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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Knut Backhaus
Der sprechende Gott Gesammelte Studien zum Hebräerbrief
Mohr Siebeck
KNUT BACKHAUS, geboren 1960; 1989 Promotion; 1994 Habilitation; 1994–2003 Ordentlicher Professor der Exegese des Neuen Testaments an der Theologischen Fakultät Paderborn; seit 2003 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Exegese und biblische Hermeneutik an der Kath.-Theol. Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
e-ISBN PDF 978-3-16-151529-3 ISBN 978-3-16-150027-5 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Dieser Band vereinigt dreizehn Beiträge zur Hebräerbrief-Exegese. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Gottesbild und, davon nicht zu trennen, der Christologie, auf der intertextuellen Gewinnung und symbolsprachlichen Entwicklung biblischer Aussageweisen, dem Verhältnis zwischen Israel und der Kirche, der Hoffnungs- und Angstgeschichte des Urchristentums und der ethischen Grundlegung kirchlicher Identität. Den roten Faden zwischen diesen unterschiedlichen Themenfeldern zeichnet der Hebräerbrief selbst in seinem ersten Satz: Der Gott Israels, der in der Verheißungsgeschichte stets durch sein Wort gegenwärtig ist, hat sich endgültig in Jesus Christus mitgeteilt und durch das personale Drama dieser Offenbarung die Ordnung der Welt und die Existenz der Glaubenden verwandelt. Alles, was der Auctor ad Hebraeos sonst noch sagt, dient dazu, diesen Satz konkreter zu sagen. Eben dies versuchen – mit den Mitteln historisch verantworteter Exegese – auch die Beiträge dieses Bandes. Daraus erklärt sich sein Titel. Die Aufsätze wurden durchgesehen, formal vereinheitlicht und in einzelnen Fällen geringfügig verändert. Mein erster Dank gilt Dipl.-Theol. Andrea Häring, M.A., die die Studien gesammelt, formatiert und mit geduldiger Gründlichkeit für den Druck aufbereitet hat. Die Register wurden von Dipl.-Theol. Monika Betz erstellt. An den Korrekturarbeiten haben sich Sr. Dr. phil. Igna Kramp CJ, cand. theol. Robert Mucha, cand. phil. Katharina Schlagbauer, Dipl.-Theol. fr. Willibald Schneider OSB und vor allem cand. theol. Maria Lang beteiligt. Für die wichtige Unterstützung im Sekretariat des Lehrstuhls danke ich Frau Barbara Steinberger. Frau Tanja Mix vom Verlag Mohr Siebeck hat die Herstellung sachkundig begleitet. Herrn Kollegen Jörg Frey danke ich nicht nur für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der WUNT, sondern auch für das gute ökumenische Miteinander in München. Über die sachliche Verbindung zwischen den Studien und ihren perspektivischen Platz in der Hebr-Forschung informiert der hinführende Beitrag. Für mich markiert der Sammelband den Abschied aus diesem Feld der gegenwärtigen Exegese. Den ältesten Aufsatz habe ich 1993 im Rahmen meiner Habilitation geschrieben; der jüngste ist als Main Paper zum Jahreskongress der Studiorum Novi Testamenti Societas 2008 in Lund entstanden. Ungefähr zeitgleich mit diesem Band erscheint mein Hebr-
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Vorwort
Kommentar im Regensburger Neuen Testament. So wird es Zeit, meinen exegetischen Schwerpunkt zu verlagern. Der Hebr-Forschung werde ich unmittelbar nur in einigen Besprechungen und vermittelnden Artikeln verbunden bleiben, als sehr interessierter Beobachter freilich darüber hinaus – mitunter gewiss nicht ohne ein wenig „exegetisches Heimweh“. Abschiedliche Stimmungen wecken das Gespür für das Einmalige, den inneren Reichtum, das Chancenpotential einer Beziehung. Auch literarische Begegnungen sind Beziehungen. Ich wünschte mir, dass durch das spröde Medium einer historischen Texterschließung denen, die lesend an ihr teilnehmen, etwas von der kantigen Schönheit jenes intellektuellen Durchbruchs zum „Himmel“ wahrnehmbar würde, den wir „Hebräerbrief“ nennen.
München, den 21. Mai 2009
Knut Backhaus
Inhalt Vorwort...................................................................................................... V
Der Hebräerbrief: Potential und Profil Eine Hinführung ......................................................................................... 1 Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule ............................................ 21 Per Christum in Deum Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief............... 49 „Licht vom Licht“ Die Präexistenz Christi im Hebräerbrief ................................................... 77 Gott als Psalmist Ps 2 im Hebräerbrief ............................................................................... 101 Zwei harte Knoten Todes- und Gerichtsangst im Hebräerbrief ............................................. 131 Das Bundesmotiv in der frühkirchlichen Schwellenzeit Hebräerbrief, Barnabasbrief, Dialogus cum Tryphone ............................ 153 Das Land der Verheißung Die Heimat der Glaubenden im Hebräerbrief.......................................... 175 Das wandernde Gottesvolk – am Scheideweg Der Hebräerbrief und Israel .................................................................... 195 Auf Ehre und Gewissen! Die Ethik des Hebräerbriefs .................................................................... 215
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Inhalt
Kult und Kreuz Zur frühchristlichen Dynamik ihrer theologischen Beziehung................ 239 Zermürbung und Zuversicht Otto Kuss als Ausleger des Hebräerbriefs............................................... 263 Aufbruch ins Evangelium Unruhe als urchristliches Existential....................................................... 287
English Summaries ................................................................................. 301 Nachweis der Erstveröffentlichungen ..................................................... 309 Stellenregister ......................................................................................... 311 Autorenregister ....................................................................................... 333 Sachregister ............................................................................................ 339
Der Hebräerbrief: Potential und Profil Eine Hinführung De Epistola ad Hebraeos. Es ist ein schone epistola. Er hat ein hohen geist gehabt, ders gemacht hat. MARTIN LUTHER1
1. „Fremdling und Beisasse“ – Über die Chancen einer Kontrastschrift Fremdlinge und Beisassen sind für den Hebräerbrief die Glaubenden. Sie wandern irdisch heimatlos als Nomaden durch die Erdenwelt, nicht aufgrund eines unglücklichen Geschicks, sondern dem „Bekenntnis“ (o`mologh,santej) nach, das sie eine grundlegend andere Sicht auf die Wirklichkeit werfen lässt als die Mehrheitsgesellschaft (vgl. 11,13). Ein Fremdling und Beisasse, ein „kognitiver Gastarbeiter“, ist auch der Hebräerbrief selbst im christlichen Kanon geblieben. Eigentliche Heimat scheint er zwischen der paulinischen Korrespondenz, der erzählenden Literatur und dem johanneischen Entwurf kaum gefunden zu haben. Im Neuen Testament ist nur die Johannes-Apokalypse ähnlich umstritten. Sie verkörpert in ihrer Weltwahrnehmung, theologischen Urteilsbildung und eidetischen Darstellungsform geradezu das Gegenteil des im Hebräerbrief herrschenden Denkstils. Und doch ist sie ihm in der Grundoption überraschend verwandt. Der Aufruf, aus der Stadt zu ziehen (Offb 18,4), und der, das Lager zu verlassen (Hebr 13,13), stehen für eine Integrationsverweigerung, die auf eigene Weise auch in der kirchlichen Kultur wirksam geworden ist, und dies bis zum heutigen Tag: Integriert sind beide Schriften nicht einmal im Christentum. Die Reaktionen ähneln sich von der exegetischen Fußnote bis zur Verwunderung im Gemeindehaus. Das gewollte Außenseitertum löst Befremden aus. Gegenüber der Johannes-Apokalypse ist es fasziniertes, gegenüber dem Hebräerbrief irritiertes Befremden. 1
WA. Tischreden 5, n. 5973.
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Der Hebräerbrief: Potential und Profil
Vielleicht liegt die erstaunlichste Wirkung dieser beiden Schriften darin, dass sie überhaupt in den kirchlichen Kanon gelangt sind. Die Johannes-Apokalypse in ihrer widerständigen Aggression traf auf den Widerstand der herrschenden Kreise in Kirche und Welt. Sie eroberte zuerst die Herzen der Opfer. Letztlich waren es die Martyrer, die – zunächst im Westen, nach langem Zögern auch im herrscherfreundlichen Osten – die kanonische Würdigung durchsetzten. Bei allem Misstrauen, das die Theologen (mit guten Sachgründen) gegen sie hegten, hat ihre symbolsprachliche Prägung ihr dann jedoch eine Breitenwirkung verliehen, die von der Kirchenarchitektur bis zum Gruppenethos, von der Herrschaftspräsentation bis zum Widerstandsflugblatt reicht. Vermutlich ist die Johannes-Apokalypse, die sich entschieden der gesellschaftlichen wie kirchlichen Mehrheitskultur verweigert, diejenige Schrift des Neuen Testaments, die die Kultur des Mittelalters wie der Neuzeit am eindrücklichsten inspiriert hat. Das Echo hallt bis in Literatur und Kino der Gegenwart. Gerade weil sie „so ganz anders“ ist, wird die Johannes-Offenbarung zum Signum des „ganz Andren“. Sie öffnet befreiende Gegenwelten, wird zum literarischen Ort der urchristlichen Kontrastwirklichkeit. Ihr Außenseitertum dient erkennbar der perspektivischen Weitung. Die Johannes-Offenbarung gehört, auf das Ganze gesehen, als affektive Kontrastschrift in die Hoffnungs- und Sehnsuchtsgeschichte des Glaubens. Der Hebräerbrief hat sich eher in dessen Angstgeschichte eingeschrieben. Irgendwelche Kontraste setzt offenkundig auch er, aber welche und zu welchem Nutzen, das blieb umstritten. Auch seiner Kanonisierung stemmte sich ernster Widerstand entgegen. Die „Kirche von unten“ fand an diesem Schreiben kaum Interesse: Es fällt schwer, sich die Martyrer von Lyon beim Studium des lo,goj te,leioj vorzustellen. Wenn es bei der JohannesApokalypse die Hoffnung der Opfer war, die der Schrift ihren kanonischen Adel gesichert hat, so war es beim Hebräerbrief die Hoffnungslosigkeit der Sünder, die diesen in Frage stellte. In seinem Fall empfand die westliche Kirche, die sich mit den rigorosen Bußverweigerern auseinandersetzen musste, das Schreiben, das die zweite Umkehr zu verweigern schien, als gefährlich, während auf der anderen Seite der Osten, der seiner Hoheitschristologie Achtung zollte, es früh zu schätzen begann. Im 39. Osterfestbrief des Athanasius, der den Osten wie den Westen kennen zu lernen gleichermaßen Gelegenheit hatte, fanden beide Schriften zusammen. Pointiert gesagt: Sie sind das kanonische Ergebnis eines theologischen Austauschs. Und doch sind die Christen, auf das Ganze gesehen, mit dieser Art von Kontrastschrift niemals recht glücklich geworden. Die Allianzen, auf die wir in diesem Band treffen werden, vermögen unser Misstrauen kaum zu zerstreuen: Der rigorose Tertullian schätzt seine „Bußlehre“. Der Hexenhammer zitiert 10,29 mit sublimer Lust. Der, wenn ich recht sehe, litera-
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risch am eindrucksvollsten rezipierte Vers unseres Schreibens lautet: „Schauderhaft ist es, hineinzustürzen in die Hände des lebendigen Gottes!“ (10,31). Dem neuzeitlichen Antijudaismus ist vor allem 8,13 brauchbar. Über Justin den Martyrer wird die Bundestheologie des Hebräerbriefs, gegen ihre eigene Sinnrichtung, zum biblischen Paradefall für die Deutungsfigur einer heilsgeschichtlichen Substitution Israels durch die Kirche. Zudem bleibt die ohnehin erst spät durchgefochtene Annahme, der Brief stamme von Paulus, niemals ganz unverdächtig. Ein selbstbewusster urchristlicher Hellenismus vor, neben und nach Paulus gilt nicht als erfreulicher Ausweis pluralen Urchristentums, sondern als eine Art Abfall vom apostolischen Ursprung oder vom reinen Evangelium. Noch Kardinal Cajetan (1469–1534) bezweifelt das kanonische Recht des Hebräerbriefs. Luther sieht in ihm „Holtz, Stro oder Hew mit unter gemenget“ und versetzt ihn von den „Apostolischen Episteln“ missbilligend mit den Briefen des Jakobus und Judas zur Johannes-Apokalypse ans Kanonende.2 In der lutherischen Theologie wird noch eine Zeitlang darüber nachgedacht, den Brief unter die Apokryphen zu zählen. Im katholischen Bereich wird die Herkunft vom Apostel Paulus bis ins 20. Jahrhundert hinein amtlich dekretiert. Auf solche Weise lässt sich das Schreiben kaum anders denn als eine Abrechnung des Apostels mit seiner jüdischen Herkunftsreligion lesen. Geglaubt hat dies (das illustriert Aufsatz 12) zuletzt kein ernsthafter Ausleger mehr: Die gehorsam bejahte Autorenschaft des Paulus nimmt in den Kommentaren tragikomische Züge an. Zwischen Missverständnissen und Etikettenfragen blieben die theologischen Energien dieses Vordenkers ungenutzt. Es versteht sich, dass die Aufklärungstheologie von Anfang an dem, was sie als müßige Spekulation versteht, allenfalls Verachtung zollt. Wie im katholischen Raum die erzwungene Paulus-Nähe die Rezeption lähmt, so in der protestantischen Exegese der künstliche Abstand zur paulinischen Rechtfertigungslehre. Rudolf Bultmann hat in seiner „Theologie des Neuen Testaments“ für die Gesetzlichkeit dieses Esoterikers kaum mehr als ein missbilligendes Kopfschütteln übrig. Dies verlagert sich in der aktuellen Theologie und Verkündigung auf ein gleichgültiges Schulterzucken. Es verrät viel über den Stellenwert der Exegese als theologisches Grundlagenfach, wenn die vorzügliche Erschließungsarbeit der beiden letzten Jahrzehnte3 daran kaum 2
Vorrede auff die Epistel: an die Ebreer (1546), WA. Deutsche Bibel 7, 345. Allein das Spektrum der Kommentare dürfte nach perspektivischer Weite und sachlicher Tiefe für kein anderes neutestamentliches Buch ähnlich günstige Ausgangsbedingungen bieten. Genannt seien hier nur die jüngeren opera magna von H.W. ATTRIDGE (1989; Hermeneia); E. GRÄSSER (3 Bde., 1990–1997; EKK); H.-F. WEISS (1991; KEK); W.L. LANE (2 Bde., 1991; WBC); P. ELLINGWORTH (1992/2000; NIGTC); D.A. DESILVA (2000); C.R. KOESTER (2001; AncB); M. KARRER (2 Bde., 2002–2008; ÖTBK); L.T. JOHNSON (2006; NTLi); J.W. THOMPSON (2008; Paideia). 3
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Der Hebräerbrief: Potential und Profil
etwas geändert hat. Die Johannes-Offenbarung ist fremd, der Hebräerbrief befremdlich. Das Fremde zieht an, das Befremdliche langweilt. Dies ist nicht ohne theologische Tragik. Denn sosehr der Auctor ad Hebraeos den sozialen Exodus der Christen forciert, so ist ihm doch gerade das Exodus-Volk als Ganzes im Blick. Dabei entwickelt er, zumal im Vergleich mit dem Seher Johannes, ein deutlich sensibleres Gespür für eine lebbare christliche Alternativkultur. An seinem Ursprung war der Hebräerbrief, dies wird uns immer wieder vor Augen treten, alles andere als ein Außenseiter – so wenig wie es Philo im Judentum war, mag auch die Ungunst der Überlieferung heute ein anderes Bild zeichnen. Der Hebräerbrief stellt sich gezielt in die verheißungsgeschichtliche Einheit der ecclesia ab Abel; er stellt sich in das Kontinuum der urchristlichen Verkündigung; er pflegt rege Kommunikation mit dem benachbarten urkirchlichen Milieu; er knüpft auf einem vergleichsweise hohen Bildungsniveau an die zeitgenössische Mentalität an; er versucht die großen Strömungen der jüdischen Theozentrik, der platonisierenden Philosophie seiner Zeit und der urchristlichen Christus-Homologia zusammenzuschauen und zusammenzudenken. Kein Außenseiter ist er, sondern Grenzgänger. Nicht zuletzt dieses integrative Potential unseres Schreibens ist es, das dazu führt, dass seine eigentliche Wirkungskarriere sublim und oft jenseits der Auslegungsgeschichte verläuft. Mag der Hebräerbrief als solcher eher fremd geblieben sein, so wurden viele seiner Denkansätze doch so selbstverständlich zu allgemeinchristlichem Gut, dass es weithin nicht bewusst wird, wie sehr sie sich dem „spekulativen Kopf“ verdanken. Das gilt zweifellos zunächst für die Christologie, die gerade in ihrer konzeptionellen Spannung zwischen dem Humanum und dem Divinum Jesu Christi die frühkirchlichen Konzilien außerordentlich befruchtet hat.4 Dies gilt, was nicht immer gesehen wird, auch für die reformatorische Entdeckung der Glaubensgerechtigkeit. Im Reformationsjahr las Luther im Wittenberger Kolleg den Hebräerbrief. Wie viel er ihm, ungeachtet aller Skepsis, denn in der agnitio Christi, quae est fides5 doch verdankt, geht aus der Vorrede in der Übersetzung des Neuen Testaments ebenso hervor wie aus gelegentlichen Bemerkungen bei den Tischreden: „Es ist kein buch in scriptura, in 4 Einen Einblick in die Auslegung der alten Kirche von Origenes bis Nestorius gewährt R.A. GREER, The Captain of Our Salvation. A Study in the Patristic Exegesis of Hebrews, BGBE 15, Tübingen 1973. Hilfreich ist neuerdings der patrologische Kommentar von E.M. Heen/P.D.W. Krey (Hg.), Hebrews, Ancient Christian Commentary on Scripture, NT 10, Downers Grove, Ill. 2005. Die mittelalterliche und neuzeitlich-katholische Auslegung des Hebräerbriefs ist leider noch nicht aufgearbeitet; vgl. allenfalls E. RIGGENBACH, Die ältesten lateinischen Kommentare zum Hebräerbrief. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese und zur Literaturgeschichte des Mittelalters, FGNK 8/1, Leipzig 1907. 5 WA. Tischreden 3, n. 2881.
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quo tam egregie [de-]scribitur sacerdotium Christi ut in epistola ad Ebraeos. Consolatur autem maxime pios Christi sacerdotium, das er ein pfaff ist; non item, quod rex est, quae semper animi cogitant eum iudicem esse“6. Noch weiter geht Jean Calvin. Er wehrt sich – Luther durchaus im Blick – entschieden gegen jede Hintansetzung des Hebräerbriefs: Seinem Inhalt nach ist der Hebräerbrief fraglos apostolisch. Sein exegetischer, soteriologischer und heilsgeschichtlicher Impetus sprechen für sich, „weshalb wir es nicht ertragen, dass die Kirche Gottes und wir selbst eines solchen hohen Gutes beraubt sein sollten“7. Dass gerade die reformierte Tradition mit ihrer Option für die Einheit der Bundesschlüsse den Hebräerbrief schätzt, weist denn doch auf ein Kapitel wachsamer Auslegungsgeschichte. Nachhaltiger noch wirkt das Schreiben ausgerechnet auf der (im tieferen Sinn) vor-theologischen Ebene der Glaubenssprache. Viele seiner Metaphern und Bewegungsbilder haben, losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext, ihre eigene Kraft in der figurativen Erfassung und Darstellung der christlichen Grunderfahrung entfaltet: der Hoffnungsanker, das wandernde Gottesvolk, das Erdenexil, die Wüste und das Land der Verheißung, das schwertgleiche, lebendige Gotteswort, das Finale am himmlischen Gottesberg. Die Jenseitsbilder sind vornehmlich in das evangelische Liedgut eingegangen,8 die Kultmetaphern in die katholische Liturgie, vor allem in das Stundengebet. Es ist ein gutes Zeichen für die bildschöpferische Phantasie eines scheinbar spröden Theologen, wenn seine Rezeption am ehesten im Bereich der Poesie gelingt. Es gibt noch manches zu entdecken, viel exegetisch Entdecktes, das theologisch unbeachtet blieb: – die stringente Entfaltung des christlichen Sinnsystems unter den personal denotierten Gesichtspunkten von Offenbarung und Erlösung; – die im christologischen Drama fundierte entschiedene Personalisierung traditioneller religiöser Themenfelder: Gottesbild, Heilige Schrift, Kult, Opfer, Heil, Ethos; – die „hellenistische“, präziser: mittelplatonisch inspirierte Denkform, die im Zeichen des christologischen Monotheismus eine kulturelle Synthese ermöglicht, wie sie in eigener Weite das Buch der Weisheit, Philo oder Plutarch geleistet haben; 6 WA. Tischreden 1, n. 727; vgl. WA. Tischreden 1, n. 436; 2, n. 1679; 5, n. 5973. Vgl. auch H. FELD, Martin Luthers und Wendelin Steinbachs Vorlesungen über den Hebräerbrief. Eine Studie zur Geschichte der neutestamentlichen Exegese und Theologie, VIEG 62, Wiesbaden 1971; K. HAGEN, A Theology of Testament in the Young Luther. The Lectures on Hebrews, SMRT 12, Leiden 1974; DERS., Hebrews Commenting from Erasmus to Bèze 1516–1598, BGBE 23, Tübingen 1981. 7 Commentarius in Epistolam ad Hebraeos, in: Opera Omnia II/19, Genf 1996, 11. 8 Einen ersten Überblick bietet E. GRÄSSER, Hebr I, 37f.
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– der wache Sinn für Transzendenz, der die Welt durchschaut, aber nicht hinter sich lässt, und der in sehr verschiedenen Umläufen den „Himmel“ sehen lässt, obschon er doch realistisch weiß, dass das Einzige, was wir vom Himmel jetzt schon sehen, der Gekreuzigte ist (2,9); – die schöpferische Hermeneutik, die von einer christologisch klar definierten Verstehensmitte aus theozentrische Gehversuche in den heiligen Schriften einer „anderen Religion“ unternimmt, ohne diese polemisch herabzusetzen, und dies mit einem wachen, wiederum im Transzendenz-Sinn verankerten, Bewusstsein für die einende Verheißung über allem, was Menschen auf Erden trennt; – die glaubensästhetische Kunst, mit der, auch über das himmlischirdische Kultdrama hinaus, in immer neuen Anläufen Heil ansichtig wird, ohne dass das eigentliche Drama, der Alltag, verharmlost wird; – der sozialethische Impuls, den Hebr zur zweiten Sozialisation, zum Werden der Kirche beisteuert, sehr viel „praxisbezogener“, als man ihm zutrauen mag; – die in der Schwellenphase der Frühkirche ungewöhnliche Offenheit für christliche Paideia, für eine rhetorische Kunst, angelehnt an die deliberative Redeform, die auf eine im Ansatz demokratische Überzeugungskultur zielt; – überhaupt der Optimismus, mit dem der Auctor ad Hebraeos Intellektualität zur Bewältigung einer kirchlichen Lebenskrise einsetzt.9 Es liegt einige Ironie darin, dass die neuzeitliche Theologie diesen Denker nicht zu schätzen weiß, gerade weil er die Hohlheit all der Alternativen, die ihr wichtig sind („griechisches“ oder „biblisches“ Denken? „Apokalyptik“ oder „Hellenismus“? perfektische, präsentische oder futurische Eschatologie? vertikales Raum- oder lineares Zeit-Konzept? Schrifttheologie oder Metaphysik? Theozentrik oder Christologie? hoheitliches oder kenotisches Christus-Bild? Israel oder neuer Bund? Wort-Theologie oder Kultsymbolik? Wahrheitsdiskurs oder Glaubenspoesie? Mythos oder Logos? Gnaden- oder Angstbotschaft? Indikativ oder Imperativ? Transzendenzorientierung oder Alltagsethos?) als Theologe durchschaut, konzeptionelle Grenzen unterläuft und überquert, Wahrheit perspektivisch umschreitet.10 Der Auctor ad Hebraeos ist ein Modellfall mehrdimensionalen, 9 Gräßers hellsichtige Bemerkung wird mit Recht oft zitiert: „Geschärfte theologische Denkanstrengung wird eingesetzt als Waffe gegen den kirchlichen Niedergang. Bessere Theologie und nichts als bessere Theologie! Ein denk-würdiger Versuch, der seine Wirkungsgeschichte immer wieder neu vor sich hat“ (Hebr I, 27). 10 Solches nahezu postmodern anmutende Wahrheitsspiel veranlasst einen nachdenklichen Beobachter dazu, Hebr denkerische Inkonsistenz vorzuwerfen: A.J.M. WEDDERBURN, Sawing off the Branches: Theologizing Dangerously Ad Hebraeos, JThS 56, 2005, 393–414; zur Diskussion dieses Eindrucks s.u. Aufsatz 6.
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integrativen Denkens im Christentum. Gerade dort wirkt er wie fremd, wo er als Pionier wirkt. Die platonisierende Weltwahrnehmung, das polymythische Wahrheitsspiel und das Pathos deliberativer Rede haben dem Hebräerbrief in der jüngeren Theologie manche Sympathie geraubt. Gerade hier freilich ist er der Intellektualität seiner eigenen Zeit so tief verbunden wie keine andere neutestamentliche Schrift. Die Königsaufgabe historischer Kritik liegt darin, die eigenen Sinnanliegen des Lesers (zunächst) von denen der studierten Schrift zu unterscheiden. Um den Hebräerbrief mit seinem eigenen Geltungsanspruch zu verstehen, müssen wir von der modernen Diesseitsfreude zu seiner Transzendenzwahrnehmung vordringen, von der diskursiven Eindeutigkeit zur Mehrdimensionalität symbolsprachlicher Welterschließung und vom neuzeitlichen Pathos der Wahrhaftigkeit zur antiken Wahrhaftigkeit des Pathos. Vielleicht kann das scheinbar so querköpfige Schreiben auf solche Weise dann, auch darin am Ende der Johannes-Apokalypse vergleichbar, uns allzu selbstverständliche Seh- und Denkgewohnheiten zu überqueren helfen. In jedem Fall wird so ein wichtiger Zeuge für die Pluralität urchristlicher Theologie erkennbar. Ohne ihn würde im breiten Spektrum neutestamentlicher Sinnentwürfe ein wichtiges Moment fehlen: das intellektuelle. Ist die Johannes-Offenbarung die affektive Kontrastschrift im Neuen Testament, so setzt der Hebräerbrief einen glaubensrationalen Gegenpol. Darin liegen seine Stärken und darin manche seiner (auch pathetischen) Schwächen. Albert Schweitzer hat den Apostel Paulus den „Schutzheiligen des Denkens im Christentum“ genannt.11 Dies trifft gewiss für die existentielle Wucht und die denkerische Leidenschaft dieses homo religiosus zu. Aber ein Theologe im strengen Wortsinn ist dieser bewusste Offenbarungsträger nie gewesen. Der Auctor ad Hebraeos „hat“ keine Offenbarung, er blickt stattdessen nachdenklich auf den „sprechenden Gott“. Diesen qeo.j lalh,saj legt er aus, in der eigenen, durchdachten und gepflegten Sprache, auf der denkerischen Höhe seiner Zeit. Es ist an unserer Zeit, ihn neu zu entdecken: wenn schon nicht als Schutzpatron der Theologen, so doch als Pionier ihrer Zunft.
11 A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus (1930), UTB 1091, Tübingen 1981, 366.
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2. Die Aufsätze dieses Bandes Die vorliegenden Beiträge zur Hebr-Forschung wollen Einblicke in diese frühe Arbeit am Logos geben. Sie entwerfen kein Gesamtbild. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, wie sich mir der historische Ort, die literarische Gestalt, die wissenssoziale Herausforderung und die theologische Leistung des Hebr insgesamt derzeit darstellt.12 Für das Verständnis der folgenden Studien ist ein solches Gesamtbild nicht notwendig: Sie leiten sich nicht daraus ab, sondern sind auf dem Weg dorthin. Gleichwohl zeigen sich, so unterschiedlich die jeweils verfolgten Sachfragen auch sein mögen, sachliche Verbindungslinien. Diese betreffen vor allem (a) die textpragmatische Frage unter Einschluss des Adressatenproblems, (b) den religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergrund, (c) die Fortentwicklung des historisch-kritischen Methodenverbunds. a) Die alte Vexierfrage „juden- oder heidenchristlich?“ sollte die HebrExegese ganz hinter sich lassen, wie Hebr selbst sie hinter sich gelassen hat. Gewiss ist das Judentum des ersten Jahrhunderts vielfältiger, als es das von der tannaitischen Erneuerung geprägte Bild heute zu sehen erlaubt. Aber wer so von der Tora handelt wie Hebr vom Nomos, hat das kognitive Zentrum der Selbstdefinition entscheidend verlagert. Wohin er es verlagert hat, verrät bereits der erste Satz. Nicht einmal ein Ringen um die Tora als Signifikanzmaßstab, wie bei Paulus, wird noch spürbar. Der Unterschied zwischen heiden- und judenchristlicher Herkunft ist schlechterdings ohne Bedeutung. Nicht die Beschneidung, sondern – in der Sprache der Heidenmission – der „Glaube an Gott“ und die „Abkehr von toten Werken“ gehören zur „Anfangsunterweisung über Christus“ (vgl. 6,1–3). Die Annahme, Heidenchristen hätten keine derartigen Schriftkenntnisse besessen, unterschätzt die biblische Bildung von Urchristen mit paganem Kulturhintergrund. Der Blick etwa auf Justins Dialogus cum Tryphone oder den Barnabasbrief belehrt hier eines Besseren. Trifft unsere in Aufsatz 2 entwickelte These zu, dass Hebr in die Geschichte einer stadtrömischen Teilgemeinde gehört, so müssen wir nach dem Claudius-Edikt ohnehin mit einem geringeren Anteil jüdischer Christen rechnen. Entscheidend ist freilich das Selbstverständnis, das sich in Hebr zur Geltung bringt und sich mit der ethnischen Herkunft nicht unbedingt decken muss. Von den beiden Elementen des covenantal nomism13 bleibt vom nomism als identitätsstiftender Strukturbeschreibung in Hebr nichts und vom covenant Christi Heilstat übrig. 12 Vgl. den Einleitungsteil meines Kommentars im Regensburger Neuen Testament: Der Hebräerbrief, Regensburg 2009; ferner K. BACKHAUS, Der Neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA 29, Münster 1996, 42–72. 13 Zu diesem systematisierenden Beschreibungsmodell von E.P. SANDERS (Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977) vgl. die um-
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Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass ich die in der englischsprachigen Exegese dominierende relapse-Theorie – Hebr zielt mit seiner Kulttheologie darauf, seine Adressaten vom „Rückfall“ in das Judentum abzuhalten oder deren „Kultnostalgie“ eine Alternative zu bieten – nicht für triftig halte. Eine Verbindungslinie zwischen den verschiedenen Aufsätzen liegt darin, dass Hebr auf die Orientierung und Selbstaffirmation der christlichen Gemeinde in einer für die Schwellenphase einer kognitiven Minorität charakteristischen Identitätskrise zielt. Unter Voraussetzung der stadtrömischen Adresse lässt sich diese Krise hypothetisch konkreter verorten, und zwar entweder in der Ausgrenzungserfahrung im Umfeld des ClaudiusEdikts und der prekären Situation kurz vor der neronischen Verfolgung, also Anfang der sechziger Jahre, oder in der von Minderheiten als repressiv empfundenen Phase unter Domitian (zu unterscheiden von dem Konstrukt einer domitianischen „Christenverfolgung“), also in den achtziger oder frühen neunziger Jahren des ersten Jahrhunderts. Das zweite Szenario scheint mir dem Textbefund insgesamt deutlicher zu entsprechen. b) Komplexer zeigt sich die religionsgeschichtliche Frage, die sich in dem herkömmlichen Gegensatz „Gnosis vs. Judentum“ bzw. in dessen jüngerer Variante „Mittelplatonismus vs. frühjüdische Apokalyptik“ nicht sachgerecht abbilden lässt. Nicht mit alternativen Denkblöcken ist hier zu rechnen, sondern mit vielfältigen, wechselseitigen Einflüssen. Die für Hebr eigentümliche Syntheseleistung lässt sich aus meiner Sicht mit einem Dreischritt beschreiben: Sein Traditionshintergrund wird wesentlich in frühjüdischer Kontinuität fassbar. In diesem symbolischen Universum bewegt sich Hebr mit kultureller Selbstverständlichkeit. Wo er sich – wie beim behutsamen Rekurs auf den Heroenmythos (dazu Aufsatz 6) – darüber hinausbewegt, dient dies der Plausibilisierung frühjüdisch-urchristlicher Vorstellungen.14 Für die Traditionsverarbeitung wird jedoch jene ontologische Sphärenscheidung zwischen himmlischer Wirklichkeit und irdischer Vorläufigkeit, wie sie der hellenistisch-reichsrömische Platonismus voraussetzt, maßgeblich. Damit stellt sich, wie etwa für Philo oder Plutarch, die Frage nach der axiologischen Überbrückung zwischen dem jenseitigen Gott und dem auf seine Immanenz zurückgeworfenen Menschen.15 Der Insichtige Würdigung von H.-M. RIEGER, Eine Religion der Gnade. Zur „Bundesnomismus“-Theorie von E.P. Sanders, in: Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicher Tradition, hg. v. F. Avemarie/H. Lichtenberger, WUNT 92, Tübingen 1996, 129–161. 14 Der frühjüdische Verstehenshorizont des Hebr wurde jüngst am wichtigen Prüfstück seiner Kulttheologie untersucht: G. GÄBEL, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie, WUNT II/212, Tübingen 2006. 15 Ich habe das in diesem Band bezeichnete Breitenphänomen des Mittelplatonismus (das nicht mit einer Schulströmung in der platonischen Akademie zu verwechseln ist) vor allem (1996) in Aufsatz 3 (Kap. 2) näher beschrieben (Lit.). Mittlerweile wurden die Be-
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novationsanspruch haftet an dem in Menschwerdung und Erhöhung Jesu Christi sprechenden Gott und damit an der von Hebr anspruchsvoll reinterpretierten urchristlichen Homologia. Das vom Mittelplatonismus inspirierte Gottes- und Weltbild gibt also das Problem vor: die vom Menschen her nicht überbrückbare Kluft zwischen Gott und Mensch. Die biblisch-frühjüdisch-urchristliche Kulttheologie stellt das symbolische System, in dem diese Kluft aussagbar, und die soteriologischen Prämissen, unter denen ihre Überwindung denkbar wird. Die Homologia stiftet die christologische Lösung. c) Hermeneutisch halte ich es – angesichts postmoderner Unverbindlichkeit mehr denn je – für unabdingbar, dass Exegese als Anwältin des Textes in seinem historischen Aussagesinn fungiert. Anything goes – aber der Text geht nicht überall mit. So – und nur so – wird er dann auch unverwechselbar zum „Gesprächspartner“ mit der an seiner Applikation und nicht an notorischer Selbstbestätigung interessierten Theologie. Historische Interpretation und theologische Applikation sind zu scheiden; zu trennen sind sie nicht. Der Großteil der in diesem Band versammelten Studien möchte durch Offenlegung der literarischen Ursprungsintention der geschichtlichen Vergewisserung der christlichen Herkunft und der theologischen Einsicht in die biblische Ur-Kunde dieser Herkunft dienen. Damit wird zugleich die Voraussetzung für das jüdisch-christliche Gespräch gelegt, das, ganz im Sinne Martin Bubers, zwei ihres je eigenen Selbstseins bewusste Dialogpartner voraussetzt. In diesem Sinn nehmen drei der Aufsätze auch Stellung zum jüdisch-christlichen Dialog. Die oftmals geäußerte Annahme, Hebr sei diesem Dialog nicht förderlich (eingeschlossen oft auch: letztlich sei es nur Röm 9–11), halte ich für ein allzu genügsames Vorurteil. Die Geschichte historisch-kritischer Methodik war freilich von Anfang an ein Prozess selbstkritischer methodologischer Fortentwicklung. Dies gilt auch für die Hebr-Forschung. So wenden sich die jüngeren Studien dieses Bandes neueren Ansätzen zu. Ich gestehe, dass mir das Epitheton „neu“ noch kein Qualitätsurteil zu sein scheint und mir die US-amerikanische Zuversicht, new approaches führten nahezu eigendynamisch zu ziehungen des Hebr zum zeitgenössischen Platonismus am Schlüsselthema der Eschatologie näher untersucht: W. EISELE, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief, BZNW 116, Berlin 2003. Konsequent, aber nicht undifferenziert, setzt der jüngste Kommentar von J.W. THOMPSON, Hebrews, Paideia, Grand Rapids, Mich. 2008, den mittelplatonischen Denkhintergrund voraus. Es ist vielleicht nicht überflüssig hinzuzufügen, dass weder die Genannten noch ich Hebr als eine mittelplatonische Schrift interpretieren und dass sich aus derartigen Verstehensvoraussetzungen kein Urteil über die biblische Denkweise oder den theologischen Stellenwert des Hebr ableiten lässt. Hier herrschen auch unter historisch arbeitenden Exegeten oft ungeprüfte dogmatische Vorbehalte.
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fresh insights, nur begrenzt zugänglich ist. Doch auch mir sind klassische Fragestellungen im Laufe der Zeit teilweise abhanden gekommen. Im Ganzen stehe ich der Möglichkeit diachroner Dekomposition für Hebr heute zurückhaltend gegenüber. Traditionsgeschichtliche Fragen scheinen mir, wie oben angedeutet, nur an einzelne Aussage- und Motivstränge, nicht an eine Schrift im Ganzen gestellt werden zu dürfen. Beim eigenen „Experimentieren“ hat sich mir durchweg die Rhetorikanalyse als hilfreich erwiesen, anfangs vor allem bei Fragen des genus und der dispositio, dann auch bei solchen der inventio und elocutio, schließlich für das Gesamtverständnis dieses Schreibens. Von der Rhetorik als Modus rednerischer Darbietung führte mich der Weg also zur Rhetorik als Modus argumentativer Sachschöpfung und kulturellen Selbstverständnisses. Dass es sich bei Hebr um eine Rede (tatsächlich gehalten oder als solche imitiert) handelt, ist keine isolierbare Formfrage, sondern Grundbedingung eines sachgerechten Verstehens aller seiner Aussagen. Aus der Rekontextualisierung des Schreibens in die deliberative Redekultur seiner Zeit scheint mir damit auch eine theologisch angemessenere Interpretation möglich. Vor allem mit Bezug auf das affirmative Grundanliegen und die Ethik des Hebr hat sich die Wissenssoziologie als hilfreich erwiesen. Dass sie einen neuen Blick auf die scheinbare Trivialität der Paränese eröffnet, versuche ich in Auseinandersetzung mit individualethischen und „sachkritischen“ Auslegungen einschlägigen Textguts zu zeigen (Aufsatz 10). Die Kulturanthropologie birgt wahrscheinlich manchen Verstehensgewinn, namentlich mit Blick auf die Kultsymbolik. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Methode am konkreten Text bewährt und nicht der konkrete Text herhalten muss, um eine Methode an ihm durchzuexerzieren. Ich sehe derzeit noch nicht, dass die Hebr-Exegese bereits ein entsprechendes Instrumentarium erarbeitet hat. Ich jedenfalls habe es nicht. Das Manko in diesem Band ist mir schmerzlich bewusst. Dies gilt auch für die rezeptionsästhetischen und wirkungsgeschichtlichen Leerstellen. Immerhin gerät hier mit der Bundestheologie im Barnabasbrief und bei Justin, der Verwendung des Hebr im christlichen Antijudaismus und mit einem Kapitel Auslegungsgeschichte einiges schlaglichtartig ins Blickfeld. Die Intertextualitätsdebatte kann manche eingefrorene Fragestellung (Welche Vorgabe benutzt Hebr? Wie weicht er davon ab? Darf er das? Dürfen wir es noch immer?) auftauen. Auch hier ist freilich auf die Kontrollmöglichkeit am konkreten Text zu achten. Intertextualität als Weltanschauung ist eher Mode denn Methode (vgl. Aufsatz 5). Im Laufe der Zeit ist mir der kultmetaphorische Sprachmodus mit seinen figurativen Möglichkeiten einerseits wichtiger, andererseits aber als ein Sprachmodus, neben dem andere stehen (die soziomorphe Metaphorik, die Bildstränge von Wanderschaft, Heimat und Ruhe, pagane Mythenelemente), relativer geworden. Theologie im Sinne
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des Hebr unterscheidet sich jedenfalls erheblich von deren neuzeitlicher Konzeption. Gerade in ihrer rhetorischen Eigenart müssen wir hier statt mit diskursiver Eindeutigkeit und Sachstringenz mit einer inneren Nähe zum poetischen Sprachspiel und multiplen Zugängen zur wahrgenommenen Transzendenz rechnen. Die zwölf folgenden Studien sind nicht nach chronologischen, sondern nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Die erste versucht, den historischen und theologiegeschichtlichen Ort unseres Schreibens zu bestimmen. Es schließen sich acht textzentrierte Untersuchungen an, etwa in der Folge der thematischen Schwerpunkte in Hebr selbst. Die letzten drei Studien stellen ein soteriologisches Hauptmotiv des Schreibens in seinen theologiegeschichtlichen Zusammenhang, widmen sich einer kurzen, aber wichtigen Wegstrecke seiner Auslegung und beleuchten abschließend ein existentielles Hauptmotiv. Aufsatz 2 (Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule) zielt darauf, die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Apostel Paulus und Hebr aus dem Magnetfeld der Verfasser- und Rechtfertigungsfrage zu lösen und zugleich den Eindruck zu entkräften, Hebr sei „vater-, mutter-, stammbaumloser“ Außenseiter (und Paulus genialer Einzelgänger). Literarische Abhängigkeit des Hebr von einem paulinischen Schreiben ist nicht erkennbar, wohl aber stehen die Paulus-Schule16 und Hebr in einem Traditionskontinuum, vor allem im Bereich der Christologie und Soteriologie, der usuellen Paränese und der brieflichen Konvention. Die Zusammenhänge sind zu signifikant, um als erwartbar zu gelten, und zu allgemein, um unmittelbaren Einfluss zu belegen. Vielmehr teilt die Gemeinde des Hebr soziale und theologische Schnittfelder mit einer paulinischen Gemeinde, und zwar, wie zu zeigen versucht wird, im stadtrömischen Milieu. Frühchristliche Theologiegeschichte lässt sich weder als Folge sukzessiver Traditionsblöcke noch als unverbundenes Nebeneinander von Entwicklungslinien beschreiben. Sie stellt sich als Kommunikations- und Integrationsprozess konvergierender Traditionslinien dar. Die folgenden Beiträge widmen sich der Christologie. Aufsatz 3 (Per Christum in Deum) versucht den Hebr als den neutestamentlichen locus classicus dessen zu beschreiben, was man heute „christologischer Monotheismus“ nennt. Die spannungsvolle Christologie des Hebr schränkt dessen Theozentrik nicht ein, sondern setzt sie voraus und macht sie beziehungsfähig und lebensrelevant. Ausgangspunkt ist das mittelplatonisch in16
Es sei betont, dass es sich hier um einen Hilfsbegriff handelt, den ich ausdrücklich möglichst weit definiere. Gäbe es einen anderen, konsensfähigeren Begriff, wäre ich gern bereit, ihn zu benutzen. Solange es ihn nicht gibt, halte ich es für zweckmäßiger, mit einer annähernden Beschreibungssprache zu arbeiten, als im aussichtslosen Bemühen um terminologische Präzision die beschriebene Sache sich selbst zu überlassen.
