本国民の総意に基く“ (Nagai 1968: 252). „The Emperor shall be the symbol of the State and of the unity of the People, deriving his position from the will of the people with whom resides sovereign power.“ (Inoue 1991: 273). Die logische Verknüpfung des Satzes mit diesem Einschub lässt sich ohne eine Prüfung des Kontextes nicht erschließen. Diese Aussage ist befremdlich, da Japan in seiner Geschichte nie geteilt war. Es müsste der Kontext des Zitates geprüft werden, um herauszufinden, ob es sich hier eventuell um eine Anspielung auf die
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Die Ganzheitlichkeit dieser Gruppe von Menschen ist eine subjektive Ganzheitlichkeit, man kann diese nicht objektiv erfassen. Deswegen ist er nichts anderes als ein „Symbol“.
Auf diese Weise setzt Watsuji den Kaiser als ein Mitglied der Nation fest und überdies erklärt er, da der Träger der Souveränität einer Demokratie der Wille des gesamten japanischen Volkes und nicht der einzelne Staatsangehörige sei, den Kaiser zum Symbol des souveränen Willens, der „viel näher an die Inbesitznahme der Souveränität komme“ als die Kaiser der Muromachi- oder Edo-Zeit. Aber es ist erschreckend, dass die umgekehrte Logik, die Watsuji in einer Serie von Abhandlungen, die damalige politische Fragen andeuteten,77 damals als Nonsens betrachtete, heute „reibungslos“ behauptet werden kann. Die Verfassung hat sich geändert. Das durch die Verfassung festgesetzte kokutai ist nicht mehr das kokutai von vor zwölf Jahren. Einst hatten die Unterstützer des Kaisersystems die Position der Aufrechterhaltung des kokutai inne, mittlerweile haben sie eine Position, die beabsichtigt, das kokutai umzuwälzen. Die Aufrechterhaltung des kokutai bedeutet, die Volkssouveränität zu schützen. Ließe sich eine solche Ansicht reibungslos behaupten? […] Ich kann das nicht annehmen. (‚Über die Unterweisungen von Sasaki Sōichi‘, Juli 1948 – „Das Symbol der Einheit der Nation“).
Als Stellungnahme eines Historikers mit gesundem Menschenverstand, die nicht so polemisch war wie die von Watsuji, erklärte Tsuda Sōkichi78 Folgendes: Ein weiterer wichtiger Sachverhalt ist die kulturelle Stellung der Kaiserfamilie und deren Wirkung. Es muss nicht gesagt werden, dass die Kaiserfamilie in sehr alten Zeiten das Zentrum der Kultur und deren Führer war. Die Hauptursache dafür ist, dass, weil das japanische Volk aufgrund der geographischen Lage Japans und dem auf der Landwirtschaft basierenden Lebensunterhalt keinen Kontakt mit anderen Völkern hatte, die Einfuhr chinesischer Kultur vom Kaiserhof abhängig war. Dies trug außerdem zu der Sachlage bei, dass die Kaiserfamilie, die keine Waffengewalt anwandte, sich naturgemäß mit friedlichen Unternehmungen beschäftigte. In späteren Zeiten, nachdem das Zentrum der Kultur in Richtung der bushi und überdies in Richtung des Volkes verschoben worden war, wurde der Kaiserfamilie, weil sie die Bräuche der Kultur sehr alter Zeit überlieferte, eine besondere Verehrung zuteil. Die historischen Kaiser hatten fast ohne Ausnahme eine Vorliebe für die Wissenschaft und die schöne Literatur und außerdem gab es bekanntlich viele Kaiser, die für diese Dinge begabt waren, woraus die Tradition der Kaiserfamilie entstanden ist. Auch das ist unter den Königshäusern weltweit beispiellos. Es gab keine Kaiser, die politische Talente hatten und sich militärische Verdienste erwarben, aber es gab nicht wenige Kaiser, die als Gelehrte, Literaten oder Künstler in ihrer Zeit den ersten Platz eingenomSengoku-Zeit (1467–1568) handelt, in der verschiedene, allerdings nicht unzählbare Daimyate um Machtpositionen kämpften. Auch die Annahme, es werde auf Japans Kolonialismus angespielt ist unwahrscheinlich, denn zu dieser Zeit war das Land nicht politisch zersplittert. 77 Die Partikeln では sind verwirrend: während er zu 言へるようになってゐる zu gehören scheint, verweist das Verb jedoch auf die Gegenwart und nicht auf die mit diesen Partikeln gekennzeichneten damaligen Schriften Watsujis. 78 Tsuda Sōkichi 津田左右吉 (1873–1961) war ein japanischer Historiker, der sich mit den japanischen Klassikern, aber auch mit der japanischen Ideengeschichte beschäftigte. Tsudas frühe Arbeiten wurden von den Nationalisten als kaiserfeindlich erachtet, weswegen er gemeinsam mit seinem Verleger 1940 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Nach Kriegsende befürwortete er ein abgewandeltes Kaisersystem (vgl. Nakamura 1982: 361–365).
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men haben. Das spielt bei der Kaiserverehrung der Nation eine große Rolle: Die Kaiser widmeten sich zivilen Angelegenheiten und waren darum nicht in die komplizierten Staatsangelegenheiten involviert. Das japanische Kaiserhaus nur von einem politischen Standpunkt zu sehen, ist eine Fehleinschätzung.“ (‚Die japanische Kaiserfamilie‘, Juli 1952 – Chūō kōron.)
