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German Pages [513] Year 2021
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Hamann-Studien
Band 5
Herausgegeben von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke
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Eric Achermann / Janina Reibold (Hg.)
… sind noch in der Mache Zur Bedeutung der Rhetorik in Hamanns Schriften. Acta des zwölften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Heidelberg 2019
Mit 21 Abbildungen
V&R unipress
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Theodor Springmann Stiftung Heidelberg. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Leonard Keidel Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3561 ISBN 978-3-7370-1183-9
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 13
I. Historische Verortung
Dietmar Till (Tübingen) Anthropologisierung der Rhetorik. Anmerkungen zum rhetorikhistorischen Ort Johann Georg Hamanns . . . . . . . . . .
17
II. Stil
Anja Kalkbrenner (Münster) „Schullehrer“, „Ritter“, und „Chineser“: Persona und modus persuadendi bei Hamann
. . . . . . . . . . . .
Hans Graubner (Göttingen) ‚Stil‘, ‚Anti-Stil‘ und ‚stilus atrox‘. Zu Hamanns Theologie des Stils
39
. . .
69
Sina Dell’Anno (Basel, Schweiz) Stilistischer „Medusenschild“. Hamanns monströse Schreibart im Kontext von Jean Pauls Rhetorik des Witzes. Mit einem Ausblick auf die satirischen Vorbilder des stilus atrox . . . . . . . . . . . .
83
Peter Klingel (Münster) Ars Punica. Zur Bedeutung des Wortspiels für die ‚panische Schreibart‘ Hamanns . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Linda Simonis (Bochum) Hamanns Redekunst. Rhetorische Verfahrensweisen in den Sokratischen Denkwürdigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 133
6
Inhalt
Ildikó Pataky (Szentendre, Ungarn) „Sie wißen daß ich ein anderer Lavater in der Physiognomia des Styls bin“. Überlegungen zur Physiognomie des Stils anhand des Titelblattes der Kreuzzüge des Philologen . . . . . . . . . 157 Eva Kocziszky (Veszprém, Ungarn) Licht, Stern, Sonne und Horoskop in Hamanns ‚opuscula der Finsternis‘. Eine metaphorologische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 181 Eckhard Schumacher (Greifswald) Stylus atrox. Johann Georg Hamann revisited
. . . . . . . . . . . .
195
III. Mikrologie
Monika Schmitz-Emans (Bochum) Inszenierungen auf dem Text-Theater. Über Schriftreflexion und typographische Gestaltung bei Samuel Richardson, Laurence Sterne und Johann Georg Hamann . . . . . . . . . . . . 217 Annelen Kranefuss (Köln) AESTHAETICA . Ein bisher nicht erkanntes Zitat im Titel von Hamanns Aesthaetica in nuce . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Naomi Miyatani (Tokyo, Japan) Gedanken über den Gedankenstrich – Hamanns Interpunktion und ihre Übersetzungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 245 IV. Strategien
Hendrik Klinge (Wuppertal) Kabbalistische Prosa. Strategien negativer Hermeneutik als Charakteristikum der Autorhandlungen Johann Georg Hamanns Ulrich Gaier (Konstanz) Hamanns Rhetorik des Denkens
. .
255
. . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Florian Telsnig (München/Wien) Die Beredsamkeit der Vernunft. Hamanns leidenschaftliche Rhetorik der Kritik
. . . . . . . . . . .
287
7
Inhalt
Sabine Marienberg (Berlin) Bewegliche Denkungsart und Lebendigkeit der Rede im Versuch über eine akademische Frage . . . . . . . . . . . . . . 333 V. Kommunikation und Polemik
Gideon Stiening (Münster) Epistolarität als Reflexions- und Darstellungsform. Hamanns Fliegender Brief als religiöse Bekenntnisschrift
. . . . . . .
347
Frank Simon (Lüdinghausen) Hamann und die Rhetorik. Das decorum im Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761 . . . . . . . . . . . 371 Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin) Kult, Katholizismus, Freimaurerei. Hamanns Hierophantische Briefe im Kontext
. . . . . . . . . . . .
381
Christian Sinn (St. Gallen, Schweiz) „Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans“. Zum wissenschaftstheoretischen Geltungsanspruch von Hamanns Rhetorik am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Michaelis . . . . 409 Katie Terezakis (Rochester, USA) Hamann’s Critique of Liberalism
. . . . . . . . . . . . . . . . .
435
Gwen Griffith-Dickson (London, UK) Despots and Demagogues. Hamann’s Rhetoric in the face of Tyranny . . 447 VI. Aus der Editionswerkstatt
Janina Reibold (Heidelberg) Die Hamann-Sammlung von Julius Halle oder Kreuz- und Querzüge des vermeintlichen Sammelbands von Johann Michael Hamann . . . . 465 Luca Klopfer (Heidelberg) Hamanniana in Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
503
Vorwort
Seit Veröffentlichung seiner Erstlingsschrift – den Sokratischen Denkwürdigkeiten 1759 – haftet Johann Georg Hamann der Vorwurf des ‚dunklen Stils‘ an. Der Vorwurf taucht in unterschiedlichster Form seit Erscheinen der ersten Rezension durch Moses Mendelssohn, derjenigen der Literaturbriefe, in sämtlichen Besprechungen seiner Schriften auf. Er begleitet Hamann aber nicht nur zu Lebzeiten, sondern avanciert zu einem regelrechten Topos der Hamann-Lektüre und -Kritik, der bis heute unvermindert anhält und in Goethe und Hegel nur seine prominentesten Vertreter findet. So formuliert etwa Ludwig Reiners in seiner Stilkunst unter dem Kapitel ‚Klarheit‘ (S. 265 f.): Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ ist wiederum eine wahre Ferienlektüre im Vergleich zu den Schriften Hamanns. Denn hier taucht etwas Neues auf: die gewollte, die künstliche Dunkelheit. Der Zauberer, der diese Nebelwand um sich zog, der ‚Magus des Nordens‘, war kein bloßer Taschenspieler, sondern ein schöpferischer Kopf, der manche tiefsinnigen Einfälle hatte, aber in welch geheimnisvolle Gewänder pflegte er sie zu verkleiden!
Hamann hat sich immer wieder mit Fragen der Rhetorik und der ‚richtigen‘ Schreibart beschäftigt. Zahlreich nimmt er in Schriften und Briefen explizit Bezug auf den Vorwurf der Dunkelheit, rechtfertigt seine besondere Schreibart und erläutert seine Vorstellungen zum Stilbegriff. Jedoch ist es vor allem die ‚Mache‘ seiner Schriften selber, die sich auf oder jenseits der Grenzen der klassischen Rhetorik bewegen. Sie konfrontieren den Lesenden mit Texten, welche die sprachlichen Möglichkeiten individueller Darstellung und Textualität auszuschöpfen suchen. Rhetorische Mittel dienen Hamann dabei nicht als bloße Einkleidung der Gedanken, sondern sind untrennbarer Ausdruck der Eigentümlichkeit des Schreibenden und betonen die unauflösbare Spannung zwischen der Allgemeinheit der Sprache und dem Ausdrucksbedürfnis des Einzelnen.
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Vorwort
In Zedlers Universal-Lexicon wird die Rhetorik unter dem Lemma ‚RedeKunst‘ als „eine vernünftige Anweisung zur Beredsamkeit“ beschrieben. Die Beredsamkeit sei, so Zedler weiter, die „Geschicklichkeit, solche Wörter so zu gebrauchen, welche mit unsern Gedancken überein kommen, und in solcher Ordnung mit solcher Art seine Gedanken fürzustellen, daß in denen, die unsere Worte hören oder lesen, eben die Gedanken und Regungen entstehen, die wir ihnen beybringen wollen“ (Bd. 30, Sp. 1605). Rhetorik und Sprache dient dabei primär als Mittel zur Erreichung des genannten Zwecks. Erfolgreiche Rhetorik funktioniere vor allem, wenn sie als solche nicht sichtbar werde und beim Gegenüber „die Gedanken und Regungen entstehen, die wir ih[m] beybringen wollen“, ohne dass dieser sich des sprachlichen Vehikels gewahr wird. Nicht umsonst hat Rhetorik in der Mündlichkeit, wo die Stimme im Moment der Artikulation schon wieder verhallt, ihren Ursprung. ‚Durchsichtigkeit‘ heißt auf Latein perspicuitas. Perspicuitas, nun im Sinne von Klarheit und Verständlichkeit, ist wiederum Bezeichnung für eine der rhetorischen Stiltugenden. Scheitert die rhetorische Rede auf ihrem Weg in die ‚Unsichtbarkeit‘, wird sofort der jahrtausendealte Vorwurf der Unaufrichtigkeit und Verstellung laut. Der Standpunkt aber, von dem aus die Rhetorik solchermaßen kritisiert werden kann, ist ebenso fragwürdig. Er impliziert, dass es eine natürliche Sprache oder eine Natürlichkeit der Sprache gäbe, in der sich Wahrheit ohne Aufwand, Reibung und Widerstand aussprechen ließe. In Hamanns Texten hakt es an allen denkbaren Stellen. Statt durch eine gläserne Scheibe in eine fremde Gedankenwelt schaut der Leser auf eine Aneinanderreihung von Buchstaben, unbekannten Wörtern und Sprachen, wird irritiert durch ungewohnte syntaktische Zusammenstellungen, fehlende logischargumentative Folge und typographische Experimente. Vehement verweigert sich das Material des Übergangs in die Transparenz. Ein Spezifikum der Hamann’schen Texte ist ihr Umgang mit fremdem Wortmaterial: Sie zitieren, modifizieren, kombinieren, invertieren, dekontextualisieren. Die Brutalität, mit der dies geschieht, wurde oft hervorgehoben. Das gedankliche Potential derselben ebenso. So möchte man zunächst etwa glauben, dass sein Umgang mit dem Erzrhetoriker Quintilian affirmativ sei. Am 10. März 1787 schreibt Hamann an Jacobi: „Ich habe mich am Quintilian so begeistert, daß ich gern ihn auf allen Seiten meiner Arbeit citirt hätte.“ (ZH VII, 117). Untersucht man hingegen die Quintilian-Zitate, die Hamann nach seiner Quintilian-Erst(!)Lektüre 1787 in einen Entwurf des Fliegenden Briefs nachträglich eingebaut hat, stellt man verwundert fest, dass er sämtliche Zitate von deren ursprünglichen Bedeutung her invertiert hat – selbstverständlich ohne dies kenntlich zu machen.
Vorwort
11
So mag es sich denn mit dem Hamann’schen Zitieren wie mit dem Verstehen verhalten, zu dem Friedrich Schlegel 1797 pointiert in seinen Philosophischen Lehrjahren notiert: Um jemanden zu verstehen, muß man erstlich klüger sein als er, dann ebenso klug und dann auch ebenso dumm. Es ist nicht genug, daß man den eigentlichen Sinn eines konfusen Werkes besser versteht, als der Autor es verstanden hat. Man muss auch die Konfusion selbst bis auf die Prinzipien kennen, charakterisieren und konstruieren können.
Die in diesem Band versammelten Beiträge sind im Wesentlichen die Ergebnisse des zwölften Internationalen Hamann-Kolloquiums, das vom 7. bis 9. März 2019 in Heidelberg stattfand und das Ziel verfolgte, die Bedeutung der Rhetorik in den Schriften Hamanns in ihrer Breite genauer zu konturieren und zu diskutieren. Unser Dank gilt der Fritz Thyssen Stiftung für die finanzielle Förderung der Tagung, der Theodor Springmann Stiftung für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, Nursan Celik für die Erstellung des Personenregisters und Leonard Keidel für den Satz des Bandes. Eric Achermann und Janina Reibold
Siglen und Abkürzungen
N I–VI
Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. Bd. 1–6. Wien 1949–1957. Londoner Schriften Johann Georg Hamann: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neu edition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn. München 1993. ZH I–VII Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 1–3 hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955–1957. Bd. 4–7 hg. von Arthur Henkel. Wiesbaden 1959, Frankfurt a. M. 1965–1979. HKB Johann Georg Hamann: Kommentierte Briefausgabe. Hg. von Leonard Keidel und Janina Reibold, auf Grundlage der Vorarbeiten Arthur Henkels, unter Mitarbeit von Gregor Babelotzky, Konrad Bucher, Christian Großmann, Carl Friedrich Haak, Luca Klopfer, Johannes Knüchel, Isabel Langkabel und Simon Martens (Heidelberg 2020 ff.). URL : www.hamannausgabe.de. HHE I–VII Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt. Hg. von Fritz Blanke u. a. Bd. I : Die Hamann-Forschung (Fritz Blanke: Einführung; Karlfried Gründer: Geschichte der Deutungen; Lothar Schreiner: Bibliographie). Gütersloh 1956. Bd. II : Sokratische Denkwürdigkeiten. Erklärt von Fritz Blanke. Gütersloh 1959. Bd. IV: Über den Ursprung der Sprache. Erklärt von Elfriede Büchsel. Gütersloh 1963. Bd. V: Mysterienschriften. Erklärt von Evert Jansen Schoonhoven und Martin Seils. Gütersloh 1962. Bd. VII : Golgatha und Scheblimini. Erklärt von Lothar Schreiner. Gütersloh 1956. Acta 1976 Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976. Mit einem Vorwort von Arthur Henkel hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. 1979. Acta 1980 Johann Georg Hamann. Acta des zweiten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1980. Hg. von Bernhard Gajek. Marburg 1983 (= Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien Bd. 2).
14
Acta 1982
Acta 1985
Acta 1988
Acta 1992
Acta 1996
Acta 2002
Acta 2006
Acta 2010
Acta 2015
Siglen und Abkürzungen
Johann Georg Hamann und Frankreich. Acta des dritten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1982. Hg. von Bernhard Gajek. Marburg 1987 (= Kultur- und geistesgeschichtliche Ostmitteleuropa-Studien Bd. 3). Hamann – Kant – Herder. Acta des vierten Internationalen HamannKolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. 1987 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 34). Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i. W. 1988. Hg. von Bernhard Gajek und Albert Meier. Frankfurt a. M. 1990 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 46). Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. 1996 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 61). Johann Georg Hamann und England. Hamann und die englischsprachige Aufklärung. Acta des siebten Internationalen Hamann-Kolloquiums zu Marburg/Lahn 1996. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. 1999 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 69). Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2002. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M. 2005 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B. Bd. 88). Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Hg. von Manfred Beetz und Andre Rudolph. Berlin/Boston 2012 (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung. Bd. 45). Hamanns Briefwechsel. Acta des Zehnten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2010. Hg. von Manfred Beetz und Johannes von Lüpke. Göttingen 2016 (= HamannStudien, Bd. 1). Johann Georg Hamann: Natur und Geschichte. Acta des Elften Internatio nalen Hamann-Kolloquiums an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel 2015. Hg. von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke. Göttingen 2020 (= Hamann-Studien, Bd. 4).
I. Historische Verortung
Dietmar Till (Tübingen) Anthropologisierung der Rhetorik. Anmerkungen zum rhetorikhistorischen Ort Johann Georg Hamanns
Die nachfolgenden Ausführungen rekonstruieren ganz bewusst nicht Hamanns Stellung in der Rhetorikgeschichte des 18. Jahrhunderts. Ein solcher Zugang müsste möglichst präzise Hamanns Rezeption und Adaptation klassischer und neuzeitlicher Rhetoriken zu rekonstruieren versuchen. Angesichts von Hamanns Arbeitsweise, Entleihungen und Anspielungen bewusst nicht klar zu markieren, ist das ein schwieriges Unterfangen.1 Stattdessen soll im Folgenden nach den historischen Voraussetzungen von Hamanns Verhältnis zur Rhetorik gefragt werden. Ich möchte fragen, welche Ausprägung von ‚Rhetorik‘ es eigentlich war, mit der Hamann sich in seinen Schriften auseinandersetzt. Es geht mithin darum, den rhetorikhistorischen Ort von Hamanns Rhetorik-Rezeption nachzuzeichnen. In einem weiten Bogen, der ins 17. Jahrhundert zurückreicht, möchte ich hierzu zunächst nach Veränderungen der Rhetorik vor Hamann fragen. Nicht zuletzt soll auf diese Weise der verbreiteten Auffassung entgegengetreten werden, dass die Rhetorik eine monolithische und bis in die Antike zurückreichende Tradition sei, die kaum oder gar keine Veränderungen durchgemacht habe.2 Dabei muss auch der Kontext berücksichtigt werden, in dem rhetorisches Wissen zur Anwendung kam: das Bildungswesen. Die Rhetorik hatte um 1750 eine ganz andere Stellung im Bildungssystem und im Gefüge der Disziplinen der Philosophischen Fakultät als noch wenige Jahrzehnte zuvor. Zwischen den Rhetoriken Melanchthons am Beginn des 16. und denen Gottscheds am Beginn des 18. Jahrhunderts liegt eine rhetorikhistorische Entwicklung, die ich als ‚Transformation der Rhetorik‘ 1 Paradigmatisch für eine solche Rekonstruktion: Hans Graubner: Hamanns Buffon-
Kommentar und seine sprachtheologische Bedeutung des Stils. In: Acta 1992, 277–303.
2 Eine solche primär anthropologisch fundierte und deshalb ahistorische Rhetorikauf-
fassung findet sich in den einflussreichen Aufsätzen des Anglisten Klaus Dockhorn. Sie sind gesammelt in: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg, Berlin, Zürich (= Respublica literaria, Bd. 2).
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Dietmar Till
bezeichnet habe.3 Im 18. Jahrhundert schließlich findet eben jener Transformationsprozess statt, der die klassische Rhetorik schließlich obsolet werden ließ. Drei Begriffe sollen dabei im Folgenden im Zentrum der Argumentation stehen: die Idee eines rhetorischen ‚Systems‘, Konzeptionen rhetorischer Anthropologie und schließlich das Konzept der Anthropologisierung als Prozessbegriff zur Beschreibung zentraler Transformationsprozesse im 17. und 18. Jahrhundert. Alle drei Begriffe oder Konzepte behandeln die Frage, was eigentlich Rhetorik zu einer bestimmten Zeit ist oder welche Form von ‚Rhetorik‘ damit jeweils gemeint ist.
1. Welche Rhetorik ist gemeint? Zunächst einmal ist zu fragen, was mit „Rhetorik“ bzw. „rhetorischer Tradition“ jeweils gemeint ist. Es geht also um notwendige Arbeit an Termini und den damit verbundenen Konzepten und Traditionen. Denn der Begriff ‚Rhetorik‘ bezieht sich zwar stets auf Formen sprachlicher Kommunikation, möchte man ihn aber näher definieren, so löst sich der Begriff in unterschiedliche Konzepte von Rhetorik auf. Rhetorik kann ‚Wirkung‘ oder – enger definiert – ‚Persuasion‘ (Überzeugung) zum Ziel haben, aber auch nur stilistisches Raffinement jenseits strategischer Wirkungsintentionen bedeuten.4 Hinzu kommt, das unterschiedliche Wertungen mit dem Begriff ‚Rhetorik‘ verbunden sind – und zwar überwiegend negative. Manifest ist dies etwa in der Redensart von der ‚bloßen Rhetorik‘, die textuelle Elaboriertheit bei gleichzeitiger argumentativer Gehaltlosigkeit meint: Rhetorik als äußerer Schmuck ohne Inhalt. Solche Rhetorik-Kritik hat in der Frühen Neuzeit ihren Ursprung, und sie ist Teil einer Transformationsgeschichte der Rhetorik. 3 Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhe-
toriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit, Bd. 93); weitergehende Überlegungen in: Dietmar Till: Rhetorik. In: Der Neue Pauly. Supplemente, Bd. 13: Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus. Hg. von Joachim Jacob u. Johannes Süßmann. Stuttgart 2018, Sp. 799–811. 4 Vgl. die Definitionsbestandteile bei Walter Jens: Art. Rhetorik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III . Hg. von Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Berlin, New York 1977, S. 432–456, hier S. 432. Die historisch ursprüngliche, in der griechischen Sophistik wurzelnde Auffassung ist die von der Rhetorik als Kunst der Überzeugung. Die Idee, dass Rhetorik primär die Kunst der stilistischen Ausgestaltung meint, dominiert nach dem Funktionsverlust der Rhetorik in der Kaiserzeit. Wenn im Schulunterricht heute von Rhetorik die Rede ist, wird zumeist die Lehre von den Tropen und Figuren gemeint; Rhetorik wird also auf Stilistik reduziert.
Anthropologisierung der Rhetorik
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Neben der begrifflich-synchronen kommt noch eine historisch-diachrone hinzu: Zu unterschiedlichen Zeiten in der Rhetorikgeschichte gab es unterschiedliche Konzepte von Rhetorik. Rhetoriktheorien, Vorstellungen vom Redner und natürlich auch die Normen der rhetorischen Gattungslehre haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert und neuen soziokulturellen Gegebenheiten angepasst. Die Idee eines ‚rhetorischen Systems‘, von Strukturen und Rezepten, die sich über die Jahrhunderte völlig unverändert tradiert hätten, ist eine Fiktion von Lehrbüchern5 – und gleichwohl eine hilfreiche Fiktion: Denn nutzt man rhetorische Kategorien als Mittel zur Textanalyse, wo die Rhetorik in einer Schrumpfform heute wesentlich ihren Platz gefunden hat, dann genügt die reduktionistische Auffassung eines weitgehend konstanten Sets von Begriffen und sprachlichen Strukturen. Auch in der Forschung über Rhetorik schließlich gibt es weiter eine Pluralität der Rhetorikkonzepte – von der insgesamt engen Definition von Rhetorik als ars persuadendi, als Kunst der Überredung oder Überzeugung, über Rhetorik als Kunst wirkungsvoller Kommunikation (was einfach die emotionale Affizierung des Publikums meinen kann, ohne dass ein Überzeugungsprozess abläuft) bis hin zu einer Bedeutung von Rhetorik als Form stilistisch elaborierter Kommunikation, mithin bloß schöner Texte: Rhetorik als Stilkunst und Ästhetik. Und das sind nur einige Bedeutungen des Rhetorikbegriffs; weitere könnte man hinzufügen. Sie haben alle ihre Daseinsberechtigung, denn sie ermöglichen auf je unterschiedliche Weise Erkenntnisgewinn. In einem Aufsatz für das Rhetorik-Jahrbuch habe ich einmal versucht, zwei Rhetorikbegriffe zu unterscheiden.6 Dieser Aufsatz erwuchs damals aus meiner Dissertation zu den ‚Transformationen der Rhetorik‘ im 17. und 18. Jahrhundert, und er versuchte dessen historiographisches Modell etwas expliziter zu machen und mit einem Plädoyer zu verbinden. Das Plädoyer sollte eine Klarheit einfordern, immer denjenigen Rhetorikbegriff explizit zu benennen, über den man spricht. Ich hatte den Eindruck – und ich denke immer noch, dass die Beobachtung zutreffend ist –, dass eine solche Schärfung der Terminologie bisweilen zu wenig gemacht wurde. Ich schlug deshalb vor, zwei Rhetorikbegriffe zu unterscheiden: System und Anthropologie. Diese beiden Begriffe sollten für unterschiedliche Perspektiven auf die Rhetorik stehen: Während unter der Überschrift 5 In exzessiver Form praktiziert in Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhe-
torik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2 Bde. München 1960.
6 Dietmar Till: Anthropologie oder System? Ein Plädoyer für Entscheidungen. In: Rheto-
rik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004), S. 11–25.
20
Dietmar Till
‚System‘ wesentlich die Tradition der systematischen Lehrbücher der Rhetorik verstanden wurde (Rhetorik als Element des Bildungssystems), fasste ich unter ‚Anthropologie‘ die wesentlich ahistorischen Aspekte einer rhetorischen Anthropologie. Beide Konzepte sollen im Folgenden kurz vorgestellt und auf ihr Potential für die Darstellung spezifisch rhetorikhistorischer Zusammenhänge befragt werden.
2. Systemrhetorik Unter Systemrhetorik verstehe ich in erster Linie die Schulrhetorik, wie sie in Gestalt zahlreicher (ja zahlloser) Lehrbücher der Rhetorik überliefert ist. Über 2.500 Jahre war die Rhetorik im Abendland eine bestimmende Größe im höheren Bildungswesen. Rhetoriken dieses Typs folgen ganz häufig einem strengen systematischen Aufbau und sind nach den Prinzipien von Oberbegriff, Definition und nachfolgenden Untergliederungen unterschiedlicher Tiefe gegliedert. Manfred Fuhrmann hat 1960 diesem Buchtypus eine wichtige Abhandlung gewidmet.7 Fast immer bildet das Schema der fünf Arbeitsphasen des Redners (die officia oratoris oder, um den gängigeren Terminus anzuführen, die partes rhetoricae) das übergeordnete Einteilungsprinzip. Die strenge Systematik, welche die Schulrhetoriken prägt, hat in der Geschichte häufig dazu geführt, dass man sie als ‚pedantisch‘ abqualifiziert hat – als bloßen Formalismus, der keinen Mehrwert hat. Roland Barthes sprach in seinem Kolleg ‚Die alte Rhetorik‘, gehalten 1964/65 an der École pratique des hautes études (publiziert 1970), von einer befremdlichen „Obsession der Einteilung“, welcher die Rhetoriker umtreibe: Das „leidenschaftliche Einteilen wirkt auf Außenstehende immer als Haarspalterei“.8 In den ‚Transformationen der Rhetorik‘ habe ich die Geschichte dieser Obsession nachzuzeichnen versucht. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage, wie sich einzelne Elemente des rhetorischen Systems und die Relationen zwischen diesen Elementen im Verlaufe der Frühen Neuzeit verändern. Diesen Prozess habe ich als Transformationsprozess bezeichnet, um so einfachen Vorstellungen vom Verfall oder Wiederleben der Rhetorik ein komplexeres Beschreibungsmodell entgegenzusetzen. Zudem ist zu betonen, dass sich dieser Transformationsprozess keines7 Manfred Fuhrmann: Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zu Geschichte der Wis-
senschaften in der Antike. Göttingen 1960.
8 Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt
a. M. 1988, S. 15–101, hier S. 49.
Anthropologisierung der Rhetorik
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wegs auf die Frühe Neuzeit alleine erstreckt, sondern sich bereits in der antiken Rhetorik findet. Rhetorikgeschichte insgesamt ist nicht in Vorstellungen von Kontinuität, sondern als permanenter Transformationsprozess zu beschreiben. Man kann hier beispielsweise an die rhetorische Gattungstheorie (genera causarum) und ihre Geschichte denken. Fast immer hat man die politische Entscheidungsrede und die Gerichtsrede als die eigentlichen rhetorischen Genres angesehen. Genau diese zwei Gattungen sind es ja immer, die im eigentlichen Sinne Überzeugungsprozesse bewerkstelligen. Nur hier wird die Rhetorik zu „einem der großen Bewegungsfaktoren der Kultur.“9 Das hat auch mit der Fixierung auf die politische Rede zu tun, nicht zuletzt auch mit der vielfach apostrophierten Bedingtheit von Rhetorik und Demokratie, die gerade in der neueren Rhetorikforschung als Argument gegen die Identifikation von Rhetorik und Propaganda herangezogen wurde. In diesem Sinne hat Walter Jens in ‚Von deutscher Rede‘ die These vertreten, dass sich „Untertanenstaat und freies Wort“ zueinander verhielten wie „Feuer und Wasser“.10 Das ist die Vorstellung einer absoluten Differenz von totalitaristischem Staatswesen und freier Rede. Mit Rhetorik hat ersteres für Jens nichts zu tun – für die Generation der ‚Flakhelfer‘ gewiss ein identitätsstiftendes Argument. Doch zugleich ist diese Vorstellung extrem ahistorisch, denn es schränkt die Rhetorik ganz auf ein Modell von Beredsamkeit ein, welches sich auf Redner wie Demosthenes und die athenische Polis-Demokratie konzentriert. Im Grunde passt es schon auf die Beredsamkeit der römischen Aristokratenkultur mit ihrer komplexen Interdependenz von patronus und orator nicht mehr.11 Die Gegenwartsdiagnosen von Tacitus und Quintilian über den ‚Verfall‘ der Beredsamkeit im 1. Jahrhundert n. Chr. bilden damit vielfach das grundlegende Narrativ heutiger Forschung. Aus solchen Wertungen entsteht natürlich eine spezifische Perspektive, die Einschluss- ebenso wie Ausschlusseffekte hervorbringt. Der Ausschluss besteht in diesem Fall im Ausblenden der dritten rhetorischen Gattung, der Epideiktik, die gerade in der Kaiserzeit und dann in der Frühen Neuzeit eine zentrale Gattung mit einer Reihe von wichtigen sozialen Funktionen war.12 Geht man von Jens’ Diktum aus, dürfte es die tausende von Reden gar nicht geben oder es handelte sich bei ihnen eben nicht um ‚Rhetorik‘. Auch das ‚rhetorische System‘ ist bei genauerem Hinsehen gar nicht so statisch wie man 9 Joachim Knape: Was ist Rhetorik? Stuttgart 2000, S. 82. 10 Walter Jens: Von deutscher Rede. München 1972, S. 15. 11 Vgl. Walter Neuhauser: Patronus und Orator. Innsbruck 1958 (= Commentationes Aeni-
pontanae, Bd. 14).
12 Laurent Pernot: Epideictic Rhetoric: Questioning the Stakes of Ancient Praise. Austin, TX 2015.
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meint. Zudem gibt es gerade in der Frühen Neuzeit eine durchgängige Spannung zwischen der antiken Überlieferung, deren Kategorien normativ weitertradiert wurden, und den tatsächlichen Erfordernissen der rhetorischen Ausbildung (erst Christian Weise wird hier die Formulierung eines Rhetorikkonzeptes gelingen, das Vergangenheit und Gegenwart überzeugend aufeinander bezieht).13 Walter Jens brachte 1977 diese Erkenntnis auf den Punkt: „Das rhet[orische] System ist in gleicher Weise Fiktion wie der rhet[orische] Stil.“14 Es gibt rhetorische Traditionen also nur im Plural, und was zu einer Zeit und innerhalb eines spezifischen sozio-kulturellen Kontextes als monolithische Tradition erscheint, ist immer Ergebnis eines spezifischen, eben selektiven Rezeptionsprozesses, mit dem das Postulieren und Durchsetzen von Normen und Kanonisierungsprozessen einher geht. Diese schlussendlich innerrhetorischen Veränderungs- und ‚Umbau‘-Prozesse bezeichne ich als Transformation, ein Begriff, den Helmut Schanze einmal in die Fachdiskussion eingebracht hat.15 Schon das rhetorische System weist also eine gewisse Pluralität auf, die man vielleicht treffender als eine Identität in der Differenz beschreiben könnte. Es lässt sich ein rhetorisches System aufstellen – Lausberg hat das etwa mit seinem ‚Handbuch der literarischen Rhetorik‘ gemacht –, aber dieses ist eine Abstraktion von einer bunteren Realität und somit ein künstliches Gebilde, eben ein Modell. Hinzu kommen dann in der Frühen Neuzeit Umordnungen, die man vielleicht am besten mit den Stichwörtern ‚epistemologisch‘ und ‚sozial‘ beschreiben kann. Epistemologisch entsteht mit Rudolf Agricolas ‚De inventione dialectica‘ (vollendet 1479, gedruckt erst 1515) eine Neuordnung des Verhältnisses von Logik (Dialektik) und Rhetorik, die folgenreich sein sollte. Die rhetorische inventio und die loci-Lehre wird methodisch neu begründet und eben systematisch als Teil der Dialektik verstanden, auch wenn der Ansatz von Agricola ein wesentlich von der Rhetorik herkommender ist, also auf dem Prinzip der wahrscheinlichen und vernünftigen Rede basiert.16 Rhetorik und Dialektik werden spezifische Aufgaben im Sinne von Textformulierungsmustern zugewiesen, gelten aber als gleichrangig (das wird sich dann im 18. Jahrhundert im Sinne einer Unterordnung der Rheto13 Vgl. Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grund-
lagen. Tübingen 1970, S. 150 ff.
14 Jens: Rhetorik (wie Anm. 4), S. 439. 15 Helmut Schanze: Probleme einer ‚Geschichte der Rhetorik‘. In: Zeitschrift für Literatur-
wissenschaft und Linguistik 11 (1982), H. 43/44, S. 13–23; Ders.: Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800. In: Rhetorik 12 (1993), S. 60–72. 16 Peter Mack: Renaissance Argument. Valla and Agricola in the Tradition of Rhetoric and Dialectic. Leiden 1993 (= Brill’s Studies in Intellectual History, Bd. 43).
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rik unter die Dialektik bzw. Logik verändern). Für das Verhältnis der beiden artes liberales Rhetorik und Dialektik stand der von dem Stoiker Zenon von Kition herkommende (und etwa in Ciceros ‚De finibus‘ ausführlich diskutierte17) Vergleich der offenen Hand (für die Rhetorik) und der geschlossenen Faust (für die Dialektik). Offene Hand bedeutet dabei: Rhetorisches Formulieren heißt amplifizieren, also das intensivierende und emotional verstärkende Ausschmücken von Texten. Das kann bisweilen argumentative Textmuster mit umfassen, aber eben unter dem Oberbegriff der amplificatio. Zentrales rhetorisches Ideal ist in der Frühen Neuzeit das der copia, der Fülle und Variationsbreite des Ausdrucks, die ein Redner oder Dichter beherrschen musste.18 Die eigentliche Argumentationstheorie aber ist nicht Sache der Rhetorik, sondern der Dialektik. Hier kommt es mehr auf logische Stringenz als auf den elaborierten und vielgestaltigen Stil an, deshalb das Symbol der Faust. Und diese Aufgabenverteilung zwischen Rhetorik und Dialektik ist auch der Grund, weshalb wir in einem typischen Rhetoriklehrbuch des 17. Jahrhunderts, Gerhard Johannes Vossius’ ‚Rhetorice contracta‘ (erstmals 1621) kein eigenständiges Kapitel über die inventio finden, obwohl man dieses Schulbuch als eine typische Systemrhetorik der Barockzeit,19 welche sich eng an die antike Schulrhetorik anschließe, klassifiziert hat. Das ist ein Beispiel für das ‚Umarbeiten‘, eben die Transformation des rhetorischen Systems, in der Frühen Neuzeit. Sie hängt mit dem Bild von der offenen Hand und der geschlossenen Faust unmittelbar zusammen. Rhetorik und Dialektik haben eine klar unterschiedene Feldspezifik, was die kommunikativen Aufgaben betrifft. Die Dialektik ist primär für das Beweisen zuständig, die Rhetorik für die wirkungsvolle Variabilität im Formulieren – die etwa in Erasmus’ berühmtem Werk ‚De duplici copia ac verborum ac rerum‘ (zuerst 1512, 168 Ausgaben bis 1580) erstmals ausführlich behandelt wurde.20
17 „Von Zenon dem Stoiker […] stammt folgende Bemerkung: Er sagt, […] die ganze
Möglichkeit sprachlichen Ausdrucks gliedere sich in zwei Bereiche, von denen der rhetorische der Hand, der dialektische der Faust entspreche, weil die Rhetoriker weitläufiger [latius], die Dialektiker jedoch
gedrängter [compressius] sprechen.“ (Cic. De fin. II ,6,17; vgl. Quint. II ,20,17 und Cic. Or. 113). 18 Thomas O. Sloane: On the Contrary. The Protocol of Traditional Rhetoric. Washington, DC 1987, S. 56 ff. 19 So etwa die Einordnung bei Joachim Knape: Barock (1. Deutschland). In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 1285–1332, hier Sp. 1289. 20 Peter Mack: A History of Renaissance Rhetoric 1380–1620. Oxford 2011 (=Oxford-Warburg Studies), S. 76 ff.
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Wie sieht das im 18. Jahrhundert aus? Schon am Ende des 17. Jahrhunderts – mit dem bereits genannten Christian Weise – kommt es zu einer Neuformulierung der rhetorischen Theorie. Weise lehrte als Rhetorikprofessor zunächst an der Ritterakademie in Weißenfels und dann am Gymnasium seiner Heimatstadt Zittau. Seine Vorstellung von Rhetorikunterricht ist stark orientiert an den pragmatischen Bedürfnissen der Schüler, an diejenigen Textsorten und Verfahren, die ein angehender Hofbeamter (‚Politicus‘ im Sprachgebrauch der Zeit) kommunikativ beherrschen musste.21 Weise löst dazu das rhetorische System weitgehend auf und reduziert die den Schülern zu vermittelnden Kompetenzen auf die Beherrschung von konkreten Textmustern wie dem Kompliment. Weise begründete mit dieser Reform eine Schule, deren Mitglieder sich selbst als „Weiseaner“ bezeichneten. Allerdings gehen diejenigen Rhetoriklehrbücher, die nach 1700 in dieser Tradition erscheinen, weit konservativer vor. Ein viel aufgelegtes Beispiel hierfür sind Johann Hübners ‚Kurtze Fragen aus der Oratoria‘, eine der weitverbreiteten Schulrhetoriken der Generation vor Gottsched. Ein weiteres prominentes Beispiel aus der Generation nach Hübner ist Johann Christoph Gottsched mit seiner umfangreichen ‚Ausführlichen Redekunst‘, die erstmals 1736 erschien und bis in die 1750er Jahre aufgelegt wurde. Gottsched hat man in der Forschung als Klassizist und Erneuerer der antiken Rhetorik bezeichnet.22 Tatsächlich stellt er seiner Redekunst programmatisch Tacitus’ ‚Dialogus de oratoribus‘ voran, die antike System-Rhetorik ist bei Gottsched aber nur noch eine organisierende Hülle, welcher der eigentliche theoretische Kern der Rhetorik fehlt. Das wird dort deutlich, wo sich Gottsched auf urrhetorischem Grund befindet, nämlich im Kontext der Gerichtsrede, die er wegen ihrer Wahrscheinlichkeitsbasiertheit nachdrücklich ablehnt: Hier könnte womöglich ein Redner erfolgreich sein, der die Unwahrheit sagt. Ebenso lehnt der Leipziger Professor die Lobrede ab, weil in der Epideiktik kalkulierte Übertreibung, Heuchelei und auch die rhetorisch gut verpackte und damit sozial akzeptierte Lüge immer schon zentrale Elemente waren. Programmatisch beseitigt also der Rhetorik-Professor Gottsched den eigentlichen Kern der Rhetorik, die Ausrichtung auf die Glaubwürdigkeit der Rede (der das Publikum natürlich zustimmen muss). Diese rhetorische Zentralkategorie wird durch eine rigoristische Fixierung auf Wahrheit im Sinne der rationalistischen Logik 21 Vgl. Dietmar Till: Politicus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 6. Hg. von
Gert Ueding. Tübingen 2003, Sp. 1422–1445.
22 Joachim Knape: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart 2000,
S. 261–294; P. M. Mitchell: Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Harbinger of German Classicism. Columbia, OH 1995.
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Christian Wolffs ersetzt. Rhetorik ist nur noch ein kommunikatives Vermittlungs instrument für Wahrheiten und Erkenntnisse, die außerhalb der Rhetorik gefunden werden, also ein Supplement vor allem der Philosophie.23 Letztlich bedeutet dies den Triumph der Platonischen Rhetorikvorstellung aus dem Dialog ‚Phai dros‘. Gottscheds ‚Ausführliche Redekunst‘ von 1736 kann man aus diesen Gründen als die letzte Rhetorik des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Mit ihr geht die Rhetorik als Disziplin und als Schulfach an Gymnasien und höheren Schulwesen in der weiteren Folge des 18. Jahrhunderts langsam unter. Die Rhetorik wird ab der Jahrhundertmitte integriert in die aufkommende Ästhetik, die ‚schönen Wissenschaften‘, die um und nach 1750 zahlreich auf dem Buchmarkt erscheinen. In vielen dieser ‚schönen Wissenschaften‘ hat die Rhetorik einen systematischen Ort. In den Theoriewerken von Batteux bis Eschenburg und darüber hinaus finden sich regelmäßig Kapitel zu rhetorischen Themen, die einmal ausführlicher oder knapper gestaltet sein können. Unter der Rubrik ‚Rhetorik‘ finden sich allerdings kaum Erörterungen über die mündliche Rede, vielmehr wird die Rhetorik zu einer Theorie der schriftlichen Prosa (was natürlich pragmatische Textsorten, aber häufig auch den Roman einschließt). Fast immer ist diese Integration der Rhetorik verbunden mit ihrer gleichzeitigen Marginalisierung, die mal theoretisch mehr, mal weniger überzeugend begründet ist. In Charles Batteux’ ‚Les beaux-arts réduits à un même principe‘ (zuerst 1747; versch. Übersetzungen ins Deutsche) wird die Rhetorik mit der Architektur in eine Gruppe der Künste zusammengebracht. Beide haben es nach Batteux nicht ausschließlich mit Schönheit, sondern zusätzlich auch mit Nützlichkeit zu tun. Ein Gebäude muss nicht nur ansprechend, sondern auch funktional sein, ebenso die Rede. Damit werden Rhetorik und Baukunst einerseits in die Ästhetik integriert, dabei aber gleichzeitig als Randerscheinungen der Ästhetik marginalisiert. In Johann Joachim Eschenburgs ‚Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften‘, der 1783 erstmals erschien und bis ins 19. Jahrhundert aufgelegt wurde, findet sich ebenfalls ein ausführlicher Abschnitt über Rhetorik (neben Poetik und einem allgemeinen Teil), dieser enthält aber Abschnitte über den Brief, den Dialog und auch den Roman – für Eschenburg allesamt rhetorische Gattungen. Die mündliche Rede – eigentlich Zentrum der Rhetorik – wird nur am Schluss und
23 Das habe ich näher ausgeführt in: Dietmar Till: Rhetorik der Aufklärung – Aufklärung
der Rhetorik. In: Eric Achermann (Hg.): Johann Christoph Gottsched (1700–1766). Philosophie, Poetik und Wissenschaft. Berlin 2014 (= Werkprofile) S. 241–250.
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insgesamt sehr knapp abgehandelt. Auch hier liegt also eine Marginalisierung der Rhetorik vor. In den drei wichtigen ästhetiktheoretischen Entwürfen, die Mitte des 18. Jahrhunderts miteinander konkurrieren, hatte die Rhetorik eine insgesamt schwache Position. In Baumgartens Entwurf der Ästhetik als ‚sinnliche Erkenntnis‘ (cognitio sensitiva) erhält die Rhetorik eine unsichere Stellung, weil die entscheidende Schwelle zur Ästhetik ja die zwischen der Erkenntnis als extensiv klarer (also ästhetischer) und deutlicher (also der begrifflichen Erkenntnis) ist. Die Rhetorik partizipiert, wie Baumgarten etwa in seiner frühen Magisterschrift etwas näher ausführt, an beiden Erkenntnisstufen und hat infolgedessen keine klare Position in diesen graduell gedachten Stufen der Erkenntnis.24 In der Batteux’schen Nachahmungsästhetik wird, wie bereits ausgeführt, die Rhetorik – zusammen mit der Architektur – als Kunst, die zusätzlich eine Nutzanwendung hat, marginalisiert. Das ist eine Linie, wie sie sich dann auch in der idealistischen Kunstphilosophie des 19. Jahrhunderts findet, etwa bei Hegel und Friedrich Theodor Vischer.25 In der Ausdrucksästhetik schließlich, die 1751 von Johann Adolf Schlegel in Auseinandersetzung mit der Nachahmungsästhetik von Batteux formuliert wird, wird der ‚authentische‘ Ausdruck von Emotionen zum Kern der Ästhetik erklärt. Dieses Natürlichkeitsideal zählt ja zum Kern aufklärerischen Selbstverständnisses (manifest etwa in Knigges Invektiven gegen die Unehrlichkeit des Hoflebens).26 Allerdings wird damit zugleich ein rhetorisches Formulierungs- und Verhaltens ideal kritisiert. In der Rhetorik geht es ja immer um die kunstvoll kalkulierte und gegebenenfalls eben auch simulierte oder dissimulierte Affektdarstellung, mit der ein Redner seinem Anliegen Wirkungskraft verleihen möchte. Im Rahmen eines spezifisch bürgerlichen (gemeint hier als ideologische, nicht notwendig auch soziologische Kategorie) Aufrichtigkeitsideals erscheint die Rhetorik als das ‚Andere‘.
24 Das hat klar herausgearbeitet Heinrich Niehues-Pröbsting: Rhetorik und Ästhetik. In:
Rhetorik 18 (1999), S. 44–61.
25 Vgl. die Zusammenstellung der rhetorikkritischen Argumente in der philosophischen
Ästhetik bei Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800– 1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978 (= Münchner Universitätsschriften, Reihe der philosophischen Fakultät, Bd. 18), S. 189. 26 Paul Münch: Lebensformen in der frühen Neuzeit: 1500 bis 1800. Frankfurt a. M. 1992, S. 306.
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3. Rhetorische Anthropologie Rhetorik ist nicht nur eine Technik (im Sinne des Begriffs der techne) der Konzeption, Produktion und mündlich-körperlicher Aufführung der Rede, wie sie in den zahlreichen Lehrbüchern und Systemen der klassischen Rhetorik niedergelegt ist. Vielmehr stecken in den Theorien der Rhetorik auch Vorstellungen über die Natur des Menschen, über Werte und Modelle des Handelns und natürlich auch über Sprache. Rhetorikhistorisch ist das Konzept einer rhetorischen Anthropologie deswegen reizvoll, weil es ermöglicht, jenseits der Erzählung vom Aufstieg und Geltungsverlust der Disziplin Rhetorik eine weitere Erzählung zu formulieren. Diese würde weniger auf Rhetorik als auf das Rhetorische fokussieren: Letzteres würde als Konstante des Menschen bestimmt werden, gewissermaßen als ein Humanum, das transhistorisch gedacht ist (und vielleicht auch transkulturell, aber über die Frage der Kulturalität haben Theoretiker der rhetorischen Anthropologie bislang kaum nachgedacht). Bekannt ist Hans Blumenbergs Idee, die Notwendigkeit der Existenz der Rhetorik vom epistemologischen Mängelwesen ‚Mensch‘ aus zu bestimmen. Weil der Mensch keine absolute Wahrheit erkennen kann, braucht er im Sozialen die Rhetorik zum Aushandeln von Handlungsoptionen.27 Weniger bekannt, aber forschungsgeschichtlich weitaus einflussreicher war Klaus Dockhorns Idee einer rhetorischen Anthropologie, die dem Rationalismus der Philosophie einen Irrationalismus der Rhetorik an die Seite stellen möchte. Hierin steckt das letztlich auf der frühneuzeitlichen Rhetorik stammende Oppositionspaar von Logik/Rationalität und Rhetorik/Emotionalität. Dockhorn formulierte seine Ideen aus der Perspektive eines anglistischen Literarhistorikers in den 1940er Jahren. Bei der Analyse von Gedichten und poetologischen Texten des englischen Romantikers William Wordsworth erkannte er wiederkehrende Dispositionsschemata und Begriffe aus dem rhetorischen System. Dockhorn leitete daraus ein Konzept einer rhetorischen Anthropologie ab, deren irreduzibler Kern die Emotionalität des Menschen ist – und eben hier wird die Gegenüberstellung zur rationalistischen Philosophie im Sinne einer Auseinandersetzung Rationalität vs. Emotionalität deutlich. Dockhorns Arbeiten wurden in den 1960er Jahren ‚wiederentdeckt‘ und stark rezipiert, etwa bei Joachim Dyck in seiner wichtigen Studie zur barocken Poetik, ‚Ticht-Kunst‘ aus dem Jahr 1966. Noch das ‚Histo27 Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik.
In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104–136.
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rische Wörterbuch der Rhetorik‘ basiert in seiner Konzeption wesentlich auf Gedanken von Klaus Dockhorn.28 Liest man nun, 70 Jahre später, die Texte Dockhorns wieder, entsteht ein zwiespältiger Eindruck. Dockhorns Modell verspricht rhetorikhistorisch durchaus Erkenntnisgewinn, ist schlussendlich aber doch wenig konsistent. Ein Nachteil ist nämlich, dass Dockhorn kaum operationalisierbare Kategorien der Rhetorik historiographie bietet. Es handelt sich um einen dezidiert ideengeschichtlichen Ansatz, der sich, wie alle Ideengeschichten, für deren sozial- und disziplinengeschichtliche Verankerung kaum interessiert. Ein weiterer Nachteil des ideengeschichtlichen Ansatzes ist, dass die konkreten Modi der Weitertradierung und Fortentwicklung von Ideen nicht in den Blick genommen werden. Stattdessen dominiert das Moment der Kontinuität der von Arthur Lovejoy so genannten unit-ideas über die Jahrhunderte. Daraus entsteht eigentlich immer und automatisch die Idee einer starken Rhetorikgeschichte – ‚stark‘ in dem Sinne, dass sich die Geschichte der Rhetorik auch nach ihrem disziplinären Ende weitererzählen lässt. Das ist nur ein scheinbares Paradox. Die von Dockhorn herangezogenen rhetorischen Schemata sind sehr allgemein, ja nahezu universell – wie etwa das zentrale Schema der starken und schwachen Affekte, also pathos und ethos in der Tradition der römischen Rhetoriktheorie. Es bleibt zweifelhaft, inwiefern sich solche Allgemeinbegriffe als Grundlage für historische Rekonstruktionen eignen. Die Existenz einer rhetorischen Anthropologie selbst ist durchaus reizvoll, taugt als Theorie-Grundlage für eine Rhetorikgeschichte, die auch soziokulturelle Dimensionen mit einschließen möchte, sicherlich nicht. Dennoch ist es ein wesentliches Verdienst von Dockhorn, auf die zentrale Bedeutung der Emotionen in der frühneuzeitlichen Rhetorik hingewiesen zu haben. Blickt man etwa in das bereits erwähnte Rhetoriklehrbuch von Vossius aus dem 17. Jahrhundert, dann wird man sehen, dass man dort über Argumentation – oder das Enthymem als spezifisch rhetorische Argumentationsform – nichts oder fast nichts findet. Gerade das rhetorische Argumentieren hat man aber in kontemporären Rhetorikkonzepten wie etwa bei Josef Kopperschmidt29 und vielen anderen als Zentrum der Rhetorik angesehen. In der Frühen Neuzeit herrschte aber, wie bereits angedeutet, ein anderes Rhetorikverständnis. Zentrum der Rhetorik war die amplificatio, die textuellen Verfahren des ‚Steigerns‘ und Intensivierens eines per se mehr 28 Hierzu meine Ausführungen in Till: Transformationen (wie Anm. 3), S. 14 ff. 29 Vgl. z. B. Josef Kopperschmidt: Rhetorische Überzeugungsarbeit. Annäherung an eine
kulturelle Praxis. In: Renate Lachmann, Ricardo Nicolosi u. Susanne Strätling (Hg.): Rhetorik als kulturelle Praxis. München 2008, S. 15–30.
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oder weniger unstrittigen Sachverhaltes. Das Steigern hat eine wichtige emotionale Funktion – ebenso wie die rhetorischen Figuren im Wesentlichen dazu da sind, kalkuliert Emotionen im Publikum auszulösen. Das Wissen darüber ist im 20. Jahrhundert, in dem die rhetorische Figurenlehre stark von der Linguistik her neu begründet wurde, verloren gegangen. Auf die emotional-expressive Funktion der Figuren hat Brian Vickers in seinem wichtigen Buch ‚In Defence of Rhetoric‘ von 1989 hingewiesen.30
4. Anthropologisierung Anthropologie und System sind Schlagworte zur Beschreibung zweier Modi der Rekonstruktion der Rhetorikgeschichte. Diese zwei Modi sind zwar gegenläufig, aber doch vermittelbar. Hierzu führe ich einen dritten Begriff ein: Anthropologisierung. Er bezeichnet einen historischen Prozessbegriff, temporalisiert also zugleich die beiden statischen Ausgangsbegriffe von Anthropologie und System. Anthropologisierung beschreibt die Umstellung bestimmter Teile des rhetorischen System von einer auf Tradition beruhenden Beschreibung (nämlich der klassischen Tradition der Rhetorik) auf eine Beschreibung, die auf dem zeitgenössischen Wissen vom Menschen basiert und damit Ansprüche an Wissenschaftlichkeit einlöst, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert im Kontext des Aufstiegs empirisch arbeitender Wissenschaften erhoben wurden. Die französische Querelle des anciens et des modernes am Ende des 17. Jahrhunderts, die auch rhetorikhistorische vielfältige Wirkungen zeitigte, ist ja ein solcher Ausdruck einer Kritik am Gültigkeitsanspruch einer Tradition qua Tradition (also als Selbstbegründung). Eine solche Anthropologisierung der Rhetorik findet sich im Kontext des Cartesianismus des 17. Jahrhunderts.31 Deren wohl wichtigster Sprachtheoretiker ist der Oratorianermönch Bernard Lamy. Seine Schrift ‚De l’art de parler‘ ist 1676 zuerst anonym erschienen; sie wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in ganz Europa aufgelegt und teilweise auch in die einzelnen Nationalsprachen übersetzt. Bemerkenswert an Lamys Sprachtheorie ist seine Konzeptualisierung (Re-Konzeptualisierung) der rhetorischen Figurenlehre. Der Prozess der 30 Brian Vickers: In Defence of Rhetoric. Oxford 1988, S. 294 ff. (Kapitel ‚The Expressive
Function of Rhetorical Figures‘).
31 Zentral: Rudolf Behrens: Problematische Rhetorik. Studien zur französischen Theorie-
bildung der Affektrhetorik zwischen Cartesianismus und Frühaufklärung. München 1982 (= Reihe Rhetorik, Bd. 2); Ders.: Affektenlehre (3. Frankreich). In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 235–239.
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nthropologisierung spielt sich also im Bereich der elocutio ab. Eine vergleichA bare Entwicklung lässt sich auch im Bereich der inventio studieren, hier an der Kritik der Topik, die ebenfalls im 17. Jahrhundert stattfindet. Statt der inventio aus rhetorischen Topoi propagieren die Rhetoriker der Frühaufklärung (wenn man nun die Entwicklung in Deutschland betrachtet) die philosophische meditatio, also das mehr oder weniger freie, eigenständige Nachdenken oder Räsonieren über den Redegegenstand. Der Effekt ist eine Umstellung von der externalisierten inventio in Form von Exzerptsammlungen und Kollektaneensammlungen (materiale Topik) auf eine internalisierte inventio, bei welcher der Redner dann entsprechende Geistesfertigkeiten (vielfach werden diese dann im Kontext der klassischen Temperamentenlehre verhandelt) haben muss, wenn er die richtigen Argumente finden will.32 Lamys Werk ist in vier Bücher untergliedert:33 Die ersten drei nennt er selbst die ‚Kunst zu reden‘, das vierte, die ‚Kunst zu überzeugen‘; Buch I–III enthalten allgemeine sprachtheoretische Überlegungen, Reflexionen über die Figuren und Tropen sowie den Wohlklang der Sprache. Zentral sind bei Lamy die Emotionen. Sie sind das Zentrum der Beredsamkeit, wie er in Buch IV ausführt, sie stellen die eigentlichen Beweggründe dar, das Handeln der Menschen zu beeinflussen. Hier zeigt sich zugleich eine epochentypische Einsicht, die auch im 18. Jahrhundert gelten wird, nämlich die von der Ohnmacht der Logik: Das Argument führt nicht unbedingt zum Handeln, eine Abhandlung über Ethik bewirkt nicht notwendig (sondern eher selten) ethisches Handeln. Bei Lamy heißt das so: Die Menschen kann man nur durch die Bewegung der Leidenschafften würken lassen. Ein ieder wird von der Wichtigkeit der Liebe eingenommen, und man folgt dem, was mehr vergnügt. [...] Einem Geitzigen wird man niemals von der Neigung zu Gold und Silber als durch die Hoffnung zu andern weit grössern Reichthümern abwendig machen.34
32 Vgl. Till: Transformationen (wie Anm. 3), S. 340 ff. 33 Im Folgenden wird nach diesem Nachdruck zitiert: Bernard Lamy: De l’art de parler/
Kunst zu reden. Hg. von Ernstpeter Ruhe. Mit einem einleitenden Essay von Rudolf Behrens. München 1980 (= Reihe Rhetorik, Bd. 1). Die Ausgabe druckt parallel die Ausgabe Paris 1676 und die (recht zuverlässige) deutsche Übersetzung Altenburg 1751 ab. – Vgl. auch die kritische Ausgabe: Bernard Lamy: La rhétorique ou l’art de parler. Ed. critique avec introduction et notes par Christine Noille-Clauzade. Paris 1998 (= Sources classiques, Bd. 7). 34 Lamy: Kunst (wie Anm. 33), S. 226.
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Zentral sind dann die sprachtheoretischen Überlegungen in Buch II, die in gewisser Weise systematisch an die Postulate von Buch IV anknüpfen. Hier führt Lamy zwei sprachtheoretische Zentralbegriffe ein, nämlich ‚Hauptidee‘ und ‚Assozia tionsidee‘: Ersteres ist eine Definition der Sache, die damit ausgedrückt wird, während letzterer Begriff die damit verbundenen, eben assoziierten Konzepte meint, die ganz häufig emotionaler bzw. ethischer Natur sind. Drückt nun ein Sprecher seine Emotionen unbewusst aus (also ohne jedes rhetorische Kalkül), dann sind es diese assoziierten Ideen, welche die Affekte ausdrücken und transportieren. Bei Lamy heißt es: „Die Leidenschaften haben eine besondere Sprache. Die Ausdrücke, welche die Kennzeichen der Leidenschaften sind, werden Figuren genannt.“35 Dieser Leidenschaftsausdruck wird dabei radikal vom Körper her gedacht: Denn die Leidenschaften, die sich in der Sprache unmittelbar abbilden, repräsentieren die körperlichen Emotionen des Sprechers unvermittelt und unverstellt. Diese Form der Entäußerung des Inneren in der Sprache wird von Lamy mit der Mimik des Menschen in Analogie gesetzt: Wie die Gesichtszüge des Menschen dessen Inneres repräsentieren und eben auch verraten, so auch die figurale Struktur menschlicher Rede: Die Leidenschafften mahlen sich, wie wir gesagt haben, von selbsten in den Augen und Worten ab. Die Ausdrücke des Zorns und der Frölichkeit können einander nicht ähnlich seyn: diese Leidenschafften haben unterschiedene Kennzeichen.36
Lamy arbeitet im weiteren Verlauf eine ganze Reihe von rhetorischen Figuren ab. Deren Ordnung bestimmt sich durch den Affekt-Grad, der sie auslöst und den sie repräsentieren. Die exclamatio, also der Ausruf, bildet dabei den Anfang, denn: „Der Ausruf muß [...] zuerst gesetzt werden, weil in der Rede die Leidenschafften durch ihn zu erst kenntlich werden.“37 Was bedeutet Lamys Theorie der figuralen Körper-Expression nun für die Geschichte der Rhetorik? Lamy ist eine ganz entscheidende Figur im Übergang vom rhetorischen System, den Lehrbüchern und einem stabilen disziplinären Kontext in dem diese Lehrbücher Verwendung fanden, zu einer rhetorischen Anthropologie. Diesen Prozess bezeichne ich als Anthropologisierung der Rhetorik, denn er findet zunächst ganz überwiegend im Rahmen der System-Rhetorik
35 Ebd., S. 108. 36 Ebd., S. 109. 37 Ebd., S. 86.
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statt, also innerhalb der systematischen Lehrbücher. Lamy selbst setzt sich in Opposition zur Schulrhetorik, deren Beherrschung er für wirkungslos hält: Obgleich die Lehrer der Rhetorik einerley unter der Kunst zu reden und der Kunst zu überreden verstehen, weil sie das Wort Rhetorik für das andere setzen; so kann man nichts destoweniger behaupten, daß zwischen beyden ein beträchtlicher Unterscheid sey. Alle diejenigen, welche beredt reden, wissen das Geheimniß nicht, die Herzen zu gewinnen und die auf seine Meynung zu ziehen, die davon entfernet sind, das nennt man überreden.38
Nicht alle Rhetoriktheoretiker sind so radikal wie Lamy, vielmehr versuchen gerade die Theoretiker der 1720er bis 1740er Jahre Elemente dieser anthropologischen Spielart in das System zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist Johann Andreas Fabricius mit seiner ‚Philosophischen Oratorie‘ von 1724, der Lamy kaum weniger häufig zitiert als Cicero und Quintilian.39 Eine ähnliche Argumentation verfolgt Gottsched in der ‚Critischen Dichtkunst‘ (zuerst 1729/39), wo er die rhetorischen Figuren in der systematischen Reihung von Lamy abhandelt. In der ‚Ausführlichen Redekunst‘ (1736) bezieht er sich auf einen berühmten Vergleich aus Quintilians ‚Institutio oratoria‘ (Inst. orat. IX ,1,1 f.), den er im Sinne der rhetorischen Anthropologie umdeutet. Gemeint ist der Fechter-Vergleich aus dem 9. Buch der ‚Institutio oratoria‘. Gottsched liefert davon folgende Interpretation, die sich ganz derjenigen von Lamy anschließt: Es ist aber nicht zu sagen, was eine Rede voller Figuren für ein Feuer in sich hat, und was für eine Stärke und Gewalt über die Gemüther sie dadurch erhält. Wie ein Fechter der in Lebensgefahr ist, nicht mit starrem Leibe ganz unbeweglich da steht, und dem Feinde seinen Degen vorhält; sondern sich bald beuget, bald aufrichtet, bald vorwerts dringet, bald rückwerts zieht; den Kopf senket, oder erhebt, die Hand vorwirft, oder wegschleudert u. s. w.: So ist die Seele auch beschäftiget, wenn sie in einer Leidenschaft steht. Und wie jener eben durch die geschickten Stellungen seinem Gegner viel zu schaffen macht, ja durch die Menge und Behendigkeit derselben ihn oft gar überwältiget: So kan auch ein Redner durch die heftigen Figuren der Rede seine Zuhörer schrecken, betrüben, erfreuen, erzürnen, und ihnen ihren Beyfall recht abdringen.40
38 Ebd., S. 209. 39 Hierzu Till: Transformationen (wie Anm. 3), S. 357 ff. 40 Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736, S. 274.
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Und auch in der ‚Ausführlichen Redekunst‘ findet sich, wie bei Lamy, die Analogisierung von Mimik und Figuralität. Wie sich die Emotionen in Gesichtsbewegungen äußern, so auch in figuralen Strukturen: Ein ruhiges Gemüthe zeiget sich durch eine ordentliche Stellung des Antlitzes. Aber ein fröhliches, trauriges, zorniges, hönisches, neidisches, mitleidiges, u. f. w. malet sich auch in den Minen ganz sichtbarlich ab. Wie sich nun geschickte Maler bemühen müssen, diese verschiedenen Züge, die jeder Leidenschaft eigen sind, zu kennen und nachzuahmen. So muß sich auch ein Redner bestreben, die Charactere der Gemüthsbewegungen in einer Rede wahrzunehmen, und selbst bey Gelegenheit auszudrücken. Und lehret uns gleich die Natur selbst alle diese Arten, seinen Affect zu verstehen zu geben; indem auch die Unstudirten dieselben ungelernt brauchen: so ist es doch deswegen nicht unnütz, in der Redekunst davon zu handeln.41
Was ist das Ergebnis dieses Prozesses? Auch wenn Gottsched am Ende des Zitates etwas anderes sagt: Schlussendlich braucht der Redner die rhetorische Kunst, die ars rhetorica, nicht mehr zu beherrschen. Auch der Unterricht in der Beredsamkeit, wie er den Lehrplan des Abendlandes prägte, wird überflüssig. Es genügt allein der authentische Affekt-Ausdruck, der wirkungsvolle Figuren hervorbringt, um als Redner erfolgreich zu sein. Zwischen Affekt und Ausdruck hatte die klassische Rhetorik eine Zwischenebene eingeschoben, eben die ars rhetorica.42 Die Grundauffassung der Rhetorik als Kunst/Kunstlehre war, dass der Affektausdruck nicht unreguliert sein sollte, sondern im Gegenteil, veredelt und kalkuliert. Bei der Behandlung der rhetorischen Figur der exclamatio merkt Quintilian an (Inst. or. IX ,3,97), dass er nicht alle Ausrufe als rhetorische Figur gelten lassen wollte, sondern ganz explizit nur diejenigen, die arte composita seien, also kunstvoll ausgeführt (Inst. or. IX ,2,26– 27). Das ist eben die veredelnde, kultivierende Kraft der rhetorischen Kunst. Nicht umsonst sind bei allen artes Metaphern aus dem Bereich des Handwerks gängig, Metaphern des Feilens, Schleifens, Glättens usw. Lamys Figurenkonzeption dagegen geht genau in die andere Richtung. Affektausdruck ist genau nicht Sache rhetorischer Kunst, sondern einer entsprechenden Körper-Disposition. Die rhetorische Kunst braucht es nicht, ja sie ist sogar – der Gedanke findet sich bei Lamy nicht, wird aber den Natürlichkeitsdiskurs des 41 Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. 5. Auflage. Leipzig 1759. 42 Vgl. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im
17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 107).
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18. Jahrhunderts dominieren – schädlich, denn sie ist unauthentisch und sogar unaufrichtig. Hier setzt dann nicht zuletzt die Ausdrucksästhetik wieder an. Mit Lamys Anthropologisierung der Rhetorik ist die alte Vorstellung von der Rhetorik als ars, als Kunst oder Kunstlehre, theoretisch erledigt. Es dauert dann allerdings noch fast ein Jahrhundert, bis auch das umgesetzt ist. Schlussendlich bilden Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen von 1873/74 mit dem berühmten Diktum „die Sprache ist Rhetorik“43 in gewisser Weise den Endpunkt dieser theoriegeschichtlichen Entwicklung. Es wäre eines der Desiderate der rhetorikgeschichtlichen Forschung, einmal diese Entwicklung in Sprachtheorie, Sprachphilosophie und Stilistik zu rekonstruieren.
5. Schluss (und Hamann) Wie steht nun Hamann in der von mir skizzierten Entwicklung? Hamann hat keine Rhetorik im Sinne eines Rhetoriklehrbuches geschrieben, auch keinen systematischen Beitrag verfasst, der sich dezidiert einem rhetorischen Problem oder Begriff widmet – anders als viele seiner Zeitgenossen, etwa Wieland und Herder. Rhetorische Begriffe werden aber von Hamann verwendet, allein in der ‚Aesthaetica in nuce‘ etwa Paranomasie, Archaismus, Hyperbel, Prosopopoiia. Klar ist aber auch, dass die Weiterentwicklung rhetorischer Theorien nicht Hamanns eigentliche Intention war. Vielmehr liegt hier eine spezifische Form der auch gar nicht direkten, sondern anverwandelnden und vielfach fragmentierten Rhetorikrezeption vor, die sich auf einzelne Begriffe oder auch Referenzen auf einzelne Theoretiker, die schließlich oft gar nicht als solche markiert werden, beschränkt sind. Vielfach ist offensichtlich der Einfluss der zeitgenössischen Ästhetik, etwa der Sinnlichkeitsästhetik Baumgartens und der Nachahmungs ästhetik von Batteux (beide spielen eine Rolle etwa in der ‚Aesthaetica in nuce‘) doch stärker als derjenige der klassischen Rhetorik, also von Aristoteles, Cicero oder Quintilian, die Hamann aufgrund seines Bildungshintergrundes natürlich kennt. Gedanken, die denen Lamys ganz ähnlich sind, finden sich etwa im ‚Versuch über eine akademische Frage‘ von 1760, und hier rezipiert Hamann, vermittelt über Samuel Werenfels, wohl auch Gedankengut der cartesianischen Sprachtheorie. Die Frage, welche Bedeutung die Rhetorik für Hamann hat ist die, die 43 Friedrich Nietzsche: Darstellung der antiken Rhetorik. In: Fritz Bornmann, Mario Car-
pitella (Hg.): Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72 – WS 1874/75). Berlin, New York 1995 (= Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. II .4), S. 413–502, hier S. 426.
Anthropologisierung der Rhetorik
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sich im Grunde für viele Theoretiker seiner Generation stellt. Rhetorik war im Schulwesen oft noch Bildungsgut (das variiert regional sehr), aber im Grunde waren es für die Generation um 1760 andere Theorien, die spannender waren. Lessing hat auch keine Rhetorik verfasst, aber etwa über körperliche Beredsamkeit nachgedacht und dafür auf antike Quellen zurückgegriffen, Herder stellt sich die Frage, ob wir noch deutsche Ciceronen haben und handelt aber eigentlich über die Predigt,44 Wieland integriert die Rhetorik in seine Zürcher Privatvorlesungen über schöne Wissenschaften, aber nicht aus einem systematischen Interesse, sondern aus einem primär pragmatischen. Es ist für die Generation, wäre meine These, durchaus charakteristisch, dass man die antiken Theoretiker kennt, aber zu einer Erneuerung der antiken Rhetorik ist es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr gekommen. Nicht zuletzt standen mit den verschiedenen ästhetischen Theorien, der intensiven Rezeption französischer und britischer Deuter auch vielleicht spannendere Paradigmen bereit als die antike Rhetorik, die nicht zuletzt durch die Real-Praxis des Schulunterrichts schon im 17. Jahrhundert in einen gewissen Misskredit gekommen war. Eine Wiederentdeckung etwa Quintilians und Ciceros gab es im 18. Jahrhundert nicht, wohl aber eine emphatische Wiederentdeckung Platons, und insgesamt mehr Interesse am Dialog, also am sokratischen Gespräch, als an der monologischen, mündlichen Rede, die doch mehr oder weniger ein Auslaufmodell war. Erst die politischen Umwälzungen der Französischen Revolution, die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und der entstehende Parlamentarismus in Deutschland sollten dies ändern.
44 Dietmar Till: „Haben wir deutsche Ciceronen?“ Auseinandersetzungen über die Moder-
nität der antiken Rhetorik (J. M. Heinze, Th. Abbt, Herder). In: Ralf Simon (Hg.): Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2014, S. 19–32.
II. Stil
Anja Kalkbrenner (Münster) „Schullehrer“, „Ritter“, und „Chineser“: Persona und modus persuadendi bei Hamann
Hamanns ausgeprägte Vorliebe für Pseudonyme ist sowohl von seinen Zeitgenossen als auch in der Forschung bemerkt und kommentiert worden. So zählt Kreutzfeld in seinem Gedicht zum Geburtstag des Magus im Jahr 1777 nur einige seiner ‚Eckelnamen‘ auf, deren schiere Anzahl sogar die der Namen des Bacchus übertreffe: Freund, Sokrates, Mien Hoam, Magus – Ein andrer mag die Eckelnamen, Die Du Dir wähltest allzusammen Herzählen. Kaum ist Vater Bachus, Der doch viel Synonymen hat, So namenreich – Sybilla Patriarcha, Sauvage du Nord und Telonarcha, Und viele Namen mit der That, Von Rosenkreuz, Aristobul und Tante Abigail, Hierophante, Zachäus – Welcher unter diesen Für dich den meisten Wohllaut hat? Den magst Du selber Dir erkiesen!1
Fechner hebt in seiner wichtigen Analyse des Selbstgespräch eines Autors mehrfach die „Lust des Autors an personalen Masken“2 hervor, die beim Entschlüsseln zu einem Lusterlebnis für den Leser werde. 1 Johann Gottlieb Kreutzfeld: An Herrn Johann George Hamann, à son Logis. In: Johann
Georg Hamann. 1730–1788. Quellen und Forschungen. Hg. von Renate Knoll. Bonn 1988, S. 49. 2 Jörg-Ulrich Fechner: MIEN MAN HOAM . Philologischer Steckbrief zu einem Pseudonym oder die Lust des Autors an der Maske. In: Oswald Bayer (Hg.): Insel-Almanach auf das Jahr 1988. Frankfurt a. M. 1987, S. 151.
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Welche Funktion aber erfüllen diese verschiedenen Selbstbezeichnungen bei einem Autor, der sich leidenschaftlich und polemisch für seine Weltsicht einsetzt, der zu Recht als „unermüdliche[r] Streiter“3 bezeichnet werden kann? Hamanns Selbstbenennungen sind oftmals keine bloßen ‚Schreibnamen‘, die das Verweisen auf sich selbst als reale Person und Urheber seiner Texte erschweren sollten. Im Gegenteil: Der Magus entwickelt seine höchst eigenen, selbst gegebenen Namen zu Figuren, zu personae weiter, um sich neben der Argumente auch personenbezogener Wirkungsmittel bedienen zu können. In der Rhetorik bezeichnet persona „eine Entität […], die in einer Rede vorkommt“ und dort unter anderem als „vortragender Redner bzw. als Autor“4 erscheinen kann. In der Neuen Apologie des Buchstaben h, im Ritter von Rosencreuz und im Selbstgespräch eines Autors finden wir verschiedene Spielarten, wie Hamann eine solche persona erfindet und zu funktionalisieren weiß. In der Neuen Apologie präsentiert sich die auf dem Titelblatt als „H.S.Schullehrer“ eingeführte Figur selbst dem Leser, indem sie sich direkt an ihn wendet und dabei einiges über sich selbst preisgibt. Im Ritter von Rosencreuz wird der Ritter als Autor erst durch die Übersetzung seines Handlangers, also vermittels eines anderen dargestellt. Im Selbstgespräch hingegen macht Hamann seine Motivation dafür, als Mien Man Hoam aufzutreten, explizit und lässt erst danach diese Figur sich darstellen.
1. Das ethos in der rhetorischen Tradition Wie lässt sich diese Eigenheit der Hamannschen Schreibweise nun in der Tradition der Rhetorik situieren? Vor allem Aristoteles hat die Art und Weise, wie ein Redner durch seine eigene Person überzeugen5 kann, systematisch betrachtet. Dabei kommt es darauf an, sich durch seine Redeweise den Hörern als glaubwürdig zu erweisen. Ein Redner kann durch sein ethos überzeugen, „whenever the speech is spoken in such a way as to make the speaker worthy of credence“,
3 Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns „Metakritik“ in naturrechtlicher Hin-
sicht. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 46 (2004), S. 72.
4 B. Schouler, Y. Boriaud: Art. „Persona.“ In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg.
von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 789.
5 Das griechische Verb πειθω beinhaltet sowohl ‚überzeugen‘ als auch ‚überreden‘. Siehe
dazu: Walter Mesch: Art. „Überredung/Überzeugung.“ In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 2009, Sp. 858–870.
Persona und modus persuadendi bei Hamann
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weil gerade das ethos „the controlling factor in persuasion“6 sei. Gegenüber den anderen beiden Überzeugungsmittel, nämlich den Argumenten und den bei den Hörern hervorgerufenen Emotionen kommt dem ethos also eine herausragende Bedeutung zu. Aristoteles betont nun, dass das ethos als Überzeugungsmittel in der Kunst der Rhetorik selbst begründet ist. Was ist damit gemeint und wie soll und kann es eingesetzt werden? Zunächst ist es wichtig, uns die Bedeutungen des griechischen ηθος zu vergegenwärtigen, die von „Aufenthaltsort“ über „Gewohnheit, Brauch, Sitte“ bis zu „Charakter, Denkweise, Sinnesart“ reichen. Es handelt sich um konstant bleibende Eigenschaften, die zwar eine Einzelperson charakterisieren können, dabei aber eher auf das Verbindende mit anderen Menschen und nicht so sehr auf das ganz individuell Eigene abzielen. Schließlich wurde der Einzelne in der Antike vorwiegend von seiner Zugehörigkeit her definiert. Der Wortbedeutung nach bezeichnet ηθος also dasjenige in der Lebens-, Denk-, und Handlungsweise eines Menschen, was als habituell und als typisch beschrieben werden kann. Markus H. Wörner macht in seiner Studie zur Rhetorik des Aristoteles deutlich, dass es sich beim rhetorisch relevanten ethos um etwas anderes handelt, als es unser heutiger Begriff des Charakters beinhaltet. Individuelle Eigenschaften „überzeugen erst dann, wenn sie kognitiv, affektiv oder sittlich Verbindliches zutage treten lassen, mit dem sich der Zuhörer identifizieren kann.“7 Es muß also einem Redner darum zutun sein, „als Mensch bestimmter Art aufgefaßt zu werden.“8 Dies gelingt, indem der Redner durch rhetorische Mittel sein ethos im Sprechen hervorbringt. Aristoteles grenzt dieses ηθος του λεγοντος deutlich von der charakterlichen Beschaffenheit des Redners vor und ‚außerhalb‘ der Redesituation ab: But since rhetoric is concerned with making a judgement […], it is necessary not only to look to the argument, that it may be demonstrative and persuasive but also [for the speaker] to construct a view of himself as a certain kind of person and to prepare the judge; for it makes much difference in regard to persuasion […] that the speaker seem to be a certain kind of person and that his hearers suppose him to be disposed toward them in a certain way […].9 6 Aristoteles: Rhetorik 1356 a. In: Aristotle on Rhetoric. A Theory of Civic Discourse.
Newly translated with Introduction, Notes, and Appendixes by George A. Kennedy. Oxford 1991, S. 38. 7 Markus H. Wörner: Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles. München 1990 (= Alber Reihe Praktische Philosophie, Bd. 33), S. 328. 8 Ebd., S. 329. 9 Aristoteles: Rhetorik 1377 b. In: Aristotle on Rhetoric (wie Anm. 6), S. 120.
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Auch wenn sich ein Redner auf Annahmen der Hörer über ihn bezieht10, geht es dabei immer darum, wie Überzeugung allein durch das Sprechen und sprachliche Mittel erreicht werden kann. Jakob Wisse definiert das Aristotelische ethos daher als „the element of speech that presents the speaker as trustworthy“11 und betont seine besondere Relevanz für den Gegenstandsbereich der Rhetorik. Bei all den Themen, über die Gewissheit nur schwer zu erlangen ist, müsse sich das Publikum auf seinen Eindruck von der Verlässlichkeit des Redners verlassen.12 Ein Redner muss also im Vorhinein gut überlegen, welche seiner Eigenschaften er wie darstellt. Daher sieht Aristoteles das ethos als einen Teil der inventio, dem Vorbereitungsstadium der Rede, an.13 Damit ist über den Inhalt des ethos noch nicht viel gesagt. Welche Eigenschaften sind es, die dem Redner von Nutzen sind und die er daher beim Sprechen erkennen lassen muss? Aristoteles nennt drei Gründe für die Glaubwürdigkeit des Redners, nämlich φρονησις, αρετη und ευνοια. Einsicht oder Klugheit, eine moralisch konnotierte Tüchtigkeit und Wohlwollen sollen vor Irrtum schützen und den Redner als einen Menschen ausweisen, der weder aus mangelndem Denkvermögen noch aus moralischer Schlechtigkeit heraus zu etwas Falschem rät. Das Aristotelische ethos umfasst also geistig-intellektuelle, moralische und emotionale Qualitäten. Dabei kommt es nicht auf Sympathieerweckung an,14 sondern auf den Eindruck der Verlässlichkeit im Urteil, der durch die genannten Eigenschaften entstehen soll.
2. Hamanns Überlegungen zu ethos und decorum Für Hamann ist die Verquickung von redeimmanenten und personenbezogenen Überzeugungsgründen wichtig – gerade auch weil sie zu seiner Situation als Autor seiner Zeit passt. Denn jemand, der sich Gehör und Ansehen erst verschaffen und oftmals auch erkämpfen muss, jemand, dem die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Denkern fehlt, für den ist der Denkansatz der Aristotelischen Tradition ganz
10 Aristoteles: Rhetorik 1417 a. In: Aristotle on Rhetoric (wie Anm. 6), S. 155. 11 Jakob Wisse: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero. Amsterdam 1989, S. 32–33. 12 Ebd., S. 247. 13 James S. Baumlin: Art. „Ethos.“ In: Encyclopedia of Rhetoric. Hg. von Thomas O.
Sloane. Oxford 2001, S. 265.
14 Wisse: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero (wie Anm. 11), S. 33.
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besonders passend.15 Aristoteles legt sein Augenmerk ja darauf, wie ein Redner unabhängig von seinem Bekanntheitsgrad und seinem Ruf allein aus der eigenen Person heraus eine Wirkung entfalten kann.16 Der oftmals hochgradig polemische Charakter Hamann’scher Texte wirft jedoch die Frage auf, ob ihr Autor nicht eher im heutigen Sinne überreden als überzeugen will. Trachtet er nicht viel eher danach, seine Leser emotional zu beeinflussen als sie durch eine sachliche Argumentation zu einer anderen Einsicht zu leiten? Es ist m. E. nicht sinnvoll, eine strikte Trennung von ‚Überredung‘ und ‚Überzeugung‘ als Leser an Hamanns Texte heranzutragen und dies aus zwei Gründen: Erstens würde eine solche Haltung den Umstand verkennen, dass für Hamann immer die ganze Person17 an einem Meinungsbildungsprozess beteiligt ist und es eben deshalb kein ‚reines Denken‘ gibt, an das ein Schriftsteller appellieren könnte. Zweitens fordert Hamanns Sprachdenken, sein unermüdliches Insistieren darauf, dass es kein Denken ohne Sprache gibt18 – wobei mit ‚Sprache‘ natürlich hier immer eine konkrete Sprache mit all ihren Besonderheiten gemeint ist – geradezu dazu auf, ihn als Gegner einer philosophischen Rhetorikkritik zu sehen, die sich als ethische „Kontrollinstanz“19 gegenüber der Rhetorik begreift. Die Überlegung, dass gerade auch „philosophische Erkenntnis […] überzeugend sein [muß], wenn sie erfolgreich zu vermitteln sein soll“20 und
15 Zu Hamanns Position in der zeitgenössischen Königsberger Gesellschaft siehe detail-
liert: Ildikó Pataky: Privatperson im öffentlichen Dienst, oder die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem in Hamanns Leben und Schriften. In: Acta 2006, 35–40. 16 In seinem Brief an Lindner vom 20. 6. 1761 erwähnt Hamann seinen Vorsatz, die Rhetorik des Aristoteles zu lesen: „Heute, Gottlob! die Woche mit […] den politischen Büchern des Aristoteles zu Ende; nun komt die Rhetoric, Poesie und Metaphysik.“ (ZH II , 93). Damit, dass Hamann also diese Schrift gelesen haben könnte, soll nun keineswegs behauptet werden, er verfahre als Autor ‚aristotelisch‘ – wohl aber, dass er seine personae in Auseinandersetzung mit der auf Aristoteles zurückgehenden Verwendungsweise des rhetorischen ethos entwickelt. 17 Zu Hamanns Vorstellung des ‚ganzen Menschen‘ im Spannungsfeld von Sinnlichkeit, Vernunft und der existentiellen Erfahrung seiner selbst als Geschöpf Gottes siehe: Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 30 (1988), S. 230–234. 18 Siehe dazu: Johannes von Lüpke: Ohne Sprache keine Vernunft. Eine Einführung in das Sprachdenken Johann Georg Hamanns. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 46 (2004), S. 1–25. 19 Mesch: Art. „Überredung/Überzeugung“ (wie Anm. 5), Sp. 860. 20 Ebd., Sp. 860.
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dass man daher von einer „rhetorischen Dimension der Philosophie“21 sprechen muss, hätte Hamann bestimmt unterschrieben.22 Mit modus persuadendi ist daher die wertneutrale Eigenschaft der Rhetorik als die Kunst gemeint, mit Hilfe derer ein Autor Wirkung entfaltet und dabei sowohl – und oftmals untrennbar voneinander – zu überzeugen als auch zu überreden sucht. Hamann nutzt nun die durch die aristotelische Rhetoriktradition vermittelten Überlegungen zum ethos auf eine für ihn typische, nämlich sehr eigene Art und Weise: Er stellt nicht einfach sich auf eine bestimmte vorteilhafte Weise dar, sondern er erschafft Figuren, deren ethos so beschaffen ist, dass es die argumentative Stoßrichtung seiner Texte verstärkt. Dabei hat er sich schon sehr früh Gedanken über die Bedeutung des ethos gemacht. Wie Eric Achermann gezeigt hat, baut Hamann zwischen den drei modi persuadendi eine Hierarchie auf: „Der logos oder das Argument ist abhängig von pathos oder affectio und beide vom ethos oder decorum, d. h. der Angemessenheit der Rede an Sprecher, Sache und Hörer.“23 Bemerkenswert ist hier die Vorrangstellung, die das ethos in Hamanns Rhetorikauffassung genießt. Ohne das sprachliche in Erscheinung Treten des Redners als Person können weder Argumente noch Leidenschaften eine Wirkung entfalten. Das ethos wird mit dem decorum identifiziert24, weil ein Redner sich nicht nur an der Thematik und dem Adressatenkreis zu orientieren hat, sondern gerade auch seine eigene Person berücksichtigen muss, wenn er Überzeugungskraft entfalten möchte. Was bedeutet in diesem Kontext das decorum? Wenn es zu einem „Leitbegriff allen sprachlichen Handelns“25 avanciert, ist es etwas, das ein Redner aktiv verwirklichen muss und nicht nur etwas, das es passiv zu befolgen gilt. Was kann das aber heißen bei einem Autor, für den, wie Janina Reibold gezeigt hat, „ein guter Stil Ausdruck der Individualität (Proprium) des Schreibenden“26 ist? Johannes 21 Ebd., Sp. 861. 22 Vgl. dazu Hamanns Brief an Jacobi vom 1. 12. 1784: „Daher ich beynahe vermuthe, daß
unsere ganze Philosophie mehr aus Sprache als Vernunft besteht, und die Misverständniße unzähliger Wörter, die Prosopopöee der willkührlichsten Abstractionen, die Antithesen της ψευδωνυμου γνωσεως, ja selbst die gemeinsten Redefiguren des Sensus communis haben eine ganze Welt von Fragen hervorgebracht, die eben mit so wenig Grund aufgeworfen, als beantwortet werden.“ (ZH V, 272,5–10). 23 Eric Achermann: Schema und Kabbala. Hamanns Geschichte von Anfang und Ende. In: Acta 2015, 246. 24 Ebd., S. 239. 25 Ebd., S. 239. 26 Janina Reibold: „Proper words.“ Zu einer Fehllesung in den edierten Schriften Johann Georg Hamanns. In: Textkritische Beiträge 13 (2012), S. 175.
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von Lüpke betont, dass Hamanns Aufwertung der Individualität in seinen theologischen Auffassungen begründet ist.27 Ist „das höchste Wesen […] im eigentlichen Verstand ein Individuum“28, der Mensch als Kreatur aber das Ebenbild dieses Wesens, dann muss dies Konsequenzen für die Vorstellung von menschlicher Autorschaft haben. Wenn Gott sprechend die Welt hervorbringt und Hamann ihn daher den „Poeten vom Anfang“29 nennt, ist es den menschlichen Poeten aufgegeben, sich um eine „imitatio der absoluten“30, nämlich der göttlichen Poesie zu bemühen. Und ein wichtiger Aspekt einer solchen imitatio ist es, schreibend seine eigene Individualität sichtbar und lesbar zu machen, denn durch diese Individualität vor allem hat der Mensch, hier der Autor, an der göttlichen Natur Anteil. Im Hinblick auf dieses theologische Individualitätskonzept lässt sich nun Hamanns Unterscheidung von zwei verschiedenen Arten des decorum, einem ‚höchsten‘ und einem ‚subordinierten‘, besser erklären: Das höchste Decorum besteht öfters in Beleidigung des subordinirten; und Convenance bricht öfters die feyerlichsten Conventions. Da meine Nächsten schon einmal unter sich einig geworden jeden Zug der Wahrheit, der mir entfährt, eine Beleidigung zu nennen, und das Recht Dingen Nahmen zu geben ein praerogativ der menschlichen Natur ist, das eben so wie das Regale Münzen zu schlagen geschändet wird: so muß ich schon diese Schwachheit so gut ich kann tragen, und mich in selbige zu schicken wissen. Der größte Liebesdienst den man seinem Nächsten thun kann, ist ihn zu warnen, zu bestrafen, zu erinnern, sein Schutzengel, sein Hüter zu seyn; diesen Kreutzzug hält nicht jeder Ritter aus.31
Das ‚höchste decorum‘ wird hier der ‚convenance‘32, das untergeordnete hingegen den Konventionen zugeordnet. Konventionen zu brechen ist demnach nicht 27 Johannes von Lüpke: Ohne Sprache keine Vernunft (wie Anm. 17), S. 10. 28 Brief an Johann Gottlieb Steudel am 4.5.1788 (ZH VII , 460,3–6). 29 Joachim Ringleben: Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos. In: Johann
Georg Hamann. „Der hellste Kopf seiner Zeit“. Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 39. 30 Ebd., S. 42. 31 An Johann Gotthelf Lindner am 21. 3. 1761 (ZH II , 71,7–16). 32 Die Briefstelle gibt keinen klaren Aufschluss über die von Hamann intendierte Bedeutung von ‚convenance‘. Übersetzt man es mit ‚Anstand‘ oder ‚Schicklichkeit‘, so steht es in enger Beziehung zum decorum. Die Opposition zu ‚conventions‘ ergibt sich daraus, dass ‚convenance‘ erstens nicht die Fiktion einer vertraglichen Übereinkunft beinhaltet und zweitens ein personenbezogener Begriff ist. So zeigt das in der Encyclopédie genannte Beispiel, dass ein Beachten der ‚convenance‘ Rücksichtnahme auf die Spezi-
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gleichbedeutend mit einer Missachtung des decorum, sondern dient dazu das ‚höchste decorum‘, welches über den Konventionen steht, zu achten. Das ‚höchste decorum‘ bezieht sich auf das theologisch untermauerte Individualitätskonzept, welches den göttlichen Poeten mit seinen menschlichen imitatores verbindet. Dieses decorum zu befolgen heißt also für einen Autor, das ihn stilistisch und gedanklich Auszeichnende hervorzubringen und sich dabei gerade nicht an den in einer Gesellschaft vorgegebenen allgemeinen Kriterien der Angemessenheit zu orientieren. Letzteres wäre eine Vorgehensweise im Sinne des ‚subordinierten decorum‘, bei dem es nicht um die Gottesebenbildlichkeit des Autors geht, sondern um bloß menschliche Vorstellungen von Anstand und Schicklichkeit – und diese bloß menschlichen Vorstellungen hat Hamann ja oft genug kritisiert.33 Das ethos ist also untrennbar mit dem so verstandenen ‚höchsten decorum‘ verbunden. Wenn es einem Autor darum zu tun sein muss, seine Eigentümlichkeit in Text und Rede sichtbar zu machen, dann bedarf es dazu vor allem des ethos als rhetorische Strategie, um nicht allein stilistisch, sondern auch als Person Wirkung zu entfalten.
3. Das ethos des Schullehrers Schauen wir uns an, wie Hamann des ethos seiner Figuren gestaltet: Der fiktive Autor der Neuen Apologie wird zunächst durch seine Profession gekennzeichnet. Als „Schullehrer“ stellt er für den als „Religionslehrer“ auftretenden Gegner Hamanns, Christian Tobias Damm, einen Antagonisten auf Augenhöhe dar, der über dasselbe Erfahrungswissen verfügt. Das dem Titelblatt als Motto hinzugefügte Horazzitat suggeriert zudem, dass wir es mit einem sowohl moralisch hoch fika von Personen und deren Lebensumständen bedeutet. Vgl.: Art. „Convenance.“ In: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences des Arts et des Métiers. Nouvelle impression en facsimilé de la première édition de 1751–1780. Bd. 4. Stuttgart-Bad Cannstadt 1966, S. 160: „On dit d’un homme qui a rassemblé chez lui des convives, qu’il a gardé les convenances s’il a consulté l’âge, l’état, les humeurs, & les goûts des personnes invitées; & plus il aura rassemblé de ces conditions qui mettent les hommes à leur aise, mieux il aura entendu les convenances.“ [Man sagt von einem Menschen, der Gäste bei sich versammelt hat, er habe die convenances eingehalten, wenn er Alter, Stand, Gemütsart und Geschmack der eingeladenen Personen berücksichtigt hat; und je mehr er von denjenigen Bedingungen zusammengetragen hat, welche dafür sorgen, dass die Menschen sich wohlfühlen, je besser hat er die convenances verstanden; Übersetzung A. K.]. 33 Vgl. dazu: Achermann: Natur und Freiheit (wie Anm. 3), S. 246.
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stehenden Redner als auch mit einem Könner zutun haben. Der Lehrer ist nicht nur ein vortrefflicher und anständiger Mensch („et nobilis et decens“), sondern auch ein guter Verteidiger („pro solicitis non tacitus reis“), in vielen Künsten bewandert („centum puer artium“34) und gewillt diese einzusetzen. Mehr noch: Indem Hamanns persona betont, „kein abgedankter noch abgesetzter, wiewol ein bereits ziemlich bejahrter Schulmeister“35 zu sein, suggeriert er dem Leser, selbst über eine höhere Urteilskompetenz zu verfügen. Es gab keinen Anlass, ihn aus seinem Amt zu entheben; im Gegenteil: der Umstand, dass er letzteres in seinem Alter ununterbrochen versieht, spricht für seine Verlässlichkeit. Entsprechend stellt sich der Schullehrer als engagierten Pädagogen dar, dem die sittliche Formung seiner Schützlinge schon immer am Herzen lag: Aus einigen flüchtigen Blättern, die ich, als ein der Jugend wahres Bestes suchender Lehrer habe abdrucken lassen, ist es jedermänniglich bekannt, wie es immer mein einziges Augenmerk gewesen, meine Schüler, deren Anzahl sich gegenwärtig auf 120 beläuft, zu einer anständigen Rechtschreibung in unserer Muttersprache anzuführen.36
Im Unterschied zu seinem Gegner veröffentlicht er nicht aus Eitelkeit oder „Selbstruhm“37, sondern aus seinen moralischen Idealen heraus, die konkret sind und aus seiner Lebenserfahrung erwachsen. Nicht eine abstrakte Menschenvernunft, sondern das Bestreben, seinen Schülern ein Vorbild zu sein, hat ihn geleitet. Und nicht einmal die Anstrengungen seines „Schweiß- und Blutsauren Amte[s]“38 ließen ihn die Mühe scheuen, noch zusätzlich ein orthographisches Lehrbuch zu verfassen. Dabei führt er ein bescheidenes Leben: Erst „nach verrichteter Arbeit“, die bei 120 Schülern ja nicht eben als gering einzuschätzen ist, genießt er sein „Kännchen Bier mit guten Muth“39. Auch seine Ehefrau und seine Tochter unterstützen den Schullehrer in seiner durchweg pflichtbewussten, arbeitsamen, gottesfürchtigen und maßvollen Lebensweise. Die Speise von „Salz und Brod“40 wird durch tägliche harte Arbeit, keineswegs durch „ausserorden liches Büchermachen“41 verdient. 34 35 36 37 38 39 40 41
N III , 89 (Neue Apologie des Buchstaben h). N III , 92,7–8. N III , 92,8–13. N III , 91,27. N III , 92,14–15. N III , 92,16–17. N III , 92,15. N III , 92,19.
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Bei aller betonten Bescheidenheit in der Lebensführung ist sich Hamanns persona ihrer verstandesmäßigen Überlegenheit gegenüber ihrem Gegner bewusst. Diese Überlegenheit wird in einer langen Schmährede so dermaßen hervorgekehrt, dass die vorausgehende scheinbare Würdigung des „rühmlich angewandte[n] Leben“42 des Religionslehrers noch ironischer wirkt. Der Schullehrer will zehnmal lieber mit einem Blindgebornen [...] oder mit einem Taubgebornen von der Harmonie einer winzigen Nachtigall und eines welschen Verschnittenen [s]ich aus dem Othem in den Wind reden als länger mit einem Gegner [s]ich überwerfen, der nicht einmal fähig ist einzusehen, daß eine allgemeine, gesunde, practische Menschensprache, und Menschenvernunft und Menschenreligion ohne wilkührliche Grundsatz sein Eigener Backofen von Eis sind. 43
Der seines Amtes schon früh enthobene Religionslehrer hatte zwar lobenswerte Absichten; seiner Schrift gegen den Buchstaben h fehlt es jedoch an stichhaltigen Argumenten, so dass es nur bei einem „gutherzigen Einfall“44 geblieben ist. Hamanns Lehrer hingegen besitzt genug Einsicht, um sehr gut zu wissen, dass die für den Menschen spezifischen Einrichtungen wie Sprache und Religion auf weiter nicht beweisbaren Annahmen gründen müssen, so dass diese Annahmen, auf denen unser praktisches und theoretisches Wissen fußt, eben durch einen Willensakt gesetzt werden müssen. In diesem Sinn ist der Schullehrer ein guter Vermittler der Hamannschen Zeichentheorie.45 Durch diese seine φρονησις ist er seinem Gegner weit überlegen, dabei aber vorgeblich darauf gedacht, ihm fairer zu begegnen, als er es „von gewissen politischen Thorschreibern der deutschen Litteratur in ihren allgemeinen, kaltsinnigen und gleichgiltigen Recensionen erwarten darf.“46 Zudem ist er ein besonders ehrenwerter Mann, weil er sich mit einem kleinen Wirkungskreis begnügt. Dass weniger kluge und unehrliche Leute – „Schuhputzer und Broddiebe“47 – ihn um die Möglichkeit gebracht haben, seinen Fähigkeiten gemäß „seinem Vaterland ein ehrlicher Thorschreiber zu werden“48, nimmt 42 N III , 93,4. 43 N III , 97,31–39. 44 N III , 96,16. 45 Zur ‚Einsetzung‘ oder impositio bei Hamann siehe detailliert: Achermann: Natur und
Freiheit (wie Anm. 3), S. 84–99.
46 N III , 95,33–34. 47 N III , 98,17. 48 N III , 98,15–16.
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er nicht weiter übel, sondern begnügt sich mit der Ansicht, dass seine aktuelle Tätigkeit „im Grunde venerabler“49 ist. Hamanns persona besitzt also im Sinne der αρετη ein hohes Maß an Tüchtigkeit. Das hier betonte Missverhältnis zwischen dem fachlichen Können, der moralischen Vortrefflichkeit des Lehrers einerseits und seiner ‚kleinen‘ Position als Schulmeister andererseits legt dem Leser ein Empfinden von Ungerechtigkeit nahe. Denn sollte nicht jemand, der so uneigennützig und dabei so scharfsinnig ist wie der Schullehrer auch öffentlich entsprechend gewürdigt werden? Schließlich verfügt der Lehrer auch über ευνοια, da er der Jugend und dem Leser gegenüber wohlwollend gesinnt ist, ja stets nur „der Jugend wahres Bestes“50 zu verwirklichen gesucht habe. Hier macht es Sinn, Aristoteles’ genaue Funktionsbestimmung der ευνοια zu berücksichtigen.51 Markus Wörner hat gezeigt, dass Aristoteles vom Redner fordert „den Zuhörern das zu wünschen, was er für sie als Gut ansieht“, so dass im Endeffekt dem Hörer „tatsächlich um seiner selbst willen geholfen werden [soll].“52 Dementsprechend geht es Hamanns persona darum, eine der rechten Sittlichkeit abträgliche „Buchstabenmengerey“53 zu verhüten, gerade auch, um damit für eine richtige Religionsauffassung einzutreten. Hamann erfindet also mit dem Schullehrer eine Figur, die nicht nur durch ihre eigentlichen Argumente, sondern auch durch ihre Lebensweise, ihre Gesinnung und ihren Charakter überzeugt. Sie ist als Antagonist kontrastiv zu Damms ‚ausserordentlichem Religionslehrer‘ gewählt, demgegenüber sie sich sowohl moralisch als auch verstandesmäßig überlegen darstellt. Die Passagen, in denen sich der Lehrer direkt an seine Leser wendet, sind so gesehen keine bloßen captationes benevolentiae, die nur die Funktion hätten, Wohlwollen zu erwirken. Im Gegenteil: Hamann nutzt diese Passagen, um die in Damms Argumentation angelegte Verknüpfung von richtiger Orthographie mit Moralität und einer rechten Religiosität in die von ihm erschaffene persona hineinzuholen und diese persona in sich zu einem zusätzlichen Argument für die Schreibung des Buchstaben h zu machen. Gerade darin nimmt Hamann Aristoteles Einschätzung der hohen Bedeutung des ethos zur Überzeugung auf: Für den επιεικης ist es „geziemender […] als guter Mensch (χρηστος) zu erscheinen denn als genau schlussfolgernder Redner“54. 49 50 51 52 53 54
N III , 98,19. N III , 92,9 sowie 98,18.
Aristoteles: Rhetorik 1378 a. Wörner: Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles (wie Anm. 7), S. 331–332, Anm. 13. N III , 92,21. Wörner: Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles (wie Anm. 7), S. 310.
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Dabei verfügt der Schullehrer über eine aus langer Erfahrung erwachsende Urteilskompetenz. Die Eigenschaft des hohen Alters ist bei Hamann somit, anders als bei Aristoteles,55 mit einem hohen Glaubwürdigkeitspotential verbunden, zumal der Schullehrer noch sein Amt versieht und in seiner Schrift beweist, dass er trotz seiner Jahre noch an seinen Idealen – nämlich an einer für die sittliche Bildung der Jugend relevanten, anständigen Orthographie – festhält.56 Abschließend wird der Verweis des Schullehrers auf sein hohes Alter enorm pathetisch aufgeladen. Obwohl er seinem Lebensende bereits entgegen sieht, ist es ihm noch wichtig, für den Buchstaben h schreibend ins Feld zu ziehen.57 Die emphatische Darstellung der Tugenden des Schullehrers mag zum Teil übertrieben wirken, erweist sich jedoch als sinnvoll im Hinblick auf das Genre der Apologie. Wie Johannes von Lüpke zeigt, konnte Hamann diese Gattung eigentlich gar nicht leiden; er empfand sogar deutliche Abneigung.58 Und so definiert er sie auf seine eigene Weise, indem er die traditionelle christlich motivierte „Rechtfertigungsrede zugunsten der eigenen Meinung, Wahrheit, Lehre“59 mit Elementen der oratio invectiva verbindet. Sein Gegner wird systematisch als Person herabgesetzt, indem die Qualität seiner Bildung als dubios dargestellt wird.60 Es entsteht das Bild eines Autors von zweifelhafter intellektueller und moralischer Glaubwürdigkeit, der aus Eitelkeit und aus Überschätzung seiner Vernunft zu einem „arme[n] Sünder“61 wird und letztlich durch seinen maßlosen „Verfolgungsgeist in Ansehung eines unschuldigen Buchstabens“62 sogar bösartig ist: Die gröbste Unwissenheit und frechste Eitelkeit! – – Kräftige Irrthümer und ein mehr als wunderthätiger Aberglaube an Lügen und Geheimnissen der Finsternis und Bosheit! – – Halsstarrige Stupidität in pallio philosophio und eine reissende
55 Vgl. dazu ebd., S. 312–327. 56 Aristoteles schreibt nur der Jugend, nicht aber dem Alter ein sich Orientieren an Idea-
len zu. Siehe Wörner: Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles (wie Anm. 7), S. 317.
57 Vgl. N III , 101,12–28. 58 Johannes von Lüpke: Die Wahrheit in einem Hauch oder Von der Eitelkeit der Ver-
nunft. ‚Neue Apologie des Buchstaben h von ihm selbst‘. In: Johann Georg Hamann. Hg. von Oswald Bayer, Bernhard Gajek u. Josef Simon (=Insel Almanach auf das Jahr 1988). Frankfurt a. M. 1987, S. 173. 59 Eric Hilgendorf: Art. „Apologie“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 809. 60 Vgl. N III , 92,32–93,5. 61 N III , 91,33. 62 N III , 100,8–9.
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Brutalität in Schaafskleidern gegen den allein wahren Gott und das Ebenbild seines unsichtbaren Wesens in menschlicher Natur!63
Diese elliptische Häufung von Schmähungen entspricht der klassischen Redeabsicht der Invektive. Der Schullehrer „destruiert die angemaßte Rolle“64 des Religionslehrers als ein aufgeklärt denkender und integrer Mensch, indem er die hinter der Fassade reinen philosophischen Denkens verborgene Gewaltsamkeit herausstellt. Und das funktioniert umso besser durch die für die Invektive typische Selbstinszenierung „als vir bonus“65. Die ‚Unschuld‘ des Buchstabens h wird umso effektiver verteidigt, je mehr der Gegner in ein moralisch schlechtes Licht gerückt, der Apologet hingegen als ein Musterbeispiel an Tugend stilisiert wird. Da das h aber für den Theologen Hamann weder ein beliebiger noch ein ‚toter‘ Buchstabe ist, muss der Schullehrer schließlich das Feld räumen und die Verteidigung abgeben: „Der kleine Buchstabe h, mit dem sich mein guter Taufname Heinrich anfangt, mag für sich selbst reden, wenn ein Othem in seiner Nase ist.“66 Hamann schreibt so im wörtlichen Sinne eine neue Apologie, die nicht gegen einen schlechthin Ungläubigen gerichtet ist, sondern gegen einen Eiferer und seine „sich selbst zum Maßstab erhebende[…] Vernunft“67. Als ‚Vorredner‘ des Buchstaben h überlässt er es diesem, als personifiziertes πνευμα das Wort zu ergreifen und so das „Wesen der Religion“68 für den Leser greifbar zu machen. Er selbst leistet nur die ‚Vorarbeit‘, die darin besteht, die Argumente des Gegners als haltlos und seine Person als moralisch verwerflich zu entlarven.
4. Das ethos des Ritters Demgegenüber ist der Ritter von Rosencreuz eine ausgesprochen unwahrscheinliche Figur, die sich auf den ersten Blick als eine Fiktion erkennen lässt. Bei genauerer Betrachtung ist diese persona passend entworfen, um die Argumentation des Textes zu stützen. Die fiktive „Übersetzung“ aus einer „Caricaturbilderurschrift“69 63 N III , 100,29–35. 64 Uwe Neumann: Art. „Invektive“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 4. Hg. 65 66 67 68 69
von Gert Ueding. Tübingen 1998, Sp. 550. Neumann: Art. „Invektive“, Sp. 550. N III , 101,18–20. Von Lüpke: Die Wahrheit in einem Hauch (wie Anm. 58), S. 173. Ebd., S. 173. N III , 25.
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situiert den Ritter in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, in der die Menschen noch nicht über ein alphabetisches Schriftsystem verfügen. Gerade diese Nähe zu einer primitiven Vorzeit der Menschheit verstärkt den Anspruch des Textes, die Frage nach dem Ursprung der Sprache auf eine unwiderlegbare Weise zu klären. Anders als in der Neuen Apologie finden wir hier jedoch innerhalb der Figuren ein Spannungsverhältnis zwischen rational-logischen Argumenten und einer intuitiv gewonnenen Einsicht. Als ‚Hierophant‘ ist der Ritter jemand, der etwas rational nicht Erklärbares verkündet und eher weniger jemand, der andere aufgrund von Argumenten überzeugen möchte. Aber gerade diese beiden Ebenen der Mitteilung, die des Verkündens und die des logischen Argumentierens, stehen hier anscheinend nicht im Gegensatz zu einander. So nimmt der Ritter Bezug auf die Hume’sche Kausalitätskritik auf eine Art und Weise, die dem Tonfall einer mahnenden und emotional eindringlichen Predigt sehr nahe kommt: Ja, Wißt ihr endlich nicht, Philosophen! daß es kein physisches Band zwischen Ursache und Wirkung, Mittel und Absicht giebt, sondern ein geistiges und idealisches, nämlich des Köhlerglaubens, wie der größte irrdische Geschichtsschreiber seines Vaterlandes und der natürlichen Kirche verkündiget hat!70
Hamann verknüpft an dieser Stelle logos und pathos miteinander, so dass eine persona entsteht, die in ihrem Wesen und ihrer Emotionalität unmittelbar mit den von ihr vorgetragenen Argumenten verbunden ist. Schließlich findet das Hauptargument des Textes, dass der Ursprung der Sprache sowohl menschlich als auch göttlich sei eine gewisse Entsprechung in der Haltung des Ritters zu religiöser Autorität: Einerseits steht diese Figur für eine relative Autonomie des Menschen. Der Ritter ‚macht‘ ja wortwörtlich einen Hierophanten, indem er sich selbst zum Verkünden religiöser Inhalte autorisiert.71 Das Epiktet entlehnte και εγω ποιησω ιεροφαντην wird auf dem Titelblatt genau 70 N III , 29,10–14. 71 Mit der Figur des Hierophanten scheint Hamann sich persönlich sehr identifiziert zu
haben. Nachdem das Einverständnis mit seinem Freund Herder in punkto Preisschrift und Sprachursprung wieder hergestellt war, schreibt Hamann am 7. 10. 1772 an Johann August Eberhard: „Er [Herder, A. K.] hat mir alle seine Sünde ins Ohr gebeichtet und der Hierophant wird ihn offentlich absolviren vor den Augen und Ohren des ganzen Volkes, das Amen sagen u. erfahren möge, daß es noch Priester giebt – und damit die Hofprediger des Salomons in Norden lernen mögen nicht mehr Waßer wie der Engel der Gemeine zu Laodicea sondern Blut und Feuer zu schreiben wie der Prophet Elias“ (ZH III , 18,31–19,2).