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spirierte Gottes- und Weltbild, das die Transzendenz des Göttlichen stark betont, zu einer negativen Theologie neigt und so vor dem Grundproblem der Vermittlung steht. Hier setzt Hebr an: Gott selbst überquert die ontische Kluft durch sein die Schöpfung wie die Verheißungsgeschichte tragendes Sprechen, durch den Sohn als Vollendung seiner Selbstmitteilung und durch den so eröffneten „neuen und lebendigen Weg“, der im Modus des Glaubens schon beschreitbar ist. Gerade um dieser Vermittlung wegen treten die christologischen Pole „Gottesgestalt“ und „Menschengestalt“ im Hohepriester-Bild dramatisch auseinander: Der Sohn thront hoch über den Engeln und schreit auf Erden, „ganz unten“, unter Tränen zu Gott. Als „Anführer und Vollender des Glaubens“ ebnet er in seiner personalen Selbsthingabe den Zugang in die Unmittelbarkeit Gottes und ermöglicht so, worauf aller Kult seinem Wesen nach zielte, ohne es zu erreichen: das prose,rcesqai. Was sich hier einschlussweise zeigt, wird in Aufsatz 4 („Licht vom Licht“) thematisch: Die scheinbar dem Alltag enthobene Christologie des Hebr berührt die Lebenswelt unmittelbar und verändert sie. Die Studie gehört zur lebhaften Debatte, die die umfassende Monographie des Tübinger Dogmatikers Karl-Josef Kuschel über das Christologoumenon der Präexistenz ausgelöst hat.17 Jesu ewige Seinsweise ist kein Leitthema des Hebr, wohl aber dessen durch das oben skizzierte Anliegen der Vermittlung notwendig gesetzte Prämisse. Sie wird unspekulativ in poetischer Gebetssprache entfaltet und dient nicht der Präzision einer Vergangenheitsbeschreibung, sondern der theologischen Vereindeutigung der Schöpfungs- und Erlösungsbotschaft, dem Präsens der Christologie und dem „Nostra res agitur!“ des Heils. Die Denkfigur von Jesu ewigem Ursprung relativiert weder das Humanum Jesu noch die monotheistische Theozentrik, sondern sucht das Gottsein Gottes lebensrelevant zu machen und das Menschsein Jesu in seiner Tiefe auszuloten. Christologie und Schriftauslegung sind in Hebr zwei Seiten der einen (im Wortsinn) theo-logischen Medaille. Aufsatz 5 (Gott als Psalmist), entstanden im Rahmen der Projektgruppe „Biblische Intertextualität“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie,18 ordnet das Theorem der Intertextualität der rhetorischen Kultur des Hebr und seiner Leitvorstellung vom Sprechen Gottes zu. Die evgw,-su,-Beziehung zwischen Gott und Sohn, in der sich der Unaussprechliche im Psalmwort 2,7 ausspricht, dient der 17
Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung, München 1990. Deren Arbeit an Theoriebildung und Psalmgut ist dokumentiert in: Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, hg. v. D. Sänger, BThSt 55, Neukirchen-Vluyn 2003; Gottessohn und Menschensohn. Exegetische Studien zu zwei Paradigmen biblischer Intertextualität, hg. v. D. Sänger, BThSt 67, Neukirchen-Vluyn 2004. 18
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soteriologischen Dynamik des gesamten Schreibens als Ausgangspunkt. Die Zitatenkompilation 1,5–13 inszeniert mit Schriftworten einen himmlischen Inthronisationsakt und verortet so die Leser in einer biblisch gestifteten Gegenwelt zur sozialen Randexistenz. Kontrastreich versetzt derselbe Gottesspruch in 5,5 die Kommunikation mit dem in den Farben des Bittund Klagepsalms gemalten Sohn in jene personale Form des – kultisch konnotierten – Immediatverkehrs zwischen Himmel und Erde, zu der auch die Hörer geführt werden sollen. Der Psalter vertextet, von Gott her, die Beziehung zwischen göttlicher Wirklichkeit und menschlicher Lebenswelt, kommuniziert unmittelbar den Heilsanspruch und öffnet sich am Ende für die Leser, wenn sie selbst diesen biblischen Begegnungsraum betreten. Abschließend plädiert die Studie dafür, das Verstehensmodell „Intertextualität“ auf die Antwortstruktur (answerability) von Texten hin zu präzisieren und damit auch seine theologische Eignung klarer zu fassen. Das schwerste Hindernis für die Rezeption des Hebr sind jene feurigen Passagen, die in schneidender Schärfe Gerichtsangst beschwören und eine Umkehr nach der Taufe auszuschließen scheinen. Zugleich widmet sich unser Schreiben, was kaum recht wahrgenommen wird, durchgehend der Frage nach der ars moriendi und der Todesangst. Beiden Ängsten – und damit zugleich einem sublimen Kapitel urchristlicher Mentalitätsgeschichte – wendet sich Aufsatz 6 (Zwei harte Knoten) zu. Mit 2,14f setzt Hebr ein Rezeptionssignal, das seine kultsymbolische Soteriologie sprengt, sein Christus-Bild polymythisch einbettet, kulturell attraktiv macht und in seiner existentiellen Bedeutsamkeit gewichtet: Glaube befähigt zum Durchschauen des Todes und zum Durchstehen der Todesangst. Freilich setzt sich die Argumentation nicht unmittelbar mit der Todesangst auseinander, sondern ordnet sie imaginativ in das sinnstiftende Christus-Drama ein, um so eine neue Selbst- und Zielwahrnehmung der Adressaten zu ermöglichen („Terror-Management“). Die Weckung der Gerichtsangst gehört zur deliberativen Redestrategie (metus als Abneigungsschauder). Jeweils unmittelbar nach den Drohungen werden die Adressaten zum Gegenaffekt der spes geführt. Apokalyptisches Bildgut wird eingesetzt, um Befreiung zu inszenieren. Wo man im pathetischen temporale den Anspruch auf das theologische perpetuum („Ausschluss der zweiten Umkehr“) verortet, verfehlt man die affektzentrierte Hörerführung, das rhetorische Wahrheitsspiel und die Wirkabsicht des Hebr. Die drei folgenden Aufsätze wenden sich verschiedenen neuralgischen Punkten im Verhältnis des Urchristentums zu Israel und damit auch des aktuellen jüdisch-christlichen Gesprächs zu: den Motiven von altem und neuem Gottesbund und des Verheißungslandes und überhaupt der Frage nach dem Antijudaismus in Hebr. Dabei ist es wichtig, das Schreiben von seiner Wirkungsgeschichte zu unterscheiden bzw. diese Wirkungsgeschichte ge-
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nauer nachzuzeichnen. Aufsatz 7 (Das Bundesmotiv in der frühkirchlichen Schwellenzeit) stellt Hebr daher in eine Reihe mit den beiden anderen urchristlichen Schriften, die auf je eigene Weise einen konsistenten bundestheologischen Entwurf entfalten. Das Urchristentum hegt zunächst (mit der bezeichnenden Ausnahme der Herrenmahl-Paradosis) kein Interesse am heilsgeschichtlichen Bundesmodell: Zu eng ist es an die Tora geknüpft, zu deutlich mit dem ethnischen Selbstverständnis Israels verbunden, zu schwierig scheint seine christologische Integration. Möglich wurde die Entfaltung einer frühchristlichen Bundestheologie erst mit der Trennung von der jüdischen Mutterreligion. Naheliegend wurde sie, insofern sich gerade so die Frage nach der heilsgeschichtlichen Legitimation des Christentums stellte. Attraktiv wurde sie in dem Maße, als sie sich mit dem christologischen Bekenntnis verbinden ließ. Die semantische Transformation erfolgt in drei Schritten: In Hebr wird die diaqh,kh christologisch integriert. Die behauptete Entwurzelung des „ersten Bundes“ bezieht sich auf den levitischen Tieropferkult, der mit der personalen Selbsthingabe Jesu seine Aufgabe – den Aufweis der anthropologischen Prämissen und typologischen Grundmuster des Heils – erfüllt hat. „Alt“ ist der Bund, insofern er der irdischen Schattenwelt zugehört; „neu“ ist der Bund, insofern Christus ihn verbürgt. Nicht Kirche und Israel vergleicht Hebr, sondern irdische Vorläufigkeit und ewige Gottesnähe. Der Gottesbund mit Israel gilt keineswegs als gekündigt. „Substituiert“ ist das Tieropfer, nicht Gottes Treue. Ganz anders im Barnabasbrief: Der „alte Bund“ ist niemals zustande gekommen. Barn. sucht im Ausgang von einem eher juridischen als soteriologischen Verständnis von diaqh,kh und in eigenwilliger Schriftdeutung nachzuweisen, dass die Geschichte des Bundesvolks Israel ein einziges Selbstmissverständnis ist. Der Gottesbund zielt von Anfang an auf das alleinige Heilsvolk der Christen. Aus der theologischen Antitypik des Hebr ist hier polemische Antithetik geworden. Von solcher heilsgeschichtlichen Negation führt der dritte Schritt, Justins Dialogus cum Tryphone, zum kirchlich langfristig wirksam gewordenen Substitutionsmodell: Israel hat durch Verstockung und Ungehorsam seinen Gottesbund gebrochen und verspielt; die Christen als das endzeitliche Israel sind in sein Erbe, den neuen Bund, eingetreten. Das Bundesmodell des Hebr ist damit theologiegeschichtlich nur höchst verkürzt zur Wirkung gelangt. Gerade im heutigen Gespräch über Gottes ungekündigten Bund mit Israel vermag es seine theologischen Chancen zu entfalten. Auch Aufsatz 8 (Das Land der Verheißung) verfolgt eine theologische Transformation. Er geht auf ein Referat bei der SNTS-Tagung 2000 in Tel Aviv zurück. Hebr entwickelt eine theologische Topographie, in der die herkömmlichen biblischen Güter auf dem Weg der christologischen Reinterpretation ihrer irdischen Geltung entkleidet werden. Was als „Land
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der Verheißung“ (die Wendung fällt biblisch nur in Hebr) galt, ist nunmehr die Fremde, in der die Verheißung der wahren Heimat gilt und vorwärts treibt, aber nicht erfüllt werden kann. Ähnlich kommt die verheißene Ruhe nicht in Kanaan, sondern im ewigen Sabbat zur Geltung. Das Heiligtum des ersten Bundes und der Sinai bleiben im Schatten der Erdenwelt zurück, während alles Licht auf ihre Urbilder in der Himmelswirklichkeit gelenkt wird. Am Ende bezeichnen die vielfältigen topographischen und soziomorphen Begriffe jenes unerschütterliche Königreich, dem die Erdenpilger als ihrem wahren Heimatland entgegenwandern. Diese theozentrische Umformung ergibt sich aus der radikalen Reinterpretation des evpaggeli,aMotivs in Hebr: Jede erdgebundene Hoffnung wirkt kleiner, dunkler und unbestimmter, weil auf dem „neuen und lebendigen Weg“ die Verheißung groß, hell und klar geworden ist. Gerade in jenem Staat, der das höchst konkret irdische „Land der Verheißung“ in seine Verfassung geschrieben hat, war das Ergebnis der Untersuchung (theologisch wie politisch) heikel. Es versteht sich, dass es sich abschließend, über die historische Dimension hinaus, der ethischen Rückfrage stellen muss. Aufsatz 9 (Das wandernde Gottesvolk – am Scheideweg) zieht die Bilanz zu der in der fachlichen Diskussion wie in kirchenamtlichen Stellungnahmen kontrovers diskutierten Frage nach dem Verhältnis unseres Schreibens zu Israel. Der Brief „an die Hebräer“ wendet sich vor einem christlichen Verstehenshorizont den Zeugnissen der „hebräischen“ Theologie zu, aber gerade so vom zeitgenössischen Judentum ab. Sein Grundanliegen ist parakletisch auf die Identität der Gemeinde in der kritischen Schwellenphase gerichtet. Wo einzelne Passagen als antijüdische Polemik gedeutet werden, halten diese Deutungen kritischer Prüfung nicht stand. Die Auslegungsgeschichte, in der die Diastase „irdisch/himmlisch“ subtil in den Gegensatz „Judentum/Christentum“ verwandelt wird, sprengt den ursprünglichen Sinnrahmen. Andererseits deutet kaum etwas darauf hin, dass Hebr am zeitgenössischen Judentum Anteil nimmt. Seine Theologie ist friedlich, weil sie längst schiedlich geworden ist. Die Fragen, denen sich Hebr stellt (Gottes Wort, Verheißung, Sühne und Opfer, Bund, der Weg der Hoffnungszeugen usw.), sind „hebräisch“. Die Antwort allerdings wird nicht mehr von der kognitiven Mitte der Tora her, sondern christologisch gegeben. Sie setzt keine ethnische Erwählung voraus, sondern den Glauben aller Erdenpilger. Zweifellos hat Hebr mit diesem Entwurf dem christlichen Antijudaismus Vorgaben geliefert; insofern trägt er ausweislich seiner Sinnkarriere ein ernstes Rezeptionsrisiko. Umso sachgerechter ist es, seinen primären Kontext aufzusuchen und nach den in der Wirkungsgeschichte nicht zur Geltung gekommenen Rezeptionschancen zu fragen. Diese liegen weniger auf dem Feld einer christlichen Theologie Israels als im Schnittfeld zwischen Judentum und Christentum, in dem die Fragen des
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Hebr einen eigenen Echoraum finden können, der nicht zum Konsens führt, wohl aber zu einem wechselseitigen Verstehen der Pilger auf je eigenen Erdenpfaden zum gemeinsamen Ziel. Die Ethik des Hebr wird meist entweder miss- oder geringgeachtet. Hier scheint ein ethischer Zwerg auf einem breiten theologischen Lehrsockel zu stehen, dem man die heroische Pose nicht abnehmen möchte: Zu trivial und selbstbezüglich wirken seine Anweisungen. Inhaltlich dienen sie offenkundig weniger dem, was man sich unter einer Offensive des Evangeliums vorstellt, als vielmehr einer esoterisch wirkenden Gruppenmoral. Aufsatz 10 (Auf Ehre und Gewissen!) ist aus dem Hebrews-Seminar der SBL, das sich besonders um exegetische Methodeninnovation bemüht hat,19 hervorgegangen. In der Tat scheint mir das gängige Verfahren, mit dem die kategorialen Weisungen des Kap. 13 im Licht neuzeitlicher Individualethik ausgelegt (und dann sachkritisch abgelegt) werden, der Leistung des Hebr in der liminalen Phase des Frühchristentums nicht gerecht zu werden. Die Studie untersucht zunächst das einschlägige semantische Inventar sowie die kategorialen Weisungen unter dem Gesichtspunkt des Gruppenethos, der sozialen Stabilisierung und der Sicherung und Ausrichtung von Ordnungswissen. Dabei gelangt sie zu zwei Ergebnissen: a) Die kognitive Transformation des christlichen Sinnsystems einerseits und, davon nicht zu trennen, die (ethische) Habitualisierung gemeinschaftsbezogenen Handelns haben eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die zweite Sozialisierung des einzelnen Glaubenden und die (Über-)Lebensfähigkeit der Gemeinde. b) Die in Hebr sehr gezielt durchgeführte Umwandlung der sozialen Signifikanzmaßstäbe verändert unmittelbar die Wertehierarchie und den Handlungsspielraum der Gemeinde. Der Alltag wird perspektivisch entgrenzt und das lebensweltliche Handeln gewinnt grundlegend neue Ordnungskriterien. „Gewissen“ und „Ehre“ (jeweils von der christlichen Sinnmitte her definiert) werden zu maßgeblichen Entscheidungsfaktoren. Antike Beobachter, nicht zuletzt die Kritiker des Christentums, und auch die jüngere Wissenssoziologie scheinen mir den von Hebr mit bemerkenswerter sozialer Kompetenz forcierten ethischen Prozess sensibler zu beurteilen als mancher exegetische Beitrag, der sich von den Grundvorstellungen individueller Privatmoral leiten lässt oder auf den Apostel Paulus als schlechthin letzte Urteilsinstanz für alle nicht-paulinischen Entwürfe rekurriert. Beitrag 11 (Kult und Kreuz) stellt das Hauptthema des Hebräerbriefs in einen breiteren theologiegeschichtlichen Zusammenhang. Untersucht wird das Verhältnis zwischen dem Christentum (von seinen Ursprüngen bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazaret an) und dem (vielfältigen) Phä19 Dokumentiert in: Hebrews. Contemporary Methods – New Insights, hg. v. G. Gelardini, Biblical Interpretation Series 75, Leiden 2005.
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nomen kultischen Deutungs- und Ordnungshandelns. Auf der einen Seite belegen die neutestamentlichen Schriften eine gewisse Distanz zur Kultpraxis, auf der anderen Seite ist nicht nur vereinzelt und zufällig, sondern durchaus prägend eine Tendenz des Urchristentums zu Kultmetaphorik, -typologie, -analogie, -allegorik und -transformation festzustellen. Das Kultische als Erfahrungs- und Denkform lässt sich hier keineswegs marginalisieren. Die Kultkritik des Neuen Testaments unterscheidet sich von der im Alten Testament oder in zeitgenössischer jüdischer und paganer Frömmigkeit geäußerten allenfalls dadurch, dass sie milder ausfällt. Die herkömmlichen Entwicklungsmodelle (Spiritualisierung, Kerygmatisierung, Ethisierung, Entsakralisierung usw.) werden der historisch aufweisbaren Synthese von Kultsymbolik, kultischer Theologie und einer christologisch redefinierten Kultpraxis nicht gerecht. Die gängige Erklärungsfigur, nach der das Urchristentum ein kultloses Ideal zwischen einer kultgebundenen Vergangenheit (im jüdischen oder paganen Ritual = obsolet) und einer kultgebundenen Zukunft (im altkirchlichen Ritual = dekadent) repräsentiere, verdankt sich – neben einer gewissen religionssoziologischen Naivität – den weltanschaulichen Voraussetzungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Die theologische Leistung der frühchristlichen Kulttheologie liegt darin, dass sie das realsymbolische Handeln vom Kreuz her neu bestimmt, heilsresponsorisch interpretiert, lebensweltlich entgrenzt und Heiligkeit – in typologischer Orientierung an der (atl.)-biblischen Literatur – verleiblicht. In der diesen Prozess steuernden Dynamik kommt der christologisch denotierten Kultsymbolik des Hebr eine paradigmatische und – seit 1Clem. dann auch liturgiegeschichtlich einflussreiche – Bedeutung zu: Grund und Norm allen Kults ist die personale Selbsthingabe des Gekreuzigten. Es wird dem Leser nicht entgehen, dass dieser Beitrag ein kennzeichnend katholisches Verstehensinteresse verfolgt. Die Frage nach der religions- und theologiegeschichtlichen Entwicklung sowie deren Kontinuität und Diskontinuität ist jedoch ebenso wie das systematische Problem der Wertungsmaßstäbe von ökumenischer Bedeutung und kann, wie ich hoffe, die historische und biblische Basis für das hier zu führende Gespräch zwischen den Konfessionen (und übrigens auch innerhalb der Konfessionen selbst) verbreitern. Einen katholischen Hintergrund hat auch der einzige auslegungsgeschichtliche Aufsatz dieses Bandes, 12 (Zermürbung und Zuversicht). Ich habe ihn anlässlich des 100. Geburtstags meines Paderborner und Münchener Vorgängers Otto Kuss (1905–1991) geschrieben. Ein Lektürenutzen für Nichtkatholiken mag nicht nur darin liegen, dass sie einen (bei Hans Lietzmann geschulten) exegetischen Pionier der Ökumene näher kennen lernen. Mehr noch können sie am Beispiel seiner HebräerbriefAuslegung ein Stück des hermeneutischen Wandels in der katholischen
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Kirche und Theologie im 20. Jahrhundert verfolgen. Daraus erklären sich auch die Ambivalenzen in der bei Kuss wahrzunehmenden Auslegung, die den Hebräerbrief historisch prägnant erfasst und doch fast tragisch zu keinem Gesamturteil zu kommen vermag. Kuss hatte in seiner Biographie nachzuholen, wozu die evangelische Exegese zwei Jahrhunderte Zeit gehabt hatte. Vielleicht ist er zum empathischen Leser des Hebräerbriefs geworden, weil er die existentielle Situation des heimatlosen Wanderers in unsicherer Zeit nicht nur exegetisch, sondern existentiell nachzuvollziehen hatte. Der abschließende, essayistische Beitrag 13 (Aufbruch ins Evangelium) ordnet noch einmal, jetzt eher meditativ, ein Leitmotiv des Hebräerbriefs in den Gesamtrahmen der urchristlichen Theologie ein: Gerade bei diesem „kognitiven Gastarbeiter“ im Neuen Testament vollendet sich jene Mystik der Unruhe, die die Existenz des Glaubenden nach neutestamentlichem Maßstab auf Erden prägt. Kein Bürger ist der Christ, sondern ein Wanderer.
Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule Der Hebr ist – so lautet das vielzitierte Diktum Franz Overbecks – „theologiegeschichtlich wie sein Melchisedek 7,3 avpa,twr( avmh,twr( avgenealo,ghtoj“1. Das Schreiben selbst versteht sich anders. Es will der Auslegung der überkommenen o`mologi,a dienen (vgl. 3,1; 4,14; 10,23). Der Autor stellt sich ausdrücklich in den Zusammenhang der frühchristlichen Überlieferung (vgl. 2,3f; 3,14; 12,1f; 13,7) und sucht deren Zeugnisse als „lehrmäßige Schultraditionen“2 in seine Darlegungen zu integrieren.3 Dem Textbefund entspricht nicht das Bild vom theologischen Außenseiter, sondern eher das des dida,skaloj (vgl. 5,11f) oder h`gou,menoj (vgl. 13,18 i.V.m. 13,17; ferner 13,7.24), der in einer – wie auch immer sozial gearteten – „Schule“ steht, die bemüht ist, das überkommene Bekenntnisgut zu wahren und – in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Zeiterfordernissen – interpretativ zu entfalten. Dabei ist es durchaus möglich, dass diese „Schule“ auch Paulus und seine „Schule“4 gekannt hat. Um 80/90 n.Chr. dürfte die Personaltradition über den Apostel und wohl auch sein Schrifttum bzw. Teile dieses Schrifttums zwar nicht allgemein rezipiert, wohl aber bereits relativ bekannt gewesen sein, zumal wenn man die – wie auch immer zu bestimmende – Ver1
PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin (1975) 1981, 250. 2 O. MICHEL, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen (71936) 131975, 54 Anm. 2.548; PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 243. 3 Vgl. auch H. HEGERMANN, Der Brief an die Hebräer, ThHK 16, Berlin 1988, 14–16. 47–49. 4 Wir verstehen unter der Paulus-Schule im weitesten Sinn Kreise von frühchristlichen Traditionsträgern aus dem Einflussbereich der paulinischen Missionsgemeinden, deren Selbstverständnis einerseits von einer Pflege der Personaltradition des Apostels Paulus bestimmt wird und die sich andererseits der Wahrung und Entfaltung der paulinischen Theologie widmen. Für das erstere stehen vor allem die Pastoralbriefe, für das zweite eher Kol und Eph. Zum Begriff der Paulus-Schule bzw. des „Paulinismus“ vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 36–38; P. MÜLLER, Anfänge der Paulusschule. Dargestellt am zweiten Thessalonicherbrief und am Kolosserbrief, AThANT 74, Zürich 1988, 1–3.321–325; H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, 2 Bde., Berlin 1978/1979, I, 233–245.
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bindung des Hebr zu „Italien“ in Rechnung stellt (vgl. 13,24). Daher liegt die Frage nahe: Welches Verhältnis hat der Autor des Hebr bzw. sein „Kreis“ zu dem theologischen Erbe des Apostels Paulus? Doch wird diese Frage in der gegenwärtigen Exegese eher selten und beiläufig gestellt. Mit dem negativen Bescheid bezüglich der Verfasserfrage schien auch das Interesse an dem Verhältnis des Hebr zu Paulus erloschen zu sein. Wenn vor allem in der älteren katholischen Auslegung noch eine Sekretärs- oder Schülerhypothese gepflegt wurde, so entsprach dies eher dogmatischem Bedürfnis als exegetischer Beobachtung.5 Andererseits konzentrierten sich die Vergleiche der protestantischen Exegese oft genug in systematischer Absicht auf den Aufweis der These, Hebr weiche von der „reinen Lehre“ des Paulus ab.6 Allerdings haben sich in jüngerer Zeit einige Ausleger einer exegetischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Corpus Paulinum und Hebr gewidmet.7 Im deutschsprachigen Raum war das Resultat rein negativ,8 aber in dieser Negativität – nicht zuletzt für diese Ausleger selbst9 – auch wieder unbefriedigend, weil am Ende die enig5 Vgl. die responsio der Päpstlichen Bibelkommission vom 24. Juni 1914 zur origo paulina des Hebr: DS 3591–3593. 6 Derb bei S. SCHULZ, Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus, Stuttgart 1976, 257–270. Zur Kritik an derartigen Vergleichsverfahren E. GRÄSSER, Rechtfertigung im Hebräerbrief, in: Rechtfertigung. FS E. Käsemann, hg. v. J. Friedrich/W. Pöhlmann/P. Stuhlmacher, Tübingen 1976, 79–93, der zunächst konstatiert, „daß die Geschichte der Auslegung des Hebr bis in unsere Gegenwart eine Geschichte des Vergleichs des Hebr mit Pls ist, und zwar keineswegs immer nur, um den Vf. als selbständigen Theologen neben Pls zu qualifizieren, sondern gelegentlich auch, um die ‚langweilige Trockenheit des Melchisedekgelehrten‘ [so P. Wernle] als heterodox zu qualifizieren“ (79); sodann fordert er mit Recht: „Dieser Monismus sollte längst einer traditionsgeschichtlichen Betrachtung gewichen sein, die viel stärker mit verschiedenen, selbständigen, gleich-gültigen Sprachtraditionen und theologischen Entwürfen bei der Ausbildung der frühchristlichen Kerygmata rechnet“ (80). 7 A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 233–240; F. SCHRÖGER, Der Hebräerbrief – paulinisch?, in: Kontinuität und Einheit. FS F. Mußner, hg. v. P.-G. Müller/W. Stenger, Freiburg i.Br. 1981, 211–222; L.D. HURST, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, MSSNTS 65, Cambridge 1990, 107–130. In den Einleitungskapiteln der Kommentare findet sich mitunter eine in der Regel knappe Behandlung des Themas, so bei H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 151991, 86–89. Vgl. auch ausführlich, obschon noch von der Verfasserdebatte geprägt, A. WIKENHAUSER/J. SCHMID, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i.Br. (1952) 61973, 549–560. 8 So bei A. LINDEMANN, F. SCHRÖGER und H.-F. WEISS; ähnlich bereits W. MANSON, The Epistle to the Hebrews. An Historical and Theological Reconsideration, London 1951, 192–197. 9 Auch A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 240 mit Anm. 55, räumt erklärungsbedürftige Reste ein; im Grunde ähnlich H.-F. WEISS, Hebr, wenn er zwar „die Sachlage in dieser Hinsicht an sich klar und eindeutig“ nennt (86), dann aber eine „lose Zuordnung zum Schüler- und Tradentenkreis des Paulus“ einräumt (87), ohne sie näher zu bestimmen; Hebr lasse sich nicht in die Geschichte der Paulus-Rezeption einordnen (88), hege
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matische Verbindung zum Paulus-Schüler Timotheus (13,23) ebenso unerklärt blieb wie eine von den ersten bekannten Rezipienten bis zu der heutigen Exegese empfundene „Nähe der Gedankenwelten“, die bezeichnenderweise häufig mit „irgendwie geartete[r] Einfluß“10, „irgendeine Beziehung“11, „irgendwie … vom Geiste des Paulus berührt“12 oder ähnlich unscharf13 umschrieben wird. Im Folgenden soll der Problematik dieser Beziehung daher noch einmal nachgegangen werden, jedoch ohne die Engführung der bisherigen Versuche, die sich im Erbe der Verfasserdiskussion allzu sehr auf die Frage nach einer „Paulus-Schülerschaft“ des Auctor ad Hebraeos konzentriert haben.
1. Das Verhältnis des Hebr zum Corpus Paulinum 1.1 Das literarische Verhältnis des Hebr zum Corpus Paulinum These: Es lässt sich nicht belegen, dass der Autor bei der Abfassung seines Schreibens die paulinischen Schriften benutzt hat.
Das Verhältnis zwischen dem Corpus Paulinum14 und dem Hebr lässt sich nicht mit Hilfe einer literarischen Benutzungstheorie erklären. An keiner Stelle nimmt der Autor Bezug auf einen paulinischen Brief, zitiert einen solchen oder lässt eine sonstige direkte Abhängigkeit von einem solchen erkennen.
aber im Schlusskapitel Interesse an der Kontinuität mit der paulinischen Mission (763). Keinen Zweifel lässt indes F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), 216, wenn er „ganz entschieden“ die These vertritt: „ne vestigium quidem Paulinismi“! 10 O. KUSS, Der Brief an die Hebräer, RNT 8/1, Regensburg 21966, 20. 11 H. STRATHMANN, Der Brief an die Hebräer, NTD 9, Göttingen (1936) 81963, 71. 12 Vgl. W.G. KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211981, 348. 13 H. BRAUN, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen 1984, 3: „gewisse theologische Beziehungen“; A. JÜLICHER, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i.Br. 1894, 107: „paulinische Grundstimmung“; O. KUSS, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Seelsorger (1958), in: ders., Auslegung und Verkündigung I, Regensburg 1963, 329–358: 330: „in bestimmten, nicht genau fixierbaren Beziehungen zu Paulus und dessen Gedankenwelt stehend“. 14 Unter Corpus Paulinum verstehen wir im Folgenden die dreizehn unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe, denen wir der Einfachheit halber den der paulinischen Tradition deutlich verwandten 1Petr beigesellen (vgl. H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung [s. Anm. 4], I, 199–216).
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Eine literarische Dependenz des Hebr von einzelnen paulinischen Schriften wurde mitunter postuliert.15 Energisch verfochten wurde sie zuletzt in einer gründlichen Untersuchung von Ceslas Spicq (1952).16 Spicq muss sich noch mit der Frage einer Verfasserschaft des Apostels Paulus auseinandersetzen und behandelt darum zunächst die originalité principale des Hebr (145–155), die so gravierend ist, dass sie den Apostel als Verfasser ausschließt. Andererseits scheint das Schreiben aber in einer organischen Verbindung mit der paulinischen Theologie zu stehen. So sucht Spicq in einer confrontation linguistique nachzuweisen, dass Paulus und Hebr „un même groupe religieux“ zugehören (156), wobei er besonders 65 Vokabeln anführt, die innerhalb der ntl. Literatur nur im Corpus Paulinum und Hebr vorkommen. Aber die Prüfung der vollständigen Wortstatistik (159) erweist, dass die Termini alles andere als spezifisch sind.17 Ihre „Besonderheit“ beschränkt sich eher darauf, dass sie in den verbleibenden sieben ntl. Briefen oder der narrativen Literatur eben nicht vorkommen; ansonsten sind sie in der antiken Literatur reich belegt.18 Signifikant für einen weiterführenden Vergleich sind ohnehin vielmehr gemeinsame semantische Felder,19 und hier wirkt das von Spicq beigebrachte Material nach Quantität und sachlicher Parallelität nicht überzeugend. Die Kombinationen sind entweder denkbar allgemein (z.B. Hebr 3,6; 1Thess 2,19: recht unterschiedliche Zuordnung von evlpi,j und kau,chma/kau,chsij) oder beruhen auf rein formaler Affinität (z.B. Hebr 3,6: ou- oi=ko,j evsmen h`mei/j; Phil 3,3: h`mei/j ... evsmen h` peritomh,).
So hilfreich das von Spicq erarbeitete Vergleichsmaterial im Ganzen ist, so wenig stützt es seine Schlussfolgerungen. Im Gegenteil, es muss umso auffälliger erscheinen, dass die gleichen Termini in völlig verschiedenen Sachzusammenhängen und in je eigener sprachlicher wie theologischer Prägung eingesetzt werden: Prägnante paulinische Begriffe wie dikaiosu,nh bleiben in Hebr eher blass, andere wie pi,stij haben eine deutlich anders nuancierte Bedeutung. Umgekehrt haben charakteristische Begriffe des Hebr im Corpus Paulinum kaum dieselbe Akzentuierung (z.B. mesi,thj( bebai,wsij) oder Bedeutung (z.B. sa,rkinoj( u`po,stasij). So demonstriert die Sprachanalyse am Ende gerade die theologische Unabhängigkeit des Verfassers vom Erbe des Paulus.
15 In der älteren Forschung etwa von H. VON SODEN, Hebräerbrief, Briefe des Petrus, Jakobus, Judas, Freiburg i.Br. 31899, 3 (Hebr kennt sicher Röm, 1Kor und Gal), und W. WREDE, Das literarische Rätsel des Hebräerbriefs, FRLANT 8, Göttingen 1906, 53f. 16 C. SPICQ, L’Épître aux Hébreux, 2 Bde., EtB, Paris 1952/1953, I, 139–168. 17 Z.B. a`gio,thj( bebai,wsij( mh,pw( paidei,a usw. 18 Es genügt, die Liste bei Spicq mit den gängigen Wörterbüchern oder Konkordanzen zu den Apostolischen Vätern, Philo und Josephus zu vergleichen. 19 Vgl. dazu grundsätzlich K. BERGER, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung, UTB 658, Heidelberg 1977, 137–159.
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1.2 Das traditionsgeschichtliche Verhältnis des Hebr zum Corpus Paulinum These: Die paulinischen Schriften und Hebr stehen in einem Traditionskontinuum, indem sie – vor allem im christologisch-soteriologischen Bereich – in je eigener Weise gemeinsames Überlieferungsmaterial verarbeiten. Ferner entsprechen die usuelle Paränese und die Epistolaria in Hebr 13 in beachtlicher Weise dem Befund im paulinischen Schrifttum. Dieser Traditionszusammenhang lässt nicht unmittelbar auf eine Genealogie schließen. Wohl aber fordert die signifikante Konvergenz der Analogien den Aufweis ihrer historischen und soziologischen Vermittlung. Dabei ergibt sich: Die Hebr-Gemeinde teilt das theologische Milieu und die historische Situation mit einer paulinischen Gemeinde.
Ut a stilo Pauli, quod ad phrasin attinet, longe lateque discrepat, ita ad spiritum ac pectus Paulinum vehementer accedit – dieses Urteil des Erasmus20 durchzieht die ganze Forschungsgeschichte des Hebr.21 Konkret ist nach dem traditionsgeschichtlichen Verhältnis zu fragen. Im Anschluss an Vorarbeiten Hans Windischs (1913)22 hat Lincoln D. Hurst (1990) immerhin 26 sachliche Konvergenzen aufgelistet.23 Freilich sind diese, im Einzelnen besehen, von recht unterschiedlichem Gewicht. Einige sind generell verbreitet24 oder im frühchristlichen Milieu schlicht erwartbar.25 Andere beruhen auf Verwendung der gemeinsamen Schrift26 oder behandeln die gleiche Thematik auf recht unterschiedliche Weise.27 Genealogische Zusammenhänge belegen solche Parallelen nicht. Wohl aber kann die Kon20 Zit. nach J. MOFFATT, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Hebrews, ICC 12, Edinburgh (1924) 1952, xix Anm. 2. 21 So schon Origenes (nach Eusebius Caes., h. e. 6,25,11–13); vgl. F. DELITZSCH, Der Hebräerbrief (1857), Nachdruck: Gießen 1989, 700: Hebr „athmet Pauli Geist, aber redet nicht Pauli Sprache“. 22 H. WINDISCH, Der Hebräerbrief, HNT 4/3, Tübingen 1913, 116f. 23 Epistle (s. Anm. 7), 108f; vgl. ähnlich, aber weniger detailliert H. KÖSTER, Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin 1980, 711; A. VANHOYE, Art. „Hebräerbrief“, TRE XIV, 1985, 494–505: 495f. 24 So die Rüge der Adressaten, eher für Milch als für feste Nahrung geeignet zu sein (Hebr 5,12–14; 1Kor 3,2), oder der Vergleich christlicher Existenz mit einem Wettkampf (Hebr 12,1; 1Kor 9,24–27); Belegmaterial bei H. BRAUN, Hebr, 152.403f. 25 So das „Warten“ (avpekde,comai) auf Christi Wiederkunft (Hebr 9,28; Röm 8,19; 1Kor 1,7 u.ö.); vgl. H. BRAUN, Hebr, 286f (der Terminus avpekde,comai allerdings nicht in LXX, TestXII, Philo, Josephus, Apostolische Väter, sondern nur in den Paulinen und 1Petr). 26 So die Beschreibung Abrahams als Vorbild des Glaubens (Hebr 11,17–19; Röm 4,17–22) oder das warnende Geschick der Wüstengeneration (Hebr 3,7–4,11; 1Kor 10,1– 13). 27 Hier ist vor allem die dikaiosu,nh-Problematik zu nennen (vgl. 5,13; 7,2; 11,7; 12,11). A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 236, und H.-F. WEISS, Hebr, 87, machen auf die unterschiedliche Rezeption von Hab 2,4 (Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,37f) aufmerksam.
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vergenz der Analogien ein Indiz für einen – dann näher zu bestimmenden – signifikanten Traditionszusammenhang sein. Auffällig sind die christologischen und näherhin die soteriologischen Parallelen. Im Schema28 formuliert: Der präexistente Sohn (vgl. Hebr 1,2.3.6//1Kor 8,6; 2Kor 4,4; Phil 2,6; Kol 1,15–17; 1Petr 1,20) erniedrigt sich in die Menschen-Gleichheit (vgl. Hebr 2,14–17//Röm 8,3; Gal 4,4f; Phil 2,7) und ist so gehorsam (Hebr 5,8//Röm 5,19; Phil 2,8). Er opfert sich (vgl. Hebr 9,28//1Kor 5,7; Gal 2,20; Eph 5,2) in der Hingabe seines Blutes für die Seinen (vgl. Hebr 9,11f.14; 10,19.29; 12,24; 13,12.20//Röm 3,25; 5,9; 1Kor 10,16; 11,27; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; 1Petr 1,2.18f), als avpolu,trwsij (vgl. Hebr 9,15//Röm 3,24; 8,23; 1Kor 1,30; Eph 1,7.14; 4,30; Kol 1,14),29 als i`lasth,rion für die Sünden (vgl. Hebr 2,17; 9,5//Röm 3,25),30 und zwar ein für alle Mal (Hebr 7,27; 9,7. 12.26; 10,10//Röm 6,9f; 1Petr 3,18). Auf diese Weise besiegt er die feindlichen kosmischen Mächte (vgl. Hebr 2,14//Kol 2,15), wird erhöht über die Engelmächte (vgl. Hebr 1,3–14//Eph 1,20f; Kol 2,10; 1Petr 3,22), erbt einen hohen Namen (vgl. Hebr 1,4//Phil 2,9–11), das All wird ihm zu Füßen gelegt (vgl. Hebr 2,8//Röm 8,20; 1Kor 15,25–28; Phil 3,21; Eph 1,22), und er steht „zur Rechten Gottes“ fürbittend für die Seinen ein (evntugca,nw) (vgl. Hebr 7,25//Röm 8,34). Der Sühnetod Jesu stellt sowohl für die Paulinen als auch für Hebr ein Schlüsselthema dar; die kultische Deutung dieses Sühnetods expliziert in Hebr – auf eigenständige Weise – ein Interpretationsschema, das sich außer in Hebr vornehmlich im paulinischen Schrifttum findet (vgl. Röm 3,21–26; 1Kor 5,7; Eph 5,2) und sonst selten ausgeführt wird.31 Sucht man nach Schriften, die dem traditionsgeschichtlichen Aufriss des Hebr besonders entsprechen, so sind neben Phil32 vor allem Eph33 und 1Petr34 zu nennen, mit anderen Worten: jene Schriften des Paulus bzw. der Paulus-Schule, die ein relativ spätes Stadium markieren. 28 Ein solches kontextenthobenes – und durchaus ergänzungsfähiges – Schema ist exegetisch natürlich illegitim; es soll hier lediglich approximativ die elementare Parallelität veranschaulichen. 29 Innerhalb der ntl. Literatur und bei den Apostolischen Vätern sonst nur Lk 21,28. 30 Innerhalb der ntl. Literatur und bei den Apostolischen Vätern i`la,skomai (Hebr 2,17) sonst nur noch Lk 18,13; i`lasth,rion (Hebr 9,5; Röm 3,25) sonst nicht mehr. 31 Vgl. dazu F. HAHN, Das Verständnis des Opfers im Neuen Testament, in: Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche, hg. v. K. Lehmann/E. Schlink, Freiburg i.Br./Göttingen 1983, 51–91: 77–81; H.-F. WEISS, Hebr, 775. 32 Vgl. dazu im Einzelnen O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 1976, 15f.75–102; C. SPICQ, Hebr I, 161–166; H.-F. WEISS, Hebr, 81f; bes. die ausgewogene Darstellung bei L.D. HURST, Epistle (s. Anm. 7), 113–119. 33 Vgl. H. VON SODEN, Hebr, 3; H.-F. WEISS, Hebr, 88. A. VANHOYE, L’Épître aux Éphésiens et l’Épître aux Hébreux, Bib. 59, 1978, 198–230, hat das Verhältnis zwischen Eph und Hebr einem eingehenderen Vergleich unterzogen und dabei vor allem christologische Parallelen herausgearbeitet (219–226) (vgl. Hebr 1,3f//Eph 1,20f; Hebr 9,14 u.ö.//Eph 1,7; Hebr 10,19f//Eph 2,13f.17; Hebr 9,12–14.25//Eph 5,2; Hebr 1,3; 9,14; 10,22; 13,12//Eph 5,25f; Hebr 4,16; 10,22//Eph 2,18; 3,12; Hebr 3,14; 12,22//Eph 2,5f). Er konstatiert „contacts nombreux et substantiels“, die zwar nicht auf literarische Dependenz schließen lassen, wohl aber auf ein gemeinsames „paulinisches“ Milieu (vgl. 228f). 34 Als noch bemerkenswerte Parallelen zwischen Hebr und 1Petr seien genannt: Hebr 1,1; 11,13.39f//1Petr 1,10–12; Hebr 13,15//1Petr 2,5; Hebr 3,6//1Petr 2,5; der Gedanke des „allgemeinen Priestertums“, das zu Gott hintreten darf (vgl. 1Petr 2,4f.9), ähnelt der
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Besondere Aufmerksamkeit verdienen peroratio und postscriptum des Schreibens in seinem Schlusskapitel. Die kompositorischen und sachlichen Analogien der katalogischen Paränese zu der des paulinischen und deuteropaulinischen Briefformulars werden allgemein gesehen und sind von Floyd V. Filson (1967)35 und vor allem Jukka Thurén (1973)36 deutlich ausgearbeitet worden (vgl. z.B. Hebr 13//1Thess 4f37; Hebr 13,1– 19//Eph 5f; Hebr 13,20f//Röm 15,13; Phil 4,7.19f; 1Thess 5,23f). Hier lehnt sich Hebr offenbar an die paränetischen Konventionen der Paulus-Schule an, obgleich andererseits die soteriologische Verankerung und der stete Rückbezug zum Briefcorpus die Originalität des Verfassers erkennbar widerspiegeln.38 Signifikante Analogien ergeben sich ferner gerade in den formellen Epistolaria, die die sozialen Beziehungen zwischen Absender und Adressaten regeln (vgl. Hebr 13,18f//Röm 15,30–32; 1Thess 5,25; Phlm 22; Hebr 13,24f//Kol 4,18; 1Tim 6,21; 2Tim 4,22; Tit 3,15). Als eine in der Motivkombination nahe Parallele zu Hebr 13,20f.22–25 ist 1Petr 5,10f.12–14 zu nennen. Gerade die primär gemeindebezogenen bzw. -internen39 Passagen spiegeln also paulinische und deuteropaulinische Konvention.
Alle diese Entsprechungen sind erklärungsbedürftig. Problematisch erscheint dabei die These Friedrich Schrögers, Hebr enthalte „so viel Paulinismus ..., wie von Paulus her, schreibend und kämpfend in den Jahren 50– 60 n.Chr., allgemeinchristliches Gut geworden ist. Näherhin: Die Ausgangsposition für den Hebräerbriefverfasser ist der Stand der Theologie des Urchristentums um das Jahr 90 n.Chr. mit dem bis dahin‚verarbeiteten bzw. domestizierten‘ Paulus“40. Zweifelhaft ist bereits die Voraussetzung, nach der Paulus, und sei es in „domestizierter“ Form, um 80/90 n.Chr. überhaupt „allgemeinchristliches Gut“ gewesen ist. Vielmehr gibt es in der Frühkirche bis in das zweite Jahrhundert hinein durchaus „paulusfreie“ Zonen (z.B. Barn., Justin).41 Theologischer „Paulinismus“ ist für die frühchristliche Kirche durchaus keine Selbstverständlichkeit; wenn er zu konstatieren ist, ist seine traditionsgeschichtliche Vermittlung nach Möglichprose,rcesqai-Theologie des Hebr. Vgl. allgemein E. GRÄSSER, Der Hebräerbrief 1938– 1963, ThR 30, 1964, 138–236: 195–197; DERS., Der Glaube im Hebräerbrief, Marburg 1965, 149–154; L.D. HURST, Epistle (s. Anm. 7), 125–130; H. VON SODEN, Hebr, 3f; C. SPICQ, Hebr I, 139–144; H.-F. WEISS, Hebr, 88f. 35 F.V. FILSON, “Yesterday”. A Study of Hebrews in the Light of Chapter 13, London 1967, 22–25. 36 J. THURÉN, Das Lobopfer der Hebräer. Studien zum Aufbau und Anliegen von Hebräerbrief 13, ǖbo 1973, 57–70. Vgl. auch die Übersicht bei H. HEGERMANN, Hebr, 266f.287f. 37 Dazu die Synopse bei J. THURÉN, Lobopfer (s. Anm. 36), 57f. 38 Vgl. im Einzelnen die Auslegung von H.-F. WEISS, Hebr, 697–766. 39 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 701. 40 Hebräerbrief (s. Anm. 7), 212; ähnlich O. MICHEL, Hebr, 54: „Er entfaltet lehrhaft, was Paulus kerygmatisch und didaktisch vor Jahren erkämpft hat“. 41 Vgl. K. BERGER, Exegese (s. Anm. 19), 107; H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), I, 243. Zur Paulus-Rezeption in der Frühkirche insgesamt C.K. BARRETT, Pauline Controversies in the Post-Pauline Period, NTS 20, 1974, 229–245; A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), bes. 396–403.