Tsuda Sōkichi bevorzugt folgende Definition von „Kultur“: Kultur ist die Art zu leben. Als Individuum, Nation oder Weltbürger den Geist und seine Funktion im alltäglichen Leben wirklich schön und wahrhaftig zu machen, erhöht die Kultur. (‚Die japanische Kultur nach dem Friedensvertrag‘, 11. September 1951 – Hokkoku Shinbun).
Auch wenn die Spaltung der öffentlichen Meinung im gegenwärtigen Japan den Anschein hat, als gäbe es innerhalb des Landes zwei Staaten, so ist Tatsache, dass „unter den Anhängern der Sozialistischen Partei über 50 % Anhänger des Kaisersystems sind und es weniger als 5 % aktive Kritiker gibt. Die Anhänger der Demokratischen Sozialistischen Partei79 befürworten fast alle das Kaisersystem. Unter den Anhängern der Kommunistischen Partei80 hat sich die Anzahl der Anhänger des Kaisersystems tatsächlich in letzter Zeit vermindert, nimmt aber noch immer 12 % ein und 39 % sind unkritische Desinteressierte.“ (Hariu Seikichi – 6. Mai 1968, Nihon dokusho shinbun). Man kann sagen, dass die oben geäußerte Meinung von Watsuji Tetsurō durch die Tatsache bestätigt wird, dass laut einer „Meinungsumfrage durch das Büro des Ministerpräsidenten“ in der Abendausgabe der Mainichi Shinbun am 30. April 73 % der Befragten antworteten, den Kaiser als Symbol gut zu finden. Aber andererseits schreibt Maruyama Masao81 sein bekanntes Werk Logik und Psyche des Ultranationalismus (1946), als sei er erfüllt von Ressentiments gegen einen Staat mit Kaisersystem: Beschreibt man das Verhältnis zwischen dem Tennō und seinen Untertanen mit Hilfe des Bildes konzentrischer Kreise, in deren Mittelpunkt er steht, während ihm sämtliche Untertanen lediglich „beistehen“, so ist dieses „Zentrum“ allerdings kein Punkt, sondern – und damit wird das Bild dreidimensional – nichts anderes als eine Längsachse, welche die Zeitdimension ausdrückt und quer zur Dimension der konzentrischen Kreise verläuft.82
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Die Demokratisch-Sozialistische Partei Japans, Minshū Shakaitō 民主社会党 (DSP), wurde 1960 von gemäßigten Anhängern der sozialistischen Partei gegründet. Die 1945 gegründete Kommunistische Partei Japans, KPJ (Nihon Kyōsantō 日本共産党), verfolgte in ihrer Propaganda bisweilen nationalistische Argumente, um sich gegen die pro-westliche Außenpolitik der Regierung zu positionieren. Sie hatte als einzige Partei nach dem Krieg eine Abschaffung des Kaisertums in ihr Programm aufgenommen (vgl. Hammitzsch 1990³: 477). Maruyama Masao 丸山眞男 (1914–1996) gehört zu den einflussreichsten japanischen Politikwissenschaftlern. Eine kurze Übersicht über sein Schaffen, Übersetzungen und die frühe Rezeption findet sich bei Maruyama 1988 [1961/1982]. Die Textstellen sind der deutschen Übersetzung des Aufsatzes Logik und Psyche des Ultranationalismus von Wolfgang Seifert entnommen, die betreffende Stelle findet sich in Maruyama 2007 [1946]: 139, das Original in Maruyama 1964: 27; das zweite Zitat respektive bei Maruyama 1964: 15f.; Maruyama 2007 [1946]: 120f.
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Als Maruyama dies schrieb, schien es, als wären die beispiellosen Strukturen, die er durch die Verneinung des Geistes derart eindringlich beschreibt, durch die politischen Reformen nach dem Krieg völlig zerstört worden. Aber er begeht eine Übertreibung, wenn er über die inhärente Ideologie der staatlichen Strukturen des Kaisersystems sagt: „Es ist in unserem Land noch niemals vorgekommen, dass das Private letztlich als solches erkannt worden wäre.“ Wenn er erwähnt: „Folglich verband man mit dem Privaten auch stets die Vorstellung des mehr oder weniger zWeiDeutigen , weil man es als schlecht oder mit dem Schlechten verwandt ansah. Dies galt insbesondere für Geldgeschäfte und in Liebesbeziehungen.“ (Logik und Psyche des Ultranationalismus), begeht er den Logiksprung, Prozesse der Degeneration der einstigen Herrschaftsmechanismen des Kaisersystems zu überspringen. Denn meiner persönlichen Meinung nach ist sowohl vom Gesichtspunkt der Redefreiheit als auch vom Gesichtspunkt des eigentlichen Charakters der „Selbstlosigkeit“ der Kaiserherrschaft aus betrachtet anzunehmen, dass die entsetzlichste theoretische Degeneration mit dem „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ aus dem Jahr 1925 begann. Denn mit anderen Worten hat die parallele Festsetzung im ersten Artikel „[…] mit dem Ziel einer Umwälzung des kokutai oder der Verneinung des Systems des Privateigentums […]“83 eben in diesem Moment das