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gegen den Strich zitiert. Während Epiktet nämlich eine Reihe von Bedingungen nennt, an die das Ausüben des sakralen Amtes des Hierophanten geknüpft ist, darunter vor allem Lebenserfahrung und ein entsprechendes Alter72, vertritt Hamann die Ansicht, dass auch jeder Einzelne priesterliche Funktionen ausüben kann.73 Begründet ist dies in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die es ihm erlaubt, „selbst spontan und von sich aus Werte zu schaffen“74, was auch beinhaltet, sich selbst in eine bestimmte Position einzusetzen. Andererseits wird der Bindung an die biblische Tradition ein hoher Wert beigemessen. Der Ritter kennt „kein Arkadien oder Eldorado […], wo man Gott seegnet, wie man will“, sondern orientiert sich bewusst an „einer Litaney im höhern Chor“75, nämlich an den Psalmen. Autonom ist der Mensch insofern, als er wie sein Schöpfer neue Werte hervorbringen kann und darf; gebunden hingegen, weil die Verehrung Gottes nicht einer individuellen Beliebigkeit überlassen werden soll. Ähnlich wie beim Schullehrer findet sich auch hier eine positive Konnotierung des hohen Alters. Der Ritter steht kurz vor seinem Lebensende, schließt er doch sein Testament mit dem „Schwanengesang“76, dem letzten Lied des Dichters vor seinem Tod. Möglicherweise hat Hamann diese Figur kontrastiv zu Herder entworfen, über dessen Preisschrift zum Thema Sprachursprung er sich sehr geärgert hatte. Er nennt Herder in einem an ihn selbst gerichteten Brief einen ‚Jüngling‘: „Ich lache jetzt selbst über meinen sokratischen Gram, daß ein Jüngling wie Herder schwach gnug seyn sollte den schönen Geistern seines Jahrhunderts und ihrem bon ton nachzuhuren.“77 In den Philologischen Einfällen sieht Hamann es 72 Vgl. dazu Epiktet: The Discourses as Reported by Arrian, The Manual, the Fragments.
Übers. von W. A. Oldfather. Bd. II . Cambridge 1966, S. 122.
73 Vgl. dazu den Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 16. 7. 1759: „Kein Wunder, was
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sind die Angelegenheiten eines Demosthenes und Cicero gegen das Amt eines Evangelisten, eines Engels, der nichts weniger und nichts mehr seinen Zuhörern zu sagen hat und weiß, als: Laßet euch versöhnen mit Gott und sie mit der Liebe, mit der Gewalt, mit der Niedrigkeit dazu ermahnet, als wenn er Christus selbst wäre. Und zu diesen königlich priesterlichen Geiste wird wie Petrus sagt, jeder Christ geweyht und gesalbt, ein Prediger der Gerechtigkeit, ein Zeuge und Märtyrer der Wahrheit mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht der Sünder, hier wie der König der Juden verworfen und mit Dornen gekrönt, dort Sohn und Erbe, als Richter über die 12 Stämme, eine Krone der Herrlichkeit auf dem Haupte.“ (ZH I , 368,29–369,1). Achermann: Natur und Freiheit (wie Anm. 3), S. 242. N III , 30. N III , 30,4–5. An Johann Gottfried Herder am 8. 10. 1772 (ZH III , 16,35–17,1).
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als seine Pflicht an, den „gekrönten phytischen Sieger meinen Freund Herder, gegen den ich bisher mit verbundenen Augen gefochten, eben so öffentlich als feyerlich zu erkennen, zu umarmen und zu seegnen.“78 Und die Teilnehmer der pythischen Spiele waren in der Regel junge Männer. Im Vergleich zur Unbesonnenheit des jungen Mannes besitzt der Ritter also mehr Erfahrung und daher auch eine entsprechend größere Urteilskompetenz. Herder ist jedoch nicht der einzige in dieser Schrift anvisierte Gegner.79 Dafür findet sich eine zunächst recht verwirrende Vielfalt von Namen zeitgenössischer und antiker Philosophen(schulen).80 Was Hamann hier versucht ist, Herders These vom ausschließlich menschlichen Ursprung der Sprache ideenund wissensgeschichtlich einzuordnen.81 Die Anspielungen auf eine Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Positionen – zeitgenössische Variationen des Epikureismus und Stoizismus inklusive der in diesen Positionen enthaltenen materialistischen Sichtweise, Neoplatonismus und Deismus – stellen die wohl unfreiwillige geistige Nähe Herders heraus zu durchaus heterogenen philosophischen Ansätzen, die allesamt eine Interaktion zwischen einem persönlichen Gott und den Menschen ausschließen.82 So hat der Ritter für die „großen Seelen“ des Jahrhunderts, „welche die Reliquien des epikurischen Systems in den Oeuvres philosophiques de Mr. de la Mettrie, im Système de la Nature und Evangile du Jour verehren und sich zueignen“83 nur Spott übrig. Denn deren Festhalten an 78 N III , 48–49. 79 Nachdem Herder den Ritter von Rosencreuz brieflich von Hamann erhalten hat, ist er in
seiner Antwort bemüht, das Einverständnis mit seinem Freund wieder herzustellen. So schreibt er am 1. 8. 1772 an Hamann: „Auch versichre ich Ihnen, daß die Denkart dieser Preiß-Schrift auf mich so wenig Einfluß hat, haben kann u. soll, als das Bild, das ich jetzt an die Wand nagle.“ (ZH III , 11,22–24). 80 Dass er seine Leser oft durch die sehr eigene, nämlich assoziative und ‚chaotische‘ dispositio seiner Texte irritiert, ist Hamann schon früh bewusst gewesen. So bemerkt er in einem Brief an Lindner vom 11. 9. 1759: „Sie wissen, daß meine Denkungsart nicht zusammenhangend, und so wenig als meine Schreibart κατα το βουστροφεδον […] nach der Methode des Pfluges gehe.“ (ZH I , 411,2–5). 81 Zu Herders Position zum Thema Sprachursprung und Hamanns Erwiderungen in den Philologischen Einfällen siehe: Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988 (= Serie Piper Bd. 918), S. 108– 124. 82 Herder betont in seinem Brief an Hamann vom 1. 8. 1772, dass er sich in seiner Preisschrift nicht mit seinen eigenen Gesinnungen gezeigt habe: „Setzen Sie noch dazu, dass die Leibniz-Aesthetische Hülle ja die einzige Masque war, unter der ich erscheinen konnte“. (ZH III , 11,13–14). 83 N III , 27,28–31.
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der antiken Theorie einer „Hervorbringung des menschlichen Geschlechts aus einem Sumpf oder Schleim“84 hält er für eine „schöngemalte hirnlose Maske.“85 Denn hat sich der Mensch zufällig aus der Selbstbewegung der Materie entwickelt, entfällt jede Möglichkeit, das Wirken eines persönlichen Gottes anzunehmen. Die zeitgenössischen Materialisten wie La Mettrie und d’Holbach lassen lediglich antikes Gedankengut wiederaufleben, indem sie eine vom Zufall und der Bewegung der kleinsten Teile der Materie geformte Welt annehmen. Was es auch tatsächlich schwer macht zu erklären, wie unter solchen Bedingungen der Mensch seine geistigen Fähigkeiten entwickelt haben sollte.86 Ebenso wenig schließt sich der Ritter neoplatonischen Positionen an, für die Gott bloß ein „Töpfer plastischer Formen“87 ist. Denn wenn diese von Gott geschaffenen ‚plastischen Formen‘, wie sie sich etwa bei dem Cambridge Neuplatoniker Ralph Cudworth finden, ganz selbstständig handeln, braucht es ja keinen Gott mehr, der mit seinen Geschöpfen interagiert. Das Ergebnis eines solchen Denkens ist in letzter Konsequenz ein deistischer Gottesbegriff.88 Auch den „Sophisten zu Sodom Samaria, welche sich an den Selbstgesprächen des Markantonin Aftokrator Tag und Nacht erbauen“89 kann der Ritter nichts abgewinnen: Der Stoiker Marc Anton wertet Sexualität grundsätzlich ab. Man solle alle körperlichen Vorgänge mit Distanz betrachten, um sie, losgelöst von der phantasia, als das zu erkennen, was sie sind: etwas Geringes, ohne irgendeinen Wert, weshalb Körperlichkeit und Sexualität auch auf keinen Fall einen wichtigen Teil der natura hominis ausmachen dürfen.90 Der Ritter hingegen bejaht körperliche Sinnlichkeit und Erotik, etwa wenn „sein Schwanengesang alle brünstige Jünglinge und Greise [seegnet]“91. Hamann erschafft so eine Figur, die dem Anfangsstadium menschlicher Kultur sehr nahe ist: Der Ritter schreibt in einer bildhaften Urform der Schrift, sieht 84 N III , 27,31–32. 85 N III , 28,1. 86 Zu Hamanns Auseinandersetzung mit den materialistischen Philosophen seiner Zeit
siehe: Anja Kalkbrenner: Anthropologie und Naturrecht bei Johann Georg Hamann. Göttingen 2016 (= Hamann-Studien Bd. 2. Hg. von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke), S. 32–56. 87 N III , 28,1–2. 88 Zu Cudworth siehe detailliert: Kalkbrenner: Anthropologie und Naturrecht (wie Anm. 86), S. 61–62. 89 N III , 29,27–29. 90 Siehe dazu detailliert: Kalkbrenner: Anthropologie und Naturrecht (wie Anm. 86), S. 65–67. 91 N III , 30,4–5.
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erotisches Vergnügen als etwas ganz selbstverständlich Menschliches an und verteidigt die Vorstellung eines persönlichen Gottes, dessen schöpferischer λογος es für den Menschen „so natürlich, so nahe und leicht, wie ein Kinderspiel“92 macht, sich der Sprache zu bedienen. Zum Abschluß der Schrift wird die Eigenheit der von Hamann gewählten persona besonders deutlich: Ich würde noch länger und breiter und tiefer matagrabolisiren, wenn ich nicht wüsste, daß viel Predigen itzt eben so sehr den Muth der Zuhörer ermüdet, als ehemals den Leib geistlicher Redner; und begnüge mich also heute, durch eine Wallfarth im schwarzen Aschensack, das Element der Sprache – das A und O – das Wort – gefunden und genannt zu haben. – – […] Allen Credenzern hingegen, denen vor dem französischen und lateinischen Speck meiner Mundart grauelt, wünsche ich, daß der zeitige Handlanger des Hierophanten, ein Polyglotte, wie Panurge und Quintus Icilius, gewesen wäre, damit sie seine Übersetzung gar nicht lesen könnten; car tel est notre bon plaisir – 93
Der Ritter berücksichtigt zwar eine der virtutes elucutionis, nämlich die brevitas, um die geistigen Kräfte seiner Adressaten nicht über Gebühr zu beanspruchen, ist aber nicht bereit, sich auch noch an die Forderung der claritas zu halten. Im Gegenteil: Er räumt sich das Vorrecht ein, selbst über seine Leserschaft zu entscheiden. Anstelle sich an einen allgemeinen Adressatenkreis zu wenden, der nur durch die von Hamann so oft geschmähte ‚allgemeine Menschenvernunft‘94 definiert wäre, zieht der Ritter eine kleine Gruppe von Lesern vor. Nur, wer die Mühe nicht scheut, sich auch durch französische und lateinische Zitate erschwerte Passagen zu erschließen, soll das Testament verstehen können. Wer hingegen von der gewollten obscuritas schon von Anfang an abgeschreckt ist, der soll überhaupt keine weitere Möglichkeit haben, die ‚Willensmeynung‘ zu rezipieren. Dieser Umgang mit den Redetugenden erlaubt wiederum Rückschlüsse auf das ethos des Ritters: Weit entfernt davon, einer anonymen Leserschaft gefallen zu wollen, wendet er sich nur an diejenigen, die willens sind, sich auf seine individuellen Eigenheiten, seine ‚Mundart‘ einzulassen. Die von Aristoteles als so wichtig 92 N III , 32,28. 93 N III , 32–33. 94 Vgl. hierzu die folgende Passage aus Konxompax: „Denn was ist die hochgelobte Ver-
nunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewissheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Atrribute andichtet.“ (N III , 225,3–6).
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erachtete ευνοια wird nicht jedem Leser entgegengebracht; nur, wer im vorhinein über Geduld verfügt und eigene Anstrengung nicht scheut, wird schließlich ‚belohnt‘, indem sich ihm der „geheime[…] Verstand“95 der Mitteilung erschließt. Hamann erschafft so eine Figur, die durch ihr Insistieren auf ihren Eigenheiten zu selbständigem Denken auffordert, indem sie „einen aktiven Leser, der […] Überliefertes so durcharbeitet, daß er zu eigenem Urteil kommt“96 präferiert.
5. Das ethos des „Chinesers“ Eine ebenso unwahrscheinliche Figur wie der Ritter ist der gelehrte „Chineser“97 Mien Man Hoam, den Hamann erfindet, um Nicolai zu einer Veröffentlichung der Philologischen Einfälle zu bewegen. Anders als in den bereits besprochenen Texten macht Hamann hier seine Motivation dafür, eine persona zu verwenden, ganz explizit. Sein Mien Man Hoam stellt eine Alternative dar dazu, sich von „irgend eine[m] Amanuensis des Grafen von Shaftesbury“ seinen „Brief ausfertigen zu lassen“98. Anstelle sich über Beziehungen Gehör zu verschaffen, tritt Mien Man Hoam als ein gänzlich Unbekannter, ganz „ohne Ruhm“99 auf und muss sich daher auf seine positiven Eigenschaften als Schriftsteller verlassen. Entsprechend lässt Hamann die von ihm erfundene Figur seine Vorzüge als anständiger Gelehrter hervorkehren und mit dem moralisch zweifelhaften Charakter der als „Cyclopen“100 diffamierten Autoren der Encyclopédie kontrastieren. Als geduldiger, sorgfältiger und um Erkenntnis bemühter Autor hat Mien Man Hoam an seinem Werk nach Horazschem Vorbild „ganzer neun wo nicht zwölf Jahre gedichtet“101. Im Gegensatz zu den Encyclopedisten, welche als „irrende Ritter oder gewaltige Jäger“ nur „der Jagd und Kurzweil wegen“102 schreiben und darauf wahrscheinlich kaum viel Zeit verwenden, tritt der fremde Gelehrte als jemand auf, der die Suche nach Erkenntnis gewissenhaft betreibt. Er vergleicht sich passend mit der Nachtigall in Johann Christian Helcks Fabeln: 95 N III , 33,28. 96 Oswald Bayer: Hamann als radikaler Aufklärer. In: Johann Georg Hamann. „Der hellste
Kopf seiner Zeit.“ Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 11.
97 N III , 70 (Selbstgespräch eines Autors). 98 N III , 69,17–18. 99 N III , 70,1. 100 N III , 72,27. 101 N III , 70,27–28. 102 N III , 73,1–3.
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Lachen Sie also, m. H. nicht zu sehr über einen Fremdling, der in der Autorgestalt der kleinen grauen Nachtigal ihrem achtzehnten Jahrhundert in Europa sich lieber durch ein flüchtiges Blatt zu empfehlen sucht, als durch einen dicken Band arabischer Straßenräubereyen und kretischer Lügen oder ein windiges Geschwätz das über die Schnur haut, wie ein irrender Armenier bewiesen.103
Genau wie die Nachtigall ist Mien Man Hoam zwar äußerlich unscheinbar, mangelt es ihm doch an Bekanntheit und an Beziehungen; er besitzt aber wie der graue Vogel beeindruckende Fähigkeiten. Hamann wäre aber nun nicht Hamann, wenn er nicht auch diese Figur mit einem ‚ironischen Twist‘ versehen würde. Gemeint sind die Aristotelesbezüge, die sich sowohl im Selbstgespräch als auch in den Philologischen Einfällen finden. Zu Beginn der Philologischen Einfälle wirkt es so, als würde der Magus sich schlicht und einfach auf die tradierte Hochschätzung des Aristoteles als ein methodisch stringenter und analytisch klarer Denker berufen. Der „weise Stagyrit“104 gehe bei der Betrachtung der menschlichen Natur „mit seinem gewöhnlichen Scharfsinn“105 vor – und sich in eine solche Tradition zu stellen, passt ja zu dem für seine Geistesschärfe bekannten Hamann.106 Doch gerade diese Selbstpositionierung erweist sich, lesen wir weiter, als eine strategisch gewählte Pose: Nachdem ich mich bis in das empyräische Heiligthum der menschlichen Natur hineingeschwindelt, oder besser zu reden, meine peripatetische Seifenblasen lange genug vor mir hergetrieben: so zerspringen sie endlich auf halbem Wege in folgende Tautropfen: ‚Der Mensch lernt, alle seine Gliedmaßen und Sinne, also auch Ohr und Zunge regieren, weil er lernen kann, lernen muß und eben so gerne lernen will. Folglich ist der Ursprung der Sprache so natürlich und menschlich als der Ursprung aller unserer Handlungen, Fertigkeiten und Künste. Ohngeachtet aber jeder Lehrling zu seinem Unterrichte mitwirkt, nach Verhältnis seiner Neigung, Fähigkeit und Gelegenheiten zu lernen: so ist doch lernen im eigentlichen Verstande eben so wenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung.‘107 103 N III , 75,1–6. 104 N III , 37,23 (Philologische Einfälle). 105 N III , 37,1. 106 Vgl. dazu Goethes Beschreibung Hamanns nach der Erscheinung der Sokratischen
Denkwürdigkeiten: „Man ahndete hier einen tiefdenkenden gründlichen Mann, der mit der offenbaren Welt und Literatur genau bekannt, doch auch noch etwas Geheimes, Unerforschliches gelten ließ, und sich darüber auf eine ganz eigne Weise aussprach.“ (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus- Detlef Müller. Frankfurt a. M. 2007, S. 558). 107 N III , 40,26–41,12.
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Die zuerst so unproblematisch erscheinende, ‚aristotelisch‘ benannte Vorgehensweise ist lediglich ein ‚Schwindel‘, der ‚Seifenblasen‘, etwas Vergängliches und nur kurzfristig Beindruckendes, hervorbringt. Wenn es sich demnach bei Hamanns ‚Aristotelismus‘ um eine bloße Masche handelt, dann fragt es sich, wozu diese gut sein soll. Anhaltspunkte zu den „Vortheilen peripatetischer Schlachtordnung“108 gibt Mien Man Hoam. Indem er behauptet, „aus den Urkunden des sokratischen Schülers“109 zu schöpfen, setzt er sich selbst als philosophisch ernstzunehmenden Autor ein. Da es sich hierbei jedoch um einen gewitzten Schachzug handelt, der im Wortgefecht Vorteile einbringt, fungiert ‚Aristoteles‘ als Zeichen, das gründliche Durchdachtheit und Verlässlichkeit ausweisen soll. Peripatetiker ist Mien Man Hoam alias Hamann nicht so sehr aus einer inneren Gesinnung heraus, sondern weil es zur Erreichung der persuasio nützlich ist. Und von Nutzen ist das Vorgeben einer aristotelischen Haltung hier, weil sich so der Gegner mit den eigenen Waffen schlagen lässt: Gegen die Encyclopädisten, die gerade durch ihre Abwehr christlicher Glaubensvorstellungen wider Willen pseudoreligiöse Strukturen untereinander aufbauen110, schickt Hamann keinen ausschließlich christlich argumentierenden Redner ins Feld, sondern jemanden, den auch die zeitgenössischen Gelehrten anerkennen müssen, gilt Aristoteles doch als Begründer des Empirismus. Mien Man Hoams Grundsätze sind „keine Frucht einer anschauenden Erkenntniß und Offenbarung“, sondern „aus den reinsten Quellen der Ueberlieferung“111 entlehnt. Er stützt seine Überlegungen nicht auf eine persönliche Gotteserfahrung, sei es in der Natur, bei der Bibellektüre oder in der eigenen Lebensgeschichte, sondern beruft sich gerade auf den Philosophen, der von Gott ganz neutral als ‚unbewegter Beweger‘ spricht und selbst nicht in den Lauf der Welt eingreift.112 Wir haben es im Selbstgespräch so gesehen mit einer doppelseitigen ‚Ethopoieia‘ zu tun, einmal auf der Ebene der Autorschaft und auf der Ebene der philosophischen Position. Diese Selbstinszenierung Hamanns und seiner Figur als Aristoteliker läuft nicht auf ein generelles nicht Ernst nehmen von Überlegungen des Aristoteles hinaus. Im Gegenteil: Es gehört zur Komplexität Hamanns, dass sein sich Abarbeiten an der rhetorischen und philosophischen Tradition verschie108 N III , 75,21. 109 N III , 75. 110 Hamann bezeichnet Diderot, den Begründer der Encyclopédie, als „Stifter Ihres neuen
Bundes“ (N III , 74,5).
111 N III , 75,7–10. 112 Aristoteles: Metaphysik 1072 b.
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dene Momente beinhaltet: das schelmische, mitunter provokante so tun als ob, das karikaturhafte Übertreiben, aber auch das Aufgreifen von und Anknüpfen an Argumente.113 Hamann macht jedoch noch in einer anderen Hinsicht seine persona zum Träger einer intertextuell hergestellten Ironie und zwar, indem er sie in das Genre des Selbstgesprächs einbettet. Diese Einbettung erlaubt implizit Rückschlüsse auf das ethos dieser Figur und zeigt, wie konsequent Hamann den „Bruch mit den Konventionen“114 betreibt. Der eingangs als Musterbeispiel eines erfolgreichen Autors erwähnte Shaftesbury verurteilt die Veröffentlichung von Selbstgesprächen.115 Einzig das private Selbstgespräch sei empfehlenswert und sogar „unabdingbar für jeden guten Autor.“116 Wenn Hamann nun seinem Selbstgespräch den Zusatz eines Autors hinzufügt, so teilt er subtil seine Opposition zu Shaftesburys Konzeption der Gattung mit all ihren literaturtheoretischen und ethischen Implikationen mit. Was steht hier auf dem Spiel? Shaftesbury zufolge soll das einzig zulässige, private Selbstgespräch die imaginatio des Autors solchermaßen trainieren, dass ihre Sprunghaftigkeit, Heftigkeit und Maßlosigkeit gemildert wird.117 Ohne eine solche disziplinierende Übung laufe ein Autor Gefahr, „nothing well-shapen or perfect“118 hervorzubringen. Ziel ist eine radikale Selbstkontrolle und Selbstformung, die darauf ausgerichtet ist, vom Ich des Schreibenden alle nicht Rationalen, Unbeständigen und heftig emotionalen Elemente abzusondern oder sie zumindest gut zu kontrollieren. Shaftesbury empfiehlt eine wiederholte Einübung in die angestrebte Selbstbeherrschung „to teach us ourselves, keep us the self-same persons, and so regulate our governing fancies, passions, and humours, as to make us comprehensible to ourselves, and knowable by other features than those of a bare countenance.“119 Dabei geht es nicht allein um das Identitätsbewusstsein einer Person für sich, sondern um die Verwirklichung eines „puritanischen Sittenideal[s]“120, demzufolge der Einzelne 113 Besonders interessiert ist Hamann an der aristotelischen Mimesislehre. Siehe dazu
Achermann: Schema und Kabbala (wie Anm. 23), S. 175–177.
114 Ebd., S. 242. 115 Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der euro-
päischen Literatur. München 2008, S. 329.
116 Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 329–330. 117 Ebd., S. 330. 118 Shaftesbury: Soliloquy, zit. nach: Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 330. 119 Ebd., S. 333. 120 Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 33–334.
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das Ideal einer durch Mäßigung und Affektkontrolle erzeugten harmonischen Geselligkeit auf keinen Fall stören soll. Hamanns ästhetische und anthropologische Überzeugungen stehen hierzu in radikalem Gegensatz. Bereits das Ciceros Briefen entnommene Zitat auf dem Titelblatt verweist auf eine fundamental andere Selbst- und Geselligkeitskonzeption.121 Für Hamann ist das Selbst nicht vollständig, kann sich in der Abgeschiedenheit mit sich allein nicht recht erkennen, ohne sich auf seinen Nächsten zu beziehen.122 Er ist kein Autor, der seine vermeintlichen Schwächen im Inneren verbirgt oder nach den Maßgaben eines klassizistischen Vollkommenheitsideals ausbügeln möchte, sondern jemand, der sein Ringen mit sich seinen Nächsten mitteilt. Dementsprechend ist sein Nicolai zur Publikation ans Herz gelegtes Manuskript weder ‚well-shapen‘ noch harmonisch in sich abgeschlossen, sondern „ein kreißendes Gebirge von Concept“123. Oder um die Metapher des in den Wehen Liegens („kreißen“) aufzugreifen: Es handelt sich um einen Text, der sich noch im Prozess der Hervorbringung befindet, der deshalb noch nicht ‚geboren‘ ist, weil er noch von keinem Leser ‚empfangen‘ worden ist. Ein solch ungeglättetes, den Leser forderndes Konzept kann Hamann Nicolai mit gutem ‚Autorgewissen‘ übersenden, weil sein Kommunikations- und Geselligkeitsideal zu dem eines Shaftesbury im Gegensatz steht. Heftige Affektregungen sollen nicht unterdrückt, Dissonanzen nicht vermieden, sondern im Dialog ausgetragen werden. Dem Einzelnen wird keineswegs zugemutet, sich dem Anspruch einer stoischen constantia zu unterwerfen: Nach den Maßgaben der jeweiligen Kommunikationssituation ist es sogar geboten, verschiedene Aspekte des eigenen Ichs zu Tage treten zu lassen. Hamanns Selbstgespräch zielt daher nicht auf eine Übereinstimmung des schreibenden Ich mit sich selbst ab, sondern ist Ausgangspunkt für die υποκρισις in all ihren Facetten: „Ohne Verwandlung wird man nicht unsterblich, und es gehört odyßeische Tugend dazu, einen einäugigten Polyphem, der wie ein Brutus schnarcht, stockblind und sich unsichtbar zu machen“124. Hamann spielt die Rolle des Mien Man Hoam, indem er sich listig wie Odysseus verstellt, um Nicolai alias Polyphem (wörtlich ‚der viel Gerühmte‘) von sich abzulenken. Er antwortet so auf die bisher ausgebliebene Anerkennung von
121 „Tecum loqui: et Te adhibe in consilium: Te audi: Tibi obtempera“ (N III , 67). 122 Vgl. dazu die folgende Passage aus den Brocken: „Um die Erkenntnis unserer Selbst
zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar.“ (Hamann: Brocken. In: Londoner Schriften, S. 410). 123 N III , 77,17. 124 N III , 69,19–21.
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Verlegern, die ihn „gedemüthiget“125 haben. Mien Man Hoam plädiert energisch für eine Veröffentlichung der Philologischen Einfälle, was Hamann wiederum selbstironisch als dissimulatio, als „Schwindel“126 offenlegt. Die mit der υποκρισις verbundene Vorstellung zwischenmenschlicher Kommunikation ist alles andere als harmonisch. Während Shaftesbury den Einzelnen dazu anleiten will, „in Gesellschaft einen ‚good humour‘ an den Tag [zu] legen“, um für seine Mitmenschen „berechenbar und verlässlich im gesellschaftlichen Verkehr“127 zu sein, strebt Hamann etwas anderes an. Es geht ihm um einen Dialog, in dem auch Streitigkeiten, Irritationen, überhaupt heftige Gemütsregungen ihren Platz haben. Grundlage dafür ist die Institution der Freundschaft: Hamanns Auseinandersetzung mit sich als Autor vollzieht sich keineswegs in der Abgeschiedenheit des Inneren, sondern fordert die Antwort eines Gegenübers. Innerhalb der freundschaftlichen Kommunikation ist es erlaubt und erwünscht, durchaus vehement miteinander umzugehen.128 Hamann gibt offen zu, dass er von Nicolai eine „Antwort zu erpressen“129 beabsichtigt. Er belegt ihn mit der nicht eben schmeichelhaften Antonomasie ‚Polyphem‘, geht aber auch selbstkritisch und ironisch mit den eigenen Ambitionen um. So setzt er hinter „kreißendes Gebirge“ eine Fußnote, die aus Horaz’ Ars Poetica zitiert: Quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? Parturiunt montes, nascetur – – Horat. Ad Pisones.130
Hamann hat hier eine Stelle ausgelassen. Bis zu der Auslassung ließt sich der Vers: „Was wird dieser Prahler hervorbringen, das einer so großen Angeberei wert ist? Berge gebären, geboren wird – – “. Weggelassen hat Hamann ‚ridiculus mus‘ [eine lächerliche Maus]. Durch diesen freien Umgang mit dem Zitat lässt er die Qualität seines schon angepriesenen Werkes selbstironisch offen. Es könnte wohl sein, dass dabei eben nur etwas Lächerliches herauskommt – aber das lässt sich erst ermessen, wenn es gelesen und gemeinsam diskutiert wird. Mit was für einer Art Selbstgespräch haben wir es also hier zu tun? Es geht nicht um eine Disziplinierung der phantasia, die dem mit sich allein sprechenden Shaftesbury ziemlich Angst macht: 125 N III , 67,12. 126 N III , 78,1. 127 Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 334. 128 Vgl. dazu: Manfred Beetz: Freundschaftliche Strafgerichte. In: Acta 2010, 23. 129 N III , 67,15. 130 N III , 77,31–32.
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What! Am I to be thus fantastical? Must I busy myself with phantoms? […] What! talk to myself like some madman, in different persons, and under different characters! Undoubtedly, or ’twill be soon seen who is the real madman and changes character in earnest without knowing how to help it.131
Was Shaftesbury erschreckt, betreibt Hamann mit Selbstironie und einem spielerischen Vergnügen. Er spricht zu seinem ‚lieben Herz‘ und berät es dabei, eine Erfolgsstrategie zur Erreichung seiner Ziele zu finden, gibt aber auch kritische Einwände. Letztlich ist er aber dazu bereit, als Mien Man Hoam der Schwäche seines ‚lieben Herzens‘ nachzugeben und in dieser persona tatsächlich „[j]ustum et tenacem propositi virum“132 zu spielen, es also besser zu machen als Horaz, der eine „feige Memme“133 war. Hamann spielt hier auf eine Diskussion über die moralische Integrität des Horaz an, der, wie er selbst in einer Ode berichtet, in einer Schlacht seinen Schild zu Boden geworfen hatte.134 André Dacier übersetzt und kommentiert die betreffende Passage so, dass es sich wie ein Eingeständnis eigener Feigheit liest,135 hält Horaz aber zu Gute, diese Feigheit immerhin zugegeben zu haben.136 Pierre Bayle vergleicht Horaz mit zwei griechischen Dich131 Shaftesbury: Soliloquy, zit. nach: Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 336. 132 N III , 69,6. 133 N III , 69,5. 134 Horaz: Ode II ,7. In: Oden und Epoden. Nach der Übers. von Will Richter überarbei-
tet und mit Anmerkungen von Friedemann Weitz. Darmstadt 2010, S. 112–113: „tecum Philippos et celerem fugam / sensi relicta non bene parmula, / cum fracta virtus et minaces / turpe solum tetigere mento“ [Philippi habe ich mit dir erlebt und die eilige Flucht, / bei der ich schmählich den Schild zurückließ, / als die Widerstandskraft zerbrochen war und die ehedem drohenden Helden / mit dem Kinn besiegt den Boden berührten]. 135 André Dacier: Remarques critiques sur les ouevres d’Horace: avec une nouvelle traduction. Lyon 1696, S. 145: „Je me souvies encore de la sanglante journée / De Philippes & de nôtre fuite precepitées où / J’abandonnay lâchement mon bouclier aprés / Que la valeur eust esté contrainte de ceder, / & que le victorieux eust fait mordre / Honteusement la poussière à nos plus fiers / Combatans.“ [Ich erinnere mich noch an den blutigen Tag von Philippi und unsere überstürzte Flucht, als ich feiger Weise meinen Schild zurückließ, nachdem die Tapferkeit gezwungen war zurückzuweichen und der Sieger unsere kühnsten Kämpfer dazu brachte unehrenhaft in den Staub zu beißen, Übers. A. K.]. 136 Dacier: Remarques critiques (wie Anm. 135), S. 153: „Quelque lâche que fut cette action, Horace ne laisse pas de l’avouer, pour mieux relever la gloire d’Auguste, en reportant les circonstances de sa victoire & la terreur qu’il avoit donnée à ses ennemies.“ [Wie feige auch immer diese Handlung gewesen ist, Horaz unterlässt es nicht, sie einzugestehen, um besser den Ruhm des Augustus hervorzuheben, indem er die Umstände seines Sieges berichtet und den Schrecken, den er seinen Feinden eingejagt hatte, Übers. A. K.].
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tern, Alkaios und Archilochus, die ebenfalls ihre Schilde fallen gelassen hatten, allerdings dafür nicht getadelt worden waren,137 weshalb, so Bayle, Horaz guten Gewissens ihrem Beispiel folgen konnte. Der Ausdruck ‚feige Memme‘ stammt hingegen von Georg Ludwig von Bar, der Horaz gegen seine angeblichen Verleumder verteidigen wollte.138 Hamann selbst ist in seinen Bestrebungen, eine Veröffentlichung der Philologischen Einfälle zu bewirken, keineswegs feige. Er verwendet seine persona Mien Man Hoam gleichsam als ‚rhetorischen Schild‘, um aus der Position eines fiktiven Fremden heraus die zeitgenössische Gelehrtenwelt zu kritisieren, in der die „schlumernden Kunstrichter“139 die „heilige Sprache“ und „ihre allgemeine Signatur“140 nicht verstehen können. Mien Man Hoam alias Hamann geht es aber nicht allein um theoretisches Wissen, sondern auch um die praktischen Folgen, die sich aus der dem Menschen eigenen „richterlichen und obrigkeitlichen Würde eines politischen Thiers“141 ergeben. So besteht er auf der Zusammengehörigkeit von Kritik und Politik und damit auch darauf, die menschliche „Kunstfertigkeit das Wahre und Falsche, das Gute und Böse, das Schöne und Häßliche […] zu
137 Pierre Bayle: Art. „Alcée.“ In: Dictionnaire Historique et Critique. Nouvelle Edition.
Tome I. Genève 1969, S. 347: „Celui de tous les poetes latins, qui ressemble le mieux à Alcée, a confessé aussi-bien que lui dans ses poésies, qu’il s’était sauvé du combat, en jetant ses armes comme un meuble très-inutile à des fuyards. [...] Archilochus avait eu la même aventure avant Alcée, et s’en était confessé publiquement. Horace n’aurait pas été peut-être de bonne foi jusqu’ à ce point, s’il n’avait eu ces grands exemples devant les yeux.“ [Derjenige von allen lateinischen Dichtern, der Alkaios am meisten ähnelt, hat genauso wie er in seinen Dichtungen eingestanden, dass er sich vor dem Kampf gerettet hat, als er seine Waffen wie ein sehr unnützes Gerät den Flüchtenden entgegen warf… Archilochus hatte dasselbe Erlebnis vor Alkaios und hat sich öffentlich dazu bekannt. Horaz wäre vielleicht nicht guten Glaubens gewesen bis zu diesem Punkt, wenn er nicht diese großen Beispiele vor Augen gehabt hätte, Übers. A. K.]. 138 Die Haltung der so genannten ‚Verleumder‘ fasst von Bar so zusammen: „‚Sein glückliches Genie wird hoch gerühmt / Was spricht man aber von seinem Herze? / Horaz wär der ärgste Bösewicht, / Der ärgerlichste Schwelger, eine feige Memme.‘“ (Georg Ludwig von Bar: Der Gerächte und Gerettete Horaz. Nebst einigen andern Auszügen und Zusätzen aus den sinnreichen Schriften des Herrn von Bar. Frankfurt a. M. 1763, S. 2). Selbst meint von Bar, dass Horaz im Sinne „der Menschlichkeit, der Staatsklugheit, der Römer und Griechen Weisheit vollkommen gemäß“ (ebd., S. 18) gehandelt habe, weil er durch Wegwerfen des Schildes vermeiden konnte, von den Gegnern gefangen genommen zu werden. 139 N III , 76,9. 140 N III , 76,10–11. 141 N III , 37,25–26 (Philologische Einfälle).
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erkennen und sich zuzueignen“142 nicht durch staatliche Vorgaben einzuschränken.143 Es geht daher in Hamanns Version des Selbstgesprächs nicht, wie es für die Gattung typisch ist, um eine „moralische[…] Formung der Person durch Rede“144, sondern zum einen darum, auf andere Einfluss zu nehmen und seine Autorambitionen zu verwirklichen und zum anderen um Kritik daran, dass manche Autoren veröffentlicht werden, andere hingegen übergangen werden oder Zensur fürchten müssen. Herder hat seinen Freund Hamann nach brieflichem Erhalt des Selbstgespräch nachdrücklich gewarnt, dass eine Veröffentlichung der Philologischen Einfälle ihn wegen der darin enthaltenen Kritik an Friedrich II.145 ins Gefängnis bringen könnte146 Hamann hat sich dieser Gefahr schon durch das Versenden seines Selbstgesprächs an Nicolai ausgesetzt. Diese Autorhandlung zeigt, dass für ihn in der Tat, und nicht etwa nur auf dem Papier, Kritik und Politik zusammen gehören.
Fazit Die vorangehenden Analysen haben gezeigt, dass Hamann sehr verschiedene personae erfindet, um als Autor Überzeugungskraft aufzubauen und diese Figuren je nach Anlass, Adressat und Redeabsicht ganz unterschiedlich gestaltet. Der Schullehrer ist eine durchaus wahrscheinliche Figur, dabei aber weniger ein Individuum, sondern der Typus eines pflichtbewussten, gottesfürchtigen und dabei scharfsinnigen Menschen. Sein ethos, das vor allem Scharfsinn, Tüchtigkeit, und Wohlwollen gegenüber der Jugend und dem Leser beinhaltet, kommt den von Aristoteles genannten Eigenschaften, welche den Eindruck der Glaubwürdigkeit des Redners erst ermöglichen, sehr nah. Hamann steigert diese Eigenschaften
142 N III , 72,9–13. 143 Zu Hamanns Politikauffassung siehe: Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch (wie Anm. 81),
S. 125–134.
144 Butzer: Soliloquium (wie Anm. 115), S. 121. 145 Zu Hamanns Kritik an der Politik Friedrichs II . siehe: Bayer: Zeitgenosse im Wider-
spruch (wie Anm. 81), S. 134–137.
146 Brief von Herder an Hamann vom 11.3.1773: „Aber falls das Alles in vanum et irritum
wäre, schonet selbst Eurer wenigstens, mein Herr u. Freund! Daß man euch nicht ein Prytaneum gebe, das schon lange Zweifelsohne errichtet ist, u. viele große Leute, noch mehr ohne Zweifel, besessen u. bewohnt haben.“ (ZH III , 37,31–34).
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ins Extreme, um verbunden mit Strategien der Invektive seinen Gegner als Person in Misskredit zu bringen. Das ethos des Ritters gestaltet Hamann so, dass es als Mittel der Kritik an denjenigen zeitgenössischen Philosophien fungiert, die das Wirken eines persönlichen Gottes in der Welt ausschließen. Er erschafft eine unwahrscheinliche Figur, die Nähe zum Ursprung menschlicher Fähigkeiten wie Sprache und Schrift suggeriert und dabei zugleich die sinnlich-erotische Natur des Menschen emphatisch bejaht. Dabei insistiert der Ritter auf seinen rhetorischen Eigenheiten, seiner gelehrten ‚Mundart‘ und fordert damit den Leser dazu auf, sich mit der gewollten obscuritas schwieriger Stellen auseinanderzusetzen. Mien Man Hoam ist ebenfalls eine unwahrscheinliche Figur, die verschiedene Funktionen erfüllt. Die persona eines chinesischen Gelehrten erlaubt es, aus der fingierten Perspektive eines Fremden Kritik an der zeitgenössischen Gelehrtenwelt und der Veröffentlichungspraxis zu üben. Als vorgeblicher Aristoteliker lässt Hamann seinen Mien Man Hoam selbst eine Maske tragen, die ihn als ernstzunehmenden Gelehrten ausweisen soll. Als seine Autorpersona gestaltet Hamann mit der Figur des Mien Man Hoam das Genre des Selbstgespräch radikal um: Zum einen lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Situation von Autoren, denen die Unterstützung durch eine Gruppe fehlt. Zum anderen tritt er energisch sowohl für ein gesellschaftliches Miteinander ein, das auch Raum für Streit und heftige Gemütsregungen bietet als auch für eine Literaturauffassung, die anstelle eines Vollkommenheitsideals die Individualität des Schreibenden favorisiert. Das ethos nimmt bei Hamann die Zentralstellung unter den modi persuadendi ein, weil es zum einen ermöglicht, die Individualität des Adressaten, des Schreibenden und die Besonderheiten der jeweiligen Kommunikationssituation zu berücksichtigen und zum anderen, weil sich logos und pathos mit Hilfe von personae, die ein bestimmtes ethos haben, am besten von Autor zu Leser vermitteln lassen. Die für Hamann so wichtige Individualität liegt dabei in der Art und Weise, wie er das ethos seiner personae mit anderen Textelementen wie dem logos, dem Genre und der Wirkungsabsicht verknüpft und nicht so sehr in den Eigenschaften der personae für sich genommen. Der bescheidene Lebenswandel des Schullehrers und sein Pflichtbewusstsein, die religiöse Inbrunst des Ritters und die Gewissenhaftigkeit Mien Man Hoams als Gelehrter sind Eigenschaften, mit denen die Zeitgenossen moralisch verbindliche Werte verknüpft haben dürften. Anders verhält es sich mit Hamanns Neudefinition des Genre des Apologie durch das Einfügen invektivischer Elemente in die Rede des Schullehrers, der
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gewollten obscuritas des Ritters, dem dunklen Stil des Selbstgespräch147 und der Funktionalisierung der persona Mien Man Hoam, um das Literatur- und Geselligkeitsideal eines Shaftesburys zu kritisieren. Hier zeigt sich die Individualität der Hamannschen Schreibweise, die dem Allgemeinheits- und Systemanspruch der Philosophie die „individuelle[…] Denkungsart“148 und Schreibweise eines Philologen entgegen setzt und dazu das ethos als zentrales rhetorisches Mittel verwendet.
147 Hamann hat später handschriftlich eine selbstironische Bemerkung hinzugefügt: „Der
Vater der neuern Künsteleyen, […], Herr Hamann ist von neuen aufgetreten, und Selbstgespräche bekannt gemacht, die er auch nur selbst zu enträtzeln im Stande ist.“ (N III , 430). 148 Brief an Heinrich Schenk am 23. 7. 1786 (ZH VI , 477,12–13).
Hans Graubner (Göttingen) ‚Stil‘, ‚Anti-Stil‘ und ‚stilus atrox‘. Zu Hamanns Theologie des Stils
Hamann kannte die Tradition der Rhetorik in ihren wichtigsten Werken seit der Antike, schätzte sie und schrieb seine Texte mit und in diesem Wissen. Sein Wort: „… sind noch in der Mache“ im Titel dieses 12. Hamann-Kolloquiums will deshalb deutlich machen, wie stark Hamann an der rhetorischen Machart seiner Texte gearbeitet hat und wie wichtig es ist, seine Arbeiten im Lichte dieser Tradition zu erforschen. Hamann wäre trotz seiner Kritik an „der Kurzsichtigkeit der Magistrorum eloquentiae und ihrer Schulgesetze“1 nicht auf die Idee des späteren Kant gekommen, die Techniken der „ars oratoria“2 generell als „Maschinen der Überredung“3 zur „künstlichen Überlistung“4 der Zuhörer zu verdammen, freilich nicht, weil er die Rhetorik von solchem Verdacht frei, sondern weil er Kants auf die Genie-Ästhetik zielendes Gegenmodell: „In der Dichtkunst geht alles ehrlich und aufrichtig zu“5 für den Ausdruck einer hybriden Selbstverkennung des Menschen hielt. Wenn man Hamanns Äußerungen zum „Stil“ ins Auge fasst, dann wird deutlich, wie problematisch ihm jegliches schriftstellerische „Machen“ als eigenes Können war. Er reflektiert es im Kontext seiner christlichen Anthropologie und verortet es in der Zwiespältigkeit des Menschen seit dem Sündenfall. Mich erinnert die „Mache“ im Titel der Tagung deshalb an ein Wort Paul Celans. Als dieser gefragt wurde „Wie macht man ein Gedicht?“, wies er die Frage zurück, denn er habe beobachtet, „wie das ‚Machen‘ über die Mache allmählich zur Machen-
1 N IV, 422,24 f., Anm. 7 (Über den Styl). 2 Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 5, Kritik der
Urteilskraft. Wiesbaden 1957, S. 430.
3 Ebd. 4 Kant: Kritik der Urteilskraft (wie Anm. 2), S. 431. 5 Ebd.
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schaft wird.“6 Der Theologe Hamann hat diese elementare Gefahr menschlichen Machens bei seinem eigenen Schreiben ständig im Auge. Er ist überzeugt, dass er, wenn er seinen Text in die „Mache“ nimmt, notwendig eine Kompetenz Gottes, des einzigen originalen „Schriftstellers“,7 usurpiert, die er bei seiner Nachahmung ebenso notwendig missbrauchen und sich deshalb bemühen muss, diesen Missbrauch in Grenzen zu halten. Solche Bemühung ist die entscheidende schriftstellerische Anstrengung Hamanns, wenn er im Schweiße seines Angesichts seine Texte „macht“. Denn der menschliche Autor ist ständig versucht, seine Schreibkompetenz als eigene, autonome Kompetenz zu verstehen, seine bloße Mimesis einer empfangenen Fähigkeit als gottgleiche Originalität auszugeben und über die Mache in die Machenschaft zu geraten. Es ist deshalb kein Wunder, dass der Begriff des Stils für Hamann einer der wichtigsten Begriffe aus der Rhetorik geworden ist. Denn am Stil – so seine Überzeugung – entscheide sich, ob ein Text von der demütigen Mimesis oder der hochmütigen Machenschaft regiert wird, ob der Schriftsteller den erniedrigten, Mensch gewordenen Gott in Christus nachahmt oder sich als gottgleichen Schöpfer missversteht. Bekannt ist Hamanns Wort, dass er „ein anderer Lavater in der Physiognomia des Styls“8 sei. Lavater versuchte, in allen Menschengesichtern die Physiognomie des Gottessohns nachzuweisen. Hamann teilt die Intention Lavaters, verwirft jedoch dessen optischen „Thomasglauben“.9 Nur am unsichtbaren Stil sei zu erfahren, ob ein Text sich mimetisch in der Sohnschaft oder autonom in der Machenschaft bewegt. Ich bemühe mich um das Thema in drei Abschnitten: 1. Stil und Plan, 2. Stilus atrox und Anti-Stil, 3. Gottes Stil und Menschenstil.
Stil und Plan Der Begriff ‚Stil‘ ist mit der Vorstellung von Einheit verknüpft. Der Alters- oder Jugendstil z. B. soll einheitliche Merkmale des Alters oder der Jugend, der TextStil einheitliche Stilzüge auf allen Ebenen der Sprache eines Textes aufweisen. Die Sicherung der Einheit des Stils bindet Buffon in seiner berühmten Stilrede, deren Übersetzung ins Deutsche Hamann wenn nicht selbst vorgenommen, so 6 Paul Celan: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt
a. M. 1986, Bd. 3, S. 178 (Brief an Hans Bender).
7 Londoner Schriften, 59,3. 8 ZH III , 135,7 f. (an Herder). 9 N III , 402,29 (Fliegender Brief ).
Zu Hamanns Theologie des Stils
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doch für seine Absichten eingerichtet und mit Anmerkungen kommentiert hat,10 an den Plan, an die „Anordnung der Grundideen und Hauptbegriffe“.11 Hamann identifiziert diesen Plan mit der dispositio einer Rede und setzt zum Begriff der „Anordnung“ die erste seiner zwölf apostolischen Anmerkungen, mit denen er Buffons Schrift christologisch umdeutet: „Man denke hier an kein Spinngewebe von Dispositionen, welches […] auf einen groben Mechanismum […] des Schulund Modewitzes hinausläuft“.12 Grob und mechanisch ist eine solche dispositio, wenn sie ihre Einheit aus dem rationalen Aufbau eines logischen Zusammenhangs gewinnt, der als geometrische Methode zur Mode geworden ist. Dafür steht bei Hamann die Metapher „Spinngewebe“ und als abschreckendes Beispiel Spinoza: „Spinnen und ihrem Bewunderer Spinoza ist die geometrische Bauart natürlich“.13 Einer solchen Art dispositio setzt Hamann in der ersten Anmerkung eine Einheitsquelle anderer Art entgegen: „hier“ sei nämlich „eigentlich die Rede von demjenigen, was nach der Analogie der ganzen Natur und ihrer Organisation zum Leben, das punctum saliens und die prima stamina des Embryons in der Seele eines Autors vorstellt.“14 In der „Seele eines Autors“ liegt danach der springende Punkt eines Embryos seiner Sprachgebung, aus dem die lebendige Einheit seines Stils entsteht, wie aus dem Samen ein Lebewesen, dessen einheitliche Gestalt in ihm präformiert liegt. Wichtig ist, dass diese Einheit des Stils „nach der Analogie der ganzen Natur“ vorgestellt wird. Es ist nur eine Analogie, nur die bildliche Vorstellung einer Einheit, deren Grund verborgen bleibt. Das liegt daran, dass Menschen sich auch diesen Grund nur bildlich vorstellen können. Denn er ist selbst ein Bild, eine Analogie, nicht zur Natur, sondern zu Gott. Das Bild vom Samen des Stils ist also nur eine Analogie zu einer Analogie Gottes, ein Bild von dessen Bild, nämlich von dessen Ebenbild. Hamann interpretiert dieses Ebenbild durchweg als den erniedrigten Gott in Christus und macht die dagegen gerichtete Interpretation des Ebenbildes als Gleichheit mit dem Schöpfergott zum Ursprung aller menschlichen Machenschaft. In der Stilschrift zu Buffon nennt er das Ebenbild Christi eine „Miniatur-Malerey“,15 also ein Miniaturbild und über-
10 Vgl. dazu: Hans Graubner: Hamanns Buffon-Kommentar und seine sprachtheologische 11 12 13 14 15
Deutung des Stils. In: Acta 1992, 277–303. N IV, 419,41 (Über den Styl). Ebd., Z. 42–44. ZH II , 203,36 f. (an J. G. Lindner). N IV, 419,44–46, Anm. 1 (Über den Styl). N IV, 423,56, Anm. 10 (Über den Styl).
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Hans Graubner
nimmt damit Luthers Vorstellung von „einem kleinen Bilde“16 aus der Psaltervorrede, das den „gründlichen Schatz“ der „Seele“17 in des Menschen „Herzens Grund“18 ausmacht. Eben dieses ‚kleine Bild‘ versenkt auch Hamann in die „Seele eines Autors“.19 Wie aber kann sich dieses Miniatur-Ebenbildbild in der Seele des Autors als dispositio, als Plan, analog zum punctum saliens im Embryo, in Rede und Schrift eines Autors zur Einheit seines Stils ausbreiten? In der berühmten Kuhhaut-Stelle der Aesthaetica hat Hamann zum Ausdruck gebracht, dass nicht Einbildungskraft oder Verstand die Einheit eines Stils zustande bringen, sondern Empfindung und Leidenschaft. Ein „Gemüth im Affect“ wird von allem, „was noch so entfernt ist […] mit einer besonderen Richtung“ getroffen ebenso, wie umgekehrt „jede einzelne Empfindung sich über den Umkreis aller äußeren Gegenstände verbreitet“.20 Diese Gemütskräfte helfen „die allgemeinsten Fälle durch eine persönliche Anwendung uns zuzueignen“ und „jeden einheimischen Umstand zum öffentlichen Schauspiele Himmels und der Erden aus[zu]brüten.“21 Hamanns Stilschrift bezieht diesen „allgemeinsten Fall“ auf das Miniatur-Ebenbild im Herzen jedes Menschen, wo es die innigste „einheimische Selbsterkenntniß“22 ermöglicht, deren Stil sich über Himmel und Erde ausbreiten kann. Die „individuelle Wahrheit“ des Miniaturbildes „wächst zur Grundfläche eines Plans, wunderbarer als jene Kuhhaut zum Gebieth eines Staats“.23 Sinne und Leidenschaften also erfassen jenes Miniaturbild und breiten seine Einheit als Stil aus, denn auch für dieses innere Ebenbild gilt: „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.“24 Der ausgebrütete und ausgebreitete Stil trägt emotionalen, nicht rationalen Charakter. Das allen Menschen innewohnende Miniaturbild ist für Hamann der „allgemeinste Fall“ einer „Wahrheit“, die wir uns „zueignen“. Es ist der Inbegriff dessen, was Hamann Individualität nennt. Individuell ist danach die Unteilbarkeit des Ebenbildes, nicht die Unverwechselbarkeit des Einzelmenschen. Die individuelle Allgemeingültigkeit des im Menschen liegenden Ebenbildes ist deshalb der Ursprung der Einheit eines 16 Martin Luther: Zweite Vorrede auf den Psalter 1528. In: Luthers Vorreden zur Bibel. Hg. 17 18 19 20 21 22 23 24
von Heinrich Bornkamm. Göttingen 31989, S. 69. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. N IV, 419,46, Anm. 1 (Über den Styl). N II , 208 f. (Aesthaetica). Hervorhebungen H. G. N II , 209,3 f. N IV, 424,45, Anm. 11 (Über den Styl). N II , 209,4–6 (Aesthaetica). N II , 197,22 (Aesthaetica).
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Autorstils. Hamann setzt sie der logischen Allgemeingültigkeit entgegen, indem er provozierend sogar den Begriff „abstract“ für die individuelle Universalität des Miniaturbildes entwendet. Über seine Vermischten Anmerkungen schreibt er an Moser: „Es sind wenige Blätter, welche den Himmels- und Nationalstrich nicht verleugnen. Alles ist so local und individuell, das heißt, so abstract als möglich“.25 Dieser individuell-abstrakte Plan des Stils entfaltet sich also durch Empfindung und Leidenschaft, nicht durch Einbildungskraft und Verstand, er ist sinnlich-embryonal empfangen und nicht poetisch oder logisch gemacht. Aber seit dem Sündenfall ist jeder Autor immer in der Versuchung, das empfangene Miniaturbild nicht als Ebenbild des erniedrigten Christus, sondern als Ebenbild des erhabenen Schöpfers zu deuten, dessen Schaffenskraft er nachahmt, als eigene Schöpferkraft verkennt, den Sündenfall leugnet und wie Pygmalion von seinem eigenen Machwerk begeistert ruft: „Das ist doch Bein von meinem Bein, und Fleisch von meinem Fleisch!“26 Die Einbruchstellen für diese Selbstverkennung sind für Hamann die beiden Verführungskräfte des Menschen: Einbildungskraft und Verstand, die das sinnlich Empfangene zu eigenem, menschlich Gemachtem weiterverarbeiten. Das ist Hamanns von Hume gelernte Lektion, die er auf die christliche Anthropologie überträgt. Die sekundäre, als eigenes Können gedeutete Produktivität von Einbildungskraft und Verstand gefährden nach Hamanns inniger Selbsterfahrung besonders das Schreiben. Weil ein Autor beim ‚Machen‘ seines Textes immer die Autorschaft Gottes usurpiert und sich zueignet, weiß er, dass: „[j]ede Autorschaft […] schon an sich eine Versuchung [ist,] – es beßer wie die ganze Welt zu machen, oder wenigstens wie sein Nächster.“27 In der Autoreitelkeit sieht Hamann jene UrEitelkeit flackern, die uns der Sündenfall des Seinwollens wie Gott eingebrockt hat, und fährt deshalb fort: „Es ist der Weg alles Fleisches, das gekreuzigt werden muß samt den Lüsten und Begierden.“28 Schließlich erhebt er die Begierde, andere zu übertreffen, zum sündigen Ursprung allen Unheils: „Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Aufruhrs“.29 Hamanns eigener Umgang mit diesem unumgänglichen Stigma des Schreibens liegt in der Bemühung, sich dessen bei jedem Satz, den er ‚in der Mache hat‘, bewusst zu sein und die unaufhebbar eitlen Machenschaften von Einbildungs25 26 27 28 29
ZH III , 67,22–24. N II , 200,23 f. (Aesthaetica). ZH VI , 164,13 f. (an Jacobi).
Ebd., Z. 16 f. N III , 299,33 f. (Golgatha und Scheblimini).
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kraft und Verstand nach dem „evangelische[n] Gesez der Sparsamkeit“30 klein und dicht am leidenschaftlich empfundenen Miniaturbild des inneren, erniedrigten Christus zu halten. Darin bestehen der Plan und die „Oekonomie des Styls“31 von Hamanns Autorschaft, die er deshalb seine „Miniaturautorschaft“32 nennt. Natürlich ist die evangelische Sparsamkeit keine rhetorische Anweisung zur Kürze. Mit dem empfangenen und empfundenen Miniaturbild soll der Autor sprachlich durchaus nach Herzenslust wuchern, Sparsamkeit ist nur geboten bei den unvermeidlichen Zusätzen von Einbildungskraft und Verstand. Wer allerdings das Miniaturbild als Keimzelle von Hamanns Stil kappt, hat keine Chance, dessen Oekonomie zu verstehen. Die beiden prominentesten Nachahmungen seines Stils, Herders Dithyrambische Rhapsodie und Goethes Von deutscher Baukunst sind aus diesem Grunde gescheitert. Herder gab es auf und hat seine Parodie nie veröffentlicht, Goethe gab es zu und kritisierte seine eigene Schrift in Dichtung und Wahrheit.33
Stilus atrox und Anti-Stil Dieser Abschnitt ist ein kurzer Durchgang durch Hamanns Zoologie des Stils. Es fällt auf, dass er sich zur Charakterisierung von Stilen eine virtuose Vielfalt von Tiervergleichen einfallen lässt. Der Grund ist leicht zu erkennen. Ein Tier kann in seinem Verhalten nie vom punctum saliens seines Schöpfungsplans abweichen. Mit anderen Worten: ein Tier kann nicht sündigen, sondern darf die Einheit seines Stils ohne Bruch leben. Ganz anders der Mensch. Er eignet sich nach dem Sündenfall die verschiedensten Stile an, die seine Nähe oder Ferne zum Ursprung, zum punctum saliens seiner Autorschaft anzeigen. Ausgangspunkt von Hamanns Zoologie des Stils ist sein früher Brief an Kant, wo er einen Heuschreckenstil von zwei Schlangenstilen unterscheidet: Jedes Thier hat im denken und schreiben seinen Gang. Der eine geht in Sätzen und Bogen wie eine Heuschrecke; der andere in einer zusammenhängenden Verbindung wie eine Blindschleiche im Fahrgeleise, der Sicherheit wegen, die
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ZH V, 88,16 f. (an den Sohn Michael). Ebd., Z. 18. N III , 372,5, N III , 373,11 (Fliegender Brief ). Goethes Werke. Hg. von Erich Trunz (Hamburger Ausgabe). Bd. 9 (Autobiographische Schriften). Hamburg 51964, S. 508.
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sein Bau nöthig haben soll. Der eine gerade, der andere krumm. Nach Hogarths System ist die Schlangenlinie das Element aller malerischen Schönheiten.34
Die beiden Schlangen signalisieren zwei Stile, die von der Schlange der Verführung zur Gottgleichheit geleitet sind. Der eine ist „blind“ für die Leitung durch das Miniaturbild und muss sich deshalb selbst „Sicherheit geben“ durchs Schleichen im „Fahrgeleise“ der Begriffs-Logik.35 Der andere schlängelt sich auf der Linie der Schönheit am Miniaturbild vorbei und versucht es mit ästhetischen Einbildungen zu überbieten. Damit sind wieder die beiden Verführungskräfte zur Autonomie des Menschen und zur Leugnung des Sündenfalls benannt: Verstand und Einbildungskraft. Da sie aber bei keinem Machen des sündigen Menschen auszuschalten sind, gilt es, sich ihrer Verführungskraft bewusst zu sein und ihren Einfluss mit evangelischer Sparsamkeit gering zu halten. Einen Stil, der von dieser Sparsamkeit nichts wissen will und sich völlig der Eigenleitung von Verstand und Einbildungskraft überlässt, nennt Hamann den „Virtuosen-Styl“.36 Ein Stil dagegen, der den Samen des Miniatur-Ebenbildes durchscheinen lässt, kann ein „spermologischer Styl“,37 also ein Samenstil sein. Gemäß der Bilderbindung Hamanns nimmt der Virtuosenstil seinen Ausgang vom Schlangenstil, sei es als logische Blindschleiche, oder als ästhetische Schönheitsschlängelei. Es ist bei beiden die eingebildete, gegengöttliche Eigenständigkeit des Menschen, die „zusammenhängende Verbindungen“ erfindet, und meint, durch einen fiktiven systematischen „Bau“ die „Sicherheit“ des Menschenlebens in die eigene Hand nehmen zu können. Der Begriff „System“ („Hogarts System“) macht deutlich, dass Hamann nicht nur die logische Konstruktion, sondern auch die ästhetische Komposition diesem autonomen Sicherheitsbau zuschlägt. Das ist eine Seite der Hamannschen Argumentation, die gerne übersehen wird. Der Siegeszug der Ästhetik und die Bewunderung der Schönheit bei seinen Zeitgenossen ist Hamann von seinen ersten Schriften an verdächtig. Er greift sie an als die ‚schöne Natur‘ der zeitgenössischen Ästhetik, welche die Bindung an „das Original zur schönen Natur“38 verloren hat, oder als ‚schönen Geist‘ (bel esprit), den er direkt dem Teufel zueignet, dem „schönen Geiste, fürchterlichen Andenkens“,39 34 ZH I , 379,24–29 (an Kant). 35 Hamanns Einschätzung der Blindschleiche kommt entgegen, dass sie nach 3 Mos 11,30 f. 36 37 38 39
als „unrein“ gilt. ZH IV, 192,26 (an Herder). ZH IV, 175,19 (an Herder). N II , 200,12 f. (Aesthaetica). ZH II , 416,16 (an Herder).
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der sich dem „schöpferischen Geist“40 Gottes entgegenstellt. Die Verführung durch die „Schlangenlinie“ der Schönheit scheint für Hamann wesentlich gefährlicher zu sein als die Verführung durch die „Blindschleiche“ des Verstandes. In einem frühen Brief flieht er geradezu die „Augenweide des Landlebens“,41 weil er „in der gaukelnden Lüsternheit“ der schönen Natur „ausschweifen“,42 d. h. dazu verführt würde, sie in einen ästhetischen „Götze[n]“43 zu verwandeln. Schon in seiner Rezension von Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zeigt Hamann, wie Kant das Schöne von den sinnlichen Empfindungen ablöst und in die Intellektualität der Moral, in die „Tugend“44 verlagert, wobei die „fünf Sinne des Menschen gänzlich übergangen“45 werden. Hamann betont nachdrücklich, dass die Schönheit dem Inbegriff der Sinnlichkeit, der Geschlechtlichkeit des endlichen Menschen, entspringt, aber von den „Virtuosen“ des Stils dieser Sinnlichkeitsbindung beraubt und zu einer fiktiven reinen Schönheit, zu einem Götzenbild abstrahiert werde. Sie trennen die Schönheit von der Sexualität, von „Eva“, dem „Original zur schönen Natur“,46 von der „Mutter aller Lebendigen“.47 Das Schöne beim Schreiben aus der sexuellen Bindung an das punctum saliens des Samens herauszulösen und als Eigenleistung zu rühmen, ist ein deutlicher Vollzug des Sündenfalls. Hamann weiß, dass auch seine eigenen Schriften immer wieder durch Schönheit faszinieren. Ihr zu widerstehen und das Geschriebene „inter faeces et urinas“ zu halten, gilt deshalb seine stilistische Anstrengung. Hier der eigenen Autoreitelkeit entgegenzutreten, ist die schwerste Aufgabe eines menschlichen Schriftstellers. „Schönheit“, so gesteht Hamann, „ist ein mimischer Engel des Lichts, deßen Nachahmung ich zum Muster nehme, so sehr ich den Sinn verabscheue.“48 Der mimische Engel des Lichts, der Gott nachahmt, um als Gegengott aufzutreten, ist Lucifer,49 den also auch der „mimische“ Schriftsteller Hamann immer wieder „zum Muster nehmen“ muss, obwohl er den widergöttlichen „Sinn“ dieser Nachahmung „verabscheut“. Aber er bemüht sich, 40 ZH II , 415,23 und 27. 41 ZH I , 364,3. 42 ZH I , 363,34. 43 Vgl. N II , 206,25: „Jede Kreatur wird wechselsweise [durch die Logik] euer Schlacht
opfer und [durch die Ästhetik] euer Götze.“
44 N IV, 290,46 (Rez. von Kants Beobachtungen). 45 Ebd., Z. 36 f. 46 N II , 200,12 (Aesthaetica). 47 N III , 201,5 f. (Sibylle über die Ehe). 48 ZH VII , 168,34–36 (an Jacobi). 49 Vgl. dazu: N III , 370,3 f.: „… die […] Apollyons und Abaddons, mimischen Engel und
Morgensterne ihres verklärten Jahrhunderts und Vaterlandes […]“ (Fliegender Brief ).
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die ästhetische Machart nicht als Selbstruhm, sondern nur als Feigenblatt, als Überkleidung seiner „Blöße“50 erscheinen zu lassen. Zurück zur Zoologie des Stils: In den Bereich des Schlangenstils der „Virtuosen“ gehört auch der anfangs erwähnte Spinnenstil und zwar wegen des schwankenden „Baus“ seines Spinngewebes, das der Virtuose mit der Regelmäßigkeit der „geometrische[n] Bauart“,51 aus sich selbst herausspinnt und meint, ihm mit dieser Bauart „Sicherheit“ zu verleihen. Zu der reichen Variation seiner Tierstile lässt Hamann sich auch durch die kuriosen Tierbeschreibungen aus Buffons Naturgeschichte anregen. So leitet er aus dessen Darstellung der Katze den Katzenstil ab, der den Licht-Virtuosen der Aufklärung wie Nicolai oder Helvétius eigen ist, die „aus dem Fell der schwarzen Katzen“ in der Finsternis der blinden Virtuosenwelt blendende Funken heraus „streichel[n]“,52 ein Stil, den Hamann mit dem Zusatz „schlüpfrig“53 als Schlangenstil kenntlich macht. Für Nicolais Versuch, den sprunghaften Stil seines Königsberger Kontrahenten nachzuahmen, reserviert Hamann aus Buffons „Histoire naturelle du Lievre“54, den Stil des Hasen, wegen dessen „Überschwängerungen“, also der Fruchtbarkeit seines Geschwätzes, seines „Schlaf[s] mit offenen Augen“ und der „Leichtfertigkeit“ seines „leisen hochtrabenden Galops“.55 Gegen alle Schlangenstile und ihre abkünftigen Modi steht aber der Heuschreckenstil. Er hält sich weder an das „Fahrgeleise“ der Logik noch an die „Schlangenlinie“ der Ästhetik, sondern überhüpft beide. Deshalb muss er aus ihrer Sicht als „schrecklich“ erscheinen. Weil er Schrecken erregt, wählt Hamann die Heuschrecke zum Vorbild eines Stils, der die Verführungen überspringt und sich eng an den springenden Punkt, an das punctum saliens des Miniaturbildes hält. Diese Herkunft zeigt der Heuschreckenstil auch dadurch an, dass er an eine der sieben schrecklichen Plagen erinnert, mit denen Gott die Eigenherrschaft des Menschen in Gestalt des Pharaos züchtigt.56 Zur Sprunghaftigkeit des Heuschreckenstils gehört auch der Schweinestil aus „Buffons Histoire naturelle du Cochon“57 und 50 Londoner Schriften, 226,27; N III , 372,19 (Fliegender Brief ); ZH I , 448,5–18 (an Kant):
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„Wir müßen aber unsere Schwächen und Blößen so genau kennen lernen, daß keine Eyfersucht noch Misverständnis unter uns möglich ist. Auf Schwächen und Blößen gründet sich die Liebe, und auf diese die Fruchtbarkeit.“ ZH II , 203,37 (an J. G. Lindner). N IV, 421,43, Anm. 6 (Über den Styl). Ebd., Z. 53. N III , 188,8 (Zweifel und Einfälle). Ebd., Z. 11–13. 2 Mos 10. N III , 188,6 (Zweifel und Einfälle).
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zwar deshalb, weil Buffon diese „heilige Thiergattung“, wie Hamann sagt, in seiner zoologischen Systematik nicht unterbringen kann und sie unter die „zweideutigen Gattungen“,58 die „irregulären Produktionen“59 Gottes einreiht, welche dessen Sprünge anzeigen und in der von Buffon konstruierten Kette der Wesen nur als Pausenfüller erscheinen können: „ils remplissent les intervalles de la chaîne“.60 Hamann lässst sich die Pointe nicht entgehen, mit der Zuweisung des Schweinestils zum Stil Gottes den niedrigsten, skandalösesten Punkt seiner Kondeszendenztheologie des Stils zu markieren. Die entscheidende tierische Vorlage für Hamanns sprunghaften Stil aber liegt im Stil eines Rehs. Das Reh ist wie alle seine Stil-Tiere ein literarisches Tier und stammt aus dem Hohelied Salomos, dem canticum canticorum. Dort ist der „Freund“ der Braut „gleich einem Rehe oder jungen Hirsch.“ Er „kommt und hüpfet auf den Bergen und springet auf den Hügeln“, und „er stehet hinter unserer Wand und siehet durchs Fenster“61. Dieser Freund ist das punctum saliens des Miniaturbildes, dessen Allgegenwart die Einheit des Rehstils garantiert. Hamann schreibt über seinen eigenen Stil: „Bald sind es Berge, bald Hügel, auf denen ich wie ein flüchtiges Reh springe [ – ] und Staub mache.“62 „Staub machen“ steht natürlich nicht im Hohelied. Das ist Hamanns ergänzende Einsicht in die ‚Kollateralschäden‘ des Machens durch Einbildungskraft und Verstand, die auch die sparsamste Nachahmung dieses Stils anrichtet. Wichtig ist, dass Hamann mit dem Stil des Rehs dessen Braut gewinnt, die das punctum saliens empfängt und zum Austragen der Frucht anleitet. Sie wird Hamanns Muse, welche die sinnliche Bindung des Stils an die Sexualität durch einen „actum gesunder Empfänglichkeit“63 sichert. Mit dem Ausruf: „Eine sey meine Muse!“64 überträgt er ihr die Leitung seines Stils. Aber diese eine Muse ist im Hohelied zugleich „lieblich“ und „schwarz“,65 oder, wie Hamann sagt: „schön wie der Mond“ und „schrecklich wie die Heerspitzen“.66 Sie hält die Einheit seines
58 „Les especes ambiguës“ (N IV, 422,26, Anm. 7, Über den Styl). 59 „les productions irrégulières“ (ebd.). 60 Ebd., Z. 28. 61 Hhld 2,8 f. 62 ZH I , 411,1 f. (an Lindner). 63 N IV, 423,54, Anm. 10 (Über den Styl). 64 N IV, 424,49 (Über den Styl). 65 Hhld 1,5; N II , 103,4 f. (Wolken): „Wahrheit ist mein Mädchen; schwarz, aber gar lieblich“. 66 N IV, 424,49 f., Anm. 11 (Über den Styl).
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Stils aufrecht, auch wenn sie sich je nach Gegner aus der lieblichen Braut in eine „Sibylle“67, eine „Furie“68 oder gar eine „Hexe zu Kadmonbor69 verwandelt. Nun ist klar, warum Hamann für den aus dem Miniatur-Ebenbild über Heuschrecke, Schwein und Reh entwickelten Stil den Begriff „stylus atrox“70 von Petronius71 annektiert. In der Perspektive aller Schlangenstilordnungen, gegen die er sich richtet, ist dieser Stil dunkel und schwarz, drohend und schrecklich, wild und unberechenbar. Für den äußersten Schlangenstil aber, der jegliche Verbindung mit dem Miniaturbild Christi verloren hat, mit dem der Teufel gleichsam seine Schlangenmaske fallen lässt, reserviert Hamann in der zwölften und letzten seiner apostolischen Anmerkungen analog zum Begriff ‚Anti-Christ‘ den Begriff „Anti-Styl“72 und spielt damit an auf den ersten Johannesbrief: „Das ist der Widerchrist, der den Vater und den Sohn leugnet.“73
Gottes Stil und Menschenstil Die Nachahmung des Miniaturebenbildes als hüpfender Stil gegen die schleichenden Schlangenstile, die das Miniaturbild Christi im Menschen ausklammern, verweist darauf, dass alle menschliche Nachahmung eine Nachahmung von Gottes Stil ist. Er ist der einzige Stilist, weil der einzige originale Schriftsteller. Die Schlangenstile allerdings glauben Gottes Schöpferkraft nachzuahmen und verkennen ihren Stil als eigenmächtige, autonome Kompetenz des Menschen. Was aber ist der Stil Gottes, den der Reh- und Heuschreckenstil nachzuahmen versucht? Es ist kurz gesagt der „Stylus curiae des Himmelreichs“, denn dieser „bleibt […] der sanftmüthigste und demüthigste.“74 Das ist natürlich nicht der rhetorische stilus humilis, denn er umgreift auch das Schreckliche des stilus atrox. Hamann charakterisiert mit Sanftmut und Demut den Inbegriff von Gottes Kondeszendenz, der sich in allem, was er schreibt und zeugt, zur menschlichen Fassungskraft herablässt, sich „seiner Majestät entäußert“, und dadurch seine Nei67 68 69 70 71
N III , 197 (Sibylle über die Ehe). ZH V, 450,20 (an Jacobi). N III , 81 (An die Hexe zu Kadmonbor). N IV, 421,54, Anm. 5 (Über den Styl).
Petronius: Satyrica. Sammlung Tusculum. München 31983, S. 12, Z. 14 f. – Lesart für „stilus atticus“. 72 N IV, 425,51, Anm. 12 (Über den Styl). 73 1 Joh 2,22. Vulgata: „hic est antichristus qui negat Patrem et Filium“. 74 N II , 171,24–26 (Kleeblatt hellenistischer Briefe).
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gung und Liebe zum Menschen ausdrückt. Er passt sich mit der Schöpfung an die sinnliche Wahrnehmung des Menschen, mit der Bibel an den „Menschengriffel“ und mit Christus sich selbst an die Person des Menschen an.75 Hamann nimmt diesen Kondeszendenzstil Gottes und die Möglichkeit seiner Mimesis so ernst, dass er ihn so nahe wie denkbar an die Endlichkeitsbedingungen des Menschen heranführt. Die beiden wichtigsten Spiegelungen des Menschenstils in Gottes Stil oder, wie Hamann sagt, in den „Anthropomorphosen“76 Gottes, sind die Sprache und die Sexualität. Im Miniaturbild in der Seele des Menschen werden sie als Gottes Schrift und Gottes Samen zusammengeführt. Christus ist Wort und Samen. Gottes Sprache lässt sich sogar herab bis zum Sprechen im „Dialecte“77 oder gar in „Soloecismen“,78 in fehlerhafter Sprache. Die Spiegelung der Sexualität entfaltet Hamann von einem „unmittelbaren actum gesunder Empfänglichkeit“79 seiner Muse bis zum Stil Gottes, dessen „schöpferischen Geist“ er sich, wie er in einem grundlegenden Brief an Herder schreibt, nicht „ohne genitalia vorzustellen“80 vermag. Andeutend identifiziert Hamann „mens“ und „mentula“ durch die Abkür75 N II , 171,4–8 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe): „Es gehört zur Einheit der göttlichen
Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist.“ 76 Hamann nennt solche Spiegelungen „privilegierte Anthropomorphie“ (N III , 18,28 f., Zwo Recensionen) oder im Unterschied zum Anthropomorphismus: „Das Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose“ (N III , 192,20 f., Zweifel und Einfälle). 77 N II , 204,8 (Aesthaetica). Das hat Hamann von Hervey gelernt. Gott „läßt […] sich zu einer schlechtern Mundart herab“, die „man die vertrauliche oder gemeine Schreibart nennen“ kann (James Hervey: Erbauliche Betrachtungen zwischen Theron und Aspasio, über die Herrlichkeit der Schöpfung und die Mittel der Gnade. 2. Teil. Hamburg und Leipzig 1755, S. 21). Engl: „Here, He descends to a plainer Dialect. This may be termed, the familiar Style.“ (Theron and Aspasio: or a series of dialogues and letters […]. London 1755, S. 16). 78 N II , 171,17 f. (Kleeblatt Hellenistischer Briefe): „DEI Dialectus, Soloecismus; sagt ein bekannter Ausleger“. Hamann meint Bengel (Kleeblatt Hellenistischer Briefe. Hg. und kommentiert von Karlheinz Löhrer. Frankfurt a. M., Berlin, Bern u. a. 1994 [= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe A, Bd. 8], S. 55). 79 N IV, 423,54, Anm. 10 (Über den Styl). 80 ZH II , 415,23 (an Herder). Vgl. zur Auslegung dieses Briefs: Hans Graubner: Origines. Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder, In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, hg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 108–132.
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zung „ment-“ so sehr, dass der „Frevel“81 der Kreuzigung Christi als Kastration von Gottes Stil erscheint. Da der Stil Gottes bis zur Selbstvernichtung die aus Einbildungskraft und Verstand gespeisten Stile menschlicher Machenschaft durchstreicht, ist er das Vorbild für den stilus atrox, der sprunghaft den „Schrecken“ der „Speerspitzen“ und den „Freund“ hinter dem „Fenster“ zugleich ausdrückt. Für dieses Stilvorbild Gottes gilt: Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung!82
Diese Formulierung, welche, wie es weiter heißt, vom „Nichts“ Gottes zu seiner, „innigsten Zuthätigkeit“ springt, betont mit der „Einheit des Urhebers“ und dem „Ein[en] Ton von […] Höhe und Tiefe“ wieder die Einheit des Stils, von der am Anfang die Rede war. Diese Einheit wurde weder aus logischer Konstruktion noch aus ästhetischer Komposition, sondern aus leidenschaftlicher Empfindung gewonnen. Fragt man abschließend nach dieser emotionalen Einheit in Gottes Kondeszendenzstil, so wird man mit Hamann sagen, dass sie in der Liebe besteht, während die Grundemotionalität des menschlichen Stils trotz aller evangelischer Sparsamkeit die Eitelkeit bleibt.
81 N III , 378,6 (Fliegender Brief ). 82 N II , 204,7–10 (Aesthaetica). Hervorhebungen H. G.
Sina Dell’Anno (Basel, Schweiz) Stilistischer „Medusenschild“. Hamanns monströse Schreibart im Kontext von Jean Pauls Rhetorik des Witzes Mit einem Ausblick auf die satirischen Vorbilder des stilus atrox
Mit dem IX . Programm Über den Witz konkretisiert sich Jean Pauls Vorschule der Ästhetik zu einer Rhetorik, einer Figurenlehre der argutezza.1 Diese ars ingeniose dicendi findet in Hamann einen durchaus ambivalenten Kronzeugen des bis zur Opazität verdichteten witzigen Schreibens. Im Folgenden soll daher von Jean Paul ausgegangen werden, um Hamanns panischer elocutio – namentlich der Aesthaetica in nuce – einige selektive Blicke zu widmen.2 Im Zentrum des 1 Die rhetorische Tradition des IX . Programms Über den Witz wird bereits im Inhaltsver-
zeichnis deutlich. Aufgeführt sind u. a. „§ 45 Sprachkürze“ (Brevitas); „§ 46 Der witzige Zirkel“ (Figura etymologica); „§ 47 ferner die Antithese – § 48 endlich die Feinheit“ (Subtilitas); „§ 49 Der bildliche Witz“ (Metapher); „§ 51 Die Allegorie – § 52 Das Wortspiel“ (Paronomasie), und schließlich § 55 zum „gelehrten Witz[]“ (Die Vorschule der Ästhetik wird zitiert nach Jean Paul: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. Abt. I Bd. 5. Darmstadt 2000, S. 7–514, hier S. 167). Stellvertretend für die kaum zu überblickende Forschung zu Jean Pauls Theorie des Witzes sei verwiesen auf Waltraud Wiethölter: Witzige Illumination. Studien zur Ästhetik Jean Pauls. Tübingen 1979; Götz Müller: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie. Tübingen 1983, S. 87–165; Bettine Menke: Jean Pauls Witz als Kraft und Formel. In: DVjs 76.2 (2002), S. 201–213; Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und ingenium. Paderborn 2007, S. 199–226; Jadwiga Kita-Huber: ,Wenn zwar ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist, welcher schwebt.‘ Zur Poetik des Ereignishaften bei Jean Paul. In: Text als Ereignis. Programme – Praktiken – Wirkungen. Hg. von Winfried Eckel und Uwe Lindemann. Berlin 2017, S. 47–64. Die rhetorische Dimension des IX . Programms von Jean Pauls Vorschule expliziert Ralf Simon: Rhetorik und Philosophie in der Frühgeschichte der philosophischen Ästhetik. In: Handbuch Rhetorik und Philosophie. Hg. von Andreas Hetzel und Gerald Posselt. Berlin, Boston 2017, S. 177–203. Den genannten Beiträgen gemeinsam ist indes, dass sie von Hamann als einem prominenten Gewährsmann der Jean Paul’schen Witz-Theorie keine Notiz nehmen. 2 Die „Rhetorik“, der sich das 12. Hamann-Kolloquium verschrieben hat, figuriert hier also in einer für Neuere Literaturwissenschaftler*innen charakteristischen Verkürzung, als eine „restringierte Rhetorik“ der Tropen und Figuren. Vgl. Gérard Genette: Die
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Interesses steht dabei die paradoxe Figürlichkeit des Hamann’schen Stils zwischen virtus und vitium. Sie lässt sich als eine Rhetorik der offensiv affirmierten Sinnlichkeit beschreiben, deren Wurzeln in der kynisch-humoristischen Tradition auszumachen sind. Zugleich ist die ,Eigensinnlichkeit‘ von Hamanns elocutio als eine figürlich inszenierte Mimesis am Zustand des Schöpfungstextes zu begreifen. Diese Inszenierung realisiert sich exemplarisch in den (Ver-)Sperrungen seiner Sätze, denen hier, als einem Verfahren des Witzes, besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im Anschluss an diese Nahaufnahmen von Hamanns witzigem stilus atrox3 sei zuletzt ein Ausblick auf dessen alte Vor-Bilder eröffnet, nämlich auf die römische Satire (satura).
1 Hamanns Witz als apotropäische elocutio „Kürze ist der Körper und die Seele des Witzes, ja er selber […]“, lesen wir im § 45 der Vorschule der Ästhetik.4 Jean Paul profiliert den Witz, also das Vermögen, Ähnlichkeit im Unähnlichen zu finden,5 als einen Unruhestifter. Das analogische ingenium, das er beschreibt, ,blitzt‘, ,funkt‘, ,springt‘; es produziert nicht enden wollende Gleichnis-Ketten, es ,stört‘ Zusammenhänge und ,zwingt‘ das Denken zum ,Volteschlagen‘, indem es absichtsvoll die Satzkomposition verstellt. Gerade als Instanz einer (mit den Worten von Viktor Šklovskij) „erschwerte[n], gebremste[n] […] verbogene[n] Sprache“ darf der Witz als Inbegriff der
restringierte Rhetorik. In: Theorie der Metapher. Hg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 229–252. Im Original erschienen unter dem Titel La rhétorique restreinte in: Communications 16 (1970), S. 158–171. Zu Hamanns Rhetorik resp. der rhetorischen Tradition seines figürlichen Stils vgl. Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: GRM 47 (1966), S. 374–387; sowie detailliert Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart u. a. 1972, insbes. S. 137–145. 3 Bekanntlich handelt es sich beim „stylus atrox“ um eine Bezeichnung, die Hamann in Anlehnung an Petron für seine Schreibart prägt (N IV, 421; ZH II , 69 f.; vgl. Eric Achermann: Verbriefte Freiheiten. Zu Epistolarität und Essay bei Hamann. In: Acta 2012, 57–103, hier 89 f.). 4 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 176. 5 Vgl. die Bestimmungen von Witz, Scharfsinn und Tiefsinn in § 43 der Vorschule (Jean Paul: Vorschule [wie Anm. 1], S. 172). Die Geschichte und Bedeutung der Analogie bei Hamann hat André Rudolph aufgearbeitet (Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006).
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Hamann’schen Schreibart gelten.6 Deren notorisch dunkle brevitas gibt denn auch gleich zu Beginn des IX . Programms Anlass, auf den Magus einzugehen. Zu seiner Devise, dass gerade für den Verstandes-Witz „keine Kürze zu kurz*“ sei, ergänzt Jean Paul in einer gewichtigen Fußnote: *Nur die Hamannsche ausgenommen, deren Kommata zuweilen aus Planetensystemen und deren Perioden aus Sonnensystemen bestehen; und deren Worte (gleich den ursprünglichen, nach Herder) ganze Sätze sind. Oft ist die Kürze leichter zu haben als zu lesen; der Verfasser kömmt zum ausgedrückten Gedanken durch lauter weggeschnittene Nebengedanken; der Leser muß diese erst ergänzen aus jenem.7
Jean Pauls prägnante Charakteristik der Hamann’schen Kürze sieht in den Texten des Magus eine Kompressionstechnik am Werk, die unermessliche Sinndimensionen (Planeten- und Sonnensysteme) in den engen Raum eines Satzes zu zwängen vermag. Tatsächlich zeigt sich der Theoretiker des Witzes hier als ein aufmerksamer Leser Hamanns. Um ein (vielleicht allzu) oft zitiertes Beispiel für den Hamann’schen Lakonismus anzuführen: Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch,[**] historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch[*] seyn können. Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgend eine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein, And shews the stuff, but not the workman’s skill; oder mit einer Sonnenfinsternis, die in einem Gefäße voll Wassers in Augenschein genommen wird.[*]8 6 Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Texte der russischen Formalisten. Band I :
Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. von Jurij Striedter. München 1969, S. 2–35, hier S. 33. Zur charakteristischen und programmatischen Diskontinuität der Hamann’schen Schreibweise vgl. die konzise Darstellung von Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, hier S. 103 f. 7 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 176. 8 Zitiert wird nach dem Erstdruck der Kreuzzüge: Johann Georg Hamann: Aesthaetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. In: Kreuzzüge des Philologen. [o. O.] 1762, S. 157–220, hier S. 167–169. Digitalisat: https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/ hd/content/pageview/4604377 (Konsultiert im September 2019) [im Folgenden: Kreuzzüge]. Vgl. auch N II , 199. Vgl. zu dieser berühmten Passage grundsätzlich Sven-Aage Jørgensens Nachwort zu Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce.
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Da ist zunächst die notorische Brachylogie der ersten propositio und die unvermittelte Aufeinanderfolge kühner Bilder (Übersetzen, Engelsprache, Tapeten, Sonnenfinsternis). Beides sind Kennzeichen für die Funkenschlag-Kunst des Witzes. Darüber hinaus fällt vor allem die Grundform des Hamann’schen Schreibens ins Auge: die zugleich poly- und asyndetische Aufzählung.9 Zwischen die erste lakonische Aussage und ihre chiastische Iteration am Beginn des nächsten Satzes spannen sich zwei ineinander verkeilte Anhäufungen. Das Prinzip des Syntagmas scheint die disproportionale Erweiterung zu sein, das über sich Hinauswuchern der anfänglichen Definition in nicht enden wollende Präzisierungen. Zerklüftet von einer Vielzahl von Satzzeichen und empfindlich gestört von mehreren Fußnoten vollzieht diese antiklimaktische Liste ein performatives Über- oder vielmehr Herabsetzen von einer Zeichenart in die nächste; wobei gerade das letzte Glied der Aufzählung („– – und philosophisch oder charakteristisch“) noch einmal demonstrativ hinausgeschoben, gleichsam syntaktisch marginalisiert wird. Wir haben es mit einer ,mimischen‘, den Inhalt des Satzes gestisch abbildenden, de-gradatio zu tun – oder vielmehr mit einem steilen und unsanften descensus, der uns mit dem letzten Tritt in die genuine Uneigentlichkeit der menschlichen Sprache befördert. Subjekt und Prädikat des Nebensatzes werden dabei geradezu grotesk auseinandergetrieben, und die frappante Diversität und Erklärungsbedürftigkeit der versammelten Fremdwörter lässt das Lesen zu einer intellektuellen Akrobatik werden. Für diese vielfach beklagte Herausforderung des Hamann’schen Stils hat Jean Pauls Witz-Programm eine treffende Beschreibung: Jede Unähnlichkeit erweckt die Tätigkeit; aus dem Schlich auf dem platten Gartensteig wird auf dem abgesetzten Klippenweg ein Sprung. Die Menschen hoffen (in ihrem halben Lese-Schlafe) stets, im Vordersatze schon den Untersatz mitgedacht zu haben und mithin die Zeit, welche sie mit dem Durchlesen des letzten verbringen, angenehm zur Erholung verwenden zu dürfen – wie fahren
Stuttgart 1968, hier S. 183 f. Für den hier eröffneten Zugang zu Hamann waren außerdem einschlägig: Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit (wie Anm. 6), hier S. 100–108; Hoffmann: Hamanns Philologie (wie Anm. 2); Günter Wohlfart: Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel. Freiburg, München 1984, insbes. S. 157; Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns Aesthetica in nuce. In: Acta 1992, 79–106; Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin, Boston 2003, insbes. S. 75 f. 9 Vgl. zur rhetorischen Terminologie im Folgenden grundsätzlich: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 2005.
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sie auf (das kräftigt sie aber), wenn sie dann sehen, daß sie nichts errieten, sondern von Komma zu Komma wieder denken müssen!)10
Das rastlose, sprunghafte Wieder-Denken, zu dem die Figuren des Witzes zwingen, gestaltet sich als ein sprachlich konstelliertes „Umwenden“ und „Volteschlagen“ des Geistes.11 Witzige Formulierungen sind in diesem Sinne buchstäbliche τρόποι: Kehrtwendungen der Sprache. Hamanns Sätze steigern das Spiel mit der Flexibilität und Elastizität des Leser-Intellekts allerdings zum strapaziösen Exerzitium. Die Etymologie des rhetorischen τρόπος lässt sich – spekulativ – für ein Verständnis jener vexierenden Sprach-Wendungen fruchtbar machen, denen die Kreuzzüge des Philologen ihren üblen Ruf verdanken. Denn den Gestus der UmWendung (die verbale Wurzel τρέπειν) teilt das Stilmittel mit dem τρόπαιον, dem auf dem Schlachtfeld errichteten Siegeszeichen, das die Stelle markierte, an der der Gegner die Flucht ergriffen hatte.12 Diesem angestammten Kontext verdankt das kreuzförmige Tropaion auch seine magische, Feinde abwendende Kraft.13 Hamanns panische Schreibart bedient sich der sprachlichen τρόποι in eben diesem apotropäischen Sinne, zur Abwehr unerwünschter Eindringlinge. Treffend
10 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 176. Tatsächlich ist in diesem Lob der witzigen
Sprunghaftigkeit unschwer jene Stil-Typologie zu erkennen, die Hamann selbst auf den Gegensatz von Blindschleiche und Heuschrecke gebracht hat (Brief an Kant, 27. Juli 1759, ZH I , 379): „Jedes Thier hat im denken und schreiben seinen Gang. Der eine geht in Sätzen und Bogen wie eine Heuschrecke; der andere in einer zusammenhängenden Verbindung wie eine Blindschleiche im Fahrgleise, der Sicherheit wegen, die sein Bau nöthig haben soll. Der eine gerade, der andere krumm.“ Vgl. dazu die Beiträge von Reuß und Graubner in diesem Band. Die ,kapriziöse‘, in den Sätzen der Ziege (capra) über den Klippenweg prozessierende Gangart des Witzes hat Eric Achermann (Verbriefte Freiheiten [wie Anm. 3]) als Charakteristikum von Hamanns Briefstil auf dessen Montaigne-Lektüre zurückgeführt (dazu unten Anm. 52). 11 Das sind die Worte Jean Pauls (Vorschule [wie Anm. 1], S. 177; 180). 12 Der etymologische locus, der die ,Trophäe‘ von der Wendung der Feinde ableitet, geht bezeichnenderweise auf Varros Bimarcus zurück (Varr. Men. Frg. 61), wo er aller Wahrscheinlichkeit nach in direktem Zusammenhang mit dem rhetorischen τρόπος stand. 13 Ich gehe hier bewusst am theologischen Nachspiel der antiken Symbolik vorbei; verweise aber darauf, dass dem Kreuz etwa in Otfrids Evangelienharmonie (V,2,11–18) eine zentrale apotropäische Funktion zukommt. Hamanns Kreuzzüge sind indes nicht nur, wie so oft betont, dem zentralen Symbol des Christentums verpflichtet, sondern stehen ebenso sehr im Zeichen der philologischen Crux (†), die in eins die irreparable Versehrtheit des (Natur-)Textes und die Qual seiner gescheiterten Leser*innen markiert.
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spricht Jean Paul vom „Medusenschild“ des Hamann’schen Stils.14 Der feindliche Ansturm, gegen den sich dieser stilus atrox zur Wehr zu setzen hat, ist zu aller erst der eines Leichtglaubens an die Lesbarkeit der Welt. Gerade als eine gesuchte Erschwernis der Lektüre gewinnt Hamanns apotropäischer Witz ein schärferes Profil, wenn man ihn vor dem Hintergrund der rhetorischen elocutio-Theorie betrachtet.
2 Zwischen virtus und vitium: Grammatische Figürlichkeit des stilus atrox Hamanns offensive, kopfzerbrechende Sprach-Wendungen, wie seine allzu kurze Kürze, demonstrieren ein Problem, das die ars oratoria seit jeher beschäftigt hat: die Nähe zwischen stilistischer virtus und sprachlichem vitium:15 Von der Kürze zur Dunkelheit, von der Metapher zum Rätsel, von der prägnanten Syllepse zum Verstoß gegen die Syntax oder vom geistreichen Wortspiel zum abstoßenden Flachwitz ist es kaum je ein Schritt.16 Die elocutio des kreuzziehenden Philologen unternimmt einen selbstbewussten Grenzgang zwischen rhetorischem Schmuck und stilistischem Laster. Exemplarisch ist dafür die charakteristische Verfremdung der Rede durch eine Unzahl wenig geläufiger (Fremd-)Worte und uneigentlicher Ausdrücke, wie sie in der oben zitierten Stelle aus Hamanns Rhapsodie in kabbalistischer Prose vorliegt. Die ornatus-Theorie der aristotelischen Poetik prägt dafür den zentralen Begriff des ξενικόν, verstanden als die vom ,normalen‘, eingebürgerten Sprachgebrauch abweichende Ausdrucksweise. Im selben Moment,
14 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 486. 15 Zu diesem Problem grundsätzlich Erhard Schüttpelz: Figuren der Rede. Zur Theorie
der rhetorischen Figur. Berlin 1996. Neuerdings auch Robert Stockhammer: Grammatik. Wissen und Macht in der Geschichte einer sprachlichen Institution. Berlin 2014, S. 45–55, dessen Rekonstruktion jedoch wesentlich auf Schüttpelz beruht. 16 Die fließende Grenze zwischen dem Ideal einer staunenswerten, wirkmächtigen Eloquenz, das die ars bene dicendi kultiviert, einerseits und einer unverständlichen resp. schwülstig-manierierten Rede andererseits prägt die elocutio-Lehren der klassischen Rhetorik. Ich verweise hier exemplarisch auf die Bücher VIII und IX von Quintilians Institutio, die – gleichsam als Summe der antiken Stiltheorie – auf Schritt und Tritt von der besagten Problematik begleitet werden. Vgl. zur topischen Verwandtschaft der Metapher mit dem Rätsel, an der sich diese Problematik paradigmatisch kristallisiert, den konzisen Überblick über die rhetorische Tradition bei Marie-Cécile Bertau: Sprachspiel Metapher. Denkweisen und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur. Wiesbaden 1996, hier S. 104–106.
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in dem Aristoteles die Verfremdungsverfahren als Inbegriff des rhetorischen Schmuckes exponiert, warnt er zugleich vor deren übermäßigem Gebrauch: Gehoben und eine Abweichung vom normalen Wortgebrauch ist die , die fremdartige Wörter verwendet. ‚Fremdartig‘ nenne ich die Glosse, die Metapher, die Wortdehnung und alles das, was vom Normalen abweicht. Wenn man aber in der Dichtung nur solche Ausdrücke verwendet, ist das Ergebnis eine Verrätselung oder Überfremdung [‚Barbarismus‘] | – eine Verrätselung, wenn sie aus Metaphern besteht, wenn aber aus Glossen, dann ein Barbarismus.17
Beispielhaft wird hier die diffizile Balance deutlich, mit der die elocutio-Lehren seit jeher operieren: Dem Prägnanzgewinn oder Lichtzuwachs der rhetorischen Ornamente (lumina) wohnt immer schon eine Tendenz inne, in die Dunkelheit des Textes umzuschlagen. An diesem Punkt kippen die tropologischen Übertragungen (translationes) von der Erhabenheit in die Abgehobenheit, also von der stilistischen virtus (Metapher, Glosse) ins vitium (Rätsel, Barbarismus). Die kritische Nähe der figürlichen Abweichung vom normalen Sprachgebrauch (Schmuck) zum Verstoß gegen das oberste Gebot der Reinheit und Verständlichkeit der Rede (Fehler) ist das ungelöste Problem der rhetorischen Stiltheorie. Indem sie die figürliche Ausdrucksweise zur konsequenten barbarolexis steigert, wandelt Hamanns apotropäische Schreibart zugleich auf dem schmalen Grat, der die Rhetorik von ihrer Nachbardisziplin, der Grammatik, trennt. Tatsächlich verdringlicht sich die aufgeworfene Frage nach der Unterscheidung der guten, schmückenden von der schlechten, fehlerhaften Devianz vor dem Hintergrund der konträren Perspektiven von Grammatik und Rhetorik. Denn wo die Grammatik die Abweichungen von der sprachlichen Norm konsequent als Fehler (vitia) in den Blick nimmt, vermag die rhetorische Figurenlehre noch den offensichtlichsten Verstoß als ein Stilmittel, ein schema, zu nobilitieren.18 Die ambi17 Aristot. Poet. 22, 1458 a 20 ff.: σεμνὴ δὲ καὶ ἐξαλλάττουσα τὸ ἰδιωτικὸν ἡ τοῖς ξενικοῖς
κεχρημένη· ξενικὸν δὲ λέγω γλῶτταν καὶ μεταφορὰν καὶ ἐπέκτασιν καὶ πᾶν τὸ παρὰ τὸ κύριον. ἀλλ’ ἄν τις ἅπαντα τοιαῦτα ποιήσῃ, ἢ αἴνιγμα ἔσται ἢ βαρβαρισμός· ἂν μὲν οὖν ἐκ μεταφορῶν, αἴνιγμα, ἐὰν δὲ ἐκ γλωττῶν, βαρβαρισμός. (Übers. Arbogast Schmitt. Darmstadt 2008, S. 31) Siehe auch Aristot. Rhet. III , 2 1404 b 36. 18 Vgl. dazu die einschlägige Definition des Figur-Begriffs am Beginn von Buch IX der Quintilian’schen Institutio (Quint. Inst. IX ,1,10–13). Mit dem griechischen Terminus schema bezeichnet Quintilian den Zuständigkeitsbereich der rhetorischen ornatus-Theorie, nämlich die bewusste Veränderung („cum ratione mutatio“) von Sinn oder Rede, mithin das, „was von der einfachen und nächstliegenden Redeweise poetisch oder rhe-
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valente Figürlichkeit von Hamanns Schreibart im Grenzgebiet von Philologie, Rhetorik und Grammatik verdient eine nähere Betrachtung.
2.1 AESTHAETICA: Rhetorik offensiv affirmierter Sinnlichkeit
Von programmatischer Paradoxie ist in dieser Hinsicht schon der Titel der bereits zitierten „AESTHAETICA“. Denn in der Edition von 1762 prangt dort ein stoßender Verschreiber, oder in der rhetorischen Terminologie: ein markanter Barbarismus.19 Damit konfrontiert uns schon das erste Wort dieser Rhapsodie mit einer charakteristischen Crux: Erkennen wir – mit dem Blick der Grammatik – in der Korruption des Titels einen versehentlich unterlaufenen Fehler (vitium)? Oder lesen wir den Verstoß gegen die Reinheit der Sprache als eine Figur, eine bewusste, ja demonstrative Sprachgebärde (schema)? Indem es uns vor diese Alternative stellt, deutet das (scheinbar) beschädigte Wort provokant auf den neuralgischen Punkt der klassisch-rhetorischen ornatus-Lehre. Denn in der sog. grammatischen Figur (das sind namentlich Barbarismus und Solözismus) kondensiert sich die problematische Ununterscheidbarkeit von Figur und Fehler, von guter und schlechter Abweichung von der sprachlichen Norm. So musste Quintilian über das schema grammaticum festhalten, es sei „jede dieser Figuren ein Fehler, wenn sie nicht gesucht sei, sondern unterlaufe“ („esset enim omne eiusmodi schema vitium, si non peteretur, sed accideret“).20 Als ein Vexierbild aus Absicht und Zu- resp. Unfall ruft die grammatische Figur besonders nachdrücklich nach aktiven Leser*innen, die im scheinbaren Missgeschick eine höhere ratio zu (re)konstruieren vermögen. Gerade in dieser Interpretationsbedürftigkeit zeigen sich grammatische Figuren als sprachliche monstra, ebenso abstoßende wie verheißungsvolle Missbildungen. Beim Titel der Rhapsodie in kabbalistischer Prose haben wir es mit einem mustergültigen Exemplar eines solchen Monstrums zu tun. Anders als zahlreichen Emendatoren des Hamann’schen Textes21 scheint mir eine versehentlich unterlautorisch abweicht“ („quod sit a simplici atque in promptu posito dicendi modo poetice vel oratorie mutatum“). 19 Genaugenommen liegt hier sogar ein mehrfacher Verstoß gegen die Sprachreinheit vor, handelt es sich doch um einen falschgeschriebenen Gräzismus im lateinischen Titel. 20 Quint. Inst. IX ,3,2; dabei ist in Quintilians Formulierung die Nähe zwischen schema und vitium geradezu bildlich in den Satz gebracht. 21 Wegweisend für die Emendation des Titels war Herausgeber Nadler (vgl. N II , 195), dem sich indes auch Jørgensen (1968 [wie Anm. 8], hier S. 77) und – stillschweigend –
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fene Falschschreibung des Titels äußerst unwahrscheinlich. Vielmehr möchte ich für eine lectio difficilior plädieren, die in der Überschrift, im Sinne des bekannten Hamann-Wortes, das „Gesicht“ des Werks zu erkennen vermag.22 Denn tatsächlich hat die Wirkung der idiosynkratischen Schreibweise für Hamanns Stil programmatischen Charakter: In seiner entstellten Erscheinung sträubt sich das Wort gegen den Automatismus der Lektüre, die Bedeutungsträger transparent, ja unsichtbar zu machen. Hamanns „AESTHAETICA“ zeugt von der Mobilisierung einer Sprache, die sich in ihrer irreduziblen Sinnlichkeit behauptet und damit den mühelosen Übergang vom Wortkörper zur Bedeutung, vom Buchstaben zum Geist verweigert.23 In dieser Eigenheit nähert sich der Barbarismus dem nicht weniger berüchtigten Wortspiel (Paronomasie; pun), das aus den minimal verschobenen Buchstaben ungereimte Nebensinne produziert. Dass solch monströser Vielsinn noch vor den erfahrensten κριτικοί der Hamann’schen Texte einen schweren Stand hat, zeigt ein Blick in den Apparat von Jørgensens Edition der Rhapsodie in kabbalistischer Prose. Denn neben der Korrektur des Titels (zu A ESTHETICA) schließt sich der Herausgeber einer weiteren Emendation Nadlers an, auf der letzten Seite von Hamanns Text: Dort werden aus den „Phoenomenen“ im Original24 die „Phaenomene[]“, zu deren Erläuterung dem kreuzziehenden Philologen zufolge die Zeit nicht mehr reicht.25 Was zunächst wie die unproblematische Korrektur eines offensichtlichen Druckfehlers aussieht, wird beim Blick auf den konkreten Kontext der emendierten Stelle zum fragwürdigen Eingriff in den Hamann’schen Text. Denn in diesem finalen, der schwierigen Frage nach Metrik resp. freier Rhythmik der ältesten und neusten Poesie gewidmeten, Abschnitt der Rhapsodie wird zuletzt eine Behauptung aufgestellt, die mit folgender Hypothese beginnt: „Sollte ein Dichter unter ihnen auferstehen […]“. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der vorausgehende Satz ein Gedankenspiel von der Wiederauferstehung eines (lettischen) Dichters formuliert, erweist sich die scheinbar versehentlich unterlaufene Nonsensrede von den „Phoenomenen“ als sprechender pun, als absichtsvolle Verballhornung des wissenschaftlichen Hans-Martin Lumpp (Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ,Aesthetica in nuce‘ [1762]. Tübingen 1970) anschließen. 22 Vgl. den Brief an Jacobi vom 27. April 1787 (ZH VII , 175); zu Hamanns Physiognomie des Titelblattes siehe Pataky in diesem Band. 23 Aleida Assmann beschreibt in diesem Sinne die Funktionsweise der „wilden Semiose“ (Aleida Assmann: Im Dickicht der Zeichen. Berlin 22018, hier S. 18–27). 24 Vgl. Hamann: Kreuzzüge, S. 218. 25 N II , 216; Jørgensen 1968 (wie Anm. 8), S. 145; vgl. die Hinweise zu den Varianten S. 154.