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keit zu erklären. Andererseits liegen die Parallelen gerade nicht in dem theologischen Raum, in dem Paulus sich „schreibend und kämpfend“ bewegt hat, um die ihm überkommene Theologie zu innovieren. Das gemeinsame Material enthält weniger originär paulinisches Gedankengut, das dann später „verflacht“ auf den Hebr überkommen ist. Vielmehr überschneiden sich die theologischen Gefüge gerade in den Bereichen, in denen auch Paulus bzw. die Paulus-Schule auf christologisch-soteriologische Tradition rekurriert, namentlich in Formelgut, hymnischen Stoffen und usueller Paränese. Die Parallelen weisen also nicht auf den „verarbeiteten“ Paulus, sondern auf sowohl von Hebr als auch von Paulus verarbeitete Tradition.42 Von daher wird man Hebr auch nicht unmittelbar in „das Ringen um die Entwicklung des paulinischen Erbes“ einreihen.43 Paulus bzw. das Corpus Paulinum und Hebr stehen jedoch in einem Traditionskontinuum. Hebr stellt gewissermaßen eine spätere Ausformung des Kerygmas der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus dar, die sich ja keineswegs darin erschöpfte, „vor- und nebenpaulinisch“ zu sein, sondern theologisch vielschichtiger und schöpferischer gewesen sein dürfte, als die überkommenen Zeugnisse noch erkennen lassen.44 Ohne Schrögers Konkretion zu teilen, mag man also zunächst seinem grundsätzlichen Urteil zuneigen, das weit verbreitet ist: Die traditionsgeschichtlichen Parallelen repräsentieren einen Typus der Christologie, den Paulus und Hebr in je eigener Weise rezipieren.45 Damit ist die Problematik um das Verhältnis von Paulinismus und Hebr aber keineswegs gelöst, sondern allererst aufgeworfen! Gerade wenn man die literarische und theologische Unabhängigkeit des Hebr und seinen eigenen theologiegeschichtlichen Ort, sein spezifisches paränetisches Anliegen, die gegenüber Paulus erheblich geänderten historischen, religionsgeschichtlichen und theologischen Konnotationen in Rechnung stellt, fallen folgende Beobachtungen ins Gewicht: 42
Vgl. auch O. MICHEL, Hebr, 54. So aber H. KÖSTER, Einführung (s. Anm. 23), 710; vgl. auch ebd., 711: „Inhaltlich steht im Hebräerbrief ... die Fortführung der Theologie in den paulinischen Gemeinden zur Debatte“; ähnlich E. ALEITH, Das Paulusverständnis in der alten Kirche, BZNW 18, Berlin 1937, 7; H.-J. SCHOEPS, Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte, Tübingen 1959, 281. 44 Vgl. R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments (1953), UTB 630, Tübingen 9 1984, 66–68. 45 H. FELD, Der Hebräerbrief, EdF 228, Darmstadt 1985, 53; E. GRÄSSER, Hebräerbrief (s. Anm. 34), 187f; A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 235–240; F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), 215–218; H.-F. WEISS, Hebr, 86–89. Vgl. bereits W. MANSON, Epistle (s. Anm. 8), 192: „There is a remarkable symmetry or similarity in the patterns or general categories within which the gospel is presented by the two writers, but there is a difference with regard to the matter which is stamped with, or enclosed within these forms. The streams are parallel in their courses, but the terrain or bed over which they run is not identical“. 43
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So wenig die zahlreichen terminologischen und theologischen Parallelen unmittelbare traditionsgeschichtliche oder gar literarische Interdependenz belegen, so wenig auch weist die signifikante Konvergenz des Materials nur auf eine allgemein ähnliche Denkweise hin, beeinflusst möglicherweise durch eine ähnliche kirchengeschichtliche Situation, die „zu strukturell analogen Mitteln zur Bewältigung einer Glaubenskrise greifen läßt“46. Theologische Traditionen wachsen – jedenfalls in breiter Streuung – nicht parallel. Auch „wandern“ sie nicht, sondern sie werden in soziologisch prinzipiell beschreibbarer Weise vermittelt.47 Konvergieren die strukturell analogen Mittel in verschiedenen Feldern in paralleler Situation, so weist dies auf eine konkrete Situationsnähe im Rahmen eines verwandten theologischen und damit auch religionssoziologischen Milieus der Traditionsträger hin. Beide „Kreise“ selektieren aus dem gemeinsamen „pool of tradition“48 vergleichbares Material, das sonst jedenfalls in solcher Breite selten rezipiert wird. Beide bereiten es mit vergleichbaren formalen Begründungsstrukturen auf, rekurrieren dabei auf die gleichen – sonst im Frühchristentum teilweise relativ ungenutzten – Schriftstellen (Ps 8: Hebr 2,6–9//1Kor 15,27; Ps 110,1: Hebr 1,13//1Kor 15,24–28; Dtn 32,35: Hebr 10,30//Röm 12,19; Hab 2,4: Hebr 10,38//Röm 1,17; Gal 3,11) und Lehrtraditionen (Hebr 6,13–20; 11,17–19//Röm 4; Gal 3,6–9: Abraham als Paradigma der eschatologischen Verheißung;49 Hebr 3,7–4,11//1Kor 10,1–13: Die Wüstengeneration als warnendes Paradigma), bedienen sich gleicher paränetischer Bilder und Motivationsfiguren (Hebr 5,12–14//1Kor 3,2; Hebr 12,1//1Kor 9,24–27). Die verwandten Themenstellungen und -bewältigungen sind bislang allerdings selten detailliert untersucht worden. Wo dies geschah, wurden regelmäßig – bei aller Eigenständigkeit der theologischen Entwürfe – gewichtige Konvergenzen herausgearbeitet.50
Die Entsprechungen in der usuellen Paränese und in den epistolarischen Formalia sind so zahlreich und dicht, dass urchristliche Grundschemata zur Erklärung nicht ausreichen.51 William Wrede hat den Briefschluss sogar als „kleine Kompilation aus paulinischen Worten“ verstehen wollen.52 Nun ist die Vorstellung von einem Autor, der das Corpus Paulinum auf passende Florilegien für die Komposition seiner peroratio durchmustert, unrealis46
So H.-F. WEISS, Hebr, 89. Dazu allgemein K. BERGER, Exegese (s. Anm. 19), 166–169. 48 Vgl. L.D. HURST, Epistle (s. Anm. 7), 109. 49 Vgl. näher H. HEGERMANN, Hebr, 15. 50 Vgl. zum Thema „Rechtfertigung“ E. GRÄSSER, Rechtfertigung (s. Anm. 6), bes. 86–93; zum Thema „Glaube“ E. GRÄSSER, Glaube (s. Anm. 34), 149–154; L.D. HURST, Epistle (s. Anm. 7), 119–124; zur diaqh,kh-Problematik U. LUZ, Der alte und der neue Bund bei Paulus und im Hebräerbrief, EvTh 27, 1967, 318–336. 51 A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), und F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), gehen auf die besondere Problematik von Hebr 13 nicht ein. 52 Rätsel (s. Anm. 15), 62; vgl. näher ebd., 39–64; Wrede beruft sich vor allem auf Entsprechungen zu Phil 2,19.22–24; 4,18.20f. 47
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tisch und wird den charakteristischen Unähnlichkeiten mit dem paulinischen Stil nicht gerecht.53 Andererseits ist unklar, wie Hans-Friedrich Weiß die „bewußte Anlehnung an das paulinische Briefformular“54 verständlich machen will, wenn er die traditionsgeschichtliche Interdependenz zwischen Hebr und Corpus Paulinum in Frage stellt.55 Die Lösung dürfte darin zu sehen sein, dass die von Weiß und anderen postulierte gemeinsame „Sach- und Sprachtradition“ bzw. die „strukturelle Analogie der Mittel in vergleichbarer Situation“ präzisiert wird auf eine konkret lokalisierbare Nachbarschaft der Traditionsträger, die – ungeachtet der theologischen Eigenständigkeit – den Rekurs auf die gleichen kerygmatischen Standards plausibel macht. Die Behauptung soziologisch vermittelter Nachbarschaft der „Theologien“ setzt einen hinreichenden Grundkonsens in den christlichen Basisanschauungen voraus. In der Tat kann das Grundanliegen des Hebr als Applikation des in Röm programmatisch entfalteten paulinischen Grundanliegens beschrieben werden.56 Unter seinen eigenen religions- und theologiegeschichtlichen Voraussetzungen demonstriert Hebr für den Bereich des Kultes im Besonderen, was Paulus für den Bereich des Nomos im Allgemeinen herausgearbeitet hatte (vgl. bes. Röm 3,21–2657): den Primat des Sühnetods Jesu vor jeder „Selbstrechtfertigung des Menschen“, sei sie forensisch oder kultisch (vgl. Röm 10,4): „Wie Paulus zeigt, daß Christus das Ende des Gesetzes sei, so der Hebr, daß er das Ende des Kultes als Heilsweg ist“58. 53
Vgl. im Einzelnen H.-F. WEISS, Hebr, 748–766. H.-F. WEISS, Hebr, 748. 55 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 86–89. 56 Vgl. dazu auch O. MICHEL, Hebr, 40f; PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 250; E. GRÄSSER, Rechtfertigung (s. Anm. 6), 91, spricht sogar von dem eigenen Weg, „den der Hebr in der Entfaltung der Rechtfertigungsbotschaft gegangen ist“ (Hervorhebung von K.B.). Eine solche Entfaltung dieser Botschaft lag sicher nicht in der Perspektive des Hebr. Andererseits wird Gräßers Urteil dem soteriologischen Profil des Hebr entschieden gerechter als Bultmanns Verdikt, nach dem der Autor selbst „gesetzlich“ denke (Theologie [Anm. 44], 114) bzw. anders sich nicht vom „Problem der Gesetzlichkeit“ bewegen lasse: „vom alttest. Gesetz interessiert ihn nur das Kultusgesetz, das er allegoristisch deutet“ (519). 57 Vgl. dazu jetzt W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25–26a, WMANT 66, Neukirchen-Vluyn 1991, bes. 235–259. 58 H. CONZELMANN, Art. „Heidenchristentum“, RGG3 III, 1959, 128–141: 141 (ohne Hervorhebung). E. GRÄSSER, Rechtfertigung (s. Anm. 6), hat in seiner instruktiven Studie über die „Rechtfertigung“ im Hebr sachgerecht festgestellt: „Die sachliche Koinzidenz beider Entwürfe besteht darin, daß sie die umfassende Aufhebung der Unheilsmacht der Sünde darlegen. Die sola-gratia-Struktur des Heils wird hier wie dort strictissime bewahrt“ (88; vgl. 86–93); ähnlich bereits B.F. WESTCOTT, The Epistle to the Hebrews, London 21982, lii. 54
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Für die immer wieder konstatierte Inkommensurabilität59 der theologischen Systeme, die schweren sachlichen Divergenzen60 oder gar unpaulinischen Sündenfälle61 fehlen – ähnlich wie bei der Behauptung organischer Entfaltung paulinischen Kerygmas – die Kriterien und die Kenntnis der konkreten theologiegeschichtlichen Zwischenglieder. Auch besitzt die Feststellung solcher „Brüche“ für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Hebr und Paulus-Schule nur begrenzte Relevanz, sofern man die erheblichen Differenzen im theologischen Denken und literarischen Selbstverständnis innerhalb des paulinisch-deuteropaulinischen Schrifttums selbst in Rechnung stellt.62 Jedenfalls wird man nicht prinzipiell sagen können, Hebr liege „außerhalb der paulinischen Bauflucht“63 oder müsse gar, um verstanden zu werden, außerhalb des paulinischen Einflussgebiets überhaupt angesiedelt werden.64 Hebr gehört also im Ganzen nicht in die Rezeptionsgeschichte paulinischer Theologie. Die Beziehungen zwischen Hebr und Paulus-Schule erklären sich weniger durch Diachronie als durch soziale Synchronie. Das Traditionskontinuum und die Analogien der Traditionsverarbeitung weisen auf eine parallele Situation in einem verwandten theologiegeschichtlichen Milieu. Von daher darf man dann aber von der signifikanten Traditionsverwandtschaft auf die Verwandtschaft bzw. konkrete historische Nähe der Traditionsträger schließen. Es bleibt auf das soziologische Verhältnis theologischer „Schulen“ als Bedingung der Möglichkeit der theologischen Vermittlung zu rekurrieren. Hier wäre die Forschung nun an einem diffus bleibenden Ende angelangt, böte nicht Hebr 13 selbst der Hypothese einen expliziten Textbeleg, der den Bestreitern eines traditionsgeschichtlichen Zusammenhangs einige Verlegenheit bereitet65 oder ganz ignoriert wird.66
59
E. GRÄSSER, Hebräerbrief (s. Anm. 34), 187. Vgl. W. MANSON, Epistle (s. Anm. 8), 193–197; F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), 218f; H. WINDISCH, Hebr, 117; vgl. auch die Aufstellung bei L.D. HURST, Epistle (s. Anm. 7), 107. 61 S. SCHULZ, Mitte (s. Anm. 6), 257–270; im Grunde auch bereits die enttäuschende Skizzierung des Hebr bei R. BULTMANN, Theologie (s. Anm. 44), 113f.517–519. 62 Dies hat P. MÜLLER, Anfänge (s. Anm. 4), am Beispiel von 2Thess und Kol ausführlich verdeutlicht, vgl. bes. 321–323. 63 E. GRÄSSER, An die Hebräer I, EKK 17/1, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1990, 17. 64 A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 240 Anm. 55. 65 Vgl. A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 240. 66 So von F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7). 60
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2. Das Verhältnis des Hebr zur Paulus-Schule 2.1 Die literarische Integrität von Hebr 13 These: Das Postskript Hebr 13,22–25 wie Hebr 13 im Allgemeinen sind kein sekundärer Appendix, sondern integrativer Bestandteil des Hebr und gehen auf den Vf. selbst zurück.
Zunächst ist zu klären, ob es gerechtfertigt ist, das briefliche Postskript 13,22–2567 für die Einordnung des Hebr in das urchristliche Milieu heranzuziehen, näherhin also ob Hebr 1,1–13,21 und Hebr 13,22–25 als ursprüngliche literarische Einheit zu verstehen sind. In der Textüberlieferung ist das Schreiben vom erreichbaren Anfang an als zusammengehöriges Gefüge tradiert worden. Jedoch wurde literarkritisch immer wieder, zuletzt nachdrücklich von Erich Gräßer (1990), die Ansicht vertreten, 13,22–25 sei ein Anhang von fremder Hand, dem lo,goj mit der Absicht beigefügt, ihm „paulinische Dignität“ zu sichern.68 Gräßer führt als Gründe für seine Hypothese an: 1) die theologische Haltung des Verfassers: Er bleibe bewusst in der Anonymität, denn Jesus Christus allein sei für ihn „exklusive personale Autorität und Ursprungsnorm der Tradition ... (2,3)“; das Heil sei ihm „allein im unverfügbaren Wort Gottes gegeben, das durch apostolische Amtsträger zu sichern dem Wesen seiner Theologie des Wortes entgegen wäre“. Durch das Postskript „würde er die apostolische Autorität durch die Hintertür wieder hereinlassen, nachdem er sie durch die Vordertür hinausgewiesen hat“ (17). 2) den theologischen Aufriss des Gesamtschreibens: Er liege „völlig außerhalb der paulinischen Bauflucht“ (17). 3) damit verbunden, die Beziehungslosigkeit zwischen dem Schreiben und Timotheus: Von Timotheus könne der Vf. kaum wissen, wenn er sonst nichts von Paulus wisse. 4) eine formkritische Überlegung: Der Vf. werde nicht etwas als Brief etikettieren, was offensichtlich den Charakter eines Briefes nicht besitze. 5) Die Anhänger einer literarkritischen Abtrennung des Postskripts führen schließlich auch den abrupten Stilwechsel von der „solennité du style oratoire“ zur „simplicité du style épistolaire“ an.69
67
Zu dieser Charakterisierung vgl. W.G. ÜBELACKER, Der Hebräerbrief als Appell I: Untersuchungen zu exordium, narratio und postscriptum (Hebr 1–2 und 13,22–25), CB.NT 2, Lund 1989, 197–201. 68 E. GRÄSSER, Hebr I, 17f. Den sekundären Charakter des Postskripts behaupten auch H. KÖSTER, Einführung (s. Anm. 23), 710; F. OVERBECK, Zur Geschichte des Kanons (1880), Darmstadt 1965, 15–17; G. STRECKER, Paulus in nachpaulinischer Zeit, Kairos 12, 1970, 208–216: 215. R. PERDELWITZ, Das literarische Problem des Hebräerbriefs, ZNW 11, 1910, 59–78.105–123: 70–73, und H. THYEN, Der Stil der JüdischHellenistischen Homilie, FRLANT 65, Göttingen 1955, 17, sehen keine pseudepigraphische Tendenz, sondern gehen davon aus, ein Hörer habe den Vortrag niedergeschrieben und an eine italische Gemeinde gesandt. 69 A. VANHOYE, La structure littéraire de l’Épître aux Hébreux, Paris 21976, 219.
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Gegen diese literarkritische Hypothese sprechen folgende Bedenken: Zu 1) Zwar ist Jesus selbst für Hebr der „Apostel“ schlechthin (3,1), aber seine theologische Tendenz schließt die Vermittlung der kirchlichen o`mologi,a durch bevollmächtigte Traditionsträger keineswegs aus. Gerade Hebr 2,3f betont die Weitergabe der ursprünglichen Verkündigung des Herrn durch das Zeugnis der Hörer. Die h`gou,menoi reden gar „das Wort Gottes“ (13,7) und beanspruchen aufgrund ihrer direkten Verantwortung „für die Seelen“ der Christen außergewöhnliche Autorität (13,17). Vor allem aber ist es für das Postskript bezeichnend, dass es gerade weder apostolische noch näherhin paulinische Dignität für den Vf. in Anspruch nimmt (s.u. 2.2). Zu 2) Die traditionsgeschichtliche Analyse zeigt weniger, dass Hebr „außerhalb der paulinischen Bauflucht“ liegt, als vielmehr, dass Hebr und Corpus Paulinum durchaus benachbarte Räume im gleichen theologischen Bau bewohnen (s.o. 1.2). Von daher sind Kontakte jenseits einer „Schülerschaft“ durchaus zu erwarten. Zu 3) Liegen also theologiegeschichtliche Beziehungen – gleich welcher Art – durchaus nahe, so erweist sich das Argument von der Fremdheit des Timotheus in diesem Kontext als petitio principii. Es ist gerade umgekehrt zu argumentieren: Wenn Hebr einerseits Konvergenzen zum Paulinismus zeigt und andererseits vorgibt, von Timotheus zu wissen, so mag dies umso eher auf Bekanntschaft mit der Paulus-Schule schließen lassen. Zu 4) Die formkritische Argumentation mit einem Idealtypus von Rede ist ausgesprochen problematisch und scheitert im Übrigen bereits an Eph, der ja auch eher eine theologische Abhandlung bietet, ohne auf ein Eschatokoll zu verzichten (Eph 6,21–24; vgl. auch 1Petr 5,10f.12–14). Vielmehr ist Hebr der „Mischtypus“ einer „zugesandten Predigt“70. Deshalb ist eine briefartig angehängte Notiz sogar naheliegend,71 zumal 13,22 ausdrücklich auf die „Rede“ Bezug nimmt.72 Zu 5) Auch den Stilwechsel kann man nicht triftig als literarkritisches Argument anführen. Der Stil wirkt bereits in 13,18f persönlich und brieflich,73 und der Wechsel kennzeichnet auch andere Schreiben, sodass er nachgerade als Formmerkmal zu bezeichnen ist (vgl. Phil 4,21–23; 2Tim 4,19–22; 1Petr 5,12–14 usw.). Der Briefstil setzt im Übrigen schon in 13,1 ein.74
70
Vgl. Gräßer selbst: „Die Bezeichnung ‚zugesandte Predigt‘ wird den lit. Eigenarten unserer Schrift am ehesten gerecht“ (Hebräerbrief [s. Anm. 34], 160): ähnlich etwa W.G. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 12), 351. 71 Eher wäre also zu fragen, warum das Schreiben keinen briefartigen Eingang aufweist; vgl. dazu W.G. ÜBELACKER, Hebräerbrief (s. Anm. 67), 199f; zur älteren Diskussion J. MOFFATT, Hebr, xxviii. 72 TH. HAERING, Gedankengang und Grundgedanke des Hebräerbriefes, ZNW 18, 1917/18, 145–164: 147: „warum will man nicht dem ausdrücklichen Selbstzeugnis des Verfassers recht geben, daß er eine Mahnrede als Brief oder einen Brief von der Art einer Mahnrede geschrieben habe (13,22)? So müßten wir doch den Tatbestand charakterisieren, wenn er es nicht selbst täte“. 73 Vgl. H. FELD, Hebräerbrief (s. Anm. 45), 23; PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 241. Hebr 13,17 ist als Briefschluss undenkbar; Segenswunsch und Doxologie (13, 20f) gehören stilgemäß zum Gesamtschreiben, mit dem sie auch sachlich deutlich verbunden sind (vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 40f.751f); dass der Bearbeiter aber 13,18f und 13,22–25 eingefügt und 13,20f belassen hätte, ist eine allzu komplizierte Annahme (vgl. bereits J. MOFFATT, Hebr, xxix). 74 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 697f.
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Schließlich darf nicht übersehen werden, dass von 13,22–25 durchaus Brücken in das Corpus des Schreibens führen: Das Schreiben wird in 13,22 mit Recht als lo,goj th/j paraklh,sewj charakterisiert (vgl. 3,13; 6,18; 10,25; 12,5; 13,19),75 und in 13,24 werden die h`gou,menoi in herausgehobener Position erwähnt (vgl. 13,7.17).76 Was für das Postskript im Besonderen gilt, das gilt für das Kapitel 13 im Allgemeinen. Hier wurde vor allem in der älteren Forschung angenommen, es sei nachträglich dem Hebr angefügt worden.77 Dagegen sprechen jedoch die gleichen Argumente wie gegen die oben angeführte Version, zumal die inneren Bindungen zwischen Hebr 1–12 und Hebr 13 zu deutlich sind,78 als dass diese These heute noch verfochten wird. Vermögen so die literarkritischen Argumente insgesamt nicht zu überzeugen, so spricht zunächst schon methodologisch das Axiom vom Primat der Synchronie dafür, peroratio oder postscriptum nicht ohne zwingenden oder auch nur triftigen Grund vom Ganzen zu trennen. Hinzu treten aber noch Bedenken, die sich grundsätzlich gegen die Annahme eines durch das Postskript erstrebten „paulinischen Anstrichs“ richten.
75 Vgl. W.G. ÜBELACKER, Hebräerbrief (s. Anm. 67), 210f; zur para,klhsij im Allgemeinen ebd., 211–214; zur Charakteristik des lo,goj th/j paraklh,sewj im Licht von 13,22 jetzt H.-F. W EISS, Hebr, 35–41. 76 Selbst der Hinweis auf die „Kürze“ der Ausführungen ist in 6,1; 9,5; 11,32 vorbereitet. – Für die Integrität von 13,22–25 plädieren auch H. FELD, Hebräerbrief (s. Anm. 45), 23; W.G. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 12), 350; O. MICHEL, Hebr, 36; J. MOFFATT, Hebr, xxviii–xxx; H.-F. WEISS, Hebr, 37f. 77 Genannt sei pars pro toto E.D. JONES, The Authorship of Hebrews xiii. Translation, Comment and Conclusions, ET 46, 1934/35, 562–567. Neuerdings wieder G.W. BUCHANAN, To the Hebrews, AncB 36, New York 1972, 243–245.267f, mit ausgesprochen konjekturalen Darlegungen und unter Verkennung des usuellen Charakters der Schlussparänese: Der Bearbeiter wende sich vornehmlich an verheiratete Leser (13,4); er sei ein Kirchenführer, „not a monk“ (sic!), und ziele wohl auf die kanonische Anerkennung von Hebr 1–12, aber auch auf finanzielle Unterstützung der Kirche. Die von Buchanan beigebrachten literarkritischen Argumente sind ähnlich problematisch. 78 H.-F. WEISS, Hebr, 698f, zeigt, dass schon in Hebr 12 paränetisches Gut vorliegt, andererseits aber die Paränese von Hebr 13 kommemorierend-rückbezogen wirkt. Die Motivation dieser Paränese ist offensichtlich in dem christologisch-soteriologischen Gesamtduktus des Schreibens verankert (vgl. bes. 13,10–14). Schließlich konkretisiert Hebr 13 die Mahnung von 12,28 zu einem „gottwohlgefälligen Gottesdienst“. Insofern bilden 12,28 und 13,15f als „Grundparänese“ den Rahmen der verstreuten Mahnungen. In diesem Sinn haben R.V.G. TASKER, The Integrity of the Epistle to the Hebrews, ET 47, 1935/36, 136–138, C. SPICQ, L’authenticité du chap. XIII de l’Épître aux Hébreux, CNT 11, 1947, 226–236, und F.V. FILSON, Yesterday (s. Anm. 35), überzeugende Studien vorgelegt. Vgl. auch E. GRÄSSER, Hebr I, 18; O. MICHEL, Hebr, 478–480; J. THURÉN, Lobopfer (s. Anm. 36), 49–53.
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2.2 Der „paulinische Charakter“ von Hebr 13,22–25 bzw. Hebr 13 These: Hebr 13,22–25 wie Hebr 13 im Allgemeinen beabsichtigen nicht, dem Hebr einen „paulinischen Anstrich“ zu geben, sondern verweisen auf tatsächliche Kontakte zwischen dem Hebr-Vf. und der Paulus-Schule.
Im Zusammenhang mit den literarkritischen Überlegungen wird die These verfochten, der Bearbeiter versuche mit Hebr 13,22–2579 oder mit Hebr 13 überhaupt80 dem Gesamtschreiben einen „paulinischen Anstrich“ zu geben, d.h. den Eindruck zu erwecken, der Apostel Paulus sei Verfasser des Schreibens. Unter Voraussetzung der literarischen Integrität wird dieses Interesse auch dem Auctor ad Hebraeos selbst zugeschrieben, und zwar wiederum entweder für das Postskript81 oder für das Schlusskapitel im Allgemeinen.82 Wollte der Vf. oder ein Bearbeiter tatsächlich den Apostel Paulus als Schreiber suggerieren, so hätte er dies denkbar ungeschickt getan, nämlich auf dem Weg ungezielter Assoziation. Bereits Adolf Harnack hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Briefschluss nach Form und Inhalt „für einen Fälscher, der den Apostel Paulus als Verfasser insinuiren wollte, merkwürdig zahm“ sei.83 Der Vf. beansprucht gar nicht, Paulus zu sein,84 und spricht keineswegs mit der Autorität, die man naturgemäß dem Apostel zusprechen müsste und die ihm in den paulinischen Pseudepigraphen auch tatsächlich zugesprochen wird (vgl. z.B. Eph 6,18–22; Kol 4,2– 18; 2Tim 4,17f). Stattdessen bittet er um das Gebet der Gemeinde und betont seine Überzeugung, ein gutes Gewissen zu haben, da er sich um rechtes Verhalten bemühe (vgl. 13,18f; dazu z.B. Eph 6,18–20). Er bittet darum, das Mahnwort zu „ertragen“, beruft sich auf die „Kürze“ seiner Rede (vgl. 13,22). Auch nimmt er keine Martyrergloriole für sich in Anspruch, 79
E. GRÄSSER, Hebr I, 17f; H. KÖSTER, Einführung (s. Anm. 23), 710; F. OVERBECK, Geschichte (s. Anm. 68), 15–17. 80 So etwa G.W. BUCHANAN, Hebrews (s. Anm. 77), 268; E.D. JONES, Authorship (s. Anm. 77) (unter der Voraussetzung, Hebr 13 gehe auf die paulinische Korinther-Korrespondenz zurück). 81 H. VON CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968, 169; A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 234 (vorsichtig); H.-M. SCHENKE/ K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), II, 270; PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 241. 82 Dies war die These der einflussreichen Studie von W. WREDE, Rätsel (s. Anm. 15), bes. 39–64. Aber auch nach H.-F. WEISS, Hebr, 763, sollen die Epistolaria in 13,18–25 auf dem Wege der Fiktion dem Brief „paulinisches Kolorit“ geben; dem Vf. sei zwar an der Person des Paulus selbst nicht gelegen, wohl aber daran, in die Kontinuität der paulinischen Mission einzutreten. 83 A. HARNACK, Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius II,1: Die Chronologie der Litteratur bis Irenäus nebst einleitenden Untersuchungen, Leipzig 1897, 478; ähnlich J. MOFFATT, Hebr, xxix; H.-F. WEISS, Hebr, 38. 84 Anders W. WREDE, Rätsel (s. Anm. 15), 40f.
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sondern erwähnt umgekehrt die Inhaftierung des Apostelschülers (vgl. 13,23).85 Die Erwähnung des Timotheus allein aber hätte „schwerlich ausgereicht, um bei den ursprünglichen Lesern den Eindruck eines Paulusbriefes zu erwecken“86. Dagegen kann nun keineswegs eingewendet werden, der Bearbeiter habe sein Ziel im Großen und Ganzen jedenfalls erreicht, denn der Brief sei ja dem Corpus Paulinum zugerechnet worden.87 Denn die unmittelbare Rezeption nennt Hebr neben den Paulinen und stellt den Bezug zu Paulus gerade nicht her. Im Abendland – namentlich in Rom – behandelte man das Schreiben entweder als anonym oder brachte es in eine lockere Verbindung mit dem Paulus-Kreis. Als zunächst im Osten (Clemens Alexandrinus, Origenes), später – über die Vermittlung des Ostens – im Abendland (Hieronymus, Augustinus) Hebr als kanonische Schrift akzeptiert wurde, geschah dies zunächst unter Absehung von seinem paulinischen Charakter. Das Prinzip „Apostolizität = Kanonizität“ wurde jedenfalls bei der Erstrezeption für Hebr relativiert. Die kanongeschichtliche Schlussfolgerung lautete nicht „paulinisch, also kanonisch“, sondern umgekehrt „kanonisch, also paulinisch“, und erst in dieser Konsequenz hat sich die Annahme paulinischer Verfasserschaft weithin durchgesetzt.88
Verfolgte der Briefschluss mithin nicht das Motiv einer paulinischen Färbung des Schreibens, so ist ein anderes Motiv für die doch eher „nichtssagenden“ Schlussgrüße89 für einen textfremden Bearbeiter nicht auszumachen. Warum überhaupt sollte sich ein paulinischer Bearbeiter ein „unpaulinisches“ Schreiben „gegen seine eigene Absicht“90 angeeignet haben? Andererseits wäre aber auch vom Auctor ad Hebraeos selbst zu erwarten, dass er nicht erst am Schluss91 und nicht so unscheinbar92 die Paulus-
85 Möglicherweise ist bei avpolelume,non auch an die Abreise des Timotheus zu denken; s.u. 2.5. 86 W.G. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 12), 350; ähnlich C.P. ANDERSON, The Epistle to the Hebrews and the Pauline Letter Collection, HThR 59, 1966, 429–438: 437; H.J. FREDE, Epistula ad Hebraeos, VL 25,2, 1987, 997–1662: 1054. 87 So E. GRÄSSER, Hebr I, 18; A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 234 Anm. 8; W. WREDE, Rätsel (s. Anm. 15), 83f. 88 Zu dieser Darstellung vgl. insgesamt H.-F. WEISS, Hebr, 115–125; ähnlich bereits A. JÜLICHER, Einleitung (s. Anm. 13), 102, zum Briefschluss: „scheint uns der Abschnitt schliesslich doch leichter verstanden zu werden als die Hauptveranlassung der Paulinisirung des Briefs wie als ihre nachträglich fabricirte Rechtfertigung“ (so auch A. HARNACK, Geschichte [s. Anm. 83], 102). Zur Kanongeschichte auch H.J. FREDE, Epistula (s. Anm. 86), 1056–1062; C. SPICQ, Hebr I, 169–189. 89 So A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 234 Anm. 7. 90 E. GRÄSSER, Hebr I, 18 Anm. 35. 91 Wredes Theorie, erst im Laufe des Schreibprozesses sei es dem Vf. in den Sinn gekommen, „unter der Firma des Paulus“ zu schreiben (Rätsel [s. Anm. 15], 67), hat mit Recht keinen Anklang gefunden. 92 Das sieht W. WREDE, Rätsel (s. Anm. 15), 70, selbst: „je mehr Reflexion wir annehmen, desto mehr wundern wir uns, daß die Hindeutungen auf Paulus am Schlusse
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Autorenschaft fingiert hätte. Eine von ihm bewusst gesuchte, rein literarische Einbindung in die paulinische Kontinuität durch Aufnahme von wenig aussagekräftigen „Formalia“ des Eschatokolls erscheint kaum plausibel.93 Der „paulinische“ Schluss markiert vielmehr eine vorliterarische, nämlich historisch-sozial vermittelte Paulus-Nähe des Gesamtschreibens. 2.3 Die römische Lokalisierung der Adressatengemeinde These: Der Hebr ist mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Gemeinde bzw. eine Gemeindegruppe in Rom gesandt worden.
Lassen sich die Kontakte zwischen Hebr und Paulus-Schule lokalisieren? Folgende Argumente weisen darauf hin, dass die Gemeinde bzw. die Gemeindegruppe,94 an die sich das Schreiben richtete, in Rom anzusiedeln ist. 1) Schon immer wurde beobachtet, dass der Gruß 13,24 am ehesten verständlich wird, wenn die „oi` avpo. th/j VItali,aj“ als profilierte Gruppierung, also wohl in der Fremde, ihre Landsleute in der italischen Heimat grüßen. Die Präposition avpo, c.gen. – statt evk c.gen. – bezeichnet mit ihrem separativen Element auch sonst die geographische Herkunft von Personen außerhalb ihres Ursprungslands (vgl. Mt 21,11; Joh 12,21; Apg 6,9).95 Wo Exegeten sich auf eine Adressatengemeinde festlegen,96 wird daher Italien bzw. konkret Rom97 bevorzugt.98 Eine Minderheit plädiert – weniger plaunicht massiver ausgefallen sind, daß der Schreiber die Identifizierung seiner Person mit Paulus nicht direkter an die Hand gibt“. 93 Anders H.-F. WEISS, Hebr, 747. 94 Im Einzelnen ist schwer festzustellen, ob an die römische Gemeinde schlechthin oder an eine römische Gemeindegruppe zu denken ist. C.-P. MÄRZ, Hebräerbrief, NEB.NT 16, Würzburg 21990, 19, und H.-F. WEISS, Hebr, 75, plädieren mit guten Argumenten für die letztere Annahme. Diese Annahme lässt sich durch sozialgeschichtliche Argumente weiter stützen (s.u. 2.5). Andererseits könnte man bei einem speziell begrenzten Adressatenkreis wohl doch eine konkretere persönliche Färbung erwarten. Möglicherweise ist das Schreiben für die Zirkulation in einem Kreis von Gemeindegruppierungen gedacht gewesen. 95 Vgl. P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, WUNT II/18, Tübingen 1987, 60 (allgemein F. BLASS/A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch. Bearb. von F. Rehkopf, Göttingen 161984, § 209,3); dazu aber C. SPICQ, Hebr I, 261–263. A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 234 Anm. 6, verweist auf Ignatius Ant., Trall. 12,1 (hier allerdings: VAspa,zomai u`ma/j avpo. Smu,rnhj, keineswegs, wie Lindemann zitiert: avspa,zontai u`ma/j avpo. Smu,rnhj) und Ignatius Ant., Magn. 15 (VAspa,zontai u`ma/j VEfe,sioi avpo. Smu,rnhj), aber die sprachliche Parallele verfängt nicht, und die sachliche Parallele belegt gerade die von uns vorausgesetzte Situation! 96 Anders etwa E. GRÄSSER, Hebr I, 24f, den schon seine literarkritische Abtrennung des Postskripts an einer Lokalisierung hindern muss. 97 Der Unterschied zwischen der allgemeinen und der konkreten Bezeichnung wiegt nicht allzu schwer, vgl. Apg 18,2.
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sibel99 – für Italien als Ort der Abfassung, von dem aus die Italiker ganz allgemein grüßen.100 Eine wie auch immer geartete Beziehung des Hebr zu Italien steht jedenfalls fest. 2) Dem entspricht die äußere Evidenz. Der Hebr ist nach Ausweis des 1Clem. der römischen Gemeinde bereits um das Jahr 96 n.Chr.101 bekannt (vgl. bereits Eusebius Caes., h. e. 3,38,1–3; 6,25,14).102 Ferner scheinen die in Rom wirkenden Kirchenschriftsteller des zweiten und frühen dritten Jahrhunderts, Hermas, Justin, der römische Presbyter Gaius (nach Eusebius Caes., h. e. 6,20,3) und Hippolyt, das Schreiben zu kennen oder zeigen doch konkrete Traditionskorrespondenzen, ohne ihm jedoch paulinische Dignität zuzuschreiben (vgl. noch Hieronymus, ep. 129,3).103 Die Kirche in Rom ist die erste, die das Schreiben bezeugt, aber eine der letzten, die sich von seiner paulinischen Herkunft überzeugen lässt. Es wird zitiert oder klingt jedenfalls mehr oder weniger deutlich an, besitzt aber lange Zeit keinerlei kanonische Geltung.104 Eher neigt man im Westen dazu, Hebr im
98 Vgl. F.F. BRUCE, “To the Hebrews”: A Document of Roman Christianity?, ANRW II 25.4, 1987, 3496–3521: 3517–3519; A. HARNACK, Geschichte (s. Anm. 83), 479 (als Wahrscheinlichkeit); DERS., Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefs, ZNW 1, 1900, 16–41: 19–21; A. JÜLICHER, Einleitung (s. Anm. 13), 109; W.G. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 12), 353f (vorsichtig); P. LAMPE, Christen (s. Anm. 95), 60 (als Möglichkeit); C.-P. MÄRZ, Hebr, 19; W. MANSON, Epistle (s. Anm. 8), 11–13; O. MICHEL, Hebr, 52; R. PERDELWITZ, Problem (s. Anm. 68), 72f; H.-F. WEISS, Hebr, 76.765; TH. ZAHN, Einleitung in das Neue Testament II, Leipzig 31907, 147–151. 99 Der Einwand von TH. ZAHN, Einleitung (s. Anm. 98), 147f, ist triftig: „Aber befremdlich bleibt es in diesem Fall, daß er die Christen seiner Umgebung nicht entweder als die um ihn befindlichen Brüder oder Heiligen oder als die Gemeinde des Orts, wo er sich aufhält (1Pt 5,13), sondern statt dessen nach ihrer Herkunft als Leute aus Italien bezeichnet“. 100 Immerhin war das bereits eine Kombination in den subscriptiones einiger Textzeugen (A P Byz 81 104). Für italische Herkunft plädieren etwa C. SPICQ, Hebr I, 261– 265, und PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 251. Zur Lokalisierungsdiskussion vgl. F.F. BRUCE, Hebrews (s. Anm. 98), 3513–3519; H. FELD, Hebräerbrief (s. Anm. 45), 12–14. 101 Zur Datierung des 1Clem. vgl. jetzt A. LINDEMANN, Die Clemensbriefe, HNT 17, Tübingen 1992, 12f. 102 Eine – auch literarische – Orientierung des 1Clem. an Hebr wird heute fast allgemein angenommen, vgl. etwa K. ALAND, Methodische Bemerkungen zum Corpus Paulinum bei den Kirchenvätern des zweiten Jahrhunderts, in: Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum. FS C. Andresen, hg. v. A.M. Ritter, Göttingen 1979, 29–48: 33–36; A. LINDEMANN, Clemensbriefe (s. Anm. 101), 18–20; H.-F. WEISS, Hebr, 115f; anders etwa PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 251. 103 Vgl. im Einzelnen C.P. ANDERSON, Epistle (s. Anm. 86); O. MICHEL, Hebr, 38f Anm. 2; C. SPICQ, Hebr I, 177–180; H.-F. WEISS, Hebr, 116f. 104 Vgl. etwa C.P. ANDERSON, Epistle (s. Anm. 86), 433f.
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Umkreis der paulinischen Mitarbeiter anzusiedeln (z.B. Tertullian, pud. 20: Barnabas [als auf Tertullian überkommene Überlieferung]). 3) Auch die Textüberlieferung bietet ein triftiges Argument. Die erste Bezeugung für Hebr liegt mit dem Chester-Beatty-Papyrus p46 vor, also relativ früh um 200.105 Hier ist Hebr ganz ungewöhnlich hinter Röm und vor 1 und 2Kor eingereiht (ebenso die Minuskeln 103 455 1961 1964 u.a.). Die Sequenz verdankt sich offenbar nicht dem Ordnungsprinzip des Umfangs, denn 1Kor ist länger als Hebr. Dann kommt aber das bevorzugte Ordnungsprinzip nach Adressaten in Frage.106 In der Kanonforschung wurde die Stellung des Hebr im Corpus Paulinum als Erinnerung an die römische Gemeinde als ursprünglichen Traditionssitz des Hebr gewertet.107 David Trobisch hat im Ausgang von p46 eine älteste Teilsammlung des Corpus Paulinum Röm – Hebr – 1Kor – Eph erschlossen, die möglicherweise Clemens Romanus vorgelegen haben mag, der wahrscheinlich Röm, 1Kor und Hebr benutzt hat.108 4) Der Terminus h`gou,menoi bzw. prohgou,menoi für die Gemeindeleiter (13,7.17.24) ist in kirchlich-titularem Sinn in Rom belegt, und zwar nur in Rom: 1Clem. 1,3; 21,6; Herm. vis. II 2,6; III 9,7.109 5) Die in Hebr vorausgesetzte Situation passt in das römische Milieu: Timotheus, der Begleiter des Paulus, ist hier bekannt (vgl. auch Röm 16,21110). Die captatio benevolentiae 6,10 findet eine Entsprechung in anderen nach Rom gerichteten Schreiben (Ignatius Ant., Rom. inscr.; Herm. sim. IX 27; Dionysius von Korinth nach Eusebius Caes., h. e. 4,23,9f).111 Die Erwähnung aller h`gou,menoi (13,24) mag an die Formierung der römischen Christen in verschiedene Teilgemeinden denken lassen.112
105 Zur allgemeinen Charakterisierung vgl. D. TROBISCH, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik, NTOA 10, Freiburg i.Ue./Göttingen 1989, 26–28. 106 Vgl. dazu allgemein D. TROBISCH, Entstehung (s. Anm. 105), 90f. 107 Vgl. H.J. FREDE, Epistula (s. Anm. 86), 1055f; ebenso H.-F. WEISS, Hebr, 118f. Eine andere Erklärung bietet D. TROBISCH, Entstehung (s. Anm. 105), 107f. 108 Entstehung, 60f (zur Brieffolge auch H.J.D. SPARKS, The Order of the Epistles in P46, JThS 42, 1941, 180f). Zur Benutzung ntl. Briefe bei Clemens vgl. A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 191–194; DERS., Clemensbriefe (s. Anm. 101), 17–20. 109 A. HARNACK, Probabilia (s. Anm. 98), 19f; W.G. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 12), 354. Zu den h`gou,menoi F. BÜCHSEL, Art. h`ge,omai ktl, ThWNT II, 1935, 909–911; O. MICHEL, Hebr, 40f Anm. 6. 110 Wer Röm 16 für den Teil eines Epheserbriefes hält, kann diesen gleichwohl in zeitlicher und räumlicher Nähe zu Röm ansiedeln (vgl. H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung [s. Anm. 4], I, 146f; PH. VIELHAUER, Geschichte [s. Anm. 1], 187–190). 111 Vgl. A. HARNACK, Probabilia (s. Anm. 98), 20. 112 Vgl. A. HARNACK, Probabilia (s. Anm. 98), 22; C.-P. MÄRZ, Hebr, 19.
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Soziokulturell ist jedenfalls angesichts des von Hebr vorausgesetzten Bildungsstandards an eine von großstädtischer Kultur beeinflusste Gemeinde zu denken.113 Demgegenüber kann man gegen die römische Adresse nicht geltend machen, nach 10,32–34; 12,4 habe die Adressatengemeinde noch keine blutigen Verfolgungen erlitten, sodass Rom aufgrund der Christenverfolgung unter Nero ausscheide.114 Zwischen der neronischen Verfolgung 64 n.Chr. und der wahrscheinlichen Abfassungszeit etwa zwischen 80 und 95 n.Chr. liegt ein erheblicher Zeitraum. Außerdem steht fest, dass die aktuellen Adressaten ja in der Tat „noch nicht bis auf das Blut widerstanden“ (2. pers. pl.) haben. Immerhin litten sie allgemein unter Verfolgung (10,32–34); in 13,7 freilich mag an das zurückliegende Martyrium früherer Gemeindeführer gedacht sein. Ohnehin liegt 12,4 eher metaphorischer Sprachgebrauch vor und keine Anspielung auf eine – wohl auch schwer konkret vorauszusehende – Verfolgungssituation.115
2.4 Die historische Situation These: Die Angaben der peroratio und des postscriptum sind als Fiktion relativ schwierig zu erklären und lassen eher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die reale Verfasser-Leser-Relation schließen.
Vor einer historischen Auswertung der Angaben des Schlusskapitels ist zu prüfen, ob der Schluss überhaupt reale Angaben enthält oder ob der Vf. diese Angaben fingiert hat, um seinem an sich „katholischen“ Schreiben konkreten Briefcharakter zu geben. Mit dieser Frage hängt das grundsätzliche Problem zusammen, ob die in Hebr vorausgesetzte Situation den allgemeinen Zustand im Frühchristentum vor der Jahrhundertwende widerspiegelt oder auf die konkrete Lage bestimmter Adressaten zu beziehen ist. Erich Gräßer hat den aporetischen Textbefund zutreffend charakterisiert: „für ein konkretes Gegenüber ist der Hb eine Spur zu unpersönlich; für ein ideelles Publikum nicht unpersönlich genug“116. Mahnungen und Angaben wie 2,1–4; 3,12–14; 4,1.11.14–16; 5,11–6,3; 6,9–12; 10,19–25. 32–39; 12,1–17; 13,1–17 scheinen allgemein auf die religiöse Krise einer enttäuschten Spätgeneration unter den Bedingungen gesellschaftlicher Diskriminierung anzuwenden zu sein.117 Dies vorausgesetzt, wirken prima
113
Vgl. H. HEGERMANN, Hebr, 10. W. BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (1934), BHTh 19, Tübingen 21964, 241f, macht noch darauf aufmerksam, dass nach Ausweis von Röm und 1Clem. wie nach Hebr gerade die Schreiben, die in Beziehung zur römischen Gemeinde stehen, ein besonderes Interesse an der Schriftgrundlage des „Alten Testaments“ hegen. 114 So H. HEGERMANN, Hebr, 10; H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), II, 271. 115 So auch H.-F. WEISS, Hebr, 646f. 116 Hebr I, 149. 117 So vor allem M. DIBELIUS, Der himmlische Kultus nach dem Hebräerbrief (1942), in: ders., Botschaft und Geschichte. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 1956, 160–176: 160; E. GRÄSSER, Hebr I, 24f; H. KÖSTER, Einführung (s. Anm. 23), 711.