kokutai des Kaiserstaates zu einem Synonym des Systems des Privateigentums im Kapitalismus gemacht. Menschen, die die Unklarheit dieses Textes nicht verinnerlichten, hätten nur materialistische Menschen sein dürfen, die die Funktionen des Kaisersystems als wesentlichen wirtschaftlichen äußeren Faktor nicht bemerken, aber in Wirklichkeit, ebenso wie viele feindliche politische Ideen unwillkürlich durch die Ideen des Feindes angegriffen werden, gab es niemanden, der die „Respektlosigkeit gegenüber dem Kaiser“ in diesem Text bemerkt hätte. Eben in der Situation, in der es niemanden gab, der dies bemerkte, ist der Herrschaftsmechanismus des Kaisersystems entstanden, in dem die „sehr enge Beziehung zwischen Herrscher und Untertan“ entschieden unterbrochen wurde. Der Kaiser, der das Symbol der Untrennbarkeit von Land und Volk und die Koordinatenachse der zeitlichen und der räumlichen Kontinuität ist, hat in der modernen Geschichte Japans noch nie wahrlich die äußere Erscheinung seines Wesens als „kulturelles Konzept“ gezeigt. Das hängt damit zusammen, dass das Wesen des Staates unter der Meiji-Verfassung aus der Zerrüttung der Ganzheitlichkeit der Kultur entstand und von Kulturbeamten, die Überbleibsel der konfuzianischen Moral sind, repräsentiert wird. Ich habe jüngst den Sentō-Palast84 besucht und vor der Hässlichkeit der durch Meiji-Beamte ergänzten Steinbrücke, die unbefangen den kaiserlichen Garten und Teich überspannt, die Augen verschlossen. Das Chian iji hō 治安維持法, das „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ stammt aus dem Jahr 1925 und ermöglichte einerseits die Unterdrückung von Andersdenkenden und politisch Linksgerichteten. Zudem findet darin durch die gezielte Verwendung des kokutai-Begriffs eine Verflechtung von Politik und Moral statt (vgl. Hartmann 1996: 114–117). 84 Der Sentō-Palast ist Teil des Kaiserpalastes in Kyōto.
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Mit anderen Worten muss man durch die Deduktion des „Wert an sich“85 die ganze japanische Kultur bis hin zu den extremsten Sonderfällen ableiten, damit die Ganzheitlichkeit, Reflexivität und Subjektivität der Kultur mit einem, auf den ersten Blick unordentlichen, dem umfassenden, kulturellen Konzept entsprechenden „Wert an sich“ versehen ist. Aber die Strukturen des Kaisersystems unter der Meiji-Verfassung wurden zunehmend in die der westlichen konstitutionellen Monarchien gepresst und abstrahierten durch die Verfeinerung der politischen Strukturen ihre kulturelle Funktion und verloren schließlich die Fähigkeit zur Deduktion. Wir müssen den Kaiser als kulturelles Konzept, die wahre Gestalt des Kaisers, verwirklichen, denn dieser Kaiser ist der einzigartige Wert an sich, der eben der verschiedenartigen, weitreichenden, umfassenden Ganzheitlichkeit der Kultur entspricht.
Als einst die Kemmu-Restauration durch den Kaiser Go-Daigo verwirklicht wurde, bedeutete das nicht nur einen Ortswechsel für die Regierung, sondern auch das Wiederaufleben der dynastischen Kultur.86 Die Szene, dass der Kaiser vor der Rückkehr in die Hauptstadt in seinem Wohnsitz auf den Oki-Inseln, auf welche er verbannt worden war87, von seinem Vater träumt, ist zu vergleichen mit der Szene im Buch Akashi im Genji-Monogatari, in der Prinz Genji in Suma88 von seinem Vater träumt. Diese beiden Szenen beschreibt der Autor des Masukagami89 folgendermaßen als Beweis dieser kulturellen Kontinuität:
Neben dem japanischen Lexem kachi jitai 価値自体, wird der deutsche Begriff „Wert an sich“ in japanischer Lautschrift als vueruto an jihhi ヴエルト・アン・ジッヒ wiedergegeben. Der Begriff des „an sich“ verweist auf die Philosophie Kants, der damit von menschlicher Erkenntnis Unabhängiges bezeichnet (vgl. Kirchner 19034: 35). 86 Kaiser Go-Daigo 後醍醐天皇 (1288–1339), der Sohn von Go-Uda 後宇多天皇 gilt als der 96. japanischer Kaiser, der zwischen 1318–1339 regierte (vgl. Hammitzsch 1990³: 1809f.). Go-Daigo war 1331, nachdem ein von ihm angezettelter Aufstand niedergeschlagen worden war, von den Kamakura-Streitkräften auf die Oki-Inseln verbannt worden. Es gelang ihm jedoch, von dort aus seinen Fall an die Öffentlichkeit zu bringen, zu fliehen und Truppen hinter sich zu versammeln, unter deren Mithilfe er die Kenmu-Restauration einleitete (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 3: 326f.). Ziel der fehlgeschlagenen Restauration war, dem Kaiserhaus die Macht früherer Tage zurückzugeben. Tatsächlich kam es zur Vernichtung des bis dato herrschenden Clans der Hōjō und zur Etablierung der Militärherrschaft des Ashikaga-Shogunats. Damit gingen auch erhebliche Umwälzungen in der Landespolitik einher (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 2: 1312–1315). 