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Phänomens zum Portmanteau aus Phönix (dem aus der Asche wiedererstehenden Vogel) und Erscheinung.26 Die Irritation des lesenden Blickes durch die Korruption des Wortlauts, die der Barbarismus mit dem vielsprachigen pun teilt, ist dabei als ein kalkulierter Effekt der Hamann’schen elocutio vor dem Hintergrund seiner Anthropologie zu sehen: Gerade in der ästhetisch grenzwertigen Entstellung der Rede, in ihrer dem einfachen Verstehen entgegenstehenden sinnlichen Kontamination, spiegelt sich die leibliche conditio des Menschen. Denn die metaplastische Deformation des Wortes kehrt, mit Hamann zu sprechen, die „kauderwelsche[n], verworrene[n] und Knechtsgestalt an sich habende[n] Zungen der Menschlichen Begriffe“27 heraus, sie stellt die konstitutive Fremdheit der sinnlichen Signifikanten zur Schau. Das stilistische vitium, das die an Reinheit und Klarheit der Rede (o-ratio) orien tierte Rhetorik zu vermeiden sucht, ist aus der Perspektive Hamanns die dem Menschen eigene, angemessene Ausdrucksweise: eine kauderwelsche ZungenRede. Sein theologisches Fundament hat dieser barbarolektische stilus vitiosus in der Erbsündenlehre: Die Korruption der sinnlichen Signifikanten, die bis zum Widersinn gesteigerte Vieldeutigkeit der Worte ist – als sprachlicher lapsus – Ausdruck einer gefallenen Menschheit. Es ist indes ebendiese defiziente SprachSinnlichkeit, zu der sich Gott, einem Kerntheologem des Hamann’schen Denkens zufolge, herablässt. So konkretisiert sich denn auch jene im Kleeblatt hellenistischer Briefe behandelte „göttliche Schreibart“, die „auch das alberne erwählt“, in einer charakteristischen Figürlichkeit: „DEI Dialectus, Soloecismus“.28
26 Insofern es sich bei Phönix auch um den mythischen Namensgeber der Phönizier, d. h.
der Punier (Poeni) handelt, verweist Hamanns selbstreferentielles Portmanteau zugleich meta-figürlich auf die Programmatik des pun (des ,punischen‘ Wortspiels), die in der Aesthaetica formuliert wird (Hamann: Kreuzzüge, S. 207; N II , 212; Jørgensen 1968 [wie Anm. 8], S. 133). Damit wird vollends deutlich: Indem sie Hamanns wortspielerische Barbarismen resp. Metaplasmen korrigieren (die Abweichungen also geradebiegen), arbeiten die Emendatoren dem Geiste des panischen Philologen gerade entgegen. Vgl. zur Bedeutung des Wortspiels Klingel in diesem Band. 27 Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. [3.?] August 1759, ZH I , 393,28–394,19. Die „kauderwelsche“ ,fremde Zunge‘ der Hamann’schen Formulierung entspricht dabei in der rhetorischen Theorie der oben berührten aristotelischen Glosse (γλῶττα). 28 N II , 171. Vgl. zur Theologie des Anti-Stils Graubner in diesem Band; zum Solözismus siehe Elfriede Büchsel: Art. Solözismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9 (1995), Sp. 1059 sowie Frank Simon: Dialekt und Hellenismus. Kleeblatt hellenistischer Briefe. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1988. Hg. von Oswald Bayer u. a. Frankfurt a. M. 1987, S. 53–60.
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2.1.1 Nebengang: Kynismus und groteske Semiotik
Hamanns Anti-Stil der offensiv affirmierten Sinnlichkeit mag in diesem Sinne theologisch motiviert sein; der Blick auf seine rhetorischen Verfahren zeigt den kreuzziehenden Philologen indes in der Tradition kynisch inspirierter Humoristen.29 Denn es sind die Kyniker, allen voran der Erzhund Diogenes, die mit ihren kalauernden Interventionen auf der körperlichen Bedingtheit des Menschen beharren. Ihre apophthegmatischen Strategien zielen, ganz wie die des philologischen Satyrs, darauf, die intellektuelle Hybris der idealistischen Philosophie mit der irreduziblen Leiblichkeit allen Denkens zu konfrontieren. Konsequent mobilisiert der Kυνικòς τρόπος30 dafür die widerspenstige Sinnlichkeit der Signifikanten, lässt die Worte subversive Nebensinne bilden und kehrt damit die unzähmbare Eigenlogik der Sprache heraus.31 Das Motto dieser sinnverschiebenden, die konventionellen Bedeutungen entstellenden, Rhetorik lautet: παραχαράττειν τὸ νόμισμα – die ,Währung‘ (und das ist auch: die begriffliche Währung) ,umprägen‘.32 Jene charakteristische Verschränkung von Sprache und Geld, die sich durch das Hamann’sche Werk zieht,33 hat demnach, gerade als eine Praxis der subversiven Zitation, in der sprachlichen Münzfälscherei der Kyniker ein wirkmächtiges Modell. 29 Die Affinität der Hamann’schen Schreibart zur kynisch-satirischen Tradition kann
hier nur angedeutet werden (s. insbes. den Ausblick am Ende dieses Beitrags). Dem umfänglicheren Studium der spezifisch satirischen Vorbilder von Hamanns stilus atrox ist ein Kapitel meiner Dissertation zur satura gewidmet. 30 Vgl. Javier Roca Ferrer: Kynikos tropos. Cinismo y subversión literaria en la antiguedad. Barcelona 1974. 31 Zu Diogenes und der Rhetorizität des Kynismus vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. Frankfurt a. M. 1988; Niklaus Largier: Diogenes der Kyniker. Exempel, Erzählung, Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Mit einem Essay zur Figur des Diogenes zwischen Kynismus, Narrentum und postmoderner Kritik. Tübingen 1997, S. 360–386. 32 Die Devise geht zurück auf das bei Diogenes Laertios überlieferte anekdotische Leben des Ur-Kynikers, dem (resp. dessen Vater) nicht nur eine gescheiterte Karriere als Münzfälscher nachgesagt wird, sondern auch, dass er den besagten Leitspruch vom Apollon-Orakel in Delphi erhalten habe, um ihn metaphorisch als eine Aufforderung zur Umwertung oder Subversion der herrschenden Meinungen zu deuten. Vgl. R. Bracht Branham: Defacing the Currency. Diogenes’ Rhetoric and the ,Invention‘ of Cynicism. In: Arethusa 27/3 (1994), S. 329–359. 33 Vgl. die einschlägige Studie von Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 150–256.
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Den Kern der kynischen Anti-Philosophie bildet die groteske Inkongruenz von Leib und Geist, und eben darin ist sie der humoristischen Rhetorik eines Hamann (und Jean Paul34) affin. Denn der ,eigensinnlichen‘, verfremdeten, entstellten Sprache, die uns in Hamanns Schriften begegnet, liegt eine groteske Semiotik zugrunde. „Reden ist übersetzen“; aber insofern, wie Hamann an Lindner schreibt, „[z]wischen einer Idée unserer Seele“ und ihrem sinnlichen Ausdruck „eben die Entfernung [ist] als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde“,35 impliziert jedes Reden einen Akt der monströsen Verkörperung: ,Übersetzen‘ als Sprung über den abgründigen Hiatus zwischen Sinnlichem und Unsinnlichem.36 In Jean Pauls Vorschule der Ästhetik heißt es in eben diesem Sinne: „Zwischen Wort und Idee gibt es keine Gleichung“.37 Der Witz hingegen, dem das IX . Programm der Vorschule gewidmet ist, ist das sich dennoch in jedem Sprachgebrauch manifestierende Vermögen, diese radikal inkommensurablen Größen zusammenzubringen; eine sprunghaft vollzogene Übertragung (μεταφορά; translatio) zwischen Körper und Geist. Noch bevor der Paragraph über den sog. bildlichen Witz (§ 46) die Metapher als „Brotverwandlung[] des Geistes“ apostrophiert, nennt Jean Paul den analogischen Vergleich „die Wundergeburt [= Missgeburt; SDA] 34 Als ein Agent des komischen Kontrastes zwischen der Endlichkeit des Körperlichen
und der Unendlichkeit des Geistigen ist Jean Pauls Witz das Produkt jener Theorie des Humors, in die der erste Teil von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik mündet (VII .–VIII . Programm). Im § 35 („humoristische Sinnlichkeit“) findet sich die aufschlussreiche Formulierung (Vorschule (wie Anm. 1), S. 140): „der Humor ist, wie die Alten den Diogenes nannten, ein rasender Sokrates.–“ 35 Brief an Gottlob Immanuel Lindner vom 9. [3.?] August 1759, ZH I , 393,28–394,19. 36 Zur humoristischen Dimension der Inkarnation resp. zur Verankerung der Ha mann’schen Komik in der Theologie vgl. Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller. In: Querdenker der Aufklärung. Göttingen 2013, S. 27–36; insbes. S. 34 f.: „in der sichtbaren Schöpfung durch den unsichtbaren Schöpfergott, in der Inkarnation des Sohnes in Knechtsgestalt und in der Schriftstellerei des Heiligen Geistes trägt sie den Charakter einer paradoxalen Entäußerung und Erniedrigung (Philipp. 2,5–8), die auch dem fleischgewordenen Gott ,komische‘ Züge verleiht.“ Vgl. auch die konzise Formulierung des Kondeszendenz-Gedankens bei Achermann: Verbriefte Freiheiten (wie Anm. 3), S. 97 f.: „reden heißt also, dem Licht Körper geben, das Licht in Finsternis hüllen. Die Freiheit des Gedankens muss sich – so Luthers Übersetzung der Kernstelle – in ,Knechtsgestalt‘ ,entäußern‘. Die Verkörperung ist Bedingung aller Offenbarung und aller Mitteilung; wer den Körper aus dem Geist verbannt, negiert die Doppelnatur des Menschen, dessen wesenskonstituierende Disharmonie dem Sündenfall folgt.“ 37 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 107; die Formulierung steht im Kontext einer Theorie des Erhabenen, das einen „ungeheuren Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes“ impliziert.
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unseres Schöpfer-Ich“.38 Eins ums andere Mal manifestiert sich in den τρόποι des Witzes also die genuine Figürlichkeit des menschlichen Weltbezugs, die irreduzible Sinnlichkeit eines Denkens, das als wundersame Transsubstantiation erscheint, ohne seine monströse Hybridität zu verlieren. Mit einer für Jean Paul wie für Hamann gleichermaßen einschlägigen Analogie kann man auch sagen: Das Wort verhält sich zur Idee wie der Satyr-Leib des Sokrates zu seiner göttlichen Weisheit39 – oder, in der Bildlichkeit der Aesthaetica in nuce, wie die harte (Knack-)Nuss der Schrift zur darin verschlossenen Offenbarung.40 Der apotropäische Witz des philologischen Satyrs hat seinen Motor in ebendieser transzendentalen Ungereimtheit menschlicher Zeichenpraxis.
38 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 171; vgl. zur prägnanten Metaphorik von Jean
Pauls Theorie des Witzes auch Sina Dell’Anno: Fortwährender Hokuspokus oder metametaphorologische Saturnalien. Zur Frage nach Jean Pauls poetologischer Alchemie. In: JJPG 54 (2019), S. 83–112. 39 „Alcibiades aber verglich seine [des Sokrates; SDA] Parabeln gewissen heiligen Bildern der Götter und Göttinnen, die man nach damaliger Mode in einem kleinen Gehäuse trug, auf denen nichts als die Gestalt eines ziegenfüßigen Satyrs zu sehen war.“ (N II , 80). Jean Paul bemüht ebendiesen Topos gleich zu Beginn seiner Vorschule, wenn er im III . Programm Über das Genie erklärt (§ 14): „Manchem göttlichen Gemüte wird vom Schicksal eine unförmliche Form aufgedrungen, wie dem Sokrates der Satyr-Leib; denn über die Form, nicht über den innern Stoff regiert die Zeit.“ (Jean Paul: Vorschule [wie Anm. 1], S. 64) 40 Ich muss mich an dieser Stelle mit dem Hinweis auf den Referenztext begnügen, in dem die scheinbar disparaten Bilder in einer für die Neuzeit kanonischen Form zusammenfinden: Erasmus’ Adagium Sileni Alcibiadis (1515) überträgt das platonische SilenGleichnis, das das satyrhafte, hässliche Äußere des weisen Sokrates mit einer verkappten Götterstatuette vergleicht (Plat. Symp. 215a), nicht nur auf die Figur Jesu Christi (An non mirificus quidam Silenus fuit Christus?), sondern auch – als hermeneutische Maxime – auf die Lektüre der Heiligen Schrift, bei der es gelte, unbeeindruckt von der äußeren Erscheinung die Nuss [!] zu knacken (nucem frangere; vgl. Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia. Hg. von Jean Leclerc [J. Clericus]. Leiden 1703–1706. Bd. 2: Adagia, Sp. 770C; zum Silen-Topos auch Christoph Deupmann: ,furor satiricus‘. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2002, hier S. 106, der allerdings von der metaphorischen Knacknuss keine Notiz nimmt). Entscheidend für Hamanns Adaptation dieser Topik dürfte indes ihre prominente Einverleibung in die Tradition der neuzeitlichen Satire im Prolog von Rabelais’ Gargantua sein, dessen groteske Poetik und Hermeneutik in der deutschen Übersetzung von Johann Fischart (Geschichtklitterung 1695) nochmal eine besondere Akzentuierung erfährt. Leider kann hier nicht weiter auf diese für Hamanns Schreibart so zentralen Intertexte eingegangen werden.
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2.2 Mimesis am Zustand des Schöpfungstextes (Hyperbaton/Tmesis)
Blickt man vor dem Hintergrund der rhetorischen Theorie auf Hamanns elocutio, so zeigt sich: Im Namen einer genuinen, grotesk-komischen Figürlichkeit des menschlichen Denkens lässt der witzige stilus atrox des Philologen die Unterscheidung von guter und schlechter Abweichung paradox kollabieren. Die ÄSTHÄTIK seiner sinnlichen Sprache realisiert den Fehler (vitium) als Figur (schema). Sie spiegelt darin in eins die körperliche Bedingtheit der menschlichen Existenz und die irreparable Korruption des ihm zugänglichen Naturtextes.41 Die Kontamination der Rede durch fremde Zungen und Zeichen (Barbarismus/Metaplasmus) ist dabei nur eine Weise der Mimesis am Zustand der Schöpfung. Ebenso charakteristisch für die grammatische Figürlichkeit des stilus atrox ist die syntaktische Dissoziation. Das Strapazieren des Syntagmas durch eine Unzahl dürftig verbundener Fremdworte, oder, wie im zweiten Teil der zitierten Aesthaetica-Passage (s. o.), durch immer neue mit einander konkurrierende Metaphern, ist ein Kennzeichen des notorisch sprunghaften Witzes, den Jean Paul im IX . Programm seiner Vorschule der Ästhetik beschreibt. Tatsächlich liefert uns Hamanns panische Schreibart besonders anschauliche Beispiele für die grenzgängerische Rhetorik eines Vermögens, das um die Einheit der Bilder und Perioden nicht bekümmert ist. Eins ums andere Mal illustrieren die Sätze des ziegenfüßigen, kapriziösen42 Philologen die Ambivalenz der witzigen Sprunghaftigkeit. Denn der unbändigen Willkür des Witzes wohnt eine textzersetzende Tendenz inne. Jean Paul lässt diese Dimension der witzigen Rhetorik nicht unkommentiert: der bildliche Witz […] kann, da er nur eine leblose Musaik geben will, in jedem Komma den Leser zu springen nötigen, er kann unter dem Vorwande einer Selbstvergleichung ohne Bedenken seine Leuchtkugeln, Glockenspiele, Schönheitwasser, Schnitzwerke, Putztische nach Belieben wechseln in einer Periode.43
41 Zugleich, dies sei hier noch einmal betont, erfordern die charakteristischen Verseh-
rungen der Hamann’schen Schreibart ein besonders rückhaltloses Engagement ihrer Interpret*innen, denen eine konstruktive Mitarbeit an der Lesbarmachung des Textes zugemutet wird. Das Motto des 12. Hamann-Kolloquiums – „…sind noch in der Mache“ – wäre auch in diesem Sinne einer absichtsvollen, rhetorisch ins Werk gesetzten Unfertigkeit von Hamanns Schriften zu verstehen. 42 Vgl. zur Affiliation des Hamann’schen (Brief-)Stils mit den Cappriccio Achermann: Verbriefte Freiheiten (wie Anm. 3), hier S. 90 f. 43 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 187 f.
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Performativ demonstriert der Vorschulmeister mit seiner Bemerkung den Wort-Prunk (copia) des Witzes: Sich an der Sinnlichkeit der Sprache ergötzend, (ver)sperrt der Witz das Syntagma, indem er immer neue, mit einander konkurrierende Metaphern zwischen die zusammengehörigen Glieder des Satzes treibt und das erwartete Ende der Periode hinausschiebt.44 Es fällt nicht schwer, diese sich verselbständigende elocutio des Aufschubs, das fortwährende Übersetzen von einem Bild ins nächste, in Hamanns Stil vorgebildet zu finden. Man nehme etwa die folgende Periode aus der Aesthaetica: – – Vergleich Rath und That; bete den kräftigen Sprecher[*] mit dem Psalmisten; den vermeynten Gärtner[**] mit der Evangelistin der Jünger; und den freyen Töpfer[***] mit dem Apostel hellenistischer Weltweisen und talmudischer Schriftgelehrten an!45
Mit der markant apokopierten Aufforderung, die Schöpfung des Menschen (That) mit der Absicht Gottes zu vergleichen, sein Ebenbild zu formen (Rath), schließt der enthusiasmierte Philologe eine aus lauter Ausrufen bestehende Passage.46 Der Satz ist ein Musterbeispiel für die Unbändigkeit der Hamann’schen elocutio. Nicht nur springt Hamanns Bilderwitz hier mühelos vom „Sprecher“ zum „Gärtner“ zum „Töpfer“; die sinnlich prägnanten Glieder dieser dreifaltigen enumeratio werden durch ihre antonomastischen Adverbialia schon bedenklich auseinandergetrieben. Dazu oder vielmehr dazwischen (nämlich zwischen die Objekte und ihre Adverbiale) kommt ein wahrer Meteorschauer aus aufmerksamkeitsheischenden Asterisken, der den Zusammenhalt des Syntagmas nachhaltig gefährdet: der „Gedanken-Schwindel“, der einem Jean Paul zufolge beim Lesen des allzu witzigen Textes befällt,47 ist damit gleichsam ins Schriftbild gesetzt. Hamanns syntaktische Überdehnungstechnik kommt hier deshalb besonders drastisch zur Geltung, weil der philologische Satyr seinen witzigen Dreisprung mit einem markanten Hyperbaton kombiniert: Der Stamm des Prädikats – „bete“ – ist 44 Im unmittelbar vorausgehenden Satz bezeichnet Jean Paul die Produkte des Witzes des-
halb auch als „Wesen […] aus kämpfenden Gliedern“ (Vorschule [wie Anm. 1], S. 187).
45 Hamann: Kreuzzüge, S. 176; N II , 91. 46 Es sei hier nur en passant bemerkt, dass in dieser Passage prägnant die grotesk-komi-
sche Dimension der Hamann’schen Theologie zum Ausdruck kommt, die seine humoristische Rhetorik motiviert: Denn die eigentliche Schöpfungstat – die Formung des Menschen aus der niedrigsten Materie, „aus einem Erdenkloß“ (Hamann: Kreuzzüge, S. 175; N II , 91) – steht tatsächlich in einem lächerlichen Kontrast zur Absicht, ein Ebenbild des Allmächtigen zu schaffen. 47 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 167.
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durch die dreigliedrige interpositio von seinem Präfix abgespalten. Genau genommen liegt hier also sogar eine Tmesis (τμῆσις: Abtrennung) vor, ein ὑπερβατὸν ἐν λέξει. Dabei kontrastiert die einsilbige Prägnanz des abrupt schließenden „an!“ grotesk mit dem klimaktisch arrangierten längsten Glied der Aufzählung. Geradezu unbeholfen wird hier zuletzt, am Punkt der maximalen Emphase, ein ebenso konstitutiver wie banaler Teil des Satzes noch nachgereicht, in Gestalt eines abgehackten verbalen Appendix. Dem komischen Potential des (übertriebenen) Hyperbatons widmet auch Jean Pauls Vorschule Aufmerksamkeit. So zählt die „Zerfällung von Subjekt und Prädikat, welche oft ins Endlose gehen kann“48 zu den zentralen Verfahren dessen, was Jean Paul den „metamorphotischen sinnlichen Stil des Humors“ nennt.49 Im zitierten Satz über die copia des bildlichen Witzes findet sich diese Sperrung mustergültig realisiert. Als Stilistiker, nämlich im XIV. Programm der Vorschule, verwahrt sich Jean Paul indes gegen die Hamann’sche Variante des Hyperbatons, die nicht nur die Kohärenz des Satzes gefährdet, sondern sogar die Integrität des Wortkörpers angreift: Allerdings soll man Zeitwörter, zumal von Vorsetzungen mit ab, ein, an, bei, zu, selten trennen; denn der Periode schnappt, z. B. bei ab, zu, oft mit einem knappen ab ab, oder zu zu; […] Hingegen im Scherze kann es eine – zwar nicht kolossale, aber doch – zwerghafte Schönheit geben, wenn man stark sinnliche Zeitwörter, zumal bei großer Erwartung, getrennt voranstellt[.]50
Hamanns Sätze zelebrieren ebendieses – heilig-ernste – Spiel mit der „große[n] Erwartung“, indem sie die Flexibilität der Syntax mit immer neuen Einschüben bis aufs Äußerste strapazieren.51 Wenn sie dabei auch vor der Komik der stilistischen Holprigkeit nicht zurückschrecken, ist darin abermals die paradoxe Rhetorik einer vom Fehler nicht zu unterscheidenden Figürlichkeit der Sprache zu erkennen.52 Im holprigen, strauchelnden, stammelnden Gang von Hamanns 48 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 142. 49 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 140. Demnach spezialisiert sich die humoristische
Rhetorik eines Rabelais, Fischart, Sterne und – gerade mit Blick auf Hamann relevant – Hippel auf die grotesk angeschwollene Liste, durch die ein Satz bis zur völligen Überdehnung hypertrophiert wird. 50 Jean Paul: Vorschule (wie Anm. 1), S. 320. 51 Linda Simonis beleuchtet in ihrem Beitrag in diesem Band anschauliche Beispiele für diese Kunst des syntaktischen Vorhalts aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten. 52 Tatsächlich zählt das falsch eingesetzte Hyperbaton, kaum überraschend, zu den häufigsten Ursachen für die verpönte Dunkelheit der Rede, vor der Quintilian den (Gerichts-)Redner im VIII . Buch seiner Institutio warnt (Quin. Inst. VIII ,2,14): „Plus
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sperrigen Perioden bekundet sich ein eigensinnlicher ,stilus vitiosus‘, der den Kontrast zwischen den hehren Ideen und ihrem sprachlichen Ausdruck nicht zu überdecken sucht. Zugleich ahmt Hamann, indem er das Syntagma bis an die Grenze seiner Lesbarkeit verstellt, dem Zustand einer als Rede verstandenen Schöpfung nach: Die hypertrophen Sätze des Philologen setzen eine Rhetorik der disiecta membra ins Werk, eine Zerfällungs- und Verstellungskunst, die den lesenden Geist mit der widerspenstigen Sinnlichkeit der Sprache, mit der sprachlich-körperlichen Bedingtheit seines Denkens, konfrontiert. Somit ist die Dissoziation des musivischen Textes bei Hamann kein abzuwehrender Nebeneffekt des Witzes, sondern das Prinzip einer absichtsvoll versehrten Schreibart der sprachlichen Bedingtheit. Diese gestörte, schwierige, holprige Sprache hat – es wurde oft betont – ihren Motor in Hamanns ,Transzendentalphilologie‘.53 So heißt es an der vielleicht berühmtesten Stelle der Rhapsodie in kabbalistischer Prose: tamen est obscuritatis in contextu et continuatione sermonis, et plures modi. Quare nec sit tam longus ut eum prosequi non possit intentio, nec traiectione ultra modum hyperbato finis eius differatur.“ – „Noch mehr Quellen der Dunkelheit [als im Gebrauch ungewöhnlicher Worte; SDA] finden sich in der Fügung und Komposition der Rede, und ihre Arten und Weisen sind vielerlei. Daher sollte ein Satz weder so lang sein, dass die Aufmerksamkeit ihm nicht folgen kann, noch sollte sein Ende durch Wortsperrung über das dem Hyperbaton gebührende Ausmaß aufgeschoben werden.“ – Der sprachliche Zufall will es, dass die lat. traiectio (wörtl. Übergang, Überfahrt), mit der Quintilian hier die rhetorische Sperrung (Hyperbaton) bezeichnet, auch Sternschnuppe bedeuten kann (etwa bei Cic. Div. II ,6,16.), sodass sich in diesem Wort die Störungen des Hamann’schen Satzes prägnant verdichten. Darüber hinaus sei an dieser Stelle auf einen der wichtigsten Exponenten jenes bewusst holprigen Stils hingewiesen, dem sich die markanten Apokopen und die freien Inter- und Appositionen des kreuzziehenden Philologen verschreiben. Die Rede ist von Michel de Montaigne, dessen an der kynischstoischen Rhetorik geschulter style coupé das Hyperbaton zur ,Masterfigur‘ insbesondere seiner späten Essays erhebt (vgl. François Charpentier: L’hyperbate: une maîtresse forme du ,troisième allongeail‘. In: Montaigne et les Essais, 1588–1988. Hg. von Claude Blum. Paris 1990, S. 129–147; sowie die Beiträge in La langue de Rabelais – la langue de Montaigne, Actes du Colloque de Rome [septembre 2003]. Hg. von Franco Giacone. Genève 2009; in der Hamann-Forschung hat Montaigne bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gefunden. Eine Ausnahme bildet Sven-Aage Jørgensen: Exkurs I zu: Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. Hg. u. komm. von dems. Kopenhagen 1962, S. 165–168, der allerdings nicht auf den Stil im engeren Sinne eingeht, sowie der hellsichtige Beitrag von Eric Achermann: Verbriefte Freiheiten [wie Anm. 3]). 53 Vgl. zu den philologischen Bezugnahmen Hamanns auf den Naturbuch-Topos SchmitzEmans: Schrift und Abwesenheit (wie Anm. 6), S. 75–108; insbes. S. 98–108.
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wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen[*] – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen, des Poeten bescheiden Theil. [*] Rescisso discas componere nomine versum; Lucili vatis sic imitator eris Ausonius Epist. V.54
Abermals haben wir es hier mit einem beispielhaften Fall jener performativen Prägnanz zu tun, die die Hamann’sche elocutio auszeichnet: Der Philologe beschreibt die Schöpfung als einen korrumpierten Text und lässt der horazischen Metapher vom zerstückelten Dichter eine illustrative, in asyndetische Glieder zerhackte accumulatio folgen. Das von Satzzeichen unterbrochene Syntagma schiebt das erwartete Ende immer weiter hinaus, um zuletzt gleichsam meta-figürlich mit dem „bescheiden Theil“, einem membrum disiectum, zu schließen. Dabei ist bei aller Berühmtheit der Stelle auf etwas noch zu wenig eingegangen worden. Nämlich, dass das Staccato von Hamanns ,Distax‘, die in rhetorische Figuren umgesetzte Philologie des Sündenfalls, ihr einschlägiges Vorbild offensichtlich in einer ganz bestimmten Tradition findet: der römischen Satire.55 Tatsächlich zitiert Hamann in diesem zentralen Passus mit Horaz und Lucilius gleich zwei Exponenten der antiken satura. Einem Ausblick auf die satirischen Vorbilder von Hamanns Rhetorik sei der folgende, abschließende Abschnitt gewidmet.
54 Hamann: Kreuzzüge, S. 166–167; N II , 198–199. 55 Damit sind hier in erster Linie die Verssatiriker Lucilius, Horaz und Persius gemeint,
zu denen in der gängigen Literaturgeschichtsschreibung noch Juvenal hinzukommt (der allerdings für Hamann eine vergleichsweise nebensächliche Rolle spielt). Tatsächlich bewahrheitet sich gerade am Beispiel von Hamanns stilus atrox, dass die strikte gattungspoetologische Trennung zwischen hexametrischer Vers- und prosimetrischer menippeischer resp. varronischer Satire, zu deren wichtigsten Vertretern der von Hamann hochgeschätzte Petron gehört, im Hinblick auf die Tradition der literarischen Unform hinfällig ist. Vgl. zu den Umrissen dieser Tradition auch Sina Dell’Anno: Zerstückelung und Einverleibung. Fragmente einer Poetik des saturierten Texts. In: Unverfügbares Verinnerlichen. Figuren der Einverleibung zwischen Eucharistie und Anthropophagie. Hg. von Yvonne Al-Taie u. Marta Famula. [vorauss. 2020].
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3 Satirische Vorbilder des ,stilus vitiosus‘ 3.1 Horaz: disiecti membra poetae
Tatsächlich handelt es sich bei der paradoxen musa pedestris der antiken Satire56 um eine noch immer unterschätzte Impulsgeberin der panischen Schreibart, mit der die Kreuzzüge des Philologen die Leser*innen herausfordern.57 Nehmen wir etwa die disiecti membra poetae. Vor dem Hintergrund eingehender Forschun56 Hor. Sat. II ,6,17; vgl. auch Hor. Epist, II ,1,125. Eine hervorragende Einführung in die
Programmatik der römischen Satire geben Kirk Freudenburg, Andrea Cucchiarelli u. Alessandro Barchiesi: Musa pedestre. Storia e interpretazione della satira in Roma antica. Roma 2007. Den antiken Vertretern der wilden Schwester der Verssatire, jener zentaurenhaften, widersprüchlichen Mischung (κρᾶσίς παράδοξος; Lukian, Bis acc. 33), die man mit dem Namen der Menippea belegt hat, hat Relihan eine einschlägige Studie gewidmet (Joel S. Relihan: Ancient Menippean Satire. Baltimore, London 1993). 57 Es dürfte die dezidiert theologische Ausrichtung eines Großteils der Hamann-Forschung sein, die eine umfassendere Würdigung der satirischen Vorbilder seiner Schreibart bislang verhindert hat. Abgesehen von den vereinzelt dastehenden, rezeptionsgeschichtlichen Studien von Prochaska (Roman Alfred Prochaska: Hamann und Horaz. Zur Funktion des Zitats in der Wortkunst des Magus. Graz 1966) und Ofner (Gertrud Ofner: Hamann und Persius. Eine literarische Verwandtschaft. Diss. Masch. Graz 1967) und Jørgensens Überlegungen zu Hamann als einem humoristischen Schriftsteller (wie Anm. 36) ist der bereits mehrfach erwähnte Beitrag von Eric Achermann (Verbriefte Freiheiten [wie Anm. 3]) am weitesten in die hier angepeilte Richtung vorgedrungen. Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass die „eigenartige Traditionsreihe“ von Autoren wie „Petronius, Rabelais (1494?–1553), Cervantes (1647–1616), dem Scriblerian Club (ab ca. 1712) und Sterne (1713–1768)“, die Achermann benennt (Verbriefte Freiheiten [wie Anm. 3], S. 90) und deren jüngere Exponenten sich zudem auf Montaignes Essais beziehen, nichts anderes ist als eine Ahnengalerie von Menippeern resp. kynischen Satirikern, deren transhistorischem Feldzug gegen die Hybris des menschlichen Intellekts im Zeichen der monströsen literarischen Unform sich auch der Magus in Norden entschieden anschließt. Symptomatisch für den Scheuklappeneffekt, den die theologische Orientierung auf die Hamann-Forschung hat, ist die Tatsache, dass die begeisterte Aufnahme der Überlegungen Erich Auerbachs zum sermo humilis der Bibel (etwa bei Jørgensen: Hamann: Fünf Hirtenbriefe [wie Anm. 52], S. 60–62 oder Axel Weishoff: Wider den Purismus der Vernunft: J. G. Hamanns sakral-rhetorischer Ansatz zu einer Metakritik des Kantischen Kritizismus. Opladen u. a. 1998) außer Acht gelassen hat, dass mit der antiken Satire eine für Hamann nicht weniger einflussreiche Tradition einer niedrigen Schreibart vorliegt. Ihr vielleicht wichtigster Vertreter Horaz bezeichnet seine Satiren programmatisch als sermones repentes per humum („auf dem Boden kriechende Sermones [,Gespräche‘]“; Hor. Epist. II ,1,250–251) und macht die satirische Anti-Dichtung damit zum gefundenen Modell für Hamanns Schreibweise der Herunterlassung und Erniedrigung.
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gen zur Hamann’schen Intertextualität58 darf man davon ausgehen, dass die vom panischen Philologen zitierten loci mehr als leere Worthülsen zur Dekoration der Thesen sind. Dennoch ist es erstaunlicherweise noch zu keiner vertieften Auseinandersetzung mit dem locus classicus der Hamann’schen Transzendentalphilologie gekommen.59 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst die Blindheit der Kommentatoren gegenüber der Tatsache, dass das an dieser zentralen Stelle zitierte horazische Bild tel quel in Lowths dritter Praelectio auftaucht, und zwar in einem für Hamanns Aesthaetica durchaus einschlägigen Zusammenhang: Die dritte Vorlesung widmet sich mit der schwierigen Frage nach dem Metrum der hebräischen Poesie auch einer Eigenheit, die die heiligen Texte von der griechisch-römischen Dichtung radikal unterscheide, nämlich ihrer relativ problemlosen Übersetzbarkeit. Mendelssohn paraphrasiert in seiner rühmenden Rezension der Lowth’schen Vorlesungen: 58 Vgl. exemplarisch Beetz: Dialogische Rhetorik (wie Anm. 8); Achermann: Worte und
Werte (wie Anm. 33).
59 Eine Ausnahme bildet die bereits erwähnte Untersuchung von Prochaska: Hamann und
Horaz (wie Anm. 57), hier S. 85 f. Prochaska kommt das Verdienst zu, die augenfällige Bedeutung der vielfach zitierten vierten Satire des Horaz in Hamanns Werk hervorgehoben zu haben. Allerdings krankt seine Studie vor allem an zwei Dingen: Zum einen operiert Prochaska mit einem unscharfen Begriff des Zitats resp. der intertextuellen Verfahren, mit denen sich Hamann die horazischen Wendungen aneignet. Das führt u. a. dazu, dass, im Bedürfnis den Magus als Horaz-Epigonen zu exponieren, zahlreiche markante Sinnverschiebungen gegenüber Horaz sowie die konträren Kontexte ein und desselben Zitats in Hamanns Werk ebenso übergangen werden, wie die blühende nachantike Rezeptionsgeschichte einschlägiger horazischer Dikta, die, wie hier angedeutet, für ein Verständnis der Hamann’schen Zitate unabdingbar ist. Zum anderen beruhen Prochaskas Lektüren gänzlich auf dem mittlerweile vielerorts überholten klassischphilologischen Forschungsstand zum horazischen (Satiren-)Werk und geben den Originaltexten gegenüber der interpretierenden Paraphrase nur wenig Raum. Hoffmanns Studie zu Hamanns Philologie hat v. a. im Hinblick auf die erstere Problematik vieles ins rechte Licht gerückt, indem sie nicht so sehr von der reibungslosen Übernahme fremder Worte ausgeht, sondern die „Zerstückelung der Zitate und [die] Entbindung von kombinatorischer Spielenergie“ in den Blick nimmt (Volker Hoffmann: Hamanns Philologie [wie Anm. 2], S. 110–119). Dass diese Zitationstechnik gerade in den disiecta membra ihre plastische Leitmetapher findet, gerät indes nicht in den Blick von Hoffmanns Lektüren. Zu erwähnen ist schließlich Lumpps Aesthaetica-Kommentar, der auf Michaelis’ Formulierung von den „disjecti oratoris membra“ der mosaischen Reden (Praefatio, S. XXXI) verweist und das horazische Diktum damit auf die Illustration eines theologischen Sachverhalts reduziert, ohne indes näher auf Horaz oder auf Lowths exaktere Verwendung des Zitats einzugehen (Lumpp: Philologia crucis [wie Anm. 21], S. 55 f. [Anm. 34]).
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Ihre Gedichte erhalten auch durch diese Eigenschaft den Vorzug vor den griechischen und römischen Gedichten, daß man den poetischen Geist selbst in einer Übersetzung noch immer erkennt, wenn sie nur genau nach den Worten eingerichtet ist. So fern nur die Ordnung und die Abtheilung der kurzen Sprüche, daraus ihre Poesie größtentheils besteht, nicht verrückt werden; so zeigen sich allenthalben disjecti membra poetae. Die Übersetzungen, die man davon in einigen lebendigen Sprachen hat, bestätigen dieses zu genüge.60
Insofern die in der Aesthaetica enthaltenen Kernthesen der Hamann’schen Sprachphilosophie diese als eine Theorie des transzendentalen Übersetzens formulieren (s. o.), dürfte die Relevanz der Lowth’schen Reflexion auf der Hand liegen. Einmal mehr zeigt sich hier, wie wörtlich Hamanns „philologische[r] Wortwechsel“ als ein Verfahren der bedeutungsverschiebenden Zitation zu nehmen ist.61 Es ist hier nicht der Platz, detaillierter auf den intertextuellen Zusammenhang von Lowths III. Praelectio und Hamanns Rhapsodie einzugehen.62 Gerade mit Blick 60 [Moses Mendelssohn:] Lowth, R.: De sacra poesi Hebraeorum. Oxford 1753. Rezen-
sion. In: Allgemeine Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste Bd. I. Hg. von Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn. Leipzig 1757, S. 122–155, hier S. 129 f. Der lateinische Originaltext ist gegenüber Mendelssohns Paraphrase noch prägnanter; bemüht er doch zur Verdeutlichung des Status einer (volkssprachigen Prosa-) Übersetzung die Metapher eines ,verdunkelten, schattenhaften Abbildes‘ (adumbrata imago): „Poema ex Hebraea in aliquam linguam conversum, et oratione soluta ad verbum expressum, cum sententiarum formae eadem permaneant, multum adhuc, etiam quod ad numeros attigit, pristinae dignitatis retinebit, et adumbratam quandam carminis imaginem. Hoc itaque in vernacula sacrorum poematum interpretatione cernitur, ubi plerumque ,invenias disjecti membra poetae:“ (Roberti Lowth: De sacra poesi Hebraeorum Praelectiones Academicae Oxonii habitae. Notas et Epimetra adjecit Ioannes David Michaelis. Göttingen 1758–1761. Bd. 1, hier S. 60). 61 Hamann: Kreuzzüge, S. 162; N II , 197. Die markante ,Umwertung‘, die die sprichwörtliche ,Münze‘ (d. i. die an die disiecta-membra-Stelle gebundene Übersetzungsthematik) bei Hamann erfährt, kommt nicht nur in der Verschiebung der optischen Metaphorik – von Lowths leicht abgeschattetem Abbild (adumbrata imago) zur nur indirekt und verzerrt betrachteten „Sonnenfinsternis“ (Herv. SDA) – zum Ausdruck, sondern auch im Roscommon-Zitat: „And shews the stuff, but not the workman’s skill;“ (Kreuzzüge, S. 169; N II , 199). Dass übersetzendes Reden bei Hamann als ein konstitutives Abweichen vom NatUr-Text gedacht ist, betont auch Monika Schmitz-Emans: „der Mensch [ist] ein Übersetzer, der den Urtext immer wieder verfehlt. In diesem Verfehlen liegt seine schöpferische Leistung.“ (Schrift und Abwesenheit [wie Anm. 6], S. 101 f.). 62 Jens Wolff: Ästhetische Nuss oder Reliquie. Hamanns christologischer Symbolismus. In: Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Hg. von Manfred Beetz und Andre
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auf die Frage nach Hamanns elocutio gilt es, der horazischen Quelle Geltung zu verschaffen. Tatsächlich zitiert Hamann mit Horazens vierter Satire einen nicht nur für seine Hermeneutik, sondern auch für seine Rhetorik einschlägigen Intertext; geht es doch im besagten Sermo des Horaz um nichts anderes als das eigentüm liche genus scribendi der Satire selbst.63 Das Herzstück dieses Gedichts bildet die intrikate Behauptung, dass es sich, im Unterschied zur Poesie eines Ennius, bei der satura von Lucilius oder Horaz keineswegs um Dichtung (poema), sondern lediglich um versifizierte Prosa (sermo merus) handle. Nachweisen lasse sich dies durch eine etablierte philologische Probe, die Auflösung des Metrums durch Verstellen der Worte (μετάθεσις; permutatio verborum):64
Rudolph. Berlin, Boston 2012, insbes. S. 343–345, hat zu Recht betont, dass es sich bei Hamann um einen genauen Leser Lowths handelt (ohne freilich auf die gerade in seinem Zusammenhang zentrale Stelle einzugehen, wo die disiecta-membra-Metapher auftaucht). Wie zu zeigen wäre, rückt vor dem Hintergrund der III . Praelectio auch die scheinbar unmotivierte metriktheoretische Digression am Ende der Rhapsodie ins Zentrum ihrer philologischen Anliegen. 63 Vgl. grundsätzlich den hervorragenden Kommentar von Emily Gowers: Horace Satires I . Cambridge 2012 ad loc. (S. 147–183). Wie oben angedeutet, lässt sich die Relevanz der satirischen Tradition für Hamanns Schreibart bereits am Namen der Sermones (,Gespräche‘) selbst ablesen, den Horaz als Bezeichnung seiner Satiren einerseits vom römischen Gattungsbegründer Lucilius übernimmt (zu ihm s. u.), andererseits auch explizit mit deren kynischem Erbe in Beziehung setzt: So spricht Horaz in den Episteln rückblickend vom schwarzen Salz seiner bioneischen Gespräche (sermonibus Bioneis; nach dem Kyniker Bion von Borysthenes vgl. Hor. Epist. II ,2,60) und macht den Titel seiner Satiren damit als Übersetzung des griechischen Διατριβαί lesbar. Die Diatribe selbst wiederum ist, als rhetorische Unform der kynisch-stoischen ,Wanderpredigt‘, für eine angemessene Einordnung von Hamanns stilus atrox von kaum zu überschätzender Relevanz. Aufschlussreiche Bemerkungen zur schwierigen Begriffsgeschichte von sermo und diatribe finden sich bei Amaranta Maruotti: La diàtriba cinico-stoica: uno strumento concettuale o un mito filologico? Analisi del dialogismo diatribico e del ruolo dell’interlocutore fittizio nella filosofia romana. Diss. Paris 2016, hier insbes. S. 126–143 sowie (mit Blick auf Horaz) Suzanne Sharland: Horace in dialogue. Bakhtinian readings in the Satires. Bern, Oxford, New York 2010, S. 1–52. 64 Hor. Sat. I ,4,45–63. Vgl. zu Horaz und zur Geschichte der Metathese als Prüfstein einer atomistischen Poetologie Steven Oberhelman u. David Armstrong: Satire as Poetry and the Impossibility of Metathesis in Horace’s Satires. In: Philodemus and Poetry: Poetic Theory and Practice in Lucretius, Philodemus and Horace. Hg. von Dirk Obbink. New York, Oxford 1995, S. 233–254.
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Man hat daher die Frage aufgeworfen, ob die Komödie ein Gedicht zu nennen sei, esset quaesivere, quod acer spiritus ac vis da ihr’s sowohl in Sachen als in Worten an Schwung und Feuer fehlt, und ihre Sprache nec verbis nec rebus inest, nisi quod pede certo von der gemeinen nur durchs Silbenmaß differt sermoni, sermo merus. […] sich unterscheidet. […] Es ist demnach nicht allerdings genug in Versen, wo die Sprache non satis est puris versum perscribere verbis, nie die Grenzen quem si dissolvas, quivis stomachetur der Prose überschreitet, so zu schelten, eodem [55] daß, wie das Metrum aufgelöset wird, ein jeder andrer Vater eben so wie der verlarvte quo personatus pacto pater. His, ego quae nunc, schnaubte. Nehmet dem, olim quae scripsit Lucilius, eripias si was ich soeben schreibe, oder was Lucil vor mir geschrieben, Rhythmus und Mensur, tempora certa modosque, et quod prius ordine und stellt, was nun das letzte ist, voran, verbum est was bleibt uns Dichterisches? Tut dasselbe, posterius facias praeponens ultima primis, wenn Ennius singt: die schwarze Zwietracht hatte kaum non ut si solvas „postquam discordia taetra [60] des Krieges Eisentore aufgesprengt, belli ferratos postes portasque refregit“, ihr werdet auch in den zerstückten Gliedern den Dichter wieder finden. Im Vorbeigehn dies! invenias etiam disiecti membra poetae Ob diese Art von Schriften Poesie hactenus haec: alias iustum sit necne poema. zu nennen sei, ein andermal! (Übers. C. M. Wieland 1786) Idcirco quidam, comoedia necne poema [45]
Die Pointe und Crux des horazischen Textes besteht darin, dass er das zur Beweisführung erwähnte philologische Verfahren zugleich rhetorisch inszeniert, indem er die eigene Wortfolge bis an die Grenze der Lesbarkeit verstellt.65 Das Resultat dieser an sich selbst exerzierten Philologie ist, dass die Behauptung des Textes paradox subvertiert wird. Denn gegenüber dem syntaktisch banalen, ja prosaischen Ennius-Vers, den Horaz zitiert, steht die prägnante Figürlichkeit einer durch Hyperbata, Inversionen und Ellipsen entstellten, performativ in ihre Glieder zerhackten Satire. Die poetologische Gretchenfrage, ob resp. wo man nun 65 Im Deutschen gelingt es allenfalls durch hypothetische Interpunktion, den Effekt der
lateinischen Hyperbata wiederzugeben: „[…] Wenn du dem, was ich nun,/ oder was einst Lucilius geschrieben,/ den festen Gang und Rhythmus entrissest, und, was nun in der Folge das frühere Wort ist,/ zum späteren machtest, letzteres ersterem voranstellend,/ würdest du(,) nicht(,) wie wenn du auflöst: „nachdem die schwarze Zwietracht/ die Eisentore des Krieges aufgesprengt hatte“,/ sogar zerstückelt die Glieder eines Dichters erkennen“.
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noch den Dichter in den zerstückten Gliedern finde, wird damit nicht beantwortet, sondern vielmehr bis auf Weiteres aufgeschoben (alias iustum sit necne poema). In Horaz’ textinterner Selbstreflexion geht also aus der kritischen Unterscheidung von Dichtung und Nicht-Dichtung ein paradoxes Drittes hervor, die figürlich ins Werk gesetzte Zergliederungs- und Verstellungskunst der Satire.66 Dabei – und das ist im Hinblick auf die vielbeschworene Cento-Technik Hamanns bedeutend – zeigt sich das schaurige Schlussbild der Passage zugleich als Emblem einer ebenso destruktiven wie produktiven Intertextualität: Immerhin arbeitet sich der horazische Text an einem membrum disiectum des Epikers Ennius ab, einem amputierten und einverleibten Glied, das seine Fremdheit im neuen corpus ostentativ herausstellt. Im philologischen Sparagmos ist mithin auch die Allegorie einer dissoziativen Poetik der écriture-lecture zu erkennen. Hamann zitiert also mit den disiecti membra poetae ausgerechnet den locus classicus einer performativen, in dissoziative rhetorische Figuren umgesetzten Philologie (und Hermeneutik). Die darin sich andeutende Affinität zwischen der widerspenstigen Sprache des panischen Philologen und der Anti-Rhetorik der antiken satura lässt sich, mit Blick auf dieselbe Stelle der Aesthaetica, zusätzlich plausibilisieren.
3.2 Lucilius: rescisso nomine componere
Wie einschlägig der mit dem Namen des Gattungsbegründers Lucilius verbundene ,Un-Stil‘ der Satire für Hamann ist, zeigt sich tatsächlich noch im selben Passus der Rhapsodie (s. o.), nämlich am Ausonius-Zitat der Fußnote [*]: „[*] Rescisso discas componere nomine versum;/ Lucili vatis sic imitator eris“ („Mit zerteiltem Namen wirst du lernen, Verse zu schreiben; Lucilius, des Sängers, Nachahmer wirst du so sein“). Kraft seines stilistischen Charakteristikums, der Tmesis, wird hier kein anderer als der berühmt-berüchtigte inventor der satura zum poeta vates
66 Anders Prochaska, der zwar ein nicht näher erläutertes „Schillern der Bedeutung“
konstatiert, jedoch – im Einklang mit einem Großteil der älteren Forschung – eine vereindeutigende Lesart des komplexen Textes präsentiert, der zufolge Horaz hier am Beispiel von Ennius das „Kriterium echter Poesie“ benenne (Hamann und Horaz [wie Anm. 57], hier S. 86). Dagegen halte ich die in der Figürlichkeit des Textes wurzelnde Unentscheidbarkeit der Alternative Dichtung oder Nicht-Dichtung (Prosa) für den springenden Punkt, wenn es darum geht, die Relevanz der vierten Satire für Hamanns Schreibart zu würdigen.
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erhoben.67 Gerade die Gewaltsamkeit seiner elocutio, exemplarisch realisiert im figürlichen Aufreißen (rescindere) der Wortkörper, lässt den Satiriker zum (vorbildlichen) Propheten eines versehrten Naturtextes werden. In Hamanns Spiel mit der stilistischen Korruption der Rede (cor-rumpere: brechen, bersten), in seinem „bete – – – an“, ist also eine lucilianische Rhetorik zu erkennen; ein in die Sprache eingetragenes Stottern.68 Mit dem Namen des ersten römischen Satirikers verbindet sich eine Rhetorik der Dissoziation, die für die satirische Schreibart als charakteristisch gelten darf. Unverkennbar wird damit die Affinität von Hamanns abstoßender elocutio zum poetologisch problematischen genus scribendi der satura: Im paradoxen Geiste der Behauptung, die satirische Dichtung sei keine (Dichtung), kultiviert die von Lucilius gestiftete Tradition einen Stil der inszenierten Holprigkeit. Topisch sind seit Horaz’ Satirenwerk die von Lucilius’ aggressiver Parrhesie nicht zu trennenden vitia seines stili nasum,69 die ,Schlammigkeit‘ seiner von fremdsprachi67 Bei Ausonius (Epist. 15, 37–38) scheint die lucilianische Tmesis durch das Hyperbaton
„rescisso––nomine“ angedeutet. Tatsächlich findet sich im zitierten Text direkt vor den von Hamann angeführten Zeilen ein Beispiel für das Lucilius zugeschriebene rhetorische Verfahren (Auson. Epist. 15, 36): „villa Lucani- mox potieris -aco“ („du wirst dich bald der Villa Lucanicus bemächtigen“). Zur Ausonius-Stelle und der Lucilius eigenen Verwendung von Tmesis und Hyperbaton vgl. zuletzt Anna Chahoud: Verbal Mosaics: Speech Patterns and Generic Stylisation in Lucilius. In: Lucilius and Satire in SecondCentury BC Rome. Hg. von Brian W. Breed, Rex Wallace u. Elizabeth Keitel. Cambridge 2018, S. 132–161, insbes. S. 134–150 („The ,Poetics of Word-Parts‘“). 68 Die Bedeutung des Stotterns für Hamanns Selbstverständnis ist wiederholt hervorgehoben worden, vgl. etwa Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit (wie Anm. 6), S. 88: „Hamann betrachtet noch sein eigenes Stottern als Metapher, als Ausdruck des Aufbegehrens gegen eine geglättete Sprache und gegen die Einengung durch Konventionen.“ Indes ist die rhetorische (figürliche) Umsetzung dieser gehemmten, gebrochenen Sprache bisher eben so wenig in den Blick gekommen wie die Tatsache, dass das inszenierte Stottern zu den Topoi der satirischen Tradition gehört. So präsentiert sich etwa Horaz in seiner sechsten Satire als ein verschüchterter Emporkömmling, dem bei der Begegnung mit Maecenas die Worte im Hals stecken bleiben, wobei er dieses Stottern durch gehäufte p-Alliterationen in den Vers bringt (Hor. Sat. I ,6,56–57): „ut veni coram, singultim pauca locutus / (infans namque pudor prohibebat plura profari)/“ (in der Übersetzung Wielands [1787, wie Anm. 65]: „Als ich endlich selbst/ zum erstenmale vorkam, ließ Verlegenheit/ und unberedte Scham mich kaum zu Atem kommen;/ ich sprach nicht viel, und abgebrochen“). 69 Tatsächlich ist die ,Nase‘ als Metapher für den (witzigen) Stil aufs Engste mit der satirischen Tradition verbunden. Was dabei noch immer zu wenig Beachtung findet, ist, dass Lucilius geradezu der Begründer einer römischen Literatur- oder Stilkritik genannt werden darf. Wohl in eben diesem Sinne spricht Plinius d. Ä. von ihm als „Lucilius,
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gen Brocken beschmutzten Diktion und der ungeschickte Gang seiner Versfüße (incomposito pede currere versus).70 Dabei gehört gerade solch metonymische Überblendung von poetischem und leiblichem corpus, von Text- und Autorphysiognomie zu den Spezifika der satirischen Selbstreflexion: Die fußgängerische Muse der satura findet ihr Pendant in den körperlichen Mängeln des Dichters, die im satirischen Text zur Schau gestellt werden.71
3.3 Persius: ipse semipaganus
Unter den römischen Satirikern ist es der von Hamann hochgeschätzte Persius, der am entschiedensten an den durus versus des Lucilius anschließt.72 Nicht als qui primus condidit stili nasum“ („der als erster einen ,Riecher‘ für Stilistisches entwickelte“; Plin. Nat. praef 7); eine Zuschreibung, die durch die gesamte philologische Tradition widerhallt und die Nase, verstanden mithin als Abkürzung für beißend-witzige Kritik, zum Inbegriff der satirischen Schreibart werden lässt. Vgl. John Davis Morgan: Lucilius and His Nose (Pliny, N. H. Praef. 7). In: The Classical Quarterly Vol. 42, No. 1 (1992), S. 279–282. 70 Vgl. Hor. Sat. I ,4,1–13; I ,10 passim. Eine einflussreiche Verteidigung des Lucilius gegenüber dem wenig schmeichelhaften Porträt seines Nachfolgers Horaz formuliert Quin tilian (Quint. Inst. X ,1,94). 71 Vgl. Alessandro Barchiesi u. Andrea Cucchiarelli: Satire and the Poet: the Body as SelfReferential Symbol. In: The Cambridge Companion to Roman Satire. Hg. von Kirk Freudenburg. Cambridge 2005, S. 207–223. 72 Ofner (Hamann und Persius [wie Anm. 57], S. 107 ff.) legt umfänglich dar, wie groß Hamanns Wertschätzung für den neronischen Satiriker war, hebt in ihrer Untersuchung allerdings ganz auf die „Geistesverwandtschaft“ der beiden ,bekehrten‘, ,bibliophilen‘, ,dunklen‘ Autoren ab, ohne die konkreten rhetorischen Verfahren näher in den Blick zu nehmen (eine Ausnahme bilden die Hinweise S. 129–132). Um sich die einschlägige Vorbildfunktion zu vergegenwärtigen, die Persius’ schwierige Satiren für den „Laconismus und stylus atrox poetischer Bilderschrift“ (N IV, 421) Hamanns beanspruchen können, genügt der Blick auf Michael von Albrechts konzise Charakteristik von Persius’ literarischen Verfahren: „Auf den ersten Blick zerfällt jede der Satiren in disparate Teile. Bei genauerem Zusehen erkennt man jedoch, daß die Einzelheiten sich um Kernthemen […] und Leitmetaphern gruppieren. Kernthemen werden kaum ausdrücklich angekündigt; der Leser soll sie aus den gehäuften Einzelheiten herausschälen. Auch findet keine systematische Gedankenentwicklung statt. Thesen werden nur punktuell an Beispielen erhärtet. In den Dienst belehrender Absicht treten auch rhetorische Mittel, z. B. verschiedene Formen der Wiederholung. […]. Auch der häufige Sprecher- und Szenenwechsel und der extrem bilderreiche Stil sollen der Denkbelebung des Zuhörers dienen. Ebenso die Zitiertechnik: Persius wandelt den Wortlaut des Vorgängers leicht ab, setzt aber voraus, daß sich der Leser an den originalen Kontext erinnert […]. All dies bestä-
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Poet, sondern als „Halbbauer“ stolpert Persius im berühmten Prolog seiner Satiren buchstäblich auf die Bühne des Textes,73 nämlich am hinkenden Ende des choliambischen Verses: „… ipsé semípagánus“.74 Die stotternde Selbstbeschreibung – ipse semipaganus – mobilisiert programmatisch jene Eigensinnlichkeit der Sprache, die sich auch in Hamanns stilus atrox ausdrückt. Anstatt der geschmeidigen Fügung, die die gefällige Poesie seiner neronischen Zeitgenossen kultiviert, verschreibt sich der notorisch dunkle Persius der iunctura acris,75 der offensiven Widerspenstigkeit einer elliptisch zerklüfteten, von einem verstörenden Bild zum nächsten springenden Schreibweise.76 Schon der Satirenprolog, in dessen Zentrum mit semipaganus ein irritierendes Hapax legomenon prangt,77 setzt diese unbequeme Rhetorik ins Werk. Der Grenzgang von Persius’ paradoxer Anti-Dichtung bedient sich dabei insbesondere eines Verfahrens, dem ich mit Blick auf Hamanns stilus atrox exemplarische tigt, daß er sich an ein gebildetes und geistig reges Publikum wendet. Die literarische Technik des Persius ist rezeptionsorientiert – nicht im Sinne einer Anpassung an den ‚Rezipienten‘, sondern im Sinne einer extremen Aktivierung des Lesers.“ (Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Berlin 2012, S. 854) Zum Stil resp. der Poetik von Persius’ Satiren vgl. auch E. J. Kenney: Satiric Textures. Style, Meter, and Rhetoric. In: A Companion to Persius and Juvenal. Hg. von Susanna Braund u. Josiah Osgood. Hoboken 2012, S. 113–136. 73 Immer noch lesenswert zum „abnorme[n] Straucheln“ in Persius’ Prolog ist Dietmar Korzeniewski: Der Satirenprolog des Persius. In: Rheinisches Museum für Philologie 121 (1978), S. 329–349, hier S. 346. 74 Pers. Prol. 6–7; vgl. zur Programmatik dieser Selbstbeschreibung Franco Bellandi: Persio e la poetica del semipaganus. In: Maia 24 (1972), S. 317–341; William Thomas Wehrle: Persius semipaganus. In: Scholia 1 (1992), S. 55–65. 75 Pers. Sat. V,14; vgl. Cynthia S. Dessen: Iunctura callidus acri. A Study of Persius’ Satires. Urbana 1968. 76 Vgl. neben Kenney: Satiric Textures (wie Anm. 73) und Shadi Bartsch: Persius. A Study in Food, Philosophy, and the Figural. Chicago 2015, S. 141–159 bereits prägnant William Scovil Anderson: Persius and the Rejection of Society. In: Ders.: Essays on Roman Satire. Princeton 1982, S. 169–196, hier S. 186: „the satirist does his best to avoid all mollitia of meter. Jerky assertions, angry elliptical comments, sardonic questions that break the line in half or thirds, crude enjambement that defies the normal rules of proper stylists, all these are quite conscious achievements of Persius’ poetics.“– die metrische Fügung ist also von der stilistischen Holprigkeit im weiteren Sinne nicht zu trennen. 77 Völlig zu Recht vermutet Moretti in Persius’ Neologismus eine Anspielung auf die (bäuerlich-ländliche) Etymologie der satura (Gabriella Moretti: Allusioni etimologiche al genus satirico: per una nuova esegesi di Persio, choliambi 6–7 [e una tradizione della satira latina]. In: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 46 (2001), S. 183–200, hier S. 185).
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Aufmerksamkeit widmen möchte. Zur widersprüchlichen persona des dichtenden Halbbauers gehört das kompositorische Spiel mit Vulgarismen: Durch bewusst eingesetzte ,Unworte‘ erzielt Persius’ holpernde compositio den Schock-Effekt eines unerwarteten Stil-Gefälles. Berühmt ist etwa die durch ein Enjambement prägnant gebrochene Wendung des Satirenprologs: „magister artis ingenique largitor/ venter“ („Der Meister aller Kunst und Gönner des Talents/ der Bauch“).78 Im abrupten Absturz des poetischen Textes in die Niederungen der Alltagsprosa konkretisiert sich die musa pedestris, der sich schon die horazischen Sermones verschrieben. Persius’ Satire spitzt die irreduzible Paradoxie dieser ,prosaischen Muse‘ zu zu einem ,schrecklichen‘, bewusst abschreckenden Stil (sermo horridus),79 der sich gleich mit den ersten Versen von den entleerten Inspira tionstopoi der hohen Poesie distanziert: nec fonte labra prolui caballino nec in bicipiti somniasse parnaso memini ut repente sic poeta prodirem ipse semipaganus […/…] ad sacra vatum carmen adfero nostrum80
Nicht habe er am Gaulsbrunnen (d. i. der Hippokrene) genippt, noch erinnere er sich – in der Art des Epikers Ennius – an einen Traum auf dem Musenberg, sodass er nun plötzlich als Poet auftreten könnte. Am emphatisierten Ende der hinkenden Verse stehen zunächst die symbolischen Inbegriffe der hohen Dichtung, das geflügelte Musenpferd und der apollinische Parnass. Denen, die sich auf solche Topoi berufen, den selbsternannten Dichtersängern (poetae, vates), begegnet der ungelenk strauchelnde Satiriker mit seinem eigenen carmen, dessen halbbäurische Abkunft sich schon im ersten Vers an der kalkuliert ins Prosaisch-Vulgäre (πεζή λέξις; sermo pedester) abstürzenden Diktion verrät. Es fällt nicht schwer, aus dem Anfang der Aethaetica ebendiesen unverkennbaren Sound herauszuhören: Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! – –81 78 Pers. Prol. 10–11; Herv. SDA . 79 Vgl. zur Topik des mit der kynisch-stoischen Tradition eng verbundenen acutum di-
cendi genus Gabriella Moretti: Acutum dicendi genus. Brevità, oscurità, sottigliezze e paradossi nelle tradizioni retoriche degli Stoici. Bologna 1995 sowie die Dissertation von Amaranta Maruotti: La diàtriba cinico-stoica (wie Anm. 63). 80 Pers. Prol. 1–7 (Herv. SDA). 81 Hamann: Kreuzzüge, S. 161; N II , 197.
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Hamanns doppelte, jambisch deklamierende Verneinung ist Persius’ verkehrter Exordialtopik nachgebildet, die zuerst auflistet, was nicht folgt.82 Der philologische Rhapsode weist die Insignien der schönen Künste (Leier und Pinsel) von sich, um stattdessen, voller Lust am syntaktisch emphatisierten Bathos, eine bäurische Wurfschaufel zur Hand zu nehmen.83 In der Muse mit der groben Schaufel ist das stilistische Emblem einer paradoxen Anti-Dichtung zu erkennen; die prosaische Natur einer Poesie, die sich dem Kot verhaftet weiß und ihre derbe Körperlichkeit offensiv vor sich herträgt.84 So sind denn auch die „stolze[n] Hengste“ der Hamann’schen Rhapsodie nur ,geborgt‘ und der wilde Ritt des „weise[n] Idioten“ gestaltet sich „in kabbalistischer Prose“.85 Man wird den Geist des philologischen Punsters nicht verfehlen,
82 Dabei befindet sich dieser ,Anfang‘ des Textes unverkennbar in einem Dialog mit dem
ihm unmittelbar vorausgehenden Zitat aus Horaz’ Oden (Hor. Carm. III ,1–8), dessen feierliche Erhabenheit von den ersten Worten des Philologen buchstäblich untergraben werden. 83 Dass hier nicht so sehr der theologisch inspirierte poetische furor spricht, sondern vielmehr eine akribisch ausgearbeitete Kompositionskunst am Werk ist, zeigt der Blick auf den Anfang der ,Argumentation‘: Im Anschluss an die erste propositio des Textes („Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“) wird die programmatische Herabstimmung des Anfangs nämlich kunstvoll gespiegelt: „wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation“ (Hamann: Kreuzzüge, S. 163; N II , 197) invertiert exakt die eröffnende Reihung von „Leyer“, „Pinsel“ und „Wurfschaufel“. Wir haben es also mit einem ruhelosen Auf und Ab zwischen poetischen Höhen und prosaischen Niederungen zu tun. Es ist in dieser Bewegung der prosimetrische Gang des kynischen Humors zu erkennen, dessen lachende Erhebung über die Welt niemals von Dauer ist, sondern immer wieder (und oft unsanft) auf den Boden zurückführt. 84 Gleichsam radikalisiert erscheint die Muse denn auch am Ende der Rhapsodie als „Margot de la Ravaudeuse“ (Kreuzzüge, S. 217; N II , 215–216), als eine französische Dirne also, und zwar ausgerechnet im Kontext der philologischen Reflexion von Klopstocks Dichtung. 85 Hamann: Kreuzzüge, S. 162; N II , 197. Vgl. zur generischen Selbstverortung des Titels die präzise Bemerkung Wilhelm Schmidt-Biggemanns: „Rhapsodische Prosa ist ein Oxymoron – und ein solches Oxymoron ist auch die Aesthetica in nuce – weder Pamphlet, noch Abhandlung, weder Dichtung, noch Prosa.“ (Christologische Poesie. Bemerkungen zu Hamanns Aesthetica in nuce. In: So verstehen wir. Texte über das Verstehen. Hg. von Susanne Schulte. Münster, New York 2014, S. 140–157, hier S. 142. Allerdings geht Schmidt-Biggemanns auf die christologische „Kabbala-Adaption“ konzentrierte Lesart an der antiken, profanen Tradition dieser paradoxen Unform vorbei.)
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wenn man im vieldeutigen Attribut des Untertitels auch eine Anspielung auf den depotenzierten Musengaul (caballus) von Persius’ Satiren erkennt.86 Damit sind diese Überlegungen nun beinahe dort wieder angelangt, wo sie ihren Ausgang genommen haben, beim programmatischen Titel von Hamanns Aesthaetica. Die Rolle der satirischen Tradition für den „Medusenschild“ des Hamann’schen Stils konnte hier nur angerissen werden. Sie wäre – nicht zuletzt mit Blick auf das „monströse Schreiben“ Jean Pauls – zu vertiefen.87
86 Dabei dürfte es sich bei Persius’ Formulierung von der Gaulsquelle (fons caballinus) um
eine poetologische Reverenz an den Satiriker Horaz handeln, der mit seiner unerwarteten Verwendung von caballus anstelle des noblen equus am Ende des Verses (Hor. Sat. I ,6,59) die poetische Lexis programmatisch unterbietet. 87 Ich danke den Organisator*innen des Hamann-Kolloquiums für eine äußerst anregende Tagung und vielfältige Unterstützung meiner Hamann-Studien. Ein besonderer Dank geht an Simon Godart (Berlin), ohne dessen selbstlose Hilfsbereitschaft dieser Text um vieles ärmer geblieben wäre.
Peter Klingel (Münster) Ars Punica. Zur Bedeutung des Wortspiels für die ‚panische Schreibart‘ Hamanns
I Die Dunkelheit der Hamann’schen Sprache gehört zu den am häufigsten angeführten Topoi der Forschung.1 Bekanntlich hat schon Hamann selbst die Singularität seines Duktus’ immer wieder nachdrücklich betont und, vor allem in seinen späteren Texten, ausgiebig reflektiert. Sie liege – so erklärt er im Fliegenden Brief (1786/87) – in jenem „magische[n] Styl“2 begründet, dem er sich in seinem Kampf gegen die allzu überschwänglichen Vertreter der Aufklärungsphilosophie von Anfang an verpflichtet habe, und als dessen Symbolfigur er spätestens ab den Kreuzzügen des Philologen (1762) den Hirtengott Pan anführt. Eric Achermann hat in seiner Untersuchung zur Bedeutung der Figur Pans für das Denken und Schreiben Hamanns auf die „doppelte Rolle“ verwiesen, welche der Hirtengott „in der Tradition der antiken Götterwelt“ spiele: So galt er zunächst „als der eher geringe und frivole Gott der arkadischen Wälder, wo er in Verbindung zu Bacchus und Demeter steht, ja gar den trunkenen Gott Silen zum Bruder hat und durch eine Reihe von schlechten Eigenschaften wie Faulheit, Dummheit und auch Geilheit auszeichnet“, wohingegen „spätere Zeiten“, nicht zuletzt angesichts der „einladende[n] Etymologie seines Namens“, den „bescheidenen Erdengott“ zum „Gott des Universums“ stilisierten.3 Es ist diese produktive Ambiguität der griechischen Gottheit und ihre hieraus resultierende enorme Anschlussfähigkeit für die unterschiedlichsten philosophischen Traditionen, die das eigentliche Kriterium dieser auf den ersten Blick ungewöhnlichen Wahl darstellt. Sie ermöglicht die „Heterogenität des Materials“, an das Hamann auf diese 1 Für einen Überblick diesbezüglich vgl. Christina Reuter: Autorschaft als Kondeszen-
denz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin/New York 2005 (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 132), S. 47–53. 2 N III , 350. 3 Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997 (= Frühe Neuzeit, Bd. 32), S. 153.
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Weise anknüpfen kann, doch eine schiere „Unzahl von Bezügen, die den Weg zur Beschreibung und Erklärung religiöser, naturwissenschaftlicher und ästhetischer Probleme“ der in den Kreuzzügen versammelten Texte „weisen“.4 Doch dient der Pan-Bezug nicht nur der, wenn man so will, philosophischideologischen Positionierung und Kohärenzbildung. Denn im Fliegenden Brief ist es ja ausdrücklich seine Schreibart, die Hamann als „panisch“ bezeichnet, womit mehr als ihr Inhalt die spezifisch rhetorische Form seiner Texte angesprochen ist.5 Und da heißt es weiter, dass es sich bei besagter „panische[r] Schreibart“ „mit rechtem Fleiß“ um „ein[en] Popans oder Carricatur“ der „dithyrambischen Denkungsform und Urtheilskraft“ jener „herrschende[n] Kunstrichter und Schriftsteller“ handele, „die sich einbilden ‚zu wissen, woran sie sich zu halten haben‘“.6 Als Quelle gibt Hamann selbst diesbezüglich Samuel Johnsons The Idler an. Johnson schreibt dort im 36. Stück – The terrific diction ridiculed – vom terrifick oder bugbear style, dessen „chief intention is to terrify and amaze“.7 Damit werden zwei Begriffe verwendet, die unmittelbar auf den „Affektualismus“8 verweisen, dessen Bezug zur Pansfigur bekanntlich bereits in Shaftesburys9 Letter concerning Enthusiasm zu finden ist, wenn dieser auf den sprichwörtlichen panischen Schrecken zu sprechen kommt.10 Wenn Hamann seine panische Schreibart ent 4 Ebd., S. 157. 5 N IV, 456 [Über das Spinozabüchlein Friedrich Heinrich Jacobis]: „Der Vortrag macht
eben so oft die Sache; als das Kleid den Mann. Jede Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Innhalt durch den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß. Daher jener witzige Einfall des weisen Mannes: Rede, daß ich dich sehe.“ 6 N III , 350. 7 Samuel Johnson: The Idler. No. 36 (1758). In: The Yale Edition of the Works of Samuel Johnson. Vol. II : ‚The Idler‘ and ‚The Adventurer‘. Ed. by W. J. Bate, John M. Bullitt and L. F. Powell. New Haven/London 1963, S. 113. 8 Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des Romantischen Geistes im 18. Jahrhundert. Halle an der Saale 21925, S. 145. – Vgl. hierzu weiterhin Achermann: Worte und Werte (wie Anm. 3), S. 156 f. 9 Zur Rolle der Affekte bei Shaftesbury vgl. Amy M. Schmitter: Art. ‚17th and 18th Century Theories of Emotions‘. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2016 Edition). Ed. by Edward N. Zalta. Online verfügbar unter: https://plato.stanford.edu/ archives/win2016/entries/emotions-17th18th (letzter Aufruf 22.10.2019). 10 Ich zitiere hier und weiter unten nach der Übersetzung Hamanns (N IV, 137 f.): „Wir lesen in der Geschichte, daß Pan, da er den Bacchus in einen Feldzug nach Indien begleitete, Mittel fand, ein Schrecken dem feindlichen Heere einzujagen durch Hülfe einer kleinen Mannschaft, deren Geschrey er mit gutem Vortheil zwischen den zurückschallenden Felsen und Hölen eines waldichten Thals zu brauchen wuste. Das rauhe Gebrülle der Hölen nebst dem erschrecklichen Anblick solcher finsterer und wüster
Zur Bedeutung des Wortspiels für die ‚panische Schreibart‘ Hamanns
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sprechend als Popanz der aufklärerischen „Denkungsform und Urtheilskraft“, als deren Schreckgestalt also, bezeichnet, dann liegt dies – zumindest auf den ersten Blick – ziemlich genau auf der von Johnson (und auch Shaftesbury) vorgegebenen Linie. Doch geht die Rechnung nicht auf. Denn derjenige, der bei Johnson des bugbear styles bezichtigt wird, ist eben gerade nicht der leidenschaftliche Vernunftkritiker, sondern, im Gegenteil, der philosophische Pedant, der sich in seinem Hang zur Haarspalterei nicht scheut, selbst die „most evident truths“ noch weiter zu zerlegen, „so […] that they can no longer be perceived“,11 und eben dadurch erstaunt und erschreckt.12 Es besteht also ganz offensichtlich doch ein Unterschied zwischen dem, was Johnson den bugbear style nennt, und Hamanns panischer Schreibweise, insofern Hamann zwar die genannte chief intention für sich zu übernehmen scheint, den eigentlichen Bezug jedoch umkehrt: Während es bei Johnson der unbedarfte Leser ist, der durch das abstrakte Gerede der Philosophen in Staunen und Schrecken versetzt wird, sind es nun bei ihm die Philosophen selbst, die erschrecken und erstaunen sollen. Damit komme ich zum zweiten Begriff, den Hamann zur Charakterisierung seiner Schreibweise heranzieht, soll doch die panische Schreibart schließlich nicht nur Popanz, sondern eben auch „Carricatur“ der genannten „Denkungsform“ sein. Karikatur aber ist eine Form der Nachahmung, und zwar im Modus der Zuspitzung. Setzt man dies in Bezug zum soeben Erläuterten und liest beides Örter, machte dem Feinde ein solches Grauen, daß die Einbildungskraft sie in diesem Zustande half, Stimmen zu hören und Gestalten dazu zu sehen, die mehr als menschlich waren; weil die Ungewißheit desjenigen, wofür sie sich furchten, ihre Furcht vergrößerte und dieselbe durch ungewisse Blicke geschwinder ausbreitete, als es eine Erzählung hätte thun können. Dies hat man in den nachfolgenden Zeiten ein panisches Schrecken genannt.“ 11 Johnson: The Idler. No. 36 (wie Anm. 7), S. 113. 12 „A mother tells her infant, that two and two make four; the child remembers the proposition, and is able to count four to all the purposes of life, till the course of his education brings him among philosophers, who fright him from his former knowledge, by telling him, that four is a certain aggregate of units; that all numbers being only the repetition of an unit, which, though not a number itself, is the parent, root, or original of all number, four is the denomination assigned to a certain number of such repetitions. The only danger is, lest, when he first hears these dreadful sounds, the pupil should run away; if he has but the courage to stay till the conclusion, he will find that, when speculation has done its worst, two and two still make four.“ (Ebd., S. 113 f.) – Wie auch in der von Shaftesbury berichteten Anekdote verbirgt sich hinter dem vermeintlich Schrecklichen Harmloses.
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zusammen, dann wäre der Hamann’sche panische Schrecken ein Schrecken, der durch überspitzte Nachahmung des ursprünglichen Schreckens erregt wird, und sich so gegen diesen selbst richtet, indem er ihn überhaupt erst thematisiert und als solchen vor Augen führt. Die Formel „Popans oder Carricatur“, die Hamann anführt, wäre demnach im Sinne von ‚Popans‘ durch ‚Carricatur‘ zu lesen. Diese Einschätzung nun wirft zwei Fragen auf: Zum einen muss die Frage beantwortet werden, was genau denn eigentlich von Hamann karikiert, also übernommen und zugespitzt wird, und zum anderen gilt es zu klären, worin präzise der Schrecken besteht, den der jeweils Karikierte empfinden soll.
II Dass der Versuch einer auf Allgemeingültigkeit zielenden Beantwortung der genannten Fragen kaum sinnvoll sein dürfte, liegt wohl auf der Hand. Zu zahlreich sind die Konstellationen im Werk Hamanns und zu spezifisch jeder einzelne Fall, um hier zu verallgemeinern. Ich möchte mich daher im Folgenden auf eine sehr partikulare Antwort beschränken, die anhand eines kleinen Fallbeispiels – das meines Erachtens jedoch durchaus heraussticht – den Blick auf eine bestimmte rhetorische Kategorie lenken soll, der bisher höchstens vereinzelt Aufmerksamkeit zuteil geworden ist: nämlich auf das Wortspiel.13 Warum es gerade das Wortspiel ist, dessen Beziehung zum Panischen mich interessiert, wird deutlich, berücksichtigt man – neben den genannten – eine weitere, von der Forschung bis dato übersehene Quelle, die meines Erachtens für die Konzeption der panischen Schreibart von Bedeutung ist, jedoch an gänzlich anderer, viel früherer Stelle von Hamann angeführt wird, und zwar in der Aes thaetica in nuce (1762 als Teil der Kreuzzüge). Gemeint ist die Ars Pun-ica, siue Flos Linguarum: The Art of Punning, or the Flower of Language in seventy-nine Rules for the farther Improvement of Conversation and Help of Memory. By the Labour and Industry of TUM PUN-SIBI. […] The second Edition 1719.14 13 Eine Ausnahme bilden Sven-Aage Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller.
In: Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne. FS für Klaus-Detlef Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Werner Frick und Susanne Komfort-Hein. Tübingen 2003, S. 27–36, hier v. a. S. 30, sowie François Poncet: „All unser Lallen und Nachahmen ist Non-sense“. Zur ontologischen Philologie der Ars Pun-ica. In: Acta 1996, 83–92. 14 N II , 212 (i. O. hervorgehoben).
Zur Bedeutung des Wortspiels für die ‚panische Schreibart‘ Hamanns
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Bei diesem – von Thomas Sheridan verfassten, von Hamann allerdings fälschlicherweise Swift zugeschriebenen15 – Werk handelt es sich, trotz seiner satirischen Aufmachung, um eine äußerst aufschlussreiche und innovative Abhandlung zum Wortspiel in all seinen Facetten, die auch für heutige Leser*innen durchaus interessant sein kann. Nicht nur, so heißt es hier, leite sich der englische Ausdruck pun etymologisch vom Namen Pan her, „who in the Æolic dialect is called Pun“,16 nein, auch der Ursprung der Sache selbst sei bei dem Hirtengott zu finden: Some authors […] will have Pan […] to be the author of puns, because they say, Pan being the god of universal nature, and punning free of all languages, it is highly probable that it ows its first origin, as well as name, to this god.17
Pan ist also, folgt man der hier präsentierten – freilich äußerst fragwürdigen – etymologischen Herleitung des Begriffs, nebst allem anderen auch noch der Gott des Wortspiels. Dass es sich bei jener Etymologie natürlich selbst um nichts anderes als ein Wortspiel handelt, dürfte für die zeitgenössische Leserschaft (und vor allem einen Leser vom Schlage Hamanns) wohl ziemlich eindeutig gewesen sein. Die stets affirmative Berufung18 Hamanns auf Swift legt es jedoch nahe, den Verweis mit Blick auf die Konzeption seiner panischen Schreibweise durchaus ernst zu nehmen, seiner humoristischen Provenienz zum Trotz. Das eigentliche Problem – wenn man denn angesichts dieses offensichtlichen und für Hamann durchaus nicht ungewöhnlichen Scherzes überhaupt von einem Problem sprechen möchte – ist denn auch gar nicht das der philologischen Korrektheit. Vielmehr geht es um die Frage, wie sich dieses humoristische Bild des Gottes in die kämpferische Rhetorik der Kreuzzugs-Texte und die Fokussierung auf das ‚panische‘ als Schreckenerregendem integrieren lässt. Denn dies entspricht so gar nicht dem Impetus des herangezogenen Traktats, ist dieser doch 15 Vgl. hierzu Renate Knoll: „Denkmäler einer Swiftschen Satyrlaune“? Hamanns Swift-
Rezeption. In: Acta 1996, 143–163, hier 152.
16 Jonathan Swift [Thomas Sheridan]: Ars Pun-ica, sive Flos Linguarum. The Art of Pun-
ning, or, the Flower of Language. In Seventy-Nine Rules; For the Further Improvement of Conversation, and Help of Memory. By the Labour and Industry of Tom Pun-Sibi. In: The Selected Works of Jonathan Swift […] in Five Volumes. Vol. III . London 1823, S. 222–263, hier S. 229. 17 Ebd. 18 Vgl. hierzu neben Knoll: „Denkmäler einer Swiftschen Satyrlaune“? (wie Anm. 15) auch Oswald Bayer und Christian Knudsen: Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation. Tübingen 1983 (= Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 66), S. 121–126.
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ganz entschieden im Zeichen einer auf Geselligkeit19 geeichten Konversationskultur zu lesen. Dass dies Hamanns Sache nicht ist, führt schon der Kontext vor Augen, in dem er ihn zitiert, nämlich die lange Anmerkung in der Aesthaetica, die sich mit einer der zentralen Thesen aus Michaelis’ Beantwortung der Frage von dem Einflusse der Meynungen in die Sprache und der Sprache in die Meynungen auseinandersetzt, zu deren Klärung genannter Traktat, so Hamman, „füglich zu Rathe gezogen werden“20 könne. Wie so oft eignet sich Hamann hier etwas an, modifiziert es jedoch zu seinem Nutzen. Wenn er sich, um Michaelis’ Überlegungen zu kommentieren, zunächst ironisch eines Wortspiels bedient, um sodann ausführlich über das Wortspiel zu referieren und seinen Gegner auf diese Weise vorzuführen, so geht es ihm nicht um die Erregung von Heiterkeit im Rahmen eines „geselligen Verkehrs“21 – es steht also nicht die gemeinschaftsstiftende Funktion des Lachens im Vordergrund, welche in den Kulturwissenschaften so häufig betont wird –, sondern um deren destruktives Komplement, das in der Empfindung der Lächerlichkeit seinen Ausdruck findet. Im Zeichen einer Schreibart, die „non pugnat sed rixatur“,22 wie Hamann es in der Beurtheilung der Kreuzzüge unter ironischem Rückgriff auf Tacitus23 formuliert, wird aus ‚Lachen‘ ‚Verlachen‘ – ist „[m]an“ doch „jetzt so blöd im Denken oder so sittsam im Reden, daß man beleidigen muß, wenn man die Wahrheit sagen oder hören will“.24 Und an diesem Punkt lässt sich bereits erkennen, welcher Art jener Schrecken ist – oder zumindest sein kann –, der durch die ‚panische Schreibart‘ erregt werden soll. Es ist derselbe Schrecken, der in
19 Vgl. zu diesem Komplex Eric Achermann: Verbriefte Freiheiten. Zu Epistolarität und
Essay bei Hamann. In: Acta 2010, 57–101, hier vor allem 57 f. (zur Empfindsamkeit beim jungen Hamann) und 87–89 (zur Ablehnung einer allzu empfindsamen Dialogkultur im Zeichen des stylus atrox). 20 N II , 212. 21 Gert Ueding: Rhetorik des Lächerlichen. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hg. von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte und Hans-Werner Ludwig. Tübingen 1996, S. 21–36, hier S. 24. 22 N II , 267 [Beurtheilung der Kreuzzüge]. – Zur Charakterisierung der Aesthaetica in nuce als „Kampfschrift“ vgl. Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns ‚Aesthetica in nuce‘. In: Acta 1992, 79–106, hier 81. 23 Das Zitat stammt aus dem Dialogus de oratoribus (26,4). 24 N II , 183 [Kleeblatt Hellenistischer Briefe. 3. Brief]. Hier in Bezug auf Pascal.
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Alexander Popes25 zweitem Dialog seines Epilogue to the Satires in Two Dialogues angesprochen ist, wenn es dort heißt: Yes, I am proud; I must be proud to see Men not afraid of God, afraid of me: Safe from the bar, the pulpit, and the throne, Yet touched and shamed by ridicule alone.26
III Doch ist mit der bloßen Feststellung, dass und zu welchem Zweck Hamann sich die Swiftsche Theorie des punning und deren Bezug zu Pan aneignet und seinen Absichten entsprechend modifiziert, noch nicht allzu viel gesagt. Denn wenn es ihm, wie ich behaupte, darum geht, seinen Gegner Michaelis eben durch die Verwendung eines Wortspiels in den Augen der zeitgenössischen Leserschaft der Lächerlichkeit preiszugeben, dann muss die Frage dahingehend lauten, welche Funktion selbiges bzw. der Verweis darauf hier erfüllt. Und hier wird die Sachlage ein wenig komplizierter. Zunächst lohnt es, der Bedeutung des Begriffs ‚Wortspiel‘ und seinem Ort in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts ganz allgemein nachzugehen: Dem Zedler’schen Universal-Lexicon zufolge, das hier stellvertretend für viele zitiert wird,27 bezeichnet ‚Wortspiel‘ ein rhetorisches bzw. argumentatives Verfahren, „da man von gewissen gleichlautenden Wörtern auch einerley Gedancken herleiten will, und die Aehnlichkeit bloß im Klange der Sylben und der Buchstaben sucht“.28 Ganz in diesem Sinne, freilich in provokativ-ironischer Manier, verwendet auch Hamann das Wortspiel punisch – punning. Dass seine Provokation sich dabei nicht im Angriff auf Michaelis erschöpft, sondern auch eine Spitze gegen die rationalis25 Zum Einfluss Alexander Popes auf Hamann vgl. Johannes von Lüpke: Hamanns ‚Bro-
cken‘ und ihre englischen Hintergründe. In: Acta 1996, 41–58, hier 45–49.
26 Alexander Pope: Epilogue to the Satires. Dialogue II . In: ders.: The Major Works. Ed.
with an Introduction and Notes by Pat Rogers. Oxford 1993, S. 406.
27 Eine ausführliche Auflistung der zahlreichen – meist ablehnenden – Äußerungen zum
Wortspiel im 18. Jahrhundert liefert Christian Johannes Wagenknecht: Das Wortspiel bei Karl Kraus. Göttingen 1965 (= Palaestra, Bd. 242), S. 9–13 sowie S. 114–116. 28 Art. ‚Wort-Spiele‘. In: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 59: Wor–Wuq. Leipzig und Halle 1749, Sp. 534–537, hier Sp. 534.
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tische Rhetoriktradition29 in toto darstellen soll, lässt sich unschwer erkennen, wenn man weiterliest: Es haben sich von undencklichen Zeiten her zu dergleichen Spielen Liebhaber gefunden, und kein übler Geschmack hat jemahls die Welt so allgemein beherrschet, als dieser. Denn der Mensch dencket natürlicher Weise, und wenn er nicht Geschicklichkeit noch Kräfte genug besitzet, eine Sache selbst zu ergründen: So verfällt er auf Wörter, und entlehnet seine Einfälle, bald von der Gleichheit einiger Sylben, und bald von der Aehnlichkeit etlicher Buchstaben.30
Bereits in den Wolken (1761) hat Hamann als Grund, „wodurch die Denkwürdigkeiten am meisten anstößig geworden“, den „häufigen Gebrauch“ von „Wortspielen“ genannt.31 Er wusste also sehr genau, gegen welche rhetorischen Ideale das Wortspiel verstößt. Während er selbst jedoch Sokrates als Gewährsmann anführt, weiß der Autor des Zedler-Artikels noch eine weitere Referenzfigur mit Blick die exzessive Verwendung von Wortspielen zu nennen, die als Vorbild für Hamann mindestens ebenso plausibel erscheint wie Sokrates: Es legen es viele dem sel. D. Luther zur Last, daß er bisweilen seinen Gegnern als dem Cochläus, Dr. Eck, Emsern, ja dem Könige in Engelland, Hertzoge von Braunschweig, und dem Pabste mit seinen Decreten und Decretalien selbst, mit lustigen Wort-Spielen und Versetzungen der Buchstaben geantwortet: allein zu den damahligen Zeiten war es nicht unanständig, mit dergleichen Waffen zu fechten. Die Art des Witzes, die damahls geherrschet, war nun einmahl nicht besser[.]32
Die Frage, ob Hamanns Hang zu Wortspielen de facto als Reminiszenz an Luthers Schreibweise zu werten ist, ist wohl kaum stichhaltig zu beantworten und sei hier nicht weiter verfolgt. Falls Hamann den Artikel gekannt hat, wird er mit Sicherheit einige Genugtuung verspürt haben. Entscheidend ist angesichts des Eintrags im Zedler allerdings etwas anderes, das wieder unmittelbar mit den rhetorischen Idealen der Aufklärung zu tun hat – nämlich die Einschätzung, dass es sich beim Wortspiel um ein Stilmittel handele, das als unzeitgemäß und vor allem argumen-
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Vgl. hierzu Reuter: Autorschaft (wie Anm. 1), S. 197–203. Art. ‚Wort-Spiele‘ (wie Anm. 28), Sp. 534. N II , 98. Art. ‚Wort-Spiele‘ (wie Anm. 28), Sp. 534.
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tativ unangemessen gilt, und zwar gerade weil es auf sinnlicher und entschieden nicht auf begrifflicher Basis operiert.33 Für Hamann, für den gerade das Sinnliche das Wesentliche der Sprache ausmacht, muss eine solche Argumentation geradezu als Aufforderung daherkommen. Wenn er sich also in Wortspielereien ergeht, dann kann dies immer auch als ein implizites Lanzenbrechen für den Primat des Sinnlichen über die reine Vernunft verstanden werden,34 gehört es doch zu den Paronomasien, weshalb auch sein „Herkommen“, wie das des Reims, „mit der Natur der Sprachen und unserer sinnlichen Vorstellungen beynahe gleich alt seyn“ muss.35 (Noch Jean Paul wird in der Vorschule der Ästhetik das Wortspiel als „ältere[n] Bruder des Reims oder dessen Auftakt“36 beschreiben und die aus ihm „vorleuchtende Geistes-Freiheit“ betonen, „welche imstande ist, den Blick von der Sache zu wenden gegen ihr Zeichen hin“.37) Doch macht Hamann sich das Wortspiel bzw. den Begriff als solchen auch in einem ganz anderen Sinne argumentativ zunutze. Vom soeben erläuterten Verständnis des Wortspiels als eines einzig sinnlich operierenden und dementsprechend ‚schwachen‘ rhetorisch-argumentativen Mittels zu unterschieden ist nämlich eines, das sich mehr denn auf die sinnliche Form auf begriffliche Inhalte richtet. So stellt die Bezeichnung eines Arguments als Wortspiel einen gängigen Vorwurf seitens Hamanns dar – nämlich immer dort, wo der Autor in den Schriften seiner Gegner allzu abstraktes ‚Begriffsgeklapper‘ erkennen will. Man denke etwa an jenen Abschnitt aus Golgatha und Scheblimini, in dem es heißt, dass der aufklärerische „Sophist […] sich der Sprache, als eines leeren Puppenspiels“ bediene, um „sein Idol, das eitle Gemächte menschlicher Kunst, für einen Ausfluß göttlicher Vernunft und eine leibhafte Tochter ihrer Stimme auszugeben“:38 33 Franz Fürst: Sprache ist Delphi. Sprachphilosophische Überlegungen zur Geschichte des
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Wortspiels. In: Sprachtheorie und Sprachenpraxis. FS für Henri Vernay zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Walter Mair und Edgar Saller. Tübingen 1979, S. 41–51, hier S. 42: „Der Vorgang im Wortspiel ist also einem Hinabtauchen unter die nur mehr verstandesmäßig realisierte Sinnschicht eines Wortes zu vergleichen, einem Hinabtauchen, das unter der logisch eindeutigen Oberfläche des Sinnes auf eine Schicht stößt, […] auf der das Gesetz der Affinität der Laute den Sinn bestimmt.“ So schon Poncet: „All unser Lallen und Nachahmen ist Non-sense“ (wie Anm. 13), 89 f. N II , 214. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. 2. Abteilung. IX . Programm. § 52. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Norbert Miller. Nachworte von Walter Höllerer. Bd. IX . München 1975, S. 191. Ebd., S. 194. N III , 301.
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Durch solche Wortspiele physiognomischer und hypokritischer Unbestimmheit kann sich in unsern erleuchteten Zeiten der Mitternacht jeder Buchstaben- und Wortkrämer über den sachverständigsten Meister einen Triumph erwerben, den er im Grunde doch ihm zu verdancken hat.39
Derselbe Vorwurf letztlich findet sich schon in der besagten Anmerkung in der Aesthaetica in nuce, in welcher Hamann die Schlussfolgerung Michaelis’ als Ergebnis einer „punischen Vergleichung“40 bezeichnet, eines Vergleichs also, der auf einem „nichtige[n] Spiel mit Worten“41 basiert. Der entsprechende Abschnitt in der Beantwortung beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Literal- und Figuralsinn in den semitischen Sprachen Hebräisch und Arabisch. Charakteristisch für beide sei eine grundlegende Bildhaftigkeit des Ausdrucks, wobei die unreflektierte Verwendung solcher Bilder langfristig dazu geführt habe, dass ihnen eine buchstäbliche Bedeutung zugesprochen worden sei.42 Als historische Folge, die hieraus erwachsen sei, führt Michaelis die Lehre von der göttlichen Vorsehung43 an, wie sie von Augustinus – „parmi les Chrêtiens, 39 N III , 303. 40 N II , 212. 41 Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von
der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ‚Aesthetica in nuce‘ (1762). Tübingen 1970 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 21), S. 98. 42 „Par le trop fréquent usage de cette figure, il arrive que peu à peu on cesse de la prendre pour figure, & qu’on y attache un sense propre.“ (Johann David Michaelis: De l’influence des opinions sur le langage et du langage sur les opinions. Nouvelle impression en facsimilé de l’edition de 1762 avec un commentaire par Helga Mahnke et und préface par Herbert E. Brekle. Stuttgart/Bad Cannstatt 1974 (= Grammatica Universalis, Bd. 9), S. 123.) 43 Es sei angemerkt, dass es Michaelis, wenn er von „providence“ spricht, ein spezifisch voluntaristisches Verständnis des Begriffs im Sinn hat, nach dem „[o]n s’imagine que Dieu est la cause immédiate de toutes les actions qui lui sont attribuées […]. Selon cette opinion Dieu trouble le cours des événemens: il ne choisit jamais une chose par la raison qu’elle résulte naturellement de ce qui la précéde, & que l’ordre où elle se trouve est le meilleur de tous; il la choisit au contraire par un décret absolu: ensuite il cherche les moyens propres à l’effectuer, & lorsque ces moyens ne sont pas dans le cours ordinaire de la nature; il change ce cours par son influence immédiate.“ (Ebd., S. 123 f.) Diese Passage ist insofern von Interesse, als Michaelis hier natürlich implizit Bezug nimmt auf die theologische Auseinandersetzung zwischen Intellektualisten und Voluntaristen, wobei es der Voluntarismus ist, der hier angegriffen wird. Dass Hamann – im Gefolge Luthers – freilich ein überzeugter Vertreter des Voluntarismus ist, lässt eine ‚Richtigstellung‘ der Thesen des Orientalisten um so dringlicher erscheinen. – Zur Bedeutung des Voluntarismus als theologischem Fundament protestantischer Theologie und
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le patriarche de cette doctrine“44 – vertreten wird. Dessen Ignoranz in philologischen Fragen, gepaart mit seiner grundsätzlichen Neigung zur Schwärmerei,45 habe ihn daran gehindert, das eigentliche Wesen des Hebräischen zu erkennen. Hätte er nur ein wenig Mühe ins Studium dieser Sprache investiert, so hätte er nicht nur begriffen, was es in Wahrheit mit der Sprache der Bibel auf sich habe, sondern gleichzeitig auch ihre Verwandtschaft mit seiner eigenen Muttersprache, des Karthaginensischen oder Punischen, erkannt.46 So aber habe er selbst Hebräisch gesprochen „sans le savoir“47 und seien die falschverstandenen Wendungen des biblischen Sprachgebrauchs in das römische Latein gelangt – „& par là elles sont devenues les erreurs de nations entieres, & des erreurs qui dureront de milliers d’années“.48 Als demjenigen des Augustinus’ vergleichbaren Fall führt Michaelis schließlich Mohammed an, der aus ähnlichen Gründen dahingekommen sei, die Providenzlehre auch im Islam zu etablieren. Dass diese Argumentation in Hamanns Augen insgesamt „lächerlich[]“, vor allem aber der Vergleich zwischen Augustinus und Mohammed ihm geradezu als „bey den Haaren“49 herbeigezogen erscheinen muss, ergibt sich bereits aus den christlich-orthodoxen Grundüberzeugungen des Autors. So kommt er auch keinesfalls zufällig gleich in der nächsten Anmerkung auf Luther und dessen Vorrede zum Römerbrief zu sprechen, welche ihm zur Richtigstellung dient, weil Luther am angeführten Orte von dem Abgrund Göttlicher Vorsehung spricht, und nach seiner löblichen Gewohnheit auf seinen Ausspruch versichert,
Anthropologie vgl. Gideon Stiening: Politisch-theologischer Anti-Machiavellismus. Die Rechtslehren von Francisco de Vitoria, Philipp Melanchthon und Francisco Suárez. In: Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Hg. von Andreas Höfele, Jan-Dirk Müller und Wulf Oesterreicher. Berlin/Boston 2013, S. 357–390, hier vor allem S. 364–368. Zum Voluntarismus bei Hamann vgl. Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns „Metakritik“ in naturrechtlicher Hinsicht. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 46/1 (2004), S. 72–100, hier vor allem S. 96. 44 Michaelis: De l’influence (wie Anm. 42), S. 126. 45 „[…] l’imagination vive & voisine de l’Enthousiasme“ (ebd., S. 127). 46 „[S]’il avoit connu l’alphabet hébreu, & s’il s’étoit donné quelque peine pour étudier la diférence qui est entre cette langue & la langue punique d’alors, au lieu de la grossiere ignorance des deux langues originales de l’Ecriture Sainte qu’on lui reproche; il auroit mérité l’honneur de passer pour le pere de la Philologie orientale.“ (Ebd., S. 126.) 47 Ebd., S. 126. 48 Ebd., S. 121. 49 N II , 213.
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„daß man ohne Leiden, Kreuz und Todesnöthen die Vorsehung nicht ohne Schaden und heimlichen Zorn wider GOTT handeln könne.“50
Das Wesentliche der Providenz ist ihr christologischer Kern. Dies habe Augustinus selbstverständlich ebenfalls begriffen – der zitierte Ausspruch des Kirchenvaters, an den die gesamte Auseinandersetzung geknüpft ist, handelt ja von nichts anderem.51 Da es im Islam nun einmal keinen Christus gibt, ist ein Vergleich zwischen der augustinischen Lehre und derjenigen Mohammeds schlichtweg nicht sinnvoll und eben willkürlich. Ebendiese Willkür nun bildet den Aufhänger für Hamanns weitere Anmerkungen, fungiert die Fokussierung auf selbige doch als Bindeglied, das die Denunziation von Michaelis’ Argument als bloßem Wortspiel ermöglicht. Denn „[p]unnata“, so das von Hamann zitierte Motto der Ars Punica ist – eine Parodie der aristotelischen Relativitäts-Definition52 –, „dicuntur id ipsum quod sunt aliorum esse dicuntur aut alio quouis modo ad aliud referuntur“.53 Die von Hamann nicht übernommene, nur im Originaltraktat zu findende englische Übersetzung des Satzes ist in ihrem Duktus sogar noch beißender, wenn es heißt, dass „[p]uns in their very nature and constitution, have a relation to something else; or, if they have not, any other reason why will serve as well“.54 Dieser „logischen“ Definition, wie Hamann sie nennt, folgen zwei weitere Definitionen, eine „physische“ sowie eine „moralische“,55 welche beide auf den komischen Effekt des Wortspiels verweisen, der dadurch entsteht, dass eben zwei Gegenstände miteinander in Verbindung gebracht werden, die augenscheinlich wenig bis gar nichts miteinander gemein haben:56 50 N II , 213. 51 „Lege libros propheticos non intellecto CHRISTO, sagt der punische Kirchenvater, quid
tam insipidum & fatuum inuenies? Intellige ibi CHRISTUM , non solum sapit, quod legis, sed etiam inebriat.“ (N II , 212 f. Das Zitat stammt aus Augustinus’ Kommentar zum Johannisevangelium). 52 Vgl. Aristoteles: Kategorien, 6a. 53 N II , 212. 54 Swift [Sheridan]: Ars Pun-ica (wie Anm. 16), S. 241. 55 N II , 212. 56 Swift [Sheridan]: Ars Pun-ica (wie Anm. 16), S. 248: „R. 14. The Rule of Transition; which will serve to introduce any thing that has the most remote relation to the subject you are upon.“ – Vgl. hierzu auch Jørgensen: Hamann als humoristischer Schriftsteller, S. 28–30. Jørgensen untersucht das Komische im Werk Hamanns vor dem Hintergrund zeitgenössischer Komik-Theorien, wobei er sich vor allem auf Carl Friedrich Flögels vierbändige Geschichte der komischen Litteratur (1784) sowie dessen Geschichte des Gro-
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Nach der Naturlehre (des äbentheuerlichen und grillenfängerischen Cardans) in Punning is an Art of harmonious Jinggling upon Words, which passing in at the Ears and falling upon the Diaphragma, excites a titillary Motion in those Parts, and this being convey’d by the Animal Spirits into the Muscles of the Face raises the Cockles of the Heart. Nach der Casuistick aber ist es a Virtue, that most effectually promotes the End of good Fellowship – –57
Hierbei handelt es sich in beiden Fällen um wörtliche Übernahmen aus Ars Pun-ica, wobei Hamann sich in Bezug auf die moralische Definition wohlgemerkt einen Scherz erlaubt zu haben scheint, der mit Blick auf seine weiter oben erläuterte rhetorische Intention durchaus bezeichnend ist. Denn im Original heißt es, dass „[p]unning is a virtue that most effectually promotes the end of a good fellowship, which is laughing“.58 Es ist die doppelte Bedeutung des englischen end, mit der Hamann hier spielt, lässt sich das Wort doch, je nach Kontext, entweder mit ‚Ende‘ oder aber, wie es bei Swift/Sheridan der Fall ist, mit ‚Ziel‘ übersetzen. Wo also das gemeinsame Lachen im Originaltext dazu dienen soll, Freundschaft bzw. Kameradschaft zu befördern, so dient es bei Hamann dazu, selbige zu beenden. Nachdem er mit diesen allgemeinen ‚Erörterungen‘ zum Wortspiel den Ton für die Auseinandersetzung angegeben hat, schreitet er im Folgenden zur inhaltlichen Betrachtung fort. „Ein Exempel von dieser künstlichen Tugend“, so schließt er direkt an die soeben zitierte Passage an, findt man […] in obangeführter Beantwortung an der punischen Vergleichung zwischen Mahoment, dem Propheten und Augustin, dem Kirchenvater, die einem amphibologischen Liebhaber der Poesie von halb enthusiastischer halb scholastischer Einbildungskraft ähnlich sieht, der noch lange nicht gelehrt genug zu seyn scheint, den Gebrauch der figürlichen Sprache gehörig einzusehen, geschweige geistliche Erfahrungen prüfen zu können. Der gute Bischof sprach ohne es zu wissen hebräisch, wie der bürgerliche Edelmann ohne es zu wissen Prose, und wie man noch heut zu Tage durch gelehrte Fragen und ihre Beantwortung ohne es zu wissen, die Barbarey seiner Zeiten und die Tücke seines Herzens verrathen kann, zum Preiß der tiefsinnigen Wahrheit: daß alle teskkomischen (1788) und Geschichte des Burlesken (1794) beruft. Auch zum Wortspiel finden sich bei Flögel einige interessante Bemerkungen, die Jørgensen zur Erläuterung von Hamanns Schreibart heranzieht. Da die genannten Abhandlungen jedoch allesamt nach der Veröffentlichung der Kreuzzüge erschienen sind, verzichte ich an dieser Stelle auf eine nähere Erörterung der Zusammenhänge. 57 N II , 212. 58 Swift [Sheridan]: Ars Pun-ica (wie Anm. 16), S. 241. Hervorh. P. K.
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Sünder sind und des Ruhms mangeln, der ihnen angedichtet wird, der arabische Lügenprophet sowohl als der gute afrikanische Hirte und der witzige Kopf, (den ich zuerst hätte nennen sollen) dem es eingefallen durch so lächerliche Parallelstellen jene zween Bekenner der Providentz bey den Haaren in Vergleichung zu ziehen, der punischen Vernunftlehre unserer heutigen Kabbalisten gemäß, denen jedes Feigenblatt einen zureichenden Grund, und jede Anspielung eine Erfüllung abgiebt.59
Betrachten wir hier zunächst Hamanns Replik, dass „der gute Bischof […] ohne es zu wissen hebräisch“ sprach „wie der bürgerliche Edelmann Prose“, betrifft diese doch den Kern des Problems der göttlichen Kondeszendenz. Der Vorwurf lautet dahingehend, dass Michaelis als wissenschaftliche Erkenntnis präsentiere, was, aus Hamanns eigener Sicht, nicht nur vollkommen evident ist – dass nämlich Augustinus’ Muttersprache ihn darin beeinflusst habe, wie er Lateinisch gesprochen habe –, sondern auch in keinerlei Widerspruch zu derjenigen christlichen Wahrheit steht, von deren Gegenteil er seine Leser in Hamanns Augen überzeugen will: der Wahrheit der göttlichen Providenz also. Dass Sprache historischen und kulturellen Veränderungen unterliegt und sich eben auch durchmischt, steht für Hamann vollkommen außer Frage,60 doch ändert dies nichts daran, dass Gott sich dem Menschen in der Bibel offenbart hat, und zwar genau so, dass dieser ihn versteht. Wenn also die Sprache der Bibel voller poetischer Bilder ist, dann liegt dies eben daran, dass genau diese Bilder dem Menschen ganz grundlegend begreiflich sind.61 Literal- und Figuralsinn fallen im göttlichen Wort zusammen und die Wahrheit der Schrift liegt ebenso sehr in ihrer sinnlichen Form wie in ihrem Inhalt verborgen. Insofern erscheint die Forderung, Augustinus hätte sein Sprachverständnis den Voraussetzungen der biblischen Sprache anpassen müssen, in letzter Konsequenz sinnlos – ist doch die Sprache der Bibel bereits an seine Voraussetzungen angepasst. Im Zusammenhang dieses ‚Missverständnisses‘ seitens Michaelis’ muss auch Hamanns Charakterisierung desselben als eines „amphibologischen Liebhaber[s] 59 N II , 212 f. 60 N II , 170 [Kleeblatt Hellenistischer Briefe. 1. Brief]: „Gehen Sie in welche Gemeine der
Christen Sie wollen; die Sprache auf der heiligen Stäte wird ihr Vaterland und Genealogie verrathen […].“ – Vgl. zu dieser Frage (hier allerdings mit Blick auf das neutestamentliche Griechisch) die konzise Darstellung von Frank Simon: Dialekt und Hellenismus. ‚Kleeblatt Hellenistischer Briefe‘. In: Insel Almanach auf das Jahr 1988. Hamann. Hg. von Oswald Bayer, Bernhard Gajek und Josef Simon. Frankfurt a. M. 1987, S. 53–60. 61 „In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.“ (N II , 197).