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facie auch die Schlussangaben unkonkret genug, um auf die Fiktion einer Verfasser-Leser-Beziehung schließen zu lassen.118 Nun ist prinzipiell zu fragen, welcher Grad an Konkretion von einer brieflich versandten Homilie überhaupt erwartet werden kann, zumal wenn sie von vornherein zur Zirkulation vorgesehen war, was immerhin wahrscheinlich ist (vgl. auch 13,24119). Jedenfalls sind loci communes wie 13,1– 9 für die peroratio einer Homilie durchaus stiltypisch.120 Ferner scheinen Aussagen wie 5,12; 6,10; 10,25.32–34; 13,7 doch wohl an zu konkrete Erfahrungen der Leser zu appellieren, als dass man annehmen könnte, sie spiegelten lediglich typische Situationen wider.121 Die Glaubenskrise, zu der Hebr Stellung nimmt, scheint außergewöhnlich akut zu sein,122 und auch das vom Vf. vorausgesetzte Reflexionsniveau lässt eher an eine fest umrissene, bildungssoziologisch eigentümlich profilierte Gemeinschaft denken (vgl. 5,11–6,3).123 Ist die Hypothese eines pseudepigraphischen Gestaltungsinteresses des Postskripts nicht zu halten (s.o. 2.2; 2.3), dann lässt sich auch kein Motiv für eine Fiktion ausmachen. Gleichwohl ist einzuräumen, dass die Schlussbemerkungen konkrete persönliche Farbe vermissen lassen. Dies ist aber in unbestritten realen Situationsangaben bei authentischen Paulusbriefen keineswegs anders (vgl. 2Kor 13,11–13; Phil 4,21–23), während tatsächliche Fiktionen wiederum sehr konkret und persönlich gestaltet sein können (vgl. Kol 4,7–18; 2Tim 4,9–22!). Gerade für antike Brieffiktionen ist die Ähnlichkeit mit konkreten Privatbriefen charakteristisch, während umgekehrt tatsächlich verschickte Briefe durchaus unbrieflich wirken können, zumal wenn im Prozess von Sammlung und Edition gerade der briefliche
118
K. ALAND, Bemerkungen (s. Anm. 102), 42; A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 234 Anm. 6; H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), II, 270; PH. VIELHAUER, Geschichte (s. Anm. 1), 241; H.-F. WEISS, Hebr, 763. 119 Vgl. dazu H. HEGERMANN, Hebr, 286f. 120 Vgl. näher W.G. ÜBELACKER, Hebräerbrief (s. Anm. 67), 220–223. 121 Vgl. auch E. GRÄSSER, Hebräerbrief (s. Anm. 34), 149; O. MICHEL, Hebr, 55; H.F. WEISS, Hebr, 74. 122 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 74. 123 H.-F. WEISS, Hebr, geht einerseits davon aus, dass sich Hebr nicht nur an eine Ortsgemeinde, sondern sogar speziell an einen konkret umrissenen, „besonders gefährdeten“ Adressatenkreis wendet (764); andererseits hält er die „vorausgesetzte konkrete Situation“ für fiktiv; der Autor wolle so „sich selbst ganz offensichtlich bewusst in die Kontinuität des Apostels Paulus“ einordnen (763). Beide Aussagen scheinen kaum miteinander vereinbar. Eine reale Situierung des Briefes nehmen auch A. HARNACK, Geschichte (s. Anm. 83), 478; H. HEGERMANN, Hebr, 285–288; A. JÜLICHER, Einleitung (s. Anm. 13), 101f; C.-P. MÄRZ, Hebr, 83–85; J. MOFFATT, Hebr, xxviiif, an.
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Rahmen bevorzugter Ort von Tilgungen war.124 Von daher liegt in der Tat die Annahme näher, dass Hebr eine konkretere Situation widerspiegelt, ohne so konkret zu sein, dass die Homilie, einmal gehalten, schon überholt war. Geht man davon aus, dass die Kontinuität in den paulinischen Gemeinden auch individualgeschichtlich durch die Konstanz der ehemaligen Paulus-Mitarbeiter hergestellt wurde (s.u. 2.5), so kann die – untendenziöse – Nennung des Paulus-Mitarbeiters Timotheus nicht als hinreichendes Argument zugunsten des fiktiven Charakters der Schlussbemerkungen angeführt werden. So steht insgesamt nichts dagegen, die Angaben des Schlusses zur Verfasser-Leser-Beziehung historisch auszuwerten, obgleich hier ein gewisser Unsicherheitsfaktor kaum auszuräumen ist. Dieser Unsicherheitsfaktor beeinträchtigt jedoch nicht die prinzipielle Ausrichtung unserer Thesen. Selbst wenn das Postskript nur einen literarischen Anschluss an Gepflogenheiten paulinischer Korrespondenz intendiert haben sollte, bleibt doch das Faktum einer bewussten Annäherung an die Paulus-Schule und damit die Situation soziologisch vermittelter theologischer Nachbarschaft. Man mag dann die Darlegungen des folgenden Kapitels als illustrierendes Paradigma solcher sozialen Kontakte werten.
2.5 Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule These: Hebr 13,22–25 lässt auf konkrete soziale und theologische Beziehungen zwischen der Hebr-Gemeinde und der römischen Paulus-Schule schließen. Diese bilden die historischsoziologische Möglichkeitsbedingung für die signifikante Traditionsnähe zwischen Hebr und dem Corpus Paulinum und für deren Verwandtschaft in den Formalia der VerfasserLeser-Relation. Das stadtrömische christliche Milieu des späten ersten und des zweiten Jahrhunderts mit seiner dezentralen Fraktionierung, seiner theologischen Pluralität und einer ausgeprägten Tendenz zu theologischem Dialog und gemeinschaftsstiftender Glaubenspraxis erweist sich als der sozialgeschichtliche Hintergrund dieses Beispiels frühchristlicher Kommunikation. Solche frühen Kontakte förderten die theologische Rezeption des Hebr wie des Paulinismus und letztlich ihre kanongeschichtliche Integration. So gesehen ist frühchristliche Theologiegeschichte weder als sukzessive Folge von Traditionsblöcken noch als unverbundenes Nebeneinander von Entwicklungslinien zu verstehen. Sie erweist sich vielmehr – zumindest für Hebr und die Paulus-Schule – als umfassender Kommunikations- und Integrationsprozess konvergierender Traditionslinien. Von daher ist die gängige Vorstellung von der theologiegeschichtlichen Außenseiter-Rolle des Hebr ebenso zu revidieren wie die Vorstellung einer mangelnden theologischen Rezeption des Paulus im frühesten Christentum.
Folgende Situation ist also zu rekonstruieren: Der Vf. befindet sich auswärts, in seiner Umgebung hält sich eine Gruppe italischer Christen auf (13,24), die ein Bindeglied zur römischen Gemeinde darstellt. Der Vf. hatte auch schon früher Kontakte zu dieser Gemeinde (13,19), ohne wohl 124
Sollte also im Zuge des Sammlungs- oder Editionsprozesses das Präskript getilgt worden sein, weil am Vf. kein Interesse mehr haftete? Vgl. dazu allgemein D. TROBISCH, Entstehung (s. Anm. 105), 96–98.
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selbst zu ihrer Führungsschicht zu gehören (13,24). Ihr sendet er seine Homilie, um ihrer akuten Glaubenskrise in der Situation gesellschaftlicher Ausschließung entgegenzusteuern, die sich in Enttäuschung und Erschöpfung niederschlägt. Der Gemeinde ist auch der ehemalige Paulus-Mitarbeiter Timotheus bekannt (13,23), der mittlerweile als eigenständiger Missionar im paulinischen Einflussbereich tätig sein dürfte, zu dem auch Rom gehört. Timotheus ist jetzt aus der Haft entlassen worden bzw. zur Reise nach Rom aufgebrochen.125 Jedenfalls will der Vf. sich mit ihm, wohl an seinem jetzigen Aufenthaltsort, treffen und plant, ihn auf seiner Romreise zu begleiten (13,23).126 Dass Timotheus im Rahmen eines „paulinisch“ wirkenden Postskripts tatsächlich der bekannte Mitarbeiter des Paulus ist, wird mit Recht von nahezu allen Hebr-Kommentatoren angenommen.127 In den Paulus-Briefen steht er naturgemäß eher im Schatten des Apostels, aber bereits hier wird deutlich, dass er keineswegs nur der meistgenannte und wichtigste „Paulus-Schüler“ ist, sondern auch ein durchaus selbständiger Missionar (vgl. Röm 16,21; 1Kor 16,10f; 2Kor 1,1; Phil 1,1; 2,19–23; 1Thess 1,1; 3,1f; Phlm 1).128 Auch nach dem Tod des Apostels dürfte er gerade in den paulinischen Gemeinden tätig geblieben sein. Die Zeugnisse der nachpaulinischen Tradition sind breit gestreut. Sie reichen von Apg bis hin zu allen Varianten des Deuteropaulinismus (Kol 1,1; 2Thess 1,1; 1Tim; 2Tim). Wenn die nachpaulinische Überlieferung dem Timotheus immerhin zwei Briefe gewidmet sein lässt, so ist daraus auf seine eminente Bedeutung für die Paulus-Schule zu schließen. Timotheus wird auch in Rom, der letzten Wirkungsstätte des Paulus, bekannt gewesen sein (vgl. Röm 16,21; Apg 20,4; ferner 2Tim 4,9.19–21).129 Peter Müller hat in seiner einschlägigen Studie (1988)130 gezeigt, dass die PaulusSchule regional weit gestreute Kreise von Traditionsträgern mit einer großen Variations125
avpolelume,non kann sich auf die Freilassung aus der Haft beziehen, aber auch die Abreise des Timotheus meinen; ginw,skete kann indikativisch wie imperativisch verstanden werden (vgl. etwa H. BRAUN, Hebr, 482f). Der Autor bleibt hier merkwürdig knapp und scheint konkreteres Wissen bei der Adressatengruppierung vorauszusetzen. Auch dies spricht gegen eine fiktive Situationsbeschreibung. 126 H. HEGERMANN, Hebr, 286, möchte aufgrund der sonst unverständlichen Bitte 13,23 die Aussage meqV ou- o;yomai metaphorisch verstanden wissen (vgl. Kol 2,5). Diese Interpretation scheitert jedoch an dem eingeschobenen Konditionalsatz eva.n ta,cion e;rchtai. Zudem besteht ein Widerspruch zwischen dem Gebet der Gemeinde um baldige Rückkehr des Autors und der von ihm selbst erwogenen Reise wohl nur für modernes Empfinden. 127 So etwa H. HEGERMANN, Hebr, 285; O. MICHEL, Hebr, 543; J. MOFFATT, Hebr, 244; H.-F. WEISS, Hebr, 763; anders lediglich N. BROX, Die Pastoralbriefe, RNT, Regensburg 1969, 18, der seine Skepsis aber nicht begründet. 128 Vgl. P. MÜLLER, Anfänge (s. Anm. 4), 289f; allgemein W.H. OLLROG, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, WMANT 50, Neukirchen-Vluyn 1979, 111–202. 129 Vgl. dazu näher N. BROX, Pastoralbriefe (s. Anm. 127), 17–19; P. TRUMMER, Art. Timo,qeoj, EWNT III, 1983, 860–862: 861f. 130 P. MÜLLER, Anfänge (s. Anm. 4), am Beispiel von 2Thess und Kol; vgl. das Resümee 321–325.
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breite literarischer Produktion und theologischer Konzeption umfasst. Die Verbindung mit dem Apostel Paulus als der „Ursprungsgröße des Evangeliums“ wird einerseits gewahrt durch die „individualgeschichtliche Kontinuität der Paulusmitarbeiter“131, andererseits durch die soziale Kontinuität der paulinischen Gemeinden selbst, schließlich auch durch die theologische wie pastorale Kontinuität der para,dosij, die Gemeinde-Identität wesentlich durch „Erinnern“ und „Festhalten“ konstituiert sein lässt.
In diesen grob skizzierten Rahmen wird man im weiteren Sinne auch den durch Paulus geprägten Teil der römischen Gemeinde einordnen können. Die individualgeschichtliche Kontinuität ist hier durch Timotheus gesichert. Auch für den Auctor ad Hebraeos ist die kirchliche Tradition ein entscheidender Faktor, und sein Verständnis christlicher Existenz artikuliert sich wesentlich in dem Gedanken des Festhaltens an der o`mologi,a (2,3; 3,1.6.14; 4,14; 10,23). Der entscheidende Unterschied zur PaulusSchule liegt für ihn freilich darin, dass seine Interpretation der zu wahrenden o`mologi,a unabhängig von einer paulinischen und in diesem Sinn dezidiert apostolischen Herkunft bleibt. Er steht nach Ausweis seiner Schrift nicht in der paulinischen Tradition, hat jedoch konkrete, sozial vermittelte Kontakte mit ihrer Theologie und mehr noch mit ihrer kerygmatischen Praxis.132 Außerdem steht er mit der paulinisch geprägten römischen Gemeinde in Verbindung. Hier erweist sich der paulinische Missionar Timotheus als konkretes Bindeglied. Der Vf. bringt das enge Verhältnis mit dem Epitheton o` avdelfo.j h`mw/n zum Ausdruck.133 Zwischen ihm bzw. seiner Adressatengemeinde und Timotheus bzw. den paulinisch geprägten römischen Christen herrschen also persönliche Kontakte, eine Verbundenheit in der Mission und, damit verknüpft, eine – wohl gegenseitige – theologische Beeinflussung. Damit wäre die historisch-soziolo131
P. MÜLLER, Anfänge (s. Anm. 4), 323 (Hervorhebung von K.B.). Bekanntlich hat Luther den urchristlichen Missionar Apollos als Verfasser des Hebr vorgeschlagen und hierfür bis in die Gegenwart hinein Zustimmung gefunden. Nun ist es von vornherein aussichtslos, den Auctor ad Hebraeos mit einer – mehr oder weniger zufällig überkommenen – urchristlichen Persönlichkeit zu identifizieren. Dennoch besitzt der Gedanke Luthers einen gewissen heuristischen Wert. Denn der Missionar Apollos, dessen Bild aus 1Kor 1; 3f und Apg 18,24–28 ungefähr zu rekonstruieren ist, dürfte – freilich in einer früheren Generation – den Typus darstellen, den auch der Hebr-Autor repräsentiert: theologisch eigenständig, schriftkundig, „alexandrinisch“ gebildet und rhetorisch gewandt, in freien (für Lk durchaus problematischen) Beziehungen zum PaulusKreis stehend (vgl. auch H.-F. WEISS, Hebr, 63f). 133 Diese Titulierung findet sich auch bei Paulus bzw. in den Deuteropaulinen, sowohl für Timotheus selbst (2Kor 1,1; 1Thess 3,2; Phlm 1; Kol 1,1) als auch für andere Mitarbeiter (vgl. 1Kor 16,12: Apollos; Phil 2,25: Epaphras; Röm 16,23: Quartus; 1Kor 1,1: Sosthenes; 2Kor 2,13: Titus; Eph 6,21; Kol 4,7: Tychicus; Kol 4,9: Onesimus), avdelfo.j h`mw/n sonst nur in 1Thess 3,2. Der Begriff ist zu allgemein (vgl. H. BRAUN, Hebr, 482f), als dass hier etwa fingierende paulinische Färbung zu vermuten wäre (anders H.-F. WEISS, Hebr, 763). 132
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gische Möglichkeitsbedingung für die oben konstatierte signifikante Traditionsnähe und für die Verwandtschaft in den Formalia der Verfasser-LeserRelation erfasst. Die sozialgeschichtlichen Hintergründe dieser theologischen Beziehungen in der stadtrömischen Christenheit können annähernd situiert werden. Es steht fest, dass die römische Gemeinde im späten ersten und im zweiten Jahrhundert ethnisch und sozial, näherhin gerade in bildungssoziologischer Hinsicht, aber auch von der religiösen Herkunft der Christen her äußerst vielfältig gestaltet war.134 Es existierte keine umgreifende ekklesiale Organisation. Vielmehr ergibt die sozialgeschichtliche Analyse135 eine dezentrale Fraktionierung der römischen Christen von den Hausgemeinden bis hin zu den vorkonstantinischen Titulargemeinden (301–307). Damit ging eine erhebliche theologische Pluralität einher, die von den platonisch geprägten Lehren der Bildungsschicht bis zu den modalistischen Vorstellungen der simplices reichte (320–323). In Rom wirkten im zweiten Jahrhundert nebeneinander Gruppierungen wie Marcioniten mit verschiedenen Zweigen, Valentinianer, Karpokratianer, Theodotianer, modalistische Monarchianer, verschiedene Richtungen des Montanismus, Quartodezimianer, gnostische Gruppen um Cerdo (320f). Die literarische Produktion umfasste eine bemerkenswerte Spannweite von „Theologien“ – von Justin und Clemens Romanus über den „Hirten des Hermas“ bis zu Marcion. Dieser mit Fraktionierung verbundenen Pluralität entsprach eine durchaus tolerante binnenchristliche Kommunikationskultur, denn gerade die lokale Eigenständigkeit minderte bei aller theologischen Autarkie an sich erwartbare Spannungen (323): „Vor dem Ende des 2. Jh., speziell vor dem Episkopat Viktors (ca. 189–199 n.Chr.), sprach in Rom kaum eine Christengruppe einer anderen das Bruder/Schwester-Sein ab“ (324).136 Die Koinonia der verschiedenen Formationen wurde theologisch gesucht und durch einheitsstiftende Praktiken verwirklicht (324–334). Deutlicher Ausdruck für diese Sicht war die von Rom aus proklamierte synthetische Losung „Petrus und Paulus“, die in einer Gemeinde, die den historischen Paulus aus seiner Korrespondenz kannte, alles andere als selbstverständlich war (vgl. 1Clem. 5; Ignatius Ant., Rom. 4,3: Dionysius von Korinth nach Eusebius Caes., h. e. 2,25,8).137 Natürlich können alle diese Befunde, sofern sie großenteils ins zweite Jahrhundert gehören, nur mit Vorbehalt auf Hebr angewendet werden. Bezeichnenderweise steht aber in 1Clem. als einem Brief der römischen Gemeinde an die paulinisch geprägte Gemeinde von Korinth vermutlich der – hier keineswegs auf Paulus zurückgeführte – Hebr unkompliziert neben paulinischen Schreiben, vor allem 1Kor. Auch diese Synthese, nach üblicher Datierung etwa um 96 n.Chr., kann ein Licht auf den oben postulierten Kontakt zwischen den unterschiedlichen theologischen Richtungen der Paulus-Schule und der HebrGemeinde werfen.
134 Vgl. die instruktive Monographie von P. LAMPE, Christen (s. Anm. 95), z.B. 78– 82.322f. 135 Vgl. ausführlich P. LAMPE, Christen (s. Anm. 95), 301–345. 136 Hiervon ausgenommen waren lediglich Marcion und Cerdo. 137 Vgl. W. BAUER, Rechtgläubigkeit (s. Anm. 113), 105.116; H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), I, 235. Zu 1Clem. im Einzelnen O. KNOCH, Petrus und Paulus in den Schriften der Apostolischen Väter, in: Kontinuität und Einheit. FS F. Mußner, hg. v. P.-G. Müller/W. Stenger, Freiburg i.Br. 1981, 240–260: 243–245; zu Ignatius Ant., Rom., ebd., 246–251.
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Die ältere Forschung hat sich mitunter den Gang der frühchristlichen Theologiegeschichte als sukzessive Folge von Traditionsblöcken vorgestellt. In einem solchen Bild lässt sich das Verhältnis des Hebr zur paulinischen Tradition sicher nicht fassen. Das von Helmut Köster und James M. Robinson ins Gespräch gebrachte Vorstellungsmodell von theologiegeschichtlichen Entwicklungslinien in einer pluralen Dynamik kann der Verhältnisbeschreibung eher dienen.138 Indes wird dieses Modell – zumindest für Hebr und die Paulus-Schule – dann missverständlich, wenn man die Entwicklungslinien als paralleles und isoliertes Nebeneinander denkt. Die Linien der Paulus-Schule und des Hebr haben keinen gemeinsamen paulinischen Ursprung und verlaufen unableitbar voneinander und eigenständig, aber sie konvergieren, und zum Teil überkreuzen sie sich. Von daher ist es durchaus sachgerecht, den Hebr als Repräsentanten der urchristlichen Pluralität zu interpretieren – er kann theologisch aus sich und ohne Paulus leben.139 Aber diese frühchristliche Vielfalt war kein unverbundenes Nebeneinander, sondern, wie jedenfalls Hebr illustriert, ein kommunikationsfähiges und -bereites Miteinander.140 Insofern hat Hebr faktisch nicht ohne Paulus-Schule gelebt, und aufgrund dieser Berührung vor allem hat er kanongeschichtlich überlebt. So gesehen dürfte aber auch die gängige Vorstellung über die PaulusRezeption in der Frühkirche zu revidieren sein. Walter Bauer hat die bis heute einflussreiche These vertreten, die Geschichte des Paulinismus nach dem Tod des Apostels sei ungeachtet der Entfaltung der Paulus-Fama eine Geschichte des Abbaus seiner Theologie gewesen.141 Paulus, so erklärt mit vielen anderen Georg Strecker, sei im Grunde auch in seiner Rezeptionsgeschichte „Außenseiter“ geblieben, wiederentdeckt nur in seltenen „Sternstunden der Kirchengeschichte“142. Ursache für die mangelnde Wirkung des Apostels seien die judenchristlichen Vorbehalte gegen seine Theologie und seine Vereinnahmung durch die heterodoxen Formationen, nicht zuletzt durch Marcion, gewesen.143 Von daher stellt sich dann Strecker freilich die Frage, warum die Großkirche den paulinischen Schriften, die ihrem eigenen theologischen Selbstverständnis zuwiderliefen, Eingang in 138 Trajectories through Early Christianity, Philadelphia, Pa. 1971; vgl. auch H.-F. WEISS, Hebr, 94. 139 So F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), 221. 140 H.-F. WEISS, Hebr, 94, spricht treffend von „relativer Pluralität“. 141 Rechtgläubigkeit (s. Anm. 113), 216.221.235–239. In diesem Sinn rekonstruiert auch H.-J. SCHOEPS, Paulus (s. Anm. 43), 279–299, die kirchliche Rezeptionsgeschichte des Paulus. Ähnlich urteilen A. Harnack und E. Käsemann, entschieden auch S. SCHULZ, Mitte (s. Anm. 6). Zur Forschungsgeschichte im Einzelnen vgl. A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), 1f.6–10. 142 Paulus (s. Anm. 68), 212f. 143 G. STRECKER, Paulus (s. Anm. 68), 213f.
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den Kanon des Neuen Testaments gewährte. Die Antwort liegt für ihn darin, dass sich ein Teil der christlichen Gemeinden das paulinische Schrifttum bereits angeeignet hatte oder sich historisch auf den Apostel zurückführte. Die kanonische Anerkennung der paulinischen Briefe „erfolgte also im Interesse des dem christlichen Auftrag entsprechenden friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen kirchlichen Gruppen“144. Es ist sehr fraglich, ob solcher Irenismus tatsächlich erklärt, dass die Frühkirche 13 bzw. 14 auf Paulus zurückgeführte Schriften ihrem Kanon eingliederte, also die Hälfte der anerkannten Schriften überhaupt.145 Diese Entscheidung war nicht irenisch-praktisch motiviert, sie war theologisch und hatte eminent theologische Konsequenzen! Viel näher liegt es, dass die entscheidenden Kommunikationsprozesse innerhalb des Frühchristentums eher erfolgten und dem Paulinismus wie den anderen theologischen Richtungen die Form gaben, in der sie allgemeine kanonische Anerkennung finden konnten. Es ist wahrscheinlich, dass bereits in der theologisch pluralen Kirche des ersten und frühen zweiten Jahrhunderts eine Auseinandersetzung und Verständigung stattfand, die durch die Mobilität innerhalb des römischen Imperium, den gemeinsamen Minoritätenstatus, die einende Verfolgungssituation und das umfassende Basisbekenntnis gefördert wurde. Vor diesem Hintergrund dürften weder die Paulus-Schule noch die Hebr-Gemeinde eine isolierte Einzelgänger-Rolle eingenommen haben. Die theologische Genese der Großkirche führte eo ipso zum Zurücktreten eines eigentümlich profilierten Paulinismus,146 zumal die historische Entwicklung an sich schon ein bloßes Repetieren ursprünglich paulinischer Theologoumena ausschloss. Durch solche Integration, die naturgemäß nur als Selektion erfolgte, konnte die paulinische Theologie allererst auf breiter Basis wirksam werden, bis sie schließlich Eingang in den Kanon der Großkirche fand. Der Hebr ist ein frühes Zeugnis dieser Integration auf144
G. STRECKER, Paulus (s. Anm. 68), 215. Zur Geschichte der Paulus-Rezeption in der Frühkirche im Allgemeinen vgl. die gründliche Untersuchung von A. LINDEMANN, Paulus (s. Anm. 4), die sich kritisch mit der hier skizzierten These von der Paulus-Vergessenheit des frühesten Christentums auseinandersetzt. 146 Das ist tendenziell auch der Gedanke bei H.-M. SCHENKE/K.M. FISCHER, Einleitung (s. Anm. 4), I, 243: „Vielleicht genügt es, Bauers These ... dahingehend zu modifizieren, daß man den Rückgang, aufs Ganze gesehen, nur in einer geringeren Wachstumsrate im Vergleich zur Konkurrenz bestehen läßt. Man müßte andererseits jedoch in diese Perspektive einbeziehen, daß diese, in Maßen zu denkende, Verbreiterung des Paulinismus an der Peripherie, infolge des unvermeidlichen und intensiven Kontaktes mit anderen Formen des Christentums, zu verschiedentlichen Aufweichungen führte“. Zu fragen ist, ob die Beschränkung der Paulus-Rezeption auf die „Peripherie“ der Integration in die großkirchliche Theologie gerecht wird und inwiefern sich diese – gewiss notwendig transformierende – Integration mit den Bildern von „Konkurrenz“ und „Aufweichung“ beschreiben lässt. 145
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grund sozialer Interaktion in der römischen Gemeinde und aufgrund des theologischen Traditionskontakts zum paulinisch geprägten Christentum. Umgekehrt verdankt freilich Hebr seine großkirchliche Rezeption eben dieser „paulinischen Nachbarschaft“. Auch er ist, dies sollte gezeigt werden, bei aller Originalität im Rahmen der ntl. Schriften nicht einfachhin „Außenseiter“147. Er ist Repräsentant eines selbstbewussten urchristlichen Hellenismus, er ist ebenso außerordentlich traditionsgebunden, und die hinter ihm stehende Gemeinde pflegte Kontakte mit der Paulus-Schule. Diese Nachbarschaft zur paulinischen Tradition hat später trotz aller Bedenken in der Verfasserfrage die Aufnahme des Hebr in den Kanon ermöglicht. Von daher hat Origenes am Ende wohl etwas Wahres bemerkt, wenn er seinen Zweifeln an dem paulinischen Ursprung des Briefes gleichwohl die Einschränkung beifügte: „nicht ohne Grund haben die Alten ihn wie einen paulinischen Brief überliefert“148.
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So etwa F. SCHRÖGER, Hebräerbrief (s. Anm. 7), 221. ouv ga.r eivkh|/ oi` avrcai/oi a;ndrej w`j Pau,lou auvth.n paradedw,kasin (nach Eusebius Caes., h. e. 6,25,13). 148
Per Christum in Deum Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief 1. Der lebendige Gott „Der lebendige Gott“: In keiner anderen Schrift der neutestamentlichen Literatur wird die Wendung des Titels dieser Festschrift so häufig benutzt wie im Hebräerbrief. In den Evangelien kommt die Wendung lediglich zweimal vor, und zwar bei Matthäus, hier jeweils allerdings in christologischen Spitzensätzen (Mt 16,16; 26,63 [i.V.m. 26,64– 66!]; vgl. Joh 6,57). Sonst hat sie vor allem – im Rahmen des Missionskerygmas in semantischer Opposition zu den „toten Götzen“ – eine polytheismuskritische Stoßrichtung (Apg 14,15; 1Thess 1,9; 2Kor 6,16; vgl. Röm 9,26 [Hos 2,1]), kann aber auch pneumatologisch (2Kor 3,3), ekklesiologisch (1Tim 3,15), verheißungs- (1Tim 4,10) oder gerichtstheologisch (Röm 14,11 [Jes 49,18]) konnotiert sein. In Offb bezeichnet sie die geheimnisvolle Hoheit Gottes (7,2; 15,71). In der sonstigen urchristlichen Literatur bleibt sie relativ selten.2 Der Ursprungskontext der Wendung liegt in der alttestamentlich-frühjüdischen Theo-logie, wo sie primär die Schöpfungs- (vgl. z.B. Sir 18,1) und Geschichtsmacht (vgl. z.B. Tob 13,2) Gottes bezeichnet.3
Der erste, wortstatistische Eindruck (3,12; 9,14; 10,31; 12,22; vgl. 4,12) bestätigt sich beim Blick auf den Verwendungszusammenhang. Denn vom lebendigen Gott ist in wichtigen Passagen des Hebräerbriefes die Rede. So bildet vor allem in 9,14 die Präpositionalkonstruktion eivj to. latreu,ein Qew/| zw/nti die Zielformel des (achtergewichtigen) Spitzensatzes, auf die der soteriologische Zentralpassus des Gesamtschreibens hinausläuft. In 3,12 und 10,31 markiert die Wendung jeweils den Höhepunkt einer dringli1
Vgl. noch die absolute Prädikation o` zw/n: Offb 4,9f; 10,6. Oft in Affinität zum Bildfeld des eschatologischen Gerichts: Protev. 20,1; Act. Paul. 11,4; 1Clem. 58,2; Ignatius Ant., Philad. 1,2; 2Clem. 20,2; Justin, dial. 6,2; bes. Herm. vis. II 3,2; III 7,2; sim. VI 2,2 (jeweils im Zusammenhang mit dem „Abfall“ – avposqh/nai [Herm. vis. II 3,2; III 7,2]; vgl. Hebr 3,12; 10,31); häufiger als Schwur- und Beteuerungsformel: Protev. 4,1; 6,1 u.ö.; 1Clem. 8,2. 3 Zum alttestamentlichen Hintergrund: H.-J. KRAUS, Der lebendige Gott. Ein Kapitel biblischer Theologie, EvTh 27, 1967, 169–200; S. KREUZER, Der lebendige Gott. Bedeutung, Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung, BWANT 116, Stuttgart 1983. Zum neutestamentlichen Textbefund: W. STENGER, Die Gottesbezeichnung „lebendiger Gott“ im Neuen Testament, TThZ 87, 1978, 61–69. 2
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chen eschatologischen Mahnung (vgl. 4,12); 12,22 bildet sie in einer Reihe kraftvoller Heilsmetaphern den „Chorschluss“ der im engeren Sinn theologischen Darlegungen. Während 3,12 und 10,31 – unter Mobilisierung des Leitaffekts des metus4 – die Gerichtsmächtigkeit Gottes betonen, geht es – wie die jeweiligen semantischen Oppositionen5 signalisieren – in 9,14 (vgl. 6,1) um den wahren, nämlich himmlischen, und gerade so wirksamen Seinsstatus im Gegensatz zu den „toten“, also wirkungslosen, da irdisch verhafteten (Kult-)Werken,6 in 12,22 um das fascinosum der wirkungsvollen, himmlischen Heilsordnung im Gegensatz zum tremendum der irdischen Diatheke.7 Zweifellos kennzeichnet das Gottesprädikat „lebendig“ in der Kontinuität alttestamentlich-frühjüdischer Gottesrede zunächst die hoheitsvollen Züge Gottes, die der Hebräerbrief vor dem Verstehenshorizont mittelplatonischer Sphärendichotomie gerade auch ontologisch versteht (vgl. Philo, gig. 14f; her. 242; somn. 2,237). Dennoch lässt es sich nicht im allgemeinen Sinn als Signum des Numinosen im Gottesbild des Hebräerbriefes interpretieren.8 Bei näherem Hinsehen fällt nämlich auf, dass das Epitheton gerade Gottes christologisch vermittelte Geschichtsrelevanz anzeigt und textpragmatisch dazu dient, das – höchst konkrete und alltägliche – „tua res agitur“ des christlichen Gottesbilds zu unterstreichen. „Abfallen vom lebendigen Gott“ (avposth/nai avpo. Qeou/ zw/ntoj) ist nach 3,12 Verzicht auf den „Anteil an Christus“ (me,tocoi ga.r tou/ Cristou/ gego,namen) im „Heute“ der Gemeinde (vgl. 3,13–19; ferner 3,7–11; 4,1–11). Auch die massive Drohung in 10,31 begründet sich ausdrücklich mit dem durch Christi Sühnetat erworbenen geheiligten Status der Gläubigen (vgl. 10,28–30). In 9,14 wird die „Lebendigkeit“ Gottes gerade dadurch aktuell, dass die Glaubenden durch Christi Heilstat Zugang zum Dienst (latreu,ein) 4 Zu metus und spes als parteiischen Leitaffekten in der persuasiven Strategie der antiken Redekunst vgl. H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, §§ 229.437. 5 Eine Opposition des „lebendigen Gottes“ zu den „toten Götzen“, die für das urchristliche Missionskerygma sonst kennzeichnend ist, darf angesichts der religionsgeschichtlichen Voraussetzungen des Hebräerbriefes (s.u. 2.), bes. aber nach Maßgabe der vom Schreiben selbst gebotenen Oppositionen nicht angenommen werden (anders W. STENGER, Gottesbezeichnung [s. Anm. 3], 64). 6 Zu den ontologischen Verstehensvoraussetzungen solcher Soteriologie s.u. 4.3. 7 Die Bildreihe 12,22–24 ist antithetisch der Bildreihe 12,18–21 zugeordnet; beschreibt diese das mysterium tremendum der irdischen Heilsordnung vom Sinai, so jene das mysterium fascinosum der himmlischen Heilsordnung vom Zion, zu dem die Glaubenden aufgrund der Heilstat Jesu proleptisch „schon jetzt“ Zugang haben (vgl. 12,18.22: [ouv] proselhlu,qate); vgl. näher J.W. THOMPSON, The Beginnings of Christian Philosophy. The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13, Washington, DC 1982, 41–52; H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 15/11991, 669–683. 8 So aber H. BRAUN, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen 1984, 94.
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in Gottes Heilssphäre gewinnen (vgl. 9,11–22); dieser Dienst wird in 12,22 mit einer anderen Kultmetapher als „Hinzutreten“ in die himmlische Wirklichkeit (12,18.22: prose,rcesqai) beschrieben, ermöglicht wiederum durch Christi Sühnetat (vgl. 12,24). Der „lebendige Gott“ ist nach den drei letztgenannten Passagen der Gott der neuen Diatheke (vgl. 9,15–20; 10,29; 12,24), die – wie wiederum diese drei Passagen unter Rückgriff auf die Motivik des Kelchworts der Herrenmahl-Paradosis9 betonen – durch das „Blut des Bundes“ (vgl. 9,18.20; 10,29; 12,24) gestiftet wurde. Die „Lebendigkeit“ Gottes meint also gerade die durch Christus vermittelte – individuelle wie ekklesiale – Lebensrelevanz, die lebenspendende Kraft (vgl. Joh 6,57f; ferner 1Petr 1,23) des hoheitsvoll-transzendenten Gottes.10 So ist es kein Zufall, dass nicht nur die theozentrische Wendung „lebendiger Gott“ im Hebräerbrief deutlich repräsentiert ist, sondern zugleich das Grundmotiv der Mittlerschaft Christi. In seiner Würzburger Habilitationsvorlesung (1964) hat Wilhelm Thüsing gerade am Beispiel der christologisch durchgeführten Kulttheologie den theozentrischen Charakter des Hebräerbriefes aufgewiesen11 und dessen Interpretationsinteresse bündig zusammengefasst: Das Schreiben lädt den Adressaten ein, auf Gottes Heilsangebot zu antworten, „indem er durch Christus hinzutritt zu Gott, und zwar im Vollsinn des prose,rcesqai von 10,22: in der Fülle des Glaubens an den lebendigen Gott und das von ihm verheißene Ziel und in der ganzen gnadenhaft geschenkten Weite des christlichen Lebens“12. Die für das Christentum zentrale und nach wie vor – heute auf neue Weise13 – aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Theo9 9,20 weicht im Wortlaut zugunsten dieser Paradosis (vgl. Mk 14,24/Mt 26,28) von der Schriftvorlage Ex 24,8LXX ab, indem an die Stelle der Interjektion ivdou, das Demonstrativpronomen tou/to gesetzt wird. An die Stelle des Nomens ku,rioj im Eingang des Relativsatzes tritt das Nomen o` Qeo,j mit Achtergewicht; hierin – und möglicherweise auch durch den Ersatz von diati,qhmi durch evnte,llomai – macht sich die theozentrische Konstituierung der Diatheke bemerkbar (vgl. näher K. BACKHAUS, Der Neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA 29, Münster 1996, 198–201). 10 Erhellend ist das weitere Wortfeld von zwh, im Hebräerbrief: In 7,16 wird die „Kraft eines unzerstörbaren Lebens“ unter ontologischem Gesichtspunkt dem „Gesetz eines fleischlichen Gebotes“ konfrontiert; in 7,25 wird das immerwährende Leben Jesu mit seiner Proexistenz in der Gottesgegenwart verbunden (vgl. 7,8); insofern kann auch der von Christus eröffnete Heilsweg aus der irdischen Seinssphäre zur göttlichen Wirklichkeit hin als „lebendig“ bezeichnet werden (10,20; vgl. 12,9). 11 „Laßt uns hinzutreten ...“ (Hebr 10,22). Zur Frage nach dem Sinn der Kulttheologie im Hebräerbrief (1965), in: ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Th. Söding, WUNT 82, Tübingen 1995, 184–200, bes. 199f. 12 W. THÜSING, „Laßt …“ (s. Anm. 11), 200 (Kursivierung von K.B.). 13 Zum dogmatischen Problemhintergrund des trinitarischen Monotheismus vgl. etwa H. SONNEMANS, Der einzige und drei-eine Gott. Trinität im Disput mit Judentum und Is-
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zentrik und Christozentrik im Neuen Testament hat Wilhelm Thüsing der Forschung immer wieder in Erinnerung gerufen und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.14 Vom Jubilar inspiriert, fragt dieser Beitrag also: In welcher Weise dient dem Hebräerbrief die Christologie zur Verlebendigung des theozentrischen Gottesbildes?15
2. Der theo-logische Problemhorizont Wirkt der Hebräerbrief im Ensemble der neutestamentlichen Schriften durchaus originell, so steht er doch, geistesgeschichtlich betrachtet, in einem breiten Strom philosophisch-religiöser Reflexion, wie er für den ausgehenden Hellenismus im Ganzen kennzeichnend war.16 Der Hebräerbrief repräsentiert auf seine Weise – das heißt: als eine Schrift der frühkirchlichen Schwellenphase – die Begegnung zwischen dem jüdisch-christlichen Monotheismus und der metaphysischen Tradition des Mittelplatonismus und stellt insofern ein urchristliches Pendant zu dem dar, was jüdischerseits etwa Philo von Alexandrien zu leisten versuchte. Zur Zeit der flavischen Dynastie und des frühen Adoptivkaisertums17 war der neupythagoreisch inspirierte Mittelplatonismus jenes philosophi-
lam, in: Zion – Ort der Begegnung. FS L. Klein, hg. v. F. Hahn u.a., BBB 90, Bodenheim 1993, 271–294. 14 Grundlegend ist die Habilitationsschrift: Per Christum in Deum. Studien zum Verhältnis von Christozentrik und Theozentrik in den paulinischen Hauptbriefen, NTA 1, Münster 1965; neu aufgelegt unter dem Titel: Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie I: Per Christum in Deum. Das Verhältnis der Christozentrik zur Theozentrik, NTA 1/I, Münster 31986; vgl. auch DERS., Das Gottesbild des Neuen Testaments (1972; 4 1978), in: ders., Studien (s. Anm. 11), 59–86; unter einem systematischen Aspekt auch DERS., Zwischen Jahweglaube und christologischem Dogma. Zu Position und Funktion der neutestamentlichen Exegese innerhalb der Theologie (1984), ebd., 3–22. 15 Während die Christologie des Hebräerbriefes zahlreiche Studien beschäftigt, wird seine Theo-logie selten thematisiert; vgl. bes. A. V ANHOYE, Le Dieu de la nouvelle alliance dans l’Épître aux Hébreux, in: La notion biblique de Dieu. Le Dieu dans la Bible et le Dieu des philosophes, hg. v. J. Coppens, BEThL 41, Gembloux/Löwen 1976, 315– 330; ferner M. RISSI, Die Theologie des Hebräerbriefs. Ihre Verankerung in der Situation des Verfassers und seiner Leser, WUNT 41, Tübingen 1987, 27–33; C. SPICQ, L’Épître aux Hébreux, 2 Bde., EtB, Paris 1952/1953, I, 325–329. 16 Über die religionsgeschichtliche Diskussion um den Hebräerbrief informiert L.D. HURST, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, MSSNTS 65, Cambrigde 1990; vgl. auch die Forschungsübersicht bei H. FELD, Der Hebräerbrief, EdF 228, Darmstadt 1985, 35–51. Unsere eigene Position begründen wir in K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 64–70.232–242. 17 Der Hebräerbrief hat allgemein als ein Schreiben aus der Epoche der zweiten bzw. dritten christlichen Generation (vgl. 2,3; 3,14; 5,12; 6,10; 10,32–34) zu gelten.
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sche System, das zumal in den gebildeten Schichten18 der reichsrömischen Gesellschaft zunehmend an Einfluss gewann.19 Die Adressaten des Hebräerbriefes entstammten bildungssoziologisch solchen Schichten20 und dürften bleibend in ihrem Magnetfeld gestanden haben (vgl. z.B. 2,1–4; 3,12–14; 5,11–6,8). Dies lässt auf ihre spezifische „Versuchung“ – den „Abfall vom lebendigen Gott“ (3,12) – schließen. Dabei geht es wohl kaum um die Konversion zum volksreligiösen Pantheon.21 Der Hebräerbrief gehört längst nicht mehr in ein ideengeschichtliches Milieu, in dem sich die Alternative zwischen (jüdischem) Monotheismus und (paganem) Polytheismus noch stellte.22 Er konnte durchaus von einer – im weiteren 18 Dass der Mittelplatonismus freilich auch „den geistigen Bedürfnissen der Halbgebildeten des 1.–3. Jh.s n.Chr.“ entgegenkam, illustriert nach dem herben Urteil von O. GIGON, Art. „C. Hermeticum“, LAW I, 1965/1994, 669f: 670, das Corpus Hermeticum als „abgesunkene, zerfaserte philosophische Literatur, ‚Proletarierplatonismus‘“. 19 Zur theo-sophischen Tendenz der Philosophie in dem hier interessierenden Zeitraum vgl. etwa W. RÖD, Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, München 1994, 225–237; zum Platonismus als Einheit von Metaphysik, Theologie und religiöser Option H. DÖRRIE, Die Andere Theologie, ThPh 56, 1981, 1–46; DERS., Der Platonismus in der Antike I: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus, StuttgartBad Cannstatt 1987, 16–32. Zum mittleren Platonismus insgesamt J.M. DILLON, The Middle Platonists. A Study of Platonism 80 B.C. to 220 A.D., London 1977; H. DÖRRIE, Der Platonismus in der Kultur- und Geistesgeschichte der frühen Kaiserzeit, in: ders., Platonica Minora, StA 8, München 1976, 166–210; S. GERSH, Middle Platonism and Neoplatonism. The Latin Tradition, 2 Bde., Notre Dame, Ind. 1986; C.J. DE VOGEL, Der sog. Mittelplatonismus, überwiegend eine Philosophie der Diesseitigkeit?, JAC.E 10, 1983, 277–302; J. WHITTAKER, Platonic Philosophy in the Early Empire, ANRW II 36.1, 1987, 81–123. Eine repräsentative Auswahl von einschlägigen Forschungsbeiträgen bietet der Sammelband: Der Mittelplatonismus, hg. v. C. Zintzen, WdF 70, Darmstadt 1981. Einen konsequenten Versuch, den Hebräerbrief weithin vor dem Horizont des Mittelplatonismus zu interpretieren, unternimmt J.W. THOMPSON, Beginnings (s. Anm. 7). 20 Sowohl das rhetorische Niveau als auch die theologische Reflexionsebene lässt auf Textrezipienten schließen, die einer gebildeteren sozialen Schicht angehören, vergleichbar etwa dem gesellschaftlichen Milieu des Philo Alexandrinus und seiner Leser. 6,10; 10,34; 13,16 legen die Annahme begüterter Gemeindemitglieder nahe. Zum Einfluss des mittelplatonischen Denkens im Milieu des Hebräerbriefes vgl. auch J.W. THOMPSON, Beginnings (s. Anm. 7), 152–160. 21 Daher eignen sich Passagen wie 3,12 (oder 6,1) nur bedingt zur Begründung eines paganen Hintergrunds der Adressatengemeinde, zu der sie mitunter zu isoliert herangezogen werden. Richtig ist allerdings, dass der Hebräerbrief als Repräsentant eines selbstbewussten urchristlichen Hellenismus keinerlei Interesse an ethnozentrischen Fragestellungen hegt. 22 So gesehen erfüllt sich in der Begegnung mit dem Mittelplatonismus das Programm, das in klassischer Weise die lukanische Areopagrede (Apg 17,22–33) anlässlich der Begegnung des Paulus mit Repräsentanten von epikureischer und stoischer Philosophie (vgl. Apg 17,18) skizziert: Paulus knüpft bei seinem Protest gegen den volksfrommen Polytheismus (vgl. Apg 17,16) ja gerade an die theo-logische Tradition der griechischen Aufklärungsphilosophie an (vgl. E. HAENCHEN, Die Apostelgeschichte, KEK 3,
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Sinn – monotheistisch-theozentrischen Grundoption seiner Adressaten ausgehen;23 diese hatte er nicht zu begründen oder zu verteidigen, wohl aber zu vertiefen. Die Renaissance platonischer Denktradition führte in der paganen wie in der jüdischen Gotteslehre der Zeitenwende zu einer starken Betonung der ontischen Transzendenz Gottes und damit zu einer dezidiert negativen Theologie (vgl. z.B. Plutarch, de E 393A; Kelsos, nach Origenes, c. Cels. 6,3.18.62–65; 7,42.45). Auf der Reflexionsebene der Schulphilosophie wird die Gottheit „ein höchstes Prinzip, das in ewiger Beziehungslosigkeit verharrt“24, aber auch für die breitere – noch deutlicher „synkretistisch“ orientierte – Frömmigkeit wird der Gott zum avnekla,lhtoj und a;rrhtoj schlechthin, zum siwph|/ fwnou,menoj (Corp. Herm. 1,31; vgl. 13,6). Dass solche Gotteslehre Affinitäten zum ethischen Monotheismus des Judentums besitzt, liegt nahe. So begegnen sich die Denkwelten in Philos Lehre vom nicht-aussprechbaren (a;rrhtoj), nicht-benennbaren (avkatano,matoj), nicht-begreifbaren (avkata,lhptoj) Gott (vgl. somn. 1,67), der raum- und zeitlos jenseits aller für Menschen denk- und erfahrbaren Möglichkeiten existiert (vgl. z.B. conf. 134– 139; gig. 42; mut. 8–10; opif. 8.69; post. 12–16; praem. 39f; sacr. 101).25 Zwischen dem Gott und dem ko,smoj o`rato,j bricht im Wirkungsbereich des Mittelplatonismus ein ontischer Graben auf, dessen Überbrückung zu einem Leitproblem seines Denkens wird. Letztlich blieb die Frage nach der axiologischen Vermittlung im Mittelplatonismus aporetisch.26
Göttingen 16/71977, 507) und appelliert an den dort belegten diffusen Monotheismus; zur Auslegung vgl. ebd., 495–510; R. PESCH, Die Apostelgeschichte II, EKK 5/2, Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1986, 127–144. 23 Vgl. im Umfeld alexandrinischen Denkens bereits Aristobul, frgm. 4 (nach Eusebius Caes., pr. ev. 13,12,3–8); Arist 15f; ferner Josephus, c. Ap. 2,164–171. Heikel wurde es freilich bei der Frage nach der Persönlichkeit des Qeo,j (vgl. Philo, gig. 45; Athenagoras, leg. 7; Ps.-Justin, coh. 22, dazu H. DÖRRIE, Theologie [s. Anm. 19], 20f). Zur monotheisierenden Tendenz im griechisch-hellenistischen Denken vgl. M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v.Chr., WUNT 10, Tübingen (1969) 21973, 473–486; zur Entwicklung in der reichsrömischen Zeit vgl. C. MORESCHINI, Monoteismo cristiano e monoteismo platonico nella cultura latina dell’età imperiale, JAC.E 10, 1983, 133–161. 24 H. DÖRRIE, Theologie (s. Anm. 19), 35, unter Verweis auf die Alexandriner Eudoros (um 35 v.Chr.) und Kelsos (um 180 n.Chr.), den in Athen wirksamen L. Kalbenos Tauros (um 135 n.Chr.) und Albinos aus Smyrna (um 150 n.Chr.). 25 Vgl. näher H.A. WOLFSON, Albinos und Plotin über göttliche Attribute (1952), in: Mittelplatonismus (s. Anm. 19), 150–168: 150–152. 26 Zur Bewältigung dieses Problems hat Philo bekanntlich mit erheblichem spekulativen Aufwand seine lo,goj-Lehre entfaltet (vgl. z.B. conf. 62f; fug. 95; quaest. in Ex. 2,68). Auf anderem Reflexionsniveau – so bei Plutarch – konnte dieser Graben freilich mit allerlei polytheistischen und mantischen Anschauungen aufgefüllt werden (vgl. W. RÖD, Weg [s. Anm. 19], 235f). Die mittelplatonische Schulphilosophie kreist wesentlich um das Problem der „Schöpfungsmittlerschaft“ (auf der Basis von Plato, Tim. 27A–52B) und der o`moi,wsij Qew/| (auf der Basis von Plato, Tht. 176AB); vgl. C. ZINTZEN, in: Mittelplatonismus (s. Anm. 19), IX–XI.
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Solche negative Theologie – nicht als kategorialer metaphysischer Geltungsanspruch, sondern als allgemeine intellektuelle Skepsis – dürfte sich für die intendierten Leser des Hebräerbriefes als natürliche Alternative zum positiv-biblischen Gottesbild der jüdisch-christlichen Tradition dargestellt haben.27 Gerade die Neigung, Gottes analogielose Hoheit zu betonen, führte am Ende zu einem „ermüdenden“ Gottesbild (vgl. 5,11; 6,12; 12,3. 12–14), zu jener Gottvergessenheit im Alltag, die der Auctor ad Hebraeos beklagt, und, daraus resultierend, zu einer Lebensweise etsi Deus non daretur. Die metaphysische Distanz zur Gottheit konnte ein eschatologisches Selbstverständnis, wie es auch für die Adressatengemeinde des Hebräerbriefes einmal typisch gewesen war (vgl. 10,32–34; ferner 2,3f; 6,10; 13,7), denn auch nicht mehr begründen. Der einstige Enthusiasmus war theologisch „ortlos“ geworden. Aus dem Abstand zum transzendenten Gott folgt – wie schon bei Philo (vgl. z.B. Abr. 273; Cher. 103; conf. 106.197; congr. 141; decal. 67; her. 314; post. 13.22–28; sacr. 90; ferner all. 3,203f.207; somn. 2,222–224.237; quaest. in Gen. 2,10)28 – die Suche nach bebai,wsij (vgl. 6,19; ferner 2,2f; 3,14; 6,16; 9,17; 13,9).29 Der Auctor ad Hebraeos ist Seelsorger genug, um die Glaubensmüdigkeit seiner Adressaten als Symptom solcher tiefer gelegenen theologischen Krise zu erkennen. Diese – in den zeitgenössischen metaphysischen Denkkategorien begründete – Trennung vom „lebendigen“ Gott ist für ihn die eigentliche Ursache für die „geistliche Anämie“30 der Gemeinde (vgl. 3,1; 4,14–16; 5,11; 6,12; 10,19–25; 12,1–5) – und genau deshalb denkt er „vom Himmel her“31.
27 Im 2. Jhdt. wird der Mittelplatoniker Kelsos sein theologisches Befremden über dieses biblische Gottesbild nachdrücklich zum Ausdruck bringen (vgl. z.B. Origenes, c. Cels. 6,8.10f.62–65; 7,36 u.v.ö.); dazu näher H. DÖRRIE, Die platonische Theologie des Kelsos in ihrer Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie auf Grund von Origenes c. Celsum 7,42ff, NAWG.PH 1967/2, 1967, 19–55. 28 Vgl. C. SPICQ, Hebr I, 64–66. 29 Zum Nexus der bebai,wsij-Paraklese mit dem metaphysisch-axiologischen Verstehenshorizont vgl. (ungeachtet der „sachkritischen“ Werturteile, die das historische Verständnis eher beeinträchtigen) H. BRAUN, Die Gewinnung der Gewißheit in dem Hebräerbrief, ThLZ 96, 1971, 321–330. Manches von dem, was E.R. DODDS (Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some Aspects of Religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine [1965], New York 1970, bes. 1–36.69–101) über das existentiell verunsicherte Zeitgefühl des 3. Jhdts. beschrieben hat, gilt mutatis mutandis wohl bereits für den Erfahrungsbereich von Juden und Christen des 1. Jhdts.; vgl. auch J. GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg i.Br. 1994, 383f. 30 Vgl. O. KUSS, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Seelsorger (1958), in: ders., Auslegung und Verkündigung I, Regensburg 1963, 329–358: 333. 31 Vgl. H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments III: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 40f.
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Bezeichnenderweise mahnt er freilich vor allem zum Festhalten an der überkommenen Christus-Homologia (2,3f; 3,1.6.14; 4,14; 10,23; 13,7–9).32 Konkret scheinen die intendierten Leser am Ausfall christologisch-soteriologischer Tiefenschärfe und – damit unlösbar verbunden – des Vollzugs der Einheit mit Gott zu kranken (vgl. 4,1–13.14–16; 6,19f; 7,25; 8,1f; 9,14; 10,19–25; 11,6.13–16.40; 12,1f.14f.18–22.28; 13,5f.14). So lässt sich die für das ganze Schreiben charakteristische, kultmetaphorisch gekleidete Aufforderung zum prose,rcesqai als Aufforderung zur Überwindung des ontologisch vorausgesetzten, aber in Christi hohepriesterlicher Heilstat überbrückten Grabens zwischen Gott und Mensch verstehen (vgl. 4,16; 7,25; 10,22; 11,6; 12,18.22). Diese neue Realisierung der Einheit mit Gott wird dann auch, so hofft der Verfasser, Früchte für das Glaubenshandeln zeitigen (vgl. bes. 10,19–39; 12,1–17; 13,1–7). Sosehr also der Auctor ad Hebraeos sein Schreiben als lo,goj th/j paraklh,sewj (13,22) versteht, sowenig begnügt er sich mit Appellen zur rechten Glaubenshaltung. Eine Krise der Glaubenspraxis, die in einem Defizit des Gottesbildes wurzelt, kann nur durch eine Vertiefung der Theologie überwunden werden.33 So setzt er auf den christologischen lo,goj (5,11), der durch die Aktualisierung der überkommenen Christus-Homologia dem Niveau des zeitgenössischen Gottesbildes Rechnung trägt und dieses Gottesbild auf überraschende Weise zugleich revitalisiert. Der Anspruch des lebendigen Gottes wird nicht durch das Repetieren von Mahnungen eingefordert, sondern übt seine ureigene Anziehungskraft dort aus, wo man den lebendigen Gott wiederum als solchen zu erkennen vermag: in der theo-logischen Reflexion und damit für den Auctor ad Hebraeos in der christologisch vertieften Theozentrik. Auf eine theo-logische Desorientierung reagiert er demnach mit christologischer Darlegung. Die Christologie findet somit genau da ihr theologisches Recht, wo der Mittelplatonismus unter der Aporie der axiologischen Vermittlung stand.34 Der Glaube an Gott wird mit Hilfe christologischer Reflexion zur „Vollendung“ gebracht (vgl. 6,1; ferner 5,11–14).
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Die Imperative bzw. Quasi-Imperative dringen vor allem auf die intellektuellspirituelle Aneignung des christologischen Bekenntnisses (2,1; 3,1f; 7,4; 12,3). 33 Vgl. E. GRÄSSER, An die Hebräer, 3 Bde., EKK 17, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1990/1993/1997, I, VIII.27; ferner C.-P. MÄRZ, Zur Aktualität des Hebräerbriefes, ThPQ 140, 1992, 160–168: 164. 34 Vgl. auch L.K.K. DEY, The Intermediary World and Patterns of Perfection in Philo and Hebrews, SBLDS 25, Missoula, Mont. 1975.
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3. Die situativen Prämissen Der Auctor ad Hebraeos sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, die Christologie soteriologisch in die theozentrische Gotteslehre einzubinden. Die parakletische Ausgangssituation schließt dabei von vornherein einen abstrakt theo-sophischen Entwurf aus. Der Verfasser des Hebräerbriefes ist zuerst christlicher Prediger, und es sind – neben dem metaphysischen Verstehenshorizont der mittelplatonischen Sphärendichotomie – die situativen Bedingungen urchristlichen Gemeindelebens, die seinen originellen Entwurf determinieren. Um diesen Entwurf sachgemäß interpretieren zu können, bedarf es somit der Wahrnehmung seiner Entstehungssituation. 3.1 Die Gattung des Hebräerbriefes Der Hebräerbrief ist gattungskritisch dem Mischtypus einer „brieflich versandten Predigt“ zuzuweisen.35 Unterscheidet man näherhin zwischen der (direkt) schriftauslegenden homilia und dem themenzentrierten sermo,36 so ist zu beachten, dass der Hebräerbrief sich wesentlich des Verfahrens der Schriftinterpretation bedient, thematisch aber – zumal in seinem Zentralteil 4,14–10,18 – die Christus-Homologia auslegt.37 Deshalb ist er als ein schriftgebundener soteriologischer sermo zu bestimmen, als eine die Christus-Homologia deutende Glaubensrede im situativen Kontext der gottesdienstlichen Schriftlesung.38 Daraus ergibt sich eine erste – gattungsgeschichtliche – Prämisse für das theologische Profil unseres Schreibens: Sosehr sich der Hebräerbrief auf die Sache der Christologie konzentriert, steht seine Reflexion doch 35 Diese Bestimmung fand ihre systematische Begründung erstmals bei W. WREDE, Das literarische Rätsel des Hebräerbriefs, FRLANT 8, Göttingen 1906; E. BURGGALLER, Das literarische Problem des Hebräerbriefes, ZNW 9, 1908, 110–131, bes. 119–130, und R. PERDELWITZ, Das literarische Problem des Hebräerbriefs, ZNW 11, 1910, 59–78.105– 123, bes. 59–78. Sie wurde entfaltet von F. D IBELIUS, Der Verfasser des Hebräerbriefes. Eine Untersuchung zur Geschichte des Urchristentums, Straßburg 1910, bes. 1–13, und W.L. SLOT, De letterkundige vorm van den Brief aan die Hebreeën, Groningen 1912, bes. 49–117, und setzte sich mit dem Kommentar von O. MICHEL, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen (71936) 141984, bes. 21–29.550–552, auf breiter Ebene durch; vgl. z.B. H. BRAUN, Hebr, 1f; K. NISSILÄ, Das Hohepriestermotiv im Hebräerbrief. Eine exegetische Untersuchung, SFEG 33, Helsinki 1979, 5–7; G. STRECKER, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, UTB 1682, Göttingen 1992, 69f; W.G. ÜBELACKER, Der Hebräerbrief als Appell I: Untersuchungen zu exordium, narratio und postscriptum (Hebr 1–2 und 13,22–25), CB.NTS 21, Lund 1989, 17–40; H.-F. WEISS, Hebr, 35–41. 36 Vgl. H.F. PLETT, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg (1971) 3 1991, 18f. 37 Vgl. dazu ausführlich F. LAUB, Bekenntnis und Auslegung. Die paränetische Funktion der Christologie im Hebräerbrief, BU 15, Regensburg 1980, 9–50. 38 Vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 42–47.
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unter „heuristischem“ Aspekt im Horizont der „Schrift“, also der „Bibel Israels“. Das erzwingt auf der einen Seite eine interpretatio Christiana et christologica der „Schrift“; auf der anderen Seite jedoch prägt sich dieser interpretatio von vornherein die theozentrische Option alttestamentlichfrühjüdischer Glaubensgeschichte auf. Dazu gehört nicht zuletzt die Auffassung, mit einem „sprechenden Gott“ zu tun zu haben. Diese Voraussetzung ist jedoch gleich zu präzisieren. Denn das „Alte Testament“ ist für den Auctor ad Hebraeos keineswegs eine kanonisch fixierte norma normans non normata, sondern eine dynamische Größe, die das lebendige Wort (vgl. 4,12) des lebendigen Gottes im Heute und für das Heute bezeugt39 und so freilich auch den theologischen Verstehenshorizont des Heute voraussetzt. Dazu gehört nicht nur die zentrale, explizite Verstehensprämisse der Christus-Homologia, sondern auch das zeitgenössische Gottesbild. Der unmittelbare Bezug des Hebräerbriefes ist also keineswegs das „Alte Testament“, sondern dessen frühjüdisch-hellenistische Wirkungsgeschichte. 40 Zu dem von der Schrift bezeugten Gottesbild gehört damit implizite auch der oben skizzierte ontische Graben.41 Nicht dies ist das Anliegen des Hebräerbriefes, diesen Graben abzustreiten, sondern auf39 Zur Relevanz der „Schrift“ im argumentativen Gefüge des Hebräerbriefes vgl. G. HUGHES, Hebrews and Hermeneutics. The Epistle to the Hebrews as a New Testament Example of Biblical Interpretation, MSSNTS 36, Cambridge 1979; F. SCHRÖGER, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regensburg 1968; unter eher systematischem Aspekt H. HÜBNER, Biblische Theologie III (s. Anm. 31), 14–63. Einschlägige Exkurse bieten H. BRAUN, Hebr, 20f; H. HEGERMANN, Der Brief an die Hebräer, ThHK 16, Berlin 1988, 57–61; O. MICHEL, Hebr, 151–158; C. SPICQ, Hebr I, 330–350; H.-F. WEISS, Hebr, 171–181. 40 Nicht das „Alte Testament“ ist die religionsgeschichtliche Basis der neutestamentlichen Literatur, sondern das Frühjudentum als dessen Vermittler und Interpret; vgl. K. BERGER, Exegese des Neuen Testaments, UTB 658, Heidelberg (1977) 31991, 190f. Am Beispiel des Pentateuchal sacerdotalism hat W. HORBURY, The Aaronic Priesthood in the Epistle to the Hebrews, JSNT 19, 1983, 43–71, im Einzelnen nachgewiesen, wie sehr der Hebräerbrief bei der Lektüre der „Schrift“ die zeitgenössischen Leseplausibilitäten teilt. 41 Nicht selten leidet die Interpretation des Hebräerbriefes noch immer unter der Alternative „biblisches“ oder „griechisches“ Denken; programmatisch etwa V. BURCH, The Epistle to the Hebrews. Its Sources and Message, London 1936, mit der bezeichnenden Überschrift „The Greek road away from and the Hebrew road to the Epistle“ (1–30); vgl. bes. ebd., 3: „To hellenise or to hebraise, that is the question of questions for the interpretation of the Epistle to the Hebrews“; tendenziell ähnlich und einflussreich E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, FRLANT 55, Göttingen (1939) 41961, 113, wenn er die „christliche Botschaft“ pauschal in Opposition zu metaphysischem Denken als „Pseudo-Theologie“ setzt. Diese Alternative ist bereits unter ideengeschichtlichem Aspekt verfehlt und verdankt sich nicht selten noch fragwürdigeren theologischen Vorentscheidungen; vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei E. GRÄSSER, Der Hebräerbrief 1938–1963, ThR 30, 1964, 138–236: 167.170f; H.-F. WEISS, Hebr, 96, und im Ganzen den wichtigen Aufsatz von N. WALTER, „Hellenistische Eschatologie“ im Frühjudentum – ein Beitrag zur „Biblischen Theologie“?, ThLZ 110, 1985, 331–348; grundsätzlich J. BARR, Old and New in Interpretation. A Study of the Two Testaments, New York 1966, 34–64.
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zuweisen, dass er in Gottes Wort und in Jesu Heilstat überbrückt ist, sodass der „Glaube“ sich auf den Weg zu Gott machen kann (s.u. 4.2–4.4).
3.2 Der „Sitz im Leben“ des Hebräerbriefes Versucht man den „Sitz im Leben“ bzw. genauer: den ursprünglichen Reflexionszusammenhang des Christus-sermo näher zu orten, so legt sich die urchristliche Herrenmahl-Feier nahe. Allerdings wird das Verhältnis des Hebräerbriefes zur eucharistischen Praxis in der Forschung höchst kontrovers diskutiert.42 Die vorkritische katholische Exegese führte den Hebräerbrief als Schriftbeleg für die Lehre vom sacrificium Missae an.43 In jüngerer Zeit hat vor allem James Swetnam in mehreren Beiträgen44 das theologische Gefüge des Hebräerbriefes wesentlich von der Praxis und Deutung der Eucharistie her bestimmt. Dem steht die von Oskar Holtzmann45 begründete und vor allem von Friedrich Schröger46 und Ronald Williamson47 nachdrücklich unterstützte Position gegenüber, nach welcher der Hebräerbrief entweder gar keinen eucharistisch-liturgischen Hintergrund besitzt oder gerade eine sakramentskritische Tendenz aufweist.48 Aber auch das Gegenteil – der Hebräerbrief kritisiere die Geringschätzung der Eucharistie – wird angenommen.49 Einige Ausleger stellen einzelne herrenmahltheologische Bezüge heraus50 oder vertreten die Auffassung, der Hebräerbrief wehre sich gegen eine falsche eucharistische Frömmigkeit.51
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Einen Forschungsüberblick bietet H. FELD, Hebr, 93–97. Vgl. z.B. P. RUPPRECHT, Una oblatione consummavit. Die Bedeutung von Hebr. 10,14 für die Meßopferlehre, ThQ 121, 1940, 1–13. J. BETZ, Die Eucharistie in der Zeit der griechischen Väter II/1: Die Realpräsenz des Leibes und Blutes Jesu im Abendmahl nach dem Neuen Testament, Freiburg i.Br. 1961, 145–149.161–163, betrachtet das Schreiben dem Grundzug nach als einen theologischen Kommentar zum Herrenmahl. 44 Zuletzt resümierend: Christology and the Eucharist in the Epistle to the Hebrews, Bib. 70, 1989, 74–95. Ähnlich – bei aller sachkritischen Distanz – S. SCHULZ, Die Mitte der Schrift. Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als Herausforderung an den Protestantismus, Stuttgart 1976, 267f, wenn er dem Hebräerbrief einen „frühkatholischen Sakramentalismus“ vorwirft. 45 Der Hebräerbrief und das Abendmahl, ZNW 10, 1909, 251–260. 46 Der Gottesdienst der Hebräerbriefgemeinde, MThZ 19, 1968, 161–181. 47 The Eucharist and the Epistle to the Hebrews, NTS 21, 1974/1975, 300–312. 48 G. THEISSEN, Untersuchungen zum Hebräerbrief, StNT 2, Gütersloh 1969, 53–114, hebt eine sakramental-mysterienhafte Tradition im Hebräerbrief ab, die der Auctor ad Hebraeos seinerseits hohepriester-theologisch in ihre Schranken weise. 49 So J. BETZ, Eucharistie (s. Anm. 43), 154–161.163–166. 50 So z.B. P. ANDRIESSEN, L’eucharistie dans l’Épître aux Hébreux, NRTh 94, 1972, 269–277; O. MOE, Das Abendmahl im Hebräerbrief. Zur Auslegung von Hebr. 13,9–16, StTh 4, 1950, 102–107. 51 So bes. O. KNOCH, Hält der Verfasser des Hebräerbriefs die Feier eucharistischer Gottesdienste für theologisch unangemessen? Überlegungen zu einer umstrittenen Frage, LJ 42, 1992, 166–187; vgl. auch F.J. SCHIERSE, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des Hebräerbriefes, MThS.H 9, München 1955, 184–195. 43
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Fest steht einerseits, dass der Hebräerbrief das Herrenmahl nicht zum Thema seiner Darlegungen macht,52 und andererseits, dass eine eucharistische Praxis unter religionswie theologiegeschichtlichem Aspekt für seine Gemeinde durchaus vorauszusetzen ist. 53 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Beobachtung an Gewicht, dass der Hebräerbrief seine Soteriologie wesentlich im semantischen Gefüge des Kelchworts und damit der Herrenmahl-Paradosis entfaltet,54 sodass sich in der Tat die eucharistische Praxis als primärer Reflexionshintergrund unseres Schreibens nahelegt.55 „Der Hebr-Vf. will gar nicht ex professo über Gottesdienst und Eucharistie reden; aber dadurch, daß er sich von dem inneren Gehalt von Gottesdienst und Eucharistie bestimmen läßt, gibt er ‚eine tiefe theologische Sinndeutung der liturgischen Vorgänge‘.“56
Die „Aporie der Vermittlung“, die sich vor dem Horizont mittelplatonischer Theo-logie stellte, ist also im Lebensvollzug urchristlicher Gotteserfahrung faktisch je schon gelöst. Der im Herrenmahl gegenwärtige Kyrios wird als Mittler zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeitssphäre und somit als Heilsbürge erlebt. Diese lebenspraktische „Mittlertheologie“ muss freilich metaphysisch-theologisch allererst „eingeholt“ werden. Von daher lässt sich die genannte gattungsgeschichtliche Prämisse präzisieren: Der soteriologische sermo des Hebräerbriefes dokumentiert auf seine Weise das Zusammenwachsen von theozentrisch prädisponierter Schriftinterpretation und christozentrischer (obgleich ihrerseits biblisch „rückversicherter“) Herrenmahl-Paradosis. Er betreibt zuerst eine christologisch akzentuierte Soteriologie, aber er kann sie nicht anders betreiben als in jenem theo-logischen Koordinatengefüge, das ihm die „Schrift“ vorgegeben hat. Je kühner der Auctor ad Hebraeos demnach die Christus52
Bezeichnenderweise stützen sich die Verfechter einer eucharistischen Option im Hebräerbrief vornehmlich auf methodisch schwerlich zu kontrollierende „Anspielungen“ o.ä. 53 Vgl. zur Begründung näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 228–232; ferner H. FELD, Hebr, 95f. Gegen die verbreitete Annahme einer theologiegeschichtlichen Außenseiter-Position des Hebräerbriefes vgl. K. BACKHAUS, Der Hebräerbrief und die PaulusSchule, BZ 37, 1993, 183–208 [in diesem Band S. 21–48]. Im benachbarten urchristlichen Milieu verbindet etwa der Erste Clemensbrief die Hohepriester- mit der Herrenmahl-Christologie (vgl. 1Clem. 36,1; 40–44; 61,3; 64,1). 54 Dies gilt besonders für die Wortfelder (kainh.) diaqh,kh (7,22; 8,6.7–13; 9,15. 16f.18–22; 10,15–18.29; 12,24; 13,20; vgl. 1Kor 11,25//Lk 22,20; Mk 14,24/Mt 26,28) und ai-ma (9,18–22; 10,29; 12,24; 13,20; vgl. 1Kor 11,25//Lk 22,20; Mk 14,24/Mt 26,28), für die u`pe,r- bzw. peri,-Formel (Hebr 9,20; vgl. Mk 14,24/Mt 26,28; Lk 22,20) und für das Motiv der Sündenvergebung (Hebr 8,7–13; 9,15.18–22; 10,15–18; 12,24; vgl. Mt 26,28). 55 Vgl. dazu auch die behutsam abwägenden Überlegungen bei W. THÜSING, „Laßt ...“ (s. Anm. 11), bes. 198: Die Eucharistie ist nicht Thema der Kulttheologie des Hebr; wohl aber lebt der Verfasser „aus der Wirklichkeit heraus ..., die in der Eucharistie für den Christen gnadenhaft Gestalt gewinnt“; ferner H.-F. WEISS, Hebr, 726–729. 56 W. THÜSING, „Laßt ...“ (s. Anm. 11), 198 (mit Zitat von F.J. SCHIERSE, Verheißung [s. Anm. 51], 207).
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Homologia seiner Gemeinde auf die Ebene steiler Hoheitschristologie hebt, desto stärker bedarf es einerseits des theozentrischen Akzents, andererseits einer Betonung kenotischer Christologie, die die Mittler-Soteriologie allererst möglich macht. Will der Auctor ad Hebraeos seinen beiden Vorgaben gattungskompetent gerecht werden – der im Horizont der Herrenmahl-Paradosis explizierten christologischen Soteriologie ebenso wie der angesichts der gottesdienstlichen Schriftlesung implizierten Theo-logie –, so darf die Hoheitschristologie die Theozentrik nicht relativieren und sich gewissermaßen „selbständig machen“. Es wird sich vielmehr zeigen, dass die dem Hebräerbrief eigene Christologie die Theozentrik – im Wortsinn – radikalisiert.
4. Texterschließung 4.1 Das Gesamtgefüge Bei der ersten Lektüre wirkt der Hebräerbrief wie eine dezidiert christozentrische Schrift. Gerade die Testimonienreihe in seinem Eingangsteil stellt das göttliche Persongeheimnis Jesu57 in einer ostentativen Deutlichkeit heraus, die im Neuen Testament, das Vierte Evangelium durchaus eingeschlossen, keine Parallele findet. Das Verfahren besteht im Wesentlichen darin, dass der Hebräerbrief theo-logische Aussagen der Psalmliteratur systematisch auf den „Sohn“ (1,2) projiziert und ihm so eine Reihe alttestamentlich-frühjüdischer Gottesprädikationen zuweist.58 Der „Sohn“ wird demnach folgendermaßen beschrieben: Er ist protologisch „Schöpfer“ (1,2.10; vgl. 2,10) und eschatologisch „Erbe“ des Alls bzw. der Äonen (1,2.11–13; vgl. 2,8). Er erhält das All durch sein kraftvolles Wort (1,3) und waltet vollmächtig über Kosmos, Engel und Zeit (vgl. 1,3.4–7.8.9– 12.13f). Er ist präexistenter Sohn (im absolut-ontischen Sinn) (1,2.5f.8),59 „Widerschein der Herrlichkeit Gottes“ und „Ausdruck seines Wesens“ (w'n avpau,gasma th/j do,xhj kai. carakth.r th/j u`posta,sewj auvtou/) (1,3).60 Er
57 Vgl. dazu O. HOFIUS, Biblische Theologie im Lichte des Hebräerbriefes, in: New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference, 16–19 September 1992, hg. v. S. Pedersen, NT.S 76, Leiden 1994, 108–125: 109; H. HÜBNER, Biblische Theologie III (s. Anm. 31), 19–30. 58 Vgl. näher O. HOFIUS, Biblische Theologie (s. Anm. 57), 109f.113–117. 59 Vgl. dazu ausführlich J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, EHS.T 362, Frankfurt a.M. 1990, 267–316 (Lit.). 60 Übersetzung hier nach dem Münchener Neuen Testament.
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thront als Gott in Ewigkeit (1,8a);61 dieser göttlichen Dignität entspricht die Anbetung der himmlischen Mächte (1,6b).62 Nach den vorausgegangenen Überlegungen (s.o. 3.) wirkt es nicht mehr so erstaunlich, dass diese hoheitschristologische Serie im weiteren Verlauf des Schreibens – zumal in dessen erstem Hauptteil (1,1–4,13) – keine Fortsetzung findet.63 Vielmehr wird schon im folgenden Kapitel die irdischmenschliche Seinsart Jesu thematisch, und zwar nicht beiläufig (da unumgänglich), sondern mit ausdrücklichem kenosis-theologischem Schwerpunkt: Jesus ist „unter die Engel erniedrigt“ (2,7–9), menschlichem Leiden und Sterben unterworfen (2,9.10.14–18), gar der menschlichen Versuchbarkeit ausgesetzt (2,18; 4,15; 5,7–10). So ist er ganz und gar aus menschlichem „Blut und Fleisch“ (2,14), in allem, die Sünde ausgenommen „den Brüdern“ gleich (vgl. 2,14.17; 3,14; 4,15), umkleidet mit ihrer Schwäche (4,15; 5,2 i.V.m. 5,5–10) und der Vollendung durch Gehorsam bedürftig (5,8f).64 Es steht außer Frage, dass sich diese polare Christologie auf dem Weg zur Christologie des vere Deus/vere homo des Chalcedonense bewegt,65 und man könnte a priori die Vermutung hegen, die Dramatik solcher Christologie lasse dem Verfasser keinen Raum mehr für einen theozentrischen Darstellungsschwerpunkt. Dass dies nicht so ist, demonstriert der Auctor ad Hebraeos dadurch, dass er gerade in den rezeptionsleitenden Spitzen61
Vgl. O. HOFIUS, Biblische Theologie (s. Anm. 57), 115. Vgl. O. HOFIUS, Biblische Theologie (s. Anm. 57), 117. 63 Selbstverständlich bleibt die Hoheitschristologie im Folgenden unverzichtbare Prämisse der Darlegungen (vgl. nur 7,1–28!). 64 Dem Hebräerbrief geht es dabei nicht – wie der synoptischen Tradition – um die messianischen Versuchungen, sondern um die mit der condicio humana (bzw. terrena!) gegebene Anfechtung durch Leid und Sterblichkeit, die es allererst ermöglicht, dass der Hohepriester Jesus die Menschen vor Gott und Gott vor den Menschen repräsentiert; vgl. näher F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 37), 123–143; J. ROLOFF, Der mitleidende Hohepriester. Zur Frage nach der Bedeutung des irdischen Jesus für die Christologie des Hebräerbriefes, in: Jesus Christus in Historie und Theologie. FS H. Conzelmann, hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 143–166; N. WALTER, Christologie und irdischer Jesus im Hebräerbrief, in: Das lebendige Wort. Beiträge zur kirchlichen Verkündigung. FS G. Voigt, hg. v. H. Seidel/K.-H. Bieritz, Berlin 1982, 64–82; H.-F. WEISS, Hebr, 310–327. 65 Zustimmend zitiert O. HOFIUS, Biblische Theologie (s. Anm. 57), 110 Anm. 12, H.J. Iwand: „ui`o,j ist im Hebräerbrief ‚der Sohn im Sinne der zweiten Person der Trinität, der Sohn nach seinem ewigen, aller Zeit überlegenen Sein‘“; ähnlich H. HÜBNER, Biblische Theologie III (s. Anm. 31), 19–34, unter der Überschrift „Hebr 1,1–4,13 – Verbum Scripturae – Verbum Trinitatis“. Das Persongeheimnis der dabei trinitätstheologisch vorausgesetzten „dritten Person“ tritt im Hebräerbrief freilich noch nicht in das Blickfeld; immerhin sind auch hier bemerkenswert deutliche Ansätze zu beobachten: das pneu/ma a[gion wirkt durchweg „vermittelnd“ zwischen Gott und Gemeinde (2,4; 3,7f; 6,4; 9,8; 10,15) und trägt im soteriologischen Spitzensatz 9,14 als pneu/ma aivw,nion das hohepriesterliche Opfer Christi (vgl. 10,29: to. pneu/ma th/j ca,ritoj). 62
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sätzen mit großer Sorgfalt seine christologischen Aussagen theozentrisch verschränkt und absichert. So ist das Schreiben als Ganzes durch das exordium (1,1–4) und die kraftvollen präsentisch- und futurisch-eschatologischen Schlussbilder der peroratio (12,18–29) bzw. den Schlusssegen am Ende des epistolaren Teils (13,20f) in eine theozentrische Klammer gefasst.66 Bereits damit deutet sich das grundlegend theo-logische Gefüge des Hebräerbriefes an: Alles verheißungsgeschichtliche Geschehen geht von dem transzendenten Gott aus, wird von ihm getragen und führt zu ihm, und zwar indem mittels der Heilstat Jesu am Kreuz die volle eschatologische Gemeinschaft mit Gott eröffnet wird, an der die Gläubigen proleptisch schon jetzt teilzuhaben vermögen. Dieses für das Gesamtschreiben skizzierte theozentrische Kompositionsprinzip gliedert auch die Binnenstruktur des Schreibens. Der sermo umfasst drei Hauptteile:67 1,1–4,13; 4,14–10,18; 10,19–13,21.68 Diese Hauptteile entsprechen der natürlichen Sequenz einer Predigt: Hören – Deuten – Handeln.69 Der theologische Schwerpunkt liegt – daran lässt der Verfasser selbst keinen Zweifel (vgl. 5,11 i.V.m. 6,1–3; 8,1f) – auf dem soteriologischen Mittelteil, der primär christologisch reflektiert.70 Gleichwohl ist es für die Einordnung solcher Christologie keineswegs ohne Belang, dass der Eingangs- wie der Schlussteil, sachlich also die Dimensionen von Hören und Handeln, eindeutig theozentrisch geprägt sind.71
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Vgl. A. VANHOYE, Dieu (s. Anm. 15), 315–318. Jene Forscher, die überhaupt eine makrotextuelle Einteilung des Hebräerbriefes für textgerecht halten, konvergieren in dieser Dreiteilung; umstritten ist allerdings – wie für Übergangspassagen kaum anders erwartbar – der Anfang des dritten Hauptteils. Zur Begründung, Absicherung und Relativierung der hier vorausgesetzten Komposition vgl. K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 50–52 (Lit.). 68 13,22–25 kann als Postscriptum ausgeklammert bleiben. 69 W. NAUCK, Zum Aufbau des Hebräerbriefes, in: Judentum – Urchristentum – Kirche. FS J. Jeremias, hg. v. W. Eltester, BZNW 26, Berlin 1960, 199–206, sieht die Folge „Hören – Bekennen – Gehorchen“; F.J. SCHIERSE, Verheißung (s. Anm. 51), 207–209, gliedert: „Die Gemeinde und das Verheißungswort“ – „Die Gemeinde und das Verheißungswerk (= Diatheke)“ – „Die Gemeinde und das Verheißungsziel“. 70 Anders B. LINDARS, The Rhetorical Structure of Hebrews, NTS 35, 1989, 382–406: 384.385–390.406, der das Darstellungsgefälle auf den Schlussteil ausgerichtet sieht; ähnlich bereits F.V. FILSON, “Yesterday”. A Study of Hebrews in the Light of Chapter 13, SBT 4, London 1967, 82; J. THURÉN, Das Lobopfer der Hebräer. Studien zum Aufbau und Anliegen von Hebräerbrief 13, AAÅbo.H 47/1, Åbo 1973, 53–55.246f. 71 Im Eingangsteil tritt spätestens mit 3,7 die Christologie deutlich hinter die Deskription des Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk zurück. Im gesamten Schlussteil kommt Jesus selten und eher beiläufig – meist im Rückverweis auf den soteriologischen Zentralteil – vor (10,19–23.29; 12,2f.24; 13,8.12.20). 67
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Prägt solche Komposition naturgemäß in besonderer Weise die Rezeption des Hebräerbriefes, so gilt dies nicht minder für seine Metaphorik, die den Diskurs illustriert und durchweg die Christologie der Theozentrik subordiniert. 1) Die biblisch (vgl. Num 12,7LXX) inspirierte und von der Mose-Typologie angeregte Metapher vom „Haus“ (vgl. 3,1–6; vgl. 10,21) sieht Christus w`j ui`o.j evpi. to.n oi=kon auvtou/ (3,6a); dieses Haus wird durch das ekklesiologische h`mei/j mit den Glaubenden identifiziert (3,6b; vgl. 10,21): o` de. pa,nta kataskeua,saj Qeo,j (3,4);72 ausdrücklich wird Jesus als „treu gegenüber dem, der ihn geschaffen hat“ bezeichnet (3,2).73 Das Heilsgeschehen verdankt sich also zuerst und zuletzt Gott. Jesus steht als „Sohn“ (3,6) und „großer Priester“ über diesem Haus (10,21); aber es ist und bleibt das Haus Gottes (vgl. Philo, Cher. 127).74 2) Ein größeres Gewicht für das Gesamtschreiben als diese statische Metapher hat die dynamische von der Wanderschaft75 oder, um dem kultischen Charakter des Hebräerbriefes Rechnung zu tragen, von der Pilgerschaft76 des Gottesvolkes (vgl. 3,7–4,11; 9,8; 10,20; 11,8–16; 12,1.12–14.18–24.25; 13,13f). Lässt sich die Gemeinschaft der Glaubenden insgesamt als „cultic community on the move“77 bezeichnen, so ist Jesus deren Wegbereiter und Wegbegleiter (vgl. 2,10; 12,2: avrchgo,j;78 6,20: pro,dromoj); das Ziel der Pilgerschaft ist aber allein der transzendente Gott.
Will man die innere Verschränkung von Christologie und Theozentrik erschließen, so bietet es sich – in Ansehung der drei oben genannten Hauptteile des Hebräerbriefes – an, nach der Wort-Gottes-Theologie (4.2), nach der kulttypologischen Soteriologie (4.3) und nach dem Glaubensbegriff (4.4) zu fragen. 72
Zu der – nicht ganz stringenten – Gedankenführung in 3,1–6 vgl. näher E. GRÄSMose und Jesus. Zur Auslegung von Hebr 3,1–6 (1984), in: ders., Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, WUNT 35, Tübingen 1985, 290–311; DERS., Hebr I, 158–172; H.-F. WEISS, Hebr, 240–253. Qeo,j dürfte vom Kontext her nicht auf Christus zu beziehen sein (vgl. W.R.G. LOADER, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes, WMANT 53, Neukirchen-Vluyn 1981, 77; H.-F. WEISS, Hebr, 48 Anm. 38). 73 Der Akzent ruht hier auf der Menschlichkeit des Sohnes; vgl. dazu E. GRÄSSER, Hebr I, 164f. 74 Vgl. W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 72), 77f. 75 Die Forschung wurde hier nachhaltig von der Studie E. KÄSEMANNS (Gottesvolk [s. Anm. 41], bes. 5–58) beeinflusst; vgl. etwa J. GNILKA, Theologie (s. Anm. 29), 385– 389; E. GRÄSSER, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, ZNW 77, 1986, 160–179; C. SPICQ, Hebr I, 269–280. 76 Vgl. W.G. JOHNSSON, The Pilgrimage Motif in the Book of Hebrews, JBL 97, 1987, 239–251. 77 W.G. JOHNSSON, Motif (s. Anm. 76), 249. 78 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund dieser aus der Exodus-Motivik hervorgegangenen Anführer-Christologie vgl. P.-G. MÜLLER, Cristo.j avrchgo,j. Der religionsgeschichtliche und theologische Hintergrund einer neutestamentlichen Christusprädikation, EHS.T 28, Frankfurt a.M. 1973; DERS., Art. avrchgo,j, EWNT I, 1980, 392–394. SER,
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4.2 Christologie und Wort-Gottes-Theologie Ein erster Weg zur Überbrückung des ontischen Hiats und damit zur Lösung des theo-logischen Grundproblems ist für den Hebräerbrief das göttliche „Sprechen“. Dass der lo,goj die ontische Vermittlung bewirkt, ist eine im Rahmen mittelplatonischen Denkens charakteristische Gedankenfigur (vgl. z.B. Philo, all. 3,96; imm. 57; migr. 6; sacr. 8; spec. 1,81; Corp. Herm. 1,5f.31). Die Eigenart des vom Hebräerbrief vertretenen Ansatzes – und damit das Novum der hellenistisch-urchristlichen Spielart der jüdischalexandrinischen Wort-Gottes-Theologie – liegt im Nachdruck, den der Auctor ad Hebraeos – logisch konsequent – auf den irdisch-menschlichen Status des lo,goj und damit auf das historisch-reale evfa,pax des ChristusEreignisses (vgl. 7,27; 9,12.26.28; 10,10) legt.79 Solcher Wort-Gottes-Theologie ist vor allem der erste Hauptteil des Hebräerbriefes gewidmet (1,1–4,13),80 der die Basis für das Gesamtschreiben legt und unter dem Leitthema „Gottes Sprechen und das Hören der Gemeinde“ steht. Dieses Leitthema wird in der inclusio 1,1f und 4,12f jeweils in hymnischem Sprachstil wirksam angezeigt.81 Gottes Sprechen bringt die Schöpfung hervor (1,2f) und begründet das Kontinuum der Heilsgeschichte als Verheißungsgeschichte (1,1f; 2,4; 3,7–4,13; 10,23; 11,8–16.33.39f);82 es setzt mit unverbrüchlichem Heilswillen (vgl. bes. 6,13–20; 7,20–25)83 die – durch Christi Heilstod vermittelte – neue Diatheke (vgl. 7,20–22; 8,6.7–13; 9,14.15–20; 10,8–10.15– 17). Es motiviert wesentlich die Paraklese als Trost und Mahnung und hat so auch ekklesiologische Funktion. Es wird die Eschata prägen. Die Gläubigen sind daher im Endgericht diesem Gotteswort gegenüber in höchster Weise verantwortlich, wiewohl es ihnen zugleich Zuversicht für die irdische Pilgerschaft gibt. Christsein artikuliert sich als Ge-
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Vgl. H. HEGERMANN, Hebr, 18f. Auf die Wort-Gottes-Theologie hat bes. H. HEGERMANN aufmerksam gemacht: Das Wort Gottes als aufdeckende Macht. Zur Theologie des Wortes Gottes im Hebräerbrief, in: Wort (s. Anm. 64), 83–98; Hebr, 16–19; Christologie im Hebräerbrief, in: Anfänge der Christologie. FS F. Hahn, hg. v. C. Breytenbach/H. Paulsen, Göttingen 1991, 337– 351: 340–343; vgl. ferner J. GNILKA, Theologie (s. Anm. 29), 373–375; M. RISSI, Theologie (s. Anm. 15), 8–13.29f.121f. 81 Vgl. auch W. NAUCK, Aufbau (s. Anm. 69), 205. 82 Insofern Gottes evpaggeli,a (keineswegs also die diaqh,kh) das umfassende „heilsgeschichtliche“ Strukturprinzip des Hebräerbriefes darstellt, ist sachgemäß von seinem verheißungsgeschichtlichen Konzept zu sprechen; dazu näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 39–41.149–153.246–258. Zum evpaggeli,a-Begriff des Hebräerbriefes vgl. bes. CHR. ROSE, Verheißung und Erfüllung. Zum Verständnis von evpaggeli,a im Hebräerbrief, BZ 33, 1989, 60–80.178–191. 83 Als Signum dieses unveränderlichen Heilswillens dient die Eidmetapher (vgl. 6,13– 20; 7,20f); dazu näher O. HOFIUS, Die Unabänderlichkeit des göttlichen Heilsratschlusses. Erwägungen zur Herkunft eines neutestamentlichen Theologoumenon, ZNW 64, 1973, 135–145; H. KÖSTER, Die Auslegung der Abraham-Verheißung in Hebräer 6, in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, hg. v. R. Rendtorff/K. Koch, Neukirchen 1961, 95–109. 80
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horchen, hat wesentlich responsorischen Charakter (vgl. 2,1–4; 3,1.7–19; 4,2–11.12f; 5,13; 6,4–8.12.18f; 10,23.35f; 12,4–6.25f).
Diesem göttlichen lalei/n wird auch die Christologie zugeordnet, und zwar so, dass sogleich im „theologischen Fundamentalsatz“84 des exordium85 das Christusereignis im Ganzen – verdichtet in Jesu Selbsthingabe am Kreuz (vgl. 1,3c; 12,24) – als eschatologisch qualifizierter „Sprechakt“ Gottes vorgestellt wird: Gottes Rede ist wesentlich „christologische Rede“86. Wie Gott von alters her in seinen Boten zu den Vätern im Glauben gesprochen hat, so spricht er – in heilsgeschichtlicher Entsprechung, soteriologischer Verwirklichung und eschatologischer Vollendung – jetzt „im Sohn“. Gleichwohl wird gerade im einleitenden Hauptsatz mit großer Sorgfalt87 – phonetisch, syntaktisch und mikrokompositorisch – die zentrale Rolle des Qeo,j herausgestellt: Polumerw/j kai. polutro,pwj pa,lai
evpV evsca,tou tw/n h`merw/n tou,twn o` Qeo.j
lalh,saj toi/j patra,sin evn toi/j profh,taij
evla,lhsen h`mi/n evn ui`w/| ...
„Gott“ ist nicht nur Handlungsträger im einzigen Hauptsatz, sondern Subjekt des umfassenden Satzgefüges, das sich in einer Serie subordinierter christologischer Relativsätze und Partizipialkonstruktionen bis zu Vers 4 erstreckt. o`` Qeo,j steht als determinierende Basis außerhalb der strikt parallel koordinierten Hälften des Eingangssatzes, und zwar zwischen einer Partizipialkonstruktion, die in einer fünffachen p-Alliteration an sein Sprechen in der Väterzeit erinnert, und dem Hauptsatz, der in einer siebenfachen Alliteration heller Vokale88 sein eschatologisches Sprechen im Sohn beleuchtet: Es ist Gott, der das gesamte Geschehen von Schöpfung und Erlösung trägt und der „lokal“-ontisch im Christusereignis „auf Erden“ präsent wird.89 „In Gottes Rede ‚im Sohn‘ kommt niemand anderes als Gott selbst 84
E. GRÄSSER, Hebr I, 48; zustimmend O. HOFIUS, Biblische Theologie (s. Anm. 57),
108. 85
Das exordium skizziert in gebündelter Form und auf rhetorisch möglichst wirkungsvolle Weise das Leitthema des Hebr, dazu ausführlich W.G. ÜBELACKER, Hebräerbrief (s. Anm. 35), 66–139. 86 H.-F. WEISS, Hebr, 140 (Kursivierung von K.B.). 87 Vgl. dazu zuletzt W.G. ÜBELACKER, Hebräerbrief (s. Anm. 35), 77–84. 88 Unter Voraussetzung des Itazismus sind e, h und ui lautäquivalent. 89 Die Präpositionalwendung evn ui`w/| ist also nicht instrumental zu verstehen (hebr. dy:B. vgl. z.B. Röm 1,2; Apg 3,21), sondern – im Sinne der Sphärenaxiologie – lokal (vgl. H. BRAUN, Hebr, 19; H.-F. WEISS, Hebr, 138; anders E. GRÄSSER, Hebr I, 54).
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zur Sprache“90; der „Sohn“ ist im ko,smoj o`rato,j Gottes unmittelbare und endgültige Selbstoffenbarung – „vom Himmel her“91. Ist auf solche Weise die gesamte Christologie des Hebräerbriefes a priori programmatisch in das Koordinatensystem der Wort-Gottes-Theologie eingeordnet, so ist die entsprechende Rezeption der weiteren einschlägigen Aussagen gesichert. Die Wort-Gottes-Theologie erweist sich als ein erstes theozentrisches Strukturprinzip im christologischen Darlegungsgefüge des Hebräerbriefes. Dies zeigt sich vor allem darin, dass Jesus zum einen Adressat und Gegenstand des Gotteswortes ist, zum anderen dessen endzeitlicher Vollzieher. Der Hebräerbrief stellt das Christus-Geschehen wesentlich als Wortgeschehen zwischen Gott und Sohn dar.92 Gott bekundet Christi Würde als Gott und Sohn (1,5–13); 93 Gottes Rede konstituiert vor allem das hohepriesterliche Amt Jesu (5,5f.10; 7,11.13.17.20f.28). Dass Jesus dieses Amt nicht aus eigener Vollmacht bekleidet, sondern durch die Ermächtigung des lalh,saj pro.j auvto,n (5,5), ist – nach Ausweis der Rekurrenz dieser Aussage – ein für den Verfasser entscheidendes Christologoumenon (5,4–6.10; 7,20f.28; vgl. 10,8–10). Das Christusereignis ist damit wesentlich Vollzug des göttlichen qe,lhma (5,4f; 10,7–10). Als eine irdische Entfaltung des in 1,1f beleuchteten göttlichen Sprechens wird man auch die Verkündigung der Kirche sehen dürfen,94 deren Heil „im lalei/sqai durch den Herrn den Anfang nahm und von den Hörenden auf uns hin befestigt wurde, während Gott es mitbezeugte durch Zeichen und Wunder und mannigfaltige Krafttaten und Zuteilungen heiligen Geistes nach seinem Willen“ (2,3f). So wird Jesu Heilswerk gerade auch als Wortdienst beschrieben (2,12). Jesus wird zum avpo,stoloj schlechthin (3,1; vgl. 12,2).95 Die Distanz zwischen Gott und Welt wird durch Gottes Geschichte gewordenen Logos – und damit auch durch die kirchliche Verkündigung des Heils (vgl. 13,7) – überbrückt. 90
H.-F. WEISS, Hebr, 154. H. HEGERMANN, Hebr, 30f. 92 Die Schrift dient dabei als pneumatische Bezeugung dieses Wortgeschehens. 93 Umgekehrt spricht auch der Sohn zu Gott (2,12f; 10,5–7). Gerade hierin zeigt sich noch einmal die theozentrische Orientierung der Christologie: Jesus verkündet seinen Brüdern den Namen Gottes und wird Gott inmitten der Gemeinde preisen (vgl. 2,12); er vertraut auf Gott (vgl. 2,13a), der ihm „die Kinder“ gab (2,13b); er vollzieht Gottes Willen (10,5–9). 94 Anders etwa H.-F. WEISS, Hebr, 140. Zwar geht es in 1,1f unmittelbar um den Wortcharakter des Christus-Ereignisses, doch sollte die aktuelle Wortverkündigung davon nicht isoliert werden (vgl. 12,25 i.V.m. 13,7; ferner 4,2; 5,12; 6,1.5). 95 Vgl. E. GRÄSSER, Das Heil als Wort. Exegetische Erwägungen zu Hebr 2,1–4 (1972), in: ders., Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, hg. v. M. Evang/O. Merk, BZNW 65, Berlin 1992, 129–142. 91
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4.3 Christologie und kulttypologische Soteriologie (1) Überblick In dem lo,goj te,leioj (vgl. 5,14; 6,1) des soteriologischen Mittelteils expliziert der Verfasser seine christologische Grundthese. Dieser Mittelteil wird ebenfalls durch eine inclusio strukturiert (4,14–16/10,19–23). Die Rahmensätze entsprechen einander in den theologischen Leitbegriffen exakt96 und beschreiben den soteriologischen Skopus des Hebräerbriefes: den freimütigen Zutritt zum „Allerheiligsten“ der Gottesnähe durch die Heilstat des himmlischen Hohepriesters.97 Den beiden Rahmensätzen und ihrer theozentrisch-christologischen Aussagestruktur entsprechen im Zuge des Gesamtschreibens eine Reihe rezeptionsleitender Kernsätze, die nach Art der propositio (vgl. Aristoteles, rhet. 3,13,2.4; Quintilian, inst. 4,4) bzw. der recapitulationes (vgl. Quintilian, inst. 6,1,1.8)98 klassischer Rhetorik den Redegegenstand bündeln und einprägen (bes. 1,3; 2,17f; 3,1; 8,1f). Die theozentrische Orientierung bleibt durchweg dadurch erhalten, dass Gott – verhüllend umschrieben mit kultmetaphorischen Aussagen – als Ausgang und Ziel der – wegmetaphorisch beschriebenen – Heilsdynamik Basis und Horizont des Geschehens bildet. Von daher ergibt sich wie von selbst die Funktion der Christologie: Der „Sohn“ ist Mittler.99 Thema des Zentralteils sind also Amt und Werk des himmlischen Hohepriesters.
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e;contej ou=n (avrciere,a me,gan) – kratw/men th/j o`mologi,aj – prosercw,meqa (meta. parrhsi,aj) (4,14–16) / e;contej ou=n (parrhsi,an ... kai. i`ere,a me,gan) – prosercw,meqa – kate,cwmen th.n o`mologi,an (10,19–23). Beiden Passagen ist auch die Wegmetaphorik gemeinsam. 97 Die zentrale Bedeutung dieses soteriologischen Teils bestätigt sich bei einem Blick auf dessen sorgfältige Komposition. Der Hebräerbrief ist auf der mittleren Kompositionsebene stufenförmig disponiert (I. Stufe 4,14–5,10: Die Menschlichkeit des Hohepriesters Jesus [paränetisch-propädeutischer Exkurs: 5,11–6,20]; II. Stufe 7,1–28: Das christologische Amt des Hohepriesters Jesus; III. Stufe 8,1–10,18: Der soteriologische Dienst des Hohepriesters Jesus) und bewegt sich auf das kefa,laion (8,1) zu: das Versöhnungswerk Jesu und damit die Öffnung des Zugangs zu Gott; das Zentrum des Schreibens liegt damit in dem chiastisch-konzentrisch eingerahmten Passus 9,11–14; vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 54f (Lit.). 98 Vgl. H. LAUSBERG, Handbuch (s. Anm. 4), §§ 289.346.434f. 99 Das Nomen mesi,thj wird im Hebräerbrief allerdings nicht in absolut-ontischem Sinn gebraucht, sondern nur in Verbindung mit dem Genitiv von diaqh,kh (8,6: krei,ttono,j evstin diaqh,khj mesi,thj; 9,15: diaqh,khj kainh/j mesi,thj evsti,n* 12,24: kai. diaqh,khj ne,aj mesi,th|; vgl. 7,22: krei,ttonoj diaqh,khj ge,gonen e;gguoj). Dies ist mit der kulttypologischen Formulierung metaphysischer Geltungsansprüche zu erklären (s.u.); der Sache nach ist das Mittler-Motiv mit der (hohe)priestertheologischen Orientierung der Christologie gegeben. Vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 9), 138–146; R.H. NASH, The Notion of Mediator in Alexandrian Judaism and the Epistle to the Hebrews, WThJ 40, 1977/78, 89–115, bes. 113–115; K. NISSILÄ, Hohepriestermotiv (s. Anm. 35),
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(2) Theo-logischer Gedankengang Die Grenze zwischen himmlischer Wirklichkeit und irdischer Schattenwelt scheint zunächst geschlossen. Die Distanz zu Gott wird also vorausgesetzt und mit den Mitteln der Kultmetaphorik durchaus wirkungsvoll vergegenwärtigt.100 Soweit ist unser Verfasser von seinen mittelplatonischen Denkvoraussetzungen geprägt. Doch dann verschafft sich die überkommene christliche Homologia Geltung. Wenn diese Grenze überwunden werden kann, dann von Gott her. Der historische Ort, an dem sie in der Tat ein für alle Mal (evfa,pax) überwunden worden ist, ist das Kreuz, der Sühnetod des Sohnes. Hier gewinnt die Wegmetaphorik ihr Gewicht. Ein irdisch-geschichtliches Ereignis erlangt himmlisch-ewige Dignität und eröffnet so den Zugang (prose,rcesqai( eivse,rcesqai( ei;sodoj( evggi,zein ktl) zu Gott. Die Distanz zu Gott ist durch die sphärenüberwindende Heilstat Christi prinzipiell aufgehoben (perfektisch-eschatologisch), sodass alle Gläubigen „schon jetzt“ proleptisch die parrhsi,a zur Gottesgemeinschaft besitzen (präsentisch-eschatologisch), die sich mit der Parusie vollenden wird (futurisch-eschatologisch). Das neupythagoreisch-mittelplatonische Gottesbild gibt dem Verfasser das Problem vor: die Trennung zwischen himmlischer und irdischer Sphäre, zwischen Gott und Mensch. Die christologische Homologia bietet dem Verfasser die Lösung: In der Person und im Sterben des durch und durch göttlichen und zugleich durch und durch menschlichen Sohnes und Hohepriesters ist ein „neuer und lebendiger Weg“ (10,20) zwischen den Sphären eröffnet, den in der Nachfolge des „Anführers ihres Heils“ (2,10) alle Menschen gehen können. Dass gleichwohl die Transzendenz Gottes gewahrt bleibt, wird durch die Mittler-Stellung des himmlischen Hohepriesters gesichert. Gottes Nähe und Gottes Hoheit klingen zusammen in der Prädikation vom „lebendigen Gott“. Hieraus erhellt, warum der Auctor ad Hebraeos zuerst so unerhörtes Gewicht auf die göttliche Dignität des Sohnes legen muss, um sodann ein ebensolches Gewicht auf seinen konnaturalen menschlich-irdischen Status zu legen. Vor allem erhellt hieraus, warum diese christologische Option die Theozentrik nicht nur voraussetzt, sondern ihrem Wesen nach vertiefen muss. Die Logik der Darlegungen steht und fällt mit dem transzendenten Gottesbild. Gott ist himmlischer Ausgangspunkt dieser Dynamik; das gesamte irdische Heilsgeschehen wird getragen von seinem Wort und Willen, und die gesamte Dynamik zielt auf die Einheit mit Gott. Theozentrik und
160–165; J. SCHLOSSER, La médiation du Christ d’après l’Épître aux Hébreux, RevSR 62, 1988, 169–181, bes. 174–181; A. VANHOYE, Dieu (s. Anm. 15), 318–320. 100 Vgl. dazu M.E. ISAACS, Sacred Space. An Approach to the Theology of the Epistle to the Hebrews, JSNT.S 73, Sheffield 1992.
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Christologie bedingen sich gegenseitig und sind unlösbar miteinander verschränkt. (3) Kulttypologische Durchführung Die axiologische Grundscheidung, die hier skizziert wurde, wird im Hebräerbrief durchweg vorausgesetzt. Jedoch beschreibt der Verfasser die entscheidende Heilstat nicht in einer metaphysischen, sondern in einer kulttypologischen Sprache. Was also irdische Kulte im Irdischen vergeblich suchten,101 das hat die göttliche Heilstat „vom Himmel“ her in endgültiger und vollkommener Weise vollbracht. Jesu Durchschreiten der Sphärenwand wird als große kosmische Liturgie gemalt. Als Typus des Heilsgeschehens wählt der Hebräerbrief den Opferkult des Großen Versöhnungstages (Lev 16). Sein Zweck war die Versöhnung des Gottesvolkes mit seinem Gott (Lev 16,30). Die den Bund erneuernde Kulttat lag wesentlich darin, dass der Hohepriester – er allein – einmal im Jahr den Vorhang vor dem Allerheiligsten durchschritt, um die Sühnehandlung mit den anschließenden Riten zu vollziehen (vgl. Lev 16,2.12–19). Verbindet man diesen biblischen Kulttypus mit der metaphysischen Sphärendichotomie des Mittelplatonismus, so ergibt sich das Bild jener einmaligen irdisch-himmlischen Sühnetat des Hohepriesters Jesus, das vor allem im christologischen Zentralsatz des Schreibens (9,11–14) beschrieben wird: Christus als Hohepriester der wirklichen Heilsgüter geht im Kreuzesereignis durch das größere und vollkommene, nämlich himmlischgöttliche Zelt (Cristo.j de. parageno,menoj avrciereu.j tw/n genome,nwn avgaqw/n102 dia. th/j mei,zonoj kai. teleiote,raj skhnh/j ouv ceiropoih,tou( tou/tV e;stin ouv tau,thj th/j kti,sewj), um sich „kraft ewigen Geistes“ (dia. pneu,matoj aivwni,ou) – mithin ganz getragen von Gott und auf ihn hingeordnet103 – Gott darzubringen, um die Seinen zu befreien „zum Dienst für den 101 Der levitische Kult gilt als – von der Schrift her naheliegendes – Paradigma irdischen Heilsstrebens. Er war damit keineswegs heilsgeschichtlich verfehlt oder in sich verwerflich, sondern eben irdisch und deshalb ontisch „schwach“ (vgl. z.B. 7,16.18.28). Er suchte im Irdischen, was sich nur vom Himmlischen her finden lässt (vgl. E. GRÄSSER, Bund [s. Anm. 72], 114; E. KÄSEMANN, Gottesvolk [s. Anm. 41], 37). Mit seiner Kult- und Opferkritik steht der Hebräerbrief erneut im Strom zeitgenössischer Gottesvorstellungen (vgl. z.B. Ps.-Plato, Alk. 2,149E; Philo, Mos. 2,107f; plant. 108.126; somn. 2,73f; spec. 1,287.290; Corp. Herm. 1,31; Asclepius 41; Philostrat, vit. Ap. 1,11; 8,10); vgl. dazu J.W. THOMPSON, Hebrews 9 and Hellenistic Concepts of Sacrifice (1979), in: Beginnings (s. Anm. 7), 103–115. 102 genome,nwn avgaqw/n: Zur textkritischen Entscheidung (mit [p46] B D* 1739 pc (p).h sy ) und Übersetzung vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 464f. 103 Zum Pneuma als jener Kraft, die die Christozentrik auf Gott hin ausrichtet, vgl. (mit Blick auf die paulinischen Hauptbriefe) W. THÜSING, Per Christum (s. Anm. 14), 151–163.
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lebendigen Gott“ (e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| Qew/|( kaqariei/ th.n sunei,dhsin h`mw/n avpo. nekrw/n e;rgwn eivj to. latreu,ein Qew/| zw/nti). – Die christologische Hauptaussage des Hebräerbriefes ist also in einer theozentrischen Weise konnotiert, die kaum gesteigert werden kann. Genau so aber stiftet Christus – antitypisch zu Mose – mit dem „Blut des Bundes“ die neue Diatheke, „die Gott anordnete für euch“ (9,20: tou/to to. ai-ma th/j diaqh,khj h-j evnetei,lato pro.j u`ma/j o` Qeo,j). Selbst dieses Schriftzitat verschärft gegenüber der biblischen Vorlage (Ex 24,8LXX) noch einmal den theozentrischen Akzent.104 Der neue Gottesbund ist also jene von Gott gestiftete, von ihm getragene und zu ihm führende, ja schon jetzt mit ihm vereinende eschatologische Lebensordnung, die durch Christus vermittelt und mit ihm gelebt wird (vgl. bes. 9,15–20).105 Dieses „per Christum“ gehört ebenso zum cantus firmus des Hebräerbriefes (1,2; 2,3.10; 13,15.21; vgl. 7,19; 9,26; 10,10) wie das „in Deum“ (2,17; 5,1.7; vgl. 7,19; 9,14.24). Beides klingt im Akkord von 7,25 zusammen: Jesus bekleidet ein ewiges Priesteramt: „daher er auch zur Gänze retten kann die Hinzutretenden durch ihn zu Gott, allzeit lebend, um einzutreten für sie“106. 4.4 Christologie und Glaubensparaklese Das Verhältnis von Christologie und Theo-logie – darauf hat Wilhelm Thüsing deutlich hingewiesen – entscheidet sich nicht zuletzt am Glaubensbegriff.107 Die pi,stij ist ausdrücklich Thema des dritten Hauptteils 10,19– 13,21108 (vgl. bes. 10,22.38f; 11,1–12,3; 13,7; ferner 3,12.19; 4,2f; 6,1. 104
S.o. Anm. 9. Zur exegetischen Absicherung und Präzisierung vgl. – außer den Kommentaren bes. von E. GRÄSSER, H. HEGERMANN, C. SPICQ und H.-F. WEISS – F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 37), 167–221; DERS., „Ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste“ (Hebr 9,12). Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief, BZ 35, 1991, 65–85; U. LUCK, Himmlisches und irdisches Geschehen im Hebräerbrief. Ein Beitrag zum Problem des „historischen Jesus“ im Urchristentum, NT 6, 1963, 192–215; K. NISSILÄ, Hohepriestermotiv (s. Anm. 35), 169–196; F.J. SCHIERSE, Verheißung (s. Anm. 51), 26–64. 106 Übersetzung hier nach dem Münchener Neuen Testament. 107 Vgl. Gottesbild (s. Anm. 14), 60. 108 Auch der dritte Hauptteil wird durch eine inclusio strukturiert, und zwar insofern, als beide Rahmenpassagen (10,19–25; 13,18–21) eine paränetische Bilanz ziehen (vgl. bes. 10,24 mit 13,21) und daher gerade die Themen des parakalei/n (vgl. 10,25; 13,19) und des „guten Gewissens“ anschneiden (vgl. 10,22; 13,18); sie binden sich durch das kulttypologische Grundmotiv des ai-ma Jesu soteriologisch an den Zentralteil zurück. Die christologische Klammer wird durch die korrespondierenden Tituli i`ereu.j me,gaj evpi. to.n oi=kon tou/ Qeou/ (10,21) bzw. poimh.n tw/n proba,twn me,gaj (13,20) hergestellt. Aber auch hier ist die theozentrische Basis, auf der solche Christologie aufruht, nicht zu übersehen, denn der Träger des Geschehens ist jeweils, deutlich akzentuiert, Gott (10,23; 13,20f). Dem doppelten Charakter der Paraklese als Trost und Mahnung wird dabei insofern 105
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12).109 Die Christologie tritt in diesem Teil merklich zurück, und in der Glaubensdefinition wie in dem ihr folgenden tractatus de fide110 scheint nur noch der transzendente Gott im Blickfeld zu stehen. Diese theozentrische Orientierung der pi,stij ist oft beklagt worden,111 kann aber nach den bisherigen Einsichten nicht überraschen, entspricht vielmehr dem von Anfang an verfolgten Darstellungsinteresse des Verfassers. Der Glaube selbst ist ausschließlich auf Gott gerichtet, und dies durchaus im Sinne der metaphysischen Theo-sophie des Mittelplatonismus (vgl. Philo, bes. Abr. 262–274; her. 90–102; ferner z.B. all. 2,89; conf. 31; mut. 181f; virt. 218; Corp. Herm. 4,9; 9,10).112 Glaube richtet sich per definitio-
Rechnung getragen, als Gottes Treue den Trost begründet, Gottes „Bereitung“ den Willen zum Guten stärkt. 109 Zur pi,stij im Hebräerbrief vgl. G. DAUTZENBERG, Der Glaube im Hebräerbrief, BZ 17, 1973, 161–177; E. GRÄSSER, Der Glaube im Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg 1965; D. HAMM, Faith in the Epistle to the Hebrews. The Jesus Factor, CBQ 52, 1990, 270–291; B. LINDARS, The Theology of the Letter to the Hebrews, New Testament Theology, Cambridge 1991, 101–118; CHR. ROSE, Die Wolke der Zeugen. Eine exegetischtraditionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 10,32–12,3, WUNT II/60, Tübingen 1994; M. RISSI, Theologie (s. Anm. 15), 104–113; TH. SÖDING, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebräerbriefes, ZNW 82, 1991, 214– 241; J.W. THOMPSON, Beginnings (s. Anm. 7), 53–80. Einschlägige Exkurse bieten H. BRAUN, Hebr, 106–108; O. MICHEL, Hebr, 376–379; C. SPICQ, Hebr II, 371–381; H.-F. WEISS, Hebr, 564–571. 110 Der Glaubenstraktat erfüllt die rhetorische Funktion der digressio (pare,kbasij) und führt, wie es das praeceptum verlangt, in 12,1–3 wieder zur Grundthese zurück (vgl. Quintilian, inst. 4,3). 111 Vgl. H. BRAUN, Hebr, 107; W.G. KÜMMEL, Der Glaube im Neuen Testament, seine katholische und reformatorische Deutung (1937), in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933–1964, hg. v. E. Gräßer/O. Merk/A. Fritz, MThSt 3, Marburg 1965, 67–80: 74f („Der Glaube erscheint als Fürwahrhalten der Existenz Gottes, nicht aber als Leben in einem neuen Sein durch den Anschluß an Christus. Daß in diesem Glaubensverständnis jüdisch-hellenistische Gedanken weiterwirken, ist zweifellos; aber ebenso deutlich ist, daß damit ein gefährliches Abrücken von dem bei Jesus, Paulus und Johannes vorliegenden Glaubensverständnis angebahnt wird“ [ebd., 74]); vgl. auch R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments (1953), hg. v. O. Merk, UTB 630, Tübingen 91984, 518f; S. SCHULZ, Mitte (s. Anm. 44), 260–262. Zur Diskussion D. HAMM, Faith (s. Anm. 109), 270–272; TH. SÖDING, Zuversicht (s. Anm. 109), 217f. 112 Vgl. E. GRÄSSER, Glaube (s. Anm. 109), 126–144; D. LÜHRMANN, Pistis im Judentum, ZNW 64, 1973, 19–38: 29–32.37f; TH. SÖDING, Zuversicht (s. Anm. 109), 236– 238; J.W. THOMPSON, Beginnings (s. Anm. 7), 53–80. Dass der Hebräerbrief den ursprünglich christologisch denotierten Glauben a posteriori unter den Anforderungen seiner theologiegeschichtlichen Situation „ent-christologisiert“ habe (so E. GRÄSSER, Glaube [s. Anm. 109], bes. 146f.214–219), ist mit Recht ausgeschlossen worden (vgl. D. DAUTZENBERG, Glaube [s. Anm. 109], 172–174).
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nem (11,1)113 auf die stabile himmlische Welt des unsichtbaren, transzendenten Gottes (vgl. bes. 11,3.6f.9f.13–16.27).114 Nach dem Gesagten überrascht es allerdings ebensowenig, dass das vom Hebräerbrief vertiefte Glaubensverständnis strikt unter christologischen Möglichkeitsbedingungen steht. Der dritte Hauptteil weist in kompositorischen Schlüsselpassagen auf die soteriologische Basis im Christusgeschehen zurück (vgl. 10,19–23.29; 12,1–3.24; 13,20f), wie denn überhaupt die plhrofori,a pi,stewj programmatisch mit dem „Festhalten der (christologischen) Homologia“ (kate,cwmen th.n o`mologi,an th/j evlpi,doj avklinh/) verbunden wird, die ihrerseits in der Treue des verheißenden Gottes, also Wort-Gottes-theologisch verankert wird (pisto.j ga.r o` evpaggeila,menoj) (10,22f; vgl. 3,12–14; 4,14; 6,1; 13,7f). Von dem Glauben an Gott kann in Kap. 11 ja auch nicht die Rede sein, ohne dass dieser Gott ganz vor dem Hintergrund des von ihm getragenen Christusgeschehens verstanden wird: „es geht nicht nur um ein allgemeines monotheistisches Bekenntnis, das als solches auch philosophischer Reflexion zugänglich wäre (sosehr sich der Hebr um eine philosophische Validität seiner Gedankengänge bemüht); es geht vielmehr letztlich um die Bejahung Gottes als dessen, der sich eschatologisch in seinem Sohn offenbart (1,1f) und dadurch die Möglichkeit des Glaubens eröffnet (vgl. 10,19–25)“115. Jesus ist – auf der menschlichen Seite – „Anführer und Vollender des Glaubens“ (12,2: o` th/j pi,stewj avrchgo.j kai. teleiwth,j).116 Auch die mit 113
Wir paraphrasieren mit H. DÖRRIE, Zu Hbr 11,1, ZNW 46, 1955, 196–202: 202: „Der Glaube verleiht dem, was wir hoffen, die volle Sicherheit künftiger Verwirklichung; der Glaube verleiht dem, was wir nicht sehen, die volle Sicherheit eines Beweises“. Zur Diskussion vgl. TH. SÖDING, Zuversicht (s. Anm. 109), 224–226; H.-F. WEISS, Hebr, 559–562. 114 Vgl. dazu bes. J.W. THOMPSON, Beginnings (s. Anm. 7), 61–79. 115 TH. SÖDING, Zuversicht (s. Anm. 109), 221; vgl. W. THÜSING, „Milch“ und „feste Speise“ (1Kor 3,1f und Hebr 5,11–6,3). Elementarkatechese und theologische Vertiefung in neutestamentlicher Sicht (1967), in: ders., Studien (s. Anm. 11), 23–56: 41–47; H.-F. WEISS, Hebr, 569–571. 116 Auf das konzentrisch um diese Wendung angeordnete chiastische Schema von 12,1f macht D. HAMM, Faith (Anm. 109), 280, aufmerksam (anders CHR. ROSE, Wolke [s. Anm. 109], 334f): Toigarou/n kai. h`mei/j( A. tosou/ton e;contej perikei,menon h`mi/n ne,foj martu,rwn( B. o;gkon avpoqe,menoi pa,nta kai. th.n euvperi,staton a`marti,an( C. di v u`pomonh/j D. tre,cwmen to.n prokei,menon h`mi/n avgw/na( E. avforw/ntej eivj to.n th/j pi,stewj avrchgo.n kai. teleiwth.n VIhsou/n( D’ o]j avnti. th/j prokeime,nhj auvtw/| cara/j C’ u`pe,meinen stauro.n B’ aivscu,nhj katafronh,saj( A’ evn dexia/| te tou/ qro,nou tou/ Qeou/ keka,qiken.
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dem Glauben verbundenen Haltungen finden in Christus nicht nur – wie der Verfasser parakletisch hervorhebt – ihr ethisches Paradigma, sondern ihre ontologische Bürgschaft;117 sie richten aber den Glaubenden zuerst und zuletzt auf Gott selbst aus. So steht nach dem Paradigmenkatalog (11,1–12,3) Jesus in der Tat als Anführer an der Spitze des irdischen „Exodus“ der Glaubenszeugen aus alter und neuer Zeit: Er begründet und verbürgt die fides peregrinorum und führt die peregrini in der himmlischen ei;sodoj (10,19) an das Ziel ihrer Vollendung.118 Dieses Ziel aber ist die „bleibende Stadt“, die himmlische Gründung Gottes – und damit der „lebendige Gott“ selbst (vgl. 11,10.13–16; 12,22). Die Konsequenz aus den hoheitschristologischen Darlegungen des Hebräerbriefes ist also keineswegs eine doppelte Gottesbeziehung,119 sondern eine Theozentrik, die, ungeachtet der gewahrten (genauer: christologisch gesicherten und personal-existentiell verbindlich gemachten) Transzendenz Gottes, lebendig ist und lebenspraktisch wirkt. Der Hebräerbrief mündet damit in eine dezidiert theozentrische Interpretation christlichen Glaubens. So bestätigt sich die Feststellung Wilhelm Thüsings: „Sinn der ‚festen Speise‘, der Kulttheologie, ist es, daß das christliche Leben (in dem Verständnis, das sich aus der ‚Glaubens‘-Theologie des Briefes und entsprechend aus der ‚Milch‘ des Elementarunterrichts von 6,1f ergibt: als lebensmäßige Bejahung Gottes und seines Verheißungswortes) ganz von der Christologie und Soteriologie her gesehen wird und durch diese ‚theologische Vertiefung‘ neue Kraft empfängt“120.
5. Resümee Der Auctor ad Hebraeos entfaltet sein soteriologisches Konzept im Wirkungsbereich einer vom Mittelplatonismus geprägten Theo-logie, deren transzendentes Gottesbild zu dem existentiell-glaubenspraktischen Problem der Distanz zwischen Gott und Christ geführt hat. Wo die mittelplatonische Metaphysik sich um die ontologische Vermittlung zwischen den Wirklichkeitssphären bemüht, kann der Hebräerbrief als liturgischer sermo von zwei Urdaten der christlichen Glaubenserfahrung ausgehen: Die got117 Vgl. näher D. HAMM, Faith (s. Anm. 109), 280–290; TH. SÖDING, Zuversicht (s. Anm. 109), 229–233. 118 Vgl. dazu E. KÄSEMANN, Gottesvolk (s. Anm. 41), 19–24, sowie die schöne Studie von K. NIEDERWIMMER, Vom Glauben der Pilger. Erwägungen zu Hebr 11,8–10 und 13–16, in: Zur Aktualität des Alten Testaments. FS G. Sauer, hg. v. S. Kreuzer/K. Lüthi, Frankfurt a.M. 1992, 121–131. 119 Zum Problemhintergrund vgl. (mit Blick auf die paulinischen Hauptbriefe) W. THÜSING, Per Christum (s. Anm. 14), bes. 258–261. 120 (Mit Blick auf 5,11–14:) Milch (s. Anm. 115), 46.
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tesdienstliche Schriftlesung offenbart den hoheitsvollen Gott, sie offenbart ihn als „Sprechenden“; die Praxis des Herrenmahls lässt Jesus Christus (angesichts seiner Selbsthingabe am Kreuz) als Wegbereiter des Zugangs zum transzendenten Gott erleben. Aus solchem Reflexionszusammenhang erwächst der Entwurf des Hebräerbriefes. In Komposition, rezeptionsleitender Metaphorik und theologischer Gedankenführung erweist sich die Christologie als Funktion einer theozentrischen Gotteslehre. Gott selbst überbrückt den ontischen Hiat zu den Gläubigen durch sein die Schöpfung und die Verheißungsgeschichte tragendes Wort (Wort-Gottes-Theologie). Diese Selbstoffenbarung vollzieht sich in soteriologisch vollkommener und eschatologisch endgültiger Weise in Jesu Sühnetod, der die Grenze zwischen den Sphären überwindet und so einen „neuen und lebendigen Weg“ eröffnet (kulttypologische Soteriologie), den in der Nachfolge ihres himmlischen Hohepriesters alle Glaubenden „schon jetzt“ gehen können (Glaubensparaklese). In seiner Würzburger Habilitationsschrift hat der Jubilar sich mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern die paulinische Christologie die – originär monotheistische – Gottesbeziehung relativiere. Die Hinordnung der Christozentrik auf Gott, wie er sie in der paulinischen Korrespondenz nachwies, schien ihm im Ergebnis geeignet, die Einheit der neutestamentlichen Botschaft zu erfassen und die theozentrische Option als dynamischlebensvoll zu sichern.121 Wir haben festgestellt, dass für die intendierten Leser des Hebräerbriefes die christologisch unreflektierte Theozentrik gerade zu einem „ermüdend“ spannungslosen und lebenspraktisch irrelevanten Gottesbild geführt hat, sodass der parakletische Logos des Hebräerbriefes die Christologie zur Revitalisierung der Theo-logie einsetzen musste. Im Vergleich mit Paulus scheinen beide vom Jubilar herausgestellten Pole – „Gottesgestalt“ und „Menschengestalt“ Christi – dabei noch weiter auseinanderzutreten. Gerade so wird das „per Christum“ aber im Hebräerbrief zum Zugang „in Deum vivum“. Daher gilt letztlich auch für den Auctor ad Hebraeos, was der Jubilar für Paulus festgestellt hat: „Seine Theologie ist gerade in ihrer Christozentrik in vollstem Maße Verkündigung der Größe Gottes“122.
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Vgl. Per Christum (s. Anm. 14), bes. 256–264. W. THÜSING, Per Christum (s. Anm. 14), 270.
„Licht vom Licht“ Die Präexistenz Christi im Hebräerbrief Orientiert man sich in einer müde gewordenen Kirche an der Konzeption des Verfassers des Hebr., stellt sich wohl diese Frage: Wie müßte heute ein Dogmatiker eine Christologie entwerfen, die müden Christen unmittelbar hilft, aus ihrer Müdigkeit herauszukommen? WILLI MARXSEN1
1. Existentielle Christologie – Zur Aktualität des Hebräerbriefs Wer es heute versucht, seinen Zeitgenossen Christologie im Allgemeinen und Präexistenz-Christologie im Besonderen nahezubringen, der sieht sich bald hineinversetzt in jene sibirische Gesprächslage, die Nikolai Lesskow in seiner Erzählung „Am Ende der Welt“ beschreibt.2 Sein Erzähler – orthodoxer Bischof des vorigen Jahrhunderts auf Visitationsreise durch Sibirien – bemüht sich, seinen Hundeschlittenführer zu einem Glaubensgespräch zu motivieren: „Hast du schon etwas vom Herrn Jesus Christus gehört?“ – „Gewiß, Väterchen.“ – „Was hast du von ihm gehört?“ – „Daß er übers Wasser ging, Väterchen.“ – „Hm! Nun gut – ging, und noch was?“ – „Daß er die Schweine ins Meer jagte und ersaufen ließ.“ – „Noch mehr der Art?“ – „Nein, Väterchen. Gut, mitleidig war er, Väterchen.“ – „Warum mitleidig? Was hat er denn getan?“ – „Einem Blinden hat er auf die Augen gespuckt, Väterchen, und der Blinde sah. Dem Volk hat er Brot und Fisch zu essen gegeben.“ – „Du weißt immerhin viel, Bruder.“ – „Gewiß, Väterchen, ich weiß viel.“ – „Wer hat dir denn das alles gesagt?“ – „Die Leute erzählen’s sich, Väterchen.“ – „Eure Leute?“ – „Gewiß, Väterchen, unsere, unsere.“ – „Und von wem haben sie es gehört?“ – „Weiß nicht, Väterchen.“ – „Nun, und weißt du auch, warum Christus hierher auf die Erde gekommen ist?“ – Er dachte hin, er dachte her, doch es kam keine Antwort. – „Du weißt es nicht?“, sagte ich. – „Ich weiß es nicht.“ – Ich erläuterte ihm die ganze rechtgläubige Lehre, aber es war ganz zweifelhaft, ob er zuhörte. Er schrie andauernd auf die Hunde ein und schwenk1
„Christliche“ und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 245. Gesammelte Werke II, hg. v. J. v. Guenther, München 1964, 357–443: 404 (Hinweis bei W. STENGER, Hermeneutische Überlegungen zur Präexistenzchristologie des Neuen Testaments, KatBl 110, 1985, 256–266: 265f). 2
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te die Peitsche. „Nun, hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?“, fragte ich. – „Gewiß, Väterchen, verstanden. Er hat die Schweine ins Meer getrieben, dem Blinden auf die Augen gespuckt, und der Blinde sah. Er hat dem Volke Brot und Fisch gegeben.
Und so noch immer: Von Jesus hört der Zeitgenosse – nicht viel anders als der sibirische Schlittenführer – „per Gerücht“, und er merkt sich vor allem das Bizarre und Absonderliche, das ihm heute freilich eher die Medien als „unsere Leute“ erzählen. Und doch: Er war gut, er war mitleidig, er hat dem Volk Brot und Fisch gegeben. Auch dieses Faszinosum an der Menschlichkeit Jesu – allen Kontrasterfahrungen mit „seiner Kirche“ zum Trotz – bleibt erstaunlich aktuell: von den antiochenischen Theologen der Alten Kirche über die Armutsbewegung des Mittelalters bis hin zur zeitgenössischen Literatur.3 „Nun, und weißt du auch, warum Christus hierher auf die Erde gekommen ist?“ – Der Zeitgenosse weiß es in der Regel nicht,4 und jede noch so sachkundige Erläuterung der „rechtgläubigen Lehre“ scheint statt Brot und Fisch Steine zu reichen, auf die der Appetit des Zeitgenossen kaum größer ist als der des sibirischen Schlittenführers. Jesus fasziniert, solange von ihm erzählt wird. Sobald über ihn doziert wird, schwindet die Anziehungskraft seiner Gestalt. Und Probleme nach Art der Präexistenz, die weder die Lebenswelt noch die Vorstellungskraft der Hörer berühren, scheinen vollends zu jener Verkündigung zu gehören, die den Weg des Gläubigen nicht beflügelt, sondern mit spekulativem Ballast unnütz beschwert. Von daher wird man die Skepsis der Theologie dieses Jahrhunderts gegen die dogmatische Rede von Christi Präexistenz verstehen. Sie ist seit Adolf von Harnack wesentlich von der Sorge um die existentielle Lebensrelevanz des christlichen Glaubens und seiner Vermittlung bestimmt; diese Sorge prägt auch die jüngste, umfangreiche Studie von Karl-Josef Kuschel.5
3 Dokumentiert bei K.-J. KUSCHEL, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, ÖTh 1, Zürich/Gütersloh (1978) 31979, 31–79. 4 Nach einer repräsentativen Umfrage des Bielefelder Emnid-Instituts von 1992 können 29% der Deutschen im Westen und 17% der Deutschen in den östlichen Bundesländern den Satz „Gott hat Jesus zu den Menschen gesandt, um sie zu erlösen“ bejahen; von den „regelmäßigen Kirchgängern“ (im Westen) stimmten 56% der Katholiken und 59% der Protestanten diesem Satz zu („Der Spiegel“ 25/1992, 41; 22/1996, 76). Übrigens bejahten in der gleichen Umfrage immerhin 40% der Westdeutschen den Satz „Jesus hat 5000 mit fünf Broten und zwei Fischen gespeist“, und für 77% der Westdeutschen hat Jesus Kranke geheilt („Der Spiegel“ 25/1992, 37). 5 Geboren vor aller Zeit? Der Streit um Christi Ursprung, München 1990. Zum Anliegen dieser Monographie bes. 25–27.66–70.628–631; zur pastoralen Motivation der Präexistenz-Kritik bei Harnack, ebd., 39–70, bes. 41–43.
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Fremd und (im doppelten Wortsinn) anstößig wirkt in solchem Kontext der christologische Entwurf des Hebräerbriefs. Auch der Auctor ad Hebraeos weiß um das Faszinosum des irdischen Jesus und seiner dramatischen Geschichte; auch ihn bestimmt die Sorge um das „Tua res agitur“ des überlieferten Christus-Bekenntnisses in der Lebenswelt seiner Leser, und wenn ein Schriftsteller der neutestamentlichen Literatur sich bemüht, dem Niveau des zeitgenössischen Welt- und Gottesbildes (nicht nur seiner christlichen Adressaten) gerecht zu werden, so ist es der Auctor ad Hebraeos. Und doch – oder vielmehr: gerade deshalb – sieht er in dem theologischen Bemühen um Jesu himmlischen Ursprung und Jesu himmlisches Ziel keinen Ballast auf dem Weg, sondern im Gegenteil: ein Mittel, „die wankenden Knie wieder festzumachen“, die Wege zu ebnen, „damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern geheilt werden“ (vgl. 12,12f). Und dass er auf solche Weise Brot statt Steine reicht, daran zweifelt er nicht. So lässt er bewusst „beiseite, was man anfanghaft von Christus verkündigen muss“ (6,1) – „Milch“ ist solche Elementarkatechese in seinen Augen für Unmündige, nicht aber „feste Speise“ für Erwachsene (vgl. 5,11–6,3). Die Verstehensschwierigkeiten gegenüber der Christologie nimmt er wohl wahr, doch sieht er sie nicht in deren esoterischem Charakter, sondern eher in der „Hör- und Denkfaulheit“6 seiner Adressaten begründet.7 Angesichts der theologischen Flaute will er nicht die Segel streichen, sondern dazu ermutigen, mit neuer Kraft zu rudern! Der Auctor ad Hebraeos ist – gut griechisch – Bildungsoptimist: Es gibt Stufen christlicher Paideia „vom Anfangswissen bis zur tiefen Gnosis des Glaubens“ 8, und christologischer Reflexionsverzicht, intellektuelle Lethargie,9 führt diese Stufen hinab, nicht hinauf. Zugleich freilich ist der Hebräerbrief ein mystagogisches Schreiben, das den Raum des Begrifflichen mit tröstenden
6 evpei. nwqroi. gego,nate tai/j avkoai/j (5,11). Das Adjektiv nwqro,j hat seinen Sitz im antiken Paideia-Ideal und schwankt in der Bedeutungsbreite zwischen „schwerhörig“ und „denkfaul“. So zählt Epiktet die nwqroi, zu jenen, die nach Vorwänden suchen, um ihre Vernunft nicht auszubilden (diss. 1,7,30). Vgl. näher E. GRÄSSER, An die Hebräer, 3 Bde., EKK 17, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1990/1993/1997, I, 322f; J.W. THOMPSON, Hebrews 5:11–14 and Greek Paideia, in: ders., The Beginnings of Christian Philosophy: The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13, Washington, DC 1982, 17–40. 7 Zur „Anfangslehre“ im Gegensatz zum lo,goj te,leioj vgl. näher E. GRÄSSER, Hebr I, 319–345; W. THÜSING, „Milch“ und „feste Speise“ (1Kor 3,1f und Hebr 5,11–6,3). Elementarkatechese und theologische Vertiefung in neutestamentlicher Sicht (1967), in: ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Th. Söding, WUNT 82, Tübingen 1995, 23–56; H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 15/11991, 329– 340. 8 E. GRÄSSER, Hebr I, 345. 9 Zu diesem Vorwurf vgl. J.W. THOMPSON, Hebrews (s. Anm. 6), 29–31.
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und stärkenden Bildern transzendiert in die innerste Existenz des Glaubens hinein.10 Der Verfasser des Hebräerbriefs sieht also in einer Identitätskrise seiner Adressaten – mit all den sehr greifbaren lebenspraktischen Konsequenzen – das äußere Symptom einer christologischen Grundlagenkrise, und er traut sich zu, dieser Situation beizukommen – nicht durch vortheologische Erzählung über den irdischen Jesus, sondern durch die Reflexion seiner christologischen Dignität: „Der Verfasser unserer ‚Mahnrede‘ will einer von langer Glaubenswanderschaft müde und verzagt gewordenen Christenheit Mut zum Durchhalten machen, indem er ihr Bekenntnis in der Länge, in der Breite, in der Höhe und in der Tiefe neu vermißt. Wir stehen vor dem bemerkenswerten Versuch, eine Glaubenskrise zu bewältigen durch – bessere Theologie.“ – „Geschärfte theologische Denkanstrengung wird eingesetzt als Waffe gegen den kirchlichen Niedergang. Bessere Theologie und nichts als bessere Theologie! Ein denkwürdiger Vorgang, der seine Wirkungsgeschichte immer wieder neu vor sich hat.“11 Genauer: Der Hebräerbrief verbindet das überkommene Christus-Bekenntnis (o`mologi,a) seiner Gemeinde einerseits mit dem Zeugnis der Schrift („Alten Testamentes“) und andererseits mit dem in seiner Zeit hochaktuellen Entwurf mittelplatonischer Metaphysik, und dies unter sensibler Erschließung der Lesersituation und in dezidiert praktischer Wirkabsicht. Diese theologische Durchdringung in Loyalität zum Schriftzeugnis, in intellektueller Redlichkeit gegenüber dem geistigen Horizont der Zeit und in pastoraler Verantwortung gegenüber seinen Mitchristen ermöglicht ihm eine anspruchsvolle Reinterpretation des überlieferten Christus-Bekenntnisses, das als Modell von Theologie noch immer Aktualität beanspruchen darf. Solche Ermutigung zur theologischen Durchdringung der überkommenen Christus-Homologie ist ein erster, aktueller Grund, den Hebräerbrief zum „Streit um Christi Ursprung“ zu befragen. Der zweite, historische Grund liegt in der eigentümlichen ideengeschichtlichen Konstellation des Schreibens. Der Glaube an den präexistenten Christus ist unter theologiegeschichtlichen Bedingungen gewachsen, zu deren „mikroskopischem“ Studium der Hebräerbrief eine besonders hilfreiche Basis bietet: Im Hinblick auf die religionsgeschichtlichen Determinanten vereinigt er auf kreativ-originelle Weise alttestamentlich-frühjüdische, pagan-hellenistische (namentlich mittelplatonische) und urchristliche
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Vgl. C.-P. MÄRZ, Ein „Außenseiter“ im Neuen Testament. Zur Aktualität des Hebräerbriefs, BiKi 48, 1993, 173–179: 178f. 11 E. GRÄSSER, Hebr I, VIII.27.
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(namentlich dem paulinischen Milieu verwandte) Entwicklungsstränge.12 Im Hinblick auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der neutestamentlichen Literatur übt der Hebräerbrief (bes. 1,3; 2,9f.14; 3,1; 5,7–9; 13,8) einen nachhaltigen Einfluss auf die christologische Diskussion der Väterzeit aus.13
2. „Christologie im Präsens“ – Zum Anliegen des Hebräerbriefs Präexistenz-Christologie – so sieht es der Hebräerbrief – ist Christologie im Präsens.14 Der Hebräerbrief ist eine Christus-Predigt,15 die im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts brieflich – wahrscheinlich an eine Teilgemeinde im pluralen geistigen Milieu des stadtrömischen Christentums – verschickt wurde.16 In seinem christologischen Entwurf spiegeln sich so ganz die Irritationen jener Schwellenphase wider, in der zum einen das urchristliche Kerygma an motivierender Kraft verloren hat, zum anderen aber noch keine stabilen Deutungsstandards einer eigenen kirchlichen Identität entwickelt sind. Die Glaubenspraxis seiner Adressatengemeinde – so nimmt es der Auctor ad Hebraeos wahr (z.B. 5,11–14; 6,11f; 10,19– 25.35–39; 12,3f.12–17) – ist ermattet. Nicht der moralisierende Appell freilich und nicht das pastorale Programm scheint ihm hier die rechte Therapie, sondern die Vertiefung der Christus-Bindung. Die Mattheit des Glaubens ist nach seiner Überzeugung Folge einer geistlichen Blutarmut.17 Die Glaubenspraxis seiner Gemeinde ist deshalb ermüdet, weil das Gottesbild ermüdend ist. Das Gottesbild ist ermüdend, 12
Zum religions- und theologiegeschichtlichen Ort des Hebräerbriefs vgl. K. BACKDer Hebräerbrief und die Paulus-Schule, BZ 37, 1993, 183–208 [in diesem Band S. 21–48]; H.-F. WEISS, Hebr, 96–114. Forschungsüberblicke bei H. FELD, Der Hebräerbrief, EdF 228, Darmstadt 1985, 29–54, und L.D. HURST, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, MSSNTS 65, Cambridge 1990. 13 Vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 33f; dazu umfassend die auslegungsgeschichtliche Studie von R.A. GREER, The Captain of Our Salvation. A Study in the Patristic Exegesis of Hebrews, BGBE 15, Tübingen 1973. 14 So der Titel der kritischen Sichtung neuer Entwürfe von A. SCHILSON und W. KASPER, Freiburg i.Br. 1974. 15 Hebr bedient sich zwar durchgehend des Verfahrens der Schriftauslegung, dient aber im Ganzen der Interpretation der Christus-Homologie, sodass man ihn gattungskritisch eher dem Texttyp des (themenzentrierten) sermo als dem der (direkt schriftzentrierten) homilia zuordnen wird; vgl. näher K. BACKHAUS, Der Neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA 29, Münster 1996, 42–47. 16 Vgl. näher K. BACKHAUS, Hebräerbrief (s. Anm. 12), 192–201. 17 Vgl. O. KUSS, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Seelsorger (1958), in: ders., Auslegung und Verkündigung I, Regensburg 1963, 329–358: 333. HAUS,
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weil es von der hellenistischen – näherhin: mittelplatonischen – Grunderfahrung der absoluten Transzendenz Gottes geprägt wird. Der Mensch erlebt sich und seine Lebenswirklichkeit unüberbrückbar geschieden von der göttlichen Seinssphäre. Diese ontische Kluft zwischen Gott und Mensch führt zur Gottvergessenheit im Alltag und zu einer Lebensweise, etsi Deus non daretur. Hier besinnt sich der Auctor ad Hebraeos auf die vitalisierende Kraft der überlieferten Christus-Homologie (vgl. 2,3f; 3,1; 4,14; 10,23). Sie erscheint ihm – sofern in ihrer (metaphysischen) Tiefe und ihrem (theologischen) Anspruch verstanden – geeignet, die so dringend gebotene axiologische Vermittlung zwischen göttlicher und menschlicher Wirklichkeit zu leisten. Sie eröffnet, anders gesagt, den Zugang zum lebendigen Gott (vgl. bes. 4,14–16; 10,19–23). So will der Hebräerbrief die Christen zu einer Hoffnung ermutigen, die für sie zum „Lebensanker“ werden kann, „der sicher ist und fest und hineinreicht in das Innere des Vorhangs“ – und damit in die Gottesgegenwart (6,19).18 Daraus ergibt sich das soteriologische Grundmotiv des Hebräerbriefs: Christus ist der Mittler zwischen Gott und Mensch.19 Den Mittlerdienst beschreibt der Auctor ad Hebraeos unter dem kulttypologisch inspirierten Leitthema des himmlisch-irdischen Hohepriestertums Jesu im Zentralteil seines Schreibens. Auf diesen lo,goj te,leioj legt er das Schwergewicht seiner Ausführungen (vgl. 5,11–6,3; 8,1f). Der Eingangsteil (1,1–4,13) führt als „propädeutische Theologie“ (unter theozentrischem Aspekt!) zum Christus-Logos hin; der Schlussteil (10,19–13,17) zieht (wiederum unter theozentrischem Aspekt!) die praktischen Konsequenzen: Christologie wird zur angewandten Theologie.20 Der Zentralteil entfaltet seinen soteriologischen Entwurf in drei Stufen.21 Grundlegend behandelt er zuerst die Voraussetzungen des hohepriesterlichen Mittlerdienstes Jesu in 18
Zur Begründung dieser knappen Skizze vgl. näher K. BACKHAUS, Per Christum in Deum. Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments. FS W. Thüsing, hg. v. Th. Söding, NTA 31, Münster 1996, 258–284: 261–265 [in diesem Band S. 49–75]. 19 Das einschlägige Nomen mesi,thj (im absolut-ontischen Sinn) fehlt in Hebr (8,6; 9,15: mesi,thj diaqh,khj; vgl. 7,22); der (axiologische) Mittlerdienst ist aber zentrales Element der Hohepriester-Christologie; vgl. näher K. NISSILÄ, Das Hohepriestermotiv im Hebräerbrief. Eine exegetische Untersuchung, Helsinki 1979, 160–165; J. SCHLOSSER, La médiation du Christ d’après l’Épître aux Hébreux, RevSR 62, 1988, 169–181: 174–181. 20 Zur literarischen Struktur und rhetorischen Disposition des Hebr vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 47–64. 21 Vgl. zum Folgenden K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 181–201; DERS., Christum (s. Anm. 18), 277–280; F. LAUB, Bekenntnis und Auslegung. Die paränetische Funktion der Christologie im Hebräerbrief, BU 15, Regensburg 1980, 167–221; DERS., „Ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste“ (Hebr 9,12) – Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief, BZ 35, 1991, 65–85; U. LUCK, Himmlisches und irdisches Ge-
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dessen irdischer Seinsweise (4,14–5,10; vgl. 2,17f): Den menschlichen Grundbedingungen unterworfen und solidarisch mit den Schwächen der Menschen, vermag Jesus die Brücke von Gott zur Situation des Menschen zu schlagen. In einem zweiten Schritt stellt der Verfasser das hohepriesterliche Amt Jesu in seiner eschatologischen Vollendung vor, und zwar mit Hilfe von dessen himmlischem Prototyp, dem ewigen Priestertum Melchisedeks (vgl. Ps 110,4 [109,4LXX]; Gen 14,17–20), und im typologischen Vergleich mit seinem irdisch-vorläufigen Antityp, dem levitischen Priestertum (7,1–28). Schließlich wird – und darin liegt für den Verfasser das kefa,laion seines Schreibens (8,1) – Jesu hohepriesterlicher Mittlerdienst selbst erläutert: sein Selbstopfer am Kreuz (8,1–10,18). Dabei lässt sich der Verfasser vom biblischen Modell des Sühneopfers am Jom Kippur (Lev 16) leiten, das er freilich in einen ontisch-universalen Rahmen stellt. Der Kreuzestod Jesu (unter Einschluss seiner Erhöhung) wird zum Versöhnungsopfer schlechthin, zu einer allumfassenden Liturgie, die endgültig Himmel und Erde miteinander verbindet. Die hellenistisch-mittelplatonische Grunderfahrung gibt also das existentielle Problem vor: die Scheidung zwischen göttlicher Seinssphäre und menschlicher Wirklichkeit. Das überlieferte und in seiner Tiefe erfasste Christus-Bekenntnis bietet die existentielle Lösung: In der Heilstat des Kreuzes ergreift Gott ein für alle Mal die Initiative und überwindet geschichtlich fassbar die ontische Kluft zwischen Gott und Mensch, sodass sich im Christusereignis „vom Himmel her“ erfüllt, was alle menschlichen Opfer (paradigmatisch vorgeführt am levitischen Kult) „auf Erden“ vergeblich gesucht haben:22 die versöhnte Gemeinschaft mit Gott. So eröffnet das Selbstopfer des menschlichen Hohepriesters den Zugang zu Gott,23 einen Weg durch den „Vorhang“ hindurch, den in der Nachfolge Christi alle Menschen gehen können (6,19f; 9,11–14; 10,19–22). Jesu Heilstod inauguriert somit den neuen Gottesbund und stellt zugleich dessen einmalig vollzogenen, aber in ewiger Seinsart wirksamen Kult dar. Als himmlischer Hohepriester steht der Erhöhte zuverlässig für die Seinen ein (9,15–28) und leitet das „pilgernde Gottesvolk“ als „Anführer und Vollender des Glaubens“ auf seinem Weg in die himmlische Ruhe (12,2).
schehen im Hebräerbrief. Ein Beitrag zum Problem des „historischen Jesus“ im Urchristentum, NT 6, 1963, 192–215. 22 Vgl. E. GRÄSSER, Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, WUNT 35, Tübingen 1985, 114; E. KÄSEMANN, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, FRLANT 55, Göttingen (1939) 41961, 37. 23 Diesen Zugang beschreibt der Hebr bes. mit dem für seine Überzeugungsstrategie zentralen kultmetaphorischen Verbum prose,rcesqai (4,16; 7,25; 10,22; 11,6; 12,18.22); vgl. näher W. THÜSING, „Laßt uns hinzutreten ...“ (Hebr 10,22). Zur Frage nach dem Sinn der Kulttheologie im Hebräerbrief (1965), in: ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Th. Söding, WUNT 82, Tübingen 1995, 184–200.
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3. Der theologische Stellenwert der Präexistenz-Christologie In dieses theologische Gefüge ist das Motiv der Präexistenz24 einzuordnen: 1) Der Auctor ad Hebraeos denkt theologisch „vom Himmel her“25, aber einzig deshalb, um die „Erde“ – genauer: das „auf Erden“ pilgernde Gottesvolk – richtig zu orten und den Mittler bis in die letzte Konsequenz zu verstehen. Denn nur von Gott her versteht der Glaubende in ganzer Tiefe, was Leben und Tod Jesu Christi für ihn und das Gottesvolk bedeuten. Das heißt: Präexistenz-Christologie erweist sich im Hebräerbrief inhaltlich als Funktion der Soteriologie und textpragmatisch als parakletisches Movens. 2) Die Präexistenz Christi ist nicht unmittelbar Gegenstand des soteriologischen Aussagewillens des Hebräerbriefs und insofern auch kein Leitthema des Zentralteils.26 3) Der göttliche Ursprung Jesu – und damit die Präexistenz – ist aber unabdingbare sachliche Prämisse der soteriologischen Gedankenführung und – ebenso wie das Humanum Jesu – Bedingung der Möglichkeit der dem Schreiben zentralen Mittler-Christologie. Denn um seinen ontischen Mittler-Dienst vollbringen zu können, muss Jesus als „Sohn“ ebenso ganz auf der Seite Gottes stehen wie als „menschlicher Hohepriester“ ganz auf der Seite der Menschen. Damit erweist sich das „Geboren vor aller Zeit“ – angesichts des mittelplatonischen Denkhorizonts des Verfassers mag man passender von „Geboren über aller Zeit“ sprechen – als vertikale Achse im christologischen Koordinatensystem des Hebräerbriefs. 4) Zu diesem Koordinatensystem gehört für eine sachgerechte Erschließung der Mittler-Christologie dann aber mit gleicher Wertigkeit die „Abszisse“ des Humanum Jesu. So erklärt sich der paradoxe Befund, dass der Hebräerbrief einerseits wie keine andere neutestamentliche Schrift die Menschlichkeit Jesu hervorhebt, andererseits aber ebenso deutlich und 24 Zur Präexistenz-Christologie in Hebr vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, EHS.T 362, Frankfurt a.M. 1990, 267–316; R.G. HAMERTON-KELLY, Pre-Existence, Wisdom, and the Son of Man. A Study of the Idea of Pre-Existence in the New Testament, MSSNTS 21, Cambridge 1973, 243–258; B. LINDARS, The Theology of the Letter to the Hebrews, Cambridge 1991, 29–35; W.R.G. LOADER, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes, WMANT 53, Neukirchen-Vluyn 1981, 62–80; P. PILHOFER, Krei,ttonoj diaqh,khj e;gguoj. Die Bedeutung der Präexistenzchristologie für die Theologie des Hebräerbriefs, ThLZ 121, 1996, 319–328; M. RISSI, Die Theologie des Hebräerbriefs, WUNT 41, Tübingen 1987, 45–54. 25 Vgl. H. HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments III: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 40f. 26 Von den rezeptionsleitenden Kernsätzen des Hebr (2,17f; 4,14–16; 8,1f; 10,19–23) berührt nur der erste das Motiv der Präexistenz (2,17: o`moiwqh/nai); im soteriologischen Zentralpassus 9,11–22 klingt es im Auftakt an (9,11: Cristo.j de. parageno,menoj ...).
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wiederum wie keine andere neutestamentliche Schrift dessen göttliche Dignität, und zwar unter selbstverständlichem Einschluss des göttlichen Ursprungs.
4. Die Durchführung der Präexistenz-Christologie Der sachlichen Bedeutung der Präexistenz-Christologie entspricht ihre kompositorische Funktion. Sie wird im Rahmen der christologischen Hinführung zum Thema des Hebräerbriefs expliziert, also in jenem „propädeutischen“ Teil,27 der das (christologische) Fundament für die Argumentation in der (soteriologischen) Hauptsache legt. Aufgabe dieses Eingangsteils ist primär die Vorstellung der Person, deren Heilshandeln der Hebräerbrief zu beschreiben sucht: Jesus als „Sohn“ und „Hohepriester“. Dabei markiert zunächst das exordium (1,1–4)28 die für die gesamte Lektüre wesentlichen Linien, indem es den Lesern den Redegegenstand, das endzeitliche Versöhnungswerk, auf das Wesentliche verdichtet, vorstellt und dabei den Träger dieses Versöhnungswerks in einem nach „Raum“, „Zeit“ und „Würde“ universalen Bezugsrahmen präsentiert. Die direkt anschließende Testimonienreihe (1,5–14) zieht diese Linien aus und erschließt so das göttliche Persongeheimnis Jesu in geradezu ostentativer Deutlichkeit, indem es auf JHWH bezogene Prädikationen der Psalmliteratur auf den „Sohn“ überträgt.29
27 Dieser Teil scheint uns der narratio (dih,ghsij) der klassischen deliberativen Rhetorik vergleichbar; vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 59; H.-F. WEISS, Hebr, 50f. 28 Zu 1,1–4 als exordium (prooi,mion) vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 58f. Vermutlich integriert der Verfasser in 1,2b.3 geprägtes hymnisches Überlieferungsgut. So schützt er seinen Entwurf vor dem Eindruck privat-beliebiger Spekulierfreudigkeit und holt seine Adressaten gewissermaßen an ihrem eigenen theologischen Standort ab; vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 49; H.-F. WEISS, Hebr, 135f. Zur traditionsgeschichtlichen Diskussion J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 269–277; W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 64–71. 29 Vgl. K. BACKHAUS, Christum (s. Anm. 18), 270f; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 267–304; O. HOFIUS, Biblische Theologie im Lichte des Hebräerbriefes, in: New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference, 16– 19 September 1992, hg. v. S. Pedersen, NT.S 76, Leiden 1994, 108–125: 109f.113–117; H. HÜBNER, Theologie (s. Anm. 25), 19–30; W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 62–75; P. PILHOFER, e;gguoj (s. Anm. 24), 320f; G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.W. Horn, Berlin 1996, 638–642; J.W. THOMPSON, The Structure and Purpose of the Catena in Hebrews 1:5–13 (1976), in: ders., The Beginnings of Christian Philosophy: The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13, Washington 1982, 128–140.
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So ergibt sich die folgende solenne christologische Prädikatenreihung: Der „Sohn“ (im absolut-ontischen Sinn)30 (1,2.5.8) ist unter eschatologischem Aspekt „Erbe“ des Alls (1,2; vgl. 1,11–13), unter protologischem Aspekt Schöpfungsmittler (1,2), ja Schöpfer (1,10). Als „Widerschein der Herrlichkeit Gottes“ und „Ausdruck seiner Wirklichkeit“ (w'n avpau,gasma th/j do,xhj kai. carakth.r th/j u`posta,sewj auvtou/)31 erhält er das All durch sein machtvolles Wort und waltet als Erhöhter „zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (1,3; vgl. 1,13). Als „Sohn“ über alle Engel erhoben und von ihnen angebetet (1,4–7), ist er es, auf den das Gotteswort zielt: „Dein Thron, o Gott, steht für immer und ewig“ (1,8; vgl. 1,9b).32 Nicht nur die reale und personale Präexistenz des „Sohnes“ vor aller Schöpfung, sein Ursprung in Gott, findet hier ihren Ausdruck, sondern seine Teilhabe am ewigen Wesen Gottes, sein präexistentes Gottsein selbst.33 Präexistenz wie Postexistenz gegenüber der geschaffenen Welt, die Himmelsmächte eingeschlossen, sind implizite Wesenselemente der so beschriebenen (genauer: gepriesenen) göttlichen Dignität. Sie werden zudem – wiederum mit Psalmworten (Ps 101,26–28LXX), die sich ursprünglich auf das Wirken JHWHs beziehen – ausdrücklich hervorgehoben, in Bezug auf die Existenz katV avrca,j in 1,10, in Bezug auf die Postexistenz in 1,11f.34 Die zitierten Prädikationen sind freilich in ihrem theozentrischen, soteriologischen und eschatologischen Zusammenhang zu lesen. In der poeti30 Zum Hoheitstitel o` ui`o.j $tou/ qeou/% in Hebr vgl. H. BRAUN, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen 1984, 23f, sowie allgemein W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 7–141. 31 Do,xa bezeichnet in biblischem Sprachkolorit, was in u`po,stasij mit der Begrifflichkeit hellenistischer Metaphysik anklingt: Gottes Wirklichkeit. Ebenfalls im philosophischen Sprachspiel beheimatet, weisen die Nomina avpau,gasma und carakth,r auf die authentische Abbildung dieser Wirklichkeit im „Sohn“ (vgl. 2Kor 4,4; Kol 1,15). Beide Genitivwendungen umschreiben also in synonymem Parallelismus den „Sohn“ als Selbstmitteilung Gottes. Die Terminologie verweist auf die Sophia- und Logos-Reflexion des hellenistischen Judentums (vgl. Weish 7,25f); vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 60–62; H.-F. WEISS, Hebr, 144–146; ferner J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 281– 288. 32 Zur Absicherung dieser Übersetzung vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 84f. 33 Vgl. etwa O. HOFIUS, Theologie (s. Anm. 29), 110. 34 Die hier vorgelegte Deutung des Briefeingangs entspricht im Wesentlichen der Mehrheitsexegese. Anders bes. britische Ausleger: J.D.G. DUNN, Christology in the Making. A New Testament Inquiry into the Origins of the Doctrine of the Incarnation, London 1980, 51–56.208f.237.257f, nimmt in deutlicher Überschätzung des heuristischen Wertes der religionsgeschichtlichen Parallelen lediglich eine ideale Präexistenz an. L.D. HURST, The Christology of Hebrews 1 and 2, in: The Glory of Christ in the New Testament. GS G.B. Caird, hg. v. ders./N.T. Wright, Oxford 1987, 151–164, bezieht die Testimonienreihe im Licht von 2,6–8 auf den königlichen Messias als corporate personality Israels. G.B. CAIRD, Son by Appointment, in: The New Testament Age. FS B. Reicke I, hg. v. W.C. Weinrich, Macon, Ga. 1984, 73–81, hält „preexistence as an ontological concept“ (81) für unvereinbar mit der dynamisch-funktionalen Christologie des Hebr.
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schen Gebetssprache der Psalmen zeichnen sie den ewigen – daher inmitten aller Flüchtigkeit der Schattenwelt unwandelbaren – Horizont des Erlösungswerks,35 dessen Urgrund und Ziel beim „sprechenden“ Gott liegt. Die Schöpfungsaussagen36 tragen also nicht das Gewicht: Jener ganz von Gott her definierte „Sohn“ (1,3a), der aus der Gotteswirklichkeit heraus „immer schon“ die Welt trägt (1,3b), ist es, der die Heilstat am Kreuz vollbringt (1,3c) und jetzt als Erhöhter wirkt (1,3d). Von der Erlösung her wird die Schöpfung begriffen, und so bilden Heilsordnung und Schöpfungsordnung eine perspektivische Einheit. Ausgangspunkt ist dabei die endzeitliche Erhöhung Jesu. 1,2 ordnet durchaus in theologischer Absicht die Eschatologie der Protologie vor. Das adverbiale kai, im Sinne von „dementsprechend auch“ lenkt den Blick von der Endzeit auf die Schöpfungsmittlerschaft zurück (diV ou- kai. evpoi,hsen tou.j aivw/naj).37 Dem Eingangsteil geht es mithin weder um eine schöpfungstheologische Grundlegung noch um die Beschreibung christologischer Vorzeit noch auch direkt um das Thema der Inkarnation, sondern einzig um die Frage: Welche Eigenart befähigt Christus, der eschatologische Heilsbringer zu sein? Die Präexistenz-Aussagen gelten insofern der Vorstellung des „Sohnes“ in seiner zeit- und schöpfungstranszendierenden Herrscherstellung im Gegenüber zu allem Wandel der Welt.38 Stand in Hebr 1 deutlich die Hoheitschristologie im Blickpunkt, so folgt in Hebr 2 deren kenotische Erdung. Die Brücke zwischen der himmlischen Nähe des „Sohnes“ zu Gott und seiner Nähe zu den „irdischen Brüdern“ (vgl. 2,11f) schlägt der Abschnitt 2,14–18, der mit dem Thema der Menschwerdung des Präexistenten (vgl. 2,7.9) die Eingangschristologie sachlich weiterführt. Der ewige Sohn, „bewogen durch die himmlische Bruderschaft“39, wird den Seinen in jeder Hinsicht gleich, um so sein Heilswerk vollbringen zu können. Von der Inkarnation ist freilich in knappen und deutungsoffenen Hauptsätzen die Rede, denen erschöpfende sote-
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Darauf weist in 1,3 schon die Grammatik: Die Partizipien des Präsens (w;n( fe,rwn) beschreiben die Dignität des Sohnes (1,3a.b), das Partizip des Aorists (poihsa,menoj) seine Heilstat (1,3c), das finite Verbum (evka,qisen) die Erhöhung. 36 1,10 (vgl. 2,10!) wird eher im Zitatkontext mitgetragen; vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 167f. 37 Vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 57; H.-F. WEISS, Hebr, 142. 38 Treffend herausgearbeitet bei K.-J. KUSCHEL, Zeit (s. Anm. 5), 458–460; vgl. auch W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 251. 39 F.J. SCHIERSE, Verheißung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des Hebräerbriefes, München 1955, 105; vgl. näher E. GRÄSSER, Hebr I, 135f.143f: Auch die sugge,neia zwischen Gottessohn und Menschen „präexistiert“, sodass die eigentliche Heimat der Menschen die himmlische Seinssphäre ist!
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riologische Finalsätze zugeordnet sind.40 Auf diese Heilsfolgen für die angefochtene Gemeinde zielt der Aussagewille des Verfassers. Der Modus der Menschwerdung wird ebensowenig erklärt wie das Verhältnis zwischen Gottes- und Menschengestalt Christi.41 Die Präexistenz ist Horizont des Heils, nicht das Heil selbst! Auf diesem christologischen Grund baut der Verfasser im weiteren Schreiben seine Darlegungen auf. Ohne dass Bedarf besteht, Präexistenz und Inkarnation ausdrücklich zu erörtern, sind sie doch denkerisch wie existentiell bleibend vorausgesetzt. Gelegentlich werden sie auch thematisiert, jedoch eher beiläufig und nur dort, wo es gilt, den soteriologischen Gedanken voranzutreiben. In der exegetischen Diskussion wird – wohl aufgrund des traditionsgeschichtlichen Interesses – der heuristische Rekurs des Verfassers auf das Priestertum Melchisedeks (7,1–10, bes. 7,3) nicht selten überschätzt. Von einer „Schlüsselrolle“ für die Präexistenz-Christologie des Hebräerbriefs42 kann m.E. keine Rede sein. So ist zu beachten, dass das Priestertum Melchisedeks aufgrund seines „Ewigkeitscharakters“ als biblisches Abbild für das welt- und zeitüberlegene Hohepriestertum Jesu dient (7,3.15–24). Dabei handelt es sich allenfalls um eine „ideale Präexistenz“ des ewigen Priestertums, keineswegs aber um eine personale Präexistenz des Melchisedek, der für den Hebräerbrief auch keinerlei spekulativen Eigenwert besitzt.43 Wenn das immerwährende Priestertum Christi im Folgenden stark betont wird (7,16.25.28), so als bleibende Wirkung der Heilstat am Kreuz, also in parakletischem Interesse mit Bezug auf Gegenwart und Zukunft der Gemeinde, nicht jedoch im Rückblick auf die Vorzeit. Im rhetorisch akzentuierten Auftakt (9,11) des soteriologischen Zentralabschnitts 9,11–14 (Cristo.j de. parageno,menoj ...) dürfte das Partizip auf das geschichtliche Auftreten Christi zu beziehen sein und damit dessen ewige Seinsweise voraussetzen.44 Ähnlich
40 In 2,14f wird die Inkarnationsaussage (Jesus nimmt Anteil an Fleisch und Blut) final durch eine soteriologische Doppelaussage ergänzt (Vernichtung des Todesherrschers, Befreiung aus Angstsklaverei), in 2,17 wird die Menschwerdung (Jesus wird in allem den Brüdern gleich) final auf den hohepriesterlichen Dienst an den Menschen und vor Gott und durch eivj finale auf den Sühnetod ausgerichtet. Zur Einzelinterpretation E. GRÄSSER, Hebr I, 143–156; K. NISSILÄ, Hohepriestermotiv (s. Anm. 19), 20–42; H.-F. WEISS, Hebr, 216–228. 41 Vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 315. 42 So P. PILHOFER, e;gguoj (s. Anm. 24), 324, und ähnlich J.D.G. DUNN, Christology (s. Anm. 34), 55. 43 Gegen R.G. HAMERTON-KELLY, Pre-Existence (s. Anm. 24), 253–256; P. PILHOFER, e;gguoj (s. Anm. 24), 324–326. Vgl. näher K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 94f (Lit.); zur Auslegung von Hebr 7,1–10 E. GRÄSSER, Hebr II, 9–34; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 313–315; H.-F. WEISS, Hebr, 371–387. 44 Vgl. E. GRÄSSER, Hebr II, 143; anders H.-F. WEISS, Hebr, 464. Insofern es um das geschichtliche „Auftreten“ Christi als Hohepriester geht, sind inkarnations- und kreuzestheologische Aussage hier freilich nicht zu trennen: „Die Alternative ‚Menschwerdung‘ oder ‚Erhöhung‘ reißt auseinander, was der Hb zusammenschaut“ (F.J. SCHIERSE, Verheißung [s. Anm. 39], 55). Zum Inkarnationsmotiv im Hebr näher U.B. MÜLLER, Die
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ist 9,26 in finaler Hinordnung auf den Heilstod vom Offenbarwerden Christi (pefane,rwtai) die Rede.45 Klarer setzt die Selbstdeutung Christi „bei seinem Eintritt in die Welt“ (eivserco,menoj eivj to.n ko,smon) (10,5) die Präexistenz voraus (vgl. 10,5–10). Freilich wird auch hier der Leser nicht zum Zeugen eines „innertrinitarischen Gespräches“; vielmehr beleuchtet der Abschnitt – erneut mit Aussagen der Psalmliteratur (Ps 39,7– 9LXX) – die Menschwerdung im Ganzen, und zwar insofern sie von Anfang an auf Christi Kreuzesgehorsam und damit auf die Heiligung der Seinen ausgerichtet ist.46 13,8 (vgl. 1,12) schließlich betont parakletisch die Seligkeit Jesu Christi über allem Wandel der Zeit, ohne dass die Präexistenz hier anders als assoziativ berührt wird.47
5. Grundzüge der Präexistenz-Christologie 5.1 Tradition Mit dem Verweis auf die ewige Dignität des „Sohnes“ knüpft der Auctor ad Hebraeos an den Kerngehalt der überlieferten Christus-Homologie (2,1; 3,1; 4,14; 10,23) seiner Gemeinde an.48 Er setzt das christologische Bekenntnis zum „Sohn“ offenkundig als prinzipiell unangefochten voraus, vertieft es aber soteriologisch und aktualisiert es parakletisch unter Rekurs auf die Hohepriester-Motivik.49 Der Hebräerbrief muss seine Präexistenz-Christologie daher nicht begründen. Längst gehört sie zum Bekenntnisstandard einer urchristlich-hellenistischen Christologie,50 wie sie sich – erstaunlich rasch nach Jesu Tod – Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus, Stuttgart 1990, SBS 140, 33–39. 45 Vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 316; anders H.-F. WEISS, Hebr, 491. 46 Vgl. E. GRÄSSER, Hebr II, 214f; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 316; H.-F. WEISS, Hebr, 508f. 47 Vgl. H.-F. WEISS, Hebr, 714–717. Verfehlt ist die These von A.T. HANSON, Christ in the Old Testament according to Hebrews, StEv 2 = TU 87, 1964, 393–407, Hebr schreibe Christus eine Präexistenz in der Geschichte Israels zu; vgl. zur Auseinandersetzung J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 307–310; W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 74. 48 Zur Eigenart der von Hebr vorausgesetzten o`mologi,a vgl. näher F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21), 9–50. 49 Vgl. dazu die Studien von K. NISSILÄ, Hohepriestermotiv (s. Anm. 19) (1979), F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21) (1980), W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24) (1981). 50 J. BECKER, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, SBS 155, Stuttgart 1993, 65–71, unterscheidet folgende Formen urchristlicher Präexistenzaussagen: a) indirekte, nicht ausgeführte Hintergrundangaben bei den soteriologischen Sendungsformeln, b) direkte, sachlich gefüllte Präexistenzaussagen in der frühen Hymnik mit dem Wegschema von Erniedrigung und Erhöhung, doch ohne Schöpfungsmittlerschaft, c) Akklamationen und Hymnen mit dem christologischen Konzept von protologischer und endzeitlich-soteriologischer Mittlerschaft Christi. Hilfreich noch immer die Illustration der neutesta-
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entwickelt, und zwar als „eine Art Rück-Spiegelung der Erhöhungschristologie“51, als die „sichernde Projektion“52 der Vollendung hin zum Uranfang des Seins. Zwei Traditionsstränge jüdisch-hellenistischer Logos- und Sophia-Theologie werden hier gewissermaßen christologisch geerdet und integriert: zum einen das kosmologische Basismotiv der Schöpfungsmittlerschaft der Sophia („spekulative Sophialogie“; vgl. 1Kor 8,6; Kol 1,15–20), zum anderen das mythisch-geschichtliche Basismotiv der Sendung der Sophia durch Gott („narrative Sophialogie“; vgl. Phil 2,6–11).53 Die Präexistenz-Christologie des Hebräerbriefs wird durch beide Basismotive geprägt, zunächst (1,1–14) eher durch das spekulative, dann (2,14–18) durch das narrative Modell. So ergibt sich die christologische Dynamik von „Präexistenz – Katabase – Anabase“. Auf dem dritten Element (mit seinen heilschaffenden Folgen) liegt das sachliche Schwergewicht. 5.2 Sprache Zielen also beide Gedankenmodelle auf die Erhöhung, so stellt diese doch bei dem narrativen Basismotiv einen wesentlichen Fortschritt dar; bei dem spekulativen Basismotiv erscheint sie dagegen als Rückkehr in das Ausgangsstadium.54 Der Hebräerbrief ist hier in keiner Weise um logischen Ausgleich bemüht und hat die Exegese so in manche Aporie geführt.55 mentlichen Vorstellungsmodelle bei R.H. FULLER, The Foundations of New Testament Christology, London 1965, 243–247. 51 N. WALTER, Geschichte und Mythos in der urchristlichen Präexistenzchristologie, in: Mythos und Rationalität, hg. v. H.H. Schmid, Gütersloh 1988, 224–234: 224; vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 421–423. Zur Diskussion H. MERKLEIN, Zur Entstehung der urchristlichen Aussage vom präexistenten Sohn Gottes (1979), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 247–276. 52 W. THÜSING, Neutestamentliche Zugangswege zu einer transzendental-dialogischen Christologie, in: K. Rahner/ders., Christologie – systematisch und exegetisch. Arbeitsgrundlagen für eine interdisziplinäre Vorlesung, QD 55, Freiburg i.Br. 1972, 81– 315: 254; vgl. ebd., 253–258. 53 Vgl. N. WALTER, Geschichte (s. Anm. 51), 226–232; ferner H. VON LIPS, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, WMANT 64, Neukirchen-Vluyn 1990, 290–317. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund H. HEGERMANN, Die Vorstellung vom Schöpfungsmittler im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, TU 82, Berlin 1961; B.L. MACK, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, StUNT 10, Göttingen 1973; G. SCHIMANOWSKI, Weisheit und Messias. Die jüdischen Voraussetzungen der urchristlichen Präexistenzchristologie, WUNT II/17, Tübingen 1985. 54 Vgl. N. WALTER, Geschichte (s. Anm. 51), 232. 55 Wann wird der „Sohn“ Hohepriester? Gewinnt er durch seinen Erdenweg und seine Erhöhung einen himmlischen Rang, den er zuvor nicht besessen hat? Wie kann er trotz seiner Gottesgestalt „vollendet“ werden? Vgl. z.B. H. BRAUN, Hebr, 32f; J.D.G. DUNN, Christology (s. Anm. 34), 52–54; einen Forschungsüberblick bietet H. FELD, Hebr, 66– 70.
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Spannungen dieser Art sind Reflex des notwendig paradoxalen Charakters jeder theologischen Rede über den irdischen Gottessohn: „Es gehört zur Aporie aller christologischen Aussage, daß sie in den Formen des Werdens beschreiben muß, was je schon ist.“56 So belegen die Spannungen, wie gering das Interesse des Verfassers an einer „göttlichen Chronologie“ ist: „die Begriffssprache ist noch nicht differenziert genug, um bestimmte Sachverhalte mit schulmäßiger Exaktheit im Sinne und in den Zusammenhängen einer mehr und mehr systematisierenden und eigenen Gesetzen folgenden kirchlichen Theologie zu fassen“57. Im Gegenteil: Nicht in Begriffen, sondern in Bildern nähert sich der Hebräerbrief dem je größeren Gott, mit denen der Leser „sein Leben deuten und sich selber als einen verstehen kann, der in der Gemeinde bleibend in das große Himmel und Erde umfassende Heilsgeschehen einbezogen ist“58. Selbst die „technischen“ Termini hellenistischer Weisheitsreflexion (1,3) sind – durchaus wohl aus theologischer Reverenz heraus – als offene Umschreibung gewählt und mögen „hermeneutische Methode“ illustrieren.59 Überdies fällt auf, dass der Hebräerbrief das „narrative Modell“ skizziert, aber (auf das vorweltliche Sein bezogen) keineswegs erzählerisch ausführt; ebensowenig wird das „spekulative Modell“ spekulativ entfaltet.60 Nicht spekulativ und nicht narrativ ist von der Präexistenz Christi die Rede, sondern vornehmlich in der biblisch inspirierten poetischen Gebetssprache, die jedenfalls geeigneter ist als die in chronologischem Nacheinander denkende Schultradition, die zeittranszendierende Dignität des „Sohnes“ und das „Ineinanderfallen der christologischen Paradoxa“ zur Sprache zu bringen.61 Denn der Gebetssprache geht es – im Ausgang von der Gewissheit der Erhöhung des Kyrios – allein um dessen tragende und tröstende Gegenwart im Hier und Jetzt, und darin
56
F.J. SCHIERSE, Verheißung (s. Anm. 39), 55; vgl. auch E. GRÄSSER, Hebr II, 143f; R. GYLLENBERG, Die Christologie des Hebräerbriefes, ZSTh 11, 1934, 662–690: 689; H. HÜBNER, Theologie (s. Anm. 25), 36. 57 O. KUSS, Der Brief an die Hebräer, RNT 8/1, Regensburg (1953) 21966, 31; vgl. F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21), 21. 58 C.-P. MÄRZ, „Außenseiter“ (s. Anm. 10), 179. 59 Vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 61; J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 294. 60 Die Herkunft aus Gott, das Verhältnis zwischen „Sohn“ und Gott, das Wesen des Präexistenten, sein vorweltliches Handeln, seine Menschwerdung usw. werden nicht im Einzelnen beschrieben; vgl. J. HABERMANN, Präexistenzaussagen (s. Anm. 24), 294.416. 61 Das gilt für die neutestamentliche Literatur überhaupt: Von der Präexistenz ist im Modus der Doxologie und der Homologie die Rede. Aus solchen (subjektiven) Bekenntnissen kann m.E. durchaus die (objektive) „Lehraussage“ werden (anders N. WALTER, Geschichte [s. Anm. 51], 234), sofern sich diese Lehraussage stets ihrer Wurzel und ihrer Grenzen bewusst bleibt!
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hat sie ihre eigene Logik.62 Gewiss ist für den Hebräerbrief die göttliche „Lichtwelt“ Heimat und Ziel des pilgernden Gottesvolkes, aber er weiß auch, was es heißt, unter den Bedingungen der Wanderschaft durch die „Schattenwelt“ zu glauben (vgl. 11,1–12,3, bes. 11,1).63 Nur behutsam und im Modus der Hoffnung darf der wandernde Christ von Gottes Lichtwelt sprechen, dessen „Widerschein“ er in Christus sieht (1,3). 5.3 Parakletische Wirkabsicht Der Hebräerbrief spricht eine mystagogische Sprache, weil er die Gegenwart seiner Adressaten von dieser „Lichtwelt“ her berühren und verändern will. Der schon in Hebr 1 wahrgenommene Primat der Eschatologie vor der Protologie wurzelt daher in dem eminent praktischen Anliegen des sermo: Nicht die Vorzeit und nicht die Zeit der Erhöhung, sondern die Bedeutung Christi im Hier und Jetzt der Gemeinde steht auf dem Spiel. So gesehen ist das Bekenntnis zur Präexistenz Christi das zu Ende (genauer: zum Uranfang) gedachte Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Herrn, dem die Gegenwart anvertraut ist und der die Zukunft und das Heil der Glaubenden existentiell verbürgt. „Vom Ende der Zeit her darf deshalb vertrauend-glaubend-hoffend die ganze Zeit als ‚in Christus‘ geprägt verstanden werden, von der Neuschöpfung her ist die ganze Schöpfung – so darf man glauben, vertrauen und hoffen – in Christus aufgehoben und erhalten.“64 5.4 Theologischer Rahmen Dieses Heil, im Kreuz gestiftet, ist die Mitte des Hebräerbriefs: Der Weg zu Gott steht offen. Der Hebräerbrief ist insofern ein soteriologisches und gerade so auch theozentrisches Schreiben.65 Jede Aussage des Hebräerbriefs über den „Sohn“ ist daher als Aussage über Gott zu lesen, der sich „im Sohn“ ausspricht.66 Vom exordium an wird Gott christologisch definiert (genauer: definiert Gott sich christologisch!), und zwar so, dass von Gott gar nicht anders gesprochen werden kann als dadurch, dass man von 62
W.R.G. LOADER, Sohn (s. Anm. 24), 251: „Die Erhöhungsaussagen und Präexistenzaussagen stammen aus dem Lobpreis der Gemeinde. Sie beziehen sich auf den Herrn der Gemeinde. In diesem Gegenwartsbezug besteht die Logik ihrer Einheit.“ 63 Vgl. K. NIEDERWIMMER, Vom Glauben der Pilger. Erwägungen zu Hebr 11,8–10 und 13–16, in: Zur Aktualität des Alten Testamtents. FS G. Sauer, hg. v. S. Kreuzer/K. Lüthi, Frankfurt a.M. 1992, 121–131; TH. SÖDING, Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebräerbriefes, ZNW 82, 1991, 214–241. 64 K.-J. KUSCHEL, Zeit (s. Anm. 5), 468. 65 Zur theozentrischen Funktion der Christologie in Hebr vgl. K. BACKHAUS, Christum (s. Anm. 18). 66 Zum Nexus von Wort-Gottes-Theologie und Christologie vgl. K. BACKHAUS, Christum (s. Anm. 18), 274–277.
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seiner endgültigen – realen und personalen – Selbstmitteilung in Jesus Christus spricht (1,1f!). Präexistenz, so verstanden, bedeutet also: „daß uns im ‚Sohn‘ Jesus der ‚Vater‘ ganz begegnet (so unmittelbar, wie das angesichts der Transzendenz Gottes überhaupt möglich ist), und daß das von ihm gebrachte Heil nicht in einem Gegensatz zur Schöpfung steht, sondern im Einklang mit dem, was Welt und Schöpfung nach Gottes gutem Willen eigentlich sein sollen“67. Hieraus ergibt sich die unmittelbare Lebensrelevanz solcher Präexistenz-Christologie: „Daß Christus der Sohn ist, besagt, daß die Gläubigen ihren Rückhalt innerhalb der himmlischen Majestät selber haben ... Daher ist der ‚Sohn‘ der stärkste Ausdruck für die Gewißheit, daß das vom Christentum dargebotene Heil eine Realität ist, und mehr noch, die Realität“68. So gesehen dürfte jenes Bild, das Johannes Chrysostomus mit Blick auf 1,3 vorschlägt, die Präexistenz-Christologie des Hebräerbriefs sachgerecht verdichten: „Licht vom Licht“69.
6. Präexistenz und Menschheit Jesu Kann das göttliche Persongeheimnis Jesu seine „Menschengestalt“ absorbieren, die Präexistenz des ewigen Sohnes das konkret menschliche Dasein Jesu entwerten? Diese Sorge70 erscheint nicht unbegründet, zumal bereits die altkirchliche Glaubensgeschichte weitgehend das „alexandrinische“ Christus-Bild auf Kosten seines „antiochenischen“ Gegenstücks akzentuiert hat. Doch sahen wir, dass im Hebräerbrief neben der Ordinate des Divinum die Abszisse des Humanum das christologische Koordinatensystem bestimmt. Nicht deshalb also unterliegt der „Sohn“ in der Sicht des Verfassers der condition humaine, weil die geschichtliche Tatsache seines Auftretens eine solche Konzession nun einmal unumgänglich macht. Vielmehr legt der Hebräerbrief auf den kenotischen Grundzug der Christologie einen ebenso bewussten Schwerpunkt wie auf die hoheitlichen Prädikate.71 Der 67
N. WALTER, Geschichte (s. Anm. 51), 234. R. GYLLENBERG, Christologie (s. Anm. 56), 679; vgl. F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21), 144–150. 69 fw/j evk fwto,j (hom. in Hebr. 2,2). Vgl. auch E. GRÄSSER, Hebr I, 60f; H.-F. WEISS, Hebr, 146 Anm. 45; zur Auslegung von 1,3 durch Johannes Chrysostomus R.A. GREER, Captain (s. Anm. 13), 283f. 70 Vgl. etwa N. WALTER, Geschichte (s. Anm. 51), 234. 71 Daraus folgt, dass das irdische Dasein Jesu den Hebr nicht unter historisch-biographischem Aspekt, sondern – ebenso wie die Präexistenz des „Sohnes“ – als soteriologisches Motiv interessiert. – Zum „irdischen Jesus“ in Hebr vgl. M. BACHMANN, Hohepriesterliches Leiden. Beobachtungen zu Hebr 5,1–10, ZNW 78, 1987, 244–266; E. GRÄSSER, Der historische Jesus im Hebräerbrief (1965), in: ders., Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, hg. v. M. Evang/O. Merk, BZNW 65, 68
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häufig geäußerte Einwand, an Jesu Menschsein hafte zwischen Präexistenz und Erhöhung etwas Episodenhaftes, erscheint dabei nicht stichhaltig. Denn in der Menschwerdung stellt sich der ewige „Sohn“ in die „Solidarität mit der angefochtenen Gemeinde“72, und zwar so, dass in seiner Erhöhung das Humanum ewigen Wert gewinnt (vgl. z.B. 2,17f!).73 So widmet sich die weitere Eingangschristologie nicht mehr dem göttlichen Persongeheimnis, sondern – wiederum fast provozierend deutlich – der Niedrigkeitsgestalt des menschlichen Hohepriesters. Der Herr über die Engel ist unter die Engel erniedrigt (2,7–9), eins mit seinen Brüdern und Teilhaber wie sie an Blut und Fleisch (2,10–18), menschlichem Leiden, menschlichem Sterben, menschlicher Todesfurcht und ihrer Knechtschaft unterworfen (2,9f.14f.18), in allem menschlicher Versuchung (2,18; 4,15; 5,7–10), menschlicher Schwäche ausgesetzt (4,15; 5,2), „barmherzig (den Brüdern gegenüber) und treu vor Gott“ (2,17), „fähig, mitzuleiden mit unseren Schwächen“ (4,15), „fähig, mitzufühlen mit den Unwissenden und Irrenden“ (5,2), Anführer und Wegbereiter der Glaubenden (vgl. 12,1–3): Er hat in den Tagen, da er im Fleisch war, Flehen und Bittrufe dem, der ihn aus dem Tod retten konnte, mit starkem Schrei und Tränen dargebracht. Und er ward auch erhört – seiner Ehrfurcht wegen. Er hat – obschon der Sohn – an dem, was er gelitten, den Gehorsam gelernt (5,7f [F. Stier]).
Dramatischer hat das Urchristentum das Skandalon im Menschsein Christi nirgends zur Geltung gebracht.74 Für den soteriologischen Entwurf ist gerade solche krude Menschlichkeit Jesu von entscheidender Bedeutung, da allein sie die „Lebens- und Existenznähe der überlieferten Christuslehre“75 sichert (vgl. 5,9f). Berlin 1992, 100–128; F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21), 104–143; DERS., „Schaut auf Jesus“ (Hebr 3,1). Die Bedeutung des irdischen Jesus für den Glauben nach dem Hebräerbrief, in: Vom Urchristentum zu Jesus. FS J. Gnilka, hg. v. H. Frankemölle/K. Kertelge, Freiburg i.Br. 1989, 417–432; J. ROLOFF, Der mitleidende Hohepriester. Zur Frage nach der Bedeutung des irdischen Jesus für die Christologie des Hebräerbriefes, in: Jesus Christus in Historie und Theologie. FS H. Conzelmann, hg. v. G. Strecker, Tübingen 1975, 143–166; N. WALTER, Christologie und irdischer Jesus im Hebräerbrief, in: Das lebendige Wort. Beiträge zur kirchlichen Verkündigung. FS G. Voigt, hg. v. H. Seidel/K.H. Bieritz, Berlin 1982, 64–82; H.-F. WEISS, Hebr, 310–327. 72 Vgl. ausführlich F. LAUB, Bekenntnis (s. Anm. 21), 51–165. 73 Vgl. U.B. MÜLLER, Menschwerdung (s. Anm. 44), 33–36. 74 Die Großevangelien etwa pflegen allzu krasse „Menschlichkeiten“ Jesu, wie sie ihnen die Markus-Vorgabe (ohne christologische Absicht) überliefert, etwas düpiert zu korrigieren. In den großen theologischen Entwürfen paulinischer oder johanneischer Prägung wird man solche „Erdung“ vergeblich suchen: Der Christus kata. sa,rka ist dem Paulus theologisch ohne Belang (2Kor 5,16f); im Vierten Evangelium trägt Jesus durchgehend himmlischen Glanz. Noch die Christologie der Väterzeit tut sich schwer mit solcher Konkretion des o`moou,sioj h`mi/n) 75 H.-F. WEISS, Hebr, 786.
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Im Ganzen gesehen entwirft der Hebräerbrief also – hierin nun in der Tat ein Vorläufer der großen Christus-Dogmen – eine bipolare Christologie: Ebenso deutlich wie die ewige Gottesgestalt des „Sohnes“ betont er dessen irdische Menschengestalt als „Hohepriester“, der den Glaubenden vorangeht, sie begleitet und ihnen den Weg ebnet. Menschliches und göttliches Geheimnis Christi treten dabei so weit auseinander wie nirgends sonst in neutestamentlicher Christologie. Solche Polarität verdankt sich indes nicht einer Neigung des Verfassers zu extremen Formulierungen, sondern entspricht dem, was er im Blick auf Jesus (vgl. 3,1) wahrnimmt: dass der Abgrund zwischen Gottes Lichtwelt und der menschlichen Wanderschaft in seiner Person ein für alle Mal überbrückt ist. Dies beleuchtet gerade der christologische Kernsatz, der als propositio den christologischen Eingangsteil beschließt, den soteriologischen Zentralteil eröffnet und in variierter Form das ganze Schreiben durchzieht:76 Da wir nun einen Hohenpriester haben, einen gewaltigen, der die Himmel hindurchgeschritten: Jesus, den Sohn Gottes – so laßt uns festhalten am Bekenntnis. Wir haben ja keinen Hohenpriester, der unsere Schwachheiten nicht mitzuleiden vermöchte, sondern einen, der in allem – abseits Sünde – in gleicher Weise versucht worden ist. Schreiten wir also mit Freimut zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen erlangen und Gnade finden – als Hilfe zu günstiger Zeit (4,14–16 [F. Stier]).
7. Geboren vor aller Zeit? – Zum Gespräch mit Karl-Josef Kuschel Der exegetische Befund zu der Präexistenz-Christologie77 des Hebräerbriefs und ihrem theologisch-lebenspraktischen Zusammenhang inspiriert einige Überlegungen zu der wichtigen dogmatischen Studie von Karl-Josef Kuschel (1990). 1) Viele Einsichten Kuschels lassen sich aus der mikroskopischen Wahrnehmung des Hebräerbriefs bestätigen. Kuschels theologischer Ansatz beim Kreuz, seine perspektivische Vorordnung der Eschatologie vor die Protologie, sein steter Blick auf die Existenznähe der Christologie, seine Sensibilität für die mystagogische Kraft der Gebetssprache wie der poetischen Bilder, sein Plädoyer für eine behutsame theologische Begrifflichkeit, seine Reserve gegen ein komplex-spekulatives Bescheidwissen über die „Lichtwelt“ – all dies zeichnet seinen Entwurf – vom Hebräerbrief her betrachtet – als Frucht einer genuin biblischen Dogmatik aus. Und auch 76
Zur rhetorikkritischen Würdigung vgl. K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 59f. Der „nachbiblische Reflexionsbegriff“ der „Präexistenz“ scheint mir trotz des Einwandes von Kuschel (509) weiterhin so hilfreich wie „nachbiblische Reflexion“ überhaupt (s.u.). 77
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darin würde ihm der Auctor ad Hebraeos wohl beipflichten, dass die Präexistenz nicht die Herzmitte biblischen Kerygmas bildet, wohl aber deren (notwendigen!) Horizont. Im Einzelnen gibt Kuschels Textinterpretation (450–463) Anlass zu kritischen Rückmeldungen.78 Zweifellos ist die Empfängergemeinde des Hebräerbriefs existentiell zutiefst verunsichert. Das Schlagwort „charismatisch-mystischer Enthusiasmus“ (452) kennzeichnet ihre Situation durchaus irreführend. Nicht gegen „mystischen Enthusiasmus“ wendet sich der Auctor ad Hebraeos, und nicht „sicherheitskritisch“ sind seine Darlegungen (462), sondern im Gegenteil: mystagogisch, auf Weckung von Begeisterung bedacht, auf die Sicherheit vertrauenden Glaubens – bebai,wsij (vgl. 2,3f; 3,14; 6,16–20) – gerichtet.79 Ein Missverständnis liegt ferner vor, wenn Kuschel ausgerechnet die Naherwartung des Endgerichts und die damit verbundenen Warnungen als Ausgangspunkt seiner Interpretation wählt (452f) und wie „dumpfen Trommelschlag von Kapitel zu Kapitel“ einen „Ton der Besorgnis, der Beschwörung, der Drohung, ja der Angst“ (vgl. 452.462) heraushört. Zwar mobilisiert der Auctor ad Hebraeos in der rhetorischen Kunst seiner Zeit den Leitaffekt des metus (z.B. 6,4–8; 10,26–31), doch steht dem bereits im Mikrokontext zumindest ebenbürtig die pathetische Weckung des Gegenaffekts, der spes, gegenüber (z.B. 6,9f; 10,39!). Vor allem zielen die warnenden Passagen nicht auf das probare und docere, sondern – in rhetorisch dienender Funktion – auf das movere, das Ohren und Herzen seiner Adressaten für den eindeutig heilsbezogenen Redegegenstand öffnen soll.80 Kaum halten lassen dürfte sich schließlich die Hypothese einer in Hebr 1 befehdeten „Engelchristologie“ (459).81
Insgesamt freilich besticht Kuschels wache Teilnahme am exegetischen Gespräch,82 und der Exeget wird hier dankbar das Bemühen um biblischen Bodenkontakt wahrnehmen (582.631). Kuschel bringt die Heilige Schrift als „Seele der Theologie“ (DV 24) zur Geltung und damit auch als UrKunde aller dogmatischen Entwürfe. Je ferner von der konkreten bibli78 Zu bedenken ist dabei freilich, dass sämtliche Hebr-Kommentare, die den derzeitigen Forschungsstand repräsentieren, erst kurz vor oder nach der Publikation der Monographie Kuschels erschienen sind: H.W. ATTRIDGE (Hermeneia, 1989), P. ELLINGWORTH (NIGTC, 1993), E. GRÄSSER (EKK, 1990/1993/1997), H. HEGERMANN (ThHK, 1988), F. LAUB (SKK.NT, 1988), C.-P. MÄRZ (NEB.NT, 1989 [21990]), H.-F. WEISS (KEK, 1991). 79 Zur situativen Ortung und zur Textpragmatik des Hebr vgl. im Einzelnen K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 70–72.264–282. 80 Vgl. K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 214–216; B. LINDARS, Theology (s. Anm. 24), 134f; zur Naherwartung in Hebr vgl. den Diskussionsüberblick bei K. BACKHAUS, Bund (s. Anm. 15), 232–242. 81 Der Vergleich mit den Engeln steht im Rahmen der für Hebr insgesamt kennzeichnenden Komparativik und dient der rhetorischen Demonstration der Unvergleichlichkeit des Erlösers, nicht der polemischen Abwehr einer Engellehre: Der „Sohn“ steht über allen Himmelsmächten und damit ganz in der göttlichen Gegenwart; vgl. E. GRÄSSER, Hebr I, 67f; H.-F. WEISS, Hebr, 158–160. 82 S. 223–511 (bei 691 Textseiten) sind dem exegetischen Befund gewidmet. Kuschel formuliert denn auch programmatisch (226) seine Absage an jede Form von „SteinbruchExegese“ (die freilich in der deutschsprachigen Dogmatik erfreulicherweise seit Jahrzehnten nicht mehr virulent ist).
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schen Theologie, desto abstrakt-lebensfremder wirken in der Tat die spekulativen Konzepte zur Präexistenz. Gerade in diesem Zusammenhang darf man an Luthers Hebräerbrief-Auslegung erinnern, nach der Hebr 5,11 bedeute, „daß wo die Schrift vernachlässigt wird, (aus der Theologie) nichts wird denn spitzfindige Meinungen, verworrene Fragen und flammender Streit, insgesamt ein Anblick von greulicher Wildnis“83. 2) Meine Bedenken gegen Kuschels Studie sind eher hermeneutischer als exegetischer Art. Sie richten sich gegen das in der Studie programmatisch entworfene (bes. 634–636) und durchgeführte Projekt „Dogmatik als konsequente Exegese“, und zwar weil solche (a) als Dogmatik allzu bescheiden und (b) als Exegese allzu inkonsequent ist. a) Ich gestehe, dass mir eine Dogmatik, die sich weithin als „Nacherzählung exegetischer Diskussion“ darbietet, geringen Anspruch zu stellen scheint. Gerade die (aus exegetischer Erfahrung erwachsene!) realistische Einschätzung von Möglichkeiten und Grenzen historischer Textinterpretation hat in der jüngeren Exegese zum Postulat einer konsequenten Unterscheidung von historischer Interpretation und theologischer Applikation84 geführt und nicht zuletzt auch zu der Einsicht, dass „die göttlichen Worte mit den Lesern wachsen“85. Der exegetische Befund kann den dogmatischen Entwurf inspirieren, konkretisieren, korrigieren – ersetzen kann er ihn nicht.86 Der Dogmatiker wird Lessings „garstig breitem Graben“ zwischen notwendiger Vernunftwahrheit und zufälliger Geschichtswahrheit (30–32) nicht dadurch entgehen, dass er sich für den historischen Grabenrand entscheidet:87 „Je respecte et j’interroge sans cesse la science des exégètes, mais je récuse leur magistère.“88 Wir haben den Hebräerbrief als Ermutigung zu konsequenter Theologie zu verstehen gesucht (s.o. 1.). Geprägt vom Paideia-Ideal, lädt eine urchristliche Predigt ihre Hörer ein, zur „Milch“ der Glaubensüberlieferung „feste Speise“ zu sich zu nehmen: christologische Reflexion, schriftgebunden und doch hermeneutisch weit. Dies darf auch heute noch als Herausforderung zu entschiedener Dogmatik verstanden werden. Vermittlungsprobleme, auf die das christologische Motiv der Präexistenz zweifellos stößt, sind im Sinne des 83
WA 57/3, 179; zit. nach E. GRÄSSER, Hebr I, 332. Pars pro toto sei auf K. BERGER, Hermeneutik des Neuen Testaments, Gütersloh 1988, hingewiesen. 85 Das Zitat (diuina eloquia cum legente crescunt) bei Gregor d.Gr., in Ez.1,7,8, zur Sache etwa U.H.J. KÖRTNER, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994. Dass sich so das klassische Problem der Vermittlung von „Schrift und Tradition“ heute auf neue Weise stellt, kann hier nur angedeutet werden. 86 Dies betont grundsätzlich auch Kuschel (226f). 87 Eine Alternative zwischen dem „wirklichen“ und dem „gedachten“ Jesus (66) stellt sich dem Auctor ad Hebraeos jedenfalls nicht: Denn der „wirkliche“ Jesus ist stets nur im Modus der Deutung (und damit des Denkens) fassbar. Die einzige Frage, die sich stellt, ist die, ob solches Denken theologisch sachgemäß ist! 88 Y. CONGAR, Vraie et fausse réforme dans l’Église, Paris 1950, 498f. 84
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Auctor ad Hebraeos Provokation zur Theologie. Die Präexistenz-Christologie des Hebräerbriefs ist nicht parakletisch statt dogmatisch, sie ist nach dem Anspruch des Verfassers insofern parakletisch, als sie dogmatisch ist. Der lo,goj dusermh,neutoj (5,11) drängt danach, zum lo,goj th/j paraklh,sewj (13,22) zu werden.89
b) Dies freilich ließe sich in der Tat von der „science des exégètes“ lernen: die exakte Wahrnehmung der Quellen. Historisch-kritische Exegese endet – gerade weil sie historisch und kritisch denkt – nicht an der Kanongrenze. Die dogmengeschichtlichen Quellen des christologischen Motivs „geboren vor aller Zeit“ – die Aussagen der Konzilien von Nikaia (325 n.Chr.) und Konstantinopel (381 n.Chr.) – kommen aber in der Studie Kuschels nur als knapper Appendix vor (645–654).90 So wirkt der theologiegeschichtliche Erkenntnisgewinn denkbar karg: Nachgewiesen wird (und dies mit allem historischen Recht), dass das Präexistenz-Dogma des Constantinopolitanum in dieser Form die neutestamentliche Literatur dreihundert Jahre zuvor nicht prägt. Methodisch unabdingbar wäre es aber, zunächst den Aussagewillen und theologischen Horizont des vorausgesetzten Dogmas historisch zu erschließen, um sich von daher – unter konsequenter Berücksichtigung der theologiegeschichtlichen Interdependenzen – zur neutestamentlichen Christologie „zurückzutasten“91. Erinnert sei daran, dass wir den Hebräerbrief gewissermaßen als bezeichnendes Fragment, als einen Knotenpunkt christologischer Entwicklungslinien betrachtet haben, die vom hellenistischen Judentum bis zu den großen christologischen Konzilien führen (s.o. 1.). Das Schreiben repräsentiert den Bekenntnisstandard des urchristlichen Hellenismus „vor-, neben- und nachpaulinischer Provenienz“, dessen theologiegeschichtliche Eigenart sich ja keineswegs darin erschöpft, von Paulus korrigiert worden zu sein! Wenn der He89 Treffend bereits J. MOFFATT: „Nothing is more practical in religion than an idea, a relevant idea powerfully urged. When the writer concentrates for a while upon this cardinal idea of Jesus as avrciereu,j, therefore, it is because nothing can be more vital, he thinks, for his friends than to show them the claims and resources of their faith, disclosing the rich and real nature of God’s revelation to them in his Son“ (A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Hebrews, ICC, Edinburgh [1924] 1952, xxvf). 90 „In een boek met zoveel aandacht voor bronnen wenst men meer dan de nauwelijks tien blz. over Nicea en Chalcedon in de epiloog“ (N. SCHREURS, TTh 32, 1992, 208f: 208); ähnlich die Gravamina in den Besprechungen von W. BEINERT, ThGl 80, 1990, 524f, und A. SCHILSON, KatBl 118, 1993, 878f. Zwar bemerkt Kuschel den Mangel selbst (34.506.634f), doch dispensiert er sich allzu rasch von der Untersuchung des „altkirchlichen Paradigmas“, dem sich doch Titel und Fragestellung seiner Studie allererst verdanken! 91 In Auseinandersetzung mit dem Entwurf von E. Schillebeeckx fragt Kuschel kritisch: „Wäre er nicht besser beraten gewesen, er hätte die neutestamentlichen Christologien für sich und als ganze entwickelt, hätte dann auch die altkirchlichen Christologien für sich und als ganze entfaltet, um beide dann kritisch in ein Gespräch zu bringen, statt am Schluß seines Jesus-Buches in aller Eile die Aussagen der biblischen und der altkirchlichen Christologien zu vermischen?“ (615) – Eben dies wäre die Aufgabe, und die „Eile am Schluss“ bedrängt auf andere Weise offenkundig auch Kuschel!
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bräerbrief mit weiten Teilen des hellenistischen Christentums die Präexistenz-Christologie nicht eingehend erläutert, so lässt dies gerade darauf schließen, dass sie als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Erst späterer (noch immer „hellenistischer“) Theologie wurde sie zum Problem, und erst so geriet sie für die alte Kirche in das Zentrum theologischer Diskussion.92
3) Schließlich illustriert der Hebräerbrief wie keine andere neutestamentliche Schrift, dass Präexistenz-Christologie weder die (genuin monotheistische) Theozentrik noch die volle Geltung des Humanum Jesu relativieren muss. Gerade um das Gottsein Gottes lebensrelevant zu machen und gerade um die Bedeutung des Menschseins Jesu auszuloten, spricht der Hebräerbrief von der Ewigkeit des „Sohnes“. Und so ist von diesem Schreiben vor allem das zu lernen: Bei der Präexistenz geht es, biblisch betrachtet, nicht um die Göttlichkeit eines Menschen, sondern um die Menschlichkeit Gottes – jenes Gottes, der (ganz im Sinn des sibirischen Schlittenführers) dem Volk Brot und Fische reicht.
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Die „neutestamentliche Zurückhaltung“ in der Präexistenz-Christologie (506 u.v.ö.) ist Ausdruck eines frühen Reflexionsstadiums, nicht Folge bewusster theologischer Entscheidung. Kuschels Skizze der frühnachneutestamentlichen „Hellenisierung“ der Christologie (506–508) vereinfacht und bleibt letztlich geschichtsfremd: Es ist die (dogmatische) Kanongrenze, die tiefe Christologie von müßiger Spekulation zu trennen scheint.
Gott als Psalmist Ps 2 im Hebräerbrief Hat ein Kannibale das Recht, im Namen dessen zu sprechen, den er gefressen hat? STANISLAW JERZY LEC1
1. Intertextualität und Theo-Logie Die Denkfigur „Intertextualität“ ist maßgeblich von den Textmodellen einer Schriftlichkeitskultur bestimmt. Der Hebräerbrief – auch wenn er ein entwickeltes Bildungsmilieu widerspiegelt – entstammt einer Mündlichkeitskultur. Präziser: Die Denkfigur setzt eine literarisch hochkontextualisierte Print-Kultur voraus, Hebr eine „rhetorische Kultur“ mit prägender Interdependenz von inszeniertem Sprechakt und Manuskriptmedium.2 Mutmaßlich 90% der frühen Christen waren nicht befähigt, einen literarischen Text zu lesen oder mit anderer Lektüre zu korrelieren. Hätten sie lesen, sich gar ein „Buch“ erwerben können, so wäre ihnen das Schriftliche dokumentarisch als Gedächtnisstütze, kaum aber existentiell, gar theologisch als Gelegenheit zum vergleichenden Lektüre-Erlebnis willkommen gewesen.3 1
Unfrisierte Gedanken (1959), hg. v. K. Dedecius, München 51963, 39. V.K. ROBBINS unterscheidet pragmatisch hilfreich zwischen oral culture, scribal culture, rhetorical culture, reading culture, literary culture, print culture und hypertext culture; vgl. DERS., Oral, Rhetorical, and Literary Cultures: A Response, Semeia 65, 1994, 75–91: 77–82. 3 Ein Gesamturteil über die Lese- und/oder Schreibfähigkeit in der reichsrömischen Gesellschaft des 1. Jhdts. hat die Segmentierung in einzelnen Kulturbereichen zu berücksichtigen. Unklar ist, inwieweit jüdische Schrift-Orientierung in paganem Milieu auf das Urchristentum zurückgewirkt hat und besonders, welche Definitionsschwelle man für Schreib-/Lesekundigkeit ansetzt. Insgesamt dürfte die Zahl von 90% literarisch unkundiger Frühchristen allenfalls zu niedrig geschätzt sein. Zur Diskussion vgl. W.V. HARRIS, Ancient Literacy, Cambridge, Mass. 1989, 3–24.175–284; A.K. BOWMAN, Literacy in the Roman Empire: Mass and Mode, in: Literacy in the Roman World, hg. v. J.H. Humphrey, Ann Arbor, Mich. 1991, 119–131; A.E. HANSON, Ancient Illiteracy, ebd., 159–198; P.J.J. 2
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Für den durchschnittlichen Frühchristen besaß Schrift kaum einen Wert an sich. Dies prägt den Umgang mit der Schrift. Zugespitzt: Die Definitionsmacht wandert vom literarischen Kontext einer Schriftpassage hin zum Lebenskontext dessen, der sie zitiert. Die Rede von „Kontext“ im zweiten Sinn besitzt nur metaphorisches Recht.4 Sie zielt auf das kognitive Universum des Zitierenden, das die neue Umlaufbahn des Textsinns ordnet, und auf die Verstehens- und Wirkvoraussetzungen des Zitats in der Lebenswelt seiner Adressaten. Das schriftliche Textsystem, in dem sich der zitierte Passus wiederfindet, stellt seinerseits nur eine Zwischenstufe zu weiteren Reoralisierungen dar. Der „Dialog“, den Ps 2 mit Hebr führt, lebt wesentlich davon, dass der Dialogpartner Psalm erst gar nicht zu Wort kommt. Er liefert allenfalls nach Art der stillen Post einen Anstoß zur prin-
BOTHA, Greco-Roman Literacy as Setting for New Testament Writings, Neotest. 26, 1992, 195–215; R. LANE FOX, Literacy and Power in Early Christianity, in: Literacy and Power in the Ancient World, hg. v. A.K. Bowman/G. Woolf, Cambridge 1994, 126–148; H.Y. GAMBLE, Books and Readers in the Early Church. A History of Early Christian Texts, New Haven, Conn. 1995, 2–10. Zur antiken Mündlichkeitskultur vgl. Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, hg. v. A. Assmann/J. Assmann/Chr. Hardmeier, München (1983) 21993; W.A. GRAHAM, Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religion, Cambridge 1987; L. ALEXANDER, The Living Voice: Scepticism Towards the Written Word in Early Christian and in Graeco-Roman Texts, in: The Bible in Three Dimensions, hg. v. D.J.A. Clines/S.E. Fowl/S.E. Porter, JSOT.S 87, Sheffield 1990, 221–247; Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, hg. v. W. Kullmann/J. Althoff, ScriptOralia 61, Tübingen 1993. Speziell zur frühjüdisch-frühchristlichen Konzentration auf die „lebendige“ Wort-Überlieferung vgl. P.J. ACHTEMEIER, Omne verbum sonat: The New Testament and the Oral Environment of Late Western Antiquity, JBL 109, 1990, 3– 27; Jesus and the Oral Gospel Tradition, hg. v. H. Wansbrough, JSNT.S 64, Sheffield 1991; G. SELLIN, Das lebendige Wort und der tote Buchstabe. Aspekte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in christlicher und jüdischer Theologie, in: Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike, hg. v. ders./ F. Vouga, TANZ 20, Tübingen 1997, 11–31; K. BACKHAUS, Undeutlichkeit. Von einem deutlichen Vorzug der Jesus-Überlieferung, ThGl 91, 2001, 369–389. 4 Es sei denn, der Begriff „Text“ würde im Sinne von Julia Kristeva entgrenzt, wodurch er freilich seine literaturtheoretische und textanalytische Leistungsfähigkeit weitgehend verlöre. Zur Diskussion um den Textbegriff vgl. Was ist ein Text?, hg. v. O. Wischmeyer/E.-M. Becker, NET 1, Tübingen 2001, bes. das Resümee von O. WISCHMEYER, ebd., 211–225. Hinführend zur verzweigten und in der Begrifflichkeit nicht immer eindeutigen Debatte um die Intertextualität P. STOCKER, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn 1998; TH.A. SCHMITZ, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 91–99; ST. ALKIER, Intertextualität – Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, hg. v. D. Sänger, BThSt 55, Neukirchen-Vluyn 2003, 1–26; eine Auswahlbibliographie zur Thematik DERS./K. DRONSCH/M. SCHNEIDER, ebd., 206–214.
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zipiell unabschließbaren Kommunikationskette der oral/aural tradition. Danach hat er seine Schuldigkeit getan: Er kann gehen. Aber er geht nicht. Er bleibt. Diese Widerspenstigkeit ermöglicht ja erst die Rede von Intertextualität. Ps 2 meldet sich bleibend zu Wort und wappnet sich dagegen, dauerhaft übergangen zu werden, und zwar im Modus der Schriftlichkeit. Das aber führt bereits über Hebr hinaus und wird uns in Kap. 4 (These b) interessieren. In alldem ist Hebr ein antiker „Intertext“ wie jeder andere. Das Faszinierende an ihm liegt darin, dass er diesen Prozess durchschaut, theozentrisch adelt und schöpferisch denn doch als – freilich ganz unerwartbaren, endzeitlichen – Dialog dramatisiert: Ps 2 wird zum Modellfall von „Gottes Mündlichkeit“, zum kommunikativen Ausweis des Qeo.j lalw/n (vgl. 1,1f), des ansprechenden Gottes.5 5 In einem weiteren Sinn kann man von einer Wort-Gottes-Theologie des Hebr sprechen. Sie hängt naturgemäß mit der Schrifthermeneutik und der exegetischen Methode des Verfassers eng zusammen. Vgl. dazu bes. die Monographien von G. HUGHES, Hebrews and Hermeneutics. The Epistle to the Hebrews as a New Testament Example of Biblical Interpretation, MSSNTS 36, Cambridge 1979; D. WIDER, Theozentrik und Bekenntnis. Untersuchungen zur Theologie des Redens Gottes im Hebräerbrief, BZNW 87, Berlin 1997; R. GHEORGHITA, The Role of the Septuagint in Hebrews. An Investigation of Its Influence with Special Consideration to the Use of Hab 2:3–4 in Heb 10:37–38, WUNT II/160, Tübingen 2003; T. LEWICKI, „Weist nicht ab den Sprechenden!“. Wort Gottes und Paraklese im Hebräerbrief, PaThSt 41, Paderborn 2004, sowie M. BARTH, The Old Testament in Hebrews. An Essay in Biblical Hermeneutics, in: Current Issues in New Testament Interpretation. FS O.A. Piper, hg. v. W. Klassen/G.F. Snyder, London 1962, 53–78.263–273, und M. THEOBALD, Vom Text zum „lebendigen Wort“ (Hebr 4,12). Beobachtungen zur Schrifthermeneutik des Hebräerbriefs, in: Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums. FS O. Hofius, hg. v. Chr. Landmesser/H.-J. Eckstein/H. Lichtenberger, BZNW 86, Berlin 1997, 751–790. Ferner: L. VENARD, L’utilisation des Psaumes dans l’épître aux Hébreux, in: Mélanges E. Podechard, hg. v. E.-B. Allo u.a., Lyon 1945, 253–264; J. VAN DER PLOEG, L’exégèse de l’Ancien Testament dans l’épître aux Hébreux, RB 54, 1947, 187–228; G.B. CAIRD, The Exegetical Method of the Epistle to the Hebrews, CJT 5, 1959, 44–51; H. CLAVIER, `O lo,goj tou/ Qeou/ dans l’Épître aux Hébreux, in: New Testament Essays. GS T.W. Manson, hg. v. A.J.B. Higgins, Manchester 1959, 81–93; F.C. SYNGE, Hebrews and the Scriptures, London 1959; S. KISTEMAKER, The Psalm Citations in the Epistle to the Hebrews, Amsterdam 1961; F. SCHRÖGER, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regensburg 1968; H.J.B. COMBRINK, Some Thoughts on the Old Testament Citations in the Epistle to the Hebrews, Neotest. 5, 1971, 22–36; E. GRÄSSER, Das Heil als Wort. Exegetische Erwägungen zu Hebr 2,1–4 (1972), in: ders., Aufbruch und Verheißung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, hg. v. M. Evang/O. Merk, BZNW 65, Berlin 1992, 129–142; F. SCHRÖGER, Das hermeneutische Instrumentarium des Hebräerbriefverfassers, in: Schriftauslegung. Beiträge zur Hermeneutik des Neuen Testamentes und im Neuen Testament, hg. v. J. Ernst, München 1972, 313–329; H. HEGERMANN, Das Wort Gottes als aufdeckende Macht. Zur Theologie des Wortes Gottes im Hebräerbrief, in: Das lebendige Wort. Beiträge zur kirchlichen Verkündigung. FS G.
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Nach Kühnheit, Knappheit und Kontextualisierung der Zitation eignet sich Ps 2 vorzüglich, um diese (im Wortsinn) theo-logische Mündlichkeitskultur zu erschließen. In diesem Zitat zeigt sich Gott gewissermaßen auf besonders sprechende Weise. Der Befund lässt sich jedoch auf die Interpretation der (atl.-)biblischen Literatur in Hebr insgesamt ausdehnen. Nach Umfang und Leitfunktion besitzt Ps 110 (109LXX) stärkeres Gewicht (7,17. 21; vgl. 8,1; 10,12f; 12,2); Hebr setzt ihn auch durchweg in ein wechselseitiges Deutungsverhältnis zu Ps 2 (vgl. 1,3.13; 5,6).6 Aber bereits dies ist Voigt, hg. v. H. Seidel/K.-H. Bieritz, Berlin 1982, 83–98; A.T. HANSON, The Living Utterances of God. The New Testament Exegesis of the Old, London 1983, 104–112; P.G. MÜLLER, Die Funktion der Psalmenzitate im Hebräerbrief, in: Freude an der Weisung des Herrn. Beiträge zur Theologie der Psalmen. FS H. Groß, hg. v. E. Haag/F.-L. Hossfeld, SBB 13, Stuttgart (1986) 21987, 223–242; M. BACHMANN, „... gesprochen durch den Herrn“ (Hebr 2,3). Erwägungen zum Reden Gottes und Jesu im Hebräerbrief, Bib. 71, 1990, 365–394; O. HOFIUS, Biblische Theologie im Lichte des Hebräerbriefes (1994), in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 361–377; H. LÖHR, „Heute, wenn ihr seine Stimme hört …“. Zur Kunst der Schriftanwendung im Hebräerbrief und in 1Kor 10, in: Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, hg. v. M. Hengel/H. Löhr, WUNT 73, Tübingen 1994, 226–248; H. H ÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments III: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 15–63; D.F. LESCHERT, Hermeneutical Foundations of Hebrews: A Study in the Validity of the Epistle’s Interpretation of Some Core Citations from the Psalms, NABPR.DS 10, Lewiston, NY 1995; R.T. FRANCE, The Writer of Hebrews as a Biblical Expositor, TynB 47, 1996, 245–276; J.W. THOMPSON, The Hermeneutics of the Epistle to the Hebrews, RestQ 38, 1996, 229–237; H.W. BATEMAN, Early Jewish Hermeneutics and Hebrews 1:5–13. The Impact of Early Jewish Exegesis on the Interpretation of a Significant New Testament Passage, AmUSt.TR 193, New York 1997; K. TAUT, Anleitung zum Schriftverständnis? Die heiligen Schriften nach dem Hebräerbrief, Theos 20, Hamburg 1998; S. MOTYER, The Psalm Quotations of Hebrews 1: A Hermeneutic-Free Zone?, TynB 50, 1999, 3–22; D.O. VIA, The Letter to the Hebrews: Word of God and Hermeneutics, PRSt 26, 1999, 221–234; E.-M. BECKER, „Gottes Wort“ und „Unser Wort“. Bemerkungen zu Hebr 4,12–13, BZ 44, 2000, 254–262; G.J. STEYN, “Jesus Sayings” in Hebrews, EThL 77, 2001, 433–440; M. KARRER, Der Weltkreis und Christus, der Hohepriester. Blicke auf die Schriftrezeption des Hebräerbriefs, in: Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie, hg. v. W. Kraus/K.-W. Niebuhr, WUNT 162, Tübingen 2003, 151–179. Vgl. auch die einschlägigen Einleitungskapitel und Exkurse zur Schriftauslegung in B.F. WESTCOTT, The Epistle to the Hebrews, London (1889) 21892, 467–495; C. SPICQ, L’Épître aux Hébreux, 2 Bde., EtB, Paris 1952/1953, I, 330–350; H.-F. WEISS, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen 1991, 171–181; C.R. KOESTER, Hebrews, AncB 36, New York 2001, 115–118; M. KARRER, Der Brief an die Hebräer I, ÖTBK 20/1, Gütersloh/Würzburg 2002, 56–69. Einen Überblick (vorwiegend über die englischsprachige) Forschung gibt G.H. GUTHRIE, Hebrews’ Use of the Old Testament: Recent Trends in Research, Currents in Biblical Research 1.2, 2003, 271–294. 6 Zur Bedeutung und Funktion von Ps 110 in der urchristlichen Literatur vgl. D.M. HAY, Glory at the Right Hand. Psalm 110 in Early Christianity, SBL.MS 18, Nashville, Tenn. 1973; W.R.G. LOADER, Christ at the Right Hand – Ps. CX.1 in the New Testament,
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eine buchgelehrte Unterscheidung, die Ps 2 und Ps 110 verschiedenen literarischen Strata zuweist, statt ihre Einheit im „Mund“ des lebendigen Gottes zu „hören“. Erst aus solchem Hörakt wird Ps 2, obschon nur zweimal mit den jeweils gleichen acht Worten zitiert, in der Tat als ein „christologischer Hauptpsalm“7 des Hebr vernehmbar. So stehe eine vokabelstatistische Beobachtung am Anfang: Hebr ist durch Zitate, Bezugnahmen, Paraphrasen, Sprachfarben und -figuren von der alttestamentlichen Literatur so vielfältig und wesentlich geprägt wie keine andere neutestamentliche Schrift.8 Doch das Nomen grafh, oder eine entsprechende Verbalwendung – etwa in der formula quotationis ge,graptai – fehlt, die solche Referenz markierte. Das heißt nicht, dass Stamm oder Wortfeld in Hebr gar nicht vorkommen. Doch beziehen sie sich ausschließlich auf himmlisches Handeln.9 Im Psalmzitat Hebr 10,7 finden das Nomen bibli,on und das Verb gra,fein zusammen: to,te ei=pon\ ivdou. h[kw( evn kefali,di bibli,ou ge,graptai peri. evmou/( tou/ poih/sai to. qe,lhma, sou (Ps 39,8fLXX). Hier aber betet keineswegs mehr der biblische Fromme sein individuelles Danklied zur Genesung oder Rettung, dabei die Heilserfahrung, auf einer Buchrolle festgehalten, in der Hand. Es ist „der Sohn“, der sich jetzt anschickt, die Ewigkeitssphäre zu verlassen, wie die prophetische Schrift es beschreibt,10 um in der Menschwerdung Gottes Willen zu vollziehen (10,5: dio. eivserco,menoj eivj to.n ko,smon le,gei ...). Die Buchrolle manifestiert den himmlischen Ratschluss des unwandelbaren Gottes; sie wird „zitiert“ im himmlisch-irdischen „Dialog“ zwischen Gott und Sohn. NTS 24, 1978, 199–217; M. HENGEL, „Setze dich zu meiner Rechten!” Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: Le trône de Dieu, hg. v. M. Philonenko, WUNT 69, Tübingen 1993, 108–194; L. BORMANN, Ps 110 im Dialog mit dem Neuen Testament, in: Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, hg. v. D. Sänger, BThSt 55, Neukirchen-Vluyn 2003, 171–205. 7 So E. GRÄSSER, An die Hebräer, 3 Bde., EKK 17, Zürich/Neukirchen-Vluyn, 1990/ 1993/1997, I, 289, zum urchristlichen Rang von Ps 2 und Ps 110. 8 Zur näheren Bestimmung der intertextuellen Bezüge vgl. die Typisierung bei G. HÄFNER, „Nützlich zur Belehrung“ (2Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg i.Br. 2000, 45–63. Mehr mit Blick auf die literarische Verarbeitung des Prätextes unterscheidet V.K. ROBBINS, Cultures (s. Anm. 2), 82–88, reference, recitation, recontextualization, reconfiguration und echo. 9 Ihr Gebrauch bezieht sich metaphorisch auf göttliche Machthandlungen: Das Verb evpigra,fw beschreibt im Rahmen der jeremianischen Ansage des neuen Gottesbundes (vgl. 31,33 [38,33LXX: gra,fw]) die innere Beschriftung des menschlichen Herzens durch Gott (8,10; 10,16), das Verb avpogra,fw die Registrierung der Bürger der himmlischen Gottesstadt (12,23). 10 Zur Deutung der vom Verfasser nicht mehr erklärten Buchrolle vgl. H.W. ATTRIDGE, The Epistle to the Hebrews, Hermeneia, Philadelphia, Pa. 1989, 274f; E. GRÄSSER, Hebr II, 215f.
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Der Prätext inszeniert im Modus performativer Sprechakte (buchstäblich) die Christo-Logie des Hebr: die handlungsvollziehende Rede Christi zu Gott, Gottes zu Christus, Gottes über und durch Christus.11 Hebr betreibt Exegese als christologisch verbindliche Poesie, als bibelund damit gottessprachliche disclosure der Bedeutung Christi. Diese Schriftanwendung ist signifikant für den gesamten Umgang des Hebr mit den Prätexten der alttestamentlichen Literatur, und sie erklärt zugleich, warum der Psalter mit seinem gebetssprachlichen Anrede-Charakter unseren Verfasser besonders anziehen musste. Insgesamt bietet Hebr 38 durch Rede-Einleitungen12 markierte Schriftworte.13 Davon entstammen dem Psalter 22, der Tora elf, den Propheten sieben, anderen Büchern vier Zitate.14 In 25 Fällen spricht Gott, und zwar nicht nur dann, wenn er auch im Alten Testament als Sprecher auftritt (z.B. Ps 2,7; 110,1.4; 2Sam 7,14), sondern auch dort, wo im Prätext ein Psalmbeter oder Mose sprechen. Zehnmal wendet er sich an den Sohn bzw. spricht über ihn (1,5a.b.6.8f.10–12.13; 5,5b.6; 7,17.21). Dabei tritt der Sohn in der Regel an die Stelle des angesprochenen Königs; in 1,10–12 wird aus der Anrede des Betenden an Gott die Anrede Gottes an den Sohn als Schöpfer und Herr! Der Sohn ist in sechs Fällen Sprecher; er übernimmt die Identität (2,13: evgw,) von Psalmbeter oder Prophet; als Adressat wird nur Gott wahrnehmbar (2,12f; 10,5–7.8a.9a). In zwei Fällen spricht, jeweils Gott „ablösend“, genauer: ihn repräsentierend, das Pneuma, und in diesen Fällen ist die Gemeinde Adressat (3,7–11; 10,15–17). Andere Sprecher kommen nur fünf11 Dass das theozentrisch begründete Desinteresse unseres Verfassers aus der Sicht historisch orientierter Exegese als methodisch unkontrollierbare „Schriftgnosis“ Unbehagen und Ablehnung hervorruft, liegt nahe; vgl. nur das schroffe Urteil bei R. BULT9 MANN, Theologie des Neuen Testaments, UTB 630, Tübingen (1953) 1984, 113f: „Wozu die ganze Veranstaltung einer Vorabbildung des Heilswerkes Christi, die in der Zeit vor Christus ja niemand verstehen konnte, eigentlich geschehen sei, würde man den Verfasser, der sich seiner Interpretation freut, wohl vergeblich fragen.“ Zur Diskussion vgl. S. MOTYER, Quotations (s. Anm. 5), 7–13. 12 Ich vermeide bewusst den üblichen Begriff „Zitationsformel“. Durch die Rede-Einführungen sollen die Bibelzitate ja gerade nicht als solche ausgewiesen, sondern in gewisser Weise als solche vergessen werden. Vgl. näher M. THEOBALD, Text (s. Anm. 5), 755–759. 13 1,5a.b.6.7.8f.10–12.13; 2,6–8a.12.13a.b; 3,7–11.15; 4,3b.4.5.7b; 5,5b.6; 6,14; 7,17. 21; 8,5b.8–12; 9,20; 10,5–7.8a.9a.15–17.30a.b.36b–38; 11,18; 12,5b–6.21b.26b; 13,5b.6. Die Zählungen divergieren je nach herangezogenen Kriterien. F. SCHRÖGER (Verfasser [s. Anm. 5], 33–197) zählt 35 „direkte alttestamentliche Zitate“, H. LÖHR (Stimme [s. Anm. 5], 226) 59, M. THEOBALD (Text [s. Anm. 5], 754f) 33. 14 Zugrunde liegt die Zuweisung durch Nestle-Aland27; Mischzitate und mögliche Mehrfachzuweisungen werden einbezogen. Vgl. auch die Übersichten bei F. SCHRÖGER, Verfasser (s. Anm. 5), 245–266, und M. THEOBALD, Text (s. Anm. 5), 754.
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mal in den Blick. Die Quelle ist dabei nur aus typologischen Gründen nennenswert: Mose vertritt den Sinai-Bund (9,19f; 12,21). Im Übrigen ist sie gleichgültig: „Es bezeugte (Aorist!) aber irgendwo irgendeiner, indem er sagte: Was ist ein Mensch, dass du seiner gedenkst oder des Menschen Sohn, dass du auf ihn blickst ...“15 – aus dem staunenden Gotteslob wird ein Zeugnis über den Sohn und dessen Menschwerdung (2,6–8; präziser dagegen Röm 10,16: vHsai