87 Der Begriff haikan 配官 lässt sich in keinem einschlägigen Wörterbuch nachweisen. Da eine Bedeutung von 配 jedoch „Verbannung auf eine Insel“ bedeutet und dies in mehreren Zusammensetzungen nachzuweisen ist, kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier um den Wohnsitz des Kaisers auf Oki handelt (vgl. Morohashi 1984, Bd. 11: 350ff.). 88 Die Kapitel des Genji-Monogatari, welche vom Exil des Prinzen berichten, tragen die Titel Suma 須磨 bzw. Akashi 明石 und sind eindeutig von den Abschnitten 7–15 des zu Beginn des 10. Jahrhundert entstandenen Ise-Monogatari beeinflusst (vgl. Jens 1990, Band 12: 78). 89 Das Masukagami 増鏡 gehört zu den inoffiziellen Reichschroniken und befasst sich mit der japanischen Geschichte zwischen den Jahren 1180 und 1333, also der Zeit der Auseinandersetzung zwischen Hof und Shōgunat. Die Verfasserschaft des Masukagami wird häufig Nijō Yoshimoto 二条良基 zugeschrieben. Der Autor, der das höfische Leben der Heian-Zeit in nostalgischen Tönen beschreibt, muss jedenfalls mit dem Genji-Monogatari vertraut gewesen sein, denn im Masukagami wird vor allem im ersten Band fortlaufend vornehmlich in Zusammenhang mit Go-Tobas Hofleben und dessen Exil darauf angespielt (vgl. Midorikawa 1984: 520f.; Siegmund 1978: 151–165). 85
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Auch wenn der Frühling kommt, weht auf jenen Inseln noch immer ein frostiger Küstenwind, die Wellen sind rau und das Eis am Strand schmilzt nur schwerlich. Bei der Stimmung in dieser Jahreszeit wird man immer ungemein melancholisch. […] Als Kaiser Go-Daigo in der Dämmerung90 ungewollt schlummerte und Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden konnte, sah er deutlich das wie zu Lebzeiten aussehende Gesicht seines verstorbenen Vaters Go-Uda91 und teilte ihm viele Dinge mit. […] Go-Daigo erinnerte sich daran, dass auch General Genji auf dem Strand von Suma das Gefühl hatte, als ob er gerade in einem Traum seinen Vater gesehen hätte und er war äußerst gerührt und ermutigt…. (17. Band, ‚Commeline‘).
Ein Kaisersystem als ein solches kulturelles Konzept ist erfüllt von zwei wichtigen Angelegenheiten bezüglich der Ganzheitlichkeit der Kultur, nämlich sowohl mit der zeitlichen Kontinuität, welche mit Feierlichkeiten verbunden ist, als auch mit räumlicher Kontinuität, die gelegentlich sogar politische Unordnung erlaubt und es entspricht der tiefsten Erotik, die einerseits der Politik von Gottesgnaden aus der alten Zeit und andererseits dem Anarchismus anhaftet. Miyabi92 war die kulturelle Blüte des regierenden Hofes und sehnte sich nach dieser, aber im Notfall nahm miyabi sogar die Gestalt des Terrorismus an. Mit anderen Worten stand der Kaiser als kulturelles Konzept nicht nur auf Seiten der Staatsgewalt und der Ordnung, sondern er stand auch der Seite der Unordnung bei. Wenn die Staatsgewalt oder die Ordnung Land und Volk trennen, fungiert der Kaiser als kulturelles Konzept, als Prinzip der Reform, welches die „Untrennbarkeit von Land und Volk“ wiederherstellt. Die treuen Samurai beim Sakuradamon, die die Worte des Kōmei-Kaisers93 erwiderten, waren „eine Linie des miyabi“. Ein entschlossenes Aufstehen für den Kaiser hätte, solange dies nicht dem kulturellen Muster widerspricht, erlaubt werden sollen, aber das Kaisersystem der Shōwa-Zeit, das an der politischen Form der westlichen konstitutionellen Monarchien Hier wird das akatsuki あか月 in dieser Schreibweise verwendet, sowohl in der 17-bändigen Ausgabe (kohon) als auch in der 20-bändigen Ausgabe (rufubon) des Masukagami findet sich jedoch die folgende, homophone Umschreibung: 暁がた, Dämmerung (vgl. http://www.j-texts.com/chusei/gun/ masukall.html. [30.09.2013]). Dieses Wortspiel, welches neben der Bedeutung von Dämmerung andererseits auf einen hell leuchtenden Mond hinweist, wenn die Zeichen als akatsuki 明月, heller Mond gedacht werden, findet sich bereits in Fujiwara no Teikas 藤原定家 (1162–1241) Shūigusō 拾遺愚草 aus dem 13. Jhr. (vgl. Akuzawa 2006. Zu den verschiedenen Ausgaben und Neueditionen des Masukagami, vgl. Siegmund 1978: 172f., Fußnote 75). 91 Kaiser Go-Uda 後宇多天皇 (1267–1324) wird als 91. japanischer Kaiser bezeichnet, dessen Regierungszeit sich über die Jahre 1274–1287 erstreckte (vgl. Hammitzsch 1990³: 1809f.). 92 Miyabi 雅 bedeutet Eleganz oder Geschmack und verweist auf Kunst und Ästhetik des Heian-zeitlichen (795–1185) Kaiserhofes, als die höfische Kultur in voller Blüte stand. So bedeutet gabun 雅文, „eleganter/ klassischer (Heian-zeitlicher) Stil“, gagen 雅言, „schöne/künstlerische/klassische Sprache“, gashu 雅趣 „feiner, ästhetischer Geschmack“ und besonders deutlich zeigt sich diese Verbindung bei gagaku 雅楽, „altjapanische Hofmusik“ (vgl. Shinmura 1998: 2578). 93 Ii Naosuke 井伊直弼 (1815–1860), der eine wichtige Position bei den Verhandlungen mit Commodore Perry für das bakufu 幕府 gespielt hatte und eine friedliche Einigung mit den Westmächten verfolgte, wurde im März 1860 von Anhängern seines erbitterten Gegners, des Kaiser Kōmei 孝明天皇 (Reg. 1847–1866), vor dem Sakura-Tor des Schlosses in Edo ermordet (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 3: 604f.). 90
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festhielt, hatte die Stärke für das Verständnis des miyabi beim Niniroku-Aufstand94 eingebüßt. Das Kaiser-System der Meiji-Verfassung bekannte sich zu einer Einheit von Religion und Staat (im kaiserlichen Edikt, welches im Oktober des ersten Jahres der Meiji-Zeit erlassen wurde und durch das der Hikawa-Schrein zum Schutzgott der Provinz Mushashi95 gemacht wurde, sind die Schriftzeichen der Einheit von Religion und Staat deutlich zu sehen – so der Gelehrte Nishitsunoi Masayoshi96 in „Zeremonien aus alter Zeit und Literatur“) und erfüllte damit die zeitliche Kontinuität, was aber nichts mit der räumlichen Kontinuität zu tun hatte, welche die Gefahr birgt, politische Unordnung zu verursachen. Mit anderen Worten hatte das Kaisersystem der Meiji-Zeit mit der Redefreiheit nichts zu tun. Der Kaiser als politisches Konzept brachte den Kaiser als freieres, umfassenderes, kulturelles Konzept in großem Umfang zum Opfer. Und das Kaisersystem, welches Japan als sogenannten „Kulturstaat“ in der Nachkriegszeit unter der Besatzung der USA gerade noch aufrechterhielt, entmachtete beide Seiten. Als Folge des Taishō-zeitlichen Erziehungssystems der Volksbeamten und kultivierten Menschen, musste sich das Kaisersystem von den Tendenzen der Massengesellschaft begleiten lassen und büßte seine Würde bis zum Zustand des sogenannten „Wochenmagazin-Kaisersystems“ ein. Die Wechselbeziehung zwischen Kaiser und Kultur verschwand und das Wiederaufleben und die These des Images des „Kaisers als kulturelles Konzept“ und des „Kaisers als Einiger der Ganzheitlichkeit der Kultur“ als beispiellose Ideen, die dem rechten und linken Totalitarismus widerstehen können, wurden nie versucht. Folglich geht einerseits die Ehrenhaftigkeit der Kultur verloren und die Reaktionäre hoffen andererseits auf ein Wiederaufleben des Kaisers als rein politischem Konzept. Dennoch lebt der Kaiser als Priester und Dichter innerhalb der Rituale des Ortes, an dem der heilige Spiegel verwahrt wird97 und der Zeremonien des Ortes, an dem die Gedichtkompilationen aufbewahrt werden.98 Die Tradition des Ortes, an dem die Kompilationen am Kaiserhof aufbewahrt werden, ist ein Beweis für die Existenz der kulturellen Gemeinschaft seit dem Man’yōshū; die Poesie wird vom Kaiser verwaltet und unabhängig 94
Am 26. Februar 1936 versuchten kaisertreue Offiziere beim später in Anlehnung an das Datum niniroku-jiken 二・二六事件 genannten Aufstand vergebens, eine „Shōwa-Restauration“ einzuleiten, die Japan nach dem Vorbild der Meiji-Restauration wieder unter direkte kaiserliche Herrschaft stellen sollte (vgl. Aoki 1992–1994, Bd. 5: 548f.; Shillony 1973; Bix 2000: 295–303). 95 Am Shintō-Schrein von Hikawa, hikawa jinsha 氷川神社, verkündete der Meiji-Kaiser 1868 die Einheit von Religion und Staat (vgl. Herbert 1967: 391; Aoki 1992–1994, Bd. 5: 962f.). 96 Das Werk Kodai saishi to bungaku 古代祭祀と文学 [Zeremonien der alten Zeit und Literatur] wurde 1966 von Nishitsunoi Masayoshi 西角井正慶 (1900–1970) veröffentlicht. 97 Kensho oder kashikodokoro 賢所 ist die Bezeichnung für das Heiligtum im Kaiserpalast, an dem der Spiegel, eine der drei japanischen Throninsignien aufbewahrt wird (vgl. Naumann 1996: 145–150). 98 Der Begriff utadokoro 歌所 ist im heutigen Japanisch nicht gebräuchlich, bei Morohashi findet sich unter diesem Eintrag jedoch ein Verweis auf wakadokoro 和歌所, womit seit Kaiser Murakami (Reg. 926–967) der Ort am Kaiserhof bezeichnet wird, an dem die Gedichtkompilationen verwaltet wurden (vgl. Morohashi 1984, Bd. 2: 970). Murakami gab die Zusammenstellung der Waka-Anthologie Gosen wakashu 後撰和歌集 in Auftrag (vgl. Kubota 2007: 137f.).
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vom persönlichen Talent und der Kultiviertheit des Kaisers fasst miyabi die Volksgedichte zusammen. Originalität wird in die Peripherie verschoben, Banalität glänzt im Kern. Indem die Volksgedichte am miyabi teilhaben, erstrecken sie sich am Fuße des Berges, dessen Gipfel das vom Kaiser verfasste Gedicht ist. Sie „schauen“ nicht nur der kulturellen Tradition des Landes zu, sondern nehmen durch das Gedichtschreiben an ihr teil und darüber hinaus kommt ihnen die Ehre zu, dass die kulturelle Kontinuität auf sie „zurückblickt“. Der sie verwaltende Kaiser ist, genau wie bei der feierlichen Errichtung des Ise-Schreins, der jetzt regierende Kaiser und gleichzeitig der erste Kaiser. Dies ist von den Geheimzeremonien Daijōsai und Niinamesai99 ausführlich überliefert. Das Kaisersystem als kulturelle Gemeinschaft, in der die gegenwärtige Existenz sowie der Ursprung der Kultur mit ihrem schöpferischen Handeln und ihrer Überlieferung auf diese Weise miteinander verbunden sind, scheint im Bewusstsein der Träger der modernen Kultur völlig ausgemerzt. Aber wir besitzen, außer der Anmut des Kaiserhauses, keine Norm für das wahrhaftige, exemplarische miyabi100 und die Ganzheitlichkeit der Kultur liegt nicht innerhalb der platten, gegensätzlichen Konzepte Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern nur innerhalb der dreidimensionalen Struktur von Freiheit und miyabi. Bis jetzt haben wir als Versform, die Chrysantheme und Schwert ganz einschließt, nichts außer den waka. Wie sich einst die monogatari aus den Einleitungen zu den waka entwickelten, sind die waka wie ein Grundstoff der japanischen Literatur und die übrigen Genres eine Ausdehnung dessen, eine, aus einer assoziativen Wirkung eines Abbildes von zusammenklingenden Wörtern bestehende, flüssige Zusammensetzung, die auch heute fast alle allgemeinen Methoden der Unbewusstheit in der japanischen Literatur bildet. Die moderne japanische Kultur ist eingeklemmt zwischen dem miyabi in den Gedichten des Kaiserhofes und der „Nachahmung des miyabi“ in den Gedichten des Volkes und sie ist wie eine dünne, wurzellose Wasserlinse. Das Aussterben der Traditionen bedeutet nichts anderes als das Aussterben des auf den ersten Blick banalen miyabi und ferner gibt es im modernen Japan überhaupt keine ästhetischen Theorien, die die Zeit wirklich repräsentierten wie yūgen, hana, wabi oder sabi101. Ohne einen absoluten Träger, nämlich den KaiAls daijōsai 大嘗祭 wird die erste Erntezeremonie nach der Thronbesteigung eines neuen Kaisers bezeichnet. Bei den folgenden, als niinamesai 新嘗祭 bekannten Zeremonien kostet der Kaiser jährlich am 23. November vom jungen Reis, den er bei der ersten Reispflanzung gesetzt hat und bietet diese auch der Sonnengöttin Amaterasu dar. In der Meiji-Zeit wurde dieses Ritual öffentlich veranstaltet, um eine Verbindung zwischen den Bürgern und dem göttlichen Kaiser herzustellen und somit die nationale Einheit zu forcieren (Huffman 1998: 74f.). 100 Der hier verwendete Ausdruck yūga 優雅 beinhaltet als zweites Lexem das Zeichen für miyabi, womit also nochmals explizit auf die Idee des miyabi hingewiesen wird. 101 Wabi 詫び und sabi 寂び werden häufig als „geschmackvolle Einfachheit“, yūgen 幽玄 als „unergründliche Tiefe“ übersetzt (vgl. Hisamatsu 1963: 107–112; Marra 2010: 27ff.). Miner beschreibt yūgen als „Mystery and depth. One of the most enduring but changing ideals in Japanese poetry and aesthetics. It was introduced positively by Fujiwara Shunzei, who associated it with sabi and a deep mysterious beauty accompanied by sadness or deprivation. In renga, nō, and haikai aesthetics, it comes to mean something more like beauty. Its earlier overtones were darker, more religious.“ (Miner 1985: 304). Wabi und sabi erfahren bei ihm folgende Definition: „[Wabi is] A feeling of powerlessness; 99
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ser, gerieten Dichtung und Politik entweder in vollkommen gegensätzliche Situationen oder endeten in einer Annexion des poetischen Territoriums durch die Politik. Dass der Kaiser die Quelle des miyabi ist und dass der höchste ästhetische Wert in miyabi liegt, zeigt die Tradition und, anders als die Meinung der Linken über die Massenkultur suggeriert, entspringt die Massenkultur Japans meist einer „Nachahmung des miyabi“. Die japanische Kultur jeglicher Zeitalter hat satellitenartige ästhetische Theorien wie yūgen, hana, wabi und sabi entstehen lassen, in deren Zentrum miyabi stand. Der gebärende Mutterleib jener originalen, neu geborenen Kultur ist die aristokratische, banale102 Kultur des miyabi, der Höhepunkt der Nicht-Originalität und der Kaiser ist die Schatzkammer103 der Vollendung des Klassizismus. Überdies liegt die Bedeutung des Kaisers darin, dass er als ästhetische Vollkommenheit und moralischer Ursprung die Orthodoxie besitzt, ständig ästhetische und moralische Explosionen anregen. Diese „selbstlose Monarchie“ war die freiheitsbeschränkende Kraft des Egoismus aller Zeitalter und gleichzeitig ein einschließendes Konzept. So übte Amaterasu Ōmikami durch ihr Verstecken hinter der Felstüre ästhetische und moralische Kritik, allerdings nicht durch ihre Autorität. Die ästhetische und moralische Abweichung von Hayasusanoo no mikoto wurde auf diese Weise von Amaterasu in Form von Selbstverneinung der Trauer kritisiert, aber es kam zu einer Versöhnung durch das schallende Gelächter der Kultur über (das Vulgärste von) Amenōzume no mikoto, die schließlich beim Bankett der Götter den Narren spielte.104 Hierin zeigt sich die grundlegende Erscheinungsform der japanischen Kultur. Gleichwohl gibt es Hayasusanoo no mikoto, den männlichen Gott, der sich einst nach der Mutter im
a sensation of great loneliness, or its cause; painfulness, shabbiness, wretched appearance“ (Miner 1985: 303) „[Sabi is] the desolation and beauty of loneliness; solitude, quiet. […] Some posit stillness as the basis, other deprivation and attrition. There is usually one or the other to a striking degree, but also the presence of an added element to intensify and qualify the experience.“ (Miner 1985: 295) Hana 花, die anmutige Darstellung des Schauspielers, welcher das Publikum immer wieder aufs Neue zu begeistern weiß, ist nach Zeami eine notwendige ästhetische Kategorie im Theater (vgl. Zeami 1975, insbes. 35ff.; 85–103). 102 Die Verwendung des Begriffs tsukinami 月並 in diesem Zusammenhang erinnert an Masaoka Shiki 正岡子規, den „Erneuerer der haiku“. Shiki bezeichnete mit diesem Terminus den haiku-Stil der Tokugawa-Zeit (vgl. Beichman 2002 [1982]: 18). 103 Der heutzutage nicht mehr gebräuchliche Begriff hiko 秘軍 bedeutet einerseits „Schatzkammer“, andererseits wird damit auch die Bibliothek der Regierung bezeichnet (vgl. Morohashi 1984, Bd. 8: 430). 104 Das rohe und ungestüme Verhalten des Sturmgottes Susanoo 須佐能乎 gipfelte darin, dass er einem Himmelsfohlen das Fell abzog und es so heftig von sich schleuderte, dass es durch das Dach des Palastes in die Räumlichkeiten schlug, in denen die Gewänder der Götter gewebt werden. Die Sonnengöttin Amaterasu verkroch sich in ihrem Gram über die Streiche ihres Bruders in eine Höhle und verdunkelte somit die Welt. Erst als die weibliche Gottheit Amenōzume no mikoto 天宇受売命 vor besagter Höhle einen obszönen Tanz vollführte, mit dem sie die umstehenden Götter zum Lachen brachte, wurde Amaterasu neugierig: Als sie aus der Höhle hervorlugte, lockten sie die Götter mit einer List aus dieser heraus und die Welt hatte das Sonnenlicht wieder. Susanoo wurde daraufhin aus dem Himmel verstoßen und nach Izumo verbannt (vgl. Chamberlain 1932: 64–67; Naumann 1996: 68–86).
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Übersetzung von Bunka bōeiron
Totenreich sehnte und der „so weinte, dass grüne Berge vertrockneten“105. Das Lachen der Chrysantheme und die Trauer des Schwertes werden bereits in diesen Göttergeschichten subsumiert. Hayasusanoo no mikoto wurde, nachdem er aus eigener Schuld verbannt wurde, zum Held. Dass der letztendlich moralische Ursprung des Aufruhrs und der Rebellion in Japan, der Gegenstand eben jenes Aufruhres und jener Rebellion die Sonnengöttin ist, wird von der Kultur gelehrt. Das ist nichts anderes als eben das Mysterium des Yata no kagami106. Welche Aufruhr, welche Vulgarität es in Bezug auf die Kultur geben mag, sie sind letztendlich in miyabi eingeschlossen und dort offenbart sich die Ganzheitlichkeit der Kultur vollständig und so kommt, und das ist ein Grundprinzip der japanischen Kulturgeschichte, der Kaiser als kulturelles Konzept zustande. Das ist die ewig in Nebel gehüllte Heimat des Adels, des Anmuts und der Banalität, welche auch Vulgarität einschließt. Weil der Ursprung, in dem der Ruhm von „Chrysantheme und Schwert“ sich endgültig vereinen, der Kaiser ist, muss vom Kaiser als kulturellem Konzept auch militärischer Ruhm ausgehen. Das scheint juristisch unter der gegenwärtigen Verfassung eine mögliche Methode zu sein, aber man muss das Wesen des Kaisers als ruhmreichem Souverän107 wiederherstellen und natürlich braucht der Kaiser ein Ehrengeleit und muss den Soldaten die Regimentsflagge direkt geben. Ich sage solche Dinge, weil ich bei einer Reise in Südostasien extreme Beispiele der Polarisierung und der Anpassung an Einheimisches des Kommunismus erfahren habe, beispielsweise, als die thailändische kommunistisch-patriotische Front108 nach einer Versammlung ein Loblied auf den König sang, um ihren Zusammenhalt zu verstärken oder wie darüber hinaus kommunistische Vertreter der Pathet Lao109, welche zwei Drittel von 105 Diese Textstelle, in der beschrieben wird, dass Susanoo so stark weinte, dass alles austrocknete, fin-
det sich sowohl im Kojiki 古事記 als auch im Nihonshoki 日本書紀. In Philippis englischer Übersetzung des Kojiki wird diese wie folgt wiedergegeben: „His weeping was such that it caused the verdant mountains to wither and all the rivers and seas to dry up.“ (Philippi 1969: 72). 106 Der Spiegel yata no kagami 八咫鏡 gehört neben den Krummjuwelen und dem Schwert zu den drei japanischen Reichsinsignien, die einst die Sonnengöttin Amaterasu ihrem Enkel reichte und die seitdem von Kaiser zu Kaiser weitergegeben werden (vgl. Naumann 1996: 150f.). Der heute nicht mehr verwendete Begriff higi 秘義 bezeichnet etwas mit Bedeutung Aufgeladenes, Mystisches (vgl. Morohashi 1984, Bd. 8: 429). 107 Der hier verwendete Begriff taiken 大権 verweist explizit auf die Regierungsgewalt des Kaisers gemäß der Meiji-Verfassung (vgl. Shinmura 1998: 1597). 108 Die Thai Patriotische Front ist eine Nachfolgeorganisation der thailändischen Unabhängigkeitsbewegung. 1965 begann diese den bewaffneten Kampf gegen das Militärregime von Ministerpräsident General Thanom Kittikachorn, welcher US-amerikanische Militärstützpunkte für den Kampf gegen Nordvietnam in Thailand genehmigt hatte (vgl. Ploetz 2008: 1752). 109 Unterstützt von Nordvietnam hatte die kommunistisch revolutionäre Bewegung Pathet Lao ab 1953 weite Teile Laos unter Kontrolle und stand den pro-westlichen Royalisten entgegen. Nachdem die Regierungsbeteiligung der Pathet Lao 1956 und 1962 aufgrund von Interventionen der USA nicht von langer Dauer waren, beteiligte sich die Pathet Lao maßgeblich am Bürgerkrieg gegen die von den USA unterstützte Regierung in Vientiane. Ab 1964 wurden die von den Pathet Lao kontrollierten Gebiete massiv von den USA bekriegt, um den Nachschubweg für die Vietcong zu unterbrechen (vgl.
Zur Verteidigung unserer Kultur
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Laos okkupiert, dem König mit unveränderter Ehre und Liebe huldigen. Durch eine Wendung des Schicksals könnte eine Nation, die mit einer erdrückenden Mehrheit das symbolische Kaisersystem unterstützt, gleichzeitig das Zustandekommen einer prokommunistischen Regierungsgewalt erlauben. Zu jenem Zeitpunkt könnte das Repräsentativsystem der Volkssouveränität sogar auf friedliche Weise eine „kommunistische Staatsform unter dem Kaisersystem“ zustande bringen. Die kommunistische oder prokommunistische Regierungsgewalt steht im Gegensatz zum Konzept der Redefreiheit und vernichtet die Kontinuität der Kultur und beschädigt deren Ganzheitlichkeit und – dies muss nun nicht noch einmal gesagt werden – für den Kaiser als kulturelles Konzept gibt es nur zwei Arten des Schicksals: mit der Kultur110 zusammenzubrechen und als durchtriebenstes politisches Symbol benutzt zu werden, oder so benutzt und dann weggeworfen zu werden. Um einen solchen Zustand zu verhindern, ist es eine dringliche Angelegenheit, den Kaiser und die Armee durch die Bande der Ehre aneinander zu knüpfen, eine andere, sichere Präventivmaßnahme gibt es nicht. Natürlich bedeutet die Wiederherstellung des Kaisers als ruhmreichem Souverän kein Wiederaufleben des Kaisers als politisches Konzept, sondern sie muss auf ein Wiederaufleben des Kaisers als kulturelles Konzept drängen. Weil der Kaiser als Repräsentant der Ganzheitlichkeit der Kultur die Vollendung des „Wert an sich“ ist, ist es für Japan und die japanische Kultur eine wahrhaftige Krise, wenn der Kaiser verneint oder in das politische Konzept des Totalitarismus eingeschlossen wird. 5. Mai 1968 Ersterscheinung in der Zeitschrift Chūōkōron, Juli 1968 Erste Publikation in Buchform bei Shinchōsha, April 1969
110
Stuart-Fox 2001: 232; Schneider 2001: 39–87; Ploetz 2008: 1755f.). Zasloff unternimmt den Versuch einer Darstellung der Dynamiken und Zusammenhänge der Organisation in dem für den Text relevanten Zeitraum (vgl. Zasloff 1973). Es kann nicht eindeutig gesagt werden, worauf sich diesem/dieser/diesen kore これ hier bezieht, der Kontext weist allerdings auf den Bezug zu Kultur hin.
VII Anhang
Abkürzungsverzeichnis AU BB BBA EK HBK HNY HS KK NW TSU Y
Akushin no uta Bunka bōeiron Bunka bōeiron atogaki Eirei no koe Hashikawa Bunzō-shi e no kōkaijō Hagakure nyūmon Hankakumei sengen Eiyo no kizuna de tsunage kiku to katana Ni ni roku jiken to watakushi Tsuburaya-nii no jijin Yūkoku
Die bibliographischen Angaben sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.
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Anhang
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