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der Poesie von halb enthusiastischer halb scholastischer Einbildungskraft“ verstanden werden. So wie Michaelis Augustins vermeintliche Unfähigkeit, zwischen Literal- und Figuralsinn der biblischen Aussagen zu unterscheiden, auf dessen Schwärmertum sowie seinen Hang zum Poetischen zurückführt, führt Hamann Michaelis’ Unfähigkeit, „den Gebrauch der figürlichen Sprache gehörig einzusehen“, auf dessen eigene, auf Lowth zurückgehende, Vorstellung zurück, dass die eigentliche Würde der biblischen Sprache in ihrer Poetizität begründet liege,62 sie mithin bloße Dichtung63 sei, mitnichten jedoch unkritisch als Beweis oder Zeugnis des göttlichen Wirkens verstanden werden dürfe.64 Michaelis Tendenz, einzelne Bibelstellen durch „Vergleichung“ und sprachhistorische Analyse65 ihres Offenbarungscharakters zu berauben und dadurch die jedem Christen eingängige „tiefsinnige Wahrheit“ der Schrift „der punischen Vernunftlehre unserer heutigen Kabbalisten“ zu opfern,66 macht ihn in den Augen 62 Vgl. Lumpp: Philologia crucis (wie Anm. 41), S. 30 f. 63 Vgl. Denis Thouard: Hamann und der Streit um die Poesie der Hebräer. In: Acta 2002,
321–334, vor allem 328.
64 „En rassemblant sous le même coup d’œil tous les passages de cette nature* [gemeint
sind jene Passagen, in denen die Verwendung eigentlich figurativer Wendungen dem unbedarften Leser suggeriert, Gott greife aktiv und unmittelbar in die Geschichte ein, Anm. P. K.], il sautera aux yeux qu’il n’y sauroit être parlé d’une opération immédiate de Dieu sur la volonté & sur l’entendment[.] – * Exod. IV, 21. IX , 12. 16. Deuter. IV, 19. XVIII , 14. XXIX , 25. 2 Sam. XVI , 10. XXIV, 1. Jerem. IV, 10. Ezech. XIV, 9. XX , 25.“ (Michaelis: De l’influence, S. 123). 65 Zu Michaelis’ Methodik und Hamanns Auseinandersetzung mit selbiger vgl. Thouard: Hamann und der Streit (wie Anm. 63), S. 328–330. 66 Als „gegenwärtige Nachahmung der kabbalistischen Schreibart“ ( N II , 202) gilt Hamann, wie er in einer früheren Fußnote unter Rückgriff auf eine Passage aus Bacons De augmentis scientiarum anklingen lässt, jene Art der exegetisch-hermeneutischen ‚Ausschweifung‘ (excessus in interpretandi modo), welche die heilige Schrift ihres lebendigen, historischen Charakters ‚berauben‘ will zugunsten überzeitlicher, abstrakter Wahrheiten – die also letztlich aus Theologie Philosophie zu machen sich anschickt und damit „mortuos inter viuos“ sucht. (Bacon: Works I , 835) – Diese Charakterisierung mag auf den ersten Blick nicht recht auf Michaelis passen, der doch gerade die Historizität des biblischen Sprachgebrauchs betont. Doch wird der gemeinsame Nenner zwischen der historischen Bibelkritik und der „kabbalistischen Schreibart“ verständlich, berücksichtigt man Hans Blumenbergs Diktum, dass Erstere „dem Erlebnis die Legitimität genommen“ habe, indem sie „einen jeden sich dumm vorkommen“ ließ, „der nicht in den Umgang mit Texten einbezog, was er doch wissen konnte und mußte“ (Hans Blumenberg: Matthäuspassion. Frankfurt a. M. 1988, S. 22, Hervorhebung i. O.). Eine Historisierung, wie Michaelis sie vornimmt, zielt eben darauf ab, Distanz zu schaffen, was ein religiöses Empfinden des Geschilderten in letzter Konsequenz verunmöglichen muss. An die Stelle religiöser Erfahrung tritt somit die wissenschaftlich-distanzierte
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Hamanns zum Scholastiker und Pedanten, seine beharrliche Reduktion der biblischen Sprache auf ihren literarischen Wert zum Schwärmer. Der vermeintliche Widerspruch, der sich aus dieser doppelten Charakterisierung ergibt, lässt sich freilich leicht auflösen, bedenkt man Hamanns (freilich erst sehr viel spätere) Äußerung in einem Brief an Herder, „dass alle Philosophen Schwärmer, und umgekehrt sind, ohne es zu wissen“67 – eine Äußerung, die er noch später im Fliegenden Brief in ähnlicher Form wieder aufgreifen wird, wenn er die aufklärerische „Denkungsform und Urtheilskraft“ als dithyrambisch bezeichnet. Und hier wird es nun interessant im Hinblick auf den rhetorischen Weg, den Hamann in seiner Auseinandersetzung eingeschlagen hat. Der Umgang, der nun mit Schwärmern empfohlen wird, ist bekannt. Shaftesbury, den ich bereits eingangs kurz erwähnt habe, hat ihm ein ganzes Werklein gewidmet, das Hamann nicht nur kannte, sondern auch selbst übersetzt hat: Es ist der Test of Ridicule, über den er im Letter concerning Enthusiasm schreibt, dass er die einzige Möglichkeit sei, die „wahre Ernsthaftigkeit von der falschen zu erkennen“:68 Was haben wir aber für eine Richtschnur oder Maas auf der Welt, als daß wir die würkliche Natur der Dinge betrachten, um zu finden, welche in der That ernsthaft oder lächerlich sind? Und wie kann dies anders geschehen, als daß wir das lächerliche brauchen, um zu sehen, ob es solches leiden kann?69
Dass die hier hergestellte Verbindung von Wortspiel und Test of Ridicule dabei übrigens nicht aus der Luft gegriffen ist, verdeutlicht ein Blick in den Sensus communis, den zweiten Essay, den Hamann in Deutsche übertragen hat. Dort äußert sich Shaftesbury im Zuge seiner Apologie der „Spötterey“70 ebenfalls zum Wortspiel – wenn auch unter negativen Vorzeichen:
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Betrachtung und Erforschung, welche die Rede von so etwas wie ‚natürlicher‘ Religion überhaupt erst ermöglicht. – Zur Unterscheidung von ‚natürlicher‘ und ‚positiver‘ Religion und ihrer Bedeutung für Hamann vgl. nach wie vor grundlegend Oswald Bayer: Zeitgenosse in Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München/ Zürich 1988, S. 151–178. ZH IV, 255. – Vgl. zu dieser Äußerung Eva Kocziszky: Die Schwierigkeit des Nicht-Tuns. Welt und Gesellschaft in Hamanns Kontroverse mit Lavater. In: Johann Georg Hamann. Religion und Gesellschaft. Hg. von Manfred Beetz und Andre Rudolph. Berlin/Boston 2012, S. 103–116, hier S. 112. N IV, 136. N IV, 136. N IV, 156.
Zur Bedeutung des Wortspiels für die ‚panische Schreibart‘ Hamanns
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Wir haben zu unsern Zeiten den Abfall und Sturtz eines falschen Witzes gesehen, der unsern Vorfahren so gefallen hat, daß ihre Gedichte und Schauspiele so wohl als Reden davon voll waren. Jeder Scherz hatte ein Wortspiel; dies war die rechte Hoff Sprache. Jetzt ist sie aus allen guten Gesellschaften verbannt: und es sind noch einige Fusstapfen davon in kleinen Städten auf dem Lande übrig; sie scheint endlich in die Pflanzschulen der Jugend vertrieben zu seyn, als eine Hauptbeschäftigung für Schulfüchse [i. O.: Pedants, Anm. P. K.] und ihre Unmündigen.71
Betrachtet man das durchaus ambivalente Verhältnis72 Hamanns zu Shaftesbury, erscheint es unfraglich, dass eine solch kritische Äußerung für Hamann keinen Grund darstellt, in seinem eigenen Schreiben auf Wortspiele zu verzichten. Ganz im Gegenteil: Insofern Shaftesburys und Hamanns Auffassungen davon, was „gute Gesellschaften“ sind, wohl kaum deckungsgleich sein dürften, könnte die Kritik des Engländers eher noch einen besonderen Reiz auf Hamann ausgeübt haben. Wenn er sich nun in seiner Auseinandersetzung mit Michaelis nicht darauf beschränkt, bloße Argumente gegen dessen vermeintliche Wortspielereien anzuführen, sondern stattdessen selbst auf ein Wortspiel zurückgreift, dann, vollzieht er also letztlich einen solchen Test of Ridicule, wie Shaftesbury ihn nahelegt. Ziel ist es dabei, durch das eigene Wortspiel als sinnlich wirksamer Sprachhandlung die Aufmerksamkeit auf die Lächerlichkeit der dargelegten Argumente zu lenken. (Ob die Argumente übrigens wirklich ‚lächerlich‘ sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle, es geht dabei einzig um die Perspektive Hamanns und die Funktionsweise seiner Rhetorik). Als wesentliches Kriterium für das Funktionieren erscheint dabei – zumindest gilt dies mit Blick auf die kommentierte Passage der Aesthaetica – der genannte Aspekt der Willkür. Die Willkür, die der Argumentation Michaelis’ vermeintlich (!) zugrunde liegt, wird dem Leser sinnlich vergegenwärtigt durch die (ebenso vermeintliche, tatsächlich jedoch von Hamann klug durchdachte und pointierte) Willkür des Wortspiels mit der Verbindung von punisch und punning.
71 N IV, 157. 72 Vgl. Christoph Deupmann gen. Frohues: Komik und Methode. Zu Johann Georg
Hamanns Shaftesbury-Rezeption. In: Acta 1996, 205–228, hier 205 f.
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IV Versucht man zuletzt doch, die Verwendung des Wortspiels in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und sucht dementsprechend nach weiteren Passagen Hamanns, in denen er auf das Wortspiel als rhetorische Strategie zu sprechen kommt, so ist diesbezüglich vor allem jener Brief an Lindner aus dem Jahr 1759 von Bedeutung, in dem er schreibt, dass „[e]in Lay und Ungläubiger […] meine Schreibart nicht anders als für Unsinn erklären“ kann, weil ich mit mancherley Zungen mich ausdrücke, und die Sprache der Sophisten, der Wortspieler, der Creter und Araber, der Weißen und Mohren und Creolen rede, Critick, Mythologie, rebus und Grundsätze durch einander schwatze, und bald κατ‘ άνθρωπον bald κατ‘ έξοχην argumentiere.73
Hier erscheint das Wortspiel somit als eine rhetorische Kategorie unter vielen, die allesamt unter dem Oberbegriff des Metaschematismus gefasst werden können. „Wo der Schulweise Schlüsse spinnt, und der Hofsirach Einfälle näht, ist die Schreibart des Liebhabers Leidenschaft und Wendung“, schreibt Hamann in der Nachschrift für Leser, die Verstand haben, denen folglich mit Verstand gedient werden muß. Und er ergänzt: „Unter allen seinen Redefiguren bedient er sich am glücklichsten […] derjenigen, welche in den vertraulichen Briefen eines Originalautors Metaschematismus genannt wird.“74 Zwar bezieht sich die Nachschrift zunächst explizit auf das ihr vorangehende Klaggedicht, in Gestalt eines Sendschreibens über die Kirchenmusick, kann jedoch ebenso gut als Kommentar auf den gesamten Kreuzzugs-Text und damit im Hinblick auf Hamanns Schreibweise im Allgemeinen verstanden werden. Neben Paulus, dem „Originalautor“, führt Hamann Edward Young als Quelle an, der „in seinem Codicill“ dem Leser, wie er schreibt, „das Räthsel“ aufgibt, „die Alten also nachzuahmen, daß wir uns von ihrer Ähnlichkeit, je mehr je besser, entfernen“75 – wobei die Natur dieser von Young in seinen Conjectures geforderten Nachahmung darin besteht, dass sie sich nicht etwa einen spezifischen Stil zum Vorbild nimmt, sondern, wenn man so will, jener ‚geistigen Haltung‘76 des jeweiligen Autors gelten solle, die dessen Originalität laut Young überhaupt erst 73 ZH I , 396. 74 N II , 150. 75 N II , 150. 76 Während bei Young selbst hierfür das Wort „Man“ steht (Edward Young’s Conjectu-
res on Original Composition. Ed. by Edith J. Morley. Manchester 1918, S. 11), ist in der deutschen Übersetzung von „Geist“ die Rede (Edward Young: Gedancken über die
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ermöglicht habe. Was Young freilich primär im Hinblick auf Dichtung formuliert, wird von Hamann ins Allgemeine gewendet und im Sinne der kriegerischen Metaphorik der Kreuzzüge zum rhetorischen Rüstzeug umgedeutet. Wenn er angesichts seines Stils entsprechend „umgekehrte[r] Nachahmung“77 spricht und dieses Verfahren in der Folge als Metaschematismus bezeichnet, dann ist hiermit keineswegs ein anerkennendes Nacheifern gemeint. Ganz im Gegenteil handelt es sich bei dieser Form der Nachahmung um die überspitzte Darstellung einer in seinen Augen beschränkten Haltung, und zwar mit dem Ziel, sich durch deren auf diese Weise zur Schau gestellte Schwächen und Widersprüche aufs Schärfste zu distanzieren. Das Wortspiel nun scheint mir unter allen Formen des metaschematisierenden Verfahrens diejenige zu sein, die diese Distanzierung am deutlichsten verkörpert, indem sie das Moment der Lächerlichkeit hervorhebt. In der Zusammenschau der letzten beiden Punkte – der Ausführungen zur Funktion des Wortspiels für den Test of Ridicule und derjenigen zum Wortspiel als Spielart metaschematisierenden Schreibens – liegt nun meines Erachtens die (oder vielmehr eine) Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Schrecken und Karikatur, das für das Verständnis dessen, was Hamann als „panische Schreibart“ bezeichnet, so zentral ist. Freilich erschöpfen sich weder Karikatur noch Schrecken in der Wortspielerei. Dennoch, soviel hoffe ich wenigstens gezeigt zu haben, erweist sich das Wortspiel diesbezüglich als nicht zu unterschätzende rhetorische Kategorie des „philologischen Wortwechsel[s]“78 – oder besser: Wortgefechts – Hamanns mit seinen Gegnern.
Original=Werke. In einem Schreiben des D. Young an dem [sic] Verfasser. Leipzig 1760, S. 2). 77 N II , 150. 78 N II , 197.
Linda Simonis (Bochum) Hamanns Redekunst. Rhetorische Verfahrensweisen in den Sokratischen Denkwürdigkeiten
Im Jahr 1759 bringt der Verleger Hartung aus Königsberg unter der fingierten Ortsangabe Amsterdam eine Schrift heraus, die durch eine eigentümliche Titelgestaltung die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht:1 Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publicums zusammengetragen von einem Liebhaber der langen Weile. Mit einer doppelten Zuschrift an Niemand und an Zween.
Das Buch weist sich damit als ein Text aus, der sich an ein „Publicum“ richtet, der im öffentlichen Diskurs der Zeit wahrgenommen und rezipiert werden will. Bemerkenswert sind darüber hinaus der Hinweis auf die „lange Weile“ sowie, damit verbunden, die Bezeichnung „Liebhaber der langen Weile“. Letztere tritt hier an die Stelle des nicht genannten Autornamens, als Selbstbezeichnung des Verfassers, der dahinter seine Identität verbirgt. Der Ausdruck ‚Liebhaber‘ ruft dabei, auch wenn er sich zunächst nur auf die „lange Weile“ und nicht auf den Gegenstand des Buchs zu beziehen scheint, eine für die damalige Diskussion wichtige Unterscheidung auf: die des Liebhabers bzw. Dilettanten und des Exper-
1 Digitalisat in: Deutsches Textarchiv http://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denk-
wuerdigkeiten_1759 (abgerufen am 23. 08. 2019).
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ten.2 Der Verfasser des Buchs, der uns hier entgegen tritt, ist also kein Kenner der vorgestellten Materie, kein klassischer Philologe oder Philosoph, der aus dem Horizont seines gelehrten Fachwissens über Sokrates schreibt, sondern ein Laie, der sich überdies freimütig zu seinem Liebhabertum bekennt. Mehr noch: Der Verfasser, der sich unter dieser Bezeichnung einführt, stellt sich als jemand vor, der seine Denkwürdigkeiten weniger selbst hervorgebracht, als vielmehr „zusammengetragen“, d. h. aus verschiedenartigen Quellen gesammelt und zusammengefügt hat. Er tritt also weniger als Autor denn als Redaktor oder Herausgeber des 2 Vgl. die Beiträge des Bandes: Dilettantismus um 1800. Hg. von Stefan Blechschmidt
und Andrea Heinz. Heidelberg 2007.
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vorgelegten Textes auf. Durch diese Art der Selbstdarstellung weist der Text von vornherein jede Erwartung ab, einen Beitrag zum gelehrten (Spezial-)Wissen zu leisten, das sich in jener Zeit allmählich in einen Kanon wissenschaftlicher Diszi plinen aufzufächern beginnt. Stattdessen wendet er sich an Leser, die über „lange Weile“, d. h. über die Muße verfügen, Bücher zum Zeitvertreib zu lesen. Darf man somit zunächst annehmen, dass wir es mit einer allgemeinverständlichen Darstellung für ein breites Lesepublikum zu tun haben, müssen die folgenden Zeilen überraschen: „Mit/ einer doppelten Zuschrift/ an Niemand und an Zween“. Die Widmung, die als ergänzender Zusatz dem Titel beigefügt ist, stellt dem zuvor anvisierten weiten Rezipientenkreis einen anderen, kleinen, geradezu minimalen entgegen. Während die Angabe „an Niemand“ die Vermutung nahelegt, dass es womöglich gar keinen (angemessenen) Leser des vorgelegten Textes geben kann, nimmt die Formel „an Zween“ eine spezifischere, persönliche Adressierung vor, indem sie zwei besondere Leser, deren Identität zunächst einmal nur der Verfasser der Schrift kennt, in den Blick nimmt. Zwar konnte die Hamann-Philologie die Widmung entziffern und in jenen beiden ausgewählten Rezipienten Hamanns Freund und ehemaligen Studienkollegen Johann Christoph Berens sowie den Philosophen Immanuel Kant erkennen,3 doch dem unbedarften Leser erscheint sie zunächst einmal rätselhaft. Doch unabhängig davon, wie man die im Titel angesprochenen Adressaten bzw. Leser versteht und ob man sie identifizieren kann, wird ein Grundmoment dieser paratextuellen Selbstanzeige deutlich. Was das Titelblatt herausstellt, ist der Rezipientenbezug des Textes, den es im Durchgang durch die verschiedenen Bestandteile des Titels und den darin genannten Adressierungen spielerisch entfaltet. Darin zeigt sich zugleich, dass hier offenbar Rhetorik am Werk ist, denn letztere zeichnet sich, seit ihren Anfängen in der griechischen Antike, dadurch aus, dass sie zu einem Zuhörer oder Publikum spricht und diesen Bezug als konstitutiven Aspekt ihrer Wirkungsabsicht reflektiert.4 Wir haben es also, so deutet schon das Arrangement der Titelseite an, bei den Sokratischen Denkwürdigkeiten mit einem Text zu tun, der auf die Kunst der Rede zurückgreift und von ihren Techniken Gebrauch macht. Die Frage des Leserbezugs des Textes wird noch in einem anderen Element des Titelblatts aufgenommen: Unterhalb der erwähnten Widmung und durch einen horizontalen Strich von dieser unterschieden finden sich dort einige lateinische 3 Vgl. HHE II , 72. 4 Vgl. Michael Erler und Christian Tornau: Einleitung: Was ist antike Rhetorik? In:
Handbuch Antike Rhetorik. Hg. von dens. Berlin/Boston 2019, S. 1–18, hier S. 6–8.
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Verse, die sich durch die beigefügte Angabe „Pers.“ leicht als Zitat eines Textes des römischen Dichters Aulus Persius Flaccus (34–62 n. Chr.), nämlich des Beginns der ersten seiner Satiren, zu erkennen geben: O curas hominum! o quantum est in rebus inane! Quis leget haec? – – – Min’ tu istud ais? – – Nemo hercule. – – Nemo? – Vel Duo vel Nemo – – –5
An den für den satirischen Modus charakteristischen Einsatz der Distanzierung von der umgebenden Welt, die Klage über die Hinfälligkeit der menschlichen Dinge und der gesellschaftlichen Welt, schließt sich eine Frage an, die das eigene Werk und dessen mögliche Wirkung betrifft: „Quis leget haec?“ („Wer wird denn dies lesen?“) In der Folge wird diese Frage im Dialog des sprechenden Ich mit einem imaginären Gesprächspartner erörtert. Der Austausch der beiden führt zu einem ernüchternden Befund: Womöglich wird niemand dies lesen, oder bestenfalls wird es zwei Leser (d. h. nur eine sehr kleine Zahl von Rezipienten) finden. Doch von welchem Text oder Buch ist hier die Rede? In seinem ursprünglichen Kontext, dem Anfang von Persius’ Satire, liegt es nahe, das „Quis leget haec?“ auf den Text zu beziehen, in dem es steht, also auf die satirischen Dichtungen, die durch die zitierte Stelle eröffnet werden. In Hamanns Zitat der Stelle hingegen ist deren (unmittelbarer) Bezug zu dem Zusammenhang der Satire verloren. Die Frage „Quis leget haec?“ steht von ihrem vormaligen Kontext abgelöst, abgesondert da. Der deiktische Ausdruck „haec“ braucht jedoch zu seinem Verständnis einen semantischen Bezug. Er fordert uns gewissermaßen dazu auf, einen solchen Bezug zu suchen. Er lädt uns gleichsam dazu ein, ihn auf jenes Buch zu beziehen, auf deren Titelblatt er erscheint. – Es sind also die Sokratischen Denkwürdigkeiten, denen hier vorausgesagt wird, dass niemand sie lesen, oder sie allenfalls ganz wenige Leser finden werden.6 Wir haben es also, so gewinnt man den Eindruck, mit dem merkwürdigen Fall eines Buchs zu tun, das sich selbst bzw. die eigene Tauglichkeit zur Lektüre infrage stellt. Ein solcher Selbstzweifel scheint nicht eben dazu angetan, für das Buch zu werben oder zu seiner Lektüre einzuladen. Wer so argumentiert, über5 Persius: Saturae/Satiren, I, 1–3: „O Sorgen der Menschen! O wie viel ist vergeblich in
den Dingen!/ Wer wird denn dies lesen? – – – Fragst Du das mich? – – / Niemand, für wahr – – niemand? –/ Vielleicht zwei, vielleicht niemand“. 6 Dabei bezieht das „Duo“ eine zusätzliche Bedeutungsnuance daraus, dass es intratextuell auf die zuvor genannten „Zween“ zurückverweist und sich so die Möglichkeit anbietet, das zunächst unspezifische „Duo“ auf zwei konkrete Personen zu beziehen.
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sieht indessen, dass hier ein rhetorisches Verfahren am Werk ist: In der Frage „Quis leget haec?“ lässt sich eine Technik des inszenierten Zweifels erkennen, wie man sie von der rhetorischen Figur der dubitatio kennt. Bei letzterer handelt es sich um eine Figur, durch die der Sprecher einen Zweifel oder eine Unsicherheit (etwa in der Beurteilung eines Sachverhalts) bekundet.7 Charakteristisch für die dubitatio ist es, dass die in ihr geäußerte Unsicherheit nicht ernst gemeint ist, sondern vorgespielt wird, um den Leser zum Nachdenken und zu einem Widerspruch anzuregen, der den betreffenden (Selbst-)Zweifel ausräumt. Die dubitatio zielt also letztlich auf eine Bestätigung des Sachverhaltes, den sie infrage zu stellen oder zu negieren scheint. Die zitierte Stelle aus Persius’ Satire, die dem Buch mangelnde Attraktivität und offenkundige Untauglichkeit zur Lektüre bescheinigt, kann somit, indem sie das Interesse und die Neugier des Lesers weckt, als versteckte Einladung und Aufforderung zur Lektüre wirken. In jedem Fall aber wirft sie die Frage nach dem Leser bzw. Leserkreis des Buches auf und lenkt so die Aufmerksamkeit auf die nicht zuletzt in rhetorischer Hinsicht wichtige rezeptionsästhetische Dimension. Der Rhetorik und dem von ihr bereitgestellten Repertoire sprachlicher Techniken scheint, so lassen die vorangehenden Beobachtungen vermuten, für Hamanns Erstlingswerk – denn von diesem ist hier die Rede – eine gewisse Bedeutung zuzukommen. Bevor wir diesem rhetorischen Element und dessen Funktion für Hamanns Schreiben nachgehen, lohnt es sich, nochmals einen Blick auf das Titelblatt zu werfen: Der Titel Sokratische Denkwürdigkeiten erinnert an die Memorabilia bzw. Apomnemoneumata von Xenophon und verweist damit auf einen jener antiken Texte, durch die wir von Sokrates’ Leben und Philosophie Kenntnis haben. Obgleich Hamann zu der Zeit, als er die Sokratischen Denkwürdigkeiten schrieb, Xenophons Memorabilia wahrscheinlich noch nicht (im Original oder einer Übersetzung) gelesen hatte8 und sein Wissen über Sokrates wohl vorwiegend aus einer zeitgenössischen Biographie des griechischen Philosophen bezog,9 ist die Ähnlichkeit bzw. Gleichheit des Titels doch bezeichnend. Denn unabhängig davon, ob bzw. wie gut Hamann Xenophons Memorabilia kannte, werden diese als Bezugstext aufgerufen und als intertextuelle Vorlage von Hamanns Darstel7 Vgl. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. München 31967, S. 117–118
und S. 144.
8 Vgl. Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken
im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 174.
9 Leben Socratis nebst Xenophons Beschreibung der Denkwürdigkeiten Socratis. Aus
dem Französischen des Herrn Charpentier von Christian Thomas übersetzt. Halle 1720. Vgl. HHE II , 52.
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lung eingeführt. Letztere erhält so eine spezifische Akzentuierung: Statt sich der vorherrschenden Richtung der Sokrates-Deutung einzuschreiben, wie wir sie aus Platons Dialogen kennen, bezieht sich Hamann auf jene andere, mit dem Namen Xenophons verbundene Überlieferung, die aus seiner Sicht besonders geeignet ist, einen Zugang zur Sokrates-Figur und deren Bedeutung zu gewinnen.10 In Xenophons Memorabilia tritt uns ein anderer, lebensnäherer und stärker alltagspraktisch orientierter Sokrates entgegen als in der den kleinen weltlichen Dingen enthobenen Idealgestalt des Philosophen, wie Platon sie in seinen Dialogen vorstellt. Bei Xenophon erscheint Sokrates als Philosoph der kleinen Leute, der sich um die Fragen und Schwierigkeiten des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens kümmert.11 Dieses Projekt, uns auf der Linie Xenophons einen alltagsweltlichen Sokrates zu zeigen, bringt Hamann schon im ersten Abschnitt seines Textes programmatisch zum Ausdruck: Sokrates besuchte öfters die Werkstätte eines Gerbers, der sein Freund war, und wie der Wirth des Apostel Petrus zu Joppe Simon hieß. Der Handwerker hatte den ersten Einfall die Gespräche des Sokrates aufzuschreiben. Dieser erkannte sich vielleicht in denselben besser als in Platons, bey deren Lesung er gestutzt und gefragt haben soll: Was hat dieser junge Mensch im Sinn aus mir zu machen? – – Wenn ich nur so gut als Simon der Gerber meinen Held verstehe!12
Neben dem Rekurs auf Xenophon tritt an der zitierten Stelle ein weiterer wichtiger Bezug der Sokratischen Denkwürdigkeiten hervor: Durch den Hinweis auf den „Wirth des Apostel Petrus“ wird hier die Geschichte bzw. die Gestalt Jesu Christi aufgerufen, dessen Leben und Wirken in Hamanns Darstellung durchgängig als implizite (teils auch explizite) Parallele zu Sokrates bzw. dessen Werdegang evoziert und mitgeführt wird. Hamann bedient sich hier eines aus der Bibelexe-
10 Nach dem Kenntnisstand der neueren Forschung sind Xenophons Sokrates-Darstellun-
gen, wie sie uns in den Memorabilia, der Apologie und dem Symposion entgegentreten, freilich keine authentischen historischen Zeugnisse. Vielmehr ist Xenophons Sokrates ebenso als eine literarische Gestalt, eine Kunstfigur, zu begreifen wie der platonische Sokrates. Vgl. Bernhard Huß: Xenophons Symposion. Ein Kommentar. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 11–12. 11 Vgl. Christopher Bruell: Introduction. Xenophon and His Socrates. In: Xenophon: Memorabilia. Hg. von Christopher Bruell. Ithaca, NY 1994, S. vi–xxii, hier S. xi–xii. 12 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: ders.: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hg. von Sven Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 3–73, hier S. 27; N II , 65.
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gese vertrauten Verfahrens, der Typologie,13 indem er Sokrates als Vorläufer und Vorwegnahme von Christus erscheinen lässt.14 Wir haben es also bei Hamanns Schilderung mit einer Form des allegorein, des „anders Sprechens“ zu tun,15 einer Technik, bei der die wörtliche Bedeutungsebene (sensus litteralis) des Textes konsequent auf eine andere, figurative Ebene (sensus allegoricus) verweist, die die intendierte, im Vorgang des bildhaften Sprechens bzw. Schreibens anvisierte Bedeutungsebene darstellt.16 In der Forschung hat man die Wahl des allegorischen bzw. typologischen Verfahrens wohl zu Recht als Ausdruck einer religiösen Grundhaltung Hamanns verstanden, für den alles Denken und Wissen, auch das der Philosophie, letztlich auf den christlichen Glauben zu beziehen sei und darin sein Ziel finde.17 Dies schließt unterdessen keineswegs aus, dass die literarische Form, die sprachliche Gestaltung seiner Texte Hamann nicht auch ein wichtiges Anliegen wäre. Auf eine ausgeprägte literarische bzw. philologische Neigung Hamanns deutet nicht zuletzt dessen umfangreiche Bibliothek,18 die zwar zum Zeitpunkt der Abfassung der Sokratischen Denkwürdigkeiten wohl erst im Aufbau begriffen war, die aber erschließen lässt, dass wir es bei deren Besitzer mit einem Liebhaber der Bücher zu tun haben, dessen literarische Studien für diesen, auch wenn er sie primär als Weg zum Glauben verstand, mitunter ein eigenes Interesse und einen Wert in sich gewannen. Vor diesem Hintergrund ist die wörtliche, buchstäbliche Ebene eines literarischen Textes für Hamann kein bloß äußerliches Hilfsmittel, das man beiseite legen könnte, sobald es seinen Zweck erfüllt hat. Die wörtliche Ebene des Textes und, damit verbunden, dessen sprachliche Form gewinnen vielmehr eine eigene 13 Vgl. Marius Reiser: Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur
Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik. Tübingen 2007, darin das Kapitel „Typologie und Allegorese“, S. 101–105. 14 Diese Parallele von Sokrates und Christus hat eine lange Tradition, die bis in die Spät antike zurückreicht. Vgl. Almut-Barbara Renger und Alexandra Stellmacher: ‚Sokrates‘. In: Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Peter von Möllendorff, Annette Simonis und Linda Simonis. Stuttgart/Weimar 2013 (= Der Neue Pauly. Supplemente, Bd. 8), Sp. 911–932, hier Sp. 915–916. 15 Vgl. Wiebke Freytag: ‚Allegorie, Allegorese.‘ In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992 (= Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1), Sp. 330–393, hier Sp. 330–331. 16 Vgl. Manuel Baumbach: ‚Einleitung in die Schrift.‘ In: Die Seele im Kosmos Porphyrios. Über die Nymphengrotte in der Odyssee. Hg. von dems. Tübingen 2019, S. 13–29, hier S. 15–16. 17 Vgl. HHE II , 14–17. 18 Vgl. Knut Martin Stünkel: Leibliche Kommunikation. Studien zum Werk Johann Georg Hamanns. Göttingen 2018, S. 17–18.
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Wirkungs- und Aussagekraft, die dazu auffordert, ihnen nähere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und sie einer genaueren philologischen Betrachtung zu unterziehen. In diesem Zusammenhang ist auch der Einsatz der Rhetorik zu verstehen: in dem Maße, in dem es um die sorgfältige Ausarbeitung und anschauliche Gestaltung der wörtlichen Textebene geht, bedarf es einer sprachlichen Kunstfertigkeit, einer Technik des wirkungsvollen Sprechens bzw. Schreibens, wie sie die Rhetorik lehrt. Folgt man der hier vorgeschlagenen Annahme eines Eigenwerts des sensus litteralis, dann ist auch Hamanns Sokrates keineswegs nur ein Stuntman, der als solcher nicht weiter zu interessieren brauchte, wenn man hinter ihm Christus als wahren Protagonisten erkannt hat. Hamanns eingehende und lebendige Darstellung des Sokrates, die zahlreiche konkrete Details und Anekdoten seiner Lebensgeschichte aufgreift, deutet vielmehr auf ein genuines Interesse, auf eine Faszination, die der griechische Philosoph auf Hamann ausübte. Es ist das ‚Ereignis‘ Sokrates,19 das Hamann zu erfassen versucht, die unvermittelte Ausnahme erscheinung, die dieser Philosoph im Kontext der antiken Polis bezeichnete. Eine ähnliche Wirkung des Unvermittelten und Unerhörten hofft Hamann zu erzielen, wenn er die Intellektuellen seiner Zeit mit der Gestalt des Sokrates konfrontiert, um sie zu irritieren und aus ihren gewohnten und approbierten Denkweisen herauszureißen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer, bestimmender Grundzug der Sokratischen Denkwürdigkeiten erwähnenswert: Diese liefern nicht nur eine Beschreibung des Sokrates, seines Charakters und Lebens; in ihnen bekundet sich überdies eine unverkennbare Sympathie für den Gegenstand, für Sokrates, für den sie Partei ergreifen und den sie gegen mögliche Vorwürfe zu verteidigen suchen. Damit stellt sich Hamanns Text in die Tradition der Apologie, der Verteidigungsschrift, und bedient sich so einer Textform, die uns aus Xenophons und Platons Schriften über Sokrates bekannt ist. Damit ist zugleich ein Bezug zur Rhetorik angesprochen. Denn die Apologie, die ihrer Herkunft nach einem rechtlichen Kontext angehört und eine Spielart der Rede vor Gericht darstellt,20 erfordert den Einsatz spezifischer sprachlicher Techniken, des Plädierens für den Angeklagten, die Hervorhebung seiner positiven Eigenschaften, die Beteuerung seiner Unschuld, die Zurückweisung der Vorwürfe etc. Hamann macht sich Elemente eines solchen apologetischen Sprechens zu eigen, um uns Sokrates näher 19 Vgl. Paulin Ismard: L’événement Socrate. Paris 2013, S. 15–19. 20 Vgl. Klaus Kienzler und Eric Hilgendorf: ‚Apologie.‘ In: Historisches Wörterbuch der
Rhetorik (wie Anm. 15), Sp. 809–823, hier Sp. 809–810 und Sp. 821–822.
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zu bringen und Verständnis und Empathie für ihn zu wecken. Auf diese Weise präsentiert er seinen Protagonisten ein Stück weit als Identifikationsfigur, die als Muster und Vorbild der anzustrebenden philosophischen Haltung dient. Der sokratische Habitus, den uns Hamann vorstellt, ist nun allerdings, zumindest auf den ersten Blick, durch einen Mangel an Rhetorik bzw. einen bewussten Verzicht auf jene gekennzeichnet. Hier tut sich somit ein gewisser Widerspruch auf zwischen dem gänzlich unrhetorisch anmutenden Charakter des Sokrates und der sprachlichen Kunstfertigkeit, mit der Hamann sein Porträt des antiken Philosophen gestaltet. Dies umso mehr, als Hamanns Darstellung die aus der antiken Philosophiegeschichte bekannte Konfrontation von Sokrates mit den Sophisten als Folie aufruft und so Sokrates’ Gegenstellung gegenüber der Rhetorik in Erinnerung ruft.21 Dies hindert Hamann freilich nicht daran, in seiner Schilderung von Techniken der kunstfertigen Rede Gebrauch zu machen, auch wenn sein Protagonist sich ihnen gegenüber abstinent erklärt. In der Darstellung jener Opposition des Sokrates gegenüber den Sophisten bedient sich Hamann, so meine These, einer Sprache, die ihrerseits in hohem Maße rhetorisch verfasst ist, die von Mitteln der Redekunst Gebrauch macht. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten zeichnet sich also ein gewisser performativer Widerspruch ab, insofern hier auf der sprachlich-formalen Ebene des Textes genau jene Techniken der Rede zum Einsatz kommen, die auf der inhaltlichen Ebene abgelehnt bzw. als Formen eines falschen Anscheins von Wahrheit zurückgewiesen werden. Schauen wir uns genauer an, wie Hamann seine Figur einführt und darstellt. Nicht zufällig beginnt die Vorstellung der Sokrates-Gestalt im Hauptteil des Textes mit der Erläuterung seiner Genealogie, seiner familialen Abstammung sowie der beruflichen Tätigkeit seiner Eltern: „Sokrates hatte nicht umsonst einen Bildhauer und eine Wehmutter zu Eltern gehabt.“22 Mit diesem Einsatz wählt Hamann als Textform seiner Darlegung die biografische Form, die seinen Lesern als Grundmuster der zu jener Zeit an Beliebtheit zunehmenden literarischen Gattungen von Autobiographie und Roman bekannt war.23 Hier geht es also nicht darum, so macht der Text von Anfang an klar, eine philosophische Position systematisch zu entwickeln, sondern es wird eine Geschichte erzählt, die Sokrates’
21 Vgl. Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung. München 1984,
S. 30–31.
22 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 29; N II , 66. 23 Vgl. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Auto-
biographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 1–26.
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philosophische Attitüde und sein Wirken im Kontext seiner Umwelt, der besonderen Umstände seines Lebens und seiner Zeit, plausibel machen will. Für unsere Fragestellung von näherem Interesse ist indessen der Hinweis auf die Eltern und deren berufliche Tätigkeiten. Hamann leitet aus letzteren zwei Grundzüge her, die Sokrates’ philosophischen Zugang charakterisieren: Aus dem Beruf des Vaters als Künstler und Bildhauer erklärt sich Sokrates’ Sinn für das Schöne; die Tätigkeit der Mutter als Hebamme hingegen verweist auf Sokrates’ methodischen Ansatz, die Maieutik als Prinzip philosophischer Erkenntnis suche. Die Überlegungen, die Hamann hier entwickelt, sind unterdessen weniger im Sinne einer Vererbungslehre avant la lettre zu verstehen. Vielmehr benutzt Hamann die Eltern und deren Tätigkeiten als Motive, die geeignet sind, spezifische Merkmale von Sokrates bzw. seiner Philosophie zu veranschaulichen. Die Hebammenkunst, die die Mutter ausübt, dient als Metapher, die die besondere Technik der sokratischen Gesprächsführung in ein eingängiges Bild fasst. In ähnlicher Weise verbildlicht das künstlerische Tun des Vaters die Beschäftigung des Philosophen mit der Idee des Schönen, wobei wir es hier mit einer metonymischen Relation24 zu tun haben: Die Kunst bezeichnet das ihr semantisch nahestehende Konzept des Schönen. Beide, Metapher und Metonymie, zählen in der Rhetorik zu den Tropen, d. h. zu den Redeweisen, in denen „die natürliche und ursprüngliche Bedeutung auf eine andere übertragen wird“.25 Hamann macht sich hier also die im Repertoire der Rhetorik angelegten Mittel figürlichen Sprechens zu eigen, um seinen Ausführungen bildliche Prägnanz und damit stärkere Aussagekraft zu verleihen. Hamanns Rekurs auf die Rhetorik beschränkt sich unterdessen nicht auf das Repertoire der Tropen. Seine Texte, insbesondere die Sokratischen Denkwürdigkeiten, zeichnen sich zudem durch den Einsatz zahlreicher Wort- und Gedankenfiguren (figurae verborum und figurae sententiae) aus, durch die es gelingt, einzelne Motive besonders herauszuarbeiten und bestimmte Vorstellungen und Gedanken zu pointieren oder ihnen eine überraschende Wendung zu geben. Aus dem reichen Ensemble solcher Figuren in Hamanns Texten tritt dabei in den Sokratischen Denkwürdigkeiten eine Figur besonders hervor, die dort eine für die Gestaltung des Textes sowie dessen Rezeption leitende Funktion erhält 24 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Stuttgart 31990, S. 292–
295, § 565–571. Bestimmend für die Metonymie ist, dass der genannte Term mit dem gemeinten „semantisch in einer realen Beziehung steht“ (ebd., S. 292). 25 Quintilian: Institutio oratoria IX 1, 4. Vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (wie Anm. 24), S. 282–285. Zur Metapher vgl. S. 285–291, § 558–564.
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und in Hamanns Deutung einen Schlüssel zum Verständnis des Sokrates bietet: das Paradox.26 Sokrates’ philosophischer Habitus ist durch einen Widerspruch gekennzeichnet, der die Eigenart seines Charakters wie seines Philosophierens ausmacht. Hamann greift hier den berühmten Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf, den die Auslegungstradition Sokrates als Selbstbekenntnis zuschreibt.27 Auch wenn Hamann jenes Diktum nicht wörtlich zitiert, wird es in seiner Beschreibung, die die Unwissenheit des Sokrates, dessen freimütiges Bekenntnis zum Nicht-Wissen hervorhebt, doch in Erinnerung gerufen und als implizite Referenz der Ausführungen mitgeführt. Das paradoxe Moment, das uns in der genannten Äußerung begegnet, ist dabei als ein (ihr inhärenter) logischer Widerspruch zu begreifen, der den propositionalen Gehalt der Aussage charakterisiert. Die Proposition des Nebensatzes (‚ich weiß nichts‘), steht in genauem Widerspruch zu derjenigen des Hauptsatzes (‚ich weiß etwas‘), deren Negation sie bildet. Hamann interessiert sich freilich weniger für diese logische Dimension des Paradoxes, dessen Funktion als formales, mathematisches Gedankenspiel. Was das Paradox für Hamann attraktiv macht, ist dessen Eigenschaft, etwas Unerwartetes, Ungewöhnliches hervortreten zu lassen, etwas, das der herkömmlichen Meinung und Wahrnehmung zuwiderläuft.28 Von daher konstruiert Hamann das Sokratische Paradox auch weniger als ein der Sokratischen Selbstbeschreibung immanentes, als einen Selbstwiderspruch, er fasst es vielmehr als Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Deutungen, zwischen Sokrates’ Selbstverständnis als Unwissendem auf der einen und dessen Auszeichnung als „Weiser“, die er durch den Orakelspruch des Apollon erfährt: „Von solchem Wiederspruch finden wir ein Beyspiel an dem Delphischen Orakel, das denjenigen für den weisesten erkannte, der gleichwol von sich gestand, daß er nichts wisse.“29 Was die zitierte Stelle hervorkehrt, ist die pointierte Gegenüberstellung einander entgegengesetzter Auffassungen, zwischen denen zu entscheiden unmög26 Zur Bedeutung und Funktion des Paradox als rhetorischer Figur vgl. Heinrich Plett:
Das Paradoxon als rhetorische Kategorie. In: Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Hg. von Roland Hagenbüchle und Paul Geyer. Würzburg 22002, S. 89–104. 27 Der Ausspruch war schon in der Antike bekannt und als Redewendung geläufig. Die Zuschreibung zu Sokrates findet sich etwa bei Cicero: Academica 1, 16: „Socrates […] ita disputat, ut […] nihil se scire dicat nisi id ipsum“. 28 Zu dieser gegen die herrschende Meinung gerichteten Tendenz des Paradox vgl. Plett: Das Paradoxon als rhetorische Kategorie (wie Anm. 26), S. 93: „Das Paradoxon stellt demnach – in einem Akt der Persuasion – das Vorurteil, die vorgefaßte Meinung über einen Gegenstand auf den Kopf.“ 29 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 35; N II , 68.
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lich erscheint. Der Eindruck des radikalen, unauflöslichen Widerspruchs verstärkt sich noch, wenn Hamann jenen Befund in eine Frage fasst, die er an seine Leser adressiert: „Strafte Sokrates das Orakel Lügen, oder das Orakel ihn?“30 Die Prägnanz dieser Frage verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass sie syntaktisch in Form eines Chiasmus gestaltet ist: Der zweite Halbsatz wiederholt die Worte des ersten Halbsatzes, nimmt dabei aber eine Vertauschung von Subjekt und Objekt vor. Dabei ist es bezeichnend, dass Hamann die damit aufgeworfene Frage indessen nicht selbst beantwortet, sondern die Antwort anderen in den Mund legt, auf deren Urteilsvermögen er vertraut: „Die stärksten Geister unserer Zeit haben für diesmal die Priesterinn für eine Wahrsagerinn gehalten, und sich innerlich über ihre Ähnlichkeit mit dem Vater Sokrates gefreut, der es für gleich anständig hielt einen Idioten zu spielen oder Göttern zu glauben.“31 Aus den vorangehenden Beobachtungen lässt sich entnehmen, was Hamann am Paradox fasziniert und worin dessen spezifisches Potential als rhetorisches Stilmittel besteht. Was das Paradox leistet, ist offenbar nicht nur ein artistisches Spiel, ein kunstvolles Aufzeigen von Gegensätzen. Das rhetorische Paradox hat darüber hinaus eine heuristische Potenz, eine Disposition, als Mittel der Erkenntnisfindung zu dienen. Entscheidend ist hier dessen Fähigkeit, einen Gegensatz so weit zuzuspitzen, dass darin eine tiefergehende Wahrheit aufscheint, die ohne die pointierende Kraft des Paradox so nicht sichtbar würde. Im Falle des Sokrates liegt diese Erkenntnis in dem paradoxen Befund, dass es gerade die Einsicht in die eigene Unwissenheit ist, die ein höheres oder womöglich einzig sicheres Wissen bedeutet. Die zuletzt zitierte Stelle ist noch in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich: Dort wird Sokrates’ Verhalten charakterisiert durch die Neigung, „den Idioten zu spielen“. Hamanns Sokrates ist also durch ein Moment des Spielens und Schauspielens gekennzeichnet, das nicht nur seinen philosophischen Habitus prägt, sondern überdies auch für die Art und Weise seines Auftretens und den Stil seiner Rede bestimmend ist. Was uns folglich in der Kommunikation als Charakter des Philosophen entgegentritt, ist das Bild, das er von sich zeigt; es ist eine persona, die sich gleichermaßen als Person wie als Maske eines Schauspielers zu erkennen gibt32 und so ein Wissen um die eigene Konstruiertheit mitführt. Das Moment des Schauspielens ist dabei nicht als bloß äußerliche Zutat zu verstehen, auf die 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Vgl. Richard Weihe: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004,
S. 179–190.
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man ebenso gut verzichten könnte, wenn es darum geht, ein Bild des Sokrates zu vermitteln bzw. als Rezipient einen Zugang zu seiner Person und Philosophie zu erlangen. Hamann ist sich offenbar mit den Lehrern der antiken Rhetorik einig, dass die Person des Redners nicht ablösbar ist von dessen Darstellung. Um die eigene Überzeugung zu äußern, um sie in die Kommunikation einbringen zu können, ist der Redner darauf angewiesen, seinen Standpunkt und in Eins damit sich selbst darzustellen. In dem Maße, in dem er seine Unwissenheit, d. h. das Wissen um sein Nicht-Wissen, zur Geltung zu bringen versucht, kann also auch Sokrates – und mit ihm Hamann – nicht darauf verzichten, dieses auch vorzuführen. Er ist auf ein Moment von Performanz, ein Moment des Spielens und Schauspielens, angewiesen. Dieser Aspekt klingt schon in dem „An die Zween“ überschriebenen (zweiten) Vorwort der Sokratischen Denkwürdigkeiten an, an jener in der Forschung vielfach diskutierten Stelle, an der der Verfasser über sein eigenes Verfahren reflektiert. Dieser erklärt, er habe „über den Sokrates auf eine sokratische Art“ geschrieben, um dann, kurz darauf, seinen Text als eine „mimische Arbeit“ zu charakterisieren.33 Diese poetologische Selbstbeschreibung ist für uns insofern relevant, als sie über Hamanns Verständnis seines eigenen Schreibens und nicht zuletzt über sein Verhältnis zu Rhetorik Aufschluss gibt. Das Attribut „mimisch“ verweist dabei zunächst auf ein Nachahmen oder Nachstellen im Sinne des Versuchs, ein (getreues) Abbild einer vorgegebenen Vorlage, einer Person, eines Dings oder Sachverhalts zu erstellen. Das im Begriff des Mimischen angesprochene Bedeutungsspektrum erschöpft sich unterdessen nicht in der Vorstellung eines nachahmenden Tuns. Seiner wortgeschichtlichen Herkunft nach mit den altgriechischen Bezeichnungen mīmikós und mīmos34 verwandt, ist der Ausdruck mimisch mit dem Wort- und Bedeutungsbereich des Schauspielens und der Schauspielkunst verknüpft. Die „mimische Arbeit“ ist also auch ein schauspielerisches Tun, ein Darstellen und Vorführen, das sich nicht notwendig auf nachahmende Aspekte beschränkt, sondern auch ein freieres Gestalten implizieren kann.35 Schon in die33 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 13; N II , 61. 34 Mīmos bezeichnet den Darsteller im Kultdrama. 35 In den beiden Bedeutungsdimensionen, die in Hamanns Begriff der „mimischen
Arbeit“ anklingen, spiegelt sich eine bezeichnende Doppelheit, die Begriff und Vorstellung der Mimesis seit deren Anfängen in der griechischen Antike charakterisiert und die in den unterschiedlichen Auffassungen Platons und Aristoteles’ exemplarisch greifbar wird. Platons Definition der Mimesis als Nachahmung vorgegebener Modelle steht bei Aristoteles ein weiter gefasstes Verständnis des Konzepts gegenüber, das sich auf die Gestaltung des Möglichen bezieht. Vgl. Arbogast Schmitt: Einleitung zu: Aris-
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ser einleitenden Bemerkung deutet sich somit an, dass es Hamann in seiner Studie nicht nur darum geht, ein Bild bzw. Abbild des Sokrates zu geben,36 sondern darüber hinaus auch darum, diesen auf schauspielerische Weise darzustellen, ihn als Figur auszumalen und in Szene zu setzen. Die Mittel, die ihm ermöglichen dies zu tun, entnimmt Hamann dem Repertoire der Rhetorik, wobei vor allem einer Figur eine besondere Bedeutung zukommt: der Ironie. Als Technik der ‚Verstellung in der Rede‘, die in der rhetorischen Tradition auch unter den Begriff der dissimulatio gefasst wurde,37 erlaubt es die Ironie dem Redner bzw. Autor, das Verhältnis zu seinem Gegenstand in einer spezifischen Weise zu modellieren. Mithilfe ironischer Verfahrensweisen gelingt es Hamann bzw. dem Erzähler der Sokratischen Denkwürdigkeiten, nicht nur Sokrates als Schauspieler erscheinen zu lassen, sondern seinerseits ein spielerisches Verhältnis zu seiner Figur einzugehen. Der Erzähler spielt mit seinem Protagonisten, indem er sich diesem mal annähert und mit ihm identifiziert, um dann wieder Distanz zu nehmen und ihn in ein ambivalentes oder ironisches Licht zu rücken. So etwa, wenn er in einer überraschenden, auf den ersten Blick unpassend erscheinenden Analogie Sokrates mit einem Hypochonder vergleicht und so die Vorstellung einer sokratischen Idealfigur ironisch konterkariert: „Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit.“38 Hier wird einerseits ein Moment von Sympathie, von Mitgefühl mit der Sokratesfigur geweckt,39 andererseits durch die Mittel der Übertreibung und Überzeichnung ein komischer Effekt und damit Distanz erzeugt. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem für Hamann ein beliebiges wäre und es ihm allein auf die kunstvolle Inszenierung des Geäußerten ankäme. Was Hamann als Ideal philosophischen Sprechens vorschwebt, ist eine Ausdrucksweise, die die rhetorische Kunstfertigkeit insofern begrenzt, als sie darauf zielt, das Erscheinen des Redners und die toteles: Poetik. Übers. und hg. von dems. Berlin 2011, S. 45–134, hier S. 117–124. Zur Doppelheit des Mimesis-Konzepts über die Antike hinaus vgl. Friedrich Balke: Mimesis zur Einführung. Hamburg 2018, S. 17–18. 36 Die nachahmende Darstellung des Sokrates, die hier in dem ersten Bedeutungsaspekt angesprochen ist, verweist – vermittelt über die typologische Analogie Sokrates – Jesus zugleich auf die Idee der Imitatio Christi. 37 Vgl. Harald Weinrich: ‚Ironie‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Stuttgart/Basel 1976 (= Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4), Sp. 577–582, hier Sp. 577–578. 38 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 43; N II , 70. 39 Ebd.: „so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begrif zu haben.“
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Wirkung seiner Rede in Einklang zu bringen mit dessen Überzeugungen und Empfindungen. Indem er das Gesagte an die Person und den Charakter des Sprechers zurückzubinden versucht, ruft Hamann eine Dimension des Sprechens und Überzeugens auf, die man auf der Linie der antiken Rhetorik unter den Begriff des ethos fassen könnte.40 So stellt er uns Sokrates als jemanden vor, dessen Rede vor allem durch die Glaubwürdigkeit des Redners Plausibilität gewinnt. Sokrates’ Bekenntnis zur Unwissenheit ist für Hamann aufs engste mit dessen charakterlicher Disposition verknüpft und bezieht daraus ihre Überzeugungskraft: „Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung.“41 Zur ethischen Einstellung von Hamanns Sokrates gehört es zudem, dass er dem, was er sagt, eine gewisse Dauer und Beständigkeit verleiht, die über den unmittelbaren Kontext der je konkreten Redesituation hinausreicht. Hamann präsentiert Sokrates als jemanden, der sich selbst, seinen eigenen Anschauungen und Überzeugungen, treu bleibt, der an dem, was er als wahr erkannt hat, festhält, auch wenn dieses sich als unzeitgemäß, als gegen das etablierte Wissen der Zeit gerichtete Auffassung, erweist. Diese Treue zu sich selbst, die in Hamanns Schilderung mitunter auch als Eigensinn und Starrköpfigkeit erscheint, zeigt sich besonders eindrucksvoll an jener berühmten Stelle der Sokratischen Denkwürdigkeiten, an der der Erzähler die Sokratische Haltung der Abkehr von der doxa seiner Zeit durch das Bild eines Kartenspiels veranschaulicht. Diese Szene ist auch insofern interessant, als sie nicht zuletzt über Hamanns Umgang mit Rhetorik Aufschluss gibt und eine grundlegende Ambivalenz erkennen lässt, die sein Verhältnis zur Redekunst bestimmt. Schauen wir uns den betreffenden Textpassus genauer an: Wir wollen annehmen, daß wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböthen. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht; so würden wir dies entweder auslegen müssen, daß er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in oekonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber ein ehrlicher Mann, von dem man wüste, daß er alle mögliche Stärke im Spiel besässe […], der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer Gesellschaft von feinen Betrügern […] zu einer Parthey mit ihnen aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: „Ich spiele nicht, nämlich, mit solchen als ihr seyd, welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbiethet; so ist unser gegenseitiger Vergleich den Eigensinn des Zufalls für unsern 40 Vgl. Aristoteles: Rhetorik 1, 2, 4. 41 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 49; N II , 73.
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Meister zu erkennen […]. Hättet ihr mir den Antrag gethan mit einander zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre; so hätte ich anders antworten, und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu zeigen, daß ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr versteht die euch gegeben werden nach der Kunst zu werfen.“ In diese rauhe Töne läßt sich die Meynung des Sokrates auflösen, wenn er den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, sagte: Ich weiß nichts.42
Die zitierte Beschreibung stellt uns im Modus des Konjunktivs, gleichsam als hypothetischen Fall, eine konkrete Situation vor Augen: Eine Person, die als Unbekannter zu einer Gruppe von Spielern hinzukommt, wird zum Mitspielen eingeladen, lehnt dies jedoch ab. Diese Ablehnung kann, so die anschließende Deutung dieser Situation, aus ganz unterschiedlichen Gründen erfolgen, nämlich deshalb, weil „er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in oekonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag“. In einem zweiten Schritt wird die genannte Szene des Angebots des Kartenspiels erneut aufgenommen, wobei nun allerdings der Charakter des Ankömmlings spezifiziert wird: Es handelt sich um einen „ehrlichen Mann“, der die Regeln des Spiels souverän beherrscht, letzteres aber „niemals anders“ denn als „unschuldigen Zeitvertreib“ spielen will. Auch die Gruppe derjenigen, die das Spiel anbieten, wird nun spezifiziert, nämlich als eine „Gesellschaft von feinen Betrügern“. Unter diesen veränderten Vorzeichen, so Hamanns Erläuterung, gewinnt das „Ich spiele nicht“ des hinzugekommenen Mannes einen anderen Stellenwert. Diese Bedeutung arbeitet Hamann heraus, indem er die Antwort des Mannes in einer hypothetischen Erweiterung ausführt und so das aus seiner Sicht implizit Gemeinte explizit macht. Das „Ich spiele nicht“ erhält hier einen polemischen Impetus: Wir haben es mit einer Replik zu tun, die die Gruppe der Spieler als Betrüger entlarvt. In einem dritten Schritt überträgt Hamann schließlich den geschilderten Fall auf eine bestimmte historische Situation: Hinter der Gestalt des „ehrlichen Mannes“ tritt nun Sokrates hervor, der den „Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit“, sein „Ich weiß nichts“ entgegenhält. Hamann vergegenwärtigt in dem zitierten Textpassus also jene spannungsvolle Konstellation, die sich zwischen Sokrates und den Sophisten, die als Rhetoriklehrer zugleich als führende Gelehrte ihrer Zeit gelten, entspinnt. Sokrates tritt dabei als Gegenspieler der Sophisten auf, als jemand, der sich von der Gelehrsamkeit der Sophisten abgrenzt und sich zugleich von der Kunst der Rede abwendet, die von ihnen vertreten wird. Bedenkt man diese bekannte, auch den Lesern der 42 Ebd., S. 47–49; N II , 72 f.
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Sokratischen Denkwürdigkeiten vertraute Position, müsste man erwarten, dass auch deren Autor sich jenes Programm seines Vorbilds Sokrates zu eigen macht und demgemäß bei der Abfassung seines Textes auf jegliche rhetorische Kunst konsequent verzichtet. Diese Erwartung wird unterdessen enttäuscht. Lässt sich schon für Hamanns Text insgesamt beobachten, dass er sich durchaus rhetorischer Mittel bedient, so gilt dies in besonderem Maße für die hier erörterte Textstelle, die Sokrates’ Konfrontation mit den Sophisten evoziert. Wir haben es mit einem Text zu tun, der von Grund auf rhetorisch verfasst ist. In ihrer übergreifenden Struktur ist die dargestellte Szene als parabolische bzw. gleichnishafte Rede gestaltet, wie man sie sowohl aus der antiken Redekunst und Literatur als auch aus der Sprache der Bibel43 kennt. Rhetorisch betrachtet gehört jene Redeform zum Bereich metaphorischen Sprechens; sie ließe sich mit Cicero auch als eine ausgedehnte Metapher, „continua metaphora“44 begreifen. Evoziert wird eine anschauliche Situation, das Kartenspielen, das dann, in einem Verfahren der Übertragung, dazu dient, einen anderen Sachverhalt, Sokrates’ Konfrontation mit den Sophisten, zu verbildlichen und zu erhellen. Das „Ich spiele nicht“ des ehrlichen Mannes wird dabei in einer erläuternden amplificatio45 zunächst erweitert und ausgemalt, bevor es auf die Haltung des Sokrates übertragen und damit wiederum reduziert, in der pointierten Formel des „Ich weiß nichts“ zusammengefasst wird. Das „Ich weiß nichts“ erhält durch diese Operation eine neue Akzentuierung: Es erscheint als eine Geste der Verweigerung und des Widerstands, durch die sich der Philosoph den etablierten Konventionen der Gelehrsamkeit entzieht. Sokrates’ Bekenntnis zur Unwissenheit erweist sich so als Entscheidung, nichts wissen zu können oder zu wollen. Hamanns Sokrates grenzt sich damit ab von der selbstgefälligen Pose eines vermeintlichen Wissens, von der Attitüde derjenigen, die von sich behaupten alles zu wissen bzw. alles besser zu wissen. Er tritt in die Rolle eines Außenseiters, der mit seinem „Ich weiß nichts“ aus der Ordnung des Wissens seiner Zeit aussteigt, sich aber damit zugleich auch gegen diese stellt. Die Aussage „Ich weiß nichts“, die Hamanns Sokrates zu seinem Wahlspruch macht, ist mithin keine ganz so schlichte und unbedarfte Rede, wie es auf den ersten Blick scheint. Sie ist vielmehr selbst eine rhetorische Operation, eine Figur der Untertreibung, des Kleintuns, durch die 43 Vgl. Ruben Zimmermann und Gabi Kern: Hermeneutik der Gleichnisse Jesu. Methodi-
sche Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte. Tübingen 2008.
44 Cicero: De Oratore III , 38–41. 45 Zur Figur der amplificatio vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (wie
Anm. 24), S. 220–223.
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der Sprecher seine begrenzte Kenntnis absichtsvoll herunterspielt und auf den Nullpunkt eines ‚nichts‘ reduziert.46 Der Autor bzw. Erzähler der Sokratischen Denkwürdigkeiten wie deren Protagonist machen sich also gleichermaßen Techniken und Strategien der Redekunst zu eigen. Dabei bedient sich Hamann rhetorischer Mittel nicht nur im Sinne des ornatus, um seinen Text eindrucksvoll zu gestalten. Der rhetorische Einsatz bestimmt vielmehr den Grundduktus der Darstellung. Wie oben bereits angedeutet, ist es insbesondere das Verhältnis von Erzähler und Protagonist, das durch rhetorische Verfahren modelliert wird. Der Erzähler benutzt rhetorische Mittel, um uns seine Hauptfigur in Relationen wechselnder Nähe und Distanz vorzuführen. Mal rückt er uns Sokrates näher, um gleichsam zur Identifikation mit diesem einzuladen, mal nimmt er wieder Abstand von ihm, indem er ihn als verschrobenen und merkwürdigen Sonderling entlarvt. Die Annäherung an den Protagonisten vollzieht sich dabei u. a. durch die Mittel der Emphase und Hyperbel, aber auch durch Metaphern und Vergleiche, während die Distanznahme von Sokrates vor allem durch die Figur der Ironie erzeugt wird. Nehmen wir etwa folgende Stelle: Ein Mann, der Geld zu verlieren hatte, und vermuthlich auch Geld zu verlieren verstand, den die Geschichte Kriton nennt, soll die Unkosten getragen haben unsern Bildhauer in einen Sophisten zu verwandeln. […] Die Reyhe der Lehrmeister und Lehrmeisterinnen, die man dem Sokrates giebt, und die Kriton ohne Zweifel besolden muste, ist ansehnlich genung; und doch blieb Sokrates unwissend.47
Die zitierte Beschreibung präsentiert einen paradoxen Befund: Trotz aller Anstrengungen und Aufwendungen, die zu Sokrates’ philosophischer Ausbildung aufgewendet werden, bleibt dieser unwissend. In der narrativen Entfaltung dieser paradoxen Sachlage lässt sich ein Wechselspiel von Identifikation mit und Distanznahme von der Sokrates-Gestalt beobachten. Durch das Possessivpronomen „unser“ wird zunächst ein Moment der Nähe zu Sokrates angezeigt. Demgegenüber wird durch die ungewöhnliche Wendung „Geld zu verlieren verstand“ ein Moment der Ironie und der Distanz signalisiert, das schon andeutet, dass hier 46 Dieses Spiel mit den Proportionen ist ein aus der Sophistik entlehnter Kunstgriff,
gehörte es doch zu deren Repertoire, das Große klein und das Kleine groß erscheinen zu lassen. Vgl. Christoph Eucken: Isokrates. Seine Position in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen. Berlin 1983, S. 270–271. 47 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 41; N II , 70.
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etwas schief gehen, dass die anvisierte Ausbildung des Schülers zum Sophisten misslingen wird. Das in lakonischer Kürze festgehaltene Fazit „und doch blieb Sokrates unwissend“ bildet sodann eine witzige Pointe, die zugleich ein Moment des Befremdens und der Verwunderung gegenüber dem Protagonisten erzeugt. Hamann bietet weitere Stilmittel auf, um die spezifische Eigenart seines Protagonisten herauszuarbeiten: Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakesspear die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort. Sokra tes hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte […].48
An der zitierten Stelle ist es die Figur des Parallelismus, die der gewagten Analogie von Homer und Shakespeare, die hier in zwei aufeinander folgenden, syntaktisch gleichartigen Fragesätzen zusammengeführt werden, Plausibilität verleiht. Als gemeinsamer Nenner, der die genannte Parallele motiviert bzw. legitimiert, fungiert die „Unwissenheit der Kunstregeln“, die zugleich auf die zuvor erörterte Unwissenheit des Sokrates verweist und so einen weiteren Zug der hier entfalteten Argumentation vorbereitet: Dieser besteht darin, das Paar Homer – Shakespeare um ein drittes Element zu erweitern und Sokrates mit den genannten Dichtern in eine Reihe zu stellen. Das verbindende Moment, das diese drei vereint, ist, so die Erläuterung, das Genie bzw. der Genius. Hamann greift damit einen Topos, ein geläufiges Erklärungsmodell der zeitgenössischen Dichtungstheorie auf, durch das man das naturhafte, aber regellose poetische Schaffen eines Homer oder Shakespeare zu erklären versuchte.49 Indem er Sokrates mit den genannten Dichtern in eine Reihe stellt, lässt er die Sokratische Philosophie zugleich in die Nähe der Dichtkunst rücken. Sokrates’ Philosophieren erscheint so als ein kreatives Tun, als ein dem poetischen Schaffen vergleichbares gestaltendes Hervorbringen. Dabei wird Sokrates’ Tätigkeit dem geläufigen Bild des Dichtergenies, das an der genannten Stelle aufgerufen wird, freilich nicht einfach assimiliert. Vor der Folie der suggerierten Ähnlichkeit wird vielmehr zugleich ein Unterschied markiert, der sprachlich in der Differenz von „Genie“ und „Genius“ zum Ausdruck kommt. Der Begriff des „Genius“ verweist auf die aus der antiken Tradition stammende Vorstellung eines persönlichen Schutzgeistes, eines göttlichen Wesens, das 48 Ebd., S. 55; N II , 75. 49 Vgl. Roger Paulin: Ein deutsch-europäischer Shakespeare im 18. Jahrhundert? In:
Shakespeare im 18. Jahrhundert. Hg. von dems. Göttingen 2007, S. 7–38, hier S. 22–24.
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den Werdegang eines Menschen begleitet.50 Dem römischen Konzept des Genius entspricht in der griechischen Mythologie und Philosophie der jenem verwandte Begriff des daimon, der ein übernatürliches, zwischen Göttern und Menschen wirkendes geistiges Wesen bezeichnet, dem mitunter eine schicksalhafte Bedeutung für das Leben eines Menschen zugeschrieben wird. Dem Genius-Mythologem kommt, wie Schmidt-Dengler in einer umfassenden Studie zu dessen Rezeptionsgeschichte gezeigt hat,51 in der Literatur der Goethezeit eine zentrale Rolle zu. Im weiteren Horizont der in jener Zeit verstärkt einsetzenden Antikerezeption wurde es zu einer Schlüsselfigur und diente als entscheidendes Bindeglied, das eine Verbindung „antiker Gottheiten mit christlichen Vorstellungen“ ermöglichte.52 Wenn an der zitierten Stelle von Sokrates’ Genius die Rede ist, so wird dabei, vor dem Hintergrund dieses weiten Bereichs antiker Geniusgestalten, eine spezifische Ausprägung jenes Konzepts aufgerufen – das berühmte daimonion des Sokrates, dessen Wirken als ‚innerer Stimme‘ des Philosophen in Platons Apologie eindringlich geschildert wird.53 Hamann geht es in seinem Rekurs auf das Motiv freilich weniger darum, es genealogisch oder begriffsgeschichtlich zu rekonstruieren; vielmehr nimmt er den Gedanken des sokratischen Genius auf, um ihn kreativ auszumalen und eigenständig weiterzuspinnen: Ob dieser Dämon des Sokrates nichts als eine herrschende Leidenschaft gewesen und bey welchem Namen sie von unsern Sittenlehrern geruffen wird, oder ob er ein Fund seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Kobold, eine hervorragende Idea seiner Einbildungskraft, oder ein erschlichner und willkührlich angenommener Begrif einer mathematischen Unwissenheit; ob dieser Dämon nicht vielleicht eine Quecksilberröhre oder den Maschinen ähnlicher gewesen, welchen die Bradleys und Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdanken haben; ob man ihn mit dem wahrsagendem Gefühl eines nüchternen Blinden oder mit der Gabe aus Leichdornen und Narben übelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wissen, am bequemsten vergleichen kann: hierüber ist von so vielen Sophisten mit so viel Bündigkeit geschrieben worden, daß man erstaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß seiner Selbst, auch hierinn so unwissend gewesen, daß er einem Simias darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen. Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen 50 Vgl. Werner Eisenhut: ‚Genius.‘ In: Der Kleine Pauly. Stuttgart 1967 (= Der Kleine Pauly,
Bd. 2), Sp. 741–742.
51 Wendelin Schmidt-Dengler: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in
der Goethezeit. München 1978.
52 Ebd., S. 10. 53 Vgl. Platon: Apologie des Sokrates 31 c–d, 40 a–c.
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an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.54
Bestimmendes Gestaltungsprinzip der angeführten Textpassage ist die Figur der Analogie, die, wie André Rudolph in einer grundlegenden Studie herausgearbeitet hat, für die Kompositionsweise der Sokratischen Denkwürdigkeiten, ja für Hamanns im Grenzbereich von philosophischem und literarischem Diskurs sich bewegendes Schreiben insgesamt bestimmend ist.55 In einem langen, beinahe überlangen Satz, der fast den gesamten zitierten Abschnitt umfasst, entwirft Hamann eine Reihe von Vermutungen und Hypothesen über Sokrates’ Genius, worin dieser bestehen könnte und was es mit diesem auf sich hat. Dabei haben wir es mit zum Teil einander widersprechenden Bestimmungen zu tun („Leidenschaft“ oder „Fund seiner Staatslist“, „Engel“ oder „Kobold“), die in dieser Zusammenstellung wenig geeignet scheinen, zu einem stimmigen Verständnis oder konsistenten Begriff der fraglichen Wesenheit oder Eigenschaft zu gelangen. Schließlich zieht Hamann immer abenteuerlichere Parallelen und Vergleiche heran, um der Eigenart des unterstellten Genius auf die Spur zu kommen: Apparate aus der zeitgenössischen empirischen Wissenschaft wie die Quecksilberröhre und Maschinen, die sich in eklatanter Diskrepanz zu dem bewegen, was man sich herkömmlich unter einem Genius vorstellen mag. Die hier entwickelte Charakteristik des Sokratischen Genius scheint nicht auf Ähnlichkeit oder Kongruenz mit dem zu beschreibenden Gegenstand zu zielen, vielmehr ruft sie als mögliche Vergleichsterme Dinge und Vorstellungen auf, die einen Eindruck des Heterogenen, des Unvereinbaren und Paradoxen hervorrufen. Diese Wirkung des sich hier entfaltenden Spiels mit Analogien hat André Rudolph treffend beschrieben: „Hamanns Text […] folgt einer analogischen Beziehungslogik, die durch Parallelismen, antistrophische Figurensysteme, ein Gegeneinander und paradoxales Zugleich von Begriffen gekennzeichnet ist.“56 Dabei ist das Verfahren der Analogie hier zugleich als eine Denkfigur und als rhetorisches Gestaltungsmittel zu begreifen;57 dem gedanklichen Wagnis der Zusammenführung des Inkongruenten korrespondiert der für Hamann charakteristische Stil eines gebrochenen, paradoxen und mitunter dunklen Schreibens. Denn ungeachtet der wiederholten 54 55 56 57
Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 12), S. 55–57; N II , 75. Vgl. Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit (wie Anm. 8), S. 156–160. Ebd., S. 156. Vgl. Maarten F. M. Hoenen: ‚Analogie.‘ In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (wie Anm. 15), Sp. 498–514, hier Sp. 498–499.
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Ansätze und Versuche, durch immer weitere Analogien und Umschreibungen die Eigenart des sokratischen Genius zu erfassen, lösen die genannten Ausführungen dessen Geheimnis nicht, sondern lassen es vielmehr umso rätselhafter erscheinen. Am Ende seiner ausgedehnten Überlegungen kommt Hamann noch einmal auf das zu seiner Zeit verbreitete und populäre Geniekonzept zurück, indem er dieses Motiv in einen Kommentar über seine Leser einkleidet, die damit implizit angesprochen werden: „Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.“ Mit dieser Bemerkung überlässt es Hamann dem Leser bzw. dessen Freunden, die durch das Attribut „von Genie“ als bessere, dem Autor des Textes überlegene Beurteiler der fraglichen Eigenschaft des Sokrates ausgewiesen werden. Dabei ist allerdings ein ironischer, womöglich leicht spöttischer Unterton der zitierten Äußerung nicht zu verkennen. Hamann weist mit dieser Beobachtung darauf hin, dass es offenbar keinen Mangel gibt an Leuten von Genie oder solchen, die sich dafür halten. Die Souveränität in der Einschätzung des Dichterphilosophen, die sich die Leser bzw. deren Freunde in ihrer supponierten Genialität und, damit verbunden, ihrer unterstellten Affinität zu ihrem Gegenstand zutrauen, ist, so gibt der Text unterschwellig zu verstehen, womöglich nur eine vermeintliche, angemaßte. Was hier ironisch beleuchtet und so zum Gegenstand der Kritik wird, ist dabei wohl weniger das Geniekonzept als solches denn vielmehr dessen inflationärer Gebrauch, der es zu einer bloßen Modeerscheinung verblassen lässt, zu einem abgegriffenen Wort, das seine ursprüngliche Aussagekraft verloren hat und schließlich nichts mehr bedeutet. Durch dieses ironische Spiel mit dem Leser macht Hamann auf die Differenz aufmerksam, die das populäre Geniekonzept von dem antiken Begriff des Genius unterscheidet. Bei letzterem haben wir es mit einem in semantischer Hinsicht starken Konzept zu tun, das sich seinen Bedeutungsreichtum und seine Aussagekraft gerade dadurch bewahrt hat, dass es sich einer eindeutigen Bestimmung entzieht. An dem genannten Beispiel lässt sich gut nachvollziehen, worin die spezifische Leistung von Hamanns ironischer Technik besteht: Sie lässt sich mit Eckhard Schumacher als eine „Kunst des Unterscheidens“ beschreiben,58 als ein Verfahren, das Unterschiede sichtbar macht und Abgrenzungen vornimmt. Darin zeigt sich überdies das Potential der Ironie, als ein Instrument der Kritik zu wirken – im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Worts krinein (‚unterschei58 Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Fried-
rich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000, S. 144.
Hamanns Redekunst
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den‘, ‚trennen‘), aus dem sich der Ausdruck Kritik herleitet. Die Arbeit der kritischen Betrachtung und Reflexion vollzieht sich dabei unterdessen nicht allein im Prozess des Schreibens und der Komposition des Textes; sie wird ein Stück weit als Aufgabe an den Leser weitergegeben. Denn mit dem Hinweis auf den „Leser von Geschmack“ verzichtet der Erzähler darauf, selbst ein Fazit zu ziehen und überlässt es stattdessen dem Rezipienten, den skizzierten Sachverhalt zu beurteilen. Auch hier macht Hamann von einer Figur Gebrauch, die er aus dem Baukasten rhetorischer Kunstgriffe entnimmt. Bei der erwähnten Bemerkung handelt es sich um eine praeteritio, eine Unterlassung.59 Der Erzähler erklärt ausdrücklich seine Absicht, keine weiteren Überlegungen zu Sokrates’ Genius mehr vorzubringen, d. h. bestimmte Gedanken auszulassen. Die praeteritio betont auf diese Weise die Unvollständigkeit des Gesagten, die semantische Offenheit der skizzierten Problematik. Die Frage der Sokratischen Eigenart wird so gewissermaßen als Aufgabe an den Leser weitergegeben, der zur Mitarbeit, zum Weiterdenken aufgefordert wird. In diesem Aspekt tritt ein charakteristischer Zug von Hamanns Schreiben hervor, den dieser auf einer grundlegenden Ebene mit der Ausrichtung der antiken Rhetorik teilt: Es handelt sich um ein auf einen Rezipienten bzw. Rezipientenkreis bezogenes Sprechen, das jenen anzusprechen, in den Fortgang der Rede mit einzubeziehen und mit ihm in einen Dialog zu treten versucht. Dies führt uns zurück zu dem eingangs erwähnten, den Sokratischen Denkwürdigkeiten gleichsam als Motto vorangestellten Zitat aus der Satire des Persius: „Quis leget haec?“ Offenbar, so legen die hier angeführten Beobachtungen nahe, setzt Hamann doch darauf, dass sein Essay über Sokrates Leser finden wird und womöglich solche, die bereit sind, seinen Text nicht nur zu lesen, sondern auch dessen rhetorische Kunstfertigkeit und Erfindungsreichtum zu genießen, sich auf dessen Widersprüche und paradoxe Wendungen einzulassen und sich mit dessen Herausforderungen produktiv auseinanderzusetzen. Der Rekurs auf Rhetorik stellt also, so lässt sich rückblickend festhalten, ein nicht wegzudenkendes, konstitutives Element von Hamanns Schreiben wie seiner Texte dar. Diese Präsenz und weitreichende Wirkung der Rhetorik tritt dabei insbesondere in den Sokratischen Denkwürdigkeiten in einem Kontext auf, in dem sie ein Stück weit befremdlich, ja paradox erscheint: Mit den rhetorischen Verfahrensweisen, die diesen Text gestalten, macht sich der Verfasser eine Technik zu eigen, die in historischer Hinsicht durch eben jene Sophisten entwickelt wurde, 59 Vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (wie Anm. 24), S. 435–436, § 882–
886.
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die auf der inhaltlichen Ebene der Erzählung als Gegenspieler des Sokrates firmieren. Hamanns Schreiben ist, so scheint es, nicht nur durch eine Form der mimetischen Annäherung an ihren Gegenstand, an Sokrates, charakterisiert. Sie bedient sich offenbar auch einer Strategie der „Mimesis und Mimikry“60 ihrer Gegner, indem sie deren Techniken aufnimmt und sie sich – freilich in anderer Erkenntnisabsicht und zu anderen Zwecken – zunutze macht.61
60 Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit (wie Anm. 8), S. 158. 61 In diese Richtung deutet auch Schumacher (Die Ironie der Unverständlichkeit [wie
Anm. 58], S. 150), wenn er Hamanns Arbeit an und mit seinen Gegnern eine konstitutive Funktion für dessen eigene Positionierung zuschreibt: „[Hamann] löscht den Gegner nicht aus, überwindet ihn nicht, sondern arbeitet mit ihm. Er benutzt, parasitär zitierend, den Gegner als Gegensatz, der für die eigene Position konstitutiv bleibt.“
Ildikó Pataky (Szentendre, Ungarn) „Sie wißen daß ich ein anderer Lavater in der Physiognomia des Styls bin“. Überlegungen zur Physiognomie des Stils anhand des Titelblattes der Kreuzzüge des Philologen
Wundert euch nicht, Jungfern und Junggesellen! daß ich zaubern, ein Buch in eine Person verwandeln [...] kann1
Bereits vor etwa 30 Jahren (1992) haben die Teilnehmer des sechsten HamannKolloquiums im Herder Institut zu Marburg einen Vortrag zu diesem Thema gehört. Klaas Huizing sprach über die Physiognomie des Stils unter dem Titel: Von Gesichtszügen und Kreuzzügen. Hamanns Physiognomik des Stils.2 Trotz der Übereinstimmung seiner und meiner Themenwahl zeigen die verschiedenen Annäherungsformen zum Thema doch gleicherweise das Wesen der Physio gnomik des Stils, dass nämlich der Stil einer Schrift – Poesie, Essay oder ein Kolloquiumsvortrag – niemals vom Habitus, von der Persönlichkeit des Autors zu trennen ist. Huizing konstatierte der Physiognomie gegenüber eine Abneigung im wissenschaftlichen (und philosophischen) Denken – so z. B. bei Hegel –, welche er auf das Misstrauen „gegenüber dem reinen Bedeutungsträger, dem ikonischen, intransitiven, unheimlichen oder magischen Aspekt des Ausdrucks“ zurückführte.3 Den Physiognomiker definierte er als ,Sammler‘, ,Magier‘ und ,Inszeneur‘, ausgehend von Walter Benjamins Schrift Ich packe meine Bibliothek aus. Er konzentrierte sich in seiner Analyse auf Lavaters Physiognomik, und so verstand er Hamanns Annäherung zur Physiognomie als Annäherung zur „Tota-
1 N II , 342,24–25 (Leser und Kunstrichter). 2 Klaas Huizing: Von Gesichtszügen und Kreuzzügen. Hamanns Physiognomik des Stils.
In: Acta 1992, 107–121.
3 Ebd., S. 107.
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lität wirklicher Erfahrung, hier: auf dem Gebiet der Schrift.“4 Als Sammler sei Hamann ein Sammler von Brocken, von Textbruchstücken und Zitaten. Ein Magus sei Hamann durchaus, der fremde Schätze sammelt und herbringt, um dem Kindlein zu huldigen. Und ein Inszeneur ebenfalls, als Poet, der die Bruchstücke, Turbatverse, disiecti membra poetae5 „in Geschick bringt“. Huizing hat damals Topoi aus Hamanns Werk gesammelt, vor das Publikum und „in Geschick“ gebracht sowie die Textstellen mit besonderer Rücksicht auf die Semiotik analysiert. Der Bezugspunkt meiner Analyse, Hamanns Beziehung zur Physiognomie betreffend, ist natürlich ebenfalls Lavater. Denn – obwohl Hamann bereits Anfang der sechziger Jahren als Physiognomiker des Stils liest und urteilt – der Ausdruck ,Physiognomie‘ kommt zu dieser Zeit in seinen Schriften und Briefen kaum, wenn überhaupt, vor. Erst nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente verwendet Hamann diesen Terminus öfter. Dass aber die Technik, die Methode der Physiognomie ihm schon früher nahe stand, beweist ein Zitat aus einem Brief an Johann Gotthelf Lindner aus dem Jahre 1762: „Schreiben an die Patrioten ist von Trescho. Kennen Sie das animal scribax nicht an der Pfote?“6 Betrachtet man eine ad hoc ausgewählte Stelle aus Lavaters Hamann-Schrift parallel zu unserem Zitat, werden überraschenderweise nicht nur die Unterschiede beider Texte, sondern auch ihre Ähnlichkeiten sichtbar. 14 Jahre später schreibt also Lavater: Die Welt ist seinem Blicke Wunder und Zeichen voll Sinnes, voll Gottheit! […] Im Auge ist gebiegner Lichtstral. Was es sieht, sieht’s durch, ohne Mühsame Meditation und Ideenreihung– Ist es dir nicht beym Blicke und Buge des Augenbraus, als ob es seitwärts oder von untenher schaue, und sich seinen eigenen Anblick gebe?7
Beide Zitaten machen wohl mit Absicht den Eindruck, dass sie ohne externe Informationen anonyme Objekte – ein Porträt oder eine Schrift – beschreiben. Hamann lässt keinen Zweifel daran, dass er Treschos frühere Autorschaft und Stil
4 5 6 7
Ebd., S. 111. N II , 198,34 (Aesthaetica in nuce). ZH II , 163,19–20 (an Johann Gotthelf Lindner, 24. Juli 1762). Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig, Winterthur 1776, S. 285.
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durchaus kennt. Aus nicht beschriebenen Stilmerkmalen schließt er darauf, dass Trescho der Autor des anonym erschienenen Textes ist. Im zweiten Fall lesen wir einen Text zu einem anonymen Porträt. Der Zielsetzung der Physiognomie gemäß würde man erwarten, dass Lavater die abgebildete Person ebenfalls nicht kennt. Alle seine Urteile werden ausschließlich aus den sichtbaren Zügen des Gesichtes, aus der Kleidung und der Haltung der Person geschlussfolgert. Man hat vielleicht ein wenig Zweifel; kennt man Lavaters Einleitung zum ersten Band, verschärfen sie sich. Man ahnt, dass der Autor über sein Objekt vielleicht nicht ausschließlich nach dessen Gesichtszügen urteilt und vielleicht Informationen über die dargestellte Person besitzt. Wenn man Lavaters Kommentar über seine Schrift in einem seiner Briefe an Herder liest, so verliert man alle Illusionen bezüglich der physiognomischen Methode: „Deinen herrlichen Hamann hab’ ich hie und da gewässert. Er kommt im zweiten Theile“.8 Doch über Hamann könnte man Ähnliches sagen, denn drei Monate vor dem Erkennen der ‚Pfote‘ von Trescho schrieb er schon an Lindner: „Der Diaconus hat 1 ½ Bogen über den Frieden drucken laßen; auch Pastoralmemoires. Letztere habe noch nicht gesehen; vermuthe selbige aber im Forstmannschen Geschmack. Erstere überschicke mit nächsten.“9 Hamann als Tierkenner! Ironischerweise wird Hamann ebenfalls an seiner Pfote erkannt, nämlich von Moses Mendelssohn, der den Autor der Kreuzzüge anhand des Stils mit dem Verfasser der Sokratischen Denkwürdigkeiten identifiziert.10 Mendelssohns Kritik des Stils beruht auf den Regeln der klassischen Stilistik, indem er vor allem Hamanns Dunkelheit und Weitschweifigkeit anspricht. Mendelssohn kommt also etwa Hegel zuvor, indem er betont, dass die Aufgabe eines regulativen Geschmacks ist, zwischen der Individualität des Genies und dem Auffassungsvermögen des Publikums zu vermitteln. Nach Mendelssohns Auffassung ist Hamann originalitätsabhängig und in diesem Sinne opfert er auf dem Altar der Originalität die Verständlichkeit. In seinem Antwortschreiben kritisiert Hamann dagegen die rationalistische Oberflächlichkeit dieser Argumentation. Er wirft Mendelssohn vor, den Geschmack vereinfacht und zum Mathematiklehrer des ästhetischen Durchschnitts verwandelt zu haben.11 Dadurch antwortet er ausweichend und lässt das wahre Problem unbeantwortet: Nämlich die Problematik, dass ein unversöhnlicher Gegensatz 8 Pfenninger und Lavater an Herder, 27. 2. 1776. In: Aus Herders Nachlaß. Ungedruckte
Briefe. Hg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. Frankfurt a. M. 1857, Bd. 2, S. 161. 9 ZH II , 147,23–24 (an Johann Gotthelf Lindner, 16. April 1762). 10 N II , 264 u. 272 (Beurtheilung der Kreuzzüge). 11 N II , 257–274 (Beurtheilung der Kreuzzüge).
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zwischen dem Anspruch nach Allgemeingültigkeit und den offensichtlich individuellen Geschmacksunterschieden besteht. Hamann nimmt dem Dutzendgeschmack gegenüber für das schöpferische Genie Stellung. „[D]och alle ästhetische Thaumaturgie reicht nicht zu, ein unmittelbares Gefühl zu ersetzen, und nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung.“12 Außer der Kritik von Mendelssohn sind noch zwei weitere Rezensionen der Kreuzzüge erschienen, die Hamann beantwortete. Bezüglich unseres Themas ist auffallend, dass unter ihnen der von Hamann wenig geschätzte Kritiker der Hamburgischen Nachrichten, Christian Ziegra, der einzige ist, der das Titelblatt des Bandes und gleichsam den Auftakt des Werkes als organischen Teil des Ganzen und des (im übrigen von ihm verachteten) Stils von Hamann betrachtet. Sowohl die Pan-Vignette13 als auch „ein sauberer Holzschnitt, der einen nach Noten singenden großen Hahn“14 darstellt, erwecken seine Aufmerksamkeit und seine Empörung.15 Warum – stellt sich die Frage – betone ich die äußerlichen Textelemente und die Paratexte, d. h. die peripheren Bauelemente des Textes? Ich denke, dass der Schlüsselgedanke von Hamanns Denken über die Physio gnomie des Stils erst 1787 in einem Brief an Jacobi erscheint: „Der Titel ist mir das Gesicht, und die Vorrede der Kopf, bey denen ich mich immer am längsten aufhalte und beynahe physiognomisire. […] Mir ist immer mehr, wie Dir am Anfange mehr als Ende gelegen“.16 Meine These ist, dass dieses bewusste physiognomische Denken über den Stil schon von Anfang an in Hamanns Autorschaft – sowohl als Theorie als auch als stilbildendes Mittel – präsent ist, und dass diese Lesbarkeit des Titelblatts vor allem für seine eigenen Werke gilt. Ein zum Gemeinplatz gewordenes Zitat zu unserem Thema aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten deckt den Beweggrund der Hamannschen Art der Analyse und der Gestaltung des Stils auf:
12 N II , 164,16–19 (Chimärische Einfälle). 13 N II , 246 (Hamburgische Nachricht). 14 N II , 249 (Hamburgische Nachricht). 15 Goethe betont ebenfalls, dass das Titelblatt sowie im allgemeinen die Bilder für
Hamanns Stil eine besondere Bedeutung hatten. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Bd. 14. Frankfurt a. M. 1986, S. 559. 16 ZH VII , 162 (an Jacobi, 27. April 1787).
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Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Ueberschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.17
Wie der Naturforscher und sorgfältige Ausleger schafft Hamann eine willkürliche Verbindung zwischen den zwei enigmatischen Sätzen, zwischen der delphischen Tempelinschrift: ‚Erkenne dich selbst!‘ und der ironischen Behauptung Sokrates’: ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘. Selbsterkenntnis und zugleich deren Grenzen, Naturforscher, Hermeneutiker und der Autor werden zusammengehalten – nicht nur aber diese Personen, sondern selbst Sokrates wird mit Hamann künstlich zusammengehalten. Wie es Andre Rudolph schreibt: „Hamann formuliert eine hermeneutische Regel und setzt das bedeutungsstiftende und textgenerative Potenzial dieser Regel umgehend ins Werk“.18 „Sinnlicher gemacht“ – nicht im figürlichen, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes – wird diese Theorie oder hermeneutische Regel bereits im nächsten Jahr. Auf dem Titelblatt der Kreuzzüge des Philologen werden der Titel, das Motto von Vergil, die Pan-Vignette und das Datum „künstlich zusammengehalten“. Diese Elemente (wie das Titelblatt selbst) stehen auf einem Grenzgebiet zwischen Bild und Text. Das Titelblatt wirkt visuell, steht als Bild vor uns, aber es enthält textuelle Elemente und ist von der Textualität nicht zu trennen. Die auf dem Titelblatt entstandenen scheinbar willkürlichen Verbindungen vermitteln – wie der Stil selbst – einen rein geistigen Inhalt, der versinnbildlicht wird. So werden die ansonsten nur schwer greifbaren Stilmerkmale Hamanns, vor allem die stetige und besonders komplexe Interreferenzialität zwischen den eigenen Textelementen sowie die Beziehung zwischen Hamanns und fremden Texten, seine Zita tionstechnik, die Adaptation seiner Lektüre oder die freien Assoziationen zwischen den Textelementen – die ein kompliziertes Textgewebe herstellen – durch wenige und gut durchschaubare Elemente des Titelblatts modelliert. Nicht nur Hamanns Schreibstil aber, sondern auch seine Denkweise – und der Kern seiner Persönlichkeit – wird so plastisch dargestellt. Deshalb werde ich die einzelnen Elemente des Titelblattes in ihren Beziehungen zueinander sowie zu den Texten des ganzen Bandes unter die Lupe nehmen. 17 N II , 71,25–31 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 18 Andre Rudolph: Satiriker unter sich: Lichtenberg – Nicolai – Hamann. In: Lichtenberg
Jahrbuch. Saarbrücken 2006. S. 86–100, hier: 87.
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Bevor wir uns aber die einzelnen Elemente des Titelblatts anschauen, müssen wir über ein Element reden, das gerade durch seinen demonstrativen Mangel weitere mögliche (Be)deutungen konstituiert. Auf dem Titelblatt erscheint weder der Name des Autors noch der Erscheinungsort. Und wir wissen: Die meisten Werke Hamanns erschienen ebenfalls anonym bzw. pseudonym – es geht also nicht um einen plötzlichen Einfall, sondern um einen konsequenten Standpunkt, um ein bewusstes Vorgehen. Um eine Einstellung geht es also, die exemplifiziert, dass die einzelnen – manchmal sogar abwesenden – Motive sich nicht eindeutig erklären lassen. Geht man den Gründen des erwähnten Vorgehens nach, ergibt die Analyse mindestens dreierlei Ergebnisse. Den ersten und offensichtlichsten Grund formuliert Hamann in einem Brief an Moses Mendelssohn: „Unter allen Eitelkeiten, die Salomo begangen, weiß ich keine größere, als seine Schwachheit, Autor zu werden.“19 Paradoxe Aussage eines Autors, die nur durch die Erklärung gerechtfertigt wird, dass für Hamann – und vielmehr für Salomon – Gott der erste und einzige authentische Autor ist. Hinter der Anonymität steckt also möglicherweise als schriftstellerische Intention die Demut, und gleichzeitig auch ein entgegengesetztes Motiv, das auf eine Art Hochmut oder, milder ausgedrückt, auf ein Auserwähltsein, auf eine Berufung verweist. Die Abwesenheit des Namens deutet auch darauf hin, dass der Autor nicht nur im eigenen Namen spricht, nicht seine persönlichen Meinungen mitteilt. Im Gegenteil: Seine Schrift ist eingegeben, inspiriert. „Ich fuhr […] in Lesung des göttlichen Wortes fort und genoß eben des Beystandes, unter dem dasselbe geschrieben worden, als des einzigen Weg den Verstand dieser Schrift zu empfahen, und brachte meine Arbeit mit göttlicher Hülfe, mit außerordentlich reichem Trost und Erquickung ununterbrochen den 21. April zu Ende.“20 Von dieser Zeit an schreibt er seinen Schriften eine Art Inspiriertsein zu, eine Eingebung wie bei der Bibel. Die Quelle dieser Eingebung ist sein Freund, der in seinem Herzen wohnt – Christus. Drittens kann die Abwesenheit des Namens als eine Geste der Zurückweisung des Establishments der künstlerischen und vor allem der literarischen Welt verstanden werden. Hamann passte sich nicht an die Gesetze der Gelehrtenrepublik an; die gewöhnliche Position im Dreieck von Autor-Leser-Kunstrichter verwarf er. Indem er die Konvention an einer Stelle aufhebt,21 jedoch im allgemeinen gelten lässt, ist er imstande, eine starke Behauptung aufzustellen. Seine Ansichten 19 ZH II , 143,19–20 (an Moses Mendelssohn, März 1762). 20 N II , 41,17–22 (Gedanken über meinen Lebenslauf ). 21 D. h. erhebend ungültig macht, behebt.
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über die verdorbene kulturelle Welt seiner Zeit hat er nach dem Erscheinen der Kreuzzüge in zwei Werken formuliert.22 Die Abwesenheit des Namens richtet den Blick – bei unserer Suche nach der Identität des Autors – auf die anderen Elemente des Titelblatts. Die Gesichtszüge, mit denen sie zu dem Porträt des unbekannten Autors beitragen, gewinnen so an Bedeutung.
Das Titelblatt der Kreuzzüge des Philologen Titel
Die sinnliche Form gibt uns als Zeichen Zeugnis über den inneren Menschen, über den Geist Gottes, der uns durch Gottes Atem in unsere Nase gehaucht wurde.23 Der äußere Apparat ist bei Hamann also ebenfalls als eine Projektion seines Textstils, als ein physiognomisches Gesicht zu verstehen. Aus der Bildlichkeit des Titelblatts führt er uns in die Sprache, in den Text hinein. Wie der Geist hinter dem Logos steht, und der Logos hinter der Welt, so bewegt sich das physiognomische Urteil zwischen den Sphären der geistigen und der materiellen Welt. Das Titelblatt, der Titel selbst, die Motti funktionieren als ein intermediäres Mittel, als ein Prisma, durch das die Bewegungen zwischen den oben erwähnten Sphären gebrochen und sichtbar werden und als eine wahrnehmbare Abbildung erscheinen. Im Folgenden werde ich an den Elementen des Titelblatts die physiognomische Methode Hamanns demonstrieren und die scheinbar „willkürlichen Verbindungen“ zwischen ihnen darstellen. Ich beabsichtige, die Richtungen aufzuzeigen, in die sie unseren Deutungshorizont ausdehnen können. Ich behaupte also, dass die Komposition des Titelblatts, indem sie die Komposition der Texte Hamanns 22 N II , 337,39–338,2 (Märchen von 1. May ) „[…] wo mir alle Lust vergieng meine ältere
Brüder, unsere neueste Kunstrichter und Schriftsteller einzuholen, die ihre Leser für Kinder halten –“ Fast wörtlich das gleiche steht auf dem Titelblatt der Schrift: Schriftsteller und Kunstrichter (N II , 329): „von einem Leser, der keine Lust hat Kunstrichter und Schriftsteller zu werden.“ So ist Hamanns Stil als Kritik der zeitgenössischen Literaturwelt und der von den Kunstrichtern – so auch von Mendelssohn – vertretenen Vorschriften zu verstehen. 23 Vgl. N II , 198,6–9. „Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns; –“ (Aesthaetica in nuce).
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Abb. 1: Titelblatt der Kreuzzüge des Philologen (1762)
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abbildet, Hamanns Gedanken, seinen Stil und seine Persönlichkeit versinnbildlichen. Über den Titel des Bandes Kreuzzüge des Philologen ist schon vieles, man könnte sagen, alles, gesagt worden. Es gibt vielerlei Interpretationen der einzelnen Wörter (des Kreuzzugs bzw. des Philologen) sowie der Wortfügung. Die Wortfügung (Kreuzzüge des Philologen) selbst scheint eine ad hoc gebildete (oder „willkürliche“) Verbindung zu sein. Unter den vielen Deutungen möchte ich zunächst die Erklärung Hamanns hervorheben, die er in einem Briefentwurf an Nicolai (und später an Mendelssohn und Lindner) beschrieb. In diesen Schriften behauptet Hamann, dass der Ausdruck ,Kreuzzug‘ auf eine Anekdote aus Michael Lilienthals Buch Das erleuchtete Preussen24 hinweist. Nämlich, dass die betrunkenen Ordensritter gemeinsam mit ihren Pagen im Rausch auf den Hügeln und in den labyrinthartigen Höhlen Preußens die Befreiung Jerusalems von den Sarazenen nachgespielt, und dies Kreuzzüge genannt hätten. „Durch welchen Spaß sie denn vermeineten, sich ihres Eydes entlediget zu haben.“25 „Provinzialscherz“ nennt es Hamann; aber diese Geschichte, wenngleich anekdotisch, führt uns gleich ins Zentrum der Ästhetik, zu der Frage des Scheins. Wie in der Erzählung die betrunkenen Ordensritter beschworen oder vergegenwärtigt haben, die von ihnen gewünschte Gestalt als Hülle (hergezaubert) anzunehmen und dann diese Hülle mit dem gewollten Inhalt zu füllen.26 Diese Handlung ist allgemein bekannt als ,Nachahmende Magie‘ und mag uns an Nietzsches Ansichten (aus der Geburt der Tragödie) über die Verbindung zwischen dem Ursprung der Kunst und dem des Scheins erinnern. Die meisten Schriften des Bandes sind als Streitschriften zu lesen, in denen Hamann von einem meist anachronistischen Standpunkt (als Verteidiger der Antike, des frühen Christentums oder vom Erbe Luthers) mit seinen jeweiligen Partnern diskutiert. Denkt man an die berühmteste anachronistische Figur der Literaturgeschichte, der noch dazu ein kreuzfahrender Ritter war, kommt man 24 Michael Lilienthal: Erleutertes Preussen Oder Auserlesene Anmerkungen ueber ver-
schiedene zur Preußischen Kirchen- Civil- und Gelehrten-Historie gehörige besondere Dinge: Woraus die bißherigen Historien-Schreiber theils ergäntzet, theils verbessert, auch viele unbekannte Historische Wahrheiten ans Licht gebracht werden, Tomvs I. Nebst denen dazu gehörigen Registern, Königsberg 1724. 25 Ebd., S. 723. 26 In den Schriften Hamanns wird diese Erklärung mit der berühmten Geschichte von Tarquinius Superbus fortgesetzt. Nach meiner Lesung will Hamann durch diese damit in Verbindung gesetzte Geschichte hervorheben, dass die symbolischen Taten – ohne genügend Offenheit – gar nicht oder nur missverstanden werden können.
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auf Don Quijote, den Ritter, der „als ein Fremdling im Gebiete der neuesten Litteratur“27 lebt und gegen Windmühlen kämpft. Diese Deutung unterstützt die Selbstinterpretation Hamanns als „sokratische[r] Don Quijote“.28 In diesem Sinne könnte man sagen, dass Hamann ebenso wenig Ritter wie Philologe im klassischen Sinne des Wortes ist. Aber der Philologe weist auch auf den Büchermenschen und auf den Menschen des Buches hin. Hamann könnte man ebenso gut Philologe nennen nach dem etymologischen29 wie dem lexikalischen30 Sinne des Wortes. Doch vom Autor des folgenden Zitates kann man kaum erwarten, dass er sich in der Weise der Philologen äußert. Die kräftigsten Irrthümer und Wahrheiten, die unsterblichsten Schönheiten und tödlichsten Fehler eines Buchs sind gleich den Elementen unsichtbar, und ich bekümmere mich um die am wenigsten, die man in Augenschein zu setzten im Stande ist.31
Es würde heißen, dass er die erkennbaren, definierbaren und trennbaren Elemente erkennt, definiert und trennt. Im Gegensatz dazu geht Hamann als Autor (als Textgestalter) und als Leser (als Hermeneutiker) von dem Gesamteindruck aus. Seine philologische und ästhetische Tätigkeit beginnt an dem Berührungspunkt mit der Geistlichkeit der Textstellen (gar Sprachen) und seine Erkenntnisse leitet er vom direkt wirkenden Stil ab. Der Satz: „[D]och alle ästhetische Thaumaturgie reicht nicht zu, ein unmittelbares Gefühl zu ersetzen“32 charakterisiert seine Einstellung. Die oben dargestellte Problematik des fehlenden Namens (bei anderen Titelblättern falsche Angaben des Erscheinungsortes) sowie die im 18. Jahrhundert bestehende Tendenz, die Aufgabe der Philologie in der Abschaffung der Dunkelheit zu sehen, setzen die Möglichkeit der Deutung des Wortes ,Philologe‘ als Klassischer- oder Fachphilologe in Klammern. Andererseits rechtfertigt aber Hamanns Vorliebe für die antiken Sprachen, die Genauigkeit, mit der er die antiken Autoren studierte und übersetzte, seine Selbstbezeichnung als Philologe. Diese Thematik erscheint auch in den Texten des Bandes (z. B. heilige Sprachen, das Problem der Übersetzung, die freie Wortfügung usf.). Er bleibt jedoch auf dieser Ebene nicht stehen; auch wenn er 27 28 29 30 31 32
ZH II , 141,7 (an Friedrich Nicolai, 21. März 1762). N III , 113,17–18 (Beylage zun Denkwürdigkeiten). Vgl. N II , 90–91 (Wolken).
Liebhaber des Logos. Philologe: Freund der Wissenschaften. N II , 164,6–9 (Chimärische Einfälle). N II , 164,16–17 (Chimärische Einfälle).
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diese Themen behandelt, zeigt er, dass diese lediglich die Oberfläche bilden. Mit dieser Methode können wir nicht das Wesentliche erreichen: „Ich schüttle jetzt den Staub der Werkstäte von meiner Feder ab, die zur Abwechselung nach einen Ausfall in das freyere Feld der Betrachtung und des Geschmacks wagen soll“33. Eine Art Spannung spürt auch Ilse Johanna Meyer, indem sie feststellt: „Obwohl es in dem Band nicht um Philologie im gewöhnlichen Sinn des Wortes geht, vermittelt das Druckbild des Erstdrucks, dass das Wort ,Philologie‘ für die Schrift am wichtigsten ist.“34 Meyer bezieht sich auf die folgende Passage aus der Beurtheilung der Kreuzzüge: Was sollen wir aber nun vom Geschmack des Philologen sagen? Erstlich deutet sein Name einen Liebhaber des lebendigen, nachdrücklichen, zweyschneidigen, durchdringenden, markscheidenden und kritischen Worts an, vor dem keine Kreatur unsichtbar ist, sondern alles liegt bloß und im Durchschnitt vor seinen Augen;35
Eine Paraphrase des Briefes an die Hebräer36 – die darauf hinweist, dass das Ziel des Philologen ist, die unsichtbaren Eigenschaften der Kreaturen sichtbar zu machen. Vielleicht ist der Titel durch seine Sinngewebe (Bedeutungslabyrinthe) doch eine Abbildung seines Stils, seiner Textkonstruktionsmethode?
Motto
Zwischen den zwei dominanten Elementen – dem Titel und der Pan-Vignette – steht ein Motto von Vergil.37 Es ist nicht sehr verbreitet, dass ein Motto auf dem äußeren Titelblatt steht. Seine ungewöhnliche Stelle rechtfertigt die Frage: Gehört das Motto zum Band selbst, oder nur zum Titelblatt? Da aber die Motive des Mottos in den Texten später häufig auftauchen, ist die Frage bereits beantwortet. 33 N II , 134,27–29 (Vermischte Anmerkungen). 34 Ilse Johanna Meyer: Provokation im Druckbild der Schriften Johann Georg Hamanns
(1730–1788). Dissertation. Ohio 1978, S. 133.
35 N II , 263,49–53 (Beurtheilung der Kreuzzüge). Vgl. Meyer: Provokation (wie Anm. 34),
S. 133.
36 Hebr 4,12: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zwei-
schneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“. 37 N II , 113. Vgl. N VI , 121: „auch andre Kriege wirds geben, / Wiederum wird gen Troia ein großer Achilles gesandt sein.“
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Wegen seiner Position und seiner Typographie könnte man meinen, dass der Text des Mottos eigentlich eine Fußnote zum Titel ist, ein lateinisches Zitat, in dem Achilles und Homer, ein Lieblingsautor Hamanns,38 erscheinen. Das Motto steht direkt unter dem Wort ‚Philologen‘ und verstärkt gleichsam dessen lexikalische Bedeutung (und als ob es wirklich Hamanns Ziel gewesen wäre, diese Bedeutung zu verstärken, gibt er gleich die genaue Quelle des Zitates an). Der Text selbst spricht aber über weitere Kriege; so ist es eher als die Fortsetzung der ,Kreuzzüge‘ anzusehen: Der Titel wird dynamisiert und durch ihn zeitlich aktualisiert; d. h. die Bedeutung des ,Philologen‘ verblasst, des ,Kreuzzuges‘ dagegen wird verschärft. Andererseits wird gerade die philologische Einstellung hervorgerufen, welche mit dem Akt der Auslegung zusammenhängt, wodurch wir allein fähig sind, solche Lesarten zu produzieren. So hebt das Motto die Wichtigkeit des Mitspielens, der Teilnahme hervor: Wir werden gerufen, das Auslegungsspiel mitzuspielen. Von diesem Gesichtspunkt her übernimmt das Motto sogar ein Stück von der Rolle des Rammbocks, die die Pan-Vignette darzustellen beabsichtigt. Der Leser wird herausgefordert, den gleichzeitigen sinnlichen und gedanklichen Impulsen nicht zu widerstehen, denn Hamanns Meinung nach ist dies – die sinnliche und intellektuelle Zusammenwirkung – die substanzielle Eigenart des ästhetischen Phänomens. Die vierte Ekloge Vergils ist als eine prophetische Schrift über das goldene Zeitalter des Messias gedeutet worden.39 Hamann hat nicht die Zeilen, welche diese Auslegung unterstützen, zum Motto gewählt, sondern die Teile, durch die das Motto mit der Thematik des Krieges zu verbinden sind.40 Einige Seiten später, im zweiten Motto der Schrift Die Magi aus Morgenlande kommt auch der genannte Teil vor.41 Man kann allerdings kaum behaupten, dass die zwei Zitate
38 „Homer bleibt immer der einzige Heldendichter für meinen Geschmack“ ZH II , 115 (an
Gottlob Immanuel Lindner, 28. August 1761).
39 Anlass für die Ekloge gab die Geburt des Sohnes von Pollio, der Vergils Patron und
Freund war. Der als göttlicher Junge besungene Sohn ist im Jahre des Kreuzestod Christi gestorben. Auch diese Tatsache war der Grund, warum diese Ekloge als Prophetie in der Literaturwissenschaft berühmt wurde („Sei nur dem werdenden Knaben, mit dem sich das eiserne Alter / Schließt, und die goldene Zeit aufsteiget / dem sämtlichen Erdkreis”). Vgl. Jes 7,14; 9,6–7; 11,6. 40 N II , 138 (Die Magi aus Morgenlande). In der kleinen Schrift betont Hamann, dass unsere Taten nur aus einem heilsgeschichtlichen, eschatologischen Gesichtspunkt wirklich beurteilt werden können. 41 N II , 138. Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem: Knäblein auf, und erkenn’ am Lächeln die Mutter.
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nichts miteinander zu tun hätten, und dass man bei der Auslegung des Titelblatts dieses Wissen nicht in Betracht nehmen müsste. Der Adressat der vierten Ekloge Vergils ist Pollio, von dem man weiß, dass er Kämpfer (Soldat) und Philologe in einer Person war, selber ein Büchermensch: Der Gründer der ersten öffentlichen Bibliothek in Rom. Ihn treffen wir noch im Motto vor den Chimärischen Einfällen.42 Er ist ein Urbild Hamanns (wie sein Sohn als ein Urbild Christi galt), und ein Vorbild für die Leser. Betrachtet man das Motto vor den Chimärischen Einfällen genauer, so entdeckt man darin die Tücher, welche im Motto vor der Aesthaetica in nuce erneut vor unseren Augen schweben.43 Der Text – auch wenn nicht die zitierten Teile – ruft nicht nur den Titel, sondern auch die Pan-Vignette in Erinnerung. Denn am Ende des Gedichts lesen wir über ein eigentümliches dichterisches Duell zwischen Vergil (mit Hilfe von Apoll)44 und Pan, indem sie „Wett singen“. Um die Wette gesungen wird auch in der Aesthaetica in nuce, wo in Sokrates’ und Michaelis’ Wettkampf der Letztere „auf schönen Eselinnen“ im Wettlauf siegt; solange „der weise Idiot Griechenlands […] Euthyphrons stolze Hengste zum philologischen Wortwechsel“ borgt.45 Denn die Poesie, wie auch die höchste Form der Philosophie, ist nur vorbereitendes Mittel vor dem goldenen Zeitalter; sie werden notwendigerweise vor einer göttlich inspirierten Rede verlieren. So ist der Wettlauf von Sokrates und Michaelis am Anfang der Aesthaetica in nuce zu verstehen. 42 „Marruciner Asinius, du benutzt deine linke Hand nicht schön […] Es entgeht dir,
du Alberner: Die Sache ist sehr gemein und wenig liebenswürdig. […] Glaube deinem Bruder Pollio, […] Er ist nämlich ein mit Liebenswürdigkeit und witzigen Einfällen vollgestopfter Junge. […] Denn Fabullus und Veranius haben mir Taschentücher aus Iberien geschickt: Es ist notwendig, dass ich diese liebe, wie mein Veranchen und Fabullchen.“ 43 „bunte gestickte Kleider zur Beute, gewirkte bunte Tücher um den Hals als Beute.“ (Ri 5,30). 44 Wie in der mythischen Geschichte singt Pan gegen Apoll um die Wette. Aber in jener Geschichte besiegt ein Gott den arkadischen Dämon, hier aber ein einfacher Sterblicher. („Pan – und wär sein Arkadien Richter, und stritte mit mir er, / Pan – und wär sein Arkadien Richter: er gäbe besiegt sich!“ Vergilius: Zeile 117–118.) Wie kann das sein? Vergil beschreibt das wegbereitende Zeitalter vor dem goldenen Zeitalter als das Reich des Apoll, der u.a. Gott der Poesie, der Musik und des Liedes ist. Er ist der Leiter des Chors der Musen auf dem Olymp (und als solcher wird er sogar in der Aesthaetica in nuce angesprochen und beschworen). Die Konklusion der Ekloge ist, dass der das prophetische Zeitalter ankündigenden Poesie sowohl die orphische als auch die von der Natur inspirierte apollonische (oder panische) Lyrik unterliegen müssen. 45 N II , 197,11–14 (Aesthaetica in nuce).
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Diese Überlegungen führen zu einer veränderten Pan-Deutung. Betrachtet man die ganze Ekloge Vergils, sieht man an der Abbildung des Pan den Sturmbock nicht mehr so scharf. Der Ersteindruck, welcher die Konnotation der Antike hervorruft, wird in christliche Symbolik transformiert, welche die antike Bildung immanent zu machen vermag (dies dem Titelblatt ähnlich, welches den Eindruck erweckt, dass es im Band um Fachphilologie geht; der Eindruck wird dann durch die Texte widerlegt). Das Titelblatt setzt durch die Pan-Vignette das Phänomen des Scheins in Gang. Indem es auf das verhüllende, tarnende Wesen der Maske hinweist, den Leser warnend, dass dieses Phänomen auch in Zukunft seine Aufmerksamkeit verlangen, und ihm für die Textauslegung geeigneten Spielraum öffnen wird.
Pan-Vignette
Für unser Thema hat die Pan-Vignette eine besondere Bedeutung. Einerseits, weil sie das einzige Bild auf dem Titelblatt ist (noch dazu eine Art Porträt!) und sich also als Objekt eines physiognomischen Urteils anbietet. Auch Hamann war sich dessen bewusst; in einem Brief an Lindner schreibt er: „Erschrecken Sie nicht, wenn Sie den Autor in effigie sehen werden.“46 Darüber, dass dieser Satz auf das Pan-Bild verweist und einen Identifikationsakt ausdrückt, besteht in der Forschung Konsens.47 Auch der oben erwähnte Kritiker Ziegra hat die Ähnlichkeiten zwischen Pan und Hamann bemerkt (wenn auch eher spöttisch gemeint).48 Diese Identifikation und – vielleicht sogar die physiognomische Entsprechung – war bei Hamann und seinem Umfeld bekannt;49 in einem weiteren Brief an Lindner schreibt er: 46 ZH II , 125,33–37 (an Johann Gotthelf Lindner, 19. Dezember 1761)„[…] so werde auch
crambem bis coctam zum Umschlage brauchen und Sie nachahmen, aber (nach meiner Art) unverschämter, alles zusammenraffen biß auf GelegenheitsGedichte und ein lateinisch Exercitium.“ 47 Z. B. Wilhelm Koepp: Der Magier unter Masken. Versuch eines neuen Hamannbildes. Göttingen 1965, S. 74. 48 Vgl. N II , 246,9–12: „Sie sind betittelt: Kreutzzüge des Philologen, und haben einen Holzschnitt auf dem Titul, das der Unterschrift nach den Pan vorstellt; aber nach der Muthmaßung des Herausgebers den Philologen in effigie oder seine schöne Natur etwa abbilden soll.“ (Hamburgische Nachricht – Christian Ziegra). 49 Dass seine Umgebung diese Ähnlichkeit erkannte, zeigt, dass z. B. Herder in mehreren Briefen an Hamann diesen „Pan“ nennt (z. B. ZH III , 30, von Herder, 2. Januar 1773; ZH III , 187, von Herder, 3. Juni 1775). Analog nennt ihn Jacobi in einem Brief an Lavater
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Aber sehen Sie doch den Pan, das allerliebste Gesicht recht an, und vergleichen Sie auf der Goldwaage Zug für Zug: ob er nicht nach dem Leben getroffen. Ja, werden Sie sagen, c’est le Pere tout craché – Nun, was wollen Sie mehr? die Rede war ja von Nachahmen: so hab ich also gewonnen, und der Preis gehört mir, nach dem selbeigenen Urtheil meiner Feinde.50
Andererseits spielte Pan, bzw. eine Silenmaske im altertümlichen Initiationsritus, und so im Selbsterkenntnisvorgang der Jünglinge, eine zentrale Rolle. Karl Kerényi beschreibt diesen Ritus anhand einer Wandschilderung in der Villa dei Misteri in Pompeji.51 In der Schalenrundung vernimmt der hineinblickende Jüngling nicht sein eigenes Gesicht, sondern eine Silenmaske, welche als Selbstbildnis auf einer höheren Stufe des Seins zu verstehen ist. Die Figur des Pan hängt an offenbaren und weniger offenbaren Fäden mit weiteren Elementen des Titelblatts sowie mit Textstellen des Bandes zusammen. Mit dem Thema ,Ästhetik‘ z. B. durch die Hässlichkeit, die Hamann im Horn auf der Stirn verkörpert sieht. Er bezieht sich öfters auf dieses Attribut des Pan. In einem bereits zitierten Brief an Lindner, in dem er Pan noch als „das allerliebste Gesicht“,52 dem Vater ähnlich (wie aus dem Gesicht geschnitten, wörtlich: ausgespuckt) bezeichnet, verbindet Hamann Pan mit dem großen Kunstrichter:
einen „wahre[n] Pan“ (zitiert nach Éva Kocziszky: J. G. Hamann és a modernitás kritikája. Budapest 2000, S. 213). 50 ZH II , 151,15–27 (an Johann Gotthelf Lindner, 7. Mai 1762): „Sagen Sie liebster Freund! ist mir nicht der Schnabel recht zum Kunstrichter gewachsen? Wie wenig kennen Sie mich, wenn ich für das erschrecken soll, was Sir mir noch bisher über meine Iuuenilia zu verstehen gegeben haben. Das ist noch alles Kinderspiel in Vergleichung desjenigen, was ich mir selbst in finstern Stunden vorpredige. Ich bringe darauf, daß Sie bis auf den letzten Tropfen ihr Urtheil abzapfen, damit ich die Nagelprobe so rein machen kann, wie man Treue und Glauben an den Alten unsern lieben Vorfahren lobt – “. 51 Karl Kerényi: Mensch und Maske. In: Eranos-Jahrbuch 1948. Bd. 16. Zürich 1949, S. 183– 208. 52 ZH II , 151,23 (an J. G. Lindner, 7. Mai 1762).
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Die aliena cornua fronti addita53 sind nichts als die Larve des Keiths54, die der kleine Geck von Näscher55 sich unterstanden hat, anzurühren. Und wenn er mir fragen wollte: wie er in dieser Löwenhaut aussähe? so würde ich ihm aus der Fabel antworten. Die Juden eyfern um ihre Religion56, aber mit Unverstand; doch der Kunstrichter schläft nicht, der das Verborgene ans Licht bringen und den Rath der Herzen offenbaren wird.57
Diese Beschreibung verbindet Pan mit dem Motiv des Erschreckens. Dies war das Ziel Friedrich Wilhelm I. bei der wirklichen Hinrichtung Kattes und der symbolischen („in effigie“) Hinrichtung Keiths: Er wollte seinen Sohn erschrecken, damit er den väterlichen Grundsätzen nie wieder sich zu widersetzen wagte.58 Auf der einen Seite erschreckende Masken und schreckliche Kriege – auf der anderen Seite aber Pan der Hirtengott und die vierte Ekloge als Exemplar der Hirtendichtung. Die Pan-Vignette hat also ambivalente Beziehungen zu den Elementen des Titelblatts; sakrale Bedeutung hat sie ebenfalls. 1784 (mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen der Kreuzzüge) in Golgatha und Scheblimini! schreibt Hamann: „Moses bleibt der grosse Pan, gegen den alle Pharaonen und 53 Vgl. N II , 193 (Näschereyen). 54 Keith wurde „in effigie“ hingerichtet. Peter Karl Christoph von Keith hat als Page mit
mehreren Kameraden (unter anderem Hans Hermann Katte) Friedrich II. bei seinem Fluchtversuch geholfen. Dieser Versuch wurde enthüllt, und die Täter zum Tode verurteilt (ausgenommen Friedrich II.). Katte wurde wirklich, Keith „in effigie“, symbolisch hingerichtet, da er fliehen konnte. Friedrich Wilhelm I. befahl, Friedrich II. müsse sich die Hinrichtung anschauen; Ziel war dessen Erschrecken. 55 Der Näscher mag Trescho sein. Seine anonym erschienene Schrift ist ein fingierter Brief an Friedrich II., im Namen Peter Karl Christoph von Keiths (Trescho: Brief aus den elysäischen Gefilden, von Keith. Königsberg 1762). Vgl. noch die Briefstellen: ZH II , 124 (an J. G. Lindner, 19. Dezember 1761); ZH II , 137 (an J. G. Lindner, 4. März 1762) und Johannes Sembritzki: Sebastian Friedrich Trescho. Diakonus zu Mohrungen in Preussen. Sonderdruck aus den Oberländlichen Geschichtsblättern. Heft VII . Königsberg 1905, S. 101–105. 56 Apg 17,5: „Aber die Juden ereiferten sich und holten sich einige üble Männer aus dem Pöbel“. 57 ZH II , 152,9–14 (an J. G. Lindner, 7. Mai 1762). Diese Geschichte ergibt natürlich nur Sinn, wenn man die Interpretation von Wilhelm Koepp akzeptiert (Koepp: Der Magier unter Masken [wie Anm. 47], S. 73) und Keith als Peter Karl Christoph Keith identifiziert, in dessen Namen Trescho seinen fiktiven Brief schrieb. 58 An den Affekt der Furcht denkt auch Hamann, der sich spätestens ab Mai 1762 über die Mehrdeutigkeit der Abbildung im Klaren ist: Dass also Pan nicht nur als der spielerische Naturgott erscheint. Sein schreckliches Äußeres bereichert die Deutung seiner Figur. – Hamann betrachtete die Abbildung des Pan auf jeden Fall ironisch (vgl. ZH II , 52,10–12, an J. G. Lindner, 7. Mai 1762).
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ihre Schwarzkünstler ganz und gar seruum pecus sind.“59 Moses als Bote Gottes hat die Thora aufgezeichnet, und so nach Hamanns Auffassung die göttliche Offenbarung (nebst den Büchern der Natur und der Geschichte) für uns Menschen wahrnehmbar gemacht. In diesem Sinne gilt also Moses als ein Vermittler zwischen Gott und Mensch – und wir wissen, eine ähnliche Funktion hatte auch Pan in der antiken Mythologie. In der Ikonographie des Mittelalters war diese Verbindung zwischen Moses und Pan allgemein bekannt, denn (wegen eines Übersetzungsfehlers in der Vulgata) wurde Moses ebenfalls mit Hörnern dargestellt. In 2 Mos 34,2960 „wird der hebräische Wortstamm קךן, der Lichtstrahlen oder noch öfters Horn bedeutet, in der Vulgata übersetzt: ,auf seinem Antlitz Hörner wuchsen‘. Die Künstler im Mittelalter, so auch Michelangelo, haben Moses deshalb – irrtümlicherweise – mit Hörnern dargestellt.“61 Wir wissen nicht, ob Hamann diese Verbindung damals vor Augen hatte, es ist aber anzunehmen, dass er, dem es auf seine „alten Tage eingefallen ist, noch griechisch zu lesen und hebräisch buchstabieren zu lernen“,62 – dass er diese Tradition ,des gehörnten Moses‘ kannte und sogar von jenem Übersetzungsfehler wusste.63 Es entsteht eine Spannung zwischen der auf dem Titelblatt dargestellten klassischen Ornamentik, Gliederung und Geschmack und dem Äußeren des Pan. Denn er ist erschreckend und komisch zugleich, seine Erscheinung erweckt Affekte der Ironie und des Pathos. Diese Ironie wird dann durch die einleitende Schrift des Bandes (Dem Leser unter der Rose!) deutlicher gemacht; dort heißt es: „weil ich kein Theolog bin […] sondern (mit Gunst zu melden!) ein Kühhirte, der wilde
59 N III , 309,24–26 (Golgatha und Scheblimini!). 60 2 Mos 34,29: „Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des
Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte.“ 61 Mózes öt könyve és a haftárák. Héber szöveg, magyar fordítás és kommentár. Hg. Von Dr. Hertz J. H. a Brit Birodalom Főrabbija. II . Exodus. Budapest 1984, S. 402. 62 ZH II , 141,7–9 (an Nicolai, 21. März 1762). 63 Lothar Schreiner erwähnt diese Interpretationsmöglichkeit in seiner Analyse zu der Stelle in Golgatha und Scheblimini! nicht (vgl. HHE VII , S. 121–125). Éva Kocziszky aber meint, dass Hamann von dieser Fehlübersetzung der Vulgata nichts wusste, sondern das Bild des gehörnten Moses einerseits aus dem Epos Dunciad von Pope, bzw. aus der Demonstratio evangelica von Huetius kannte (Éva Kocziszky: Pán, a gondolkodók istene. Budapest 1998. S. 202–205; vgl. Kocziszky: Hamann és a modernitás kritikája [wie Anm. 49], S. 24–25).
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Feigen ablieset – –“64 Wie Jörg-Ulrich Fechner formuliert: „ Die Lust des Autors an personalen Masken wird zur Aufgabe für den Leser […] Erst in der Begegnung mit dem erzählten Erzähler, der über etwas berichten wird, erfährt der Leser auch den Autor.“65 Die Wirkung der Pan-Vignette jedoch unterschätzte Hamann. Moser gegenüber beklagt er sich: Jedermann hat sich über die Façon des Satyrs oder Pans aufgehalten und niemand an die alte Reliquie des kleinen lutherschen Kathechismus gedacht, dessen Geschmack und Kraft allein dem Pabst- und TürkenMord jedes Aeons gewachsen ist und bleiben wird.66
Datum
Das Datum lässt Hamann mit römischen Ziffern drucken, die Zahlen mit Punkten gegliedert. Diese Gliederung taucht noch im Titel der Aesthaetica in nuce auf. Es trägt einerseits zur Vielfalt der Sprachen und Ziffern des Titelblatts bei (wie auch das Wort „ПАN“ unter dem Pan-Kopf, mit griechischen Buchstaben geschrieben) und weist auf den Titel (,Philologe‘) zurück. Das Datum setzt das Titelblatt in einen historischen Kontext, bezeichnet das konkrete Jahr mit all seinen Ereignissen und dem vorherrschenden Zeitgeist. Wir erfahren aus der Aesthaetica in nuce: Man kann allerdings ein Mensch seyn, ohne daß man nöthig hat ein Autor zu werden. Wer aber guten Freunden zumuthet, daß sie den Schriftsteller ohne den Menschen denken sollen, ist mehr zu dichterischen als philosophischen Abstractionen aufgelegt.67
64 N II , 115,8–10. Bereits im Motto auf der inneren Seite des Titelblatts zitiert Hamann
Salomon: Vgl. Pred 12,11. „[Die Worte der Weisen sind wie Stacheln, und wie eingeschlagene Nägel sind die einzelnen Sprüche,] sie sind von einem Hirten gegeben.“ 65 Jörg-Ulrich Fechner: Mien Man Hoam. Philologischer Steckbrief zu einem Pseudonym oder die Lust des Autors an der Maske. In: Insel Almanach auf das Jahr 1988. Hg. von Oswald Bayer, Bernhard Gajek und Josef Simon. Frankfurt a. M. 1987, S. 149–161, hier: 151. 66 ZH III , 67,10–14 (an F. C. Moser, 1. Oktober 1773). 67 N II , 201,8–11 (Aesthaetica in nuce).
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Wir Menschen sind in die Zeit gesetzt, können als Menschen von der Zeit, und als Autoren nicht von unserem menschlichen Wesen unabhängig sein. Hamann denkt natürlich nicht an die – von Lavater untersuchten – äußeren Züge, sondern daran, worauf die Buffonsche Formel „der Styl ist der Mensch selbst ganz und gar“68 hinweist: An das denkende, fühlende Wesen, an den geistigen Kern der menschlichen Persönlichkeit, die in der Schrift beziehungsweise in deren am anspruchsvollsten dargestellten sinnlichen Form, dem Buch, zum Vorschein kommen kann.
Die Schwierigkeiten
In meinem Vortrag ging ich von der Annahme aus, dass der Satz „Der Titel ist mir das Gesicht, und die Vorrede der Kopf, bey denen ich mich immer am längsten aufhalte und beynahe physiognomisire“, von Hamann als Leser formuliert, eigentlich aber metaschematisch zu verstehen ist. Metaschematismus hier nicht im ursprünglichen Sinne des Wortes, also als ‚umgestalten‘ oder ‚umdeuten‘, sondern in dem Sinne, wie es Hamann in der Nachschrift des Klaggedichts nach dem 1. Korintherbrief 4,6 verwendet,69 und zwar in dem Sinne: ,Im Blick auf sich selbst‘, d. h. über jemanden redend, aber auf sich selbst bezogen.
68 N IV, 424. 69 N II , 150,11–15.: „Wo der Schulweise Schlüsse spinnt, und der Hofsirach Einfälle näht,
ist die Schreibart des Liebhabers Leidenschaft und Wendung. Unter allen seinen Redefiguren bedient er sich am glücklichsten, so viel ich weiß, derjenigen, welche in den vertraulichen Briefen eines Originalautors Metaschematismus genannt wird.“ Vgl.: 1 Kor 4,6.: „Solches aber, liebe Brüder, habe ich auf mich und Apollos gedeutet um euretwillen, daß ihr an uns lernet, daß niemand höher von sich halte, denn geschrieben ist, auf daß sich nicht einer wider den andern um jemandes willen aufblase.“ (Ταῡτα δέ, ἀδελφοἱ, μετεσχημάτισα εὶς ὲμαυτὸν καὶ ῾Απολλϖν δι῾ ὑμᾱς) In einem Brief an Lindner beschreibt Hamann seine ambivalenten Gefühle nach dem Beenden des Klaggedichts, denn er weiß nicht, wie die Adressatin seines offenen Briefes (Katharina Behrens – N II , 145.: Meine K…) die Schrift empfangen wird (ZH II , 58; 17. Januar 1761). Er identifiziert sich mit David, mit dem Urvater der Kirchenmusik, und stellt zwei Optionen auf: Katharina wird entweder so reagieren wie Michal (auf die Leidenschaftlichkeit ihres Mannes – 2 Sam 6,16.: „Und als die Lade des HERRN in die Stadt Davids kam, guckte Michal, die Tochter Sauls, durchs Fenster und sah den König David springen und tanzen vor dem HERRN und verachtete ihn in ihrem Herzen“), oder im Gegensatz zu Michal: Wie Abigajil, also eine Wende auslösend (1 Sam 25). Hamann zieht also wieder Masken an: Nicht nur die der Liebhaberrolle, sondern auch des ironischen Kritikers –
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Ich habe also behauptet, dass der äußere Apparat der Hamannschen Schriften als die Projektion eines physiognomischen Gesichtes zu lesen ist, und dies bildet also seinen Stil ab. Denn jedes Element des Titelblatts ruft in den Gedanken – wenn man sie so liest – rhetorische oder stilistische Elemente, d. i. Gattungen, Begriffe, Motive und Emotionen hervor.70 Da es in diesem Fall um eine begrenzte Zahl der analysierten Elemente geht, führte diese Analyse zu einem verhältnismäßig klaren und einfachen Ergebnis. Die sprachliche Analyse der Sätze wäre viel komplexer und divergenter, aber auch schwerer zu fassen. Man kann ohnehin feststellen, dass nicht jeder Autor so zu lesen ist. Es gibt Autoren, die nichtssagende Titel wählen, z. B. Überlegungen zur Physiognomie des Stils, und andere, die auf den Umschlag des Buches nicht achten. Ich glaube also nicht, dass diese Methode das einzig geltende Porträt Hamanns aufzeichnen kann. Denn die Wissenschaft der ikonischen Semiotik, der Physio gnomik oder überhaupt die Identifizierung von Porträts kann schwierig sein und zu Missverständnissen führen; mindestens braucht sie geübte Augen, oder wie es Lavater ausdrückte „ein neues Auge“.71 Obwohl die bildliche Darstellung eines Autors kaum die Beurteilung seines Lebenswerkes beeinflussen darf, legen die Biographen oft großen Wert darauf, die von ihnen dargestellten geistigen Porträts mit Bildern zu illustrieren – oder (ich riskiere die Aussage): sie zu legitimieren. Josef Nadler versuchte z. B. bereits 1949 (also im selben Jahr, als er den ersten Band der kritischen Ausgabe vorlegte) in seiner Hamann-Biographie alle bis dahin auffindbaren Bildnisse Hamanns in seinem Buch zu präsentieren und zu dokumentieren. Gleich vor dem Titelblatt stand ein Porträt Hamanns, das als sein ,letztes Bild‘ bekannt war, und im Besitz der Königsberger Gelehrten-Gesellschaft war. Nadler formuliert seinen Zweifel über die Herkunft der Zeichnung. Er wisse nicht, ob das Bild von Sennewald stamme,72 der nach Zeugnis mehrerer Briefe im Jahre 1786 in Hamanns Haus den mit all ihren Vorteilen und ihrer Verantwortung. Vgl. Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Bd. II. Jena 1911, S. 500–509. 70 So z. B. der fehlende Name, die Problematik der Autorschaft, der Titel und die Pan- Vignette die Streitschriften (oder die Kritik über den Stil der verdorbenen Literaturwelt) usw. 71 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. I . Leipzig 1775, S. 159. 72 Dass Sennewald (bei Hamann Sennebald, vgl. ZH VI , 427 an Jacobi, 15. Juni 1786) Hamann wirklich porträtierte, schreibt auch Hamanns Sohn, Johann Michael an Hill. Zitiert nach Carl Hermann Gildemeister: Johann Georg Hamann’s, des Magus in Norden, Leben und Schriften mit Hamann’s Portrait, zwei Registern und Beilagen. Bd. III . Gotha 1857, S. 325.
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Abb. 2: Nach Nadler: Hamann (wie Anm. 73) ein angebliches Porträt Hamanns
Magus porträtierte, oder von Agathe Alberti, die 1787 in Berlin ein Bild gemalt hat. „Wir entscheiden uns für Agathe Alberti, wozu stimmt, daß Hamann im Hauskleide dargestellt ist“ sagt endlich Nadler.73 Aus dem Brief Johann Michael Hamanns an Hill wissen wir nämlich, dass Hamann 1787 in Berlin „seinen Fuß nicht über die Schwelle gesetzt“74 hat, und die abgebildete Person ebenfalls im Hauskleid ist. Nicht nur seine Kleidung aber, sondern die Qualität der Darstellung spricht für Alberti, denn wie Johann Michael schreibt: „Die jüngste Agathe hat Vater und mich gemalt und besser getroffen als Hr. Sennewald“.75 Nadler hat also die Zeichnung identifiziert und ist noch einen Schritt weiter gegangen in die Richtung der Kanonisierung, indem er auf dem Buchumschlag des vierten Bandes der kritischen Ausgabe ebenfalls dieses Porträt zeigt.
73 Josef Nadler: Johann Georg Hamann 1730–1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salz-
burg 1949, S. 509.
74 Gildemeister: Johann Georg Hamann’s des Magus in Norden (wie Anm. 71), S. 325. 75 Ebd.
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Die Wende – weniger auffällig – aber ehrlich und traurig zugleich, kommt im letzten Band der Nadler-Ausgabe zum Vorschein. Unter Vermischten Anmerkungen zum rechten Gebrauch des Schlüssels, beim VII. Punkt (unter dem Titel Gewinn und Verlust) revidiert er seine bisherigen Ansichten über die Zeichnung. Er schreibt: Sehr schmerzlich ist es mir, daß wir das Hamann-Bild verloren haben, das vor meiner Biographie und auf dem Umschlag des 4. Bandes meiner Ausgabe steht. Wir waren sehr stolz darauf.76
Nadler bemerkt weiterhin, dass er zur Zeit der Erwerbung des Porträts noch ein anderes angebliches Bild ausgeschieden hat, da er von seiner Echtheit nicht überzeugt war. Siegfried Sudhof aber „hat nun das wahre Modell dieses Bildes herausgefunden und wird darüber berichten“.77 Dies geschah auch 1960 im 34. Band der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literatur und Geistesgeschichte.78 In einem kurzen Artikel erzählt Sudhof, wie er das Bild erstmals im ersten Band von Lavaters Physiognomischen Fragmenten fand. Da Agathe Alberti beim Erscheinen dieses Bandes erst sieben Jahre alt war, stammt das Bild höchstwahrscheinlich nicht von ihr. Nicht nur die Datierung des Bildes erweckte seinen Zweifel, sondern „[d]er erläuternde Begleittext, den Lavater jeweils mit den Bildern seiner ‚Physiognomik‘ verbindet, enthält für das hier bezeichnete Bild (S. 196 f.) einige Stellen, die ganz und gar nicht zu Hamann passen“79. Sudhof demonstriert es mit einigen Sätzen: z. B. ,Kein großer, kein philosophischer Kopf; aber ein mächtiger, leichter, fertiger Geschäftsmann von vieler Feinheit, Klugheit und Wohlanstelligkeit. … Ich würde diesen Mann zu meinem Homme d’affaire wählen; er müßte meine Correspondenz, meine Rechnungen führen.80
Sudhof sah seine Ahnung oder vielmehr Überzeugung bestätigt, als er später in der Sammlung Lavater der Österreichischen Nationalbibliothek die Original-
76 N VI , XVIII . 77 Ebd. 78 Siegfried Sudhof: Ein Bildnis Hamanns? In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur-
wissenschaft und Geistesgeschichte Jg. 34. Heft 2. Stuttgart 1960, S. 244–248.
79 Ebd., S. 245. 80 Lavater: Physiognomische Fragmente (wie Anm. 70), S. 196-197. Sudhof, S. 245–246.
Hamann und Herder kannten das Bild. Herder schrieb am 25. August 1775 an Hamann: „H — e S 196. kenne ich nicht.“ (ZH III , 209,35).
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zeichnung (eine Kohlezeichnung) mit der eigenhändigen Bezeichnung Lavaters: „Hofrath Hartmann aus Stuttgard“81 fand. Mehrere Schlüsse können aus dieser Geschichte für unser Thema gezogen werden. Zum einen, dass die Deuter (oder Hermeneutiker) die am besten gelungenen Porträts von ihren Originalen – von der dargestellten Person – trennen können. So wird das Porträt – gewollt oder nicht – metaschematisiert, das Bild wird nicht mit seinem originalen Objekt identifiziert, sondern auf eine neue, fremde Person bezogen. Aufschlussreich ist auch, dass Nadlers Missverständnis auf philologischen Grundlagen basierte. Denn unter dem Bild (wie übrigens bei Lavater auch) steht der Text: „H……n.“. Und Nadler las, was er wollte.82 Als weitere Beweise begnügte er sich damit, dass er die Zeichnung dem Jugendporträt Hamanns ähnlich fand. So war es wirklich schwierig, der Versuchung zu widerstehen, den sensationellen Fund zu veröffentlichen. Es fiel ihm aber nicht ein, dass die Schrift unter der Zeichnung an Lavaters Praxis erinnert (wodurch Lavater eine quasi-Anonymität für die abgebildete Person sicherte), weil das Bild aus einem Band der Fragmente stammt. Diese Geschichte beweist nun, dass Hamann mit Recht als ,Physiognome des Stils‘ auftrat, und dass es für Germanisten, Philologen und Philosophen ebenfalls angemessener ist, sich mit der Physiognomie des Stils zu beschäftigen. Denn die Textelemente – und ihre Beziehungen zu einander – bieten uns ein lesbares Gesicht. Mit der Einschränkung, dass die peripheren Textelemente nur in Kenntnis des Lebenswerkes miteinander als zusammenhängende Gesichtszüge ein verhältnismäßig genaues Porträt bilden können. Die Physiognomen des Stils brauchen ein ,neues Auge‘, um die Texte so lesen zu können. Doch die Philologen, wie auch Hamann und Nadler, verstehen vielleicht mehr von Texten als von wirklichen menschlichen Gesichtszügen.
81 Sudhof: Ein Bildnis Hamanns? (wie Anm. 77), S. 246. 82 In Nadlers Buch ist der Text sogar mit der Handschrift ergänzt zu „Hamann“.
Eva Kocziszky (Veszprém, Ungarn) Licht, Stern, Sonne und Horoskop in Hamanns ‚opuscula der Finsternis‘. Eine metaphorologische Untersuchung
Man muß wieder Hamann lesen, um zu lernen, daß Geist aus Rissen und Sprüngen entweicht, daß alle klärenden kleinen Kleinmeister Langweiler sind, […] daß Leidenschaft, Drang, Affekt höchste Güter des Lebens sind […]. Ohne den Dunklen vom Norden kein Licht.1
1. Metapher und Metaphorologie Die Metapher hält man bis heute für ein unversöhnliches sprachliches Phänomen, das sich durch seine Widerstimmigkeit, durch die geweckten kontroversen Prädikationen, gegen das Verstehen stellt und dem Text eine verwirrende Offenheit verleiht. So verwundert es nicht, dass die Metaphern auch in den heftigsten Kontroversen des 18. Jahrhunderts eine Schlüsselrolle gespielt haben. Zum epistemisch wichtigsten, aber zugleich auch abgenutzten Feld in der Sprache der Aufklärung gehören die Lichtmetaphern, deren ausführliche Erforschung bekanntlich auf Hans Blumenbergs und Jacques Derridas Studien zurückgeht.2 Hans Blumenberg nannte die heliotropischen Metaphern von Licht und Sonne „absolute Metaphern“, deren philosophischer Sinn in Begrifflichkeit nicht aufgelöst werden kann. Solche absolute Metaphern bewirken in einem philosophischen Text „eine Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung korrespondieren
1 Botho Strauß: Wohnen, Dämmern, Lügen. München/Wien 1994, S. 194. 2 Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen
Begriffsbildung (1957). In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2000, S. 139–171; Jacques Derrida: Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1999, S. 229–290.
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kann.“3 Auch die vorliegende Studie zu Hamanns Lichtmetaphern tritt in die Fußstapfen der Blumenberg’schen Metaphorologie, indem sie nach der Funktion der Metapher für die theologisch-philosophische Kontroverse fragt. Da auch in den zu interpretierenden Texten die Unterscheidung von Metaphern und Begriffen nicht immer eindeutig möglich ist, könnte man einfach von einer Tropologie der Bildlichkeit sprechen, die in Wolfram Groddecks Wortgebrauch mehr eine Rhetorik des Lesens (anstatt einer Rhetorik des Schaffens) erfordert.4 Die Anfänge einer metaphorologischen Betrachtung der Sprache wurde von Blumenberg bei Herder angesetzt, der meiner Ansicht nach aber die Würdigung des Unbegrifflichen sicherlich von Hamann übernommen hatte.5 Aus diesem Grund widerspricht ein historischer Blick dem oben skizzierten theoretischen Rahmen meiner Untersuchung nicht. Zu Hamanns Zeit wurde die Metapher vor allem wegen ihrer Kürze und Prägnanz gelobt, so etwa in Klopstocks Traktat Von der heiligen Poesie (1753).6 Herder hält sie für ein bloßes Kleid, für eine Hülle.7 In der ästhetisch-philosophischen Sprache der Aufklärungszeit ist die Metapher eine Wortblume, ein Schmuck, ein Ornament. So etwa in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik oder noch eingeschränkter bei Kant, der der Metapher bloß eine illustrative Funktion anerkennt; ansonsten aber verdecke sie die Wahrheit. Dem jungen Hamann zufolge, der das Wort ‚Metapher‘ nur ein einziges Mal in einer Fußnote gebraucht, verleihen die Metaphern dem Text Sinnlichkeit, Anschaulichkeit und Lebendigkeit, sie wirken einem farblosen, allgemeinen 3 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Theorie der Metapher. Hg.
von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1996, S. 285–315, hier S. 289.
4 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. 2. Aufl. Frank-
furt a. M. 2008, S. 15 f.
5 Herder – wahrscheinlich durch Hamann angeregt – würdigte das Unbegriffliche und
kann somit für Blumenberg als Vorläufer einer metaphorologischen Auffassung der Sprache gelten. Vgl. insbesondere Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (1981). 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1983, S. 91 und 179; sowie ders.: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1979). In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften (wie Anm. 2), S. 193–209. Zur Anwendbarkeit einer metaphorologischen Untersuchung auf Herders Texte )im Sinne von Hans Blumenberg) siehe: Heinz Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Vol. 25. No 1, 1982, S. 88–114, besonders 89, 93. 6 Siehe Laura Benzi: ‚Schöne Unordnung‘ und lyrische Metaphern bei Klopstock. In: Tropen und Metaphern im Gelehrtendiskurs des 18. Jahrhunderts. Hg. von Elena Agazzi. (= Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 10). Hamburg 2011, S. 145–156. 7 Johann Gottfried Herder: Gott. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. Bernhard Suphan. Bd. 16. Berlin 1891, S. 505. Siehe hierzu Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001, S. 100 f.
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‚Licht‘ rationaler Begrifflichkeit entgegen. In einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 16. Juli 1759 erläutert er seine rhetorischen Prinzipien, über die er in Lichtmetaphern redet: Ich weiß nicht mehr, Liebster Freund, welcher an den Erklärungen ihrer Rhetorick alle Farben auslöschen, und sie dafür in reines Licht verwandelt zu sehen wünschte – weil ihm in den meisten ein figürlich Wort und uneigentliches Zeichen eines Begrifs zu seyn schiene. Wenn Sie diesen Fehler an meinen Perioden, an einigen ausgesuchten, heben und ihnen das tropische, das dichterische, und schwärmerische abschälen – sie in reine, flüßige, deutliche – aber nicht sinnliche, sondern bloß den Verstand überzeugende – auch nicht pathetische und herzliche – sondern sanft küzelnde und die Oberhaut des Herzens gleichförmig berührende Curialien übersetzen könnten: so wäre dies ein recht freundschaftlich Sendschreiben an Ihren alten Zuhörer.8
Der angeführte Brief polemisiert gegen die Rhetorik des Freundes, gegen die Anweisung zur guten Schreibart,9 in der die Tropen mit besonderer Argwohn behandelt werden. Lindner warnt die Autoren insbesondere vor der Metapher, um nicht „zu poetisch“ zu werden. Sollten sie sich trotzdem dieses gefährlichen Tropus bedienen, dann müssen ihre Bilder „klar“, rational nachvollziehbar und ihre Bildlichkeit nur noch „von ehrbaren Dingen her“ nehmen.10 Nichts steht dem Autor Hamann ferner als ein solches Stilideal: Er bekennt sich zu seinem exzentrischen Stil, den er im angeführten Brief mutig „tropisch“, „dichterisch“, „schwärmerisch“ und im Sinne von Longin „pathetisch“ nennt. Somit entwirft er – 15 Jahre vor seinen viel zitierten Fußnoten zu Buffon – die Umrisse seines eigenen Stilbegriffs, den er später „stylus atrox poetischer Bilderschrift“11 nennen wird. Ohne die Interpretationsmöglichkeiten des vieldiskutierten Begriffs des Stylus atrox vertiefen zu wollen, wird hier aus Hamanns Selbstdeutung bloß seine Bestrebung nach poetischer Bildlichkeit hervorgehoben. Wie aus der Forschung bekannt weisen auch andere Textstellen aus Hamanns frühen Schriften darauf hin, dass er die Tropen wegen des in ihnen wohnenden sinnlich wahrnehmbaren 8 ZH I , 372,15–24. 9 Hamann besaß ein Exemplar. Siehe Biga 161/528; N V, 100. 10 Johann Gotthelf Lindner: Anweisung zur guten Schreibart überhaupt, und zur Bered-
samkeit insonderheit. Königsberg 1755. Repr. Kronberg 1974, S. 34.
11 N IV, 421, Fn. 6. – Zum stylus atrox vgl. Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und
Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, S. 232.
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Kerns schätzt, und ihnen epistemischen Erkenntniswert zuweist. Tropen gehören darüber hinaus zum ureigenen, wesentlichsten Kern der Sprache, der – wie es in den viel zitierten ersten Passagen seiner Aesthaetica in nuce formuliert wird12 – Poesie war, und wodurch sie auch nie vollkommen rationalisierbar und ‚aufklärbar‘ bleibt. In einem späten Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 22. April 1787 schreibt Hamann vom labyrinthischen Charakter der klaren und der dunklen Begriffe: Ich traue eben so wenig den deutlichen als dunkeln Begriffen; man kann sich durch beyde hinters Licht führen lassen; denn Finsternis ist wie das Licht, wie der Psalmist sagt. Ich suche nach dem Faden, der mich in das Labyrinth geführt, um wider herauszufinden.13
Die Sprache führt uns in ein Labyrinth von nur scheinbar deutlichen Begriffen hinein, in dem „Finsternis wie Licht“ sei – so zitiert Hamann dekontextualisiert den 139. Psalm14 und verwandelt dadurch die Aussage des Psalmisten zu einem unversöhnlichen Paradoxon: In diesem Labyrinth der Sprache sei das Dunkle, das Unverständliche, das Unbegreifliche zugleich greifbar, und das Klare, das Bekannte verliere zugleich seinen Sinn und werde somit „dunkel“. Es gelte also nicht die klassische hermeneutische Unterscheidung zwischen einem dunklen und einem klaren Wort, das dunkle erscheine zu gleicher Zeit klar wie das klare dunkel. Anscheinend revidiert hier Hamann sein hermeneutisches Prinzip aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten. Dort stellt er ja ganz im Sinne der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts fest, Sokrates habe in seiner Heraklit-Lektüre das von ihm Verstandene vom Nicht-Verstandenen getrennt.15 Nun denkt er aber, das Verstehen sei ein weit schwierigeres Unterfangen, in dem man keine klaren Unterschiede von den dunklen und einleuchtenden Textstellen machen kann, da manchmal gerade das scheinbar Verstandene dunkel bleibt. In einem Brief an Kant, der nur einige Tage vor dem zitierten, das heißt ebenfalls im April 1787 verfasst wurde, spricht Hamann von der Wahrheit, die ausschließlich durch sinnliche Gleichnisse und Parabeln ans „Licht“ gebracht werden kann:
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„Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.“; N II , 197. ZH VI , 512,34–37. Ps 139,12. N II , 61,23–27.
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Die Wahrheit muß aus der Erde herausgegraben werden, und nicht aus der Luft geschöpft, aus Kunstwörtern – sondern aus irrdischen und unterirrdischen Gegenständen erst ans Licht gebracht werden durch sinnl. Gleichniße und Parabeln der höchsten Ideen und transcendenten Ahndungen, die keine directi sondern blos reflexi radii seyn können […].16
Hamann benutzt in der angeführten Passage die archäologische Metapher des Ausgrabens: Unterirdischen Gegenständen gleich sollten Wahrheiten ans Licht gebracht werden. Es sind die Tropen, genauer Gleichnisse, Parabeln und transzendente Ahnungen (die vielleicht nahe dem Unsagbaren wären), durch welche diese ausgegrabenen Dinge zum Vorschein kommen und als Wahrheiten reflektiert werden können. Daher lassen sich Wahrheiten nie selbst mit dem Licht gleichsetzen; ihr vermeintliches Licht sei ja kein Sonnenstrahl, kein direktes, sondern nur vermitteltes Licht, das sich durch Gleichnisse, durch Metaphern, durch Parabeln widerspiegelt. Die ans Licht gebrachten Wahrheiten bewahrten immer ihren Bild- bzw. Gleichnis-Charakter, entgegnet Hamann einem imaginären Wolff oder Herder; er wendet sich gegen den ‚falschen‘ Glauben an natürliche Wahrheiten, dessen Proklamation auf Giordano Bruno zurückgeht und der im Gefolge eines John Locke die meisten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts erfüllte. Diese aufklärerische Idee, nach der das Licht – wie Blumenberg formuliert – „absolute Seinsmacht [sei], die die Nichtigkeit des Dunkels enthüllt,“17 wird von Hamann nicht angenommen. Er stellt ihr die biblische Unterscheidung zwischen einem ewigen und einem geschaffenen Licht entgegen. Deren Differenz liege in der eigentümlichen Trennung, die der biblische Schöpfungsbericht zwischen dem Ursprung des „Lichts“ am ersten Tage und dem „Leuchten“ am vierten Tage vornimmt. Hamann geht davon aus, dass es ein geschaffenes Licht gibt, das unser Auge sieht, und ein anderes, höheres, geistiges Licht, das das Auge nicht sieht. Er erläutert seine Auffassung vom richtigen Gebrauch der Lichtmetaphern in einem Brief an Lindner wie folgt: Der Tod ist der grosse Lehrer, den wir uns wünschen, wenn wir um Licht schreyen; wenn er Sonn und Mond auslöscht unsern irrdtschen und fleisch lichen Augen, die kein ander Licht als dies erschaffene erkennen wollen: so wird ein höheres, geistiges ewiges Licht aufgehen, wo alle Flecken zu Sonnen, und alles gemalte Licht hier zu Schatten werden wird.18
16 ZH VII , 159,11–14. 17 Blumenberg: Licht (wie Anm. 2), S. 140. 18 ZH II , 73,12–17 (an Johann Gotthelf Lindner, den 21. März 1761).
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Das geistige Licht wird in den frühen Schriften Hamanns kaum mit der Sonne versinnbildlicht, da diese nur vermittelt, reflektiert, widergespiegelt erfahrbar ist; so sei auch das Sprechen einer Sonnenfinsternis ähnlich, die nach der exemplarischen Formulierung der Aesthaetica „in einem Gefäße voll Wassers in Augenschein genommen wird.“19 Es ist also einerseits diese Reflexivität und Vermitteltheit, welche die heliotropischen Metaphern Hamanns von der Lichtrhetorik der früheren Aufklärung trennt. Man erinnere sich nur an das Philipp Sidney gewidmete Spaccio de la bestia trionfante von Giordano Bruno, wo die absolute Metapher der Sonne für die Evidenz von Wahrheiten steht,20 oder an René Descartes, der in seinen Meditationen an der Schönheit des natürlichen Lichts der Sonne das göttliche Prinzip der Vernunft erkennt.21 Andererseits erachtet der Magus, dass die Anbetung des ‚natürlichen Lichts‘ bzw. des ‚Lichts der Vernunft‘ eine neue philosophische Religion sei, der er nicht folge: Durch Analyse und Synthese nämlich, durch die Resultate […] aller theoretischen und practischen Erkenntnis […] entsteht das außer- und übersinnliche oder transzendentale Licht der Vernunft (von welchem Lichte, Grund und Logos unsere heutigen Apostel in ihren Opusculis profligatis predigen, daß es alle Menschen erleuchte […].
Diesen vermessenen „Opusculis“22 stellt Hamann seine opuscula „der Finsternis“23 entgegen.
19 N II 199, 11–12. 20 Derjenige sei „blind“, der „die Sonne nicht sieht, töricht, wer nichts von ihr weiß,
undankbar, wer sie nicht verehrt: so strahlend ist das Licht, das ihr entströmt, so unermeßlich das Gute, das sie verbreitet, so reicht die Wohltaten, die sie spendet – sie, die Lehrerin der Sinne, die Mutter der Grundstoffe, die Urheberin des Lebens!“; Giordano Bruno: Die Vertreibung der triumphierenden Bestie. Berlin/Leipzig 1904, S. 1. 21 „Ich will mich hier eine Weile bei der Betrachtung Gottes aufhalten, seine Eigenschaften bei mir erwägen und die Schönheit dieses unermeßlichen Lichtes, soweit es der Blick meines gleichsam geblendeten Geistes aushält, anschauen, bewundern und anbeten.“ René Descartes: Meditationen. Hamburg 1965, S. 31. 22 N III , 218,8–12. – Schonhoovens Kommentar zufolge sind „opuscula profligata“ als „vermessene Schriften“ zu verstehen; HHE V, 200. 23 ZH VI , 137,4 (an Friedrich Heinrich Jacobi, den 13. November 1785).
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2. ‚Opuscula der Finsternis‘ Einer weit verbreiteten Ansicht nach, die auch der Hamann-Bewunderer Isaiah Berlin teilte,24 gehören die Philosophen in zwei Klassen: Einige außergewöhnliche, allen voran Sokrates, stacheln auf, sie setzen sich mit aller Wucht gegen das Geläufige, gegen fest gewordene Ideen und versteinerte Formen des Wissens, des Denkens und der institutionellen Einrichtungen; andere hingegen streben eher eine ‚Normalisierung’ an, die das verlorene Gleichgewicht und die Kontinuität mit der Tradition wiederherstellt. Hamann gehört ganz eindeutig in die erste Klasse und seine Diskussionspartner wie Herder oder Mendelssohn in die zweite. Diese grundlegende Differenz zeigt sich auch in der Vehemenz und im Stil der späten Kontroversen Hamanns, in denen die Dialogpartner aus der anderen Klasse der Philosophen stammen. In seiner leidenschaftlichen, paroxystischen Polemik gegen Moses Mendelssohn führt Hamann seine bewährte Strategie weiter, die auch seine Metakritik fundiert: Er übt eine – wie Lavater erschrocken bemerkt – „schwertscharfe“25 Sprachkritik an Mendelssohns Werk. In Mendelssohns Jerusalem oder über die religiöse Macht des Judentums (1783) wurde nämlich die Offenbarung des Alten Testaments als Universalie eines nominalistischen Sprachgebrauchs, das heißt historisch bedingte Zeichensetzungen aufgefasst.26 Hamann, der anders als sein Zürcher Freund Mendelssohn nicht zum Christentum bekehren will und vom Glaubensstreit auch wenig hält, sieht darin den Missbrauch und der Entwertung der Sprache: Der Mißbrauch der Sprache und ihres natürlichen Zeugnisses ist also die gröbste Meineyd, und macht den Übertreter dieses ersten Gesetzes der Vernunft und ihrer Gerechtigkeit zum ärgsten Menschenfeinde […].27
24 Isaiah Berlin: Wider das Geläufige. Frankfurt a. M. 1994. 25 ZH V, 245 (Johann Caspar Lavater an Hamann, den 27. Oktober 1784). 26 Die ‚sprachpolitischen‘ Aspekte der Auseinandersetzung hat Grit Schorch eingehend
analysiert; Grit Schorch: Carl Schmitt und die Hamann-Mendelssohn-Kontroverse. Ein sprachpolitischer Austausch in Hobbes. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62/2 (2012), S. 147–174. – Zur Theorie des Eigennamens bei Hamann siehe außerdem Knut Martin Stünkel: Leibliche Kommunikation. Studien zum Werk Johann Georg Hamanns. Göttingen 2018, S. 122–136. 27 N III , 301,28–31.
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In beiden Streitschriften Hamanns, in Golgatha und Scheblimini und auch im Fliegenden Brief, dreht sich alles um das „Recht […] des Worts“,28 um die richtigen Metapher, die mit ihrer kognitiven Würde zur wahren Erkenntnis führt, und um die richtigen Namen, insbesondere um den Namen ‚Jerusalem‘, die des Wesen des Benannten wahrheitsgemäß wiedergeben sollen. Bereits mit dem Motto aus Horaz’ Ars poetica deutet Hamann sein Anliegen an, die Frage nach der wahrhaftigen Benennung in den Mittelpunkt seines Fliegenden Briefes zu stellen. Er zitiert den Passus, in dem Horaz Homer würdigt, weil er von der Muse die Benennung des Helden verlangt: [Dic mihi, Musa, virum] […] Non fumum ex fulgore, sed a fumo dare LVCEM Cogitat – – –
Zeig mir, nenne mir Muse den Mann, der „nicht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will geben.“29 Der Akt der richtigen Namengebung bezieht sich – nebst der Stadt Jerusalem – in Hamanns Schrift auch auf einen Helden, dessen gewöhnlicher Name im ganzen Text ungesagt bleibt, auf den aber alle Metaphern vom Licht des Tages und der Nacht hinweisen sollen. In diesen zwei letzten Schriften betrachtet sich der Autor in erster Linie als Poet und als ein Verliebter und anerkennt somit, dass solche unterschiedlichen Autoren aneinander vorbeigehen können. Er greift hier die Lichtmetaphorik wieder auf, um die Streitpositionen schwarz und weiß aufzuzeigen. Auf der einen Seite seien die Berliner Aufklärer, die Spinozisten, die „inhumansten Barbaren“, die als „Engel des Lichts“ auftreten,30 zu ihnen gehöre auch derjenige Mendelssohn, den Hamann zuvor „Salz und Licht unter seinem Geschlecht“ genannt hatte,31 jetzt aber als „Mückenfänger und cartesianische[n] Teufel im Gewande des mathematischen Lichtes“ apostrophiert.32 Die drastischen Bezeichnungen beziehen sich auf Mendelsohns Preisschrift Über die Evidenz metaphysischer Wissenschaften (1764), 28 N III , 301,23. 29 Ich zitierte hier die Übersetzung des Mottos zum Fliegenden Brief nach dem Kommen-
tar zu: Johann Georg Hamann: Fliegender Brief. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Janina Reibold. Bd. 2. Anhang. Einführung, Kommentar, Dokumente. Hamburg 2018, S. 51. 30 ZH VI , 152,5–6 (an Friedrich Heinrich Jacobi, den 28. November 1785); ZH IV, 130,36 (an Johann Friedrich Hartknoch, den 8. November 1779). 31 ZH IV, 5,2 (an Johann Caspar Lavater, den 18. Januar 1778). 32 ZH VII , 181,8 (an Friedrich Heinrich Jacobi, den 27. April–2. Mai 1787).
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in der sich Mendelssohn mit der symbolischen Repräsentation metaphysischer Begriffe anhand mathematischer Kriterien befasste.33 Im Streit mit einem „Engel des Lichts“ oder einem „Lügner“, greift Hamann mit den Metaphern von Mond, Sterne und „Horoskop“ zur Naturschrift des Himmels. Seit seiner Aesthaetica war Hamann ja durch Robert Lowth angeregt, in der anfänglichen, poetischen Bildlichkeit der Sprache einen vorbabylonischen Zug zu erkennen. Er bekennt sich zur „Bildlichkeit der Sprache“, weil – wie Wolfram Groddeck in seiner Rhetorik formuliert – sie „eine ursprüngliche, aber immer schon verloren geglaubte Einheit von Res und Verbum“ beschwört.34 Hamann, ansonsten Nominalist, beruft sich auf die Schrift des Himmels, die bereits für Abraham zuverlässiges Medium der Verheißungen Gottes war. Mit der Berufung auf die Naturschrift greift Hamann seine Ansicht aus der Kontroverse mit Kant wieder auf: Über seine Verzweiflung an der metaphysischen Sprache schreibt er ja 1784 an Herder, dass diese Sprache „so dunkel, verwirrt und öde“ sei, dass sie im „Thau einer reinen Natursprache widergeboren werden muß.“35 Hamann intensiviert seinen kämpferischen Anspruch auf eine elementare Natursprache und nennt sie „Seelenschrift“ und „Horoskop“. In der Metapher der „Seelenschrift“ wirkt Hamanns grundfeste Überzeugung, dass das Christentum älter als das Judentum sei, da alles in Christus und durch Christus geschaffen wurde: „Sollte das Christentum nicht älter als das Heidentum und Judentum seyn […].“36 „Horoskop“ versinnbildlicht hingegen den von Hamann bezeugten prophetischen Charakter des Alten Testaments: „Mit einer so vernehmlichen, unauslöschlichen, leserlichen Seelenschrift, daß es lesen kann, wer vorüberläuft, ist das Himmelreich des Gesalbten eingeführt worden.“ Alles, „die ganze Mythologie der hebräischen Haushaltung war nichts als ein Typus einer transcendenteren Geschichte, der Horoskop eines himmlischen Helden […].“37 Gewöhnliche, konventionelle Benennungen werden ganz eliminiert; neue Namen werden in Metaphorischen Komposita gebildet, mit üppiger Verwendung der Lichtmetaphorik: Moses, die Psalmen, die Propheten sind voller Winke und Blicke auf diese Erscheinung eines Meteors über Wolken= und Feuersäule, eines Sterns aus Jakob, einer Sonne der Gerechtigkeit, mit Heil unter ihren Flügeln! […] auf das
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Schorch: Carl Schmitt (wie Anm. 26), S. 163. Groddeck: Rhetorik (wie Anm. 4), S. 249. ZH V, 214,23–25 (an Johann Gottfried Herder, den 15. September 1784). N III , 149,14–15. N III , 308,11–13,29–31.
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Himmelreich, das dieser David, Salomo und Menschensohn pflanzen und vollenden würde […].38
Die von Hamann kursivierten drei lichtmetaphorischen Ausdrücke und die drei biblischen Namen werden als dichterische Beinamen der gleichen göttlichen Person, Jesus Christus, gebraucht: Meteor – Stern – Sonne David – Salomo – Menschensohn. Das metaphorische Bild ‚Meteor‘ kommt in Hamanns Schriften öfters vor; es steht für große Männer der Geschichte, z. B. für Alexander den Großen. Durch seinen metaphorischen zeichenhaften Charakter gehört es in eine Reihe mit „Orakel[n], Erscheinungen, Träume[n] und dergleichen Meteoren“.39 In Golgatha und Scheblimini weist der Meteor auf die aufblitzende Helligkeit in der Finsternis alter Geschichte hin. So habe die Gesetzgebung „auf dem von Meteoren dunkler Ungewitter gerührten feuerbrennenden, rauchdampfenden Berge in einer Wüsten Arabiens“ Hamann zufolge stattgefunden.40 Der „Stern Jakobs“ deutet auf die Verheißung eines kommenden Königs von Israel, auf den Befreier uns Erlöser des Volkes (4 Mo 24,17). Zudem verweist die Metapher „Sonne der Gerechtigkeit“ auf den Propheten Maleachi, dessen Heraufbeschwörung einer aufgehenden „Sonne der Gerechtigkeit“ seit frühchristlicher Zeit zum Gemeingut der Kirche gehörte und als Bild für den gerechten Richter Jesus Christus verstanden wurde.41 Die geflügelte Sonnenscheibe steht zwar in der Bibel vor allem für Glück und Heil (vgl. auch hier: „Heil unter ihren Flügeln“); als „Sonne der Gerechtigkeit“ aber deutet die Metapher den kommenden gerechten Richter an. Eine Steigerung von den nächtlichen Lichtern zur „Sonne der Gerechtigkeit“ wird inszeniert. Hamann belebt einerseits die umschreibende Namengebung hebräischer Psalmen, greift aber zugleich sprachgestisch zur archaischen sakralen Aura der metaphorischen Namengebung zurück.42 Mit der Vielzahl der Beinamen verhärtet er aber auch seinen Diskurs, dessen Bogen von der Verheißung zum Richterlichen gespannt wird.
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N III , 311,24–28. N II , 68,40–69,1. N III , 308,5–6.
Franz Joseph Dölger: Die Sonne der Gerechtigkeit und der Schwarze. Eine religionsgeschichtliche Studie zum Taufgelöbnis. Münster 1918, S. 110. 42 Heinz Schlaffer legt nahe, dass die Metapher einen archaischen kultischen Ursprung besitze; Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. Stuttgart 2012, S. 55.
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Im „stylus atrox“ werden Namen gesteigert aneinandergereiht, sie lassen Verwandtes im Verschiedenen erblicken, und verbinden das Verschiedene im Akt als „dies ist das“.43 Die semantische Inkongruenz zwischen einer Naturschrift von „Meteor“, „Stern“ und „Sonne“ sowie der Schrift der Geschichte in den historischen Namen der Könige der Hebräer, „David“, „Salomo“ und dem „Menschensohn“ baut eine merkwürdige Spannung im Text auf, um die Schrift der Natur – die Himmelsschrift – und die Schrift der Geschichte in ihrer vermeintlichen Widersinnigkeit miteinander gleichzusetzen. Sprachkritisch formuliert geht es darum: Wie die schlechte Metapher falsche Erkenntnis bringe, genauso sei die falsche Namengebung der Lüge gleich, und umgekehrt bringe die richtige Lektüre der an sich evidenten ‚nächtlichen‘ Himmelsschrift – wahrscheinlich in der Übersetzung der „Seelenschrift“? – mit sich, die richtigen Namen zu finden und somit Wahrheit zu stiften. Hamanns Stil wird hier apophantisch und deklarativ. Eben in dieser vehementesten Polemik verzichtet Hamann immer mehr auf die in der Forschung vielfach bezeugte kommunikative Funktion seiner Rhetorik; er geht hier nicht auf seinen Adressaten zu.44 Das Übergewöhnliche der hamannschen Metapher intendiert nicht mehr das Überreden des Lesers, sie will eher schockieren, wie Longin mit Bezug auf das Erhabene festhält. Die metaphorische Sprache des Texts steht dann am nächsten zur Dichtung, wenn die Sprache der Dichtung im Gegensatz zur kommunikativen Funktion der Alltagssprache als Deklaration aufgefasst wird. Alles dreht sich um die paradoxe Einheit von Res und Verbum, um den richtigen Namen des Unnennbaren, um den Namen eines unaussprechbaren transzendenten Referenten. Der Name ist nicht diskutabel, er erlaubt keinen Perspektivismus, obwohl es zu seiner Paradoxie gehört, dass er ein Nichtseiendes bzw. nicht Anwesendes, weil Gewesenes und zugleich Zukünftiges, benennt. Man denke nur an die zentrale Polemik der hamannschen Schrift, an den Namen ‚Jerusalem‘. Das benennende Wort ist zwar nicht die aufgezeigte Res, sondern bloß der „Spiegel“ eines „zurückprallende[n] Schein[s]“, eine Spiegelung in einer doppelten Dunkelheit des Fehlens, ein Wink in eine „zwiefache[] Abwesenheit“. Der Name selbst kann 43 Siehe dazu die Interaktionstheorie der Metapher bei Gerhard Kurz: Metapher, Symbol,
Allegorie. Göttingen 2004, S. 7 f.
44 Christina Reuter setzt Metaphorizität mit Dialogizität und Kondeszendenz in Verbin-
dung. Sie weist auf die Sinnlichkeit der Metapher (Versuch einer Sibylle über die Ehe) und auf die Intensivierung der Kommunikation (Konxompax) hin. Christina Reuter: Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene Dialogizität. Berlin/ New York 2005, S. 156–197.
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so nur als eine Metapher oder, wie Hamann selbst schreibt, als „Fiction“ für das Ding aufgefasst werden: Das poetische Genie“, schreibt Hamann im Fliegenden Brief, „äußert seine Macht dadurch, daß es, vermittelst der Fiction, die Visionen abwesender Vergangenheit und Zukunft zu gegenwärtigen Darstellungen verklärt.“45 Diese Fiktionalität des poetischen Wortes, die Vergangenem und Zukünftigem Präsenz verleiht, wirkt in der richtigen Namengebung der nichtexistenten Stadt Jerusalem, die nicht ist, sondern nur war und wird: In diesem festen prophetischen und apokalyptischen Worte hebräischer Litteratur hat man einen ‚feinen, hellen, reinen Spiegel‘, dessen zurückprallender Schein die Dunkelheit zwiefacher Abwesenheit überschwenglich verklärt und vergegenwärtiget für den Geist der Beobachtung […]. Durch ein solches Sehrohr historischer und prophetischer Vorerkenntnis würde dem Beobachtungsgeiste ein exemplarisches Ideal aus einem dichten Cedernhayne entgegen gelacht haben; […].46
Hamann setzt seine paroxystischen, mit Grimm erfüllten Wortkatarakte auf überraschende Weise mit Liebesbriefen gleich und bezeichnet seine entstehende Schrift (den Fliegenden Brief) einmal als „Liebesbriefe […] Endymions“,47 der in der Nacht und im Schlaf an die Geliebte geschrieben wird, ein andern Mal aber zu den „opusculis der Finsternis“48 gehörig. Hass auf Babel oder Berlin und Liebe zum kommenden Bräutigam gehören ja, so argumentiert der Magus, unzertrennlich zueinander. Letzteres, nämlich die Bezeichnung ‚opuscula der Finsternis‘ weist zugleich darauf hin, dass diese opuscula am Abend des Tages nach Sonnenuntergang, bzw. am Abend der Zeit verfasst werden.49 Solche symbolischen Datierungen ziehen sich durch die ganze Autorschaft Hamanns hindurch. Angeblich schrieb er seine briefliche Antwort auf Kants Frage „Was ist Aufklärung?“ ebenfalls in der adventlichen Finsternis: „Geschrieben den heiligen Abend des vierten 45 N III , 384,3–5. 46 Ich zitiere hier nach der der Ausgabe von Rainer Wild: ‚Metacriticus bonae spei‘.
Johann Georg Hamanns ‚Fliegender Brief ‘. Einführung, Text und Kommentar. Bern/ Frankfurt a. M. 1975, S. 335,15–25. 47 ZH VI , 137,5–6 (an Friedrich Heinrich Jacobi, den 13. November 1785). 48 Ebd., 137,3–4. 49 „Heute über 8 Tage ist der letzte Sonntag des Kirchenjahrs, und der Advent ist meine liebste und einträglichste Jahrzeit wegen der kurzen Tage zu meinen opusculis der Finsternis und Nacht und des sie, Ebbe und Fluth regierenden Monds. Wegen der Einkleidung bin ich noch ungewiss; keine liebesbriefe eines Adonis sondern Endymions.“ ZH VI , 137,5.
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und letzten Advent Sonntags, 84, entre chien et loup.“50 Diese Vorliebe zum Abend und zur Finsternis enthält wiederum einen vehementen Gestus der Ablehnung gegenüber der Aufklärung, die sich als Epoche des Lichtes verstand. Die symbolische Datierung der hamannschen Autorschaft enthält somit eine geschichtsphilosophische Selbstreflexion, die meines Erachtens über die Parusie-Erwartung eines Christen hinausgeht. Bereits in den Hierophantischen Briefen stellte Hamann fest: Alten kleinen hebräischen Prophezeyungen gemäs, ist des HERRN Tag ‚eine Finsternis und nicht ein Licht, dunkel und nicht helle […], denn es ist ein Tag des Grimms […].51
Die Selbstreflexion enthält zugleich einen klaren Hinweis auf das Dilemma, wie es sich mit dem hamannschen Pluralismus verhält. In der Aesthaetica findet sich die enigmatische Formulierung über das Verhältnis von Licht und Wahrheit: Wenn eine einzige Wahrheit gleich der Sonne herrscht; das ist Tag. Seht ihr anstatt dieser einzigen so viel, als Sand am Ufer des Meeres; – hiernächst ein klein Licht das jenes ganze Sonnenheer an Glanz übertrift […].52
Diese Passage wurde in der Hamann-Forschung so interpretiert, dass Hamann die Nacht zum Tage macht.53 Solche Paradoxien werden in der Tat von Hamann bevorzugt. Ich glaube jedoch, dass mit den Bildern „Sonne“ versus „Sonnen“ der Monismus und der Pluralismus der Wahrheit gemeint sind: Das kleine Licht ist der Morgenstern, bzw. wie es in einem obigen Zitat hieß, der „Stern Jakobs“, der ein ganzes Sonnenheer „an Glanz übertrift“. Diese Mannigfaltigkeit wird also von Hamann keinesfalls negiert, sie wird als Faktum, als Signum der Zeit – Weltnacht – betrachtet. In einem seiner letzten Briefe kehrt Hamann zur gleichen heliotropischen Metapher zurück, und erklärt Jacobi gegenüber: Viel Köpfe, viel Sinnen. […] Die Nacht hat viele Sonnen nöthig, der Tag an einer gnug. Distingue tempora et concordabit Natura et Scriptura. Der Schlüssel von beyden fehlt und liegt im Brunnen der Wahrheit.54
50 ZH V, 291. 51 HHE V, 115. 52 N II , 206. 53 So Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt a. M. 2000,
S. 152.
54 ZH VII , 452,9–11 (Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, den 27. April 1788).
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Eva Kocziszky
Wahrheit wird erst mit der Ankunft der ewigen Herrschaft Jesu eintreten.55 In dieser Nacht der prophetischen Verheißung herrschen notwendigerweise unzählige Sonnen, so viele wie Sand am Ufer des Meeres. Die hamannsche Liebe zum Abend und sogar zur Nacht der Zeiten ist also nicht nur erwartungsvoll, sondern sie hat auch an dessen Wesen Teil, nämlich an Zorn und Groll. Diese Liebe hat deshalb keine eigentlich präromantische Züge, kennt weder die romantische Mystik noch die Sehnsucht nach dem Tod.56 In den Interpretationen finden wir zwar einen ganzen Bund von Schlüsseln zu Hamanns ‚opuscula der Finsternis‘,57 trotzdem fehlt es immer noch an jenem Schlüssel, der Hamann zufolge tief „im Brunnen der Wahrheit“ liegt. Die heliotropischen Metaphern bieten ein gutes Beispiel dafür, dass auch für die Texte des Magus zutrifft, was Derrida von jenen feststellte, nämlich dass sie auf paradoxe Weise immer dunkel bleiben und zu keiner klaren, sicheren Erkenntnis führen.58 Diese Paradoxie gehört zur Intention der opuscula der Weltnacht, die trotz ihrer reaktiven Genese nicht kommunikativ, eher erratisch sind: Ihre metaphorische Sprache wirkt wie eine orakelhafte philosophisch-dichterische Deklaration, die auf eine einstige und zukünftige wahre Einheit von Res und Verbum zielt, sie bleibt aber hic et nunc „in seiner Unlogik unversöhnlich“ und widerstimmig. Ein finsterer Autor für finstere Zeiten, der, wie Botho Strauß schrieb, eben deshalb „Licht“ ist. 55 Zur christlichen Genese des hamannschen Bildes siehe Franz Joseph Dölger: Das Son-
nengleichnis in einer Weihnachtspredigt des Bischofs Zeno von Verona. Christus als wahre und ewige Sonne. In: Antike und Christentum 6 (1940), S. 1–56. 56 Ich habe den Paroxysmus bei Hamann, das heißt das Schreiben aus Zorn eingehend dargestellt in: Hamanns sokratisches Philosophieren. In: Poetica 2001/1–2, S. 99–124. 57 Auch Schlüssel, die kein Schloss öffnen. Zu ihnen gehört ein Passus von Davide Giuriato. Der Autor, der in seiner ausführlichen Erörterung der Ästhetik des „Kunstlosen“ im 18. Jahrhundert Hamann nur diese einzige Passage gewidmet hat, wagt mit einem Hinweis auf Goethe, der ganz eindeutig Goethes späte Dichtung und nicht Hamann kennzeichnet, festzustellen: „Wenn Hamann kurz nach dem Tod Mendelssohns in einem Brief an Jacobi suggeriert, dass ‚unter Deutlichkeit eine gehörige Vertheilung des Lichts und des Schattens’ zu verstehen ist, dann erhellt sich diese – später von Goethe in den Maximen und Reflexionen (1816) aufgenommene und affirmierte – Aussage weniger aus einem dem Magus im Norden notorisch nachgesagten Obskurantismus denn in einer über alle Entfernung hinweg bestehende Verbundenheit mit Mendelssohns Lehre von der ästhetischen Klarheit.“ Davide Giuriato: ‚Klar und deutlich‘. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert. Freiburg i. B./Berlin/Wien 2015, S. 120. Ich stimme zu: Hamann ist kein Obskurantist, doch lässt sich seine Auffassung über Sprache mit der von Mendelssohn nicht in Einklang bringen. 58 Derrida: Die weiße Mythologie (wie Anm. 2), S. 241.
Eckhard Schumacher (Greifswald) Stylus atrox. Johann Georg Hamann revisited
„Die Schreibart hat viel Aehnlichkeit mit der Winkelmannschen. Derselbe körnigte aber etwas dunkele Styl“, kommentiert Moses Mendelssohn im Juni 1760 in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend Johann Georg Hamanns erstes Buch, die 1759 erschienenen Sokratischen Denkwürdigkeiten.1 „Kein Alchymist, kein Jacob Böhme, kein wahnwitziger Schwärmer kann unverständlicheres und unsinnigeres Zeug reden und schreiben, als man da zu lesen bekommt,“ urteilen deutlich weniger wertschätzend wenige Wochen später die Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit und stellen Hamann entsprechend als „unverständlichen, dunklen und ausschweiffenden Schriftsteller“ vor.2 Die Verwunderung darüber, dass schon Hamanns erstes Buch so explizit unter den Vorzeichen von Dunkelheit und Unverständlichkeit verhandelt wird, relativiert sich, wenn man sieht, in welchem Maß Hamann diese Lesart bereits selbst vorweggenommen, im Text deutlich präfiguriert hat. Auf dem Titelblatt der Sokratischen Denkwürdigkeiten zitiert Hamann das topische Beispiel für den römischen poeta obscurus, Persius,3 mit der in dieser Hinsicht einschlägig relevanten Frage: „Quis leget haec?“ – „Wer wird denn sowas lesen?“4 Wenige Seiten weiter, in der Zuschrift „An die Zween“, ruft Hamann mit Heraklit einen weiteren 1 [Moses Mendelsohn]: Hundert und dreyzehnter Brief. In: Briefe, die Neueste Litteratur
betreffend. VI ter Theil. Berlin 1760, S. 386.
2 [Christian Ziegra]: Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. 57.
Stück. 29. 7. 1760, S. 452.
3 Zu Persius als „poeta obscurus der Römer schlechthin“ vgl. Manfred Fuhrmann: Obscu-
ritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike. In: Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Hg. von Wolfgang Iser. München 1966, S. 47–72, hier S. 71. 4 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1968, S. 4 f.
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notorisch ‚dunklen‘ Autor auf und verweist hinsichtlich des Umgangs mit Pro blemen des Verstehens und Nicht-Verstehens auf Sokrates, mit dessen Modus der Ironie, vermittelt durch Platons „schwärmerische Andacht“, sich Hamann zuvor schon im Sinne seiner „mimischen Arbeit“ identifiziert hatte: Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in den Schriften des Heraklitus, dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem Verständlichen auf das Unverständliche. Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten.5
Auf den ersten Seiten seines ersten Buches adressiert Hamann auf diese Weise nicht nur schon im voraus eben jene „gemeinen Kunstrichter“, die sich in ihren Reaktionen auf die Sokratischen Denkwürdigkeiten tatsächlich insofern als Nichtschwimmer erweisen, als sie vor allem Dunkelheit und Unverständlichkeit entdecken. Mit seinen Zitaten, Verweisen und Anspielungen nimmt Hamann zugleich zentrale Reflexionen über das Verstehen, das Problem der Unverständlichkeit und das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit vorweg, die ihn bis zu seinen letzten Texten, den Entwürfen zum Fliegenden Brief, weiter beschäftigen werden.6 Das 12. Internationale Hamann-Kolloquium setzte nicht zuletzt an dieser Ausgangskonstellation an: Der „Vorwurf des ‚dunklen Stils‘“, hieß es in der Ankündigung, hafte Hamann bereits „seit Veröffentlichung seiner Erstlingsschrift“ an und tauche nicht nur zu seinen Lebzeiten „in sämtlichen Besprechungen seiner Schriften“ auf, sondern sei „regelrecht zu einem Topos der Hamann-Lektüre und -Kritik“ avanciert, „der bis heute unvermindert anhält“.7 Das Kolloquium hat diesen Befund durchaus bestätigt, auch und gerade durch die Fokussierung auf die Bedeutung der Rhetorik für Hamann. Es hat aber zugleich vor Augen geführt, dass sich in den letzten Jahren diesbezüglich einiges verschoben hat. Das zeigt sich in der Hamann-Forschung und den philologischen Debatten über dunklen Stil, obscuritas und Unverständlichkeit, aber auch – und darum soll es im Folgenden insbesondere gehen – in den weniger erwartbaren Verweisen auf Hamann, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und im Kontext der Gegenwartskunst zu beobachten waren. 5 Ebd., S. 15. 6 Vgl. dazu Johann Georg Hamann: Fliegender Brief. Historisch-kritische Ausgabe. 2 Bde.
Hg. von Janina Reibold. Hamburg 2018.
7 Vgl. das Programm-Faltblatt: „… sind noch in der Mache“. Zur Bedeutung der Rhe-
torik in Hamanns Schriften. 12. Internationales Hamann-Kolloquium. 7.–9. März 2019 Heidelberg.
Stylus atrox. Johann Georg Hamann revisited
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1. Johann Georg Hamanns „Gabe der Deutlichkeit“ Der Topos der Dunkelheit und Unverständlichkeit steht unübersehbar weiterhin auf der Agenda der Hamann-Forschung. Seit geraumer Zeit ist allerdings kaum mehr ein Beitrag zu finden, der Hamann Unverständlichkeit vorwirft, den ‚dunklen Stil‘ kritisiert. Auch der lange vorherrschende Gestus, die vermeintliche Unverständlichkeit erklärend in den Diskurs der Verständlichkeit zu überführen, wie dies in den 1950er und 60er Jahren programmatisch in der Reihe Hamanns Hauptschriften erklärt geschehen ist, markiert mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel. Und Belege für das faszinierte Beschwören der Dunkelheit des ‚Magus‘, des unverständlichen Genies, findet man in der jüngeren Hamann-Forschung ebenfalls nur noch selten. Selbst Isaiah Berlin, der Hamanns „blinden Obskurantismus“ kritisiert und die Texte als „wildes und wirres Dickicht“ beschreibt, betont Mitte der 1990 er Jahre doch zugleich, dass man sich „nicht gleich von Hamanns Stil und nie dagewesener Dunkelheit abschrecken“ lassen sollte, da man im Zuge der Lektüre „die Einheitlichkeit von Denken und Anschauung“ gleichwohl erkennen werde.8 Die „unparalleled obscurity“, wie es im englischen Original bei Berlin heißt,9 wird weiterhin häufig als vermeintlich selbstverständlicher Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Hamann vorausgesetzt – unabhängig davon, ob Hamann als Vordenker des Irrationalismus oder als radikaler Aufklärer, ob er als Schriftsteller, Theologe oder Philologe diskutiert wird. Dabei werden Dunkelheit, obscuritas oder der ‚dunkle Stil‘ allerdings regelmäßig als relevante Aspekte von Hamanns Stil, Schreibverfahren oder Rhetorik begriffen, erläutert und kontextualisiert. Zudem werden Hamanns Texte zunehmend auch als hochgradig reflektierte Texte über die Problematik von Unverständlichkeit und Dunkelheit gelesen, als kritische Interventionen, die sich in dem Maß auf den Gegenstand der Reflexion einlassen, indem sie diesen zugleich selbst – rhetorisch, ironisch, performativ – aufrufen und reproduzieren.10 In diesem Sinne begreift Linda Simonis „Hamanns hermetische Redefiguren und Schreibexperimente“ als „Plädoyer für eine ausgefeiltere Fassung des hermeneutischen Verfahrens, eine subtilere 8 Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen
Irrationalismus. Hg. von Henry Hardy. Berlin 1995, S. 49 u. 161.
9 Isaiah Berlin: The Magus of the North. J. G. Hamann and the Origins of Modern Irra-
tionalism. Edited by Henry Hardy. New York 1993, S. 25.
10 Vgl. ausführlicher dazu Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit.
Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000.
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Modellierung des literarischen Verstehensprozesses“.11 Hamanns Texte seien, so Knut Martin Stünkel, als „kommunikative Akte“ zu begreifen,12 sie „provozieren“, schreibt Janina Reibold, „Wissenserwerb“.13 Wichtige Grundlagen für einen solchen Zugang zu Hamanns ‚dunklem Stil‘ sind im Prinzip seit 1968, mit Erscheinen der kommentierten Ausgabe von Sokratische Denkwürdigkeiten und Aesthaetica in nuce im Reclam Verlag, auch über die Grenzen der Hamann-Forschung hinaus verfügbar. In seinem Nachwort macht Sven-Aage Jørgensen unmissverständlich deutlich, dass die „dunkle Kürze“ bei Hamann „Ergebnis eines bewußten Stilwillens ist, nicht unmittelbarer Ausdruck eines übermächtigen Erlebnisses“, dass die „dunkle Kürze“ Hamanns „nicht aus maßloser Ichbezogenheit und Subjektivität zu erklären“, sondern „das Ergebnis strategischer Überlegungen“ ist.14 Gegen das Bild von Hamann als mystisch-dunklem Sturm-und-Drang-Inspirator, das die erste und auch maßgebliche Teile der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat,15 hebt Jørgensen hervor, dass Hamann „vor der Zeit des antirhetorischen Affekts“ schrieb. Nicht nur zeugten seine Schriften unübersehbar von „Kenntnis der rhetorischen Terminologie“, die „strategisch bestimmte Dunkelheit“ erweist sich für Jørgensen mit Blick auf die Rhetorik letztlich auch, wenn nicht in erster Linie, als „traditionelles Mittel des ‚acutum dicendi genus‘“, das den Hörer „zur eigenen Gedankenarbeit provoziert“.16 Was Hamann selbst in einer Anmerkung zu Buffons „Über den Styl“ als „stylus atrox“ bezeichnet,17 findet Jørgensen Stück für Stück, vermittelt über die Kompendien von Heinrich Lausberg, im Register der Rhetorik. „Hamanns Genus sublime“ gehöre „zu der Variante ‚vehemens‘“, schreibt Jørgensen und zitiert die einschlägig relevante Passage aus dem Kapitel „Genera elocutionis“ in Lausbergs 11 Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische
Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2001, S. 349.
12 Knut Martin Stünkel: Leibliche Kommunikation. Studien zum Werk Johann Georg
Hamanns. Göttingen 2018, S. 17.
13 Janina Reibold: Zu Edition und Kommentar. In: Hamann: Fliegender Brief. Zweiter
Band (wie Anm. 6), S. 25–41, hier S. 38.
14 Jørgensen: Nachwort: Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten (wie Anm. 4), S. 175;
vgl. zuvor bereits ausführlich Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: GermanischRomanische Monatsschrift 47 (1966), S. 374–387; Wiederabdruck in Ders.: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg Hamann. Göttingen 2013, S. 17–34. 15 Vgl. dazu das Kapitel „Hamann: Das irrationale Genie und seine religiöse Rechtfertigung“ in Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Band I . Darmstadt 32004, S. 96–119. 16 Jørgensen: Nachwort (wie Anm. 14), S. 176. 17 Vgl. ebd.; Jørgensen zitiert aus N IV 421, 54.
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Elementen der Rhetorik: „es ist ‚gehemmt-heftig‘, ‚bevorzugt hämmernde Kommata (abruptum sermonis genus) und paradoxe Figuren wie Zeugma und Chiasmus‘ (Lausberg, Elemente § 468, 2)“.18 Andere Kennzeichnen dieses Stils seien, fügt Jørgensen mit Verweis auf das umfangreichere Handbuch der literarischen Rhetorik hinzu, „nach Lausberg ‚kynischer Humor, Metaphern, lakonische brevitas, emphatische obscuritas‘ (Handbuch § 1079, 3), Stilzüge, die dem HamannLeser sehr bekannt sind“.19 Schon Jørgensens knappe Hinweise können verdeutlichen, wie relevant Ansätze, Konzepte und Denkfiguren der Rhetorik für Hamanns Texte sind. Mit Blick auf Hamanns Bibliothek mit einem ausgedehnten Bestand antiker und zeitgenössischer Poetiken und Rhetoriken sowie seinen regelmäßigen Austausch mit Johann Gotthelf Lindner in Königsberg20 ist allerdings davon auszugehen, dass Hamann ein Verständnis von obscuritas hatte, das weiter ausgreift als es der zweihundert Jahre später durch Lausberg vermittelte Begriff nahelegt. Geht man von der in der klassischen Rhetorik vorfindbaren Auffassung von obscuritas als „das der virtus der perspicuitas entgegengesetzte vitium“ aus,21 ist zunächst festzuhalten, dass Hamann dezidiert nicht als Anwalt der perspicuitas auftritt. Wenn Quintilian im 8. Buch der Institutio Oratoria gleich zu Beginn seiner Ausführungen zur perspicuitas hervorhebt, „alles, was unanständig, schmutzig und niedrig klingt“, sei zu vermeiden,22 liegt die Annahme nahe, dass Hamann eben dies gerade nicht zu vermeiden sucht, sondern offensiv ansteuert. Hamann setzt nicht, wie es Quintilian nahelegt, auf „Reinheit“, sondern eben auch auf das, was „unanständig, schmutzig und niedrig klingt“. Was Jørgensen und viele andere 18 Jørgensen: Nachwort (wie Anm. 14), S. 176; vgl. Heinrich Lausberg: Elemente der lite-
rarischen Rhetorik. München 1963, S. 154. Genau so – auch im Rückgriff auf diese Passage bei Lausberg – und ebenfalls im Jahr 1968 beschreibt Jochen Schmidt Hölderlins Hymnen, wenn er als eine der Varianten des genus sublime das „gehemmt-heftige genus (genus vehemens)“ anführt, „welches hämmernde Kommata (abruptum sermonis genus) und paradoxe Figuren“ bevorzugt, vgl. Jochen Schmidt: Hölderlins Elegie „Brod und Wein“. Berlin 1968, S. 32. 19 Jørgensen: Nachwort (wie Anm. 14), S. 176; vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 31990, S. 523 f. 20 Zur Rolle von Lindners 1755 veröffentlichter Anweisung zur guten Schreibart überhaupt, und zur Beredsamkeit insonderheit u.a. für Hamann und Herder vgl. Björn Hambsch: „… ganz andre Beredsamkeit“. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder. Tübingen 2007, S. 35 f. 21 Brandt, R. u. a.: Obscuritas. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. Von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 358–383, hier Sp. 358. 22 Quintilian: Institutio oratoria, VIII , 2, 2.
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unter dem Stichwort „Stilmischung“ als Charakteristikum der Schreibweise und als „ästhetisches Programm“ Hamanns hervorheben, setzt nicht zuletzt hier an.23 Hinsichtlich eines gezielt gesetzten ‚dunklen Stils‘ könnte sich Hamann aber gleichwohl auf Quintilians ausführliche Darlegungen zur obscuritas stützen, zumal Quintilian betont, dass die obscuritas „in der Dichtung […] nicht zu den Fehlern zu rechnen“ sei.24 Wichtiger ist aber ein anderer Aspekt. Bei Quintilian wie schon, anders akzentuiert, bei Aristoteles markiert die ‚dunkle Rede‘ eine Abweichung gegenüber dem Erwartbaren, und bei beiden steht sie in engem Zusammenhang mit Überlegungen zur fremden Rede, zum Begriff des Fremden. In seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Klarheit und Fremdartigkeit in der Rhetorik erläutert Aristoteles die Beobachtung, „Abweichen“ erwecke „den Anschein des Erhabeneren“, mit dem Hinweis, dass das, was „den Menschen gegenüber den Fremden und den Mitbürgern“ widerfahre, sie auch „hinsichtlich der sprachlichen Form“ erfahren. „Deswegen“, heißt es weiter, „muss man die gebräuchliche Sprache fremdartig machen. Man ist nämlich Bewunderer der entlegenen Dinge, das Bewunderswerte aber ist angenehm.“25 Wie Quintilian, der die perspicuitas als „Haupttugend des Ausdrucks“ unterstreicht,26 geht es auch schon Aristoteles um Klarheit in der Rede – bei beiden findet man kein Plädoyer für einen ‚dunklen Stil‘. Aber in der antiken Rhetorik wird, anders als es die spätere Rezeption gelegentlich nahelegt, obscuritas „nicht als genaue Umkehr der perspicuitas“ begriffen, sie wird vielmehr, so hebt es der Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik hervor, in ihrem „ambivalenten Charakter“ genutzt und ausgespielt.27 Das ist in den vergangenen zwanzig Jahren häufiger und deutlicher herausgestellt worden als zuvor. So betont etwa Paivi Mehtonen in seiner Studie Obscure Language, Unclear Literature. Theory and Practice from Quintilian to the Enlightenment, dass perspicuitas und obscuritas nicht als einander ausschließende Gegenpole zu begreifen sind, sondern als Extremwerte, zwischen denen vielfältige Mischformen, Zwischenstufen und Varianten liegen, die sich zwischen Antike und Postmoderne vielfältig ausdifferen-
23 Vgl. Jørgensen: Querdenker (wie Anm. 14), S. 23 f. 24 Quintilian: Institutio oratoria I , 5,18. 25 Aristoteles: Rhetorik, 1404 b, 5–13; vgl. dazu auch Christoph Rapp: Sprachliche Gestal-
tung und philosophische Klarheit bei Aristoteles. In: Argument und literarische Form in antiker Philosophie. Akten des 3. Kongresses für antike Philosophie 2010. Hg. von Michael Erler und Jan Erik Heßler. Berlin/Boston 2013, S. 283–304, hier S. 292 f. 26 Quintilian: Institutio oratoria, VIII , 2, 22. 27 Brandt u. a.: Obscuritas (wie Anm. 21), Sp. 358.
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zieren.28 Diese Verlagerung der Perspektive zeichnet sich auch in einer Studie ab, die sich einem vermeintlichen Gegenpol der Dunkelheit, der Deutlichkeit widmet. So weist Davide Giuriato in seiner Studie „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert, in der er sich den Grundlagen einer Ästhetik der Deutlichkeit widmet, auf den vielzitierten Brief Hamanns hin, in dem dieser kurz nach dem Tod Mendelssohns an Jacobi schreibt, unter „Deutlichkeit“ sei „eine gehörige Vertheilung des Lichts und Schattens“ zu verstehen. Giuriato sieht hier nicht eine Bestätigung des „dem Magus im Norden notorisch nachgesagten Obskurantismus“, sondern vielmehr einen Beleg für eine „über alle Entfernung hinweg bestehende Verbundenheit mit Mendelssohns Lehre von der ästhetischen Klarheit“.29 In diesem Sinn, könnte man hinzufügen, ist es eben auch nicht nur als ironisch-polemische Volte zu verstehen, wenn Hamann 1785 in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi die Hoffnung formuliert, eine abschließende Darstellung seines eigenen „Ideals“ könne dem „andächtigen Leser“ in Berlin angesichts seiner „Gabe der Deutlichkeit“ die „Haare zu Berge stehen“ lassen.30 Mit diesen Hinweisen soll Hamann nicht zu einem Denker der Klarheit umgedeutet werden. Aber es wird eben jene Verschiebung der Perspektive auf den ‚dunklen Stil‘ erkennbar, die die Hamann-Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte kennzeichnet. Einen in diesem Sinn differenzierteren, in manchen Hinsichten durchaus neuen Blick auf Hamann ermöglicht aber nicht nur die Hamann-Philologie, sondern auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Von verschiedenen Autorinnen und Autoren wird Hamann in den letzten Jahren wiederholt aufgerufen, zitiert und diskutiert, auch und gerade im Blick auf den ‚dunklen Stil‘. Dies geschieht häufig in Übereinstimmung mit Tendenzen der jüngeren Hamann-Forschung, nicht zuletzt mit Blick auf die Tradition der Rhetorik. Es zeigt sich aber auch, und dies deutlicher als in der Hamann-Forschung, dass die Faszination für Dunkelheit und Unverständlichkeit ebenso wenig verschwunden ist wie die korrespondierende Geste der Beschwörung und der Mystifikation. Unter dem Titel Rede, daß ich Dich sehe hat Susanne Schulte 2007 einen Band zusammengestellt, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, vor allem aber Schriftstellerinnen und Schriftsteller Wortwechsel mit Johann Georg Hamann geführt haben, in Form von Gedichten, Essays und Prosatexten, teils wiederabge28 Paivi Mehtonen: Obscure Language, Unclear Literature. Theory and Practice from
Quintilian to the Enlightenment. Helsinki 2003.
29 Davide Giuriato: „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert.
Freiburg 2015, S. 120.
30 Hamann: Fliegender Brief. Zweiter Band (wie Anm. 6), S. 153; vgl. ZH VI , 182.
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druckt, teils für den Band entstanden. Beteiligt war neben Anne Duden, Oswald Egger, Hendrik Jackson, Barbara Köhler, Christian Lehnert und Paul Wühr auch Ulf Stolterfoht.31 Sein Text „fachsprachen XXI: johann georg hamann“, zuerst 2005 im Rahmen von Stolterfohts mehrbändig angelegtem Lyrik-Projekt fachsprachen veröffentlicht, schließt in verknappter Form Hamanns Leben und Werk wie auch die Sprechweisen von knapp 250 Jahren Hamann-Rezeption kurz, lässt sie miteinander kommunizieren, aneinander geraten, einander kommentieren, und ruft dabei gleich zu Beginn in Form eines lakonisch rhythmisierten Reims auch den Topos der Dunkelheit auf: „obskurant. / fand kant“.32 In erweiterter Form sind die Wortwechsel mit Johann Georg Hamann im Rahmen der ersten Magus-Tage Münster 2010/11 fortgesetzt worden, veröffentlicht in dem Band Ohne Wort keine Vernunft – keine Welt. Bestimmt Sprache Denken?, an dem neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch wieder Schriftstellerinnen und Schriftstellern beteiligt waren, darunter Sabine Scho, Sibylle Lewitscharoff und Peter Waterhouse.33 Als Gewinner der „Magus-Preisfrage“ ist zudem Franz Josef Czernin mit einen längeren Text vertreten, mit einem „dialogischen Widerhall“ auf Hamanns Aesthaetica in nuce, der, wie auf andere Weise fünf Jahre zuvor Stolterfoht, gleich zu Beginn den Topos der Dunkelheit aufruft und sich entfalten lässt: „Gedichte, die nicht auch dunkel sind, lassen nicht eigentlich erfahren. / In ihnen kann ja Licht nicht werden.“34 Der Band zu den Magus-Tagen 2013 schließlich macht schon mit seinem Titel So verstehen wir. Texte über das Verstehen deutlich, dass er die Frage nach Verstehen und Verständlichkeit ins Zentrum rückt.35 Die Beiträge, die aus dem integrierten literarischen Projekt „Fremde | Spuren | Lesen“ hervorgegangen sind, nehmen diese Vorgabe allerdings nur indirekt auf: Die Texte, die Jörg Albrecht, Hendrik Jackson und Marion Poschmann im Rahmen eines gemeinsamen Aufenthalts in Kaliningrad geschrieben haben,36 nutzen 31 Rede, daß ich Dich sehe! Wortwechsel mit Johann Georg Hamann. Hg. von Susanne
Schulte. Aachen 2007.
32 Ulf Stolterfoht: fachsprachen XXI . In: Ebd., S. 161–169, hier S. 161; zuerst in: Ders.: fach-
sprachen XIX–XXVII . Wien und Basel/Weil am Rhein 2005, S. 39–49, hier S. 41.
33 Ohne Wort keine Vernunft – keine Welt. Bestimmt Sprache Denken? Schriftsteller und
Wissenschaftler im Wortwechsel mit Johann Georg Hamann. Hg. von Susanne Schulte. Münster u. a. 2011. 34 Franz Josef Czernin: AESTHETICA. IN. NUCE. Eine Rhapsodie in Kabbalistischer Prose – und ein dialogischer Widerhall. In: Ebd., S. 253–274, hier S. 253. 35 So verstehen wir. Texte über das Verstehen. Hg. von Susanne Schulte. Münster 2014. 36 Vgl. neben den Beiträgen im genannten Band zu den Magus-Tagen auch das multimediale Internettagebuch, das während des Aufenthalts in Kaliningrad entstanden ist: www.koenigsberger-brocken.de (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
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auf je verschiedene Weise Texte von Hamann als Ausgangspunkt für die, wie Jörg Albrecht schreibt, „Beschreibung einer Gegenwart, die sich gerade schon wieder loszureißen versucht“,37 für Reflexionen angesichts einer fremden Umgebung und einer fremden Sprache, die sich, wie Hendrik Jackson auch im Blick auf Hamann notiert, „am Unverständlichen“ aufrauhen.38 Im Folgenden sollen jedoch andere Rückbezüge auf Hamann ausführlicher vorgestellt werden, Texte, die den Topos des dunklen Stils expliziter reflektieren, die sich ausführlicher mit den Komplexen Unverständlichkeit und Dunkelheit auseinandersetzen, nicht zuletzt auch im Rekurs auf die Rhetorik. Michael Lentz’ Frankfurter Poetikvorlesungen, 2013 unter dem Titel Atmen Ordnung Abgrund als Buch erschienen, Botho Strauß’ 2018 veröffentlichtes Buch Der Fortführer und die Arbeiten des Künstlerkollektivs Slavs and Tatars, die 2018 unter den Titeln „Saalbadereien / Bathhouse Quakeries“ und „Kirchgängerbanger“ veröffentlicht wurden, lassen dabei neben einigen Ähnlichkeiten in der Annäherung an Hamann vor allem deutliche Differenzen sichtbar werden.
2. „wildes Lesen“ – Micheal Lentz’ Atmen Ordnung Abgrund Michael Lentz’ Frankfurter Poetikvorlesungen führen schon mit ihrer Gliederung in die fünf Kapitel „I. INVENTIO / II. DISPOSITIO / III. ELOCUTIO / IV. MEMORIA / V. ACTIO“ überdeutlich vor Augen, dass sie sich an der Rhetorik orientieren.39 Der „Prolog“, betitelt „DIE DAME RHETORICA“, ist entsprechend als eine mehrgleisige Annäherung an die Rhetorik angelegt, die im Durchgang durch Stationen in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit die Geschichte der Ikonographie der Rhetorica mit Reflexionen zur Definitionsgeschichte der Rhetorik verbindet und dabei im Blick auf den Roman der Gegenwart und das eigene Schreiben nicht zuletzt die Frage „Rhetorik, warum?“ aufwirft. In der Antwort, die der Prolog gibt, zeichnet sich in verdichteter Form schon ab, warum im weiteren Verlauf auch Hamann als wichtige Referenzfigur aufgerufen werden wird:
37 Jörg Albrecht: Ganze Tage und Nächte haben wir unbeweglich gestanden, in der Hoff-
nung, noch mehr sein zu können als Geld. In: Schulte: So verstehen wir (wie Anm. 35), S. 202–223, hier S. 203. 38 Hendrik Jackson: Rutengänge im Abraum. In: Ebd., S. 233–242, hier S. 239. 39 Michael Lentz: Atmen Ordnung Abgrund. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a. M. 2013.
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Hier herrscht sinnreiche Vernunft und ein vernünftiges Reich der Sinne. Es ist die Sehnsucht des ästhetischen Freelancers nach der Regelpoetik, nach der Selbstunterwerfung, nach dem Barock. [...] Einbildungskraft schafft noch keine Worte, fessellose Imagination fängt keinen Text.40
Lentz formuliert sein Verständnis des Schreibens in dem Maß mit Bezug auf Rhetorik und Poetik, in dem er sich von der Genieästhetik abgrenzt, die Anfang des 21. Jahrhunderts keineswegs nur weit entfernt ist. Der folgende Absatz macht aber zugleich deutlich, dass es Lentz nicht um einen schulgemäßen, traditionsbewussten Rückgriff auf Rhetorik und Regelpoetik geht, sondern um eine individuelle, an der eigenen Schreibpraxis orientierte Form der Funktionalisierung: Ich bin ordnungsbesessen, kann aber keine Ordnung halten. Literaturtheorie ist eine Ordnungsinstanz. Sie interessiert mich mehr als die Literatur. In der Beschäftigung mit Rhetorik wähne ich, alles an seinem Platz zu finden und wiederzuerkennen. Ich suche in theoretischen Texten meinen Einfall. Diese Texte dienen mir als exempla (praecepta), sie sind die poetologischen loci (Topoi). Erfinden des Stoffs – inventio – heißt auch hier Finden, Auffinden.41
In der zweiten Vorlesung, „Dispositio“, führt Lentz zunächst seine Faszination für die Ordnungsschemata der Rhetorik in einem Durchgang durch die einschlägige Rhetorik-Forschung weiter aus, um eine Basis für die folgenden Reflexionen zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung zu schaffen, die Raum für ein Nachdenken über Digressionen gibt – und für programmatische Überlegungen zur „Lektüre als Digressio“.42 „Texte machen“, schreibt Lentz, „ein ‚auktoriales Ordnungsangebot‘, das der Leser allerdings unterlaufen kann, indem er mit seiner Lektüre dem Text eine andere Ordnung entgegensetzt“.43 So kommt Lentz zu einem Plädoyer für ein „wildes Lesen“, das in den letzten Jahren auch von anderen – im Blick auf die 1970er wie 1770er Jahre44 – als relevanter Rezeptionsmodus wiederentdeckt worden ist:
40 Ebd., S. 22. 41 Ebd., S. 22 f. 42 Ebd., S. 71. 43 Ebd. 44 Vgl. dazu u. a. Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte
1960–1990. München 2015, Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens. Stuttgart 2014 sowie Georg Stanitzek: Brutale Lektüre, „um 1800“ (heute). In: Poetologien des Wissens um 1800. Hg. von Joseph Vogl. München 1999, S. 249–265.
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Ein wildes Lesen und Schreiben opponiert gegen ein Lesen und Schreiben der Ordnung, nicht um der Unordnung, sondern der entfesselnden Konditionierung willen, die positiv umschlägt in eine synthetisierende, dabei kontextuelle Kohärenz durchaus vernachlässigen könnende Schreib- und Lesebewegung.45
„In diesem Zusammenhang“, kommt Lentz dann im folgenden Absatz auf den für ihn springenden Punkt, sind in den letzten Jahren paradigmatisch die Lesepraxis und Philologie Johann Georg Hamanns unter ihren selbst wieder textgenerierenden Aspekten in den ästhetischen Blick geraten, ohne von vornherein ihre Unverständlichkeit und Dunkelheit als Defizit zu beklagen. Im Gegenteil wird die mäandernde Philologie dieses „Rhapsoden“ gewürdigt als eine unsystematische Stellenlektüre, die aus einer Umkehrung und Umwertung rhetorisch induzierter Ordnungsprinzipien intellektuell scharfsinnigen Gewinn erzielt.46
Gestützt auf mein Hamann-Kapitel in Die Ironie der Unverständlichkeit und die dort zitierten Überlegungen von Georg Stanitzek und Volker Hoffmann,47 entwirft Lentz eine Vorstellung von Hamanns Lektüre- und Schreibpraxis, die zugleich als Selbstbeschreibung von Lentz’ eigener Vorgehensweise lesbar wird: Mäandern, Kontext-Hopping, Stellen-Switchen: Hamann beutet Vorgefundenes zitierend aus, wobei eine Stelle durchaus auch entstellt werden kann, ein wildes Textgeflecht entsteht, das Dunkelheit sehr bewusst, auch persiflierend, gegen die regelinduzierte Ordnung und Verständlichkeit (perspicuitas) der Regelpoetiken setzt. Ohne die synthetisierende Philologie von Fremdtexten sind die Entstehung von Hamanns Texten und ihre eigene Logik nicht zu denken.48
So wie Lentz hier im Sinne Hamanns „Fremdtexte“ und „eigene Logik“ zusammenführt und zusammendenkt, so bezieht er auch, nicht nur an dieser Stelle, Ordnung und Abweichung sowie Dunkelheit und Verständlichkeit aufeinander, ohne das eine oder das andere „als Defizit“ zu beklagen. Mit großer Faszination für „fragmentisierende Lektüren“49 durchquert Lentz im Modus eines ‚wilden Lesens‘ eine Vielzahl von Texten, Thesen und Theorien, verweist auf Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Schlegel und Heinrich von Kleist, die er aufnimmt, zitiert 45 46 47 48 49
Lentz: Atmen Ordnung Abgrund (wie Anm. 39), S. 71. Ebd., S. 71 f. Vgl. Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit (wie Anm. 10), S. 110–112. Lentz: Atmen Ordnung Abgrund (wie Anm. 39), S. 73. Ebd., S. 79.
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und im Blick auf das eigene Schreiben weiterdenkt. Dabei weiß er sich auf rhetorische Traktate der Antike ebenso zu stützen wie auf die „Abweichungspoetik Ernst Jandls“, die Lentz als Beispiel für „experimentelle Versuchsanordnungen in der Literatur“ anführt, welche „zuweilen auf gattungstypologisch stabile Schemata“ zurückgreifen, „um über eine untergründig wirkende Ordnung Abweichungen erzeugen zu können“.50 Ausgehend von Überlegungen zum Begriff der digressio in der Rhetorik und zum Roman als „Digressionsgattung“,51 entwickelt Lentz ein Verständnis von Abweichung, das ohne den Gegenbegriff der Ordnung „nicht zu denken“ ist und nur in deren Zusammenwirken das Denken von „Neuem“ ermöglicht: „Jede Innovation braucht Ordnung und Abweichung gleichermaßen“.52 In diesem Sinn, im Rekurs auf die Rhetorik wie auch in Absetzung von ihr, kann Lentz seine Begeisterung für Ernst Jandl, Oskar Pastior, Ror Wolf und die „großen Abweichungskünstler der Gegenwart [...] Hartmut Geerken, Uwe Dick und Friederike Mayröcker“53 überraschend bruchlos und überraschend schlüssig mit seiner Faszination für die Lektüre- und Schreibverfahren Hamanns verknüpfen.
3. „himmernde Kommata“ – Botho Strauß’ Der Fortführer Auch Botho Strauß setzt auf Abweichung, wenn er im Herbst 2018 mit Der Fortführer einen literarischen Kommentar zur Gegenwart publiziert, der, von Wohnen Dämmern Lügen in den 1990er, Vom Aufenthalt in den 2000er bis zu Allein mit allen in den 2010er Jahren, eine Reihe von Büchern fortsetzt, in denen Strauß aus der selbstgewählten Position des unzeitgemäßen Außenseiters in meist kurzen Prosatexten die Gegenwart kommentiert.54 In diesem jüngsten Buch folgt nach vierzehn jeweils nur wenige Seiten umfassenden Prosareflexionen abschließend mit „Der Fortführer“ ein längerer Text, in dem Strauß programmatische Überlegungen zum Selbstverständnis des „Dichters“ entwickelt, Überlegungen, die sich 50 Ebd. S. 82. 51 Ebd., S. 65 f. Lentz verweist hier auf Lausberg: Handbuch (wie Anm. 19) sowie auf An-
dreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000, hier S. 10. 52 Lentz: Atmen Ordnung Abgrund (wie Anm. 39), S. 63. 53 Ebd., S. 66. 54 Botho Strauß: Der Fortführer. Reinbek bei Hamburg 2018; Ders.: Wohnen Dämmern Lügen. München/Wien 1994; Ders.: Vom Aufenthalt. München/Wien 2009; Ders.: Allein mit allen. Gedankenbuch. München 2014.
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thematisch in vielen Hinsichten mit den Reflexionen aus Lentz’ Frankfurter Poetikvorlesungen überschneiden, allerdings deutlich anders ansetzen: Man ist Fort-Führer – oder es gibt einen gar nicht. [/] Der Dichter führt vorangegangene Dichter fort. Der Dichter führt aber auch Leser fort, entfernt sie aus ihren Umständen, Belangen und Geschäften.55
In mehrfachen Angängen wendet sich Strauß gegen den „Einwand des Zeitgemäßen“, distanziert er sich von den „Netzwesen“, den „digital Vernetzten“. „Ach, und Sie schreiben ja, als gäbe es keine Blogs,“ nimmt Strauß eine denkbare Kritik an seiner Positionierung selbst schon vorweg und bewegt sich dabei mit eben dem Selbstverständnis, das er dem „Dichter“ als „Außenseiter“ zuschreibt: „unablässig stromaufwärts“, „von der Gegenwart zurück in die vergangenen Vorgänge“.56 Während der imaginierte Dichter, der auch in der Zuschreibung „unsereins“ mitgedacht wird, „aus den alten Tönen neue verführerische Andeutungen“ empfängt, liest der „digital Vernetzte“ nur noch mit der „Raffgier des Eignens“, „überspringt sogar das Verstehen“ und „kennt nur wildes Sich-an-Eignen“. Gegen diese Form des ‚wilden Lesens‘, für die nicht zuletzt der nicht näher bestimmte „Gegenwartsnarr“ verantwortlich gemacht wird,57 mit der aber prinzipiell auch eben das angegriffen wird, was Lentz in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen als poetologisches Selbstverständnis entwickelt, setzt Strauß auf eine Traditionslinie, auf der er neben Ezra Pound, Emil Cioran, René Char und Michael Landmann auch Johann Georg Hamann verortet: Im Fallen, tiefer und tiefer, von den Arkana der Sprache abwärts, erhebt man den hinlänglich sprachgewandten Kleinmeister zum „sprachgewaltigen“ Autor. Als ob er vom Range eines Hamann wäre. Der sprach noch den Stil, der erschreckt. „Stylus Atrox der poetischen Bilderschrift“. Übte sich in der Sprache der Propheten. Stylus atrox, der wilde Stil, der gehemmt-heftige, mit himmernden Kommata. (Luther-Zitat: „da er nach dem ruhm wie ein muthiges geiles rosz himmerte“ – also wieherte.)58
Wie schon in früheren Texten beklagt Strauß auch hier, dass die „hinlänglich sprachgewandten Kleinmeister“ der Gegenwart auf unangemessene Weise aufgewertet, zum „sprachgewaltigen Autor“ erhoben werden. Und wie bereits zuvor 55 56 57 58
Strauß: Der Fortführer (wie Anm. 54), S. 159. Ebd., S. 160 f. u. 167 f. Ebd., S. 173. Ebd., S. 170 f.
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setzt Strauß auch hier Hamann gegen den gegenwärtigen Verfall, den er auch und gerade als Verfall der Literatur anprangert. Vor diesem Hintergrund präsentiert Strauß Hamann als den, der „noch den Stil“ sprach, „der erschreckt“. Was dann zum Stichwort „stylus atrox“ folgt, führt vor Augen, dass Strauß offensichtlich Jørgensens Nachwort zur Reclam-Ausgabe gelesen hat – er übernimmt einige der dort aufgereihten Stichworte in seinen Text: „Stylus atrox, der wilde Stil, der gehemmt-heftige, mit himmernden Kommata“. Allerdings steht bei Jørgensen, wie bereits zitiert, nicht „himmernde Kommata“, dort steht, wie bei Lausberg: „hämmernde Kommata“.59 Da Strauß aber die von ihm angeführten „himmernden Kommata“ mit einem Luther-Zitat belegt und erläutert, lohnt ein Versuch, die Irritation zu klären. Sucht man über die Suchmaschine Google nach der Phrase „himmernde Kommata“, findet man drei relevante Belege, die jedoch nur auf zwei verschiedene Quellen verweisen: Zum einen auf genau die Stelle aus Strauß’ Der Fortführer, die ich eben zitiert habe, zum anderen auf eine Rezension der Reclam-Ausgabe der Sokratischen Denkwürdigkeiten, verfasst von Max L. Baeumer, erschienen 1969 in den Monatsheften.60 In der zweizeiligen Google-Vorschau der Rezension steht tatsächlich „himmernde Kommata“. Ruft man den Text aus den Monatsheften allerdings über das an dieser Stelle verlinkte Online-Portal jstor auf, zeigt sich schon auf der eingeblendeten Preview-Seite ein anderes Bild: Baeumer referiert und paraphrasiert Jørgensens Überlegungen zum dunklen Stil und übernimmt dabei auch dessen Formulierung „gehemmt-heftig durch hämmernde Kommata“.61 In der Rezension steht korrekt, wie bei Jørgensen, „hämmernde“, und nicht etwa: „himmernde“ Kommata. Der Fehler liegt nicht bei Baeumer und nicht bei den Monatsheften, es handelt sich um ein schlichtes Umlaut-Übertragungsproblem, das sich in der Google-Vorschau ebenso zeigt wie bei einer Copy&Paste-Übernahme der betreffenden Textstelle. Kopiert man die Passage aus dem über das Portal jstor verfügbaren PDF-Dokument der Monatshefte-Rezension in eine Word-Datei, wird aus dem ä ein i, werden aus hämmernden himmernde Kommata. Was sich als ein letztlich triviales Problem der Inkompatibilität von Zeichen und Zeichensätzen erweist, ist gleichwohl durchaus interessant, denn der von Strauß in Klammern hinzugefügte erläuternde Beleg, das Luther-Zitat: „da er nach dem 59 Jørgensen: Nachwort (wie Anm. 14), S. 176. 60 Max L. Baeumer: [Rezension: Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten.
Aesthetica in nuce]. In: Monatshefte, Vol. 61, No. 3 (1969), S. 300–302.
61 Vgl. https://www.jstor.org/stable/30154702 (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
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ruhm wie ein muthiges geiles rosz himmerte“, fügt sich durchaus schlüssig in den Zusammenhang. Strauß hat vermutlich das getan, was auch andere angesichts der Formulierung „himmernde Kommata“ getan hätten – er hat das Adjektiv nachgeschlagen und dabei das Luther-Zitat gefunden, das als erster Beleg zum Wort ‚himmern‘ im Deutschen Wörterbuch der Grimms angeführt wird.62 Es tut dabei wenig zur Sache, ob Strauß nicht über die Google-Vorschau hinaus recherchiert hat oder sich in seine Recherche ein einfacher Copy & Paste-Fehler eingeschlichen hat. Das „wiehern“ passt in das Hamann-Bild, das Strauß hier aufruft und ausgestaltet, es bestätigt (wie allerdings auch das hämmern) die „Emphasiologie“, die „Schreibart der Leidenschaft“, die er Hamann zuschreibt und die er in seiner Gegenwart, bei den „hinlänglich sprachgewandten Kleinmeistern“,63 vermisst – wie schon, ganz ähnlich, knapp 25 Jahre zuvor, in Wohnen Dämmern Lügen: Man muß wieder Hamann lesen, um zu lernen, daß Geist aus Rissen und Sprüngen entweicht, daß alle klärenden kleinen Sprachmeister Langweiler sind … daß man sich jede Minute vergessen kann … daß Leidenschaft, Drang, Affekt höchste Güter des Lebens, der Religion – und des Stils sind, paulinischer Glaubenssturm, augustinische Selbstdurchdringung … […] Ohne Hamann kein Deutsch. Ohne den Dunklen vom Norden kein Licht …64
In Wohnen Dämmern Lügen sind es die „klärenden kleinen Sprachmeister“, die ihn langweilen und zu Hamann, dem „Liebhaber der langen Weile“, greifen lassen. So naheliegend es sein mag, auch in dieser Hinsicht auf Hamann zu verweisen, so absehbar und wenig überzeugend bleibt hier die wiederholte Beschwörung genialischer Dunkelheit in einer Traditionslinie, die für Strauß von Seneca und Dante über Hamann und Jünger bis zu Strauß reicht. Harald Schnur hat sich vor einigen Jahren Strauß’ Hamann-Begeisterung genauer angesehen und einer eingehenden Lektüre unterzogen, einer Parallellektüre Hamann/Strauß, die viele Gemeinsamkeiten sichtbar macht, aber ebenso deutlich auch Differenzen, die schließlich auch Schnurs Fazit zu Strauß’ „Poetik der Anwesenheit“ prägen. Während die stilistischen Qualitäten von Hamanns Werk für Schnur insofern ein innovatives Potenzial entfalten, als ihnen eine spezifische Lektürepraxis und ein dezidiert theologisches Interesse im Sinne einer Sakralisierung der Sprache korrespondiert, habe die Sprache von Strauß „kein 62 Online verfügbar unter: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=himmern (zuletzt
aufgerufen: 18. 9. 2020).
63 Strauß: Der Fortführer (wie Anm. 54), S. 170 f. 64 Strauß: Wohnen Dämmern Lügen (wie Anm. 54), S. 194.
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Potential, das damit zu vergleichen wäre“. Sein Sprachbegriff habe sich „als bedeutungslos für seine Literatur erwiesen“, konstatiert Schnur, „obwohl Strauß ihn als konstitutiv für sein Schreiben darstellt.“65 Strauß wolle zwar eine „vorgeschichtliche, mythisch-archaische Zeit zur Anwesenheit bringen“, gelange aber „über die Beschreibung von Initiationen“ nicht hinaus. In der Literatur bleibe es bei einer „leeren Geste“, außerhalb der Literatur aber sei sie „politisch, ein Bekenntnis zur Gegenaufklärung“.66 Dieser Lesart, über die man durchaus streiten könnte, setzt auch Der Fortführer wenig entgegen, das Buch unterstreicht sie vielmehr in mehrfacher Hinsicht – nicht nur, aber auch in der Art des Rückgriffs auf Hamann.
4. „chopped and screwed“ – Slavs and Tatars’ Kirchgängerbanger Seit einigen Jahren taucht Johann Georg Hamann auch im Rahmen der Gegenwartskunst als eine zentrale Bezugsfigur auf. In verschiedenen Ausstellungen, zuletzt in Münster, in Bolzano und in Venedig, hat das in Berlin ansässige Künstlerkollektiv Slavs and Tatars seine fortlaufende Auseinandersetzung mit Hamann präsentiert, die sich in einer Reihe von Werken und Rauminstallationen ebenso zeigt wie in den begleitenden Publikationen und Paratexten. So war 2018 in den Räumen des Westfälischen Kunstvereins Münster eine raumgreifende Installation zu sehen, in deren leicht versetztem Zentrum ein Hybrid aus Bühne und Bar stand, das mit Treppenstufen und Barhockern sowie, an der aufgeschnittenen Innenseite, einem vielfach reproduzierten Poster mit der Aufschrift „Johann Georg Hamann – An Niemand und an Zweien“ versehen war.67 Die Aufschrift war platziert auf einem Bild, das an die bekannten Portraits erinnert, auf denen Hamann mit einem im Nacken geknoteten Kopftuch zu sehen ist, das hier aber eher als ein do-rag zu identifizieren ist, als jenes Kopftuch afrikanischer Herkunft, das seit den späten 1970 er Jahren vor allem von Hip-Hop-Künstlern als subver-
65 Harald Schnur: „Gegenkommunikation“. Botho Strauß und Johann Georg Hamann über
eine Poetik der Anwesenheit. In: Das Buch und die Bücher. Beiträge zum Verhältnis von Bibel, Religion und Literatur. Hg. von Bettina Knauer. Würzburg 1997, S. 165–189, hier S. 189. 66 Ebd. 67 Vgl. die Dokumentation von Aufnahmen der Ausstellung unter: https://www.west faelischer-kunstverein.de/fileadmin/user_upload/ausstellungen/2018/Slavs_and_ Tatars/201810_broschüre_Web_DE.pdf; vgl. auch https://slavsandtatars.com/about/exhibition/saalbadereien-bathhouse-quackeries (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
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siver Marker des ‚black cool‘ popularisiert worden ist.68 Diese Lesart wurde im Rahmen der Ausstellung dadurch unterstützt (oder allererst motiviert), dass aus vier Lautsprechern ein gerappter Text zu hören war, den die Künstlergruppe aus Zitaten von Hamann generiert hat und von einem Rapper hat rappen lassen. Im Hintergrund war ein aufgespannter Teppich zu sehen, auf dem „Jesus, Sohn Marias, ist Liebe“ zu lesen war, allerdings in arabischer Schrift, die üblicherweise weniger eng mit dem Christentum verknüpft wird. Offensiv und häufig auch etwas überdeutlich sucht die Künstlergruppe Slavs and Tatars wie in diesem Fall nach Verbindungen zwischen vermeintlichen Gegensätzen, nach unwahrscheinlichen Kombinationen, nach dem „Stilbruch“, der als Prinzip wie auch als Titel eines der Objekte über vielfältig angelegte Verweise auf Hamann das Konzept der gesamten Ausstellung prägt. Der Ausstellungstitel „Saalbadereien / Bathhouse Quackeries“ baut auf einer Wortprägung Hamanns auf, der Herder gegenüber „Saalbadereien“ als möglichen Titel einer Hamann-Werkausgabe vorgeschlagen hatte, was Herder bekanntlich ebenso wenig gefallen hat wie Hamanns Alternativvorschlag: „Kleine metakritische Wannchen“.69 Slavs and Tatars nehmen eben diese Wortprägung auf, wohl auch wegen dieser Irritationen, vor allem aber angesichts des wortspielerischen Witzes und der Form der Stilmischung, der Zusammenführung von hohem und niedrigem Stil, der Kollision von Heterogenem, vermeintlich Unvereinbarem. Für die begleitende Publikation, eine zweisprachige Broschüre mit einem Essay über Hamann und einer Auswahl seiner Texte, abgedruckt jeweils in deutscher und englischer Sprache,70 versucht sich die Künstlergruppe selbst an einer Wortschöpfung im Sinne Hamanns. Der Titel Kirchgängerbanger ist, wie Slavs and Tatars in einem Interview erläutern, eine „Kombination von zwei inkommensurablen Wörtern: Kirchgänger und Gangbanger“ und in diesem Sinne ein „Stilbruch“, wie ihn Hamann vollziehe, wenn er Theologie und Genitalien zusammendenke.71
68 Vgl. dazu etwa https://www.gq.com/story/who-criminalized-the-durag; https://www.
vogue.co.uk/fashion/article/rihanna-first-durag-british-vogue-cover (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020). 69 ZH V, 204. 70 Slavs and Tatars: Kirchgängerbanger. Münster 2018. 71 http://moussemagazine.it/slav-and-tatars-arge-kunst-2018/?fbclid=IwAR3JLAzD96cQ EWCOwfb3YQregWvuoNddNosSkmQ-5wT4PEg1hwZYjUxkjLc (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
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Auf die Ausstellung in Münster folgte eine Ausstellung in Bolzano, die, nunmehr unter dem Titel „Kirchgängerbanger“,72 den in Münster gezeigten noch einige weitere Hamann-bezogene Objekte hinzufügt, darunter ein Teppich, schon in Aristophanes Fröschen ein Bild für den unverständlichen Wortprunk von Aischylos und auch in der Folgezeit ein vielfach aufgerufenes Motiv für Fragen des Auslegens. Hier war der Teppich mit der schon aus Münster bekannten Aufschrift versehen, im Unterschied zu den Postern sah man aber, als Wink für Hamann-Leser,73 durch den halb liegenden, halb hängenden Teppich auch dessen Rückseite. Auf einer Wandkonstruktion lag, eingerichtet für die Lektüre, die Broschüre Kirchgängerbanger, aufgeschlagen war die englische Übersetzung der ersten Zuschrift der Sokratischen Denkwürdigkeiten – „To the public oder nobody, the well-known“, wobei der Titel des Objekts, „Underage Page“, auch schon auf die Spezifikation hinwies, die Hamann den Wolken hinzufügt: ad usum delphini.74 Wie in Münster waren auch in Bolzano Lesungen und Performances Teil der Ausstellung, darunter eine Hamann-Lesung, die unter dem Titel „Der Text liest mich ebenso sehr, wie ich den Text lese“ unter Einbeziehung des Publikums stattgefunden hat. Für die Gestaltung eines Raumes im Rahmen der Kunst-Biennale 2019 in Venedig wurden den schon bekannten Objekten und Installationen noch einige neue hinzugefügt, darunter ein übergroßes Plakat im Stil einer bekannten Werbung für einen Armani-Duft mit der Aufschrift: „Acqua di Georg. George Hamanni. What for others is style, for me is soul.“75 Warum aber Hamann, könnte man – aus der Perspektive des Kunst-Diskurses wie der Hamann-Forschung – immer wieder erneut fragen? Und warum „Mo’ Hamann, Mo’ Often“, wie es im englischen Original des einleitenden Essays des begleitenden Buchs heißt? Warum „Mehr Hamann Häufiger Hamann“?76 „Vernünftig zu denken wird heutzutage zu einer immer empfindlicheren Angelegenheit“, erläutern Slavs und Tatars ihren Ansatz, angesichts „des Aufstiegs der Rechten und eines unkontrolliert wütenden Irrationalismus“ sei man versucht, „in den ruhigen Armen der Vernunft Linderung zu suchen“.77 Eben dies sei aber falsch: 72 Zur Ausstellung in Bolzano vgl. https://slavsandtatars.com/about/exhibition/ar-ge-kunst
(zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
73 Vgl. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce (wie Anm. 4), S. 89. 74 N II , 83. 75 Vgl. https://slavsandtatars.com/about/exhibition/dillio-plaza (zuletzt aufgerufen: 18. 9.
2020).
76 Slavs and Tatars: Kirchgängerbanger (wie Anm. 70), S. 3–19 (deutscher Text). 77 Ebd., S. 3.
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Tatsächlich benötigen wir genau das Gegenteil. Hat uns nicht gerade das vernünftige Denken ohne Umwege in die Sackgasse geführt? Eine Sackgasse der Dualismen: Geist gegen Materie, Beyoncé gegen Rihanna, Wohlhabende gegen Mittellose, res cogitans gegen res extensa, Wissenschaft gegen Glauben? Sollten wir stattdessen nicht lieber queer denken und Vermischungen Raum lassen?78
Als Antwort auf diese Frage rufen Slavs and Tatars Hamann auf den Plan, verweisen auf ihn als „Stachel im Waschbrettbauch der Aufklärung“, als „enfant terrible der Gegenaufklärung“, und bringen Hamann – mit einer unübersehbaren Faszination für das Kryptische, Schwerverständliche – in Anschlag gegen das gegenwärtige „Zeitalter säkularen Furors“.79 „Should we not instead think queer, or at the very least, chopped and screwed?“,80 lautet die für das Projekt zentrale Frage im englischen Original. Der hier implizierte Verweis auf eine Remix-Technik im Hip Hop, „Chopped and Screwed“,81 macht deutlich, dass es Slavs and Tatars immer auch um eine Verknüpfung mit der Gegenwartskultur geht, dass Hamann nicht, wie etwa bei Strauß, als Gegenpol zur Gegenwart, sondern, wie auf andere Weise bei Lentz, als deren potenzieller Stichwortgeber begriffen wird. Hamann wird, anders gesagt, hier von eben denen, die Strauß als „Netzwesen“ und „digital Vernetzte“ diskreditiert, als Gewährsmann für eine Intervention in der Gegenwart in Anspruch genommen – und das nicht zuletzt gegen Positionen, für die sich auch Strauß stark macht. Der Ansatz ist so interessant, wie er irritierend ist: Slavs and Tatars begeistern sich für Hamanns Verankerung im Glauben, da sie davon ausgehen, dass man auch heute Glaube und Religiosität als „progressive Handlungsmacht“ begreifen kann und sollte; sie schließen an Hamanns immer situationsbezogenes Denken und Schreiben an; und sie sind fasziniert von Hamanns Dunkelheit, von der Zuschreibung, er sei der ‚Dunkelste‘, und beziehen ihn auch deshalb auf die Gegenwart, begreifen ihn als gegenwärtig relevant: „Ein dunkler Mann für dunkle Zeiten“ lautet eine weitere Zwischenüberschrift des Hamann-Essays.82 Dabei wenden sich Slavs and Tatars mit Hamann ebenso gegen die „Alpha-MännchenPerspektive des cogito ergo sum“ wie gegen das, was sie als Postmoderne verstehen: „Wir bewegen uns heute eher slo-mo im Gegensatz zu den Postmodernen, freuen uns aber über eine Mitfahrgelegenheit in Richtung eines vitalistischen 78 Ebd. 79 Ebd., S. 4 f. 80 Ebd., S. 3 (englischer Text). 81 Vgl. dazu https://www.urbandictionary.com/define.php?term=chopped%20and%20scre
wed (zuletzt aufgerufen: 18. 9. 2020).
82 Slavs and Tatars: Kirchgängerbanger (wie Anm. 70), S. 6 u. 9 (deutscher Text).
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Weltverständnissen.“83 Man muss in dieser Richtung nicht unbedingt mitfahren wollen, um auch diesen Zugang zu Hamann bemerkenswert zu finden. Die Aufreihung von Hamann-Klischees und vergleichsweise überkommenen Positionen der Hamann-Philologie im Essay von Slavs and Tatars spricht wie auch deren Vitalismus-Faszination nur bedingt für den Ansatz des Künstlerkollektivs. Vor dem Hintergrund des neuen Interesses an Hamann in der Gegenwartsliteratur ist die mehrfach fortgesetzte Reihe von Ausstellungen und Texten aber dennoch interessant, zumal sie durch die Positionierung im Kontext der Gegenwartskunst nochmals andere Perspektiven und Zusammenhänge und damit nicht zuletzt auch einen neuen Blick auf Hamann eröffnen kann. Was die Texte, Ansätze und Positionierungen von Michael Lentz, Botho Strauß und Slavs and Tatars in der Zusammenschau aufschlussreich erscheinen lässt, ist nicht zuletzt ihre Unterschiedlichkeit, ihre Unvereinbarkeit. Mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen und entsprechend unterschiedlichen Konsequenzen beziehen sich alle drei auf Hamanns Stil, auf seine Schreib-, Lektüreund Zitierverfahren. Sie lesen Hamann ganz unterschiedlich, schließen auf je verschiedene Weise aber durchaus dezidiert an das an, was Hamann in seinen Anmerkungen zur Übersetzung von Buffons „Über den Styl“ als „stylus atrox“ bezeichnet. Dabei wird die gängige Lesart, den Hinweis auf den „stylus atrox“ als Selbstbeschreibung von Hamanns ‚dunklem Stil‘ zu lesen, durchaus ähnlich stark strapaziert wie in der Hamann-Forschung. Was die verschiedenen Annäherungen an Hamann allerdings unmissverständlich vor Augen führen, ist die Einsicht, dass die von Hamann schon anlässlich seines ersten Buchs aufgeworfene Frage: „Wer wird denn sowas lesen?“84 kaum abschließend beantwortet werden kann. Und es bestätigt sich immer wieder erneut, auch das zeigen nicht zuletzt Lentz, Strauß und Slavs and Tatars in ihrer Unterschiedlichkeit, was Hamann zum Abschluss seiner Autorschaft in den Entwürfen zum „Fliegenden Brief “ notiert: „Um aber zu verstehen: Was geschrieben steht […], kommt es allerdings auf die Frage an: Wie liesest du?“85
83 Ebd., S. 15. 84 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce (wie Anm. 4), S. 4 f. 85 Hamann: Fliegender Brief. Erster Band (wie Anm. 6), S. 238.
III. Mikrologie
Monika Schmitz-Emans (Bochum) Inszenierungen auf dem Text-Theater. Über Schriftref lexion und typographische Gestaltung bei Samuel Richardson, Laurence Sterne und Johann Georg Hamann
1. Mise en page als mise en scène: Das Druckwerk als Schau-Platz Seit dem mittleren 18. Jahrhundert ist eine zunehmende Aufmerksamkeit auf die Optionen der Typographie als einer eigenen Dimension literarischer Textgestaltung zu beobachten. Dies gilt sowohl für die Verwendung eines ausdifferenzierten Repertoires verfügbarer typographischer Zeichen als auch für Praktiken der mise-en-page und für Formen der Bucharchitektur, die mit spezifischen typographischen Gestaltungsverfahren verknüpft sind (etwa mit der Gestaltung und Nummerierung von Kapitelüberschriften, mit der Abbildung chronologischer Ordnungsmuster im Buch etc.). Literarische Autoren bedienen sich verstärkt des breiten Spektrums an typographischen Mitteln, welche Kultur und Technologie des Buchdrucks seit dessen Anfängen in zunehmend stärker ausdifferenziertem Umfang hervorgebracht haben, wobei sie allerdings teilweise auf textgestalterische Verfahren zurückgreifen, die schon in der Manuskriptkultur entstanden sind. Als literarisch-poetisches Darstellungsmittel lässt sich in einer ersten Annäherung Typographisches dann beschreiben, wenn der Einsatz typographischer Mittel nicht oder nicht nur auf konventionelle (und daher eher unauffällige) Weise eine praktische Funktion erfüllt, sondern wenn Typographisches die Aufmerksamkeit erkennbar auf sich ziehen soll und dabei eine weitere Semantisierungsebene ins Spiel kommt – etwa eine metaphorisch-metonymische, also eine zumindest proto-literarische Bedeutungsdimension der typographischen Zeichen und ihrer mise-en-page. Betont sei aber, dass die Differenzierung zwischen praktisch-funktionalem, unauffälligem Mitteleinsatz und protoliterarisch-ästhetischem Einsatz auf der Basis zusätzlicher Semantisierungen rein heuristische Zwecke hat – vergleichbar mit der sprachlichen Metaphorik, wo es unauffällige und auffällige Metaphern gibt, eine kategoriale Differenzierung aber keinen Sinn macht.
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Fälle literaturaffiner Typographie liegen etwa vor, wo differenzierende typographische Auszeichnungen mit metonymischen Semantisierungen einhergehen und dadurch motiviert sind. Ein Beispiel ist der Einsatz von Frakturschrift als Markierung ‚gelehrter‘ Passagen oder Termini. Eine vergleichbare protoliterarische Semantisierung typographischer Zeichen prägt auch vielfach den Einsatz von Asterisken oder von Punktreihen. Sind diese zum einen vor allem in wissenschaftlichen und philologischen Texten sowie Texteditionen geläufige Hinweise auf Auslassungen, Lücken, Textabbrüche und in dieser Funktion ein kodifiziertes sachlich-informatives Hilfsmittel, so haben sie andererseits in literarischen Texten doch zudem suggestive Neben- oder sogar Haupt-Effekte: Über den Abbruch einer mitgeteilten Figuren- oder Erzählerrede hinaus können sie auf etwas verweisen, das sich der Mitteilung entzieht. Das ist dann mehr als die Mitteilung: „Hier fehlt etwas im Text“; es besagt tendenziell auch oft: „Hier nähern wir uns dem, was nicht gesagt werden kann“ – und markiert damit gleichsam auf textgestische Weise eine Grenze. Auch textarchitektonische Gestaltungsverfahren in Druckwerken gehören einerseits zu den konventionellen Instrumentarien typographischer Textkultur; sie lassen sich andererseits aber ebenfalls in einer Weise literarisch nutzen, die über die geläufigen Kodierungen hinausgeht. Literarische Spiele mit Fußnoten oder mit lexikographischen Textmustern (wie sie im 18. Jahrhundert schon stattfinden) können beispielsweise Spiele mit Ordnungs- und Hierarchisierungskonventionen sein. Und das Abbrechen von Absätzen oder Kapiteln im Textbild beruht meist keineswegs (entgegen anderslautenden fiktionalen Behauptungen) auf dem Versiegen einer abgedruckten Quelle; es ist ein literarischer Kunstgriff. Anzumerken ist gleichwohl einmal mehr, dass die Differenzierung zwischen praktisch-funktionalen und metaphorischen Bedeutungen typographischer Arrangements als heuristisch und nicht als streng definitorisch-deskriptiv zu verstehen ist. Auch in auf den ersten Blick gänzlich neutral-praktisch erscheinenden Arrangements von Drucktexten steckt ein metaphorisches Potenzial; auch sie wecken Assoziationen, bieten sich zu metaphorisch grundierten Auslegungen an. Dies gilt etwa für Differenzierungen von Groß und Klein, Rand und Mitte, Oben und Unten. Literarische Textarrangements lenken den Blick auf solche Potenziale. Zur metaphorisch-metonymischen Dimension typographischer Verfahren gehört es unter anderem, auf Schrift, Schriftlichkeit und schriftbasierte Kommunikation als solche hinzudeuten. Dabei wird sinnfällig mehrerlei signalisiert: dass die Bedeutung von Buchstaben auch auf ihrer Sichtbarkeit beruht, dass das Zeichenrepertoire der Schrift sich nicht auf das Alphabet beschränkt – und dass die Anordnung von Schriftzeichen ebenso bedeutsam ist wie ihre Form, ihr Design,
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ihre Größe etc. Für die schriftlich kommunizierten Mitteilungen ist es nicht gleichgültig, ob ein Text horizontal oder vertikal verläuft, wie er segmentiert ist, welche Abstände die Absätze, die Wörter, die Buchstaben haben, etc. Anders gesagt: Die Rhetorik von Texten als sichtbaren Gebilden hat auch eine visuelle Dimension, die maßgeblich durch die eingesetzten Zeichen (bei Druckwerken: durch Druckzeichen), ihre Anordnung, ihre Verlaufsrichtungen und ihre Zwischenräume konstituiert ist. In auffälligen typographischen Arrangements verweist Schriftlichkeit nicht allein auf sich selbst, sondern mittelbar auch auf ihre vielfältigen kulturellen Funktionen und historischen wie kulturspezifischen Ausprägungen. Dies gilt etwa für den Einsatz wechselnder Schrifttypensätze, für den Gebrauch unterschiedlicher Alphabete (etwa des lateinischen, griechischen, hebräischen) und für die Erweiterung des Alphabets um Satzzeichen und sonstige Drucktypen außerhalb der Buchstabenreihe. Zur Sphäre mündlicher Rede rücken diese Mittel in eine spannungsvolle und oft mehrdeutige Beziehung, wie schon die erwähnten Druckzeichen für Ausgespartes oder Abbrechendes zeigen. Wenn sie etwa ein ‚Verstummen‘ darstellen, dann ist das kein Verstummen, sondern eine Darstellung von Verstummen. Wenn die Sichtbarkeit von Texten im 18. Jahrhundert in verstärktem Maß zum Spielraum literarischer Gestaltungsverfahren wird, so kommen dabei besonders wichtige Beispiele und Impulse aus England. Der „Britte“, so heißt es einmal bei Jean Paul, besteche „durch typographischen Wiz und Tiefsin.“1 Aber Autoren wie Jean Paul und Hamann zeigen, dass der Sinn für die literarisch-gestalterischen Potenziale des Typographischen keineswegs auf England beschränkt ist. Typographie begründet – in Büchern – eine Art eigenes ‚Theater‘, im Sinn von Schauplatz, aber auch im Sinn eines Raums ästhetischer Inszenierungen. In rezenten Diskursen über typographische Gestaltungsverfahren wird vielfach in prägnanter Weise auf den Begriff der Inszenierung rekurriert. So werden Verfahren der Seitengestaltung durch Text-, Bild- oder Text-Bild-Arrangements
1 Für die Bestätigung der engen Beziehung zwischen englischer Literatur und besonderen
typographischen Einfällen ist es irrelevant, dass dies in einem satirischen Kontext festgestellt wird, um den Deutschen nahezulegen, es den Briten in ihrer „Narheit“ gleichzutun (Jean Paul: Bittschrift der deutschen Satiriker. In: ders.: Sämtliche Werke. Abt. II , Bd. 1. Jugendwerke I . Hg. von Norbert Miller. Wien 1974, S. 603–734, hier S. 681). Die Bitschrift der deutschen Satiriker (so die Originalschreibweise) zieht auf eine für Jean Pauls Frühwerk typische Weise gegen eine Dominanz des Materiellen über das Geistige zu Felde und operiert hierbei mit Dichotomien (wie insbesondere der von Körper und Geist), die später anders akzentuiert werden als hier.
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als Inszenierungspraktiken beschrieben.2 Parallel dazu steht der Inszenierungsbegriff auch im Fokus neuerer literaturwissenschaftlicher Konzeptualisierungen von Texten respektive von literarischen Darstellungsstrategien, die sich in Texten konkretisieren; diese sind teils verbunden mit Ansätzen, das Konzept der „Thea tralität“ literaturtheoretisch und analytisch fruchtbar zu machen.3 Dass es mit dem Inszenierungsbegriff um eine Modellierung ästhetischer Darstellungsverfahren geht, die durch ihre Reflexivität konstituiert sind, erläutert in diesem Zusammenhang Martin Stingelin: Inszenierung, so seine Bestimmung des Begriffs, ist bezogen auf Darstellungs- und Repräsentationsprozesse von reflexiver Struktur und macht dabei Reflexivität zugleich sichtbar. Insofern hat sie eine erkenntniskritische Dimension – wie dem umgekehrt zu aller Erkenntniskritik ein inszenatorisches Moment gehört.4 Die im Inszenierungs-Begriff implizierte Darstellungsreflexivität dürfte für seine Beliebtheit innerhalb von kunst-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskursen besonders wichtig sein, auch wenn deren Gegenstände und Themen sich unterscheiden. Dass die Seitengestaltung analog zur mise-en-scène als mise-en-page bezeichnet wird, insofern der Gestaltungsprozess als reflektiertes Tun in den Blick gerät, passt ins Bild. Hamann, so die im folgenden leitende These, zielt mit seiner Gestaltung von Schriftwerken, und hier insbesondere seiner Nutzung typographischer Mittel für Druckwerke, auf eine zeichen-, darstellungs-, sprach- und schriftkritische Reflexion als Antwort auf die 2 Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman: Lesetypographie. Mainz 2010. Vgl. u. a.
S. 59: „Im Grund ist jede typografische Auszeichnung schon eine kleine Inszenierung.“; sowie insgesamt das Kap. „Inszenierende Typographie“ samt Beispielen (ebd., S. 58–65). Willberg und Forssman sprechen u. a. auch von der „Dramaturgie“ seitengestalterischer Arrangements (ebd., S. 298). 3 Vgl. u. a. Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Neumann, Caroline Pross und Gerald Wildgruber. Freiburg 2000; Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Hg. von Ethel Matala de Mazza und Clemens Pornschlegel. Freiburg i. B. 2003. 4 Martin Stingelin: Seldwyla als inszenierte semiotische Welt. Ein unvermuteter schweizerischer Schauplatz der Zeichenreflexion. In: Inszenierte Welt (wie Anm. 3), S. 209–225, hier S. 209: „Jede Szene entspringt einer Verdoppelung: ‚Inszenierung‘ setzt ein vergegenständlichendes und ein vergegenständlichtes Moment voraus. Wo diese Verdoppelung akzentuiert wird, hält die Szene ihren Beobachter dazu an, diese gleichzeitig in ihrer Inszeniertheit, das heißt als Gegenstand ihrer selbst wahrzunehmen. Nicht nur, daß die Szene diese Eigenschaft mit der Reflexion teilt; sie wird auf diese Weise selbst zum Schauplatz der Reflexion. Der Prozeß der aus einer Wahrnehmung hervorgegangenen Erkenntnis stellt seinerseits eine Szene dar, die sich erzählen und nachstellen läßt. Daher stehen Inszenierung und Erkenntniskritik gegenseitig im Dienst: Keine Erkenntniskritik ohne Inszenierung, keine Inszenierung über Erkenntniskritik.“
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Transzendentalphilosophie des späten 18. Jahrhunderts ab – respektive als deren schriftreflexive Modifikation.5 Zunächst aber ein Blick nach England als das Land des „typographische[n] Wi[t]z[es] und Tiefsin[ns]“, auf das Druckseiten-Theater im englischen Roman des 18. Jahrhunderts.
2. Zur typographischen Inszenierung und ihrer Rhetorik bei Samuel Richardson Samuel Richardson (1689–1761) war nicht nur Romanautor, sondern auch Verleger und Druckereibetreiber im London der 1730 er und 1740 er Jahre.6 Sein erstes eigenes Buch (1734) war ein Handbuch für Drucker (The Apprentice’s Vade Mecum). Als Drucker weiß Richardson um die semantischen Potenziale typographischer Mittel. In seinen gestalterisch innovativen Romanen arbeitet er darauf hin, dass sich verbale und typographische Ebene wechselseitig stützen und bespiegeln. Die darin implizierte Überzeugung einer zumindest möglichen Analogie zwischen Darstellung und Darzustellendem – hier: zwischen Druckbild und Textsinn – erstreckt sich auch auf die verbal und typographisch auszudrückenden Empfindungen selbst, und hier liegt eine entscheidende Differenz zu Sterne. Die5 Ulrich Gaier hat in einem Aufsatz den Terminus „Inszenierung“ verwendet, um Her-
ders Preisschrift über den Ursprung der Sprache zu charakterisieren. Ulrich Gaier: Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als ‚Schrift eines Witztölpels‘. In: Literarische Formen der Philosophie. Hg. von Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht. Stuttgart 1990, S. 155–165, hier S. 155. Es geht ihm explizit darum, „de[n] Begriff der Inszenierung zur Beschreibung eines Textes fruchtbar“ zu machen – genauer gesagt: zur Beschreibung eines Textes, der „seiner Bestimmung nach expositorisch ist und bleibt, […] aber durch die Verfahren der Inszenierung von Begriffen und Argumentationen einen fiktionalen Charakter erhält und sich als ‚schöne Prosa‘ der ästhetischen Erfahrung öffnet.“ Gaiers Verwendung des Sprachbildes der „Inszenierung“ zielt nicht auf die typographische Dimension des von ihm kommentierten Textes, um die es im Folgenden gehen soll, wenn von Hamanns typographischen „Inszenierungen“ die Rede ist. Dennoch ist das fragliche Inszenierungsmodell hilfreich, weil es das ‚Expositorische‘ von Inszenierungen und ihren ästhetischen Grundcharakter akzentuiert. Aus historischer Perspektive betrachtet, komme es zu dieser „Inszenierung des Anschauens, Vorstellens und Denkens“ in einem Moment, da sich „transzendentales Philosophieren sprachlicher Erkenntniskritik unterzieht.“ 6 Zum Folgenden vgl. Steven R. Price: The Autograph Manuscript in Print. Samuel Richardson’s Type Font Manipulation in ‚Clarissa‘. In: Illuminating Letters. Typography and Literary Interpretation. Hg. von Paul C. Gutjahr und Megan L. Benton. Amherst/ Boston 2001, S. 117–135.
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ser nämlich vertraut nicht auf eine mögliche typographische Bekräftigung dessen, was die Wörter sagen, er verlässt sich, genauer gesagt, auf sichtbare Zeichen ebenso wenig wie auf Modi verbalen Ausdrucks. Stattdessen tendiert er dazu, die visuell-typographische Gestaltungsebene ‚eigensinnig‘ erscheinen zu lassen (dazu im Folgenden mehr) – und die Differenz zwischen Darzustellendem und Darstellung zumindest punktuell sinnfällig zu inszenieren. Der Briefroman Clarissa wurde von Richardson in fünf voneinander gestalterisch abweichenden Ausgaben publiziert, das erste Mal 1747/48; besonders wichtig ist unter dem Aspekt der Buchgestaltung die dritte Ausgabe von 1751, die unter anderem ein eingeklebtes Faltblatt mit einem Musikstück enthält. Richardson suggeriert mit der erweiterten Textfassung dieser dritten Auflage, hier werde ein gegenüber den früheren Ausgaben erweitertes, komplettes Textkorpus originaler Briefe präsentiert. Im Vorwort benennt und begründet er u. a. typographische Mittel (und macht auf diese so besonders aufmerksam). Den Druck seiner Romane überwachte Richardson genau. In seiner Eigenschaft als Druckerei besitzer und Typograph repräsentiert er programmatisch einen Schriftsteller typus, dessen Autor-Rolle sich auch auf die Buchgestaltung erstreckt. Obwohl durch den Paratext auf drucktechnische Entscheidungen hingewiesen wird (abgestimmt auf die angedeutete Herausgeberfiktion), finden sich im Roman u. a. gelegentliche Hinweise auf Spuren, die der manuelle Schreibprozess im Textbild hinterlassen haben soll – auf die vor Erregung zitternde Feder von Clarissa. Dem Leser konnte natürlich nicht entgehen, dass er einen gedruckten Text vor Augen hatte statt eines Manuskriptkonvoluts – und demnach suggeriert Richardson implizit einen Transfer handschriftlich-gestischer Textmerkmale in die druckschriftliche Darstellung. Das sogenannte „Paper X“7 präsentiert sich als ein besonders ‚dramatisch‘ wirkendes typographisches Artefakt: Der Fiktion nach anschließend an Clarissas Vergewaltigung durch Lovelace entstanden und nach ihrem anschließenden Erkennen der eigenen Situation in höchster Verzweiflung und psychischer Zerrüttung verfasst, ist der typographisch wiedergegebene Brief Dokument einer in mehrerer Hinsicht bewegten Szene. Die Textzeilen verlaufen nicht nur horizontal, sondern teilweise auch vertikal oder schräg. Damit sind sie zum einen metaphorische Verweise darauf, dass Clarissa selbst die Orientierung verloren hat. Zum anderen lassen sie eine Szene imaginieren, in der die Heldin, statt ruhig am 7 Samuel Richardson: Clarissa. Or, the History of a Young Lady. Bd. V. London 1748,
S. 239. Zit. nach Janine Barchas: Graphic Design, Print Culture and the EighteenthCentury Novel. Cambridge 2003, S. 130.
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Tisch oder Pult zu schreiben, durchs Zimmer läuft, den Schreibvorgang mehrfach unterbricht und auf das Blatt entsprechend der Position schreibt, die sie gerade inne hat: mal von hier, mal von dort. Erregtheit und Bewegung werden typographisch re-präsentiert, basierend vor allem auf einer Rhetorik der mise-enpage. Zeitgenössische Leser haben das Arrangement kritisch kommentiert oder doch auf seine Artifizialität hingewiesen.8 Ihnen erschien die Seite im abwertenden Sinn als ‚theatralisch‘, als transparente und damit misslungene Simulation authentisch-spontanen Ausdrucks, wie er an der Druckerpresse nun einmal nicht nachgestellt werden kann. Man kann aber auch von einer Inszenierung im oben exponierten Sinn sprechen: Eine Darstellung stellt sich als solche dar – und löst Reflexionen aus. Mag Handschrift noch als die Spur ‚natürlicher‘ Gesten gelten – im Reich der Drucktypen gibt es keine ‚natürlichen‘ Zeichen, keine spontanen und in diesem Sinn authentischen Schriftzüge. Ein imaginärer handschriftlicher Text ist der Suggestion zufolge in den Druck ‚übersetzt‘ worden. Der Leser ist nun eingeladen, noch aus dem Typogramm Clarissas Empfindungen abzulesen. Dazu bedarf es eines zumindest intuitiven Wissens um die Rhetorik gedruckter Artefakte, einer Rhetorik, die Richardson beherrscht und ausbaut. Viele Autoren des mittleren und späteren 18. Jahrhunderts bedienen sich ähnlicher Inszenierungsmittel. Vor allem die Gedankenstriche und die Asterisken übernehmen wichtige Funktionen. Je interessanter etwa die Suggestion eines abgebrochenen oder ausgesparten Textteils im Rahmen eines literarischen Werks erscheint, je mehr es auch etwa darum geht, ‚Verschwiegenes‘ zu signalisieren, desto interessanter wird der Asterisk. Wie eben dieser, so verweist auch der Gedankenstrich vielfach auf etwas, das nicht positiv ausgesagt respektive schriftlich formuliert wird oder werden kann. Die Auslassung kann dabei auf verschiedenen Ebenen erfolgen: Sprechende Figuren können ihre Rede unterbrechen oder unterbrochen werden; die Erzähler, die die Worte solcher Figuren mitteilen, können sich bei dieser Mitteilung (also beim Wiederholen von an sich bereits Gesagtem) unterbrechen – zudem können bestimmte Gedankengänge als unbeendet, ja als unbeendbar, bestimmte Aussagen als unvollendbar dargestellt werden, sei es aus inhaltlichen, sei es aus Sprecher-psychologischen Gründen, sei es infolge äußerer Zwänge. Richardson nutzt aber noch andere Inszenierungsmittel. Durch sogenannte Fleurons, scheinbar rein ornamentale typographische Zeichen, markiert er die 8 Albrecht von Haller äußerte sich abwertend über die ‚affektierte‘ Darstellung von Cla-
rissas ‚Delirium‘ in typographischer Form, andere verteidigten das Vorgehen Richardsons; vgl. hierzu Barchas: Graphic Design (wie Anm. 7), S. 132.
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Einsätze der Brief-Stimmen der wechselnden Briefromanakteure.9 Jede Figur bekommt ihren eigenen Fleuron, sodass diese Zeichen funktional an die Nennung von Rollensprechern zu Beginn von Rollentextabschnitten in geschriebenen und gedruckten Dramen erinnern. Die Form der Fleurons ist an die Charaktere angepasst; sie erscheint wie ein kleines motiviertes (nicht-arbiträres) Bild von deren Wesen, ein Bildsymbol, das zumindest andeutet, wer da jeweils repräsentiert wird. In den verschiedenen Ausgaben der Clarissa verfährt Richardson unterschiedlich mit den Fleurons, stets aber dienen sie auch dazu, Handlungsverläufe und Figurenentwicklungen anzudeuten, auf Unausgesprochenes zu verweisen – wie auf die Verstellung Lovelaces und seine Vorbereitung zur Vergewaltigung Clarissas.10
3. Ironisch-reflexive Rhetorik der Zeichen und der mise-en-page: Zu Laurence Sternes Roman-Theater Laurence Sterne (1713–1768) verwendet im Tristram Shandy (1759–1769) auf typographische Gestaltung und mise-en-page nicht allein eine Fülle origineller Einfälle, er präsentiert seinen Roman zudem im Zeichen eines expliziten Sinns für dessen Theatralik. Tristram geleitet, so wird wiederholt suggeriert, seine Leserschaft durch sein Buch wie durch ein Theatergebäude. Hier kann man die Romanfiguren, vor allem Tristrams Familienmitglieder, beim Durchspielen von Szenen beobachten. Gelegentlich adressiert Tristram seine Regieanweisungen auch an einzelne Leser oder Leserinnen, die ihn begleiten. So schickt er eine angeblich unaufmerksame Leserin einmal ein Stück im Buch zurück wie in einer Zimmerflucht; ein anderes Mal fordert er den Leser auf, etwas auf eine fast weiße Seite zu zeichnen. Wenn er narrativ evozierte Spielszenen gelegentlich unterbricht, so kann er sie später wieder aufnehmen – ähnlich einem Theaterdirektor bei den Proben. Sein eigenes Tun, seinen Erzählstoff, das Handeln seiner Figuren kommentiert Tristram mehrfach im Rekurs auf Fachtermini aus dem Umfeld von Theater, Drama und Dramenpoetik. 9 Ab der 3. Ausgabe von Clarissa sind diese Fleurons dann verbindlich mit bestimmten
Romanfiguren verbunden; jede der wichtigen Figuren hat ihre eigenen Fleurons. Diese Zeichen, so Barchas (Graphic Design [wie Anm. 7], S. 120) „have a significant impact on the temporal organization of ‚Clarissa‘. [...] Richardson enlists the generic non-pictorial ornaments termed ‚printer’s flowers‘ or ‚fleurons‘, as signifiers of temporal duration, interruption, and division.“ 10 Vgl. zu Richardsons typographischem Handlungsmanagement insgesamt ebd., S. 118– 152.
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How my uncle Toby and Corporal Trim managed this matter, – with the history of their campaigns, which were no way barren of events, – may make no uninteresting under-plot in the epitasis and working-up of this drama. – At present the scene must drop, – and change for the parlour fire-side.11
Nach derlei selbstreferenziellen Bemerkungen wendet er sich wieder der Geschichte und ihren Akteuren zu, die offenbar unterdessen ruhen mussten, weil ihr Auftritt noch nicht erfolgen sollte: „We left the stranger behind the curtain asleep – he enters now upon the stage.“12 Die visuelle Gestaltung des Buchs und sein Aufbau sind auf seinen Inhalt auf vielfache Weisen abgestimmt; dazu gehören etwa auch Sonderzeichen wie die Gedankenstriche. Diese erfüllen komplexe Funktionen, geben etwa die Einsätze zu Dialogbeiträgen oder versinnbildlichen Phasen und Orte des Übergangs von einer zur nächsten Szene. Manchmal wirken sie wie abbreviatorische Darstellungen von Stücken der Bühneneinrichtung. So einfalls- und abwechslungsreich der Roman visuell, seiten- und bucharchitektonisch gestaltet ist – er steht doch auf inhaltlicher Ebene deutlich im Zeichen sprach- und zeichenkritischer Reflexion. Wörter, vor allem Namen, sind unzuverlässig, arbiträr, der Falschheit verdächtig. Selbst an sich reizvolle Wortspiele bestätigen, wie schwer es ist, sich in der Welt der Wörter zurechtzufinden. Viele wichtige Dinge lassen sich nicht oder doch nicht nach Wunsch verbalisieren.13 Das ist aber nur die eine Seite des insgesamt ambivalenten Befundes. Denn auf der anderen Seite ist ein Überfluss an potenziellen Bedeutungen zu verzeichnen,
11 Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Hg. von Gra-
ham Petrie. London/New York 1967, Bk. II , Chap. 5, S. 118. So kommentiert Tristram das Treiben seines Onkels und des Corporals Trim, die ihrerseits eine Inszenierung betreiben, nämlich die Re-Inszenierung der Belagerung, bei der Onkel Toby verwundet wurde. Auch im „Slawkenbergius’s Tale“ (ebd., Bk. IV, S. 268) benutzt Tristram dramentechnische Fachausdrücke, mit denen er seine eigene Erzählkonstruktion charakterisiert, so etwa „Protasis“ oder „first entrance“ als Dramenteile, „where the characters of the Personæ Dramatis are just touched in, and the subject slightly begun“, oder die „Epitasis, wherein the action is more fully entered upon an heightened, till it arrives at its state or height, called the Catastasis, and which usually takes up the 2 nd and 3 rd act“. Ferner kommentiert er den „fifth act“, der „the Catastrophe or Peripetia“ der Geschichte darstelle. 12 Ebd. 13 Roger B. Moss: Sterne’s Punctuation. In: Eighteenth-Century Studies 15/2 (1981/82), S. 179–200, hier S. 184.
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eine Fülle von Zeichen, die scheinbar gelesen werden sollen. Denn sogar das NonVerbale ist mitteilsam – und fordert auf zur Interpretation.14 Sterne, der die Drucklegung der neun Bücher seines Romans möglichst genau überwachte,15 betont humoristisch, aber insistent die theatrale Dimension seines Romans. Der Buchraum wird entsprechend ausgestattet, so u. a. mit schwarzer, weißer und marmorierter Seite, graphischen Elementen und einer unkonventionellen Kapitelsequenz. Tristrams nicht seltene Hinweise auf die eigene Inszenierung sind implizit eine Antwort auf Richardson und das paradoxale Unternehmen, Authentisches zu re-inszenieren, Natürliches künstlich zu repräsentieren. Denn Richardson einerseits, Sterne andererseits konzipieren und gestalten ihre Romane im Zeichen unterschiedlicher Prämissen und Suggestionen: Richardson geht von möglichen Transferprozessen zwischen der Sphäre der Empfindungen als dem zentralen Referenten zeichenhafter Darstellung einerseits, den Zeichen andererseits aus – von der Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Emotionen und Druckbild auf dem Weg über eine (fingierte) Handschriftlichkeit. Den Rahmen dafür bildet der Briefroman, und dies nicht von ungefähr: Beruht doch der Briefroman selbst auf der Suggestion, die ihn konstituierenden Briefe böten Einblick in die Empfindungswelten der Protagonisten. Es entspricht einer dominanten Perspektive auf den Brief im Zeitalter der Empfindsamkeit (für das gerade Richardsons Romane stehen), die briefliche Kommunikation als mögliche Form der intimen Kommunikation und der Übermittlung von Innerem zu verstehen. Richardsons Romane basieren unausdrücklich auf einer Ästhetik des Ausdrucks, der dem Ideal der Authentizität und Unmittelbarkeit zumindest sehr nahe kommt. Dies betrifft mehrere Ebenen der zeichenhaften Kommunikation: Inneres, Emotionales artikuliert sich in Gesten, Gebärden, Körpersprachlichem. Dieses wiederum hinterlässt in der Handschrift seine lesbare, ‚natürliche‘ Spur. Und eine typographisch differenzierende Darstellung des unmittelbaren Empfindungsausdrucks macht den gedruckten Text unbeschadet seiner mechanischen Produktion zur analogen Spur dieser Spur. So macht auch Typographie Seelisches sichtbar und entzifferbar, wenngleich über Vermittlungsschritte. Die Inhaltsebene der Texte verstärkt diese Transparenzsuggestion, insofern Briefe der impliziten 14 Vgl. ebd., S. 188. 15 Christopher Fanning: Sterne and Print Culture. In: The Cambridge Companion to Lau-
rence Sterne. Hg. von Thomas Keymer. Cambridge 2009, S. 125–141, hier S. 129: „[…] Sterne was invested in the minutiae of his text. As he wrote to his prospective London publisher, Robert Dodsley, concerning his own, first, York edition of Tristram Shandy, ‚I … shall correct every proof myself, it shall go perfect into the world, and be printed in so creditable a way as to paper, type, &c., as to do no dishonour to you‘.“
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Prämisse des Briefromans zufolge der ausdrucksvollen Selbstdarstellung der Figuren dienen. Anders verhält es sich bei Sterne, der die Spannungen und Brüche betont, welche zwischen den einzelnen Vermittlungsschritten liegen, zumal bei ihm die kritische Auseinandersetzung mit der Vermittlungsleistung der Sprache ein zentrales Thema ist. Zwischen Empfindung und Sprache, Sprache und Schrift, Schrift und Druck bestehen Spannungen, und Sterne tendiert eher dazu, diese zu akzentuieren (respektive: zu konstruieren und zu inszenieren), als dazu, die Möglichkeit eines gelingenden Transfers zu betonen. Zwar spielt das Leitkonzept eines analogen Bezeichnens im Tristram Shandy eine Rolle (so gibt angeblich die Spur von Corporal Trims Stock wieder, wie dieser zur Frage des Zölibats steht, und die typographische Darstellung der Stockspur wird als deren Abbild präsentiert), aber dies und Ähnliches steht im Zeichen der (Selbst-)Ironie. Die Linien beispielsweise, die angeblich den bisherigen und den künftigen Gang der Erzählung abbilden, sind in dieser Eigenschaft paradoxe (weil nicht einsinnig gerichtete) Linien. Unterbrechungs- und Auslassungszeichen sind vieldeutig, vieldeutig sind allerdings auch die Wörter selbst, die Namen, die verbalen Erläuterungen, die Erläuterungen der Erläuterungen etc. Sterne ‚macht Theater‘, seine Figuren ‚machen Theater‘ – und man soll dies bemerken. Für Richardson gibt es einen letzten, grundlegenden und letztlich ‚reinen‘ Text: die Sprache der Empfindungen. Personifikation dieses reinen Textes, der sich selbst auch angesichts aller Außeneinflüsse erhält, ist Clarissa. Für Sterne ist jenseits der ‚Meinungen‘,16 der Transferprozesse und Zeichen kein reiner Text erschließbar. Er bleibt eine allenfalls imaginäre Bezugsinstanz – ungreifbar wie die Zeit, die Wahrheit, das Ich. Sprechen, Schreiben und typographisches Gestalten sind hochironische Angelegenheiten. Die Gegenüberstellung der Modelle Richardsons und Sternes deutet an, in welchem Spannungsfeld der Optionen sich Textgestaltung – schriftliche und insbesondere typographische – bei Hamann vollzieht.
4. Hamanns Textinszenierungen Dass Schrift mehr ist als nur ein Zeichensystem zur Repräsentation von Sprachlauten, ist ein für Hamanns Denken und Schreiben prägender Gedanke. Neue Perspektiven auf Hamanns gestalterischen Umgang mit Schrift eröffnen inso16 Vgl. das von Epiktet entliehene Motto des Sterneschen Romans.
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fern gerade Ansätze der neueren Schrifttheorie, die dezidiert von einer phonographischen Schriftkonzeption abrücken und ihr besonderes Augenmerk auf die ‚Schriftbildlichkeit‘ von Texten legen.17 Hatte schon Josef Nadler betont, „in Hamanns Satzbild“ stecke ein „Textwille“ und besonders auf „Unterstreichungen und Hervorhebungen“ hingewiesen,18 so verbindet eine Abhandlung von Bernhard Veitenheimer „typophilologische Untersuchungen“ zu Hamanns Texten mit der Erörterung ihrer spezifischen Funktionen. Charakteristisch für Hamann, so Veitenheimer, sei die „Teilhabe der Typographie am Text“, die Hamann selbst „ostentativ praktizierte“ und gelegentlich zudem „explizit reflektierte“.19 Eine Studie Stefan Willers widmet sich der „Philologische[n] Schriftbildlichkeit“ bei Hamann unter besonderer Akzentuierung der Druckseite20 und unter Orientierung an Lapacherie und seinem Konzept der „Grammatextualität“.21 Bei solchen Analysen gilt es, wie vorliegende Forschungsbeiträge deutlich machen, auf die 17 Dafür sind verschiedene Impulse in unterschiedlichem Maße signifikant. So ist etwa mit
der Fokussierung auf die Materialität des Buchstäblichen und der Textgestaltung einer dekonstruktivistisch inspirierten Leitthese zufolge ein Moment der Widerständigkeit gegen das reibungslose Verstehenwollen verbunden, das sich nicht durch Decodierung auflösen läßt. – Zum Thema visuelle Textgestalt bei Hamann vgl. u. a. Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ‚Aesthetica in nuce‘. Tübingen 1970, u. a. S. 13; Bernd Bräutigam: Reflexion des Schönen – schöne Reflexion. Überlegungen zur Prosa ästhetischer Theorie – Hamann, Nietzsche, Adorno. Bonn 1975; Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000, u. a. S. 113. 18 Josef Nadler: Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug. Halle (Saale) 1930, S. 168 f. 19 Bernhard Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens. Zur Semantisierung der Typographie bei Johann Georg Hamann. In: Typographie & Literatur. Hg. von Rainer Falk und Thomas Rahn (= TextKritische Beiträge, Sonderheft). Frankfurt a. M. 2016, S. 75–103, hier S. 75 und S. 79. 20 Stefan Willer: ‚Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischen Zeichen‘. Philologische Schriftbildlichkeit am Beispiel Johann Georg Hamanns. In: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. Hg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer. München 2005, S. 357–373. 21 Jean Gérard Lapacherie: Der Text als ein Gefüge aus Schrift. Über die Grammatextualität. In: Bildlichkeit. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1990, S. 69–88. Lapacherie unterscheidet das figürliche Ikon (piktographische Zeichen z. B.) am einen Ende der Skala und dem ‚nichtfigürlichen Alphabet‘. Dazwischen liegen das partiell figürliche „Ideogramm“ und das „Diagramm“. Dazu genauer Willer: ‚Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischen Zeichen‘ (wie Anm. 20), S. 359. In Buchstabenalphabeten werden aber auch die alphabetischen Zeichen visuell-ikonisch.
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von Hamann selbst autorisierten Drucke zurückzugreifen, da spätere Ausgaben hier unzuverlässig sind, auch die Nadlers.22 Die mangelhafte Wahrnehmung der typographischen Dimension von Hamanns Werken durch die Herausgeber von Textausgaben beklagen verschiedene Interpreten, darunter Veitenheimer23 und Eckhard Schumacher.24 Auf diese und andere Befunde stützen sich die folgenden Ausführungen. Betont sei dabei, dass es insgesamt sinnvoll erscheint, Hamanns typographische Einfälle und Maßnahmen nicht nur im Bezugsfeld der DruckSeite zu sehen, sondern in dem des Buch-Raumes. Denn oft verweisen typographische Maßnahmen über die simultan sichtbare Seite oder Doppelseite hinaus auf den gebundenen Seitenstapel, das ‚Volumen‘, das Buch als Objekt spatialer Konstruktionsarbeit. Eine integrale Sichtung der typographischen Gestaltungsverfahren Hamanns und seiner Modi der mise-en-page, aber auch der Seitensequenzbildung, der miseen-livre, wäre ein großes Unternehmen. Einzelstudien lassen erkennen, welche Erträge zu erwarten sind. Veitenheimer etwa listet wichtige Hamannsche Inszenierungs-Mittel auf, „Beispiele typographischer Semantik“, wie sie in den Originaldrucken zu beobachten sind, bei späteren Drucken dann mangels Sinn für
22 Nadler (Die Hamannausgabe [wie Anm. 18], S. 25) zählt zwar die Ausdrucksmittel
auf: „Titelblatt, Art und Größe der Lettern, die Wahl der stummen Zeichen, alles war Gegenstand seines Willens, war wohlüberlegt und hatte seine geheime Bedeutung“, entscheidet entscheidet sich aber gegen eine getreue Berücksichtigung, was er mit ästhetischen und pragmatischen Kriterien begründet. Nadlers editorisches Vorgehen – für Veitenheimer (Synästhetik des Bedeutens [wie Anm. 19], S. 78) „eine Entstellung der Texte Hamanns“ – ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden. 23 Vgl. ebd., S. 77. Keine angemessenen Vorstellungen vom Aussehen Hamannscher Texte vermitteln die „gängigen Hamann-Ausgaben“ (Nadlers SW-Ausgabe, Martin Seils’ Auswahlausgabe, Simons Textauswahl, Sven-Aaage Jørgensens Textauswahl, Hans Eichners Auswahlausgabe, die Ausgabe „Hauptschriften erklärt“ von Fritz Blanke und Karlfried Gründer); Hamanns Originaldrucken nahe ist immerhin die Ausgabe von Friedrich Roth und Gustav Adolf Wiener: Hamann’s Schriften. 8 in 9 Bden. Berlin (Teil 7: Leipzig) 1821–1843. Hans Eichner (Zu dieser Ausgabe. In: Hamann, Ausgewählte Schriften. Berlin 1994, S. 164) betreibe, so Veitenheimer (Synästhetik des Bedeutens [wie Anm. 19], S. 79), „Textfledderei“, „da sie Hamanns eigene Fußnoten ‚aus drucktechnischen Gründen‘ in Apparat-Endnoten verwandelt und dort mit denen des Herausgebers vermischt“; es gelte, so Eichners Begründung, „dem Leser bei der ohnehin schwierigen Lektüre ein vermehrtes Hin- und Herblättern zu ersparen“ (zit. nach ebd., S. 79, der dies als unsinnig bezeichnet). 24 Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit (wie Anm. 17), S. 113, Anm. 73: Die „typographischen Akzentuierungen des Textes“ seien „in allen greifbaren HamannAusgaben verloren“ gegangen.
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die typographischen Raffinessen verloren gingen.25 Auf der Basis der quantitativ dominierenden Frakturschrift sind dies (die folgende Übersicht folgt der Aufstellung Veitenheimers und ergänzt sie durch weitere Anmerkungen): ( a ) Deutungsträchtig ist schon vom Titelblatt an die Verwendung spezifischer Schriften (Antiqua, griechische oder hebräische Schrift) für fremdsprachige Zitate; sie sind Ausdrucksmittel für „den Polylog Hamann“26 und (so wäre weitergehend zu betonen) zugleich metonymisch-metaphorische Visualisierungen der Idee, ein- und derselbe Text mache historisch und kulturell differente Stimmen vernehmbar. Inszenierbar wird insofern auch ein zeitenübergreifender Dialog, eine Geschichte in Stimmen. Natürlich ist die Verwendung griechischer und anderer nicht-lateinischer Schriftzeichen nicht auf Drucktexte beschränkt, sondern auch bei handschriftlichen Texten möglich. Das ändert aber nichts daran, dass sie Drucktexten dort, wo sie vorliegen, ein besonderes Ansehen verleihen. Sie machen den Text abwechslungsreich, sei es, dass ihnen eigene Textabschnitte zugeordnet werden, sei es auch, dass Einzelwörter in nicht-lateinischer Graphie wie Inseln im Resttext erscheinen. ( b ) Ins Auge springt auch die Verwendungen differenter Schrifttypen (ausgehend von der Schwabacher), also der Wechsel der Schriftgrade, Sperrungen, Kursivierungen27 – als gleichsam gestisch wirkende Variationen des basalen Schrifttypensatzes. Dem gestischen Moment überlagern sich metaphorische Konzepte von Räumlichkeit und Erstreckung, Größe und Kleinheit, Dynamik und Bewegungsarten ins Spiel, aber auch Hierarchisierungen. Wessen Stimme etwa ist respektive wird ‚lauter‘, welche ist gewichtiger, raumgreifender? ( c ) Nützliche Sonderzeichen sind Sterne, Kreuze, Geviertstriche mit ihren unterschiedlichen kodifizierten Funktionen,28 die sich jeweils noch zusätzlich semantisieren lassen: Verweisen Sternchen und Kreuze konkret „auf Quellen und Zusätze“,29 so dienen sie allgemeiner gesagt der Regie über differente Texteinheiten, die etwa für unterschiedliche Akteure und Stimmen stehen. Die Geviertstriche stehen u. a. für Pausen, Zäsuren, Ausgespartes (und damit u. a. für Unterbrechungen, Wendungen, Brüche in der Textperformanz). Solche Sonderzeichen sind ebenfalls kein ausschließlich druckschriftliches Phänomen, werden hier aber oft besonders prägnant sichtbar – und dienen etwa Strukturierungsmaßnahmen, die ein breiteres Lesepublikum ansprechen. ( d ) Fremdsprachliche Termini heben sich aus Druck25 Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens (wie Anm. 19), S. 79. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Vgl. dazu Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur deutschen Orthogra-
phie. Frankfurt/Leipzig 1788.
29 Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens (wie Anm. 19), S. 79.
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bildern heraus wie Inseln oder fremde Geländeabschnitte. ( e ) Auf der Ebene der Seitentypographie (des Satzbildes und der Satzbildfolge) arbeitet Hamann mit „flächensyntaktische[n] Elemente[n]“; Veitenheimer verweist auf „Anmerkungsblöcke (zumeist Fußnoten), Zitatblöcke […], Zwischenüberschriften“30 – auf lauter Strukturelemente, die jeweils eigene semantische Potenziale haben, vor allem raummetaphorisch grundierte – und die Vorstellungen von Ordnung, Über- und Unterordnung evozieren. ( f ) Typographische Mittel zur Charakteristik spezifischer Textsorten oder Textteile werden in Druckwerken (wie auch in Handschriften) oft spielerisch eingesetzt; Veitenheimer spricht (mit einer theaterbezogenen Metapher) von „typographische[n] Textmasken“.31 (Der Ehevertrag der Shandys etwa, durch Frakturbuchstaben als Rechtstext identifiziert, simuliert durch Strukturierung und Präsentationsform eine vertragliche Urkunde.) Betont sei aber auch, dass es ‚unmaskierte‘ Texte gar nicht gibt. Viele der genannten textgestalterisch-typographischen Strategien stehen im Zeichen simultaner Zusammensetzung von Verschiedenartigem, haben „Mosaik“Charakter; viele evozieren aber auch die Idee der Revokation, der Wiederverwendung vorgefundener Texte oder Textstrategien. Zu fragen wäre im Übrigen jeweils nach den Funktionen der eingesetzten Mittel für den besonderen Text, den sie mitkonstituieren. Die Aesthaetica in nuce, ein besonders abwechslungsreich gestalteter Drucktext, bietet ein Musterbeispiel für das Wechselspiel zwischen allgemeiner Semantisierung der Dispositive und konkreter Bedeutung in einem besonderen Text. Im Kontext dieser Programmschrift erscheint – bedingt durch die allgemeine Signifikanz des Typographischen bei Hamann – selbst ein Verstoß gegen die Orthographie nicht als ‚Fehler‘ und Missgeschick, sondern als intentionaler Bestandteil einer Selbstpositionierung.32 Auch scheinbare Inkonsequenzen in der Graphie (bei Academie/Akademie) sind bei Hamann bewusst semantisierte Differenzierungen: Meine Orthographie ist nicht einförmig, u soll es auch nicht seyn. Ich schreibe bald Akademie bald mit dem c nemlich jede französische oder lateinische; also auch die welsche in Berlin u Platons Schule mit dem k.33 30 Ebd. 31 Ebd. Vgl. auch Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und
kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000.
32 Zum Orthographiefehler im Satz des Titels „Aesthaetica“ vgl. Veitenheimer: Synästhetik
des Bedeutens (wie Anm. 19), S. 81 f.
33 ZH VI , 348 (An Friedrich Heinrich Jacobi, 9. April 1786). Zit. nach Johann Georg
Hamann: Fliegender Brief. Mit einer Einführung, Kommentar und Dokumenten zur
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Einen besonderen Fall kreativen Umgangs mit Typographie und mise-en-page stellt Hamann schon deshalb dar, weil er sein Leitkonzept von Individualität auf dieser Ebene der Textgestaltung ebenso umsetzt wie auf der Ebene der Formulierungen und des Stils. Stefan Willer hat an die Kreuzzüge des Philologen erinnert, eine Sammlung von Schriften, die seit 1760 als Zeitungsbeiträge oder als Einzeldrucke erstpubliziert worden waren und von Hamann als Ensemble herausgegeben wurden. Die Besonderheit der versammelten Texte wird dabei buchgestalterisch betont; alle haben ein eigenes Titelblatt.34 Jeder Text hat Hamanns Textkonzept zufolge als Schriftwerk (wie dann gegebenenfalls auch als Druckwerk) eigene Spielregeln.
5. Akteure und Spiel-Plätze Buchstaben sind bei Hamann wichtige Akteure, konkret in typographischen Arrangements, aber auch mit Blick auf Inhaltliches. Wie wichtig für ihn die Idee ist, Buchstaben zu Protagonisten zu machen, die sich selbst äußern, belegt natürlich vor allem sein literarisches Arrangement um den Buchstaben ‚h‘, den ‚stummen‘ Buchstaben, den Buchstaben, der vom Richterstuhl einer abstrakten Vernunft aus als überflüssig verurteilt wird und der ausgerottet werden soll. Auf seine Neue Apologie des Buchstaben h, wo die prinzipielle Bedeutung des Streits um das ‚h‘ in kritisch-kämpferischer Weise dargelegt und mit verschiedenen Argumenten für das ‚h‘ gefochten wird, erscheint der vermeintlich überflüssige Buchstabe bereits als eine allegorische Repräsentation dessen, wofür Hamann eintritt, vor allem für Lebendigkeit und Individualität qua Widerständigkeit gegen verabsolutierte Normen und Systeme. Als Hauch-Laut wird das ‚h‘ metonymisch mit dem Atem verknüpft. Derart zum ‚lebendigen‘, den Lebenshauch in prominenter Weise repräsentierenden Buchstaben gemacht, ergreift folgerichtig in der Neue[n] Apologie des Buchstaben h von ihm selbst das ‚h‘ selbst das Wort, spricht in eigener Sache zum Publikum, inszeniert sich selbst. Eingesetzt werden in der Selbstverteidigung des ‚h‘, wie schon in der vorangegangenen Apologie, diverse typographische Mittel, durch welche die Verteidigungsrede sinnfällig auf dem Papier inszeniert wird, vor allem Sperrungen, eine Kursivierung sowie Entstehungsgeschichte hg. von Janina Reibold. Bd. 2. Anhang. Einführung, Kommentar, Dokumente. Hamburg 2018, S. 13 f. 34 Vgl. Willer: ‚Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischen Zeichen‘ (wie Anm. 20), S. 363.
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Wechsel der Schriftgrößen. Im Bibelzitat, das davon spricht, dass kein Iota verloren gehen soll – „Biß daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstab noch ein Tüttel.“35 sind gerade die Wörter „kleinste Buchstab“ und „Tüttel“ sowohl gesperrt als auch in größerer Schrift gesetzt; dasselbe gilt für die abschließende Anrede „ihr grossen Propheten von Böhmisch=Breda!“36 Sperrung und Großdruck erscheinen als funktionale Äquivalente von Wortbetonung und lauterer Artikulation in mündlicher Rede; durch seine weitere nach oben ausgreifende Erstreckung auf dem Papier macht der Großdruck das ‚Erheben‘ der Stimme sogar sinnfällig. Analoges gilt, was einer im 18. Jahrhundert geläufigen typographischen Verfahrensweise entspricht, für die Verwendung von Großbuchstaben (Kapitalien) für das Wort „Gott“, das Hamann manchmal „GOTT“, manchmal auch „GOtt“ schreibt. Hier signalisiert der bereits konventio nalisierte differenzierende Einsatz von Groß- und Kleinbuchstaben plakativ die ‚Größe‘ Gottes. (Hamann hat sich das, wie gesagt, nicht selbst ausgedacht, aber wer inszeniert, rekurriert oft ja auch auf Vorgefundnes, auf bewährte Requisiten und Szenarien.) Buchstaben können übrigens auch Störenfriede sein – etwa bei orthographisch falsch gedruckten Wörtern wie dem Titel Aesthaetica mit seinem ‚falschen‘ zweiten ‚a‘. Um einen ‚echten‘ Druckfehler dürfte es sich nicht handeln, sondern wohl eher ein parodistisch-verfremdender Effekt angestrebt sein: ein Sich-Spreizen der Rede, eine manierierte Sprechweise. Analog zum Text über das ‚h‘, in dem der Ha-mann seine eigene Individualität typographisch und verbalrhetorisch zum Thema macht, spricht andernorts das Individuum Hamann in der Maske des ‚P.‘ – und zwar in seiner Eigenschaft als „Philologe“, als jemand, der auf Wörter und Buchstäblichkeiten achtet und ihr Freund (philo-logos) ist. Am Ende des Textes Kreuzzüge des Philologen findet sich – vier Seiten lang – ein Kleiner Versuch eines Registers über den einzigen Buchstaben P., unpaginiert, dafür mit dem Kolumnentitel „Register“. Unter dem „P.“ findet sich der Eintrag „Philolog“; die hier absatzweise mitgeteilten Informationen dienen dazu „Eigenheiten des Autors unter dem Stichwort ‚Philolog‘ zu versammeln.“37 Die Einträge zum Lemma „Philolog“ bilden zum Teil unter sich nochmals Reihen.38 Die Einträge weisen Beziehungen zu anderen Passagen des Textes auf und sind z. T. durch Verweise mit diesen verknüpft. An die kon35 N III , 105 (Neue Apologie des Buchstaben h). 36 Ebd., 107. 37 Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens (wie Anm. 19), S. 87. 38 „Acht weitere Hauptlemmata bilden eine Gesellschaft um den Philologen herum“, so
Veitenheimer (ebd., S. 88), der diese auch nennt: „‚Paulus‘, ‚Petrus‘, ‚Philologen‘, ‚Philosophen‘, ‚Phrygier‘, ‚Propheten‘, ein ‚Publicum‘ und eine ‚Pythisch(e) Wahrsagerin‘“.
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ventionelle Funktion von Registern in Textkomplexen wird zwar erinnert, aber dies bildet nur die Hintergrundfolie des Arrangements.39 Neben typographischen Vorbildern, welche den emphatischen Einsatz von Kapitalien betreffen, dürften auch andere Impulse die Idee katalysiert haben, einen Buchstaben (das ‚h‘) auftreten und für sich selbst sprechen zu lassen. Vielleicht hatte Hamann die Lettern der Bildalphabete vor Augen, deren Figuren oft anthropomorph aussehen und wie Menschen agieren, vielleicht illuminierte Initialen, die sich oft als anthropomorphe und animierte Wesen präsentieren. Die Buchstaben der Hamannschen Drucktexte agieren in engem Zusammenspiel mit anderen typographischen Zeichen, werden beispielsweise in der Apologie zu wichtigen Inszenierungsmitteln; wichtig ist hier vor allem die visuelle Akzentuierung von Zwischenräumen des Unhörbaren oder doch kaum Wahrnehmbaren als den Entfaltungsräumen des lebendigen Hauchs. Programmatisch illustriert dies ein Satz wie: „Euer Leben ist das, was ich bin – ein Hauch.“40 Auf eine performative Weise wird hier vor dem Hauch ein ‚Innehalten‘ signalisiert, ein Luft-Holen, das zugleich der Akzentuierung des folgenden Kernwortes dient. Vielfältige Rollen übernehmen Sonderzeichen wie Asterisken, Obelisken und andere Querstriche. Ein instruktives Beispiel, das die Funktion der Requisiten bei einer Inszenierung besonders deutlich macht, stammt aus der „Apostille“ am Ende der Aesthaetica in nuce. Eine Passage spricht von den Glaubenskämpfen der Menschen untereinander, die allesamt Gottes Macht und Größe unangetastet lassen. Die Kritik an den von „Einzelkeit“ geleiteten Kämpfern auf dem „Schlachtfelde“ der Überzeugung ist zugleich Selbstkritik, hat sich der „Rhapsode“ (vgl. den Untertitel der Aesthaetica in nuce: „Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose“) doch an dem Getümmel beteiligt und gleichartige Waffen benutzt wie die anderen.
39 Register seien, so Veitenheimer in seinem Hamann-Kommentar (ebd., S. 87 f.) „in der
Regel ein reiner Funktionstext“ mit der Aufgabe, „den voranstehenden Inhalt nach einem bestimmten System erschließbar zu machen.“ Das P-Register in den Kreuzzügen ist einerseits ein Register, das auf den Text verweist, andererseits ein Stück literarischer Selbstdarstellung des ‚Philologen‘ (Hamann). „[…] eine Parodie auf die Textsorte ‚Register‘, eine in der Gestalt des Funktionstextes erscheinende ironische Selbstdarstellung des Autors im Lemma ‚Philolog‘ mit seinen vielen Sublemmata unter ausgewählten Nachbarn“, „ein typographisches Selbstbildnis zwischen den so typischen, in der Apostille der AESTHAETICA.IN.NVCE. milde gerügten und dennoch benutzen Obelisken und Asterisken.“ 40 N III , 105 (Neue Apologie des Buchstaben h).
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Der Rhapsodist […] hat Satz und Satz zusammengerechnet, wie man die Pfeile auf eine, Schlachtfeld zählt; und seine Figuren sind abgezirkelt, wie man die Nägel zu einem Gezelt abmißt. Anstatt Nägel und Pfeile hat er mit den Kleinmeistern und Schulfüchsen seiner Zeit ******** und – – – – – – – – – Obelisken und Asterisken geschrieben.41
Die Sonderzeichen werden hier zu Gerätschaften und Waffen deklariert – und als solche in einer Art Waffenschau präsentiert.42 Die typographischen Zeichen werden aber nicht einfach analog zu Requisiten einer Aufführung genutzt; ähnlich wie in der expliziten Präsentation des Buchstabens ‚h‘ als Sprecher spricht Hamann auch hier zugleich über das, was geschieht. Sein buchstäblich-typographisches Theater ist im Ansatz stets auch Metatheater. Ein Beispiel stark semantisierter Textgestaltung auf der Ebene der mise-en-page bietet Hamanns Schrift Wolken. Ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten, die als Antwort auf Rezensionen zu den Sokratischen Denkwürdigkeiten entstand und deren an Aristophanes erinnernder Titel sich unter anderem auf das konkrete Erscheinungsbild des Textes beziehen ließe: Gegliedert in „Prologus“, drei „Aufzüge“ und einen „Epilogus“, deklariert sich der Text hier zum Schauspiel (analog zur Komödie des Aristophanes).43 In den Wolken betreibt Hamann ein ungewöhnliches Text-Inszenierungsspiel. Diese Antwort auf die Rezensionen zu den Sokratischen Denkwürdigkeiten macht sich u. a. spielerisch-maskiert die Anschauungen der Hamann-Kritiker zu eigen, welche diesen als einen „wahnwitzige[n] Schwärmer“ betrachten, der höchst ‚unverständliches‘ und ‚unsinniges Zeug‘ redet und schreibt.44 Auf diese Vorhaltungen antwortet Hamann im unteren Teil der Seiten in Gestalt von seltsam präsentierten Fußnoten – hier sind die Fußnoten in größerer Schrift gesetzt als der (scheinbare) Haupt-Text. Die Abfolge der „Aufzüge“ zeigt, wie sich die Positionen der Text-‚Stimmen‘ zueinander immer 41 N II , 217 (Aesthaetica in nuce). 42 Hamann nutzt – so Veitenheimers (Synästhetik des Bedeutens [wie Anm. 19], S. 85) den
visuellen Effekt betonende Lesart – „die philologischen Instrumente in Analogie zu taktischen: Geviertstriche und Sternchen entsprechen den Waffen einer Schlacht (‚die Spieße auf einem Schlachtfelde‘) und den Geräten zur Festlegung und Sicherung der eigenen Position (‚die Nägel zu einem Gezelt‘).“ 43 Mit dem Untertitel werden die Sokratischen Denkwürdigkeiten implizit ja auch bereits als „Spiel“ ausgewiesen, sonst wären die Wolken ja kein „Nachspiel“. Angespielt ist nicht nur auf die aristophanische Komödie Wolken; mit Sokrates assoziiert sind zudem platonische Dialoge. 44 N II , 86 (Wolken).
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weiter zugunsten der Fußnoten verschiebt.45 Blättert man die Seiten durch (in Annäherung an den Gebrauch eines Daumenkinos), so zeigt sich ein ungewöhnliches Spektakel: Der Haupttext wird durch die kommentierenden Anmerkungen sukzessive verdrängt; die Kritiker werden marginalisiert, ihre Stimmen müssen verschwinden.46 Die Kontrastierung unterschiedlich großer Typen dient der Visualisierung einer Hierarchie: Die Stimme des sich verteidigenden Autors Hamann ist sichtbarer, mithin vernehmlicher, als die des Kritikers. Das Abnehmen der Textfläche bzw. der Zeilenzahl, die der Rezensentenstimme zugeordnet sind, nebst der komplementären Zunahme des Raumes, den die Zeilen des Autors Hamann einnehmen, dient der Inszenierung eines Prozesses. Man muss dazu nicht nur die Einzelseite lesen, sondern deren Sukzession wahrnehmen – also das Buch als spatialen Blätterstapel lesen. Ergibt sich aus dem Diminuendo der Kritikerstimme und dem Crescendo der Autorenstimme ein Raum-Effekt, der die Seitensukzession betrifft, so hat auch die Verteilung der beiden Stimmen auf einen jeweils oberen und einen jeweils unteren Teil der Seite einen räumlichen Effekt – und eine metaphorische Bedeutung: Der vom Kritiker ‚unter‘-drückte Autor wehrt sich von unten und kehrt die Hierarchie von Oben und Unten um. Hamann setzt also auf eine ganz basale Raumsemantisierung (oben versus unten), um die Idee der Unter-Drückung und der Sub-Version (ja des Auf-Standes) typographisch ins Bild zu setzen. Ein Streitgespräch soll ausgetragen werden – aber nicht nur ein Wortwechsel. Damit verbunden ist ein Kampf um Über-Legenheit, ein Streben, sich ‚auf dem Platz‘ zu behaupten. Diesen Selbstbehauptungsgestus bringt der Text durch seine Sichtbarkeit, durch seine Struktur (oben/unten) sowie durch seine Sukzessivität (Blattsequenz) zum Ausdruck. Aber eben doch in Form einer Inszenierung und d. h. im Zeichen einer Ausdifferenzierung in respektive einer Dopplung eines (mit Stingelin gesagt) ‚vergegenständlichenden‘ und eines ‚vergegenständlichten‘ Moments. Der Kampf ist ein Schau-Kampf, ein sich selbst als solches exponierendes Spiel. Ein anderes Beispiel für Hamanns typographische Schauspiele ist womöglich in noch höherem Maße metatheatralisch: Hamanns publizistische Reaktion auf Mendelssohns Rezension der Kreuzzüge des Philologen. Hier werden Rezension und Metarezension miteinander in einer Weise verschränkt, die erneut zu einem
45 Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens (wie Anm. 19), S. 89. 46 Veitenheimer (ebd., S. 89 f.) hat die Inszenierung detailliert beschrieben. Zu ihr gehört
ein „Daumenkino der Seiten 7 bis 21“, das „ein typographisches Bewegungsbild“ ergibt.
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ungewöhnlichen Text-Bild führt. Dabei wird das Textgestaltungsverfahren als solches sogar explizit kommentiert.47 Korrespondenzen zwischen den Bedeutungen bzw. dem Aussagewert von gedruckten Wörtern und ihrer Platzierung auf der Buchseite weisen dort, wo Hamann selbst das Druckbild entworfen und den Druck überwacht hat, auf einen ausgeprägten Sinn für die Räumlichkeit von Buchseite und Buchkörper hin. Nicht von ungefähr finden die Kustoden Hamanns Interesse, typographische Textbausteine, die gleich mehrere Assoziationsräume eröffnen. Wer hier die Wächterrolle übernimmt, ist nicht immer zufällig, sondern unterliegt gelegentlich durchaus Dispositionen des Textregisseurs. Als Kustode eingesetzt wird etwa unten auf der ersten Textseite der Aesthaetica das Wort „Idiot“, das hier also allein steht; der Kustode ist Idiot im Sinne von Sonderling48 – und damit ein weiteres typographisches alter ego des Autors selbst, der sich mit der Rolle des Sonderlings, der Randfigur,49 aber auch mit der des Wächters identifiziert. Kustoden sind interessante Verbündete für den Typographen, bewachen sie doch die Übergänge, die Passagen.50 Hamanns Aufmerksamkeit für das im metaphorischen Sinn ‚Marginale‘, Nebenherlaufende dokumentiert sich textgestalterisch in oft ausführlichen Fußnotenteilen. Gern gestaltet er gerade das auf der Buchseite augenfällig Randständige raffiniert, etwa flächendeckende und typographisch abwechslungsreiche Fußnoten.51 47 Ebd., S. 91. 48 Ebd., S. 102. 49 Vgl. Willer: ‚Ein geschickter Gebrauch dieser massoretischen Zeichen‘ (wie Anm. 20),
S. 368.
50 Anläßlich einer von mehreren Ausgaben von Hamanns Lettre Perdue d’un Sauvage
du Nord à un Financier de Pe-Kom (Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens [wie Anm. 19], S. 94–101) registriert Veitenheimer die „dramatische[] Leere“ (ebd., S. 99) eines halben Quartbogens, die sich ergibt, weil ein Kustode auf der vorigen Seite einen Text ankündigt, der dann erst auf der Mitte der folgenden Seite beginnt; das KustodenWort und damit das angekündigte Wort lautet „Encore“. Als Darstellung einer Performanz betrachtet, visualisiert die Doppelseite tatsächlich eine Ankündigung, die dann ‚mit Verzögerung‘ eingelöst wird – als sei bei einer Theateraufführung jemand angekündigt worden, der dann aber nicht sofort auftritt. Als dann (auf der rechten Hälfte der beiden Doppelseiten) der Text endlich weitergeht bzw. wiederauftritt, kommt ein zusätzliches Dramatisierungsmoment ins Spiel: die drei Zeilen „Encore / deux / Lettres perdues!!!“ sind in zunehmend größeren Schrifttypen gesetzt, was zusammen mit den ‚gestisch‘ wirkenden Ausrufezeichen wie ein sich verstärkender Ruf erscheint. Das Gestaltungselement von „sprechende[n] Kustoden“ hat bei Hamann wiederholt die Funktion einer Dramatisierung des Textgeschehens (ebd., S. 100). 51 Auch dass Buch-Blätter innerhalb des Buchraums eine Recto- und eine Verso-Seite zeigen, unterliegt gelegentlich der typographischen Regie (vgl. ebd., S. 92 f.). Die Kom-
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Bilanzierend kann man mit Blick auf typographische Einfälle, die wiederholt, womöglich regelmäßig auftreten, von einer ‚typographischen Rhetorik‘ Hamanns sprechen – einer Codifizierung typographischer Mittel zwecks Erzeugung von Effekten, analog zur Redekunst und ihren Anleitungen. Hamanns Gestaltung gedruckter Buchseiten ist ein Bestandteil bzw. ein Aspekt seiner Rhetorik. Aber nicht nur die mit Blick auf ihre Häufigkeit erkennbar codifizierten Gestaltungsformen des Textes sind rhetorisch fundiert, sondern auch Ausnahmefälle wie die Nutzung der Zweiseitigkeit von Buchblättern (für Recto-Verso-Effekte). Denn – und darin liegt die Rhetorizität der Strategie – es sind letztlich immer metaphorische oder metonymische Relationen, die hier aktiviert werden. Für Editionsprojekte bedeutet der Inszenierungscharakter von Druckwerken eine doppelte Herausforderung. Erstens gilt es, neben den Wortlauten auch die anderen Ebenen der Textgestaltung zu erfassen und darzustellen. Zweitens ist auch die Genese der Inszenierung signifikant – und gegebenenfalls ihre Modifikation in verschie denen Ausgaben.
6. Texttheater und Textkonzept Was signalisiert eine so aufmerksame und einfallsreiche Nutzung der visuelltypographischen Dimension von Texten? Mehrere Antworten wären zu geben. ( a ) Noch das scheinbar Unter- oder Nachgeordnete ist bedeutsam, hier: die Drucklegung von Schriften. Das Gedruckte prägt sich als Gedrucktes auf ‚sprechende‘ Weise aus; es kann individuell-charakteristisch sein, eine ‚Physiognomie‘ haben; das gilt für die Druckseite insgesamt, aber auch für ihre einzelnen Teile. ( b ) Hamanns typographische Arrangements machen unter anderem den dialogischen Charakter seiner Texte sinnfällig. Sie gestatten es, zitierte fremde Textanteile mit eigenen Textanteilen sichtbar ins Gespräch zu bringen, auch ins Streitgespräch. Auch helfen sie dabei, durch Emphase die Entgegnungen auf fremde Texte als solche zu betonen. ( c ) Texte als Produkte gezielter visueller Inszenierungen (das gilt für manuell Geschriebenes wie für Gedrucktes) haben ihre eigene Theatralität – im Sinne des oben angeführten künstlich-reflexiven Hindeutens auf die Differenz von Darge-
plementarität der Recto- und der Verso-Seite erscheint hier also als Sinnbild einer Komplementarität anderer Art, was durch eine entsprechende Wortmarkierung auf der Basis des Recto-Verso-Effekts sinnfällig gemacht wird.
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stelltem und Darstellung. Insofern dabei nun die Idee des Authentischen, Unvermittelten ins Spiel kommt, sind sie der Grundstruktur nach ironisch. ( d ) Typographisch auffällig gestaltete Texte, wie sie bei Hamann in vielen Varianten auftauchen, sind ein wichtiger Sonderfall sinnlich-konkretisierter Metaphorik. Sie sind oft metaphorisch grundiert, so, wenn sie metaphorische Namen tragen (wie ‚Kustode‘ oder ‚Obelisk‘, ‚Fuß-Note‘ etc.). Diese metaphorischen Namen lassen sich bei entsprechendem Einsatz der Mittel selbst fruchtbar machen. Die Mittel typographischer Rhetorik beziehen ihre Bedeutung oft aus metaphorischen Vorstellungsbildern, etwa aus Raummetaphern. In Relationen von Oben/Unten, Groß/Klein, in Abbrüchen und Auslassungen werden Vorstellungen sinnfällig gemacht, die von ihrer Präsentationsweise ebenso wenig zu lösen sind wie der Sinn einer Metapher von dieser selbst. ( e ) Typographische Arrangements als die publizierten ‚Gesichter‘ von Texten machen sinnfällig, dass es keine krude Materialität gibt. In ihnen verkörpert sich – im Horizont Hamannschen Denkens gesagt – der Geist des Textes so wie in Körpern lebendiger Wesen deren spirituelle Natur. Alles Spirituelle muss sich – so Hamanns Grundüberzeugung – ja auch verkörpern, muss sinnlich werden, um dem Menschen fasslich zu sein. (Was für eine als sinnhaft interpretierte Schöpfung gilt, gilt entsprechend auch für sinnvolle menschliche Äußerungen.) Ein Komplement zu der Aufforderung „Rede, daß ich Dich sehe“ wäre der Imperativ: ‚Werde sichtbar, damit ich Deine Rede aufnehme.‘ ( f ) Es gibt aber eben auch keinen ‚reinen Text‘; der Text ohne sinnliche Konkretion ist allenfalls eine gedankliche Abstraktion. Geschriebene Botschaften lassen sich nicht auf eine reine, absolute, un-vermittelte Bedeutung reduzieren. (Die Unhintergehbarkeit zeichenhafter Vermittlung mag dabei akustisch oder visuell begründet sein und entsprechend erfahren werden.) Sobald etwas formuliert wird, wird es bereits versinnlicht, somatisiert. Kein Sprechen ohne Maske – auch nicht auf dem Papier. Die Beschäftigung mit der Schriftbildlichkeit und Druckschriftlichkeit von Texten nun lässt ahnen, dass letztlich auch der Diskurs über Sprachlichkeit schon auf einer Abstraktion beruht und die Differenz zwischen visuellen und akustischen Manifestationen einebnet. Das ‚Wort‘ nimmt immer schon konkrete Gestalt an, sei es lautlich, sei es schriftlich (wobei Schriftlichkeit von Hamann zumindest tendenziell als eine genuin eigenständige Manifestationsform des Wortes behandelt wird). Aber auch Schriftlichkeit kann sich unterschiedlich konkretisieren – und tut dies immer schon, wo ein zunächst handschriftlicher Text in Druck geht. Dabei weiß derjenige, der solche Drucklegung plant und vorbereitet, dass es keine notwendige Umsetzungsform eines Textes in ein Druckbild gibt, er vielmehr
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wählen muss zwischen differenten Optionen, seinen Text erscheinen zu lassen, ihn zu inszenieren. Auffällige typographische Maßnahmen setzen insofern nicht zuletzt dieses reflexive Wissen in Szene: dass ein Text so oder anders aussehen kann. Aber ist er noch ‚derselbe Text‘, wenn er den Weg vom gedachten Wort zur sinnlichen Bekundung, von der Formulierung zur Schrift, von der Schrift zum Druck durchlaufen hat? In jedem Fall sieht der Leser nach der Drucklegung nicht dieselben ‚h‘s, ‚P‘s und Iotas, die der Autor seinerzeit geschrieben hat. Allenfalls die Planung und Kontrolle des Druckprozesses sichert letzterem Autorschaft auch am Gedruckten. Wenn sich allerdings der ‚Philologe‘ in seinen eigenen ‚P‘s und ‚h‘s selbst mitzuteilen, ja erkennbar zu machen hofft, so steht dem ironischerweise doch die Einsicht gegenüber, dass es nicht einmal die ‚reinen Buchstaben‘ gibt.
Annelen Kranefuss (Köln) AESTHAETICA. Ein bisher nicht erkanntes Zitat im Titel von Hamanns Aesthaetica in nuce
Mit der ‚geschärften Aufmerksamkeit‘ für die Materialität literarischer Texte rücken seit einiger Zeit das Schriftbild und die Typographie der Hamann’schen Drucke stärker in den Blick. Damit treten bisher übersehene, semantisch relevante Versäumnisse und Fehlentscheidungen der vorliegenden Hamann-Editionen zutage. Ein Beispiel ist der Titel der üblicherweise als „Aesthetica in nuce“ zitierten Schrift. Josef Nadlers Edition setzt ihn, der Erstausgabe von 1762 entsprechend, in Antiqua-Versalien und übernimmt dabei auch die nach jedem Wort gesetzten Punkte: AESTHETICA . IN. NUCE .1 Allerdings hat Nadler, darin der Hamann-Ausgabe von Friedrich Roth2 folgend, die Schreibweise AESTHAETICA im ersten Wort des Titels stillschweigend korrigiert.3 Der Erste und bisher Einzige, der diese Besonderheit der Titelschreibweise nicht nur vermerkt, sondern auch kommentiert hat, ist Bernhard Veitenheimer:4 Das zweite (vermeintlich ‚falsche‘) „AE“ des Titelworts unterminiere „das Lesen als reinen Verstehensvorgang“, indem es „die Aufmerksamkeit von der Wortbedeutung auf den Lautklang hinüber“ ziehe und nehme damit „performativ vorweg, was der folgende Text behauptet: die unbedingte Abhängigkeit menschlichen 1 N II , 185. Ilse Johanna Meyer: Provokation im Druckbild der Schriften Johann Georg
Hamanns (1730–1788), Ph. Diss. Ohio State 1978, Microfilm University of Ann Arbor 1979, S. 140, nimmt an, dass die Punkte Abkürzungen signalisieren sollen, da Hamann zwei Titelfragmente aus zeitgenössischen ästhetischen Publikationen zusammengesetzt habe. 2 Friedrich Roth (Hg.): Johann Georg Hamann’s Schriften, Bd. I –VII . Berlin 1821–1825 [Bd. VIII a/b hg. von Gustav Adolph Wiener. Berlin 1842–1843], Zweiter Theil, S. 255. 3 Bereits Walter Boehlich notiert Nadlers „Korrektur“ in seinem Forschungsbericht zur historisch-kritischen Hamann-Ausgabe, Euphorion 50 (1956), S. 345. 4 Bernhard Veitenheimer: Synästhetik des Bedeutens. Zur Semantik der Typographie bei Johann Georg Hamann. In: Rainer Falk u. Thomas Rahn: Textkritische Beiträge. Sonderheft Typographie und Literatur. Frankfurt a. M. 2016, S. 80–83.
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Verstehens von der Sinnlichkeit“.5 Diese recht spekulative Erklärung scheint mir an dieser Stelle Hamanns Intention sowie sein Zitier- und Anspielungsverfahren zu verfehlen. Zweifellos wirkt der Titel durch seine befremdliche Schreibweise und die Klangwirkung des doppelten ä-Lauts auch jenseits gedanklichen Verstehens „ästhetisch“, doch nennt der Hinweis auf den Sinneseindruck oder – weitergreifend – die Deutung, dass hier Hamanns Vorstellung von der sinnlichen Natur der Sprache überhaupt thematisiert werden solle, nicht den eigentlichen Grund der doppelten AE-Schreibung des Titels. Deren semantische Relevanz liegt woanders. Um das zu erfassen muss sich das Verständnis weder auf den „Lautklang“ allein noch nur auf die lexikalische Bedeutung des einzelnen Wortes richten, sondern auf seinen kommunikativen Zusammenhang. Im Zusammenspiel mit den anderen Titelworten6 eröffnet sich hier ein mehrfach konnotiertes, auf Anhieb nicht leicht zu durchdringendes Anspielungsgeflecht. Allgemein bekannt und sofort assoziierbar waren für die Zeitgenossen die Anklänge an Baumgartens „Aesthetica“ und Schönaichs „Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch“.7 Schönaichs satirische Anmerkungen zur zeitgenössischen Poetik könnten Hamann auch zu den Punkten im Titel angeregt haben. In der Vorrede ist von der „Drechselbank“ zur Herstellung von Hexametern die Rede, deren „Splitter“ der Dichter (gemeint ist Klopstock) aufhebe, um „aus Unsinn Wörter, aus Wörtern Räthsel“ zu machen: „lauter einzelne Wörter, die setzet man entweder am Ende hintern Punct; oder willst du es lieber? Vor einen Punct: alles nach Bequemlichkeit.“8 Dass es sich bei der Fehlschreibung von Hamanns erstem Titelwort ebenfalls um einen intertextuellen Verweis handelt, dürften dagegen selbst im zeitgenössischen Publikum wohl nur wenige Leser erkannt haben, mit Sicherheit aber der eigentliche Adressat der Polemik in Hamanns AESTHAETICA , der Göttinger Theologe und Orientalist Johann David Michaelis. War doch der erste Band seiner „Einleitung in die Göttlichen Schriften des neuen Bundes“ kurz zuvor vom Hamburger Canonicus Christian Ziegra in dessen „Hamburgischen Nachrichten 5 Ebd., S. 82. 6 Siehe die in der Forschung vielfach genannten Michaelis-Bezüge von „Rhapsodie“
und „kabbalistisch“, u. a. in Hans-Martin Lumpp: Philologia Crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Tübingen 1970, S. 30–32. 7 Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. 1750/1758 und Christoph Otto von Schönaich: Die ganze Ästhetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch, 1754. 8 Schönaich: Ästhetik (wie Anm. 7), Vorrede unpaginiert. http://www.deutschestextarchiv. de/book/view/schoenaich_aesthetik. Hinter den Stichwörtern zu den Einträgen von Schönaichs Wörterbuch steht ebenfalls – wie in vielen Lexica üblich – ein Punkt.
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aus dem Reiche der Gelehrsamkeit“9 hoch gelobt worden, demselben Rezensenten, der Hamanns „Sokratische Denkwürdigkeiten“ auf üble Weise verrissen hatte. Jetzt lautet sein Fazit zu Michaelis’ annotierter Neuherausgabe der Übersetzung von Robert Lowths Vorlesung „Über die heilige Dichtung der Hebräer“: „Dies Buch wird gewis noch künftig manche Aesthätick verdrängen.“10 Hans-Martin Lumpp, der dieses positive Urteil zitiert, hat es als Keimpunkt von Hamanns Antwort auf Michaelis gesehen: „Sich zu jenem Zeitpunkt mit dem Theologen und Bibelphilologen Michaelis auseinanderzusetzen, hieß also – so hat es Hamann verstanden – sich mit seiner ‚Ästhetik‘ auseinanderzusetzen: Er verfasst für ihn eine ‚Aesthetica in nuce‘“.11
Abb. 1: Ausschnitt von S. 226 aus Ziegras Rezension zu Robert Lowths De sacra poesi Hebraeorum in den Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit von 1762.
Der polemische Hintersinn der Schreibweise des ersten Titelworts, die Tatsache, dass Hamann damit neben dem noch unerkannten Michaelis-Bezug seiner Schrift einen Seitenhieb auf einen weiteren Adressaten, den Hamburger Michaelis-Rezensenten Ziegra, anbrachte, ist Lumpp entgangen, vielleicht weil er den anonym bleibenden Rezensenten nicht als den Hamann so verhassten Verfasser identifizierte.12 Außer im Titel der „Aesthaetica“ wird „Ästhetik“ oder „ästhetisch“, soweit ich sehe, von Hamann stets mit „e“ geschrieben.13 So auch in der „Apostille“, wo das Wort „Aesthetick“ aufgrund seiner herausgehobenen Stellung am Schluss des 9 [Christian Ziegra]: Göttingen [= Rezension zu Lowth: De sacra poesi Hebraeorum
[1758/61]. In: Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit. 29. Stück (9. April 1762), S. 225–231. 10 Ebd., S. 226. 11 Lumpp: Philologia Crucis (wie Anm. 6), S. 30. 12 Noch erstaunlicher ist, dass auch Meyer (wie Anm. 1) trotz ihrer Fokussierung auf das Druckbild des Titels die abweichende Schreibung nicht bemerkt hat. 13 Etwa in „Kleiner Versuch eines Registers über den einzigen Buchstaben P.“ N II , 239,34, wie Erstausgabe 1762, S. 120, oder „Beurtheilung der Kreuzzüge“ N II , 262,43, wie Erstausgabe Mietau 1763, S. 52.
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gesamten Textes auch graphisch ein Gegengewicht zum Titel bildet. Eingeleitet wird das kleine Bibelcento auf der letzten Seite durch ein abgewandeltes Zitat der Schlussworte des „Predigers Salomo“:14 „Laßt uns jetzt die Hauptsumme seiner [des „Rhapsodisten“] neusten Ästhetick, welche die älteste ist, hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote“. Danach verkündet der Rhapsodist die Alternative zu allen bereits vorhandenen und noch zu erwartenden Ästhetiken mit dem Ruf des Engels, der in der Johannesoffenbarung, dem letzten Buch des Neuen Testaments, seinerseits den Prediger abwandelnd zitiert: „Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre, denn die Zeit seines Gerichts ist kommen und betet an Den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserbrunnen!“15 Diese Schöpfung und Jüngstes Gericht in sich vereinende Ästhetik ist für Hamann maßgeblicher und radikal neuer als all jene, die der Rezensent Ziegra durch Michaelis und Lowth endgültig überholt sah. Die prominent platzierte Fehlschreibung des ersten Titelworts nach Ziegras Michaelis-Rezension ist damit freilich nicht weniger gültig. Mit ihrer geheimen Verweisungsfunktion gehört sie zu der von Laien und Ungläubigen für „Unsinn“ erklärten satirischen „Schreibart“ Hamanns,16 in deren „mancherley Zungen“ sowohl die ‚falsche‘ wie die ‚richtige‘ Schreibweise ein und desselben Wortes Platz haben kann. Auch für die Graphie gilt Hamanns Grundsatz vom Vorrang des kommunikativen Zusammenhangs vor der Eigenbedeutung einzelner Wörter und Zeichen: „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen […].“17
14 So die Luther-Übersetzung des Kohelet, Prediger 12,13–14. Wegen des eingeschränkten
Bezugs auf den Rhapsodisten und sein Thema ersetzt Hamann „aller Lehre“ durch „neusten Ästhetick“. 15 N II , 217, Erstausgabe 1762, S. 220. Offenbarung 14,7. 16 ZH I , 396,29, Brief an Lindner, 18. 8. 1759. Dazu Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000, S. 116–119. 17 N II , 71,32–33 (Sokratische Denkwürdigkeiten). Vgl. Schumacher: Ironie (wie Anm. 16), S. 119.
Naomi Miyatani (Tokyo, Japan) Gedanken über den Gedankenstrich – Hamanns Interpunktion und ihre Übersetzungsmöglichkeiten
I.
Aesthaetica. in. nuce. (EA, 1762)
Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! – – Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans! – auf schönen Eselinnen siegt er im Wettlauf; – aber der weise Idiot Griechenlands borgt Euthyphrons stolze Hengste zum philologischen Wortwechsel.1
Das ist der wohlbekannte Eröffnungsabsatz von Hamanns Aesthaetica. in. nuce. (1762). In Bezug auf sein eigenes Stilideal redet er später vom „Laconismus und
1 Johann Georg Hamann: Aesthaetica. in. nuce. Nachdruck der Erstausgabe. In: Hans-
Martin Lumpp: Philologia crucis. Tübingen 1970, S. 204–205.
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stylus atrox poetischer Bilderschrift“,2 was bereits hier gut passt. Von Anfang an kommen elliptisch ohne Verb zwei Nomen mit Verneinungswörtern hintereinander (nicht Leyer, noch Pinsel) vor und dann tritt das Wort „Wurfschaufel“, das in der Erstausgabe in einer größeren Type gedruckt ist, mit einer Infinitivgruppe ein. Dann werden zwei Gedankenstriche gesetzt, bevor Johann David Michaelis [= Erzengel] ironisch und feierlich begrüßt wird. Danach werden die darauffolgenden Sätze jeweils mit einem Gedankenstrich unterbrochen. Zu dieser ‚Bilderschrift‘ gehört außerdem die Interpunktion, die auch bei der Übersetzung in anderen Sprachen berücksichtigt werden sollte. Jørgensen zeigte in seinem Aufsatz Zu Hamanns Stil, wie sehr Hamann von der rhetorischen Tradition geprägt war, und beruft sich auf Lausberg, der Genus atrox als das „gehemmt-heftige“, welches „hämmernde Kommata“ bevorzuge, bestimmt. Dabei weist Jørgensen gerade auf die oben zitierte Stelle hin, der Absatz sei „durch die Ausrufungszeichen emphatisch strukturiert“.3 Laut Adelung, der uns den Gebrauch der Interpunktion in der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert näherbringt, bezeichnen die Ausrufezeichen „lebhaften Affect“. Mit dem Ausrufezeichen wurden wohl die Stellen versehen, die in feierlichen Reden „mit einer vorzüglichen pathetischen Stimme ausgesprochen werden“4. M. E. sind nicht nur die Ausrufezeichen, sondern vielmehr die Gedankenstriche bei Hamann rhetorisch effektvoll und stellen ein nicht zu übersehendes Element seiner ‚Bilderschrift‘ dar. Wer auch in Gedanken den Text laut lesen will, dem kommt er wie musikalisch notiert vor. Dabei spielt der Gedankenstrich die Rolle des Pausenzeichens. Der Gedankenstrich wurde im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert standardisiert. Seitdem indiziert er „einen Abbruch der gerade laufenden Aktivität, eine darauffolgende Umorientierung (Zeilen- oder Gedankenwechsel) und einen Neustart“.5 Während Gottsched in seinem Text Von den orthographischen Unterscheidungszeichen (1748), in dem er eingehend die Interpunktion in der deutschen Sprache behandelte, noch nicht den Gedankenstrich erwähnt hatte, beklagt Adelung in Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie (1788) 2 N IV, 421,53–54 (Über den Styl, Beilage zum 6.–10. Stück der Königsbergsche Gelehrte
und Politische Zeitungen. 18. Januar bis 1. Februar 1776).
3 Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: Ders.: Querdenker der Aufklärung. Göttin-
gen 2013, S. 23.
4 Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst
einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Frankfurt und Leipzig 1788, S. 366–367. 5 Ursula Bredel: Interpunktion. Heidelberg 2011, S. 44.
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sogar den zu häufigen Gebrauch des Gedankenstrichs. Er versucht, den Gedankenstrich wie folgt zu definieren:
Adelung: Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie
Dieses Zeichen ist in den meisten Arten seines Gebrauches erst in den neueren Zeiten den Engländern abgeborgt worden. Es besteht gemeinglich [sic] in einem oder mehreren horizontalen Strichen, – wofür man oft auch folgende Zeichen findet: – – –, oder ..., oder = = =. Es deutet teils eine Auslassung, teils eine Abbrechung, teils aber auch eine stärkere Pause an, als der Schluß=Punct andeuten kann.6
Adelung schildert in einem anderen Abschnitt, die Absicht der Satzzeichen einschließlich Punkt, Komma, Kolon usw. sei „die verschiedenen Pausen an[zu]deuten, welche der vernünftige und bedeutsame mündliche Vortrag zwischen den Gliedern eines Satzes bemerken lässt: ihr richtiger Gebrauch hängt also so sehr von dem allgemeinen Gesetze: schreib wie du sprichst, ab [...]“.7 Somit lassen sich die Satzzeichen als Visualisierung der Pausen in der mündlichen Rede verstehen. Wenn die Pausen nach einem heftigen Affekt mit dem Ausrufezeichen eingesetzt werden, wie im ersten Abschnitt von Hamanns Aesthaetica, ist ihr Effekt umso mehr kennzeichnend. In der Musik wäre eine Pause nach einem starken Ton oder Akkord. Bei zwei Gedankenstrichen wird dann die Dauer der Pause länger, so wie unterschiedliche Pausenwerte in der Notenschrift. Die Rezipienten werden 6 Adelung: Orthographie (wie Anm. 4), S. 388. Vgl. auch Burckhard Garbe: Texte zur
Geschichte der deutschen Interpunktion und ihrer Reform 1462–1983. Hildesheim, Zürich, New York 1984, S. 92, allerdings mit der Angabe des Erscheinungsjahrs 1792 und nicht korrekter Wiedergabe der Satzzeichen. 7 Adelung: Orthographie (wie Anm. 4), S. 392–393. Vgl. auch Garbe: Interpunktion (wie Anm. 6), S. 94.
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angeregt, während der Pause mit zu schweigen, der Stille zuzuhören und sie mitzudenken. Wie ist dann der Gedankenstrich als visualisierte Pause in eine andere Sprache zu übersetzen, besonders bei Hamann, der durch seinen Stil „den Leser zu eigener Gedankenarbeit“ anregen will?8
II. In der englischen Übersetzung von Griffith-Dickson (1995) werden beispielsweise die Gedankenstriche im ersten Absatz der Aesthaetica jeweils mit einem ‚em dash‘ (Geviertstrich) wiedergegeben.9 Es fehlt zwar ein Gedankenstrich nach der Phrase „die Tenne heiliger Litteratur zu fegen! / to clear the threshing-floor of sacred literature!“, wo sie im Original mit zwei Gedankenstrichen versehen ist. Aber solange der Text in europäische Sprachen in horizontaler Schreibweise übersetzt wird, kann theoretisch der Gedankenstrich auch in der Übersetzung ein Gedankenstrich bleiben, zumal das Satzzeichen im 18. Jahrhundert unter Einfluss der englischen Literatur auch im deutschsprachigen Raum verbreitet ist.10 In der japanischen Übersetzung sind jedoch die Umstände aus zwei Gründen anders. Erstens: Japanisch hatte traditionell das Satzzeichen Gedankenstrich nicht, und hat auch heute keine offizielle Regel dafür. Er gehört neben Auslassungspunkten (…) sowie dem wave dash (〜) zu den Bindezeichen (つなぎ 符号), was aber eigentlich nicht genau der Pausenfunktion des Gedankenstrichs entspricht. Zweitens: Bei Publikationen auf dem Büchermarkt ist der vertikale Drucksatz noch gebräuchlich bis auf „(natur-)wissenschaftliche“ Fachbücher, während bei Chinesisch, das zum Teil gemeinsame Schriftzeichen mit Japanisch
8 Jørgensen: Hamanns Stil (wie Anm. 3), S. 21. Der Unterschied vom Gebrauch zwischen
Hamann, Herder und Goethe ist noch weiter zu untersuchen. Hypothetisch formuliert geht es bei Hamann um seine existenzielle Leidenschaft, während es bei Herder und Goethe eher um Empfindsamkeit geht. 9 „Not a lyre! –nor a brush! – a winnowing-fan for my muse, to clear the threshing-floor of sacred literature! – Hail to the archangel on the relics of the language of Canaan! – on fair asses he triumphs in the race; but the wise layman of Greece borrows Euthyphron’s proud stallions for the philological debate.“ Aus: Gwen Griffith Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism. Berlin, New York 1995, S. 411. Der Fettdruck sowie die Leerstellen sind wie im Original. 10 Mehr dazu: Martina Michelsen: Weg vom Wort – zum Gedankenstrich. Zur stilistischen Funktion eines Satzzeichens in der englischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. München 1993.
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hat, bereits 1955 der horizontale Drucksatz einheitlich für alle Publikationen eingeführt wurde.11 Es gibt zwar ein ziemlich ähnliches Zeichen, Chō-onpu (長音符, verlängertes-Ton-Zeichen「ー」, z. B. ハーマン für Hamann), das als Dehnungszeichen so etwa wie der kleine Buchstabe h in der deutschen Sprache verwendet wird, um einen Langvokal anzuzeigen. Der Unterschied liegt aber nicht nur in der Funktion, sondern lässt sich an den Serifen am Ende des Hauptstrichs, erkennen. Somit sind die beiden Zeichen nicht einfach zu verwechseln und beispielsweise lässt sich Hamanns Unterschrift in der Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft, „H–m–nn“12, nicht mit dem Dehnungszeichen, sondern mit Gedankenstrichen zur Auslassung 「ハ–ム–ン」umschreiben.13 In einem experimentellen Roman aus dem Jahr 1889, gerade im Zeitalter, in dem die westliche Kultur in Japan breit gefächert eingeführt wurde, findet sich als Vorwort eine Leseanweisung des von der deutschen Literatur beeinflussten Autors an das Publikum: „Im Text werden viele – ..., **** sowie ( ) gebraucht, die dem Charme des Werkes nützlich sind“.14 Damals fand eine literarische Bewegung der Angleichung der geschriebenen Sprache an die gesprochene statt. Als Pausenzeichen im Text wurden nicht nur einfache (–) sondern auch doppelte Gedankenstriche (=) verwendet. Während in der Literatur, in der Gefühle sowie gesprochene Sprache eine große Rolle spielen, der Gedankenstrich auch in vertikalem Drucksatz allmählich gängig wurde, scheint er in der Übersetzung der wissenschaftlichen Schriften nicht leicht Platz gefunden zu haben. In der 1935 erschienenen, allerersten Abhandlung über Hamann von einem japanischen Germanisten wurden die
11 Takayuki Kumagai 熊谷高幸: Tate-gaki ha kotoba no keshiki wo tsukuru.『タテ書き
はことばの景色をつくる』[Vertikales Schreiben macht die Landschaft der Sprache]. Tokyo 2013, S. 67. 12 N III , 280,17. 13 Johann Georg Hamann: Magus im Norden. Ausgewählte Schriften und Briefe. Bd. 1 『北方の博士・ハーマン著作選 上』Übersetzt und kommentiert von Yoshikatsu Kawanago 川中子義勝訳, Tokyo 2002, S. 202. Der Übersetzer schreibt die elliptische Unterschrift mit Asterisken「ハ**ン」um. 14 Sazanami Iwaya 巌谷小波: Imose-gai『妹背貝』. In: Kenyū-sha Bungaku zensyū『硯 友社文学集』. Tokyo 2005, S. 161. Iwaya (1870–1933) ist Schriftsteller, Haiku-Dichter sowie Autor der Kinderliteratur. Den Roman „Imose-gai“ schrieb er als Schüler der Doitsugaku-kyōkai-gakkou [Schule des Vereins für deutsche Wissenschaften].
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Sazanami IWAYA 巌谷小波 (1870–1933): Imose-gai 『妹背貝』(1889) Hervorhebung von mir: N.M.
Zitate im vertikalen Text ohne Gedankenstriche ins Japanische übersetzt bzw. zusammengefasst.15 Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der horizontale Drucksatz auch für amtliche Dokumente bestimmt.16 Es koexistieren noch heute zweierlei Drucksätze im Japanischen: vertikal und horizontal. In Bulletins der Universitäten im horizontalen Drucksatz zitieren nun japanische Hamann-Forscher, etwa wie Hideo Ueno und Yoshikatsu Kawanago, Hamanns Texte mit Gedankenstrichen, und zwar mit doppeltbreiten Gedankenstriche.17 Im vertikal gedruckten Jahrbuch der Goethe15 Hyogo Kurihara 栗原兵吾: Hamann no Bosatsu-do「ハマンの菩薩道」[Hamanns
Weg zu Bodhisattva] In: Ernte. 『エルンテ』 Nr. 7. Hrsg. vom Germanistischen Seminar der Kaiserlichen Universität Tokyo 東京帝国大学独逸文学研究会, Tokyo 1935, S. 45–75. Zu Aesthaetica, S. 67 ff. 16 Makoto Yanaike 屋名池誠: Yoko-gaki tōjō『横書き登場』[Auftritt von vertikalem Schreiben]. Tokyo 2003, S. 184 f. 17 Z. B. Hideo Ueno 上野英雄: Hamanns Aesthetica in nuce und Herders Poetik「ハーマ ンの『美学提要』とヘルダー詩学」In: The Journal of the College of Liberal Arts,
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Aesthaetica EA (o.), Kurihara (1935) (r.), Kawanago (2002) (l.)
Gesellschaft in Japan 1986 gibt Daizō Nagaya zwar Gedankenstriche im HamannZitat wieder, aber er lässt dafür einen von zwei Gedankenstrichen weg.18 Die erste, ausgewählte Übersetzung der Schriften Hamanns wurde im Jahr 2002 veröffentlicht. Der Übersetzer, Yoshikatsu Kawanago, gibt im vertikalen Drucksatz zwar die Gedankenstriche wie im Original wieder, lässt aber die Ausrufezeichen weg.19 Der Grund kann nicht nur beim Übersetzer, sondern auch beim Verleger liegen. Es wird allgemein gesagt, dass so viele europäische SatzzeiToyama University『富山大学教養部紀要』. No. 1, Toyama 1968, S. 129–145, Yoshikatsu Kawanago 川中子義勝: Dialog und Mitteilung in der „AESTHETICA. IN. NVCE.“ (Fortsetzung)「対話と伝達 – AESTHETICA. IN. NVCE .の場合 – (その2)」. In: Memoirs of the Faculty of General Education, Kumamoto University. Series of Foreign Languages and Literatures 『熊本大学教養部紀要 外国語・外国文学編』. No. 18, Kumamoto 1983, S. 115–156, u. a. 18 Daizō Nagaya 長屋代蔵: J. G. Hamanns poetische Anschauung über die Sprache「J・G・ ハーマンの詩的言語観」In: Goethe-Jahrbuch『ゲーテ年鑑』Bd. 28. Hg. von der Goethe-Gesellschaft in Japan, Tokyo 1986, S. 21–39, v. a. S. 25. In seiner Übersetzung vom Satz „Rede, daß ich Dich sehe! – – “ fehlt ein Gedankenstrich. 19 Hamann: Magus im Norden (wie Anm. 13), S. 115 f.
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chen, für die es keine feste Regel gibt, im japanischen Text optisch zu expressiv wirken und nicht schön und gehoben aussehen. Die Ästhetik des Schriftbilds spielt in der japanischen Literatur eine große Rolle und diese Vorstellung beeinflusst noch die Buchgestaltung. Weil die Interpunktion zur stilistischen Strategie Hamanns gehört, worauf wir eben einen kurzen Blick geworfen haben, sollte man sie bei der Textwiedergabe nicht außer Acht lassen. Um das Satzzeichen überzeugender und differenzierter in einer anderen Sprache wiederzugeben, sollte die Interpunktion allgemein bei Haman im Vergleich mit seinen Zeitgenossen noch gründlicher untersucht werden: Bindestrich, Ausrufezeichen, Kommasetzung, Asterisk, Punkte usw., und zwar im Vergleich mit den Erstausgaben oder Handschriften, so weit dies möglich ist. Um noch ein Beispiel zu nennen, gibt es auch im Titel der Aesthaetica. in. nuce seltsame Punkte, die in der Forschungsliteratur kaum erwähnt oder wiedergegeben wurden. Auf jeden Fall darf man den Gedankenstrich nicht streichen, sonst lässt man dadurch sowohl den stillen Gedanken von Hamann als auch die Möglichkeit des Mitdenkens und der Interpretation auf Seiten der Leser wegstreichen.20
Abbildungsnachweise Abb. 1: Johann Georg Hamann: Aesthaetica. in. nuce. Nachdruck der Erstausgabe. In: Hans-Martin Lumpp: Pholologia crucis. Tübingen 1970, S. (161). Abb. 2: Johann Christoph Adelung: Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Frankfurt und Leipzig 1788, S. 388. Abb. 3: Sazanami Iwaya: Imose-gai. In: Kenyū-sha Bungaku-zenshū. Tokyo 2005, S. 161. Abb. 4: Johann Georg Hamann: Aesthaetica. in. nuce. Nachdruck der Erstausgabe. In: Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Tübingen 1970, S. 163. Kurihara, Hyogo: Hamann no Bosatsu-do [Hamanns Weg zu Bodhisattva]. In: Ernte (Forschungsgruppe Germanistik der Tokio Reichsuniversität) Nr. 7, 1935, S. 68. Hamann, Johann Georg: Hamann-chosaku-shū [Ausgewählte Schriften und Briefe]. Tokyo 2002, S. 116–117.
20 This work was supported by JSPS KAKENHI Grant Number JP19K00527.
IV. Strategien
Hendrik Klinge (Wuppertal) Kabbalistische Prosa. Strategien negativer Hermeneutik als Charakteristikum der Autorhandlungen Johann Georg Hamanns
I. Dass Hamann ein dunkler Denker ist, stellt mitnichten eine Neuigkeit dar. Berühmt-berüchtigt ist sein Hang zur Montage scheinbar kontextloser Zitate in Originalsprache, zu Stilbruch, sprachlicher Extravaganz und entlegenen Anspielungen, die teilweise schon den Zeitgenossen unverständlich waren. Gegenüber dem Ansatz der klassischen Rhetorik, den Hörer und Leser durch Anwendung der ars bene dicendi zu überzeugen,1 scheint Hamann ein gänzliches anderes kommunikatives Ziel zu verfolgen – was die Rezeption deutlich erschwert. Nicht ohne Grund geraten Kommentare zu Hamanns Schriften oft voluminöser als diese selbst. Deren offenkundige und intendierte Unverständlichkeit ist dabei ein Phänomen, das die Rezeption von Anfang an bestimmt. Obwohl zunächst eine eher ablehnende Haltung überwiegt, wie sie sich exemplarisch in Hegels berühmter Rezension der Hamann’schen Schriften niederschlägt,2 finden sich vereinzelt 1 „Rhetorice ars est bene dicendi, bene autem dicere scit orator“ (Marcus Fabius Quin-
tilianus: Institutionis oratoriae libri duodecim, 2, 17, 37 f. Bd. 1. Hg. von Michael Winterbottom. Oxford 1970, S. 120). – Zur klassischen Definition der Rhetorik nach Quintilian vgl. auch Clemens Ottmers: Rhetorik. Überarbeitet von Fabian Klotz. Stuttgart 22007, S. 6. 2 „Die Unverständlichkeit der Hamann’schen Schriften, insofern [...] sie die Formierung [des Gehalts] betrifft, ist für sich unerfreulich, aber sie wird es noch mehr dadurch, daß sie sich beim Leser mit dem widrigen Eindrucke der Absichtlichkeit unausweichlich verbindet. Man fühlt seine ursprüngliche Widerborstigkeit hier als eine feindselige Empfindung H.’s gegen das Publicum, für das er schreibt; indem er in dem Leser ein tiefes Interesse angesprochen und so sich mit ihm in Gemeinschaft gesezt hat, stößt er ihn unmittelbar durch eine Fratze, Farce, oder ein Schimpfen, [...] wieder von sich und vernichtet auf eine gehässige Weise die Theilnahme, die er erweckt [...]“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: [Rezension von ‚Hamanns Schriften‘]. In: Ders.: Gesammelte
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auch Voten, die Hamanns stilistische Eigentümlichkeiten positiv zu würdigen wissen.3 Dass aber gerade auch bei jenen, die Hamann durchaus mit Wohlwollen begegnen, die esoterische Anmutung seiner Werke Befremden hervorruft, zeigt ein Bonmot Goethes: „Schlägt man sie [i. e. Hamanns Schriften] auf, so gibt es abermals ein zweideutiges Doppellicht, das uns höchst angenehm erscheint, nur muß man durchaus auf das Verzicht tun, was man gewöhnlich Verstehen nennt.“4 Nach langen Jahren, ja Jahrhunderten, in denen dies Befremden überwog, erfahren Hamanns stilistische Eigentümlichkeiten gegenwärtig eine erneute Wertschätzung in Kreisen, die dem philosophischen Poststrukturalismus nahe stehen.5 Hamanns Aufklärungskritik – oder, mit Oswald Bayer, vielmehr ‚radikale Aufklärung‘ – weist nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrem stilistischen Gestus starke Parallelen zu dem französischen Projekt der ‚Dekonstruktion‘ auf. So zeichnet Eckhard Schumacher in seiner für das Verständnis der Unverständlichkeit Hamanns grundlegenden Studien Die Ironie der Unverständlichkeit eine Traditionslinie, die von Hamann und Schlegel bis zu Paul de Man und Derrida reicht.6 Im Folgenden beschränke ich mich darauf, eine bestimmte Spielart des poststrukturalistischen Denkens mit ausgewählten Texten Hamanns ins Gespräch zu bringen. Konkret werde ich diskutieren, ob, und, wenn ja, inwiefern das gegenwärtig einflussreiche Unternehmen einer ‚negativen Hermeneutik‘ bei Hamann einen Ansatzpunkt findet. Als Bezugsgröße bieten sich hier vor allem die Sokratischen
3
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Werke. Hg. von Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste. Bd. 16. Hamburg 2001, S. 129–187, hier S. 171). Einen konzisen Überblick über die Auseinandersetzung mit der Unverständlichkeit der hamannschen Schriften bietet Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000, S. 89–102. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Werke. Bd. 9. München 1994, S. 515. „In den letzten Jahren haben in der Hamannforschung von germanistischer und philosophischer Seite her poststrukturalistische, dekonstruktivistische und rezeptionsästhetische Literaturtheorien eine steigende Bedeutung gewonnen. Hamanns verrätselte Schriften mit ihrem Cento-Stil von Zitaten, Anspielungen, Verweisen und Metaphern und ihrer zugleich sich aufdrängenden Beeindruckungsintention scheinen dem entgegenzukommen und jedenfalls ein reiches Anwendungsfeld für Theorien zu bieten, die fiktionale Texte nicht einfach als auszulegende Autorenprodukte, sondern als interagierende literarische Prozesse betrachten“ (Martin Seils: [Rezension zu Christina Reuter: Autorschaft als Kondeszendenz]. In: Theologische Literaturzeitung 133/2 (2008), S. 191– 193, hier S. 191). Schumacher: Ironie (wie Anm. 3).
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Denkwürdigkeiten nebst den Wolken an, da Hamann sich in seiner Erstlingsschrift sowie in deren Nachspiel im besonderen Maße selbst mit der Frage beschäftigt, warum seinen Schriften die von Hegel attestierte „widerborstige“ Gestalt eignet. Das Vorgehen ist dabei ein vergleichsweise schlichtes: Nachdem zuerst der Begriff der negativen Hermeneutik geklärt wurde, soll eine erste, vorläufige Betrachtung dazu angestellt werden, ob Hamann eine solche bereits avant la lettre vertritt. Sodann werde ich versuchen diese Betrachtung zu vertiefen, indem ich einige Detailanalysen vor allem zum dritten Aufzug der Wolken anstelle, und schließlich meine Überlegungen in dezidiert theologischer Hinsicht bündeln. Die zentrale These sei hier bereits genannt: Hamanns ‚negative Hermeneutik‘ ist nur vor dem Hintergrund seiner Rezeption der paulinischen Theologie verständlich. Seine den Leser schroff abweisende Anti-Rhetorik ist unmittelbarer Ausdruck seiner theologia crucis – und gerade deshalb von verwandten poststrukturalistischen Unternehmungen spezifisch unterschieden.
II. Die nahe verwandten Begriffe ‚negative Hermeneutik‘ und ‚Posthermeneutik‘ werden von verschiedenen Autoren verwandt, die, wenn überhaupt, in loser Verbindung miteinander stehen.7 Eine Schulbildung oder auch nur ein gemeinsames philosophisches Programm kann hier nicht veranschlagt werden. Vielmehr handelt es sich um eine Idee oder auch nur einen Gedankenblitz, der in den letzten Jahren eine gewisse Popularität innerhalb des von Phänomenologie und Poststrukturalismus geprägten Spektrums der zeitgenössischen Philosophie erlangt hat. Die Herkunft des Begriffs ist dabei evident: Die negative Hermeneutik verweist auf die negative Dialektik. Geistesgeschichtlich wird sie damit kenntlich als Erbe jener Theorien der Negativität und Differenz, die gewöhnlich mit Namen
7 Aus dem deutschsprachigen Raum seien hier vor allem genannt Emil Angehrn: Sinn
und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen 2010; Dieter Mersch: Post hermeneutik. Berlin 2010; Hans-Martin Schönherr-Mann: Das Mosaik des Verstehens. Skizzen zu einer negativen Hermeneutik. München 2001; Robert Schurz: Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nicht-Verstehens. Opladen 1995. Zum Zusammenhang von ‚Anti-Hermeneutik‘ und Dekonstruktivismus vgl. auch Meinrad Böhl: Dichtung. In: Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von dems., Wolfgang Reinhard und Peter Walter. Wien/Köln 2013, S. 25–142, hier S. 133–139.
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wie Heidegger, Adorno und Derrida assoziiert werden.8 Sie führt den Protest Adornos gegen die hegelsche Dialektik fort, seine Verteidigung der Individualität gegen den Begriff, indem sie die substantielle Negativität, die keiner Vermittlung mehr fähig ist, zum Ansatzpunkt einer neuen Hermeneutik werden lässt.9 Lévinas auf der „Spur des Anderen“ folgend, reagiert sie auf das Phänomen des absolut Fremden, der radikalen Alterität mit einer Aufwertung des Miss- und Falschverstehens.10 Gegen die Forderung der Hermeneutik Gadamers, das Gespräch niemals abreißen zu lassen, setzt sie den Abbruch und das Schweigen.11 Während die klassische Hermeneutik das Missverstehen perhorresziert, da sie es als Ausdruck einer idiosynkratischen Befangenheit des Auslegers begreift,12 betonen die Vertreter der negativen Hermeneutik, dass es niemals ein reines, ungebrochenes Verstehen gibt, sondern vielmehr, mit Humboldt gesprochen, alles Verstehen zugleich auch immer Nicht-Verstehen ist.13 Die Herstellung von Sinn begreifen 8 Mersch spricht in diesem Zusammenhang von einer „Philosophie des Entzugs“ bei Lyo-
tard, Heidegger, Adorno, Lévinas und Derrida (Mersch: Posthermeneutik [wie Anm. 7], S. 27). 9 Schurz versteht seine negative Hermeneutik als Radikalisierung der negativen Dialektik. Anders als Adorno geht es ihm nicht nur um das „Unrecht“, das der Begriff dem Gegenstand antut, sondern auch um jenes, das von der Erfahrung selbst ausgeht. „Damit wird das Ungenügen des Begriffs transformiert in ein Ungenügen der Erfahrung [...]“ (Schurz: Negative Hermeneutik [wie Anm. 7], S. 16, vgl. auch S. 209). In letzter Konsequenz ist das Ziel der negativen Hermeneutik daher das „Aufbegehren gegen die Macht der Wirklichkeit gegen das Individuelle“ (ebd., S. 212). Zum Begriff der „substantiellen Negativität“ vgl. ebd., S. 13 (dort als Gegenbegriff zu Hegels ‚bestimmter Negation‘). 10 Bei Lévinas wird, in unleugbarer Anknüpfung an Heidegger, die Andersheit des Anderen zum Ausgangspunkt einer radikalen Kritik des abendländischen Denkens: „Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit. Von ihrem Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie“ (Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übers. und hg. von Wolfgang N. Krewani. München 41999, S. 211). Es überrascht nicht, das Lévinas Hegels Philosophie als den „Zielpunkt“ dieser Allergie identifiziert (ebd., S. 212). 11 Schurz: Negative Hermeneutik (wie Anm. 7), S. 216. 12 „Das Mißverstehen ist entweder Folge der Übereilung oder der Befangenheit. Jene ist ein einzelner Moment. Diese ist ein Fehler, der tiefer steckt. Es ist die einseitige Vorliebe für das, was dem einzelnen Ideenkreis naheliegt, und das Abstoßen dessen, was außer demselben liegt. So erklärt man hinein oder heraus, was nicht im Schriftsteller liegt“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, S. 93). 13 „Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen“ (Wilhelm von Humboldt:
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sie, ganz im Geist der kritischen Theorie, als einen Gewaltakt, der das Leiden des Einzelnen einer falschen Versöhnung opfert.14 Das Wahre ist für sie eben nicht das Ganze, es erscheint nur im Widerspruch, als Paradox und Fragment. Nicht zufällig gestaltet Schönherr-Mann seine Skizzen zur negativen Hermeneutik in jenem anti-rhetorischen, Opazität und Fragmentarität vereinenden Gestus, der für die Brocken Hamanns und Kierkegaards ebenso kennzeichnend ist wie für die Minima Moralia Adornos.15 Sucht man nach einer Kurzfassung der negativen Hermeneutik, so mag man sie in einem Zitat aus dem zuletzt genannten Werk finden: „Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.“16 Nun wäre es ein Fehler, die negative Hermeneutik vorschnell des Irrationalismus zu zeihen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie die Herstellung von Sinn und die Möglichkeit des Verstehens unmittelbar verriete an eine Hochpreisung des Unverständlichen oder gar Unsinnigen. Solche Philosophie verdiente den Namen nicht; sie wäre vielmehr mystisch verbrämter Dadaismus. Die Autoren der negativen Hermeneutik machen sich eines solchen jedoch keineswegs schuldig; sie versuchen vielmehr aufzuzeigen, wie jedes Verstehen von Sinn stets gebunden ist an ein unhintergehbar Sinnloses, um so den hermeneutischen Prozess nicht zu negieren, sondern seine Voraussetzungen zu klären.17 Sie suchen nach dem Nicht-Sinn im Sinn, dem Nicht-Zeichen im Zeichen, dem Amedialen im
Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Berlin 1848, S. 1–425, hier S. 66). Für diesen Hinweis danke ich Joachim Ringleben. 14 Vgl. Schurz: Negative Hermeneutik (wie Anm. 7), S. 207 f., mit deutlicher Kritik an Hegel. 15 Schönherr-Mann ist zugleich der einzige Autor, die explizit Bezüge zwischen der negativen Hermeneutik und der christlichen Theologie zieht, wenn er fragt, ob die Nächstenliebe als Appell zum Nicht-Verstehen aufgefasst werden müsse (Schönherr-Mann: Mosaik [wie Anm. 7], S. 11 f.). 16 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1951, S. 365 (Nr. 122), vgl. auch ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 72015, S. 7–412, hier S. 57 f. 17 Schönherr-Mann formuliert dies in der für den philosophischen Poststrukturalismus charakteristischen Terminologie von Repräsentanz und Differenz: „Doch diese repräsentierte Einheit [im Verstehen] beruht nun einmal auf einer Zweiheit. Eine negative Hermeneutik dreht diesen Zusammenhang um. Sie erkennt am Grunde solcher vorgestellten Einheit die Differenz. Sie folgert daraus, daß die Bedingung jeglichen Verstehens das Nichtverstehen ist, d. h. die Differenz und nicht die Repräsentation“ (SchönherrMann: Mosaik [wie Anm. 7], S. 17).
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Medium selbst,18 oder, anders gewendet und m.E. präziser, sie wenden sich dem allen partikularen Sinn stets umgebenden Nicht-Sinn zu. Das vergilbte Papier, das schlechthin Materielle, auf dem ein Text geschrieben ist, gehört laut Robert Schurz gerade als etwas, das selbst keinen Sinn besitzt, zur Bedingung der Genese von Verstehen.19 Negative Hermeneutiker suchen nicht nach Unsinn, sondern verweisen auf dem allen Sinn vorausliegenden Nicht-Sinn, oder, metaphorisch gesprochen, sie richten ihr Augenmerk auf das Meer des Nicht-Sinns, das die Inseln des Sinns stets umgibt. Nimmt man diese letzte Wendung auf, erscheint Hamann geradezu als Musterbeispiel eines negativen Hermeneutikers. Erinnert sei hier nur an den locus classicus für das Verständnis der Unverständlichkeit Hamanns in der zweiten Vorrede der Sokratischen Denkwürdigkeiten, dieser „Misgeburt einer Einladung“ an Kant und Berens, wie Hamann selbst spottet.20 Er verweist hier bekanntlich darauf, dass Sokrates zwischen dem Verständlichen und Unverständlichen genau zu unterscheiden wusste und „bey dieser Gelegenheit“ nach Lesern verlangte, die schwimmen können – nämlich von einer Insel des Verstehens zu einer anderen, da „Brücken und Fähren der Methode“ fehlen.21 Hamann scheint hier auf eben jene Bedingtheit des Verstehens durch das Nicht-Verstehen aufmerksam 18 „Die ,posthermeneutische‘ Provokation beruht auf dieser Entdeckung einer ursprüng-
lichen Wunde, wie sie im folgenden immer wieder als ,chiastisch‘ thematisiert werden wird. Sie lokalisiert in ihren unterschiedlichen Fassetten [sic!] einen Nichtsinn im Sinn, ein Nichtzeichen im Zeichen wie auch ein Amediales im Medialen oder ein Nichtsymbolisches im Symbolischen im Sinne jener genuinen Negativität, worin das Semiotische ebenso wie das Mediale, das Symbolische oder das Hermeneutische wurzeln“ (Mersch: Posthermeneutik [wie Anm. 7], S. 30). 19 „Der Anblick des vergilbten Papiers modifiziert das Verständnis dessen, was als Text darauf präsentiert wird. Das Papier ist in diesem Sinne dem Sinn des Textes nicht äußerlich, denn es formt ja wesentlich das ‚Verstehen‘. Andererseits lässt sich die Materialität des Papiers nicht vollständig integrieren: eine Aufhebung der Körperlichkeit durch den Sinn des Textes kann nicht stattfinden, was wiederum bedeutet, daß das Papier nicht als bloße Bestimmung des Textes gefasst werden kann“ (Schurz: Negative Hermeneutik [wie Anm. 7], S. 13). 20 In den Wolken bezeichnet Hamann die beiden Vorreden der Sokratischen Denkwürdigkeiten ironisch als „zweiköpfige Misgeburt der Einladung“ (N II , 101,9). 21 „Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in den Schriften des Heraklitus, dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und that eine sehr billige und bescheidene Vermuthung von dem Verständlichen auf das Unverständliche. Bey dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluß von Ideen und Empfindungen in jener lebenden Elegie von Philosophen machte desselben Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten“ (N II , 61,23– 31,
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machen zu wollen, der auch das Interesse der negativen Hermeneutik gilt. Anstatt ein künstliches System zu errichten, das die Inseln des Verstehens miteinander logisch verknüpft, letztlich aber nicht tragfähig ist, fordert er die Leser auf sich den Fluten des Nicht-Verstehens auszuliefern – freilich, um von dort aus wieder sicheres Land zu erreichen. Noch deutlicher wird Hamanns Bruch mit der traditionellen Hermeneutik, wenn man seine Haltung mit der Schleiermachers kontrastiert. Dieser beschreibt in einer Vorlesung von 1832 als Aufgabe der Hermeneutik, „auf jedem Punkt das Mißverstehen zu vermeiden. Denn beim bloßen Nicht-Verstehen kann niemand stehenbleiben, also muß das völlige Verstehen herauskommen, wenn jene Aufgabe richtig gelöst ist.“22 Fast ein halbes Jahrhundert früher hält Hamann in einem Brief an Jacobi bereits fest: „Ich will und mag nicht alles verstehen, nicht einmal mich selbst gantz.“23 Dem Projekt einer konsequenten Hermeneutik, die das Miss- und Falschverstehen grundsätzlich vermeiden will – und das ist ja durchaus ein legitimes Anliegen –, steht hier der bewusste Verzicht auf das Verstehen, eine, wenn man so will, hermeneutische Epoché gegenüber. Es scheint prima facie also durchaus angemessen, Hamann, im Guten wie im Schlechten, als Vorläufer der negativen Hermeneutik zu betrachten. Er besitzt eindeutig einen Sinn und Geschmack für das Unverständliche, der zuweilen fast ‚postmodern‘ anmutet. Diesen Eindruck gilt es nun anhand einiger Detailbetrachtungen zu überprüfen.
III. Ein bisher wenig untersuchter Aspekt der Wolken ist Hamanns Umgang mit der Figur des Apostels Paulus. Hamann erwähnt ihn in den Wolken zweimal namentlich, und zwar in deren dritten Aufzug. Dieser viel rezipierte Abschnitt des Werkes stellt eine wesentliche Etappe in der langen Geschichte von Genie und Wahnsinn dar. Hamann reagiert hier auf eine Rezension der Sokratischen Denkwürdigkeiten in den Hamburger Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit,24 die empfiehlt, S perrungen unterdrückt). Zu den Vorlagen und vor allem zur Rezeption dieser Stelle in der zeitgenössischen Kritik vgl. Schumacher: Ironie (wie Anm. 3), S. 102–108. 22 Schleiermacher: Hermeneutik (wie Anm. 12), S. 99. 23 Hammann an Jacobi, 4. 5. 1786, ZH VI , 379. 24 Diese Rezension erschien am 29. 7. 1760 im 57. Stück der Zeitschrift (Anonymus: [Rezension der Sokratischen Denkwürdigkeiten]. In: Hamburger Nachrichten aus dem Reich der Gelehrsamkeit auf das Jahr 1760. Gedruckt und verlegt von Christian Simon Schrö-
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den Verfasser „zum besten seines kranken Körpers und Kopfes in ein Spin- und Raspelhaus zu bringen.“25 Hamanns Ausführungen über die „Gränzstreitigkeiten des Genies mit der Tollheit“,26 mit denen er auf diese Unterstellung einer bei ihm vorliegenden Geisteskrankheit reagiert, sind dabei erstaunlich differenziert. Von einer simplen Glorifizierung des kranken Genies, wie sie etwa Hölderlin und Nietzsche wiederfahren ist, hält Hamann wenig. Er wehrt sich vielmehr wörtlich dagegen, jeden „Mondsüchtigen und Paralytischen“ zum Genie zu verklären.27 Gleichwohl kann er den Topos auch positiv aufnehmen. Interessanter Weise scheint er dabei den Apostel Paulus zu jenen „kranken Genies“ zu zählen, wenn er wortspielend als Anlass für die berühmte Areopag-Rede einen „Paroxysmus der langen Weile“ nennt.28 Er antwortet damit zugleich auf den Vorwurf der Hamburger Nachrichten, die Langeweile habe ihn, der sich in den Sokratischen Denkwürdigkeiten als deren Liebhaber ausgibt, „verwahrlost“.29 Wichtiger noch für den gegenwärtigen Kontext ist eine andere Stelle. Hamann nimmt hier abermals Bezug auf die Rezension der Hamburger Nachrichten. Deren Verfasser erklärt die Wirkung, die Hamanns Erstlingsschrift auf gewisse Zeitgenossen genommen habe, damit, dass „solch Zeug“ halt ansteckend sei – die Hamann attestierte Geisteskrankheit erhält epidemische Ausmaße.30 Als Vergleich verweist der Rezensent auf den Don Quijote. Dass manche Rezensenten Hamanns nach der Lektüre der Sokratischen Denkwürdigkeiten selbst „irre“ reden und beginnen, sich selbst zu widersprechen, sei der Wirkung zu vergleichen, die die Lektüre der trivialen „Romane und Ritterbücher“ auf Cervantes’ unseligen Helden ausgeübt haben.31 Im dritten Aufzug der Wolken bringt Hamann nun Don Quijote und Paulus in unmittelbaren Zusammenhang.32 Hamann entwirft hier so der, S. 452–454). Als Verfasser der Rezension kommt wohl, mit Schumacher, am ehesten der Herausgeber Ziegra in Betracht (Schumacher: Ironie [wie Anm. 3], S. 136). Allerdings kokettiert Hamann in den Wolken damit, dass er sie vielleicht selbst verfasst habe (N II , 100,3–101,2). Die Rezension wird von Hamann – allerdings bewusst nicht immer wörtlich – in den Wolken zitiert und kommentiert (N II , 86,1–89,10). 25 Hamburger Nachrichten (wie Anm. 24), S. 453, mit orthographischen Abweichungen zitiert N II , 87,18 f. 26 N II , 104,8 f. 27 N II , 105,19, mit direktem Verweis auf Matth 4,24. 28 N II , 105,26. Vgl. Apg 17,16–34. 29 Hamburger Nachrichten (wie Anm. 24), S. 453, zitiert N II , 87,17. 30 Hamburger Nachrichten wie Anm. 24), S. 454, zitiert N II , 89,7. 31 Hamburger Nachrichten (wie Anm. 24), S. 454, zitiert N II , 89,9 f. 32 In der direkten Kommentierung der Passage macht Hamann drei Anmerkungen, die sich im weiteren Sinne auf Don Quijote beziehen. Die erste Bemerkung, Rosinante
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etwas wie eine kurze histoire de la folie. Um die Verwandtschaft von Genie und Wahnsinn zu verdeutlichen, verweist auf eine Reihe historischer Beispiele und scheut sich auch nicht, mit Bezug auf den Ausruf des Volkes in Joh 10,20 Christus in diese ‚Wolke der Zeugen‘ aufzunehmen. Anschließend kommt er auf Paulus zu sprechen: „Auch Festus urtheilte, daß die viele Belesenheit den Paulus verwirrt gemacht, und gab seinen fanatischen Schwindel den Büchern schuld.“33 Hamann verweist hier auf die Verteidigungsrede des Apostels Paulus vor Herodes Agrippa II und Festus in der Apostelgeschichte. Auf das Christusbekenntnis des Paulus antwortet Festus, der Prokurator von Judäa, dort mit den Worten: „Du bist von Sinnen, Paulus; die vielen Schriften haben dich wahnsinnig gemacht“ (Apg 26,24). Eindeutig reagiert Hamann hier auf den Vorwurf der Hamburger Nachrichten, die ihn beziehungsweise seine wohlwollenden Rezensenten der Don-Quijoterie zeihen. Zugleich stellt er die ‚Krankheit‘ des Paulus als eine der des Don Quijote verwandte dar. Hamann, der sich an anderer Stelle selbst als „Don Quixote im Reifrock“ präsentiert,34 findet hier ein tertium comparationis fresse Disteln, verleugne aber nicht ihr Geschlecht (N II , 89,45 f.), kann m. E. am besten so verstanden werden, dass Hamann dem Rezensenten zu verstehen geben will, er solle sich, falls ihm die Sokratischen Denkwürdigkeiten zu hoch seien, doch wieder der Trivialliteratur zuwenden. Die zweite Bemerkung (N II , 89,46–90,2), dass auch ein gewisser Metaphysiker – gemeint ist wohl Kant – Geschmack an Happeli relationes curiosas gefunden habe – also Eberhard W. Happel: Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae [...]. Hamburg 1683–1690 – eine Schrift, welche sich bereits im Titel an „jeden curieusen Liebhaber“ wendet, ist wohl, im Kontrast zur ersten, als ironische Spitze gegen ein elitäres Literaturideal zu sehen. Die dritte Bemerkung schließlich (N II , 90,3–10), dass, wenn Don Quijote zum Vorbild der Schriftsteller eigne, Sancho Pansa auch als Leitbild des Rezensenten dienen sollte, ist direkt auf das Verhältnis Hamanns zu seinem Rezensenten zu beziehen. Auf die ‚kuriose‘ Autorschaft Hamanns ist die Einfalt eines „Stallmeisters“ eine bessere Antwort als die vermeintliche Klugheit des Rezensenten. 33 N II , 104,14–16. 34 So in Hamanns eigener Ankündigung seiner Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht in der allgemeinen deutschen Bibliothek (N IV, 433). Zu dieser Schrift und v. a. dem Don-Quijote-Motiv bei Hamann vgl. Elfriede Büchsel: Don Quijote im Reifrock. Zur Interpretation der ‚Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht in der allgemeinen deutschen Bibliothek‘ von J. G. Hamann. In: Euphorion 60 (1966), S. 275–293, hier S. 285 f. Zum Don-Quijote-Motiv bei Hamann vgl. auch N III , 114,25 und N III , 191,5 f. Zu Hamanns Don-Quijote-Lektüre und seiner Rezension einer DonQuijote-Übersetzung vgl. schließlich Linda Simonis: Johann Georg Hamann und die Konzeption der ‚Urschrift‘ des ‚Don Quijote‘. In: ‚Poesie in reinstes Gold verwandeln ...‘. Cervantes’ ‚Don Quijote‘ in Literatur, Kunst, Musik und Philosophie. Hg. von Ute JungKaiser und Annette Simonis. Hildesheim 2016, S. 157–170.
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zwischen Paulus und dem Ritter von der traurigen Gestalt: Das Irrewerden am Buch, das Büchernarrentum. Der Büchernarr ist nun der negative Hermeneut schlechthin. In Sebastian Brants Narrenschiff stellt er sich mit den Worten vor: „Im Narrentanz tanz ich voran,/ da ich unnütz viele Bücher hab’/ die ich nicht lese und nicht verstehe.“35 Liegt bei Brant der Fokus noch auf der unnützen Sammelleidenschaft, wird bei Cervantes der Büchernarr dann zum Urbild des Falsch- und Missverstehenden. Don Quijote versteht die trivialen Ritterromane, die lediglich der Zerstreuung dienen, in radikaler Weise falsch, wenn er sie als zu verwirklichendes Idealbild begreift. Das Autodafé, das Pastor und Barbier an seiner Bibliothek vollführen, scheint daher das letzte Heilmittel.36 Hamann verwebt hier gleichsam das Motiv des Büchernarren mit dem des wahnsinnigen Genies. Die Stilisierung des Paulus als Büchernarr lässt ihn zugleich zum Leitbild eines negativen Hermeneuten werden. Gerade nicht das Verstehen der Bücher, sondern der Schwindel durch zu große Belesenheit, der Gelehrtenwahnsinn, macht den Paulus zum Genie. Es liegt nahe, auch das gelehrte Chaos, den Zitationsexzess und Obskurantismus der hamannschen Schriften als Ausdruck eben eines solchen – nicht krankhaften, sondern künstlerisch inszenierten – Gelehrtenwahnsinns zu betrachten: Hamann, der geniale Büchernarr. Das ist m. E. richtig, reicht aber nicht aus. Denn Hamann bleibt bei der Figur des genialen Büchernarren nicht stehen, sondern konturiert diese abermals theologisch. Im abschließenden Bibelcento der Wolken nimmt er mit Verweis auf 1 Kor 3,18 das Motiv des Narrentums wieder auf.37 Er bringt es hier, wie bei Paulus selbst angelegt, in Zusammenhang mit dem Wort vom Kreuz. Der geniale Büchernarr wird zum Verkündiger der „törichten Predigt“ des unter seinem Gegenteil verborgenen Evangeliums, die Narrheit des Vielbelesenen und Nichtmehrverstehenden wird zum Ausdruck der stultitia Christi. Das Irrewerden an den Büchern führt Hamann direkt zum Fuß des Kreuzes. Anders als Kierkegaard unterscheidet er hier nicht zwischen Apostel und Genie,38 35 „Den vordantz hat man mir gelan/ Dann ich on nutz vil bücher han/ Die jch nit lyß/
und nyt verstan“ (Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe [Basel 1494] mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hg. von Manfred Lemmer. Berlin 42010, S. 7,1–3, übers. HK). 36 Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Übers. von Susanne Lange. Bd. 1. München 2008, S. 62–70. 37 N II , 108,24–26. 38 Vgl. dazu Sören Kierkegaard: Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. In: Ders.: Gesammelte Werke. 21., 22. und 23. Abteilung. Kleine Schriften 1848/49. Düsseldorf 1960, S. 115–134.
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sondern artikuliert mit den Mitteln der Genieästhetik gerade das, was sie zugleich zu sprengen droht: die göttliche „Thorheit des Genies“, welche sich dem donquijotesken Irrewerden an den Büchern verdankt.39 Bezogen auf die Leserführung Hamanns ließe sich dies nun so deuten, dass Hamann mit seinem Stil den Leser gleichfalls bewusst zum Verzweifeln führen will. An die Stelle des modus persuadendi tritt beim Anti-Rhetoriker Hamann die Einladung zum Nicht-Verstehen. Der Leser soll, ganz gemäß der Intention des Verfassers, irre werden an dessen Schriften, um, wie dieser, zur Torheit des Kreuzes zu finden. Dass am Ende jenes Nachspiels der Sokratischen Denkwürdigkeiten sich die Wolken gleichsam zurückziehen und ein ‚schlichtes‘ Bibelcento, in dessen Zentrum das Wort vom Kreuz steht, die Schrift beschließt, ist dafür ein deutliches Indiz.40 Dass Hamann an anderer Stelle seinen Stil mit Wendungen beschreibt, die an den Täufer Johannes erinnern – er vergleicht seine Beweise mit Heuschrecken und bezeichnet sich als Autor, der seine Feder in „wilden Honig“ tunkt – bestätigt diese Deutung.41 Hamanns bewusst inszenierter Gelehrtenwahnsinn artikuliert die Stimme eines Predigers in Wüste: Er weist von sich selbst fort auf das Kreuz Christi. Die Strategie seiner negativen Hermeneutik besteht darin, den Leser fort von den vielen Büchern, an denen er irrewerden muss, und hin zu dem einen Wort zu führen, das Heil verspricht: Zu dem Wort von der Torheit des gekreuzigten Gottes.
IV. Von hier aus fällt nun auch ein Licht auf die vor allem in den Wolken omnipräsente Verhüllungsthematik. Gleich im ersten Satz kommt Hamann auf diese zu 39 N II , 107,7. Büchsel beschreibt dies treffend: In seinen Autorhandlungen inszeniere sich
Hamann selbst als „Don Quixote Gottes“ (Büchsel: Don Quijote [wie Anm. 34], S. 293). Eine anders gelagerte theologische Anverwandlung der Figur des Don Quijote findet sich in Dostojewkis Idiot. Dostojewski assoziiert vor allem im brieflichen Umfeld seines Romans die Gestalt des Fürsten Myschkin sowohl mit Christus als auch mit Don Quijote. Allerdings liegt der Grund für diese Bezugnahme, anders als der Romantitel vermuten ließe, nicht in der stultitia Christi, sondern vor allem in der Sanftmut des Gottessohns. Vgl. dazu Reiner Goldt: Fürst Myschkin – russischer Christus, Don Quixote, Sysiphos? Eine Einführung in den Roman ‚Der Idiot‘ und die Hintergründe seiner Entstehung. In: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 11 (2004), S. 27–39. 40 Zur Metapher der Wolken bei Hamann und im zeitgenössischen Umfeld vgl. Schumacher: Ironie (wie Anm. 3), S. 109–122. 41 N II , 107,18–23.
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sprechen, wenn er verspricht die „Blöße seiner verhüllten Muse“ zu offenbaren und so – man wird nicht umhin können zu urteilen: ironisch – eine Erklärung für seine den Zeitgenossen so sauer aufstoßende Stilistik zu geben. Diese Muse, die von Hamann immer wieder in den Wolken angerufen wird, umspielt er – man ist versucht zu sagen: zärtlich – mit einer Fülle vor allem biblischer Zitate. Zweifelsohne alludiert Hamann wiederum auch klassische Topoi des Geniekults. Die Muse ist keine „Blonde“, sondern ein „schwarzes“ Mädchen, das sich an der Flamme des Genies verbrannt hat.42 Es liegt daher nahe, auch das Verhüllungsmotiv lediglich im Sinne eines intellektuellen Maskenspiels zu verstehen. Hamann will seine Wahrheiten nicht der breiten Masse preisgeben, die Perlen, wie er selbst in Anspielung auf Matth 7,6 schreibt, nicht vor die Säue werfen.43 Das Genie schreibt halt nicht für die vielen. Lassen sich solche Wendungen noch schlicht als Ausdruck einer elitären Esoterik, als Arkandisziplin des Auserwählten deuten, gibt es doch auch hier eine theologische Tiefenschicht zu entdecken. Abermals ist besonders Hamanns Spiel mit Paulus-Zitaten aufschlussreich. So schreibt er, sich selbst als den anonymen Verfasser der Sokratischen Denkwürdigkeiten in dritter Person adressierend, über seine Muse: „‚Um der Engel willen‘, möchte er in seiner Mundart sagen, ‚muß meine Muse eine Macht auf dem Haupt haben, und hat im Druck mit einer Decke, nicht kahl und geschoren, vor der Gemeinde erscheinen dürfen.‘ “44 Dieser „Grundsatz der Andacht“, den Hamann sich selbst attestiert, besteht in der geschickten Kombination zweier Bibelzitate. Die hochumstrittene Passage aus 1 Kor 11,10, nach der die Frau sich mit einer schwierig zu deutenden Kopfbedeckung gegen die Einflüsse der ‚Mächte‘ – gemeint sind wohl böse Engel – abschirmen soll, wird hier kombiniert mit dem Wort über die Decke des Mose aus 2 Kor 3,12–16. Nach Ex 34,33 f. verbirgt Mose mit jener Decke die Herrlichkeit des Herrn, die auf seinem Gesicht leuchtet, vor dem Volk. Bei Paulus wird diese Decke zur Decke „des alten Bundes“, die durch Christus abgetan ist. Die Zitatmontage ermöglicht es Hamann nun dem Verhüllungsmotiv eine spezifische theologische Pointe abzugewinnen. Dabei deutet er mit der lutherischen Tradition die Pas42 Vgl. N II , 107,3–5. 43 Hamann reagiert hier auf den Vorwurf des Rezensenten, er missbrauche Schriftstellen:
„Folgende [Schriftstelle] ist in der Vorrede an Niemand, den Kundbaren ausgelassen worden: Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen: auf dass sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden, und euch zerreißen, Matth. VII .“ (N II , 87,20–23). 44 N II , 93,10–14. Am Ende der Wolken stellt Hamann seine Muse den „Nymphen“ der Hamburger Nachrichten gegenüber (N II , 109,1–3).
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sage aus dem 2. Korintherbrief als Aussage über die Insuffizienz des Gesetzes. Im abschließenden Bibelcento heißt es daher in Anspielung auf 2 Kor 3,14: Die Vernunft ist heilig, recht und gut; durch sie kommt aber nichts als Erkenntnis der überaus sündigen Unwissenheit, die, wenn sie epidemisch wird, in die Rechte der Weltweisheit tritt, [...]. Niemand betrüge sich also selbst. Welcher sich unter euch dünkt weise zu seyn; der werde ein Narr – – – 1 Kor. III. 18. Das Amt der Philosophie ist der leibhafte Moses, ein Orbil zum Glauben, und bis auf den heutigen Tag, in allen Schulen, wo gelesen wird, hängt die Decke vor dem Herzen der Lehrer und Zuhörer, welche in CHRISTO aufhört.45
Diese komplexe Passage beschreibt präzise, worin Hamann die Aufgabe einer rational ausgerichteten Philosophie erblickt: Insofern sie nur die sündige Unwissenheit aufzudecken vermag, ist ihrer Funktion eben jene, die nach Luthers Lehre vom usus theologicus dem göttlichen Gesetz zukommt. Das Gesetz dient, vereinfacht formuliert, zuvorderst dem Zweck, die Sünde aufzudecken oder sie „groß zu machen“, wie Luther mit Paulus sagen kann. Das Gesetz vermag aber nicht zu rechtfertigen.46 Wie aus einem Brief an Lindner hervorgeht, identifiziert Hamann die Vernunft direkt mit dem Gesetz bei Paulus: „Unsere Vernunft ist eben das, was Paulus das Gesetz nennt […]“.47 Hamann parallelisiert also seine Kritik der nur-vernünftigen Philosophie mit dem lutherisch-paulinischen Protest gegen den Versuch des Menschen, sich selbst aus Werken des Gesetzes zu rechtfertigen. Die Philosophie, der „leibhafte Moses“, verkennt ihr wahres Amt, wenn sie meint, mehr leisten zu können als die Erkenntnis der sündigen Unwissenheit. Hamanns stilistischer Narrentanz dient eben dem Ziel, die Selbstherrlichkeit der Vernunft zu erschüttern und sie in ihre Schranken zu verweisen. Seine kabbalistische Prosa lässt sich mithin begreifen als Fortsetzung der reformatorischen Kritik an der Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes. Die bewusste Zurückweisung des Lesers, die Tendenz zum Nicht- und Unverständlichen, wie 45 N II , 108, 19–30. 46 Vgl. Luthers berühmte Darstellung des duplex usus legis in der Galaterbriefvorlesung
von 1531: „Alter legis usus est Thelogicus seu Spiritualis, qui valet ad augendas transgressiones. Et is maxime quaeritur in lege Mosi, ut per eam crescat et multiplicetur peccatum, praesertim in conscientia. [...] Itaque verum officium et principialis ac proprius usus legis est, quod revelat homini suum peccatum, caecitatem, miseriam, impietatem, ignorantiam, odium, contemptum Dei, mortem, infernum, iudicium et commeritam iram apud Deum“ (Martin Luther: Kritische Gesamtausgabe. Bd. 40/1. Weimar 1911, S. 480 b,32–481 b,16, vgl. Röm 7,7). 47 Hamann an Lindner, 22. 6. 1759, ZH I , 355.
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sie für Hamanns Autorschaft charakteristisch ist, ist kein bloßes Maskenspiel, sondern tiefernster, prophetischer Protest: Indem Hamann die Rhetorik in die Anti-Rhetorik, die Gelehrsamkeit in den Gelehrtenwahnsinn überführt, weist er auf die Gefahren hin, die in einer Selbstüberhebung der Vernunft liegen. Wenn Paulus die Selbstherrlichkeit des sich des Gesetzes rühmenden Menschen vor Augen führt, wählt er bewusst einen Anakoluth, um die Irrigkeit dieses Weges zu verdeutlichen.48 Dieser Anakoluth ist das unausgesprochene Urbild der hamannschen Rhetorik: Die in die Irre führende Selbstüberhebung der Vernunft kann nur durch einen dunklen und missverständlichen Stil zum Ausdruck gebracht werden. Der Büchernarr überführt den Buchgelehrten und zeigt ihm seine Torheit.
V. „Ich sag mit Sancho Pansa: Gott, ich sag, er versteht mich.“ Mit diesen Worten des Dichters Johannes Bobrowski hat Oswald Bayer einst Hamanns tiefste Intentionen zusammengefasst.49 Sie bringen präzise jene grundlegende Erfahrung auf den Punkt, die der junge Hamann beim Londoner Bibelstudium machte: Beim Lesen der Bibel begreift er, dass nicht primär er es ist, der den Text versteht, sondern dass die Bibellektüre vielmehr den Prozess darstellt, in welchem Gott, ihm, dem Lesenden, sein Verstandensein offenbart. Gott ist der Hermeneut der Lebensgeschichte des Christen. Dieses „Urmotiv“ der hamannschen Autorschaft braucht hier nicht weiter ausgeführt werden;50 die theologische Hamann-Literatur hat es bereits klar herausgearbeitet. Wichtiger ist vielmehr, dass von diesem Urmotiv her noch einmal die Bedeutung der ‚negativen Hermeneutik‘ Hamanns für sein gesamtes Denken deutlich wird. Bobrowski lässt Hamann mit Sancho Pansa sprechen: Gott versteht mich. Der „Don Quixote im Reifrock“ ergänzt: Ich verstehe mich aber nicht. Hamanns negative Hermeneutik verfolgt das Ziel, die Selbstsicherheit der Vernunft zu erschüttern. Sein bewusst inszenierter Gelehrtenwahnsinn, die Schellenkappe des Büchernarren, die er seiner Autorschaft aufsetzt, wird zum Hinweis darauf, dass die Vernunft dem Menschen zu keinem hinlänglichen Selbstverständnis zu 48 Vgl. Röm 2,17–20. 49 Oswald Bayer: Autorität und Kritik. Zur Hermeneutik und Wissenschaftstheorie.
Tübingen 1991, S. 86. Das Gedicht „Hamann“ von Johannes Bobrowski ist online verfügbar unter: http://www.hamann-kolloquium.de/Bobrowski (abgerufen am 6. 2. 2019). 50 Zur Bezeichnung als „Urmotiv“ vgl. Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 62 f.
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verhelfen vermag – als strenger Schulmeister, als „leibhafter Moses“, kann sie ihm vielmehr nur zeigen, dass er sich selbst gerade nicht versteht. Dunkelheit und Missverständlichkeit sind in einer Zeit, da die ‚Entzauberung der Welt‘ schon wesentlich vorangeschritten ist, für Hamann die Mittel, um die Vernunft in ihre Schranken zu weisen, ebenso wie Paulus und Luther die primäre Bedeutung des Gesetzes darin erblicken, das Ausmaß und die Unentrinnbarkeit der Sünde zu verdeutlichen.51 Der ‚Magus in Norden‘ will den Leser gerade nicht von irgendeiner Lehrmeinung überzeugen, sondern ihn zum Verzweifeln, zum Irrewerden an seinen Schriften bringen, um ihn daran zu erinnern, wie wenig die Philosophie vermag. Hamann, der seine Feder in Honig tunkt, weist als ironischer Imitator des Täufers Johannes von sich selbst fort auf das Kreuz Christi. Die Torheit der christlichen Verkündigung aktualisiert er als Satyrspiel der Aufklärung.52 Gerade dieser Hinweis auf das Kreuz Christi ist es, der Hamann, bei aller Gemeinsamkeit, von den Vertretern einer negativen Hermeneutik trennt. Wie diese betreibt er Vernunftkritik, wählt Satire, Travestie und Unverständlichkeit als Mittel der Dekonstruktion. Auch er weist auf die Alterität, das unaufhebbar Individuelle hin, indem er die Logik des Begriffs ad absurdum führt. Nur: Anders als bei den negativen Hermeneutikern bleibt dies Andere, dies Jenseits des Verstehens bei ihm kein unbestimmtes. Während jene, nachdem sie die Unzulänglichkeit der Begriffe aufgezeigt haben, beim Schweigen enden, kommt Hamann von den Begriffen zu dem einen Wort, dem Wort vom gekreuzigten Gott. Hamanns theologia crucis ermöglicht es ihm, anders als dem negativen Hermeneutiker, auch an einer letzten Sinn-Dimension festzuhalten. Während jener letztlich sogar dem Teufel eine eigene, nicht mehr Gott unterstellte Qualität zubilligen muss – eben 51 Diese Deutung der paulinischen Theologie entspricht der traditionellen lutherischen.
Im Rahmen der sogenannten New Perspective on Paul wird Luthers Umgang mit dem paulinischen Gesetzesbegriffs indes sehr kritisch beurteilt. Vgl. dazu James D. G. Dunn: Was Paul against the Law? The Law in Galatians and Romans. A Test-Case of Text in Context. In: Ders.: The New Perspective on Paul. Tübingen 22008, S. 265–284. 52 Ob die Theologie, wie Eberhard Jüngel vorgeschlagen hat, daher tatsächlich die Rolle eines „Narr[en] im Haus der Wissenschaften“ übernehmen sollte, ist eine wesentlich weiterreichende Frage. Im Sinne Hamanns wäre eine solche wissenschaftstheoretische Grundlegung aber durchaus. Zum Zitat siehe Eberhard Jüngel: Strukturwandel in der Öffentlichkeit. Herausforderung und Chance der universitären Theologie. In: Ders.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. Theologische Erörterungen IV. Tübingen 2000, S. 312–329, hier S. 325 f. Vgl. auch Jüngels thematisch verwandte Predigt über 1 Kor 4,8–10 (Eberhard Jüngel: Narren um Chrsiti willen. Predigt über 1 Kor 4,8– 10. In: Paulus, Apostel Jesu Christi. FS für Günter Klein zum 70. Geburtstag. Hg. von Michael Trowitzsch. Tübingen 1998, S. 323–330).
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weil dieser als Verkörperung des Bösen zugleich das Jenseits des Verstehens symbolisiert –,53 kann Hamann an einer Einheitsperspektive des menschlichen Weltund Selbstverständnisses festhalten. Er braucht den von Schleiermacher pointiert zur Geltung gebrachten Anspruch der Hermeneutik, dass am Ende immer das Verstehen stehen müsse, nicht aufzuopfern, um auch das Un- und Missverständliche zu seinem Recht kommen zu lassen. Insofern Hamann ganzes Werk in seiner theologischen Tiefenschicht auf Verstehen ausgerichtet ist, bleibt es der klassischen Hermeneutik verbunden. Nur ist es eben nicht mehr der Mensch selbst, der diese hermeneutische Leistung vollbringt, sondern Gott, der die Lebensgeschichte des Christen auslegt. Hamanns ‚negative Hermeneutik‘ bleibt nicht bei der Dekonstruktion stehen, sein Werk ist keine reine Don Quijoterie, da er um die Weisheit Sancho Pansas weiß: „Gott versteht mich.“ Der Büchernarr Hamann ist ein großer Satiriker, aber er ist nicht nur das; er ist, was Paulus ihn gelehrt hat zu sein: ein Narr um Christi willen.
53 Schurz: Negative Hermeneutik (wie Anm. 7), S. 210.
Ulrich Gaier (Konstanz) Hamanns Rhetorik des Denkens
Rhetorik kann man als die Kunst bezeichnen, eine Kommunikationssituation in angemessener Weise zu bewältigen. Rhetorik des Denkens soll eine Kunst heißen, verschiedene Denkformen wie Register einer Orgel zu benutzen, um ein Erkenntnisproblem auf gewünschte und angemessene Weise zu lösen. Hamanns Briefe und Schriften zeigen, dass er in der üblichen Redekunst gut bewandert war und Begriffe von der inventio bis zum status quaestionis1 flüssig gebrauchte, hatte doch sein Freund Lindner eine Redekunst geschrieben.2 Da sein dunkler Stil Hamann oft vorgeworfen wurde, stellt er oft Überlegungen zu seiner Schreibart an, meistens apologetisch, was ihn allerdings nicht hindert, von Herder zu fordern, er solle seinen „verwünschten rothdeutschen Styl“ ändern.3 Es sind vor allem die von Herder im Zuge seines Sturm-und-Drang-Projekts kunstvoll eingeführten Mündlichkeiten in seiner Prosa, wegen deren ihm Hamann einen grammatischen Krieg erklären will: Die Gräuel der Verwüstung in Ansehung der deutschen Sprache, die alcibiadischen Verhuntzungen des Articuls [Alkibiades kupierte seinem Hund den Schwanz], die monströse Wortkupplereyen, der dityrambische Syntax und alle übrige licentiae verdienen eine öffentliche Ahndung, und verraten eine so spasmodische Denkungsart, daß dem Unfuge auf eine oder andere Art gesteuert werden muß. Dieser Misbrauch ist Ihnen so natürlich geworden, daß man ihn für ein Gesetz Ihres Styls ansehen muß […].4
1 2 3 4
ZH V, 19. ZH I , 95. ZH III , 55 und 71. „Rothdeutsch“ statt wie üblich „rottwelsch“. ZH III , 135.
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Herder hatte in seinem Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker (1773) etwa in dem Gedicht Heideröslein den Artikel weggelassen und geschrieben: „Das Hauptwort bekommt auf solche Weise immer weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit ’Knabe sprach, ’Röslein sprach u.s.w. in den Liedern weit mehr Akzent“.5 Seine Absicht war, die in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur festgestellte beginnende Vergreisung der deutschen Sprache, mithin auch Denkart, dadurch zu bremsen, dass er z. B. die Mündlichkeit, das Volksmäßige wie in den Volksliedern (1774/1779), das Sinnliche und Bilderreiche wieder in der Sprache stärkte und die abstrakte Begrifflichkeit der Aufklärer und Rationalisten zurückdrängte. Er lag damit ganz auf der Linie Hamanns, welcher ihn an dieser Stelle missverstand. Denn Hamann war mit Francis Bacon der Ansicht, dass die Rationalisten die Natur durch ihre Abstraktionen schinden und aus dem Weg räumen.6
Stil Hamann bekennt: „[W]as andere Leute Styl nennen, ist bey mir Seele, oder Urtheils= und Verdauungskraft.“7 Deshalb ist es für eine Rhetorik des Denkens entscheidend, Stil nicht als wählbare Manier wie in der üblichen Rhetorik zu begreifen oder als nach Buffons Discours sur le style die von der Intelligenz gesetzte Ordnung und Bewegung, in die man die Aussage beim Sprechen oder Schreiben bringt. Nein, Stil ist bei Hamann Seele oder Urteils- oder Verdauungskraft, d. h. erstens etwas vollständig Individuelles, das zweitens in drei Stufen arbeitet: Verdauungskraft spaltet eine Nahrung in Körperkonformes und Unverdauliches und transformiert das Körperkonforme in eigene Organe wie Muskeln und Hirnzellen; das Unverdauliche wird ausgeschieden. Die zweite Stufe der Aneignung leistet die „Urtheilskraft“. 1777 beschrieben, hat dieses Vermögen noch nichts mit Kants dritter Kritik zu tun; der Begriff bezieht sich auf engl. judgment, das auch mit ‚Scharfsinn‘ übersetzt wurde, also einer Fähigkeit der Einbildungskraft, Vorstellungen nicht wie der Witz zu vergleichen und zu analogisieren, sondern auseinanderzuhalten, zu unterscheiden und zu trennen. Urteilskraft hat also eine ähnliche Funktion wie Verdauungskraft; wie diese auf Erfahrungen der Sinne 5 Johann Gottfried Herder: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781. Hg. von Gun-
ter Grimm. Frankfurt a. M. 1993, S. 485.
6 N II , 206. 7 ZH III , 378 f.
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bezogen ist, so die Urteilskraft auf Vorstellungen, Bilder, Träume, Phantasmen der Einbildungskraft. Gerade mit seiner Einbildungskraft hatte Hamann krankheitsbedingt Probleme: „[M]eine Einbildungskraft wechselt in so hellen u dunkeln Farben, daß ich vor zu vielem oder zu schwachem Lichte die Dinge selbst nicht sehen kann.“8 Auch diagnostizierte er sich einen „wahre[n] furor vterinus kranker, ihrer selbst nicht mächtiger Einbildungskraft“.9 Deshalb betont er die Urteilskraft und sagt: „Lügen ist die Muttersprache unserer Vernunft und Witzes.“10 Die dritte Stufe der Aneignung ist „Seele“. Sie ist der Sammel- und Unterscheidungspunkt aller angeeigneten Informationen aus der sinnlichen Verdauung und der scharfsinnigen Urteilskraft und wird hier durch Informationen aus Verstand, Vernunft und Glauben ergänzt. Hamanns Stil ist also die Sprech- und Schreibhandlung – „actio, actio, actio ist immer das Heiligtum meiner Kabbala und Philologie seel. Andenkens gewesen“11 – des ganzen Menschen Hamann, der sich im Moment seines Redens und Schreibens seinem Partner mit Leib, Vorstellung und Liebe zuwendet und alle Fähigkeiten, Sinne, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft einsetzt, um ihm jetzt und hier, unverwechselbar, Hamann zu sein. Einzelne Aspekte dieses Stilbegriffs nennt Hamann in seinen Briefen mimisch, spermologisch, kauderwelsch.12 Er ist unzufrieden damit, wünscht sich „aus der Manier, die mir mehr scheint zur Natur geworden zu seyn, als sie es vielleicht nicht ist, heraus arbeiten zu können“.13 Seinen „verfluchte[n] Wurststil“ führt er auf „Verstopfung“ zurück, während Lavater an stilistischem „Durchfall“ leide.14 Denselben Vergleich wendet er auf seine Arbeit an Golgatha und Scheblimini an: Er habe „immer gegen Verstopfung und Durchfall der Gedanken u des Styls zu kämpfen gehabt; wurde endlich überdrüßig die letzte Hälfte auszuglätten und zu vollenden“.15 Hamann verwendet hier einen eher oberflächlichen Stilbegriff im Vergleich zum vorhin besprochenen, denn hier kann er ändern und schleifen im Gegensatz zu seinem „spermologischen Styl“, der „nicht mehr Feile oder Correctur des Geschmacks“ erlaubt,16 wohl weil nach damaliger Ansicht durch das Sperma die ganze Persönlichkeit mitgeteilt wird. 8 9 10 11 12 13 14 15 16
ZH V, 19. ZH V, 178. ZH I , 379. ZH III , 76. ZH I , 378; ZH IV, 175 und 252. ZH IV, 175. ZH VI , 217. ZH V, 145. ZH IV, 175.
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Ein Stilbegriff, den Heinrich Lausberg in seinem Handbuch der literarischen Rhetorik17 nicht erwähnt, ist athroōs, gedrungen. Damit wird eine Formulierung bezeichnet, die extrem kurz und in Aussagen und Anwendung unerschöpflich ist. Hamanns „gallicanische“ Schriften bekämen, auf bestimmte Weise ausgewählt und geordnet, „etwas zusammenhängendes und zugl. gedrungenes.“18 Ein schönes Beispiel ist die Formulierung „Moses Tißot“; gemeint ist der Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot (1728–1797), der neben einem berühmten Buch über Epilepsie und verheerenden Veröffentlichungen über Onanie, die den Hauslehrer Hölderlin monatelang schlaflose Nächte kosteten,19 auch in mehreren Schriften auf Krankheiten hinwies, die bei den Reichen aufgrund ihrer Völlerei üblich seien. Er stellte strenge Regeln auf wie Moses mit dem Zwölftafelgesetz; Hamann berichtet von einem Verbot von „Gänse= Schweins=p Braten, weiße durchgeschlagene Erbsen, p“, was dem großen Esser in seiner „Lüsternheit einigen Abbruch“ tun musste. Er berichtet dann aber von der „Feuer Execution an den geschriebnen Acten“,20 d. h. er wirft den Tissot und damit auch das Gesetz Mose ins Feuer, denn der Religionsstifter hat beim Aufschreiben der Zehn Gebote 40 Tage lang nichts zu sich genommen und damit etwas für Hamann Unverzeihliches getan. All dies steckt in der gedrungenen Formulierung „Moses Tißot“. Anstelle von „gedrungen“ verwendet Hamann auch „elliptisch“ und „lakonisch“.21 Aber diese profanen Begriffe sind nicht aussagekräftig im Blick auf die heilige Rhetorik, die Hamann im Sinn hat. Diese hat zwei Hauptrichtungen, nämlich die Herunterlassung oder Katabasis, die Vervielfältigung des Einen, und den Wiederaufstieg und die Zusammendrängung zum Einen. Hamann hat sprechende Bilder für diese Hauptrichtungen: Verstopfung oder Wurst, und Durchfall haben wir besprochen; wenn er es jedem überlässt, „die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten“,22 dann schreibt Hamann eine geballte Faust mit ihrer u. U. tödlichen Satire, die der Leser aufmachen und die darin verborgene Angst oder Freude finden darf; das Bild stammt ursprünglich von den Begriffen der implicatio und der explicatio bei Cusanus.23 Besonders ansprechend ist das Bild vom „Knäuel vortreflicher 17 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960. 18 ZH IV, 150 f. 19 Vgl. Ulrich Gaier: Hölderlin-Studien. Hg. von Sabine Doering und Valérie Lawitschka. 20 21 22 23
Tübingen/Eggingen 2014, S. 47 f. ZH IV, 302. ZH I , 396 und ZH IV, 227. ZH V, 216. Nikolaus von Kues: De docta ignorantia – Die belehrte Unwissenheit. Übersetzt und mit Vorwort und Anmerkungen versehen von Paul Wilpert. Hamburg 1964; Kap. 89, 9–14.
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Begriffe“, der vom Lehrer in der „Erziehung des Verstandes“ abzuwickeln ist.24 Der Knäuel ist kompakt, dann in einen Leitfaden aufgelöst; enzyklopädisch enthält er Begriffe aus allen Wissenschaften, aber ungeordnet, ist chaotisch alles und doch eins. Hamann denkt hier neuplatonisch. „Stellen Sie sich mein Glück vor. Eine herrl. Ausgabe des Platons für 31 gl. erhalten und die besten von Proclus und Plotinus theol. Werken. Text und Übersetzungen“, schreibt er am 19. Dezember 1761,25 und noch 20 Jahre später freut er sich, „Marsilii Ficini Epistolae 7 gl. Seine Theol. Platonica u Plato 48 gl.“ erworben zu haben.26 Auch ist er überzeugt: „Jordani Bruni Principium coincidentiae oppositorum ist in meinen Augen mehr wert als alle Kantsche Kritik.“27 Auch dieses Prinzip hätte er bei Cusanus finden können.
Denkungsarten Es folgen jetzt Ausführungen über Sinne, Einbildungskraft und Vernunft. Wann kommen wir denn endlich zur Rhetorik des Denkens?, werden Sie sich schon lange gefragt haben. In der Tat habe ich dauernd darüber gesprochen. Wenn bei Hamann Stil Verdauungs- und Urteilskraft und Seele ist, dann sind schon hier die Denkvermögen der Sinne, der Einbildungskraft und der geistigen Vermögen von Verstand und Vernunft gemeint. Auch Sinne sind Denkvermögen, gehören sie doch nach Descartes zu dem umfassenden cogito, und nach Locke zitiert Hamann: „Nichts ist also in unserm Verstande ohne vorher in unsern Sinnen gewesen zu seyn […].“28 Noch genauer weiß Hamann: „Alle unsere Erkänntniskräfte hängen von der sinnlichen Aufmerksamkeit ab; diese wiederum beruht auf Lust des Gemüths an den Gegenständen selbst.“29 Mit ‚Lust‘ kommt noch Hobbes ins Spiel, der Wissen auf Wissenwollen zurückgeführt hat. Das alles interessiert Kant nicht, den in seiner Kritik der reinen Vernunft nicht das Erkennen und schon
24 25 26 27 28 29
Vgl. Ulrich Gaier: Ludus explicationis. Variationen über ein Thema von Cusanus. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen und Klaus Haberkamm. Bern/München 1972, S. 13–32. N II , 66. ZH II , 124. ZH IV, 355. ZH IV, 287 und 462. Vgl. Sergei Volzhin: Johann Georg Hamann. Wiederentdeckung der coincidentia oppositorum im Zeitalter der Aufklärung. Regensburg 2018. N III , 39. N II , 358.
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gar nicht das Erkannte interessiert, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Erkennens, bei den Sinnen also die Formen Raum und Zeit. Nach dem Erscheinen von Kants erkenntnistheoretischem Werk 1781 setzt sich Hamann intensiv damit auseinander, ist er doch bisher Leibniz gefolgt, der von den Wirkungen einer einzigen Kraft der Repräsentation ausgegangen war. Wenn Hamann von Verdauungs- und Urteilskraft und Seele spricht, so ist das bei Leibniz die eine Kraft, die sich auf verschiedenen Stufen manifestiert. Was Kant mit Sinnlichkeit und Verstand anstellt, ist unerhört, unnötig und klingt für Hamann ganz nach Sulzer: „Entspringen Sinnlichkeit und Verstand; als die zween Stämme der menschlichen Erkenntnis, aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel, so daß durch jene Gegenstände gegeben, und durch diesen gedacht (verstanden und begriffen) werden: wozu so eine gewaltthätige, unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat?“30 Diese vernichtende Kritik an Kants willkürlicher S etzung ist ein Gemeinschaftswerk mit Herder, der diese Gedanken noch einmal in seiner Metakritik ausgearbeitet hat.31 Herder hatte schon in seinen drei Versionen der Schrift Vom Erkennen und Empfinden (1774/75) gegen die Absicht der Berliner Akademie die Einstämmigkeit der Erkenntnis von den Sinnen ‚herauf ‘ und von den Begriffen ‚herunter‘ vehement verteidigt und deshalb den Preis nicht gewinnen können, weil der allmächtige Sulzer nur eine Bestätigung seiner Ansichten gesucht hatte.32 Herder veröffentlichte deshalb mit minimalen Veränderungen die Abhandlung von 1775. Eine wichtige Kompetenz ist bei Herder das sensorium commune, die Sammlungs- und Schaltstelle aller sinnlichen Eindrücke, die für die Bildung der Vorstellung eines Gegenstandes und damit auch für den Begriff notwendige Voraussetzung ist. Hamann erwähnt die Kompetenz nicht, wohl weil Herder sie in der Ursprungsschrift immer wieder anführt, die Hamann zunächst pauschal ablehnte. Eines steuert Hamann dem gemeinsamen erkenntnistheoretischen Unternehmen bei: die unmittelbare Präsenz Gottes „von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß!“33 Das wird später in Herders Gott. Einige Gespräche so formuliert: „Wir sind mit Allmacht umgeben,
30 N III , 278. 31 Vgl. Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad
Cannstatt 1988, S. 185–195.
32 N III , 39. Ulrich Gaier: Metaschematisieren? Hieroglyphe und Periodus. In: Zwischen
Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema. Hg. von Ulrich Gaier und Ralf Simon. München 2010, S. 19–53. 33 N II , 204.
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wir schwimmen in einem Ozean der Allmacht.“34 Diese alldurchwaltende göttliche Kraft liegt allem voraus und ermöglicht alles, auch die sinnliche Erkenntnis. Wenn Hamann öfter betont, dass die sinnliche Erfahrung und Beurteilung durch Leidenschaften und Empfindungen verfälscht werden,35 so erkennt er an, dass „auch unsere Phantasien, Illusionen, fallaciae opticae u Trugschlüße unter Gottes Gebieth“ stehen;36 damit geht er über den Glauben des Cartesius hinaus, dass zwar die Sinne täuschen und ein grader Stock im Wasser gebrochen scheint (fallacia optica), aber dass Gott mich hinsichtlich meiner Verstandeserkenntnis nicht täuschen wird. Hamann nennt aber auch diese Hoffnungen Descartes’ „Trugschlüsse“. Sinne, so kann man das Dargestellte zusammenfassen, sind für Hamann eine vollgültige, aus der Allmacht Gottes gespeiste Denkungsart. Auf ihnen beruhen materialiter alle höheren Erkenntnisse. Kants Behauptung, es gebe reine Formen von Raum und Zeit, lehnt Hamann ab, weil damit eine Anerkennung der zweistämmigen Erkenntnis verbunden gewesen wäre. Den Sinnen wird nichts bloß ‚gegeben‘, denn Leidenschaften und Empfindungen, Lust und Interesse wirken entscheidend mit an der Auswahl und Gestaltung sinnlicher Eindrücke, die sie natürlich auch verfälschen können. Aber „die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften.“37 Sie wirkt fundamental, wenn auch nicht mit zuverlässiger Erkenntnis, aber die ist nirgends zu haben.
Einbildungskraft Der Erkenntnistheorie von Hobbes und Locke gemäß wurde die Fähigkeit, sich an sinnlich Erfahrenes zu erinnern und damit zu arbeiten, als wit bezeichnet; die Fähigkeit, zu vergleichen und Analogien herzustellen, als good wit. Die Fähigkeit, Erinnertes oder Erfahrenes zu unterscheiden, hieß judgment. Das wurde im Deutschen mit Urteilskraft oder Scharfsinn bezeichnet, während wit mit ‚Witz‘ übersetzt wurde. „Ich habe über den Sokrates auf sokratische Art geschrieben. Die Analogie war die Seele seiner Schlüsse“, und hierzu zitiert Hamann „Analogy, man’s surest guide below“ aus Edward Youngs Night Thoughts, 6. Gesang.38 Hobbes 34 Johann Gottfried Herder: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774– 35 36 37 38
1787. Hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Frankfurt a. M. 1994, S. 712 f. ZH II , 64. ZH IV, 149. N II , 206. N II , 61.
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hatte auf die Unzuverlässigkeit der Sinne wegen ihrer Abhängigkeit von Bedürfnissen und Leidenschaften hingewiesen und die Verstandesbegriffe und Schlüsse demnach nicht zuverlässiger eingeschätzt. Dagegen machte er zur Einbildungskraft eine wichtige Entdeckung, die er train of thoughts nannte; sein Schüler John Locke sprach von association of ideas: Vorstellungen wecken einander auf, ziehen einander nach sich und setzen plötzlich ein ganzes Heer von Erinnerungen in Gang. Laurence Sterne hat in seinem Tristram Shandy die witzigsten Beispiele gefunden (poor Mrs. Shandy, die verkorkste Existenz des so sorgfältig geplanten Trismegistus Shandy), und Marcel Proust in La Recherche du temps perdu findet alles Vergessene wieder beim Kosten der in Tee getauchten madeleine. Bei Herder folgen die Erinnerungen dem Gehör: Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser grausenden Romanze u.s.w. drangen in unsrer Kindheit, da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre Seele – Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern stehen sie alle mit einmal in ihrer dunkeln Majestät aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen, hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden konnte – Das Wort ist weg und der Ton der Empfindung tönet.39
Hier überschwemmt die Erinnerung sogar die Gegenwart. Es geht aber nicht nur um Ideenassoziation im Sinne der Erinnerung, sondern auch erkenntnistheoretisch durch die Analogie. Hierzu hat David Hartley einen ganzen Kosmos aufgebaut: Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations (1749); in diesem analogischen Kosmos gilt: „All things become comments upon each other in an endless reciprocation.“40 Wenn Sokrates „alle seine Schlüsse sinnlich und nach der Aehnlichkeit machte“,41 dann benutzte er für seine Vergleiche Adjekive als tertia comparationis. Wo möglich, verfuhr Hamann ebenso, wich aber oft in die Allegorie als eine strukturelle, eher begriffliche Form der Analogie aus.42 In der Analogie ist die Einbildungskraft entdeckend und suchend, rezeptiv und produktiv; wesentlich aktiv ist sie als Phantasie, welche aus sinnlich oder gedanklich vorgegebenen Materialien neue Gegenstände und Wesen zusammensetzt; Hobbes nennt etwa den Zentauren, man könnte auch 39 Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764–1772. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt
a. M. 1985, S. 707.
40 David Hartley: Observations on Man, His Frame, His Duty, and His Expectations. Lon-
don 1749, S. 393.
41 N II , 76. 42 ZH I , 396.
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seinen aus lauter Individuen gebauten Großmenschen im Frontispiz seines Levia than nennen. Hamann warnt: „Treiben Sie die Verleugnung ihrer Vernunft und Phantasie nicht zu weit. Vernunft und Phantasie sind Gaben Gottes, die man nicht wegwerfen muß.“43 Aber er weiß: „Lügen ist die Muttersprache unserer Vernunft und Witzes.“44 Denn die Leidenschaften „verführen die Vernunft so gut als die Einbildungskraft.“45 Persönlich hatte Hamann Schwierigkeiten mit seiner „schwärmerische[n] Einbildungskraft“:46 „Meine Einbildungskraft wechselt in so hellen u dunkeln Farben, daß ich vor zu vielem oder zu schwachem Lichte die Dinge selbst nicht sehen kann.“47 Das kommt nach seinen vielen Berichten über Hypochondrie, Trübsinn und Arbeitsunfähigkeit einerseits, Überschwang und Arbeitswut andererseits, von der damals Hypochondrie oder Melancholie genannten Krankheit, die man heute manisch-depressiv oder bipolar nennt. Sie ist verantwortlich für viele körperliche Leiden, von denen Hamann berichtet, und für die Exzesse der Einbildungskraft, gegen die er machtlos war.48 Deshalb suchte er Gewissheit im Glauben, was im Zeitalter der Aufklärung ein riskantes Unternehmen war. Klar war er sich jedoch darüber, dass alle Religionen poetisch sind, eine „mythische und poetische Ader“ haben.49 Das Christentum erklärt alle Zusammenhänge am besten: Das im Herzen und Munde aller Religionen verborgene Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose erscheint hier in der Größe eines Baums des Erkenntnißes und des Lebens mitten im Garten – aller philosophische Widerspruch und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und Termini ad quem sind durch die Urkunde des Fleisch gewordenen Worts aufgelöset.50
Das hilft dem Ritter von Rosencreuz schließlich sogar noch zur Anerkennung des menschlichen Ursprungs der Sprache: „Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner 43 44 45 46 47 48
ZH I , 428. ZH I , 379. ZH II , 1. ZH V, 218. ZH V, 19. ZH V, 178. Ähnlich Hölderlin, vgl. Ulrich Gaier: Hölderlin-Studien (wie Anm. 19),
S. 27–129.
49 N III , 141 und 191. 50 N III , 192.
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Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntniß und der ganzen sichtbaren Haushaltung.“ Weil Gott alles geschaffen hat, ist „der Ursprung der menschlichen Sprache göttlich“. Wenn sich ein höheres Wesen durch uns äußert, muss es sich jedoch „der menschlichen Natur analogisch äußern, und in dieser Beziehung kann der Ursprung der Sprache und noch weniger ihr Fortgang anders als menschlich seyn und scheinen.“51
Verstand und Vernunft „[W]as ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet.“52 Besonders ärgert es Hamann, wenn die Gesundheit der Vernunft behauptet wird: „Die Gesundheit der Vernunft ist der wohlfeilste, eigenmächtigste und unverschämteste Selbstruhm, durch den alles zum voraus gesetzt wird, was eben zu beweisen war, und wodurch alle freye Untersuchung der Wahrheit gewaltthätiger als durch die Unfehlbarkeit der römisch-katholischen Kirche ausgeschloßen wird.“53 Kants Behauptung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit in der kleinen Abhandlung Was ist Aufklärung? machte ihn zornig. Am 18. Dezember 1784 schrieb er einen Brief an seinen Freund, den Bibliothekar Christian Jakob Kraus, in dem er mehrfach nachfragt, wer denn wohl der Vormund der Unmündigen sei. Das ist natürlich Friedrich II. der sogenannte Große, und Hamanns „Verklärung der Kantschen Erklärung läuft also darauf hinaus, daß wahre Aufklärung in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe.“ Das ist Revolution gegen den königlichen Vormund! Und Kant? „Mit was für Gewißen kann ein Raisonneur u Speculant hinter den Ofen und in der Schlafmütze den Unmündigen ihre Feigheit vorwerfen, wenn ihr blinder Vormund ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie hat.“ Denn „Alles Geschwätz und Raisonniren der eximirten Unmündigen [Kant] die sich zu Vormünder der selbst unmündigen aber mit couteaux de chasse und Dolchen versehenen Vormünder aufwerfen, [ist] 51 N III , 27. 52 N III , 225. 53 N III , 189, vgl. N II , 356 u. ö.
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ein kaltes unfruchtbares Mondlicht ohne Aufklärung für den faulen Verstand und ohne Wärme für den feigen Willen […].“54 So scharf hatte sich Hamann noch nie gegen Kant und gegen den König gewandt; aber er hatte die Schullektüre eben ganz gelesen und nicht nur bis zur selbstverschuldeten Unmündigkeit. Der Brief ist natürlich auch ein rhetorisches Meisterstück. Kraus hat auf die Angriffe nicht geantwortet und den Brief wahrscheinlich weder an Kant noch den König weitergeleitet. – Mit Kant gab es 1759 einen kurzen aber intensiven Briefwechsel, weil Kant die Idee hatte, eine Kinderphysik zu schreiben; er wollte die Gedanken, Hamann sollte die sprachliche Einkleidung liefern. Kant wolle „Wunder thun“, schreibt Hamann zurück: „Sie sind in Wahrheit ein Meister in Israel, wenn Sie es für eine Kleinigkeit halten, sich in ein Kind zu verwandeln, trotz Ihrer Gelehrsamkeit!“ „[E]in Fontenellischer Witz und eine buhlerische Schreibart“ genüge nicht: „Das größte Gesetz der Methode für Kinder besteht also darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn man ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen.“55 Schon seinem Bruder machte er klar: „Wer von Kindern nichts lernen will, der handelt tumm und ungerecht gegen sie, wenn er verlangt, daß sie von ihm lernen sollen.“56 Mit Kant geht es bald nicht nur um Kinder; Hamann muss ihm beibringen, dass Menschen verschieden denken: „Nicht Ihre Sprache, nicht meine, nicht Ihre Vernunft, nicht meine: hier ist Uhr gegen Uhr. Die Sonne aber geht allein recht; und wenn sie auch nicht recht geht, so ist es doch ihr Mittagsschatten allein, der die Zeit über allen Streit eintheilt.“57 Kant wusste darauf nichts zu antworten. Für Hamann gibt es keine allgemeine Vernunft, die ewige Wahrheiten und reine Formen zeigen könnte. Wie Sinne und Einbildungskraft ist sie abhängig von Leidenschaften: „Was kann ich mit meiner Vernunft gegen einen Stoltzen, Wollüstigen und Habsüchtigen ausrichten, da seine meiner allemal überlegen ist, weil der Arm der Leidenschaft sie führt, und sie listiger, vorsichtiger, stärker und wütender als meine macht, die als natürlich menschlich, schwach und nackt ist.“58 Vernunft ist eine „Kunst des Menschen“,59 d. h. etwas Gelerntes. „Alles Geschwätze über Vernunft ist reiner Wind; Sprache, ihr organon und criterion! wie Young sagt. Ueber-
54 55 56 57 58 59
ZH V, 290 f. ZH I , 444–446. ZH I , 347. ZH I , 451. ZH I , 365. ZH I , 112.
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lieferung, das zweite Element.“60 Auf Vernunft ist also genauso wenig Verlass wie auf Einbildungskraft und Sinne. Gebraucht werden alle drei Erkenntnisarten; ohne eine von ihnen wären wir hilflos in unserer erfahrenen, vorgestellten und begriffenen Welt. Wir können sie rhetorisch zusammen oder rhetorisch getrennt in unserer narratio, argumentatio, conclusio, oder als Historiker, Gelehrte und Dichter verwenden.
„Vernunft ist Sprache Λογος; an diesem Markknochen nag’ ich und werde mich zu Tod drüber nagen.“61 Das Bild vom Markknochen ist sehr exakt, denn Nagen wird Hamann niemals zum Mark bringen, da muss der Knochen zerschlagen oder ausgesaugt werden. Außerdem kommt der Knochen aus der Sinnlichkeits- und Genussküche, erzeugt als Markknochen die Vorstellung von harter Schale und verborgenem Kern wie bei der Nuss in der Aesthaetica, und ist endlich nur ein Bild für den gemeinten Gedankengang. Der verläuft von Vernunft zu Sprache zu Logos. Das ist eine der anagogischen Steigerungen zum Gedrungenen, die wir schon beobachtet haben. Vernunft, so hat Hamann gegen Kant und die Aufklärung überhaupt festgestellt, gibt es auf der Erde und selbst in Königsberg nur im Plural, zu Sprache als ihrem „organon und criterion“ gibt es viele Varianten: „Hof, Schule, Handel und Wandel, geschloßne Zünfte, Rotten und Secten haben ihre eigene Wörterbücher.“62 Nur der Logos ist Einer, denn er ist der Ursprung aller Sprachen und Vernünfte. Und es gibt ihn nur einmal. Alles ist in ihm zusammengedrängt, Gott, Christus, Schöpfung, Wort, Sinn, Kraft und Tat, um mit Faust zu sprechen. Der Weg vom Logos in die Zerteilung ist die katabasis, die Herunterlassung. Dieser zunächst rhetorische Begriff bedeutet die Einstellung des Redners auf den Kenntnisstand und die Denkfähigkeit seines Publikums, Herunterlassung aus dem Einen zum Vielen, Hen kai Pan, und wieder Aufstieg zum Einen, das sind die Bewegungen innerhalb des neuplatonischen Ganzen. Das Eine beharrt in sich, strömt zugleich in den Geist, die Seele, die Natur herunter und kehrt zugleich in sich zurück, um sich von allen Vielheiten und Widersprüchen zu reinigen. Hamann lobt die „klugen Fabeln“ der „Heyden“, weil die Mythen das Denken gewöhnen, Widersprüche
60 ZH V, 108. 61 ZH V, 177. 62 N II , 172.
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auszuhalten,63 und er preist Giordano Bruno für „das berühmte Principium coincidentiae oppositorum“,64 wo wie bei Cusanus die Widersprüche eins werden und sich die Parallelen im Unendlichen schneiden. Damit hat Hamann eine Erkenntnis gefunden, die dem Entweder-Oder der Vernunft ein tertium datur entgegensetzt und wie der Titel von Brunos Schrift De la causa, principio, et uno (1584) zum Einen führt, übrigens auch wie bei Hamann mit dem anagogischen Dreischritt von der Ursache zum Prinzip als der Quelle der Ursachen, und von da zum Einen als dem Prinzip der Prinzipien und der Ursache aller Ursachen. Da dieses Eine die Konzentration, die Implikation von allem ist, wird es „von oben her“ als ganz einfach, „von unten her“ als Zusammendrängung von Allem erscheinen. Plotin beschreibt den Versuch der Seele, dieses Eine zu denken, als „ein gedrängtes Sichhinwerfen auf das selbst in Eins ‚Gedrängte‘“.65 Wir haben schon über den gedrungenen Stil gesprochen, den Hamann in seinem elliptischen, lakonischen Stil erkennt, in der geballten Faust und in Sokrates’ „Knäuel vortreflicher Begriffe“, die sich alle explizieren lassen. Sie sind in ihren Komplikationen Hieroglyphen, die sich den glänzenden Edelsteinen (agalmata) nähern, in denen nach Plotin die Götter hochverdichtet denken. Die Bewegung der Erkenntnis vom Einen zum Vielen und vom Vielen zum Einen schafft Widersprüche und hebt sie auf, sie schafft unendliche Analogien wie bei Hartleys analogischem Kosmos und lässt sie bei näherer Betrachtung als bloße Ähnlichkeiten erscheinen; sie schafft konkrete sinnliche Erfahrungen und abstrahiert trotzdem Begriffe aus ihnen.
Rhetorik des Denkens Rhetorik, so habe ich angefangen, kann man als die Kunst bezeichnen, eine Kommunikationssituation in angemessener Weise zu bewältigen. In der altehrwürdigen Rhetorik macht man das durch Findung geeigneter Gegenstände, ihre geschickte Anordnung, die angemessene sprachliche Darstellung, das Memorieren und schließlich den wirkungsvollen Vortrag. Eine unausgesprochene Voraussetzung war, dass Redner und Publikum auf dieselbe Weise denken. Platon unterschied in seinem Staat Handwerker, Wächter und Berater, die jeweils mehr aber immer dieselben Denkoperationen brauchten, um ihren Aufgaben zu genügen. 63 N II , 68. 64 N III , 107. 65 Enneade IV, 4,1,19. Werner Beierwaltes: Denken des Einen. Studien zur neuplatoni-
schen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1985, S. 21.
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Aristoteles unterschied in seiner Poetik die Denkweisen des Historikers, des Poeten und des Dichters als sinnliche Erfahrung, Vernunft und Einbildungskraft mit Fakten, ewigen Wahrheiten und Wahrscheinlichem. Aber er sieht verschiedene Berufe am Werk, und so bleibt es bis zum 18. Jahrhundert, ja bis zu Hamann, der in der Aesthaetica in nuce die „Turbatverse“ der Natur vom Gelehrten sammeln, vom Philosophen auslegen und vom Poeten nachahmen oder gar „in Geschick“ bringen lässt.66 Aber wie wir gesehen haben, kann er mit seinen anagogischen Dreischritten diese verschiedenen Denkweisen in einer Bewegung zusammenfassen, die z. B. von Vernunft über Sprache zum Logos führt. Klopstock hat einen Aufsatz Über die beste Art von Gott zu denken veröffentlicht; Hamann berichtet: „1.) nach metaphysischen Begriffen 2.) in Betrachtungen 3.) in Begeisterung; als ein Sophist, Philosoph und Christ oder Poet. Wundern Sie sich nicht, daß dies Synonima sind.“67 Auch diese Stufen sind ein anagogischer Dreischritt, wo man auf jeder Stufe stehen bleiben, aber auch sich zum immer vollkommeneren Denken über Gott ‚hinauf ‘ bewegen kann. Johann Jakob Breitinger beschrieb in seiner Critischen Dichtkunst und seiner Critischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse die Logiken des Verstandes, der Einbildungskraft und der „hertzrührenden Schreibart“; Christian Wolff brauchte zur „lebendigen“, d. h. lustvollen und handlungsbereiten Erkenntnis die Zusammenstimmung zwischen sinnlicher Erfahrung, Verstandeserkenntnis und dem im Volk sowie in literarischen Mustern verbreiteten Wissen über das Richtige und Gute.68 Ich nenne diese Autoren nur, um zu verdeutlichen, dass Hamann nicht der einzige im 18. Jahrhundert ist, der die verschiedenen Erkenntnisweisen vor allem von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand nach ihren Eigenschaften, Verfahren und Leistungen unterschieden und nach Gelegenheit und Bedarf, d.h. rhetorisch, verwendet. Friedrich II. will, dass alles französisch denkt: „Alles soll Ein Leisten, Ein Schuh seyn, Fabrike u Heerdienst seiner Eitelkeit […].“69 Nicht so Hamann:
66 N II , 198–199. 67 ZH I , 367. 68 Vgl. Ulrich Gaier: ‚… ein Empfindungssystem, der ganze Mensch‘. Grundlagen von
Hölderlins poetologischer Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1993, S. 724–746. 69 ZH IV, 260, vgl. N II , 154: „Unsere schönen Geister […] pflanzen ihre eigene Unfehlbarkeit zum Panier auf; denn was für Recht würden sie sonst haben, unsere Vernunft gefangen zu nehmen?“
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Meine Briefe sind vielleicht schwer, weil ich elliptisch wie ein Griech, und allegorisch wie ein Morgenländer schreibe […], weil ich mit mancherley Zungen mich ausdrücke, und die Sprache der Sophisten, der Wortspieler, der Creter und Araber, der Weißen und Mohren und Creolen rede, Critick, Mythologie, rebus und Grundsätze durch einander schwatze; und bald κατ‘ ανθρωπον, bald κατ‘ εξοχην argumentire.70 Wir machen Schlüße als Dichter als Redner als Philosophen. Jene sind öfterer der Vernunft näher als die in der logischen Form.71
Hier zeigt sich, dass er bald als Philosoph rational und deduktiv denkt, bald als Redner sinnlich und induktiv, bald als Dichter analogisch und abduktiv72 und dass er die Denkweisen wie ein Organist die Register seiner Königin der Instrumente zieht, kombiniert, mit dem Schweller lauter und leiser werden lässt, auf mehreren Manualen und mit dem Pedal spielt. Ich habe bisher versucht zu zeigen, dass Hamann kontinuierlich daran arbeitet, die Eigenschaften, Stärken und Schwächen der verschiedenen Erkenntnisvermögen zu erforschen, um sie richtig, ggf. sogar als schauspielerische „Maske“ zu gebrauchen.73 Es mag durchaus sein, dass er bei seinem England-Aufenthalt die Epistle to the Reader in John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690) gelesen und dort seine Rhetorik des Denkens abgeschaut hat. Locke spricht von den verschiedenen understandings der Menschen: But everything does not hit alike upon every man’s imagination. We have our understandings no less different than our palates; and he that thinks the same truth shall be equally relished by every one in the same dress, may as well hope to feast every one with the same sort of cookery: the meat may be the same, and the nourishment good, yet every one not be able to receive it with that seasoning; and it must be dressed another way, if you will have it go down with some, even of strong constitutions.74
Am meisten fasziniert Hamann die Kombination der Fähigkeiten und ihrer Weltsichten:
70 ZH I , 396. 71 ZH I , 201. 72 Ein Begriff, den Peirce für Schlüsse vom Einzelnen auf Ähnliches eingeführt hat. Vgl.
Hamann, ZH IV, 62: „weder Induction noch Analogie, Schlüsse aus den Begriffen“.
73 ZH II , 140. 74 John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Abridged and edited by Ray-
mond Wilburn. London/New York 1947, S. XXI f.
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Wem die Historie (kraft ihres Namens) Wissenschaft; die Philosophie Erkänntnis; die Poesie Geschmack giebt: der wird nicht nur selbst beredt, sondern auch den alten Rednern ziemlich gewachsen seyn. Sie legten Begebenheiten zum Grunde, machten eine Kette von Schlüssen, die in ihren Zuhörern Entschlüsse und Leidenschaften wurden.75
Vor allem der anagogische Aufstieg beschäftigt Hamann: „Von den Memoires ist der Schritt zum Drama gewesen; das ist von der Historie zur Poesie: ob ich den letzten und steilsten zur Philosophie des Sokrates wagen werde, mag die Zeit lehren.“76 Aufstiege wie „Vernunft ist Sprache Λογος“77 häuft Hamann z. B. in der Aesthaetica in nuce: [1] Leidenschaft allein giebt Abstractionen sowohl als Hypothesen [2] Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen [3] Geist, Leben und Zunge – – Wo sind [4] schnellere Schlüsse? Wo wird der rollende Donner der Beredsamkeit erzeugt, und sein Geselle – der einsylbichte Blitz – –/ Warum soll ich Ihnen, nach [5] Stand, Ehr und Würden unwissende Leser! […].78
Man bräuchte viel Zeit, um diese zum Teil noch ineinander verschachtelten anagogischen Steigerungen zu analysieren. Warum häuft Hamann sie an dieser Stelle? Um durch diese Symploke der Symplokeen einen rhetorischen Höhepunkt in der Aesthaetica in nuce zu erzeugen, denn Natur, Sinne und Leidenschaften, durch blinde Philosophen aus dem Wege geräumt, sind die Basis und die Ermöglichung aller Aisthesis und Erkenntnis. Die anagogischen Aufstiege führen jeweils zu einem agalma, einem Gedanken, den nach Plotin die Götter denken.
75 76 77 78
N II , 176. ZH II , 63. ZH V, 177. N II , 208. Die in [ ] gesetzten Nummern habe ich hinzugefügt, um die Häufung der
anagogischen Steigerungen sichtbar zu machen.
Florian Telsnig (München/Wien) Die Beredsamkeit der Vernunft. Hamanns leidenschaftliche Rhetorik der Kritik
Wahrheit kehrt sich nicht an Vorsicht noch Ton; ist vierschrötig. […] / Schön geschrieben! sagt jedermann, wenn man mit den Sachen nicht recht einstimmen kann. Ein solches Lob ist die ärgste Beleidigung für mich.1 (Hamann im Brief an F. H. Jacobi vom 27. April 1787)
Seit einigen Jahren, diese Worte seien einleitend vorausgeschickt, haben die durchwegs instruktiven und im J. B. Metzler-Verlag veröffentlichten Handbücher innerhalb der Geisteswissenschaften eine gewisse, ja durchaus steigende Konjunktur. Neben den Handbüchern, die einen historischen oder thematischen Schwerpunkt systematisch erarbeiten, erfreuen sich vor allem solche einer großen Beliebtheit, die sich um Autorinnen und Autoren aus dem Bereich von Literatur und Philosophie verdient machen. Im Sinne des Untertitels versammeln sie Beiträge zu ‚Leben – Werk – Wirkung‘, die von namhaften Forscherinnen und Forschern auf dem jeweiligen Gebiet verfasst werden. Zu Johann Georg Hamann gibt es, wie innerhalb der Hamann-Forschung gemeinhin bekannt sein dürfte, noch kein derartiges Handbuch. Die Existenz eines solchen wäre jedoch mehr als begrüßenswert. Nimmt man demgegenüber das von Gerd Irrlitz alleinig verfasste Handbuch zu Immanuel Kant zur Hand, ein Autor, der zum engeren Freundeskreis Hamanns gezählt werden darf,2 so finden sich auf über zwanzig Seiten 1 ZH VII , 167,29–30 u. 168,28–29 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. April 1787). 2 In einem Brief vom 20. Dezember 1784, der an seinen Wohltäter Franz Kaspar Bucholtz
adressiert ist, erwähnt Hamann all die engen Freunde, die für sein Leben prägend waren. In dieser auserwählten „Gallerie“ findet sich auch Kant, „der kosmopolitische Chiliast“, wie ihn Hamann mit Blick auf dessen weltbürgerliche Geschichtsidee nennt (ZH V, 288,5–6). Frühe Zeugnisse ihrer Freundschaft geben Hamanns Briefe an Kant, die sich auf das Jahr 1759 datieren. Weil er ihn „hochschätze und liebe“, wie Ende Dezember von diesem zu lesen ist, beansprucht Hamann im Auftrag ihrer Freundschaft die Rolle des beißenden Kritikers, der als Kants „Zoilus“ (ZH I , 451,35) kompromisslos
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Einträge zu oder Zitate von Hamann, wie es sich anhand des Personenregisters leicht einsehen lässt. Aus dieser Beobachtung ließe sich der Schluss ziehen, der Autor des Handbuchs vertrete die Ansicht, Hamann hätte einen, wenn schon nicht entscheidenden, so doch zumindest nicht gänzlich zweitrangigen Beitrag für Kants kritische Philosophie geleistet. Dem ist aber nicht so; so viel sei vorweggenommen. Schlägt man nämlich die Stellen nach, in denen er eine Erwähnung findet, so dient seine Nennung dazu, sofern nicht ein von ihm verfasster Brief herangezogen wird, um über ein biographisches Detail aus Kants Leben zu informieren, ihn zu diskreditieren. Hamann sei derjenige „in der Königsberger Nähe“ gewesen, so liest man bei Irrlitz, der Kants „Apriorismus rhetorisch ablehnte“ und dessen „Werk und dessen Wirkung mit Vorurteilen umlauerte“, was beispielsweise an dem „Hohn auf die Unverständlichkeit des systematischen Werkes“ manifest wird,3 mit welchem seine 1781 verfasste Rezension zu Kants Kritik der reinen Vernunft schließt. In Anbetracht dieser Zuschreibung, die als exemplarisch für seine Auseinandersetzungen mit Hamann bezeichnet werden kann, nimmt es sich nicht wunder, dass ihm zufolge Hamann „immer um vorlaute Mitteilsamkeit und rhetorischen Effekt“4 bemüht gewesen sei. Was daran ‚vorlaut‘ und auf Mitteilsamkeit bedacht sein soll, wenn Hamann sich im engsten und privaten Kreis seiner Freunde über Kant austauscht und bisweilen auslässt, bleibt unbeantwortet. Sieht man von den mitunter als Rechtfertigungsrede konzipierten Sokratischen Denkwürdigkeiten ab, so sind keine seiner Schriften, die direkt oder indirekt an Kant adressiert waren, zu Lebzeiten Hamanns überhaupt in den Druck gegeben worden. Die Briefe, in denen Hamann sich bei dem Verleger Johann Friedrich Hartknoch für Kant dahingehend einsetzt, dass er diesen
nicht vor Widerrede, Tadel und Protest zurückschreckt. Wann sich die beiden kennen lernten, lässt sich nicht genau datieren, jedoch dürfte er mit ihm zum Zeitpunkt der Abfassung eines Briefes an seinen Bruder vom 28. April 1756 bereits so weit vertraut gewesen sein, dass er in ihm einen „fürtrefl. Kopf “ (ZH I , 191,6) erblicken konnte. Zu Hamanns mitunter beißendem Umgang mit seinen Freunden vgl. Manfred Beetz: Freundschaftliche Strafgerichte. In: Acta 2010, 15–40, hier 18 u. 23. 3 Gerd Irrlitz: Kant-Handbuch. Leben und Werk. Stuttgart 32015, S. 260. Die „Neuigkeit der Sprache und schwer zu durchdringende Dunkelheit“ seines Werkes hat Kant, nachdem ihn Christian Garve dafür kritisiert hatte, in einem Antwortbrief an diesen vom 7. August 1783 selbst eingestanden: Immanuel Kant: Briefwechsel. Die Briefe von 1749 bis 1789. 2 Bde. Hg. von Otto Schöndörffer. Bd. 1. Hamburg 1924 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 52 a), S. 225–232, hier S. 228. 4 Irrlitz: Kant-Handbuch (wie Anm. 3), S. 261.
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bestärkt, trotz der fehlenden Verkäufe weiter an Kant festzuhalten, finden im Handbuch beispielsweise keine Erwähnung.5 Im Folgenden soll am Beispiel von Hamanns Begriff der Kritik gezeigt werden, dass Sprache und Leidenschaft, insoweit sie nicht für den Preis eines gewaltigen Reduktionismus getrennt werden, als ineinander verschränkt und aufeinander bezogen gelten dürfen. Eine solche Auffassung von Kritik versteht die Sprache der Kritik in ihrer Bedingtheit gegenüber der Rhetorik, ohne sie auf ein rhetorisches Moment verkürzen zu wollen, sofern mit einem solchen entweder Praktiken der Manipulation und Meinungslenkung oder Strategien sachfremder Erregung und Effekthascherei verbunden werden. Eine so verstandene Rhetorik der Kritik handelt leidenschaftlich der Methode, nicht allein der ‚Mache‘ wegen, so sich diese Begriffe bei Hamann überhaupt distinkt trennen lassen. Methode und Stil durchkreuzen einander, wie die ‚Art und Weise‘, verstanden als die Verfahrensweise, mit der ‚Machart‘ oder ‚Redeweise‘, verstanden als die Formgebung, fast koinzidieren. Man kann nicht von der Sprache reden, ohne eine Sprache zu sprechen; oder anders gesagt: wie kann man kritisch oder metakritisch von Reduktionismen handeln, ohne leidenschaftlich gegen diese beziehungsweise im Sinne dieser Kritiken zu handeln? Die Beantwortung der Frage, was für Hamann Sprache und Vernunft heißt, führt in die Mitte seines Denkens und soll mit Bezug auf die alte Diskussion zwischen Rhetorik und Philosophie, wenn schon nicht beantwortet, so zumindest einmal mehr gestellt sein.
I. Will man die Einschätzungen nachvollziehen, die der Autor des Handbuchs trifft, genügen einige Briefstellen, um deutlich zu machen, wie polemisch und bisweilen sachlich unreflektiert Hamann über Kant urteilt. Exemplarisch sei hier nur an eine Stelle aus einer Briefsendung an seinen Freund Johann Gottfried Herder vom 27. und 29. April 1781 erinnert, in dem er auf Basis seiner Lektüren der ersten 30 Bogen Kants Kritik der reinen Vernunft, ein Textkorpus, dem Anfang und Ende fehlten, als „transcendentale[s] Geschwätz“ geißelt, dass letztlich nichts anderes als „Schulfüchserey und leeren Wortkram“6 darstelle. Zwar scheint ihm zufolge „alles […] auf ein neues Organon auf neue Kategorien, nicht so wol scholastischer Architectonik als sceptischer Tactik [hinauszulaufen]“, doch spricht aus derselben 5 Vgl. ZH IV, 323,16–27 (an Johann Friedrich Hartknoch, 11. August 1781). 6 ZH IV, 285,29–30 (an Johann Gottfried Herder, 29. April 1781).
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Briefsendung gleichzeitig die große Anteilnahme, die Hamann mit Kant im Allgemeinen und seinem Werk im Besonderen verbindet, erwartet er doch sehnlichst „mit jeder Post Anfang und Ende“.7 Mit der Sendung war trotz der Ernüchterung längst nicht gesagt, was ihm zufolge über Kants kritische Neubestimmung menschlicher Vernunftleistung zu sagen wäre. Ein philosophischer Disput im Zeichen strenger Begriffsarbeit, sofern Philosophie als wissenschaftliche Disziplin ihr oberstes Credo in einer begründenden Durchsichtigmachung ihrer Begründung beim Artikulieren von Gründen erblickt, dürfte die Sache Hamanns nur sehr bedingt gewesen sein. Die Leidenschaft, die sein Denken charakterisiert und die er in seiner Schreibart praktiziert, sperrt sich gerade gegen diejenigen objektivierenden Distanzierungen, welche die Auffassung von Denken seit der Neuzeit auszeichnet, die sich deshalb als objektiv, notwendig und schlüssig, kurzum wissenschaftlich versteht, weil sie das Denken von den Selbstimplikationen und subjektiven Verstrickungen zu entlasten sucht. Nur für den Preis einer Abkehr von lebensweltlicher Erfahrung ist ein wissenschaftlicher Begriff von Philosophie oder Theologie zu haben, dem Hamann mit aller polemischer Entschiedenheit in seiner Schrift Aesthaetica in nuce begegnet. Mit besonderer Härte und Bestimmtheit, die in ihrer Polemik an die Grenze des guten Tons reicht, wendet er sich gegen eine Philosophie, die mit ‚gewaschenen Händen‘ und ‚systematischen Kalendern‘ die in der Natur sinnfällig werdenden Leidenschaften und Sinne abstrahiert: „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen? – Damit ihr das Vergnügen erneuern könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden –“.8 Wie kann ein Denken Wissenschaft treiben, so fragt sich Hamann, wenn es die Natur als ihren Gegenstand limitiert und sich selbst und ihre Tätigkeit nur in dieser Limitation begreift? Solch ein Begriff von Wissenschaft, der mittels zeitunabhängiger Formeln und Zahlen die Natur beschreibt und diese nur in dieser Beschreibung als diese Beschreibung begreift, limitiert das, was an der Natur nachahmungswürdig wäre. Aus einer Vernunft, die sich gegen ihre beredten Leidenschaften einer individuell verstandenen und der Natur entsprechenden Sprache immunisiert,
7 ZH IV, 283,24–30 (an Johann Gottfried Herder, 27. April 1781). 8 N II , 206,4–7 (Aesthaetica in nuce). Zur Rhetorik Hamanns vgl. grundlegend Manfred
Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns ‚Aesthetica in nuce‘. In: Acta 1992, 79–106; allgemein zur Aesthaetica in nuce vgl. Hans-Martin Lumpp: Philologia crucis. Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst. Mit einem Kommentar zur ‚Aesthetica in nuce‘ (1762). Tübingen 1970 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 21), S. 19–106.
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wird so eine beruhigte, die ihre Praxis bloß als einen Internalisierungsprozess mentalistisch gegebener Informationseinheiten begreift. In seinen Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Religion, artikuliert als eine Metakritik der rationalistischen Rechtskritik Moses Mendelssohns, auf die zurückzukommen sein wird, weist Hamann darauf hin, dass unveränderliche Formen sich verändernde Inhalte benötigen, um sich mitteilen zu können. Werden demgegenüber Gesinnungen von Handlungen gelöst, also die Denkungsart von ihrer Praxis getrennt, findet sich die Selbstimplikation der menschlichen Existenz von ihren Handlungen isoliert, so dass die vollzogenen Taten nichts oder nur mehr sehr wenig mit dem zu tun haben, der sie setzt. Ohne Haltungen und Gesinnungen wird demgegenüber nicht nachvollziehbar und begreifbar, aus welchen Beweggründen Handlungen, auf die es Hamann so sehr ankommt, überhaupt vollzogen werden.9 Ein Staat, der die beiden auseinanderdividieren will, was für Hamann die nicht tolerierbare Spaltung von Kirche und Staat nach sich zieht, um die es Mendelssohn gerade geht, separiert eine lebendige Verbindlichkeit in zwei unvermittelte und deshalb tote Teile. Was für Kirche und Staat fatale Folgen zeitigt, denn erstere wird nach Hamann ein „Gespenst, ohne Fleisch und Bein – ein Popanz für Sperlinge!“, letztere ein „Körper ohne Geist und Leben – ein Aas für Adler!“,10 besitzt für ein Denken, das neutral zu sein hat, nicht minder weitreichende Konsequenzen: „Die Vernunft mit dem unveränderlichen Zusammenhange sich einander voraussetzender oder ausschließender Begriffe, steht stille, wie Sonne und Mond zu Gibeon und im Thal Ajalon.“11 Die Vernunft wäre dann eine stillgestellte, wenn formalistische Reduktionen einen Begriff von Denken generieren, der als mentalistischer Selbstbezug eine Kluft zwischen der Vernunft und der Leidenschaftlichkeit ihrer Ausdrucksseite und somit ihrer affektiven Beziehungshaftigkeit entstehen lässt. In einer so verstandenen Vernunft fällt die Leidenschaftlichkeit des Selbstdenkens aus, weil sie nicht Teil ihres Selbstverständnisses bildet, obwohl naturgemäß fraglich bleibt, ob und inwiefern sich das Denken von Willkür und Unberechenbarkeit des menschlichen Gefühlshaushaltes, seiner Beweggründe und seines Begehrens in letzter Konsequenz befreien kann. Will die Sprache eine sein, die sich in ihren Mitteilungen selbst thematisiert, wollen diese Mitteilungen welche sein, die in ihrer Sinnlichkeit verstanden 9 Vgl. dazu N II , 139,30–34 (Die Magi aus Morgenlande): „Der blosse Körper einer Hand-
lung kann uns ihren Werth niemals entdecken; sondern die Vorstellung ihrer Bewegungsgründe und ihrer Folgen sind die natürlichsten Mittelbegriffe, aus welchen unsere Schlüsse nebst dem damit gepaarten Beyfall oder Unwillen erzeuget werden.“ 10 N III , 303,13–15 (Golgatha und Scheblimini!). 11 N III , 303,15–18 (Golgatha und Scheblimini!).
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werden, muss die Unschärfe von Erkenntnis deshalb bewahrt werden, weil nur so die Medialität der Sprache in der End- und Veränderlichkeit ihrer Materialität zu haben ist. Denn es ist nicht nebensächlich, wie sich das Selbstverständnis des Denkens begreift, weil es sich selbst natürlich nach diesem und in diesem Sinne dressiert. Hamanns metakritische Widerreden kontern implizit so auch den antirhetorischen Affekt, der sich als eine der tonangebenden Erzählungen der westlichen Philosophie durch die Geschichte zieht. Die Forderung nach Objektivität, die sich in der Kritik an der Rhetorik ausgedrückt findet, ist im Kern eine Kritik an der Materialität von Sprache und an der Alltäglichkeit ihrer Einsetzung, mit welchen entweder Regellosigkeit oder Verführung assoziiert werden. Weder die Sprache, noch das, was durch sie oder mit ihr gesagt wird, hat an und für sich eine physische Präsenz. Physisch anwesend und dadurch vergänglich ist Sprache eben nur dann, wenn sie als Rede vernehmbar oder als Schrift sichtbar ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Platons Vorbehalte gegenüber der Rhetorik kaum anders ausfallen als die gegenüber der Schrift, welche er auch explizit miteinander in Beziehung setzt.12 Demgegenüber darf aber nicht unterschlagen werden, dass die im Gorgias radikal vollzogene Sophistenschelte, eine der Urszenen philosophischer Rhetorikkritik,13 von Platon im Phaidros dahingehend entschärft wird, dass Rhetorik als „eine Art Seelenführung mit Hilfe von Reden“14 dann legitim zu sein scheint, so sie als Überredung zur Ideenlehre wahren Zwecken dient. Als Reden, die minutiös und typographisch höchst avanciert ins Schriftbild gegossen sind, wenden sich Hamanns Widerreden grundlegend gegen den einseitigen Affekt eines Postulats nach Affektlosigkeit, mit dem eben ein antirhetorischer einhergeht. Nur für den Preis von konkreten Empfindungen, die beispielsweise leidenschaftliche Sprachen oder alltägliche Erfahrungen hervorzurufen vermögen, ohne deshalb immer schon persuasiv oder willkürlich sein zu müssen, lässt sich Objektivität zum Maßstab für Denken und Wissenschaft durchsetzen. Jedoch ist das planvolle Einsetzen von Regeln und Figuren für Zwecke, die nicht in den Sachen selbst liegen, seine Sache nicht; nicht nur die Objektivität neuzeitlicher Naturwissenschaften, auch die Regelgebäude der antiken Rhetorik, die rhetorisch informierten und klassizistisch orientierten Regelpoetiken und die Dogmen der zeitgenössischen Theologie parieren seine affektive Mikrophilologie. All das, was in Abstraktionen, überzeitlichen Konstruktionen oder Regelwerken 12 Zur Beziehung von Sprache und Schrift vgl. Platon: Phaidros, 274 c–278 b. 13 Platon: Gorgias, 463 a–465 d. 14 Platon: Phaidros, 261 a.
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Halt gewinnen will, wird von Hamanns Schreibart entstellt, verstellt oder verworfen. Die Aesthaetica in nuce, die als eine Art Anklage gleichermaßen gegen eine theologiefreie Erkenntnis auf der einen und gegen eine rationalistisch aufgefasste Theologie auf der anderen Seite ins Felde zieht, macht bereits mit dem vorgestellten hebräischen Zitat aus dem Buch Hiob deutlich, wie es um einen bestellt ist, der sich auf einem philologischen Kreuzzug mit dem Geist seiner Zeit wiederfindet: „Siehe, mein Inneres ist wie der Most, den man nicht herausläßt und der die neuen Schläuche zerreißt. Ich muß reden, daß ich mir Luft mache, ich muß meine Lippen auftun und antworten.“15 Was hier in der Persona Elihus vorgetragen wird, der im Buch Hiob unvermittelt, gleich einem unerwarteten Ereignis auftritt und eingreift, indem er das Wort ergreift, hat für Hamanns Autorschaft geradezu paradigmatische Bedeutung: Elihus, der sich als Anwalt im Auftrag des Schöpfergottes begreift, bringt Reden vor, die von einer von Gott offenbarten Dringlichkeit und Aktualität zeugen, die mitgeteilt sein will, weil sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes angehen. Wie Elihus die alten und offiziellen Weisen auf eine kompromisslose, polemische und undiplomatische Weise kritisiert, um überhaupt gegen ihre Autorität wirken zu können, so ist auch Hamanns polemische Kritik gestrickt. Im Namen des einen Wortes fallen die Kritiken denjenigen ins Wort, die nicht in dessen Sinne handeln. Kaum anders als Elihus gedenkt Hamann gegen ein autoritäres und sich versicherndes Wissen ein offenbarungsgebundenes zu positionieren, dem die Kritik überhaupt erst Gehör verschaffen soll, weil sich des Wissens Aktualität eben dadurch bestimmt, dass es völlig aus der Zeit fällt. Was Hamann am Ende seiner Metakritik über den Purismus der Vernunft schreibt, was er den Leser an dieser Stelle überantwortet, nämlich die „geballte Faust in die flache Hand zu entfalten“,16 macht deutlich, dass es ihm 15 Vgl. N II , 196,2–9 (Aesthaetica in nuce). Übersetzung zitiert nach Johann Georg Ha-
mann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Hg. von Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1998 (= Universal-Bibliothek, Bd. 926), S. 78. Demgegenüber wäre, wie er in einem Brief am 29. April 1787 an Friedrich Heinrich Jacobi schreibt, ein „allgemeines Wort“ oder Begriff „ein leerer Schlauch, der alle Augenblick anders modificirt, und überspannt platzt und gar nicht mehr Luft in sich behalten kann; und lohnt es wol sich um ein tummes Saltz, und einen Balg zu zanken der ohne Inhalt ist?“ (ZH VII , 172,33–36). 16 N III , 289,23–24 (Metakritik über den Purismus der Vernunft). Was es womöglich für einen Leser heißen würde, diese Faust entfalten und ihre Handschrift entziffern zu wollen, hat Hamann in einem Brief an Jacobi vom 2. Mai 1787 sehr selbstkritisch gesehen: „Ohne Eckel läßt sich meine Faust nicht errathen – und aus der Klaue ist die Bestialität meiner Gedanken- und Fühllosigkeit augenscheinlich und handgreiflich.“ (ZH VII , 178,23–25).
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und seinen leidenschaftlichen Kritiken nie nur um die „Nuss“, sondern immer ums Ganze in der „Nuss“, um die Autorität des sich offenbarenden Wortes in den intuitiven Bedeutungen der einzelnen Wörter und Einsichten zu tun ist, die zu systematisieren er sich selbst nicht in der Lage sieht. Ob nun diese „geballte Faust“ nichts anderes sei als „durch und durch Stil“ und so reine, von jeder Mitteilung und Persuasion gereinigte Rhetorizität, wie Georg W. F. Hegel nahelegt,17 darf vorerst dahingestellt bleiben, gewichtiger ist ein Aspekt, der mit solchen Charakterisierungen implizit einhergeht. Stil bedeutet für Hegel nämlich „Dunkelheit“ und meint „Unverständlichkeit“, auf deren Basis er wiederum Hamann ein grundsätzliches Fehlen an einem „Bedürfnis der Wissenschaftlichkeit überhaupt, das Bedürfnis, des Gehaltes sich im Denken bewusst zu werden und ihn in demselben sich entwickeln zu sehen und ihn ebensosehr hiermit in dieser Form zu bewähren, als das Denken für sich zu befriedigen“, attestieren kann.18 Es mag durchaus richtig sein, dass ihm ein „Bedürfnis der Wissenschaftlichkeit überhaupt“, wenn schon nicht fehlte, so zumindest sicher nicht von zentraler Bedeutung war, jedoch mag das wohl weniger an seiner Einstellung zur Wissenschaftlichkeit überhaupt als an seiner Einschätzung des Wissenschaftsbegriffs seiner Zeit gelegen haben. Gerade an der von ihm prädizierten Einseitigkeit dieses Begriffs entzündet sich der „Zorn“ des Philologen, der ihm manchmal „alle Überlegung“ nimmt, so er „daran gedenke, wie so eine edle Gabe GOttes, als die Wissenschaften sind, verwüstet – von starken Geistern in Coffeeschenken zerrissen, von faulen Mönchen in akademischen Messen zertreten werden“.19 Aus dieser leidenschaftlichen Härte der Kritik spricht nicht nur ein unmissverständliches Bekenntnis zur Wissenschaft, auch ein für Denken konstitutiver Affekt für Wissenschaftlichkeit überhaupt findet sich hiermit durchaus thematisiert. Wer die Sprache des Denkens und ein Denken für Sprache in akademischen Begriffsroutinen neutralisiert, liquidiert gleichzeitig das, was von der sokratischen Laientradition im Sinne des Selbstdenkens hochgehalten und praktiziert wird. Hamanns philologische Kritik, vorgetragen mit einer Rhetorik der „geballten Faust“, ist als ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Diskurs ein umso leidenschaftlicheres Bekenntnis zum Denken, 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Hamanns Schriften. In: ders.: Werke. 20 Bde. Hg. von
Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1986, S. 275–352, hier S. 281. 18 Ebd., S. 331. Zu Hamanns ambivalenter Beziehung zu den Naturwissenschaften vgl. die Studie von Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin/New York 2003 (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 114). 19 N II , 177,27–31 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe).
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das als kritische Philologe ein Wissen aus dem Geist von Wahrscheinlichkeit und Erfahrung artikuliert. Erst wenn die Hand sich zu einer Faust ballt, also erst wenn sich im Innern etwas so aufstaut und verdichtet, dass es zu gären anfängt und mit der Zeit voll an Kohlensäure droht zu explodieren, erst dann greift eine Notwendigkeit um sich, die zu Wort kommen muss. Bereits am 13. Jänner 1773 berichtet er beispielsweise Herder, dass er „aller Autorschaft beynahe entsagt“ habe, und nur dessen „Losung“ könne die in ihm „lodernde Asche“ wieder „aufwecken“.20 Eine Antwort, und sei es eine Kritik, bedeutet bei ihm meistens, dass ihn nicht etwas Allgemeines, sondern eine konkrete Sache oder ein Gegenstand in Verantwortung genommen hat. Seine Antworten sind als Kritiken nicht zuletzt leidenschaftliche Bekenntnisse zu den Gegenständen, die kritisiert, die metakritisch zurechtgerückt werden. Als Metakritiken sind sie polemische Zurückweisungen oft nicht minder polemischer Zurückweisungen. Hamanns Texte akzentuieren als ungehaltene Reden so nichts anderes als ein eminentes Bedürfnis nach Aussprache in Anbetracht der physischen Beeinträchtigung, welche seine Zunge lähmt und ihn so die Beredsamkeit verunmöglicht. Erst wenn die „Krankheit seiner Leidenschaften“, die ihm „eine Stärke zu denken und zu empfinden giebt, die ein Gesunder nicht besitzt“, wie er Kant zu berichten weiß, ihn aus der „Einsiedlerey“ treibt,21 übersetzt sich seine Leidenschaft des Denkens und der Lektüre in die der aktiven Sprachhandlung. Die Schreibart als „Autorhandlung“ fungiert bei ihm sowohl als ein Substitut für Rede als auch als ein Akt des Sichentziehens gegenüber der Macht der Rhetorik und der Kleingeistigkeit von Kunstrichtern.22 Reden und Schreiben, das zieht sich durch seine Briefe, sind immer aufeinander bezogen und ihm geradezu kongruent – „Handlung, sagte Demosthenes, ist die Seele der Beredsamkeit, und auch der Schreibart.“23 Obwohl es ihm nicht an Leidenschaften mangelt, welche die Vernunft nicht minder „gut als die Einbildungskraft“ zu „verführen“ weiß,24 fehlt es ihm gerade an der Beredsamkeit, die Demosthenes auszeichnet. „Wenn ich auch so beredt wäre wie Demosthenes,“ wie er Herder 1784 schreibt, „so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreymal wiederholen müssen. Vernunft ist Sprache 20 ZH III , 35,3–6 (an Johann Gottfried Herder, 13. Jänner 1773). 21 ZH I , 373,21–26 (an Immanuel Kant, 27. Juli 1759). 22 Zum Begriff der „Autorhandlung“ vgl. Hamann: Fliegender Brief. Historisch-kritische
Ausgabe. 2 Bde. Hg. von Janina Reibold. Hamburg 2018 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 707), Bd. I , S. 103, 112, 335 u. 355. 23 N II , 116,17–18 (Dem Leser unter der Rose!). 24 ZH II , 1,10–11 (an den Bruder, 2. Jänner 1760).
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λόγος; an diesem Markknochen nag’ ich und werde mich zu Tod drüber nagen.“25 Diese Beredsamkeit beschränkt sich nicht nur auf die Redekunst, auch ihr Selbstverständnis ist nicht minder beredt. Während für Demosthenes, so zumindest besagt es die berühmte und mehrfach überlieferte Anekdote,26 die produktionsästhetische Praxis der Rhetorik insoweit geklärt war, dass es ihm nur auf ihr fünftes und letztes Stadium ankam, nämlich der performative Aspekt der Rede, ist es für Hamann demgegenüber nicht einmal ausgemacht, was Sprache gegenüber der Vernunft und Vernunft gegenüber der Sprache bedeuten soll. Für ihn tut sich der Grund von Denken und Rede als Abgrund auf, mit dessen Anblick er sich zeitlebens konfrontiert sieht. Das wird allein daran deutlich, dass die Reflexion der Wirklichkeit von Sprache, die er nicht minder in der Rhetorizität und Literarizität seiner Schreibart praktiziert, wohl als eine der Konstanten seines Denkens zu bezeichnen ist. Auch im Jahre 1774 hatte er sich Herder gegenüber zu Demosthenes bekannt, ein Bekenntnis, das er davor bereits verschiedentlich vorbrachte: „Und actio, 25 ZH V, 177,16–19 (an Johann Gottfried Herder, 6. August 1784). Weil Demosthenes von
seinen Zeitgenossen als der vollendetste aller Redner (orator perfectus) gerühmt wird, gilt seine Beredsamkeit (eloquentia) als das Ideal attischer Rede, wie Cicero (Brutus, 9,35) zu berichten weiß. In De optimo genere oratorum hält er fest: „Wir fragen nämlich nicht mehr, was es heißt, attisch, sondern was es heißt, sehr gut zu sprechen. Daraus erkennt man, da ja die vortrefflichsten griechischen Redner diejenigen sind, welche in Athen lebten, der angesehenste von diesen aber leicht Demosthenes ist, daß einer, wenn er diesen nachahmt, attisch und sehr gut sprechen wird; da uns ja die Attiker zur Nachahmung vor Augen gestellt sind, heißt gut sprechen attisch sprechen.“ [„Non enim iam quaerimus, quid sit Attice, sed quid sit optime dicere. Ex quo intellegitur, quoniam Graecorum oratorum praestantissimi sint ei, qui fuerint Athenis, eorum autem princeps facile Demosthenes, hunc si qui imitetur, eum et Attice dicturum et optime, ut, quoniam Attici nobis propositi sunt ad imitandum, bene dicere id sit Attice dicere.“] (Cicero: De optimo genere oratorum, 12–13) Jeder Redner, so berichtet Cicero, wollte ihm ähnlich sein (vgl. ebd., 6). 26 Vgl. hierzu Cicero: Brutus, 38,142: „[A]ls ihn [Demosthenes, F. T.] jemand fragte: ‚Was steht in der Redekunst an erster Stelle?‘, soll er geantwortet haben: ‚Der Vortrag!‘ ‚Und an zweiter Stelle?‘ ‚Dasselbe‘ ‚Und an dritter?‘ ‚Wieder dasselbe!‘ Nichts dringt ja tiefer ein in den Sinn der Hörer, bildet, formt, bewegt ihn und läßt die Redner in dem Licht erscheinen, in dem sie selbst erscheinen wollen.“ [„[…] qui quaesivisset quid primum esset in dicendo, actionem, quid secundum, idem et idem tertium respondisse. nulla res magis penetrat in animos eosque fingit, format, flectit talisque oratores videri facit, qualis ipsi se videri volunt.“] Zwei der Hauptwerke der Rhetorik, De oratore von Cicero und Institutio oratoria von Quintilian, haben mit Blick auf diese Anekdote die Performanz- und Handlungslehre des Vortrags als den zentralen Aspekt der Redekunst hervorgehoben: Cicero: De oratore, III ,213; Quintilian: Institutio oratoria, XI ,3,6.
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actio, actio ist immer das Heiligtum meiner Kabbala und Philologie seel. Andenkens gewesen.“27 Ob es sich nun um profane oder heilige Texte, um esoterisches oder exoterisches Wissen handelt, ist für Hamann zwar nicht einerlei, letztlich geht es ihm doch vor allem darum, die materielle Textur, also das textuelle Gewebe von sprechend oder zeigend sich gebender Sprachhandlungen in der Auseinandersetzung wachzuhalten. Mit der actio (griech. hypókrisis) ist die Aufführung der Rede angesprochen, ihre Gestik, Stimme und Mimik, die innerhalb der Redekunst als diejenige Praxis gilt, deren Einübung schwierig und deren instrumenteller Missbrauch für persuasive Zwecke gering ist. Das griechische Verb hypokrinesthai bedeutet „ein Urteil abgeben“, mit Blick auf die homerischen Epen ebenfalls „antworten“ oder „deuten“ und „auslegen“, was Hamanns philologischem, dem Wort antwortendem Geist nahesteht.28 Bei der actio geht es nicht darum, die geübte Rede imitierend aufzuführen, weil sie nur dann hervortreten kann, wenn sich die Rede körperlich exponiert und verselbstständigt. In dieser Verselbstständigung hat die actio und mit ihr die Rede statt. Nur solange in der Sprache die sinnliche Wahrnehmung konkret und erfahrbar bleibt, nur solange befindet sie sich mit den Dingen in Beziehung, von denen sie spricht. Das ist der Anspruch für Hamanns Handlungen und Verhandlungen, die eingreifende Vollzüge der Schreibart sein sollen. Ausgemacht ist für ihn nur, das verdeutlicht die Affirmation dreifacher Wiederholung, dass es die Leidenschaft in der Handlung zu erhalten, die Handlung leidenschaftlich zu vollziehen gilt. An diesem gesteigerten Sprachrealismus wird er zeitlebens festhalten, wie eine Stelle aus einem beeindruckenden Briefkonvolut zeigt, das er am 2. Mai 1787 an Jacobi schickt, an welchem er beinahe täglich seit dem 27. April geschrieben hatte: „Es geht mir mit Büchern, wie mit Menschen. Leidenschaft – Leidenschaft – Leidenschaft wie des Demosthenis Actio.“29 Die actio versteht sich als aktive und körperliche Vermittlung oder Rezeptivität einer Wirklichkeit von Sprache (lógos), die durch emotionale Akzentuierung dieser Vermittlung (páthos) verstärkt wird, in der der Autor der Handlung in der Handlung hervortritt (ē´thos). Ob es sich hierbei um Reden, Schreiben oder um Lektüren handelt, ist einerlei.
27 ZH III , 76,7–8 (an Johann Gottfried Herder, 3. April 1774). 28 Vgl. Homer: Ilias, 7,407; Homer: Odyssee, 19,535 u. 19,555; vgl. dazu Thomas Schirren:
„Rhetorik des Körpers (Actio)“, In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2 Hbde. Hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt und Joachim Knape. Bd. 1. Berlin/New York 2008 (= Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft, Bd. 31), S. 669–679, hier S. 671. 29 ZH VII , 162,36–37 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. April 1787).
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II. In diesem Sinne verdeutlicht der oben angeführte Brief an Herder vom 27. April 1781 in Ansätzen, woran es Hamanns Polemik im Kern gelegen ist, wobei diese erste leidenschaftliche Einschätzung nur für den engen Freund, jedoch nicht für die aufgeklärte Öffentlichkeit bestimmt war: Während Kants Denken eine Theorie über die Formen menschlicher Erkenntnis aus dem Geist universeller Selbstreflexion skizziert, um so die epistemologische Basis zu bestimmen, mit welcher der Weg einer kommenden „Metaphysik der Natur“ gangbar wäre, ist es Hamann um die selbstkritische, sprich existenzielle Bestimmung des menschlichen Weltbezugs zu tun, der für ihn mit dem Selbstbezug als der individuellen Beziehung zu Gott koinzidiert. Die Reflexion des Möglichkeitskriteriums für Erkenntnis und Erfahrung bestimmt sich demnach bei beiden aus einer Notwendigkeit einer Kritik, die gleichzeitig als Prämisse für den kritischen Zugriff fungieren soll. Bei Kant zentriert sich diese erkenntnistheoretische Grundlegung in der Einheit des Selbstbewusstseins als transzendentales Ich der Apperzeption, während für Hamann der Bedingungsgrund von Seinserfahrung und Offenbarungserkenntnis in der Transzendentalität von Sprache ein theologisch fundierter ist.30 Das Prinzip der Sprache, verstanden als das Wort Gottes, ist als transzendentale Sprache der virtuelle Bedingungsgrund menschlicher Rede in den Sprachen. Was theologisch Wort Gottes heißt, was kantisch gewendet die Transzendentalität der Spra30 Vgl. Heinrich Weber: Hamann und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie
der Aufklärung. München 1904; Günter Wohlfart: Hamanns Kantkritik. In: Kant-Studien 75 (1984), S. 398–419; ders.: Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel. Freiburg/München 1984, S. 119–166; Stefan Majetschak: Metakritik und Sprache. Zu Johann Georg Hamanns Kantverständnis und seinen metakritischen Implikationen. In: Kant-Studien 80 (1989), S. 447–471; Oskar Negt und Hans Werner Dannowski: Polare Denkansätze – Kant und Hamann. Ein nachträgliches Gespräch. In: dies.: Königsberg–Kaliningrad. Göttingen 1998, S. 147–167; Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002; Josef Simon: Zeichen und Sprache bei Kant, Hamann und heute. In: Acta 2002, 21–36; Jürgen Goldstein: Die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis und der Weg zur Vergötterung bei Hamann und Kant. In: Kant-Studien 101 (2010), S. 189–216; Thomas Sören Hoffmann: Kritik und Metakritik: Zu Hamanns Kantlektüren. In: Kant und seine Kritiker – Kant and His Critics. Hg. von Antonino Falduto und Heiner F. Klemme. Hildesheim/ Zürich/New York 2018, S. 29–44; Tina Röck: Über die Unentrinnbarkeit der Metaphysik. Johann Georg Hamanns Kant-Kritik. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 44.1 (2019), S. 27–43; Johann Kreuzer: Über den inneren Sinn, Laute und Buchstaben als reine Formen a priori oder die Frage der Natur der Geschichte(n). In: Acta 2015, 131–143.
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che meint, konkretisiert sich an dem, was sich mit Wilhelm von Humboldt als die dialektische Spannweite einer „Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft“ charakterisieren ließe: Denn sie [die Sprache, F. T.] steht ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Sie muss daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft. Es liegt hierin aber auch nothwendig, dass sie nach zwei Seiten hin ihre Wirkung zugleich ausübt, indem diese zunächst aus sich heraus auf das Gesprochene geht, dann aber auch zurück auf die sie erzeugenden Kräfte.31
Diese Kraft ist virtuell das, was es in den fragmentierten Sprachen zu aktualisieren gilt. Die Sprachhandlungen werden von diesem virtuellen Integral der Sprache bestimmt, mit dem diese sich aus sich heraus erneuern. Diese Sprachhandlungen werden nur dann als „Thätigkeit“ (Energeia) aufgefasst, wenn sie in der Wiederholung (von Lauten, Wörtern etc.) diese Wiederholungen akzentuieren. Dass Sprache Tätigkeit (Energeia) und nicht Werk (Ergon) ist, besagt ganz grundlegend, dass sie lebendig und alternierend, das heißt leidenschaftlich zu sein hat. Ein Denken, das sich a priori als ein in Sprache situiertes begreift, entgeht so dem Fehler, sprechen zu wollen, ohne eine Sprache zu haben – oder anders, mit den Worten Hegels gesprochen: „Erkennen wollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe er sich ins Wasser wage.“32 Die Kritik, die die Sprache in den Blick nimmt, weiß um keinen kritischen Ort außerhalb der Sprache, von dem aus sich gesichert über die Sprache urteilen ließe, ohne von ihr präfiguriert zu sein. In diesem Sinne lässt sich für Hamann ein Apriori als kategorialer Bedingungsgrund von Erfah31 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues
und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. III. Darmstadt 1963, S. 368–756, hier S. 477. Das korrespondiert mit der Einsicht, für die Humboldt berühmt ist: „Die Sprache, in ihrem Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein.“ (Ebd., S. 418). 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. In: ders.: Werke. 20 Bde. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 8. Frankfurt a. M. 1986, § 10, S. 54.
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rung nur dann denken, so es rückbezüglich als Prinzip bestimmt wird. Einer so gedachten Bestimmung ist eine interne Vermittlung implizit, mit der die Sinn dimensionen der Endlichkeit im Apriori mitzudenken wären. „Laute und Buchstaben“ als „reine Formen a priori“ fallen mit ihrer sinnlichen Wirklichkeit in eins, weil sie nur sind, so sie sich bild- oder lauthaft mitteilen.33 Die sprachphilosophische Reflexion macht also deutlich, dass die von Kant der Vernunft angelasteten Missverständnisse und Antinomien, wie Hamann in einem Brief an Jacobi vom 14. November 1784 ausführt, bereits in der Sprache gründen. Das widersprüchliche Erbe, das Sprache heißt, produziert in ihrer Tradierung die Erblast der Metaphysik, die sich als Sprachgeschichte genealogisch formuliert. So gesehen verkennt Kants Kritik bedingt ihren Gegenstand, weil nicht nur die Gegenstandsbeziehungen der Metaphysik, sondern ebenso ihre Privatsprachen wie auch die Sprachformen der Kritik, verstanden als die Möglichkeit mittels Wörtern, Urteilsvermögen und Sätzen Aussagen über sich selbst (und über die Möglichkeit von Metaphysik) treffen zu können, von Antinomien und Paralogismen durchsetzt sind. Kants Metaphysikkritik, die in ihrer Kritik am Schein metaphysischer Argumente bis zu einem gewissen Punkt die Topoi traditioneller Rhetorikkritik aktualisiert, bleibt bei einer Kritik an der Arbeit der klassischen Metaphysik stehen, wenn er diese als „Kampfplatz“, ihren Diskurs als „Spiegelgefechte“ und ihre Methoden als „bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen“, brandmarkt, ohne die Geschichte der Formen ihrer Aussagen zu sehen.34 Obwohl Kant mit der Kritik an der „transzendentalen Dialektik der Vernunft“ implizit eine Historisierung der Metaphysik leistet, bleibt sein Verhältnis zum Problem der Sprache ambivalent. Für Kant sind uns die Gegenstände durch die Anschauung noch nicht gegeben, sondern erst in der Mannigfaltigkeit unserer Vorstellungen, die als Begriffe durch das Bewusstsein synthetisiert werden. „So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel.“35 Mit Begriffen werden nicht die Gegenstände an sich, sondern Vorstellungen von ihnen benannt. Zwar verkennt Kant nicht die Historizität von Sprachen, jedoch
33 N III , 286,14 (Metakritik über den Purismus der Vernunft). 34 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Raymund Schmidt. Hamburg
1990 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 505), B XV; vgl. Georg W. Bertram: Rhetorik und Argumentation in der Philosophie. In: Handbuch Rhetorik und Philosophie. Hg. von Andreas Hetzel und Gerald Posselt, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher Rhetorik, Bd. 9), S. 451–471, hier S. 455–456. 35 Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 34), A 106.
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die Sprachlichkeit und somit die Sprachgeschichtlichkeit des Denkens, weshalb die Notwendigkeit einer Erkenntniskritik weniger in der Geschichte der Metaphysik als in der der Sprachen zu suchen wäre. Mit der Sprachvergessenheit der Erkenntniskritik, die Hamann in der Metakritik adressiert, manifestiert sich der Widersinn einer Auffassung, der die Grenzen der metaphysischen Vernunftarbeit mit einer Sprache zu bestimmen gedenkt, die diese konstant unterläuft und entgrenzt. Wer von Kritik spricht, so sie nicht ‚hyperkritisch‘ sein will, darf von den Äußerungsformen, in denen diese vorgebracht wird, nicht schweigen. Die Sprache als Kritik, die Kritik der Sprache gehen chiastisch Hand in Hand und machen deutlich, dass Kommunikationsmittel reflektiert sein wollen, bevor die in ihnen sich ausprägenden Denk-, Schluss- oder Urteilsformen zu klären sind. Die Rhetorizität der Kritik, akzentuiert durch die Polemik und Leidenschaft ihrer Praxis, weist nicht alleinig auf einer materiellen, sondern gleichfalls auf einer performativen Ebene darauf hin, dass Sprachen nicht im Sinne eines objektiven Instruments als frei von Kontamination zu denken sind. Aus dieser Einsicht darf jedoch nicht eine ausschließlich kritische Konsequenz gezogen werden, welche das Wesen der Sprache auf eine Metasprache logisch konsistenter Begrifflichkeiten reduziert. Will das menschliche Selbstverhältnis in der Sprache nicht ein stabilisiertes sein, dann gilt es die kritische Stabilisierung der rhetorischen Destabilisierungen, vorgetragen von formalisierbaren Argumentationsstrukturen, selbst wiederum metakritisch zu destabilisieren. Denn die Geschichte der Reflexion über das menschliche Denken lässt sich mitunter als eine lesen, die sich in der Formulierung einer Kritik an der Rhetorik ex negativo bestimmt. Erst auf Basis dieser Kritik lässt sich eine Auffassung durchsetzen, mit der ein strenges und allgemeingültiges Denken aus dem Geist der Argumentation zur wissenschaftlichen Norm werden kann. Die Geschichte der Reflexion über das menschliche Denken introduziert als philosophische Kritik der Rhetorik eine Auffassung der Sprache, die für Sprache primär zweierlei vorsieht: als propositionale Rede einerseits die Aufgabe, außersprachliche Data sprachlich abzubilden; als diskursive Argumentation andererseits die Arbeit, mittels logischer Denkoperationen dekontextualisierte Schlüsse zu formulieren. Aber nicht nur in ihrem logischen Gebrauch, auch als deren Gegengeschichte artikuliert die Geschichte des menschlichen Denkens in den Metakritiken der puristischen Rhetorikkritik ein Wissen, das sich in denjenigen Sprachen als ein Wissen um ein Erfahrungswissen übersetzt und bedeutet, die als Aphorismen und Sentenzen, Reden und Dialoge, Briefe und Lehrgedichte das immer schon praktiziert haben, was in ihren Theorien ausbuchstabiert und reflektiert sein
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will.36 Die unmittelbare Anschauung der Wahrheit gilt es jedoch nicht gegen ihre formalen Bestimmungen auszuspielen. In dem Sinne, in welchem jede Sprache, die verstanden sein will, einen Rahmen voraussetzt, an dem sie argumentationslogisch zu messen wäre, in dem haben die Allgemeinbegriffe wiederum nur solange Bedeutung, solange sie mittels der Rhetorizität und Literarizität von Sprache ständig aktualisiert und in die jeweilige Lebensrealität übersetzt werden. Dieses Wissen, sei es rhetorisch oder poetisch, ist kein formal in sich wahres, sondern ein wahrscheinliches, das als ein abseitiges und randständiges an den Grenzen der allgemein anerkannten Wahrheiten anzusiedeln wäre, wie Hamann zu berichten weiß: „Wahrscheinlichkeiten sind nach meiner Bildersprache oder hieroglyphischen Logik blos die Provinzen oder vielmehr Gränzen vom Reich der Wahrheit.“37 Um solche Erkenntnisinseln, die fern ab vom Schuss zeitgeistiger Wahrheitsmoden sind, geht es ihm, die mehr der Rhetorik verdanken, als sie es selbst durchsichtig machen. Auf die Alternative von Rhetorik und diskursiver Argumentation hat auch Jürgen Habermas an prominenter Stelle hingewiesen, als er in seiner Auseinandersetzung mit der an Friedrich Nietzsche anschließenden ‚neostrukturalistischen Vernunftkritik‘ daran erinnert, dass bereits vor ihr ein genuin philosophischer „Protest gegen den platonisch-aristotelischen Vorrang des Logischen vor dem Rhetorischen lautgeworden“ sei.38 Dieser Theoriezusammenhang, als deren Vertreter er Autoren wie Hamann und Humboldt, Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer namhaft macht, gruppiert sich um die Einsichten, die von Dante Alighieri und Giambattista Vico formuliert wurden. Autoren wie Jacques Derrida wirft er vor, ihr Programm nicht an diesen zu relativieren. Nicht nur was Habermas an Derrida moniert, auch wie er seine Entgegnung argumentativ strukturiert, erinnert in der befangenen Einseitigkeit der Bezugnahme stark an den Gestus, mit dem Hamann gemeinhin gelesen wird: Eine am Primat des 36 Vgl. hierzu Bertram: Rhetorik und Argumentation in der Philosophie (wie Anm. 34),
S. 457–461.
37 ZH V, 237,1–3 (an Johann George Scheffner, 17. Oktober 1784). 38 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frank-
furt a. M. 1985, S. 221. In einem selbstkritischen Moment sieht Habermas die Gefahr für sein Projekt einer verständigungsorientierten Theorie des kommunikativen Handelns gerade darin, „daß sich mit dem Konzept eines an Geltungsansprüchen orientierten Handelns der Idealismus der reinen, nicht-situierten Vernunft wiederum einschleicht“. Mit Blick auf Hamanns Kritik an Kant gesteht er ein, dass es „keine reine Vernunft [gäbe], die erst nachträglich sprachliche Kleider anlegte. Sie ist von Haus aus in Zusammenhängen kommunikativen Handelns wie in Strukturen der Lebenswelt inkarnierte Vernunft.“ (Ebd., S. 374).
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Rhetorischen gekoppelte Methode ermöglicht es Derrida, so Habermas, nicht die argumentationslogische Konsistenz von Texten, sondern ihren „rhetorischen Bedeutungsüberschuss“ kritisch zu befragen, auf Basis dessen die innertextuellen Inkonsistenzen aufgespürt sein wollen. „Auf diese Weise nötigt Derrida Texte […] dazu, gegen die explizite Meinung ihrer Autoren geständig zu werden.“39 Weil es Derrida jedoch an argumentativen Gehalten ermangelt, erübrig sich für Habermas jede direkte Diskussion mit ihm, die er lieber mit dessen literaturwissenschaftlichen und argumentationsfreudigeren Schülern führt. Im Zweifelsfall wird das, was ein rhetorisch informiertes Wissen artikuliert, in einer pauschalen Kritik ad acta gelegt, ohne sich argumentativ mit der innertextuellen Konsistenz auseinandersetzen zu müssen. Hamanns metakritische „Nothwendigkeit“ aus dem Geist der Apriorizität von Sprache, die er beispielsweise gegen Herders Sprachursprungsdenken vorbringt, besitzt als eine, die den „Modegeiste [s]eines Jahrhunderts durch Zweifel räuchern“40 will, über den jeweiligen sachlichen Zusammenhang hinaus dahingehend Geltung, dass sie nie allein Gegenstand und Subjekt der Kritik, sondern immer auch den damit sich artikulierenden Geist und Zeitgeist adressiert. Als eine Notwendigkeit, die sich als eine in situativen Zusammenhängen operierende versteht, zielt sie nicht auf dekontextualisierte Letztbegründung ab, sondern im Modus der Antwort auf Verantwortung. Die Antwort, die auf eine Anrede reagiert, ist durch eine vorgängige Verantwortung grundiert. Als eine dem Wort verpflichtete Kritik im Geist der Philologie, antwortet sie so weniger der heroischen Geschichte menschlichen Fortschritts als einer Gegengeschichte, die von der Zukunft her zu schreiben wäre, wie der zweite Brief aus dem Kleeblatt Hellenistischer Briefe vom März 1760 zu berichten weiß: „Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene“.41 Weil sie als eine Kritik, die den Modegeist der Gegenwart anvisiert, nicht anders kann, als sich quer zum Geist zu stellen, der die gegenwärtige Zeit kolonisiert, ist sie einer zuvorkommenden Zeitlichkeit verpflichtet, die ein Datum der Zukunft zu sein hat. Doch dieser von der Zukunft her bestimmte Erlösungszusammenhang zeitigt sich nicht allein am Ende der Zeit, sondern in Residuen uneingelöster Möglichkeiten auch transversal innerhalb der Geschichte, weil aus ihr ab ovo das Wort spricht – „denn die Zeit Seines Gerichts ist kommen“,42 so schließt die „Apostille“ der Aesthaetica in nuce, 39 40 41 42
Ebd., S. 223. N III , 41,18–20 (Philologische Einfälle und Zweifel über die akademische Preisschrift). N II , 175,35–36 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe). N II , 217,17–18 (Aesthaetica in nuce).
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doch bleibt sie im Kommen, ohne eine angekommene zu sein, obwohl sie jeden Tag eine zu vernehmende ist und gewesen wäre. Die Liste an Vorbehalten, die Hamann mit der Trias von ‚transcendentale[m] Geschwätz‘ (Inhalt), ‚scholastischer Architectonik‘ (Aufbau) und ‚sceptischer Tactik‘ (Methode) gegen Kant vorbringt, ließe sich mit Blick auf andere Text- und Briefstellen noch deutlich erweitern. Eine Bewertung der Einschätzung, ob nun Kants Vernunftkritik als bloßes Geschwätz zu bezeichnen sei oder nicht, erübrigt sich in dieser Pauschalität, jedoch lässt sich demgegenüber nicht so einfach von der Hand weisen, dass Kants ‚kritisches Gebäude‘ trotz der in der „transzendentalen Dialektik“ vorgebrachten Kritik am Schein metaphysischer Urteile selbst eine metaphysische Erblast zu tragen hat. Über Kants Bestimmung der reinen Anschauungsformen der Erkenntnis schreibt Hamann am 10. Mai 1781 an Herder: „Ohne es zu wißen, schwärmt er ärger als Plato in der Intellectualwelt, über Raum und Zeit. Hier ist wirklich Sprache und Technologie die Deipara der reinen scholastischen Vernunft“.43 Raum und Zeit sind als Formen a priori das, was es mit Materie zu füllen gilt, sofern etwas erkannt sein will. Tina Röck hat unlängst mit Blick auf den Status, den die Anschauung in Kants Denkgebäude einnimmt, darauf hingewiesen, dass Kant und Hamann mit Sinnlichkeit nicht dasselbe meinen. Anschauung und Sinnlichkeit besitzen im Sinne Hamanns nicht dieselben Qualitäten, weil die Anschauung durch den Verstand insoweit vorstrukturiert ist, insofern sich nur das wahrnehmen lässt, was durch Begriffe synthetisiert wird.44 Der äquivalente Begriff zur Sinnlichkeit nach Hamann wäre bei Kant Empfindung. Empfindungen sind bloß Daten, die von den Anschauungsformen geordnet und vergegenständlicht werden. Die durch die reinen Formen sinnlicher Anschauung geordnete Mannigfaltigkeit stellt für Hamann eine depotenzierte Form sinnlicher Erfahrung dar. „Eine Vernunft, die sich für eine Tochter der Sinne und Materie bekennt, fehlt!“, heißt es in den Kreuzzügen des Philologen.45 Um gesicherte Erkenntnis gegenüber der subjektiven Empfindung garantieren zu können, sucht Kant mit dem Primat der Form gegenüber der Materie die unsystematischen Manifestationen sinnlicher Erscheinung transzendentallogisch zu objektivieren. Vor diesem Hintergrund bedeuten Hamanns Lektüreerfahrungen von 1781 letztlich bloß ein leidenschaftlich vorgebrachtes Zeugnis für eine erste Ahnung, dass etwas am kritischen Geschäft mit seiner eigenen Auffassung einer in Sprachge-
43 ZH IV, 294,2–4 (an Johann Gottfried Herder, 10. Mai 1781). 44 Röck: Über die Unentrinnbarkeit der Metaphysik (wie Anm. 30), S. 35-36. 45 N II , 154,6–7 (Französisches Project).
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schichte situierten Vernunft unvereinbar sei – oder anders, im Sinne einer Persona Hamanns gesprochen: ‚something is rotten in the state of criticality‘.46 Eingedenk solcher nicht gerade differenzierten Urteile mag das, was Irrlitz konstatiert, nicht völlig aus der Luft gegriffen sein, sachlich zutreffender wird es jedoch nicht dadurch, dass er sich genau der rabulistischen, auf Vorurteilen beruhenden Argumentationsstrategien bedient, die er wiederum Hamann anlastet. Besonders deutlich wird das an einer Stelle, an der er Hamanns im Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 26. Oktober 1786 formulierte Einwände gegen den Glauben einer von Gott gegebenen und substanziell verstandenen Vernunft wie folgt kommentiert: „Hamann nutzte die terminologischen Neuerungen zu rhetorischer Verstärkung seiner Polemik, von Besorgnissen angesichts der Überlegenheit des Kantschen methodischen Intellektualismus erfüllt“.47 An dieser Behauptung, die anschließend eine Stelle aus Hamanns Brief zitiert, die sich primär gegen Martin Ehlers und nur implizit gegen Kant richtet, ist Folgendes auffallend: Sie reiht sich in die Liste der von Irrlitz vorgebrachten Einwände ein, die Hamann bezichtigen, einer sachlich unbegründeten Ablehnung in Ermangelung an Argumenten mit rhetorischen Mitteln Nachdruck verleihen zu wollen. Wird eine Polemik ‚rhetorisch verstärkt‘ und erfährt ein Gegenstand der Kritik bloß eine rhetorische Ablehnung, so dürfte ein Begriff von Kritik am Werk sein, der nicht nach Erkenntniszuwachs strebt. Ressentimentgeladen scheint das Ansinnen der Kritik einzig darin zu liegen, ihre Gegenstände oder ihr Gegenüber in Misskredit zu bringen. Hamanns Kritik an Kant, so ließen sich Irrlitz zufolge Hamanns Interessen zusammenfassen, ist im Grunde eine Kritik, die mit rheto46 Vgl. N II , 201,29–31 (Aesthaetica in nuce). Im Dezember 1789, also über ein Jahr nach
Hamanns Tod, berichtet Jacobi an den Grafen von Stolberg-Stolberg, dass in ihm der Tote ganz lebendig, fast als Untoter gegenwärtig sei: „Es wühlt unter mir, Hamanns Geist, wie unter Hamlet der Geist seines Vaters.“ (Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Juli 1788 bis Dezember 1790. Nr. 2152–2738. Bd. 8. Hg. von Manuela Köppe. In: ders.: Briefwechsel. Hg. von Walter Jaeschke. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015, S. 336) Kurz danach bekräftigt er dasselbe an die Gräfin Amalie von Gallitzin: „Meinem Freunde Stolberg schrieb ich die vorige Woche nach Berlin, ‚der Geist Hamanns wühlt unter mir, wie unter Hamlet der Geist seines Vaters‘.“ (Ebd., S. 342). 47 Irrlitz: Kant-Handbuch (wie Anm. 3), S. 143. Hamann schreibt mit Blick auf Martin Ehlers Winke für gute Fürsten, Prinzenerzieher und Volksfreunde am 26. Oktober 1786 an Jacobi: „Es läuft alles auf die jesuitische Chicane heraus mit der Zweydeutigkeit des Worts Vernunft. Ich begreife in aller Welt nicht, wie so ein paar Männer wie Kant und Ehlers aus einem Ton pfeifen und sich einer so niedrigen u plumpen List bedienen ihren Gegnern aufzubürden, als wenn von der Vernunft die Rede, die Gottes Gabe und der Character der Menschheit ist“. (ZH VII , 26,25–30).
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rischen und letztlich emotionalen Mitteln nicht nur über den Mangel an objektiver Urteilsfähigkeit, sondern auch über seine eigene intellektuelle Unredlichkeit hinwegtäuschen will. Gilt die weitverbreitete, in ihrer Verbreitung nicht minder simplifizierende Alternative, der zufolge Rhetorik entweder als eine ornamentale Ausschmückung oder als ein Instrument zur Täuschung aufzufassen sei, die so oder so als Kunst des Scheins und Träger manipulativer Halbwahrheiten einzig ihre Gegenstände verstellt, so wäre demzufolge Hamann eindeutig letzterer zuzuordnen. Als Kunst des Scheins gilt die Redelehre als eine falsche Kunst, die laut Protagoras darin unterrichtet, wie sich „das schwächere Argument zum stärkeren machen“,48 wie sich also ein Mangel maskieren und gut verkaufen lässt, ohne dass dabei gefragt wird, wie sich das reflexionslogisch begründen oder rechtfertigen lässt. Warum Irrlitz dem überhaupt eine Bedeutung beimisst, wenn ihm zufolge Kant „[d]as Urteil von Leuten wie J. G. Hamann“ letztlich „wenig berührte [Umst. F. T.]“,49 erschließt sich einem nicht. Die Vorwürfe, die Irrlitz letztlich in seiner stark selektiven Diskussion gegen Hamann erhebt, entbehren selbst beinahe jedweden argumentativen Gehalt, weil vermutlich eine Kritik an der Rhetorik nur in dem Grade evident und legitim sein dürfte, in dem sie sich gerade nicht auf diese von ihr attestierten Mängel an argumentativer Konsistenz einlässt. Bedenkt man die seit jeher gegen Hamann erhobenen Vorwürfe von Unverständlichkeit, fehlender Systematik, Schwärmerei und Irrationalität, dann scheint es nur konsequent, wenn auch als kritische Zuspitzung etwas vorhersehbar, seinen metakritischen Interventionen ein manipulatorisches Kalkül zu unterstellen und sie als bloße Selbstinszenierungsstrategien im Zeichen eines Geltungsbegehrens auszubuchstabieren. Wie vorhersehbar diese Attribuierungen sind, zeigt sich allein daran, dass Hamann dies selbst intensiv reflektiert, ja mit seinen ‚Rhapsodien in Kabbalistischer Prose‘ geradezu lanciert hat.50 Sie sind Ausdruck für 48 Aristoteles: Rhetorik, 1402 a, 24–25. 49 Irrlitz: Kant-Handbuch (wie Anm. 3), S. 260. 50 Unverständlichkeit, Rhapsodie, Schwärmerei und Irrationalität sind alles Begriffe, die
Hamann selbst ausgreifend thematisiert, weshalb sie in ihrer Attribuierung nicht sehr weit führen. Schulbildend sind in diesem Zusammenhang die von Hegel und Johann Wolfgang von Goethe erhoben Vorbehalte gegenüber Hamann, aus denen jedoch jeweils eine große Wertschätzung spricht. Das kann hier nicht weiter erörtert werden. In einem Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 11. September 1759, der hierzu exemplarisch angeführt wird, hält er selbst dazu fest: „Zweydeutigkeit und Ironie und Schwärmerey können mir nicht selbst zur Last gelegt werden, weil sie hier nichts als Nachahmungen sind meines Helden und der sokratischen […] Schriftsteller“ (ZH I , 410,12–14). Der Vorwurf wurde prominent in jüngerer Zeit wiederholt: Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus.
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ein Unbehagen, dass Hamann die Gegenstände seines Denkens in sein Denken integriert, die Selbstimplikation des Denkens als Teil des Prozesses begreift, der sich als Erkenntnis übersetzt. Diese rhetorisch informierte Leidenschaft in Kritik und Polemik, immer vorgetragen in der Lakonik und mit der Kompromisslosigkeit einer ‚geballten Faust‘, hat eben eine Härte, die nur schwer zu ertragen ist – mitunter „für die lange Weile des Publicums“,51 auf die Hamann bekanntlich in Anbetracht des Zeitgeists seine ganze Hoffnung gesetzt hatte,52 anscheinend nicht minder als wie für Freunde und Zeitgenossen.
III. Wenn Hamanns Rhetorik als Handlung eine sprachliche Gestalt gewinnt, so findet sie diese notwendigerweise in den Registern von Polemik und Kritik. Eine mit polemischen Mitteln agierende Kritik hat den Sinn, etwas durch die entstellende Akzentuierung einer Überzeichnung unmissverständlich zu enthüllen. Als eine leidenschaftliche Rhetorik der Kritik handelt seine Kritik nie allein um der Kritik, die vom ihm vorgebrachte Polemik nie nur um der Polemik willen, ist sie doch irreduzibel von der Vorgängigkeit eines Anderen bestimmt. Nicht allein ein äußerer Anlass oder externer Anspruch ist es, auf den sie antwortet, zuallererst bekennt sich dieser kritische Anspruch zum jede Selbstbeziehung grundierenden Anderen: Hamanns metakritische Vernunft aus dem Geist einer sokratischen Mäeutik antwortet, um aus einer Verantwortung und „Ehrfurcht“ dem Wort gegenüber widersprechen zu können, tritt in den Dialog deshalb, um fehlgeleitete Prämissen des Diskurses, Begriffsverwirrungen oder einseitige Abstraktionsverirrungen korrigieren zu können. Metakritisch räumt sie noch mit den Vorurteilsprämissen auf, die den Kritiken implizit sind, auf die sie antwortet. Aufbauend ist sie nur in der Negativität dem gegenüber, was sie abbaut, gestaltend nur in ihrer Entstaltung. Will man diese destruktive Philologie, die Hamann mit seiner leidenschaftlichen Kritik praktiziert, auf den Begriff bringen, so könnte man von einer inversen Mäeutik sprechen. Indem sie bloß das zur Welt bringt, Berlin 1995. Allgemein zum Topos der Unverständlichkeit siehe die Studie von Eckhard Schumacher: Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man. Frankfurt a. M. 2000, hier S. 89–156. 51 N II , 57,2 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 52 Vgl. N II , 117,20–22 (Dem Leser unter der Rose!): „Man überwindet leicht das doppelte Herzeleid, von seinen Zeitverwandten nicht verstanden, und dafür gemishandelt zu werden, durch den Geschmack an den Kräften einer besseren Nachwelt.“
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was sie mit dem „Meissel“ der sokratischen Kritik „plastisch“ werden lässt, wie es in seiner 1759 gedruckten Schrift Sokratische Denkwürdigkeiten heißt, ist ihre Sprachhandlung weniger Ausdruck einer Autor- als einer Zeugenschaft.53 Sollte Kritik die Fortsetzung der kritisierten Werke mit zurücknehmenden Mitteln sein, dann dürfte eine Metakritik die fortsetzende Zurücknahme der zurücknehmenden Fortsetzung mit affektiven und leidenschaftlichen Mitteln sein. Metakritik ist ein kritischer Affekt, der sich leidenschaftlich zu dem bekennt, was er prüft. Diese annihilierende Methode weist nicht nur zurück auf Sokrates, der in der öffentlichen Agora, nicht in der Akademie sein kritisches Geschäft trieb, sondern ebenso auf den von Hamann hochgeschätzten David Hume, von dem es in einer brieflichen Mitteilung 1759 heißt: „Ein Geist zum Niederreißen, nicht zum Bauen; darin besteht der Ruhm eines Hume.“54 Die von Hamann aus diesem skeptischen Aspekt gewonnene Philologisierung des Denkens im Zeichen von Reinigung und Destruktion „schickt[] sich für jeden Ort und zu jedem Fall“, ja sie richtet und unterrichtet gleichsam alles, was der „Fall“ ist oder was verstanden sein will.55 Kaum anders als die Rhetorik findet eine so verstandene Philologie ihre Anlässe entweder in der sinnlichen Wirklichkeit des Alltags oder in der Lebensrealität der 53 N II , 80,2–3 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 54 ZH I , 305,18–19 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1759). Das befindet sich durch-
aus in einer Linie mit Kant, dem Hamann in einem Brief an Herder vom 10. Mai 1781 den „Titel eines preußischen Hume“ (ZH IV, 293,36) verleiht, weil der bekanntlich mit der „transzendentalen Dialektik“ das annihilierende Ziel verfolgt, der Geschichte der Metaphysik nachzuweisen, dass sie einer Illusion der Vernunft aufgesessen sei. Da Hume „immer [s]ein Mann“ (ZH IV, 294,7) ist, wie Hamann bekennt, muss es wohl der „preußische Hume“ ebenfalls sein, dessen Kritik der reinen Vernunft er bereits am 10. Mai 1781 als ein „Meisterstück“ (ZH IV, 293,34) rühmt. Die Bedeutung, die das Werk erfahren sollte, hat wohl niemand so früh erkannt, wie eben Hamann. Da tut es nichts zur Sache, ob diese Zuschreibung ironisch gebrochen, wie dies bei Hamann mit Blick auf Kant nicht selten der Fall ist, oder ernst gemeint war. 55 N II , 78,23–24 (Sokratische Denkwürdigkeiten). Hamanns metakritische Methode in der Tradition eines nichtwissenden Sokrates geht im Kern auf seine erste zentrale Schrift zurück, die 1759 unter dem Titel Sokratische Denkwürdigkeiten publiziert wurde, wenngleich er den Begriff „Metakritik“ erst Jahre später prägen sollte. Die Metakritik konfrontiert die Vernunftkritik mit einer Kritik. Als Fundamentalkritik stellt sie die Geltungsfrage, indem sie die Geltung der Prämissen der Kritik in Frage stellt. In einem Brief an Kant vom 27. Juli 1759 fasst Hamann seine Methode folgendermaßen zusammen: „ich glaube wie Socrates alles, was der andere glaubt – und geh nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu stöhren.“ (ZH I , 377,26–27) Dass Hamann seine Autorschaft als eine metakritische Praxis begreift, verdeutlicht zudem ein Brief an Herder vom 3. Februar 1785, in dem er als Titel für eine Sammlung seiner Schriften „Metakritische Wannchen“ (ZH V, 350,20–21) vorschlägt.
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Öffentlichkeit. Als ein Mandatar des Wortes vertritt sie die sinnliche Wirklichkeit der Wörter, welche Philologie zur Zeugenschaft anhalten, geht es ihr doch mit Büchern wie mit Menschen: Glücklich ist der Autor, welcher sagen darf: Wenn ich schwach bin, so bin ich stark! – aber noch seeliger ist der Mensch, dessen Ziel und Laufbahn sich in die Wolke jener Zeugen verliert, – der die Welt nicht werth war.56
Das Mandat verpflichtet diesen philologischen Auftrag, nicht gemäß einer asketischen Leibfeindlichkeit, sondern gemäß einer leidenschaftlich gesteigerten Körperlichkeit, eines Hungers am „Geschmack an Zeichen“,57 zu handeln.58 Ohne die materielle Präsenz gibt es nichts, was der Hunger sich, seien es Empfindungen oder Erfahrungen, einverleiben und in weiterer Folge verdauen könnte. Weil ihm „[j]edes Buch […] eine Bibel und jedes Geschäfte ein Gebeth“59 ist, weil ihm zufolge Natur, Geschichte und Schrift sich als Bücher darstellen und Werk eines Schriftstellers sind, ahndet der Philologe wortgetreu all die eitlen Bestrebungen, welche ihre Erfahrung von ihrer textuellen Gebundenheit, von der rhetorischen Präsenz ihrer Buchstaben zu lösen gedenken, was die unzähligen Interventionen in den sich aufgeklärt wähnenden Diskurs seiner Zeit bezeugen. Hamann liest alle Texte als wären es heilige Texte, weil er in ihnen das zu verneh56 N II , 117,22–25 (Dem Leser unter der Rose!). 57 ZH IV, 6,4–6 (an Johann Caspar Lavater, 18. Jänner 1778). An dieser Stelle hält er fest,
dass ihm sein „ganzes Christenthum […] ein Geschmack an Zeichen“ ist. Grundlegend zu Hamanns Zeichenbegriff vgl. Eric Achermann: Hamanns Insistieren auf der sinnlichen Wirkkraft der Zeichen. In: Acta 2002, 37–57. 58 Vgl. Londoner Schriften, 342,1–344,4; N I , 39,23–41,15. In Anbetracht dessen, könnte sein Londoner Erweckungserlebnis als ein Lektüreerlebnis gelesen werden, in dem sich ihm ein Wissen übersetzte, dem seine ganze spätere Autorschaft gilt. In seinen Gedanken über meinen Lebenslauf, in dem er von seinem Erweckungserlebnis Zeugnis ablegt, parallelisiert er bereits Lektüre und Nahrungsaufnahme, wenn er von „Hunger“ nach Lektüre und dem „Geschmack an Büchern“ spricht. Auch intersubjektive Verständigung, wie beispielsweise die zwischen Freunden, versteht Hamann als ein Akt gegenseitiger Lektüren. Hamann sieht in den Absichten seines Freundes Berens, der als „Herr von seinen eigenen Leidenschaften und anderer ihren“ (ZH I , 310,32–33) meint, besser zu wissen, was gut für ihn sei, nur dessen Unvermögen, ihn wirklich kennen und als Gläubigen erkennen zu wollen. Berens geht es in seiner Kritik an Hamanns Schwärmerei, Aberglauben und Müßiggang nur darum, wie Hamann Lindner am 31. März 1759 berichtet, ihn wieder für die „Welt nutzbar“ zu machen. (ZH I , 310,15) „In allem dem Chaos meiner Gedanken ist ein Faden, den ein Kenner finden kann, und mein Freund vor allen erkennen würde, wenn er sie lesen könnte.“ (ZH I , 311,10–12). 59 ZH I , 309,11 (an Johann Gotthelf Lindner, 21. März 1759).
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men sucht, was alle Systeme und Regeln der Sprache, seien es die der Semantik, Grammatik oder Orthographie, nicht nur außer Kraft setzt, sondern überhaupt erst in Kraft treten lässt. Wortgetreu arbeitet angesichts dessen nicht nur die Philologie, auch der menschliche Selbstbezug im Denken und Schreiben versteht sich als Selbstentzug, so dass sich die Autorschaft, verstanden als originäre Weltschöpfung, zum profanen Geschäft eines Schriftstellers verschiebt, wenn selbst der erste Autor als Schriftsteller und Schreiber charakterisiert wird, wie Hamann mit dem seine Schriftauslegung einleitenden Ausruf, „Gott ist ein Schriftsteller! – – “, verdeutlicht.60 Offenbar bedarf selbst der göttliche Autor einer Sprache, um handelnd die Welt zur Welt bringen zu können. Ein so dezentriertes Autorsubjekt ist nicht mehr Herr im Haus einer sich selbst versicherten Autorschaft, sondern Gast im Haus der Sprache, das im Werden ein vergehendes ist. Dauerhaftes Wohnrecht erhält der Gast erst wieder zu Olims Zeiten, also mit dem vergangenen Datum, das in der Zukunft liegt. Die Autorität der Autorschaft endet dort, wo die Sprache beginnt, sofern noch die „ältere bedeutung des wortes“ Schriftsteller im Sinne von concipient gegenwärtig ist, mit der derjenige bezeichnet wird, der „für andere rechtliche schreiben aufsetzt“.61 Schriftsteller und Philologen ahnden Wort für Wort das, was das radikal andere Wort, das die Sprachen und Schriften in ihrer Verbindlichkeit immer schon gewesen sein werden, zu Wort kommen lässt. Dieses andere Wort ist die virtuelle Einheit und Bewirkungswirklichkeit der Wörter. Die „Einheit der Schrift“ wie die „Einheit ihres Urhebers“ spricht als eine virtuelle Größe in den endlichen Erscheinungen, in denen sie rückbezüglich als Prinzip all dessen gedacht wird, was übersetzend in Erscheinung tritt. Die Schrift, die von dieser Weltwerdung allegorisch Zeugnis gibt, sollte dann konsequenterweise „unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn, worauf alle Begriff und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammen gesetzt würden“.62 Hamanns Probehandeln in der Schreibart maskiert sich konstant in fremden Stimmen, weil sie in Anbetracht ihrer Gefallenheit keine ihr eigentliche und originäre Form mehr beansprucht, in der das Subjekt dieser Sprachhandlung originär und demaskiert sich als ein solches ausdrücken und zu sich finden würde.
60 Londoner Schriften, 59,3; N I , 5,2. Vgl. dazu Joachim Ringleben: Gott als Schriftsteller.
Zur Geschichte eines Topos. In: Acta 1992, 215–275.
61 Jacob und Wilhelm Grimm: Art. „Schriftsteller“. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob
und Wilhelm Grimm. Neunter Band. Schiefeln – Seele. Leipzig 1899. Nachdruck München 1984, Sp. 1748. 62 Londoner Schriften, 304,8–10; N I , 243,18–20.
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Wer hierfür keine Sensibilität entwickeln kann, dem bleibt naturgemäß eine Schreibart unbegreiflich, die Eigenes im Fremden, Eigentliches im Fragmentarischen, Individuelles im Pluralen erblickt: Ein Lay und Ungläubiger kann meine Schreibart nicht anders als für Unsinn erklären, weil ich mit mancherley Zungen mich ausdrücke, und die Sprache der Sophisten, der Wortspieler, der Creter und Araber, der Weißen und Mohren und Creolen rede, Critick, Mythologie, rebus und Grundsätze durch einander schwatze, und bald κατ’ ἀνθρωπον bald κατ’ ἐξοχην argumentire.63
Der Mangel an Sinn, der in Hamanns Schreibart sinnig und eigensinnig zu sein scheint, ist der an einem Sinn, der im Sinne einer Rückführung an Geltungsansprüchen festgesetzt und stabilisiert, allgemeingültig und kohärent wäre. Bei ihm entsinnt sich der eine Sinn der Vielsinnigkeit, die die Wahrheit sinnlicher Wirklichkeit auszeichnet. Obwohl die polyphonen Zungen nicht nur vielstimmig, sondern auch vielsinnig, nicht nur mehrstimmig, sondern auch unstimmig sind, zielen sie doch, sei es direkt oder indirekt, immer aufs Wort, als dessen Bild und Entsprechung sie sich begreifen. Die vielen und sich selbst fremd werdenden Sprachhandlungen der Leidenschaft entsprechen der Mannigfaltigkeit sinnlicher Wirklichkeit in einer Weise, wie sie sich zeigt. Das Problem systematischen Denkens ist für ihn, dass es einen systematischen Zusammenhang suggeriert, den es nur bedingt geben kann. Solch ein Zusammenhang ist letztlich nur für eine gewaltige und bisweilen mit Gewalt durchgesetzte Verkürzung zu haben. Für Hamann ist der Mensch einerseits durch den Turmbau zu Babel und andererseits durch das Pfingstwunder bestimmt, die virtuell, verstanden als das, was als Mahnmal des Nichtgesagten in den Mitteilungen insistiert, verbunden sind.64 Die einzige Form der Ordnung, in der das Wesen der Ordnung als das Wesen des Wortes beredt wird, ist als Einheit in der Differenz die Ordnung der Unordnung, der Zusammenhang des Rhapsodischen, die Harmonie von Brocken und Fragmenten. Mit Blick auf das baldige Erscheinen seiner Sokratischen Denkwürdigkeiten, die ablehnenden Reaktionen bereits im Ohr, beschließt er in diesem Sinne 1759 einen Brief an Johann Gotthelf Lindner: „Wahrheiten, Grundsätze, Systems bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle. Ein
63 ZH I , 396,29–34 (an Johann Gotthelf Lindner, 18. August 1759). 64 Vgl. Londoner Schriften, 281,25–282,18; N I , 220,13–35; ZH VI , 339,15–21 (an Johann Gott-
fried Herder, 2. April 1786); ZH VII , 175,17–23 (an Heinrich Friedrich Jacobi, 30. April 1787).
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jeder nach seinem Grund und Boden.“65 Gegen das Prinzip der Allgemeinheit, in deren Register eben ‚Wahrheiten‘, ‚Grundsätze‘, ‚Systeme‘ fallen, positioniert Hamann mittels eines Asyndetons, die rhetorische Stilfigur unvermittelter Reihung, ein Prinzip der Inkonsistenz, ohne mit diesem wiederum Allgemein- oder Letztbegründungsansprüche stellen zu wollen. Es gibt nämlich kein Prinzip, das verdeutlicht die lapidare Wendung, ‚ein jeder nach seinem Grund und Boden‘, welches nicht weltanschaulichen oder kulturellen Differenzen unterliegen würde. Eine sprachliche Handlung gewinnt als Haltung der Sprache erst dadurch Kontur, dass sie sich zu anderen verhält, mit anderen in Beziehung steht und in dieser Beziehung erst durch diese Beziehung ermöglicht wird. Das unterstreichen Hamanns rhetorisch reflektierten Schriften, die metakritisch den Dialog suchen. Mit der hypostasierenden Überzeichnung der Sprachverwirrung, in der nichts mehr spricht, was nicht entlehnt und übernommen, entwendet und entstellt, verstellt und maskiert ist, wird die Sprache gleichfalls als Klage und Gebet beredt, eben durch die mimetische Annäherung, in der die unterschiedlichsten Stimmen, Epochen und Zusammenhänge zwar nie gleichberechtigt im Sinne eines äquivalenten Tauschverhältnisses, jedoch in ihrer Asymmetrie gleichunberechtigt und unvereinbar zur Sprache kommen – in dem Maße, in dem sie sympathetisch aufeinander zu gehen und affirmativ miteinander in Beziehung stehen, suchen sie ebenfalls kritisch die Distanz und gehen zweifelnd auf Konfrontation.66 Die Rhetorizität von Gebet oder auch Klage ist eine solche, welche die Figuren, Topoi und Tropen der Schulrhetorik entsetzen, weil ihre bis zu einem gewissen Grad berechnend eingesetzten Figuren nicht sehr weit führen würden,
65 ZH I , 431,29–31 (an Johann Gotthelf Lindner, 12. Oktober 1759). Demgegenüber be-
stimmt Kant die „Architektonik der reinen Vernunft“ als ein System, welches als „Einheit des Zwecks“ und „Form des Ganzen“ die Basis bildet, auf der eine Erkenntnis als wissenschaftliche Erkenntnis möglich wird – Kant: Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 34), B 860: „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können.“ 66 Vgl. Donatella Di Cesare: Hamann: Versuch einer Übertragung ins Italienische. In: Acta 1996, 445–475, hier S. 470–471. Über die Beziehung von Sprachverwirrung und Polyphonie hält sie fest: „Der sonst monologische Text wird zu einem zeitübergreifenden Symposium: Aus den verschiedensten Epochen, den verschiedensten Gebieten und Milieus konfrontieren sich in einem nie zu Ende geführten Dialog Christen und Juden, Tote mit Lebendigen, Antike mit Modernen, Deutsche mit ‚Welschen‘, dank einer von Hamann immer vorsichtig bewahrten Polyphonie, die eine vielstimmige Entsprechung auch in der Übersetzung verlangt.“ (Ebd., S. 471).
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wenn ein Gespräch mit Gott gesucht wird.67 Die Sprachen manifestieren sich in den Momenten, in denen sie, und sei es nur für den Moment, zweifeln und stocken, pausieren und aussetzen, weil Sprache nie nur das ist, was im Laut beredt ist: „Lücken und Mängel – ist die höchste und tieffste Erkenntnis der menschl. Natur, durch die wir uns zu ihrem Ideal hinauf winden müßen – Einfälle und Zweifel – das summum bonum unserer Vernunft.“68 Was nicht in Ordnung ist, ist die natürliche, weil endliche und vergängliche Ordnung des Humanen. In den Lücken, die die Sprache im Sprechen schlagen, im Inkonsistenten und Insuffizienten ist der Mensch seiner Natur nach menschlich. Unnatürlich ist er gerade dort, wo er am Beispiel der Mathematik einem Ideal folgt, dass nicht das seine ist. Wenn Sprachen aussetzen, in ihre Pausen, Mängeln und Lücken, setzt man sich dem aus und mit dem auseinander, was das Wesen der Sprache sein könnte. In solch prekären Momenten wird uns gewahr, was Sprache ist, respektive was sie sein könnte, insofern wir reflektieren, was sie zu leisten oder eben nicht mehr zu leisten vermag. Dialogisch in ihrer Unvereinbarkeit sind sie nur in den Stellen der Rhapsodien, die, indem sie dem sich versagenden Wort polyphon entsprechen, im Namen des Wortes handeln.
IV. Die Sprache hat, so sie als ars poetica gefallen oder als ars rhetorica überzeugen will, ihre kommunikativen Mittel wirkmächtig darzutun. Dass die Sprache vermöge ihres suggestiven Charakters prädestiniert ist, mit ihren Reden Wirkung zu erzielen, weist zurück auf Überlegungen, die von Gorgias von Leontinoi angestellt wurden. Gorgias geht davon aus, dass die Sprachen in einer Weise die Seele ihres 67 Das besitzt eine gewisse Nähe zu dem, was Tim Hagemann unter Bezugnahme
Hamanns am Beispiel von Søren Kierkegaard als „antipersuasive Rhetorik“ herausgearbeitet hat: Tim Hagemann: Art. „Antipersuasive Rhetorik“. In: HWRh, Bd. 10 (2012), Sp. 45–51, hier Sp. 45: „Die A[ntipersuasive Rhetorik] sucht die persuasive Wirkung der Rede und des Redners um der ungelenkten Selbstwirksamkeit des Rezipienten willen zu suspendieren. Da der bloße Verzicht, sich persuasiver Mittel zu bedienen, nicht zugleich die ē´thos-, páthos- und lógos-Wirkung der Rede aufhebt, sondern diese nur der Kalkulierbarkeit durch den Redner entzieht, bedarf die angestrebte Suspension eines genuin rhetorischen Akts. Die A. bleibt so, wenn auch ex negativo, an das Persuasionsparadigma gebunden. Sie will die klassische Rhetorik nicht destruieren, sondern ergänzen, der Rhetorik der Polis eine Rhetorik des Privaten an die Seite stellen. Die ihr eigene Wirkungsintention richtet sich auf die Selbst-Verwirklichung des Einzelnen.“ 68 ZH III , 34,33–35 (an Johann Gottfried Herder, 13. Jänner 1773).
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Gegenübers berühren, wie Drogen (phármaka) auf den Körper einwirken. „Rede, nämlich, die Seele-bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen.“69 Allerdings wird mit der Analogie von Sprache und phármakon nicht zwangsläufig ein toxischer Aspekt adressiert, weil der Begriff phármakon einen Wirkstoff meint, der als Arznei eine pharmakologische Wirkung evoziert, welche die Seele nicht nur trüben, berauschen und in letzter Konsequenz vergiften, sondern auch bezaubern und heilen kann; kurzum, phármaka können Leben wie Krankheit gleichermaßen beenden. Als phármakon ist Sprache, das ist an diesen Reflexionen entscheidend, per se kein neutrales Mittel, mit dem sich mentale Gehalte mitteilen ließen, ohne dass die Materialität der Sprache in diesen insistieren würden. Die pharmakologische Dimension der Sprache, die sich eben auch berechnend einsetzen lässt, ist mitunter der Grund, warum der Sprache seit jeher Skepsis entgegenschlägt. Obwohl die Sprache den Geist sowohl zu trüben als auch zu verführen weiß, gedenkt Hamann nicht, sie vor der endlichen Kontingenz ihrer Verfasstheit, die in ihren Bildern, Leidenschaften und Metaphern sinnfällig wird, zu entlasten. Die Kritik der Bedingungsmöglichkeit von Erkenntnis verschiebt sich bei ihm zu einer Kritik der Sprache, die als eine Kritik der Geschichte von Sprachen das Prinzip der Erkenntnis als ein geschichtlich situiertes begreift. Die so konzipierte Sprachkritik will im Namen von Leidenschaft und Sprache eine pharmakologische Kritik der Leidenschaften sein, welche das Denken nicht von diesen befreien, sondern diese für das Denken kultivieren will. In diesem Sinne ist zu verstehen, was er in einem Brief Anfang Dezember 1784 an Jacobi notiert: Die Metaphysik hat ihre Schul- und Hoffsprache; beyde sind mir verdächtig, und ich bin weder imstande sie zu verstehen, noch selbst mich ihrer zu bedienen. Daher ich beynahe vermuthe, daß unsere ganze Philosophie mehr aus Sprache als Vernunft besteht, und die Misverständniße unzähliger Wörter, die Prosopopöee der willkührlichsten Abstractionen, die Antithesen τῆς ψευδωνύμου γνώσεως, ja selbst die gemeinsten Redefiguren des Sensus communis haben eine ganze Welt von Fragen hervorgebracht, die eben mit so wenig Grund aufgeworfen, als beantwortet werden.70
69 Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien. Griech.–dt., hg. mit Übers.
und Kommentar von Thomas Buchheim. Hamburg 1989 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 404), S. 11. 70 ZH V, 272,3–10 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784).
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Die Rede von dem, was ist, vollzieht sich als Rede in der Sprache. Die Sprache der Philosophie, so sie Metaphysik treibt, besitzt selbst einen historischen Index, der mehr von ihren Problemen zeugt, als es ihre unveränderlichen Gegenstände tun. „Das Adiutorium der Sprache ist die Verführerin unsers Verstandes, und wird es immer bleiben“, heißt es an denselben drei Jahre später am 29. April 1787.71 Vernunftkritik als Kritik der Metaphysik hat deshalb Sprachkritik zu sein, weil die an Geometrie und Mathematik orientierten Abstraktionen willkürliche Masken einer konkreten Welt sind, die aus Wörtern und rhetorischen Figuren besteht. Die Metaphysik bietet erfundene Reden, die als Gedankenfiguren Abstraktionen von konkreten Bezügen produzieren, indem sie diese enthistorisieren. Die Bedeutung der Abstraktionen ist eine prosopopoeia, welche das sprachliche Wesen der Natur nicht ausdrückt, sondern in verallgemeinerten Privatsprachen nivelliert und verstellt. Die prosopopoeia der Metaphysik legt nach Hamann ihren Schlüssen eine fiktive Rede in den Mund, die in ihrer nachahmenden Idealisierung von Konkretem fingiert, unendlich und selbst wirklich zu sein. Den Abstraktionen und Schlüssen werden also mittels einer Enthistorisierung Eigenschaften zugesprochen, für die es keinen konkreten Bezug gibt, der selbst nicht fingiert wäre. Das „Seyn“, das ursprünglich „Wahrheit“ und das als mitgeteiltes „Gnade“ ist, lässt sich nicht thematisieren, ohne es gegenständlich zu fixieren.72 Demgegenüber ist die Metaphysik nicht als Lehre eines mundus intelligibilis, sondern als fiktive Rede von diesem zu nehmen, weil die Wirklichkeit als Grund ihrer Rede jedwede Stabilität und Verbindlichkeit eingebüßt hat. Hamanns doch vielleicht etwas verkürztes Verständnis von Metaphysik und Ontologie, bei aller grundsätzlichen Intuition gegenüber mentalistischen Verkürzungen aller Art, wird an der brieflichen Sendung deutlich, die oben bereits zitiert wurde – am 27. April 1787 schreibt er an Jacobi: „Ein allgemeines Bedürfnis jeder Philosophie, ohne Unterscheid ist petitio principii und nichts eher zu nehmen, als was uns eingeräumt wird, nicht über das Terrain die Richtung zu verlieren“.73 Denn die Welt der Fragen, welche 71 ZH VII , 173,3–4 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 29. April 1787). 72 ZH V, 271,28–29 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784). 73 ZH VII , 165,22–25 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 27. April 1787). Zwei Tage später am
29. April 1787 fügt er dem hinzu: „Seyn, Glaube, Vernunft sind lauter Verhältniße, die sich nicht absolut behandeln laßen, sind keine Dinge sondern reine Schulbegriffe, Zeichen zum Verstehn, nicht Bewundern, Hülfsmittel unsere Aufmerksamkeit zu erwecken, nicht zu feßeln, wie die Natur Offenbarung ist nicht ihrer selbst, sondern eines hoheren Gegenstandes, nicht ihrer Eitelkeit, sondern Seiner Herrlichkeit, die ohne erleuchtete und bewaffnete Augen nicht sichtbar ist, noch sichtbar gemacht werden kann, als unter neuen Bedingungen, Werkzeugen und Anstalten, Abstractionen und Constructionen,
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von der Metaphysik produziert wurde, ist die ihrer idealisierenden Rhetoriken, die, wie Sprache grundsätzlich, eigensinnig und autonom gegenüber dem ist, was Wirklichkeit genannt wird. Sprachen bilden als Übersetzung die Wirklichkeit nie nur ab, sondern sind als Differenz zu ihr selbst übersetzte Wirklichkeit. Sie können also nicht mehr als zur Orientierung, nicht selten aber auch, weil Sprache eben auch ein adiutorium der Verführung bildet, zur Desorientierung dienen. Die Sprache exponiert, was die Metaphysik disponiert. Wenn der Gebrauch von Sprache eine ganze Welt an Fragen hervorbringt, dann liegt für Hamann der eigentliche Skandal nicht darin, dass durch die prosopopoeia willkürliche Begriffe beredt werden, sondern vielmehr darin, dass diese Beredsamkeit von der Metaphysik unterschlagen wird. Am Beispiel der Sprache der Metaphysik, die meint, Bedeutungen neutral übermitteln zu können, indem sie „alle Wortzeichen und Redefiguren unserer empirischen Erkenntnis zu lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältniße“ reduziert, ist diese Wirklichkeit nach Hamann nur ein fahler Abglanz dessen, was mit der sinnlichen Realitätsgewalt der Rede möglich wäre – oder, in den Worten Hamanns: die Metaphysik „verarbeitet durch diesen gelehrten Unfug die Biderkeit der Sprache in ein so sinnloses, läufiges, unstätes, unbestimmbares Etwas = x, daß nichts als ein windiges Sausen, ein magisches Schattenspiel, höchstens wie der weise Helvetius sagt, der Talisman und Rosenkranz eines transcendentalen Aberglaubens an entia rationis, ihre leere Schläuche u Losung übrig bleibt.“74 Die Metaphysik, welche als „erste Philosophie […] von sowohl abtrennbaren (selbstständigen), als auch unbeweglichen Dingen“ handelt,75 ist für Hamann letztlich Ausdruck einer symbolischen Ordnung; ihre Erkenntnisse sind kulturelle Akten, welche von der Sprachgeschichte, verstanden als die unzähligen Geschichten verschiedener Sprachen, protokolliert und durch diese Protokollierung konstant moduliert werden. Metaphysische Erkenntnisse handeln paradoxerweise also von dem, wovon sie sich zu distanzieren suchen: von einer sekundären Abhängigkeit, die etwas braucht, das ihr ein Gesicht gibt. Die Rhetorik der Metaphysik verleiht dem Sein eine Stimme, das es aber so nach Hamann nur in der Sprache gibt. Deshalb kann er die Vermutung wagen, dass die ganze Philosophie bis zu einem gewissen Grad von derjenigen Sprache bestimmt ist, mit der philosophiert wird. die eben so gut gegeben werden müßen und nicht aus der Luft geschöpft werden können als die alten Elemente.“ (ZH VII , 173,8–17). 74 ZH V, 213,7–13 (an Johann Gottfried Herder, 15. September 1784). 75 Aristoteles: Metaphysik, 1026 a.
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Bei der Frage nach der Geltung metaphysischer Begriffsgebäude kann nach Hamann eine Prüfung und Rechtfertigung nur eine sprachkritische sein, weil die Genese dieser Erkenntnisgebäude von rhetorischen Figuren und Strategien durchsetzt sind. Die impliziten Beweggründe der als Tathandlungen verstandenen Sprachhandlungen, mit denen die Metaphysik operiert, geben Aufschluss über die Abläufe, mit welchen Begriffe gestiftet werden, sie informieren also darüber, wann und von wem die Begriffsgebäude mit welchem Begehren und Interesse aufgebaut und initiiert werden. Begriffe haben erst dann Bedeutung, wenn sie kulturell Bedeutung erfahren, so sie also gemeinschaftlich im Alltag in Gebrauch sind und gemeinhin gebraucht werden, wie Hamann mit einem Verweis auf George Berkeley und David Hume einleitend in der Metakritik hervorhebt.76 Ihre Bedeutung und Bedeutsamkeit ist jedoch einem ständigen Wandel unterworfen. Als eine Scheinwissenschaft produziert die Metaphysik nach Hamann nicht nur die falschen Antworten, sondern richtige Antworten auf falsche Fragen. Ihr Problem liegt in ihrem Lehrgebäude und in ihrem Jargon, der Fragen hervorgebracht hat, die für Hamann das Böse schlechthin darstellen: Denn „[e]s ist ein größerer Atheismus Gottes Daseyn beweisen, als leugnen zu wollen“.77 So wie die Fragen, die die Vernunft bedrängen, so sehr sind auch ihre Lösungsversuche nur aus der Genealogie des Rhetorischen zu begreifen. Denn das den Sprachen Äußere, die unveränderliche Wirklichkeit, kann nur insofern bedeutsam sein, sofern sie sich als Übersetzung und demnach in der Materialität bedeutet. Das ist das Programm, das Hamann gegen die Instrumentalisierung von Sprache setzt, die er auch „Sophisterey“ nennt; Hamann verwendet gerne diesen antirhetorischen Gemeinplatz, um die Scheinargumente seiner Widersacher zu diskreditieren, obwohl er sich selbst bisweilen als Sophist bezeichnet. Gegen die Verführungen der Sprache, die um sich greifen, hilft nach Hamann nur diejenige Kraft, welche im Sichzeigen von Natur und Schrift und in der Materialität von „Sachen und Dingen“ liegt. Übersetzt sich ihm diese sprachlose Beredsamkeit der Dinge nicht, dann verbleibt für ihn auch nur mehr eine Rhetorik, die als ein Negatives beredt ist.78 76 Vgl. N III , 283,1–17 (Metakritik über den Purismus der Vernunft). Vgl. Josef Simon: Kant.
Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003, hier S. 238–242; Bayer: Vernunft ist Sprache (wie Anm. 30). S. 216–238. 77 ZH VI , 339,33–34 (an Johann Gottfried Herder, 2. April 1786). Vgl. dazu Johannes von Lüpke: „Über Protestantismum, Catholicismum und Atheismum“. Konfessionelle Vielfalt und Einheit in der Sicht Hamanns. In: Acta 2006, 173–195, hier 186. 78 Vgl. ZH VII , 177,23–26 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Mai 1787): „Alle übrige Beredsamkeit ist Sophisterey, die sich durch reine gute Worte nicht widerlegen läßt, sondern
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In diesem Sinne ist ein anderes Denken einer kommenden Grammatik nur zu haben, so die machtförmigen Figurationen, welche das Denken der Metaphysik prägen und sich in ihren Jargons ausprägen, suspendiert werden. „Es fehlt uns also noch immer an einer Grammatik der Vernunft, wie der Schrift und ihrer gemeinschaftlichen Elemente“.79 Diese kommende Grammatik wäre eine Grammatik der Leidenschaften, die er als Programm gegen die Rhetorikphobie der Metaphysik in Stellung bringt, die vorrangig eine Phobie gegenüber der unkontrollierbaren Materie ist. Eine so aufgefasste Grammatik hätte triadisch gegliedert zu sein, „wie Licht, Auge und alles, das jenes diesem offenbart, oder wie Mittelpunct, Radius und Peripherie jedes gegebenen Circuls, oder wie Autor, Buch und Leser.“80 Wie diese kommende Grammatik strukturiert wäre, muss offen gehalten bleiben, einzig evident sein dürfte, dass sie sich in Analogie zu dem verhält, was im Zitat als Einheit, Vielheit und Relation thematisiert wird. „Licht“, „Mittelpunkt“ und „Autor“ bilden als Gott die absolute Referenz, um deren Mitte sich alles gruppiert. Der Radius markiert den Abstand zwischen Peripherie und Mittelpunkt, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, zwischen Inseln und Festland. Während das Buch all das darstellt, was die Leser vom Autor vermittelt „durch den Menschengriffel der heiligen Männer“81 als Tradition wissen können, stiften die durch die Sinne und Leidenschaften wahrgenommenen Bilder eine unmittelbarere Relation zum Geist und Licht Gottes. Die Schöpfung ist die Welt, die jener den Lebewesen sinnlich wie intuitiv offenbart. Eine Grammatik, und sei es eine vom Ende her geschriebene, hat immer auch eine Grammatik nicht nur der Vernunft und Schrift, sondern auch der Handlung selbst zu sein, die nicht nur diskursiv mittels gemeinsamer Regeln, sondern eben auch mittels Bilder, Leidenschaften und Empfindungen von Anderen verstanden werden sollen. Dieser Gemeinsinn, mit dem sich ein Kanon an rhetorischer Figuren gebildet hat, ist gleichzeitig Werk wie Autor der Fragen, die uns alle betreffen. Werden durch Sprachhandlungen Menschen verbunden, entwickeln sich in diesen Handlungen Gemeinplätze der Rede, die ihren Ort in der Topik und Rhetorik haben, dann ist der Ort des Menschen angesprochen, der nur der der Gemeinschaft sein kann. So wie die Rhetorik ihre Anlässe im konkreten Leben vorfindet, sei es als genus iudiciale im Gericht, als genus deliberativum in der Politik oder als genus durch die Kraft der Sachen und Dinge. Fehlt mir die, so will ich lieber Schweigen und dadurch zu Schanden werden, als durch misliches Reden und Schreiben.“ 79 ZH V, 272,10–12 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784). 80 ZH V, 272,14–16 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784). 81 N II , 171,5 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe).
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demonstrativum im alltäglichen Lob oder Tadel,82 so lässt sich auch keine Redesituation innerhalb der Alltagsrealität denken, die nicht irgendwie durch Tropen und Figuren geprägt wäre. Nur eine Auffassung von Vernunft, der Wahrheiten und Inkonsistenzen gleichkonstitutive Begriffe und der intellektuelle und alltägliche Erfahrungen und Probleme gleichbedeutend sind, wird eine sein, die das Logische nicht gegen das Rhetorische, das Mentale nicht gegen das Sinnliche ausspielt. In diesem Sinne wirft Hamann den rationalistischen Theologen seiner Zeit in der Aesthaetica in nuce vor: „Versteht ihr den Buchstaben der Vernunft klüger, als jener allegorische Kämmerer der alexandrinischen Kirche den Buchstaben der Schrift“.83 Geradezu apodiktisch fügt er dem einige Zeilen weiter unten hinzu: Leidenschaft allein giebt Abstractionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge – – Wo sind schnellere Schlüsse? Wo wird der rollende Donner der Beredsamkeit erzeugt, und sein Geselle – der einsylbichte Blitz – –84
Indem Erkenntnisse erfahren sein wollen, bevor sie mittels Beweisverfahren wie Hypothesen, Schlüsse oder Abstraktionen reflektiert werden können, zielt Hamanns Entidealisierung der Vernunft auf eine Aufwertung dessen, was als ein Wissen um ein Erfahrungswissen zu bezeichnen wäre. Genau dasjenige Wissen um dieses Erfahrungswissen, was einem solchen Verständnis zufolge Sprachen als Übersetzung bedeuten, reflektiert Hamanns Werk im Allgemeinen, seine Aesthaetica in nuce wohl im Besonderen. Was ihn hier einmal mehr zu einer so kompromisslosen Kritik veranlasst, ist einfach erklärt: Jeder Widerstand gegen den ‚rollenden Donner der Beredsamkeit‘, welcher nicht bloß die Instrumentalisierung der rhetorischen Figuren für persuasive Zwecke meint, ist ein Widerstand gegen die Sprache selbst, also ein Widerstand gegen die sinnliche Präsenz derer, die sprechen, also Widerstand gegen die, die angesprochen werden. Die Sprache der Natur wie die der Menschen spricht entweder durch Sinne oder durch Leidenschaften. Das Kriterium für die Verbindung von Menschen in der Rede ist am Beispiel von Leidenschaften etwas, was einen berührt oder etwas angeht. Leidenschaften benennen einen Affekthaushalt, der Kräfte freisetzt, die verbindlich sein können, weil körpergebundene Leidenschaften (wie Schmerz, Hunger, Freude etc.) eine universell gültigere Dimension besitzen, als es abstrakte 82 Aristoteles: Rhetorik, 1356 b–1359 a. 83 N II , 208,12–14 (Aesthaetica in nuce). 84 N II , 208,20–24 (Aesthaetica in nuce).
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Ideen je haben könnten. Ideen müssen nicht nur nicht dasselbe meinen, sondern können zudem dem einen viel, dem anderen jedoch nichts sagen, ohne bloß individuell zu sein. Der Gemeinsinn, der Sprache heißt, ist ohne die Leidenschaftlichkeit der Rhetorik von Sprache nicht zu haben, will er nicht nur normativ sein, sondern auch verbindlich wirken.85 Mit dieser Form der Erkenntnis als eine sich übersetzende Erfahrung korrespondiert ein Begriff von Wissen, darauf hat Cicero hingewiesen, der den engen Rahmen des Gemeinsinns als Klugheit (prudentia) übersteigt (als das, was entweder zu meiden oder zu erstreben sei), ohne sein Paradigma damit zu verlassen. Es ist ein Wissen im Sinne der antiken Weisheit (sophía) als das „Wissen von den göttlichen und den menschlichen Dingen, auf dem die soziale Kompetenz der Götter und Menschen und ihre Verbindung miteinander beruht“.86 Dieses Wissen als ein Wissen in Beziehung kann es nur geben, wenn in der Betrachtung der Natur ein ihr proportionales Handeln (actio) statthat, das der „Gemeinschaft aller Menschen“ (societatem generis humani) zugutekommt. Gerade in dieser affektiven Intersubjektivität zeigt sich das eine „Wort“, das sich „durch unendliche“ viele Wörter nicht umschreiben lässt, obwohl es wiederum in diesen als deren irreduzible Bedingungswirklichkeit bedeutsam wird. In einer sinnlichen Präsenz, die im hic et nunc erfahren sein will, wird intersubjektiv etwas geteilt, das die Basis für ein Bewusstsein einer gemeinsamen Wirklichkeit zu bilden vermag. In den „Erscheinungen der Leidenschaften […] der menschlichen Gesellschaft“ lässt sich nach Hamann beobachten, wie singuläre Ereignisse plurale Bedeutung haben und eine Gemeinschaft stiften können; „wie alles, was nicht so entfernt ist, ein Gemüth im Affect mit einer besonderen Richtung trift“.87 Denn ausschließlich in 85 Vgl. Kreuzer: Über den inneren Sinn, Laute und Buchstaben (wie Anm. 30), S. 131:
„Letztlich geht es […] um den ,sensus communis‘, der Sprache ist – der sich also in ihr nicht bloß ,abbildet‘.“ 86 Cicero: De officiis, I,153. „[…] ilia autem sapientia, quam principem dixi, rerum est divinarum et humanarum scientia, in qua continetur deorum et hominum communitas et societas inter ipsos […]. Etenim cognitio contemplatioque naturae manca quodam modo atque inchoata sit, si nulla actio rerum consequatur. Ea autem actio in hominum commodis tuendis maxime cernitur. Pertinet igitur ad societatem generis humani. Ergo haec cognitioni anteponenda est.“ 87 N II , 208,26–29 (Aesthaetica in nuce). Dass sich Menschen verstehen, ist nicht dadurch gesichert, dass sie miteinander sprechen, wie Hamann in dem besagten Brief vom 27. April 1787 an Jacobi schreibt: „Wenn man sich nicht einander verstehen will noch kann: so hilft alles Reden nichts, sondern macht nur das Uebel ärger. Je mehr Worte, desto mehr Stoff zu Misverständnißen; Worte ohne Begriffe und Begriffe ohne wirkliche Gegenstände?“ (ZH VII , 169,9–12).
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der intersubjektiven Beziehung von Menschen zu Menschen in ihrer Beziehung zu Gott kann sich eine Weisheit übersetzen, die nicht bloße Erkenntnis ist – an Jacobi heißt es dazu: „Du und Er ist im Singulari und Plurali“.88 Der Affekt für das Wort wird ‚mit einer besonderen Richtung‘ von denen erfahren, die sich ‚nicht so entfernt‘ voneinander in einer Gemeinschaft organisieren, in der, wie in Hamanns Texten, viele Sprachen gemeinsam, gleichzeitig und durcheinander sprechen. Aus Hamanns Auffassung einer rhetorisch figurierten Vernunft, deren Bestimmung es ist, solange Kritik zu treiben, „bis wir auf den Anfang und Ursprung und das olim wider zurück und zu Hause kommen“,89 ergibt sich die Konsequenz, dass Sprache und Vernunft als Einheit in der Differenz zu verstehen sind, „die durch einander gehen, wie die Sayten auf dem Psalter durcheinander klingen, und doch zusammen lauten.“90 Den Weltbezug als die über die Endlichkeit vermittelte Beziehung zu Gott im Denken systematisieren und von der materiellen Faktizität seiner Kondeszendenz abstrahieren zu wollen, die sich in der sinnlichen Präsenz von Natur und Kultur zeichenhaft bedeutet, hieße ihm zufolge einen idealistischen Fehlschluss in Anbetracht der fragmentierten Selbsterkenntnis zu begehen, deren Endlichkeit sich nicht in einem von Erfahrung purifizierten Grund unserer Erkenntnis eskamotieren lässt. Die Bedingungsmöglichkeit von Erfahrung sieht er in der Indifferenz der Differenzen, im Zusammenfall der auseinander dividierten Stämme von Sinnlichkeit und Vernunft, von Rhetorik und Philosophie, von Bezeichnetem und Bezeichnendem, von Sichzeigen und Anzeigen als Prinzip Sprache gegeben, das theologisch als Wort Gottes und als eines in der stummen Wirklichkeit der Natur realisiertes und in der Vergänglichkeit der Geschichte zwischen Anfang und Ende eingegliedertes verstanden wird, ohne natürlich darin in seiner Totalität aufzugehen. Mit Blick auf das „principium coincidentiae“, das von Giordano Bruno tradiert und von Nikolaus von Kues als „coincidentia oppositorum“ gestiftet wurde, entwickelt Hamann eine beziehungsreiche und graduell geordnete Auffassung von Welt: Nichts scheint leichter als der Sprung von einem Extrem zum andern, und nichts so schwer als ihre Vereinigung zu Einem Mittel. […] Diese Coincidenz scheint mir immer der einzige zureichende Grund aller Widersprüche – und
88 ZH VII , 181,13 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 3. Mai 1787). Was an diesem Gedanken
noch heute eminent aktuell ist, zeigt Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein. Zürich/Berlin 2004. 89 ZH VII , 173,4–5 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 29. April 1787). 90 ZH V, 272,12–13 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 1. Dezember 1784).
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der wahre Proceß ihrer Auflösung und Schlichtung, allem Fehd der gesunden Vernunft und reinen Unvernunft ein Ende zu machen.91
Die Differenzen und Widersprüche der Vernunft werden im Wort nicht aufgelöst oder vermischt, sondern spannungsreich in Beziehung gesetzt. Die Vielheit seiender Wirklichkeit kann nicht sein, so sie nicht auf Basis des vorgeordneten Wortes sinnfällig wird. Obwohl das Wort als das rückbezügliche Prinzip des Erscheinens sich gegenüber einer endlichen Vernunft sperrt, wird es von ihr in den konkreten Erscheinungen sinnfällig erfahren. Sinngemäß dazu notiert Hamann in einer Stelle, die sich gegen den Substanzbegriff des Spinozismus richtet: „Die endlichen Dinge sind Modificationen des unendlich Gedachten und unendlich Fühlbaren.“92 Das Wesen der Sprache, verstanden als der eine und einzige Stamm der Erkenntnis, besteht gerade in der Ambiguität, gleichzeitig ein „ästhetisches und logisches Vermögen“ zu besitzen.93 Die Differenz zwischen der Rezeptivität der Wahrnehmung und Spontaneität des Intellekts soll nicht abstrahiert, sondern als Übersetzung in Beziehung gesetzt werden. Hamanns Idee der Sprache denkt das Verhältnis der Sprachen zum Wort, von Vernunft und Sprache als ein Verhältnis von Intensitätsgraden und Bezügen, die einander durchwalten und ineinandergreifen. Ohne Materie, die sich als Laut oder mediatisiert als Graphem sinnlich wahrnehmen lässt, gibt es keine Wörter, die bedeutsam werden könnten. Die bedeutungstragenden Medien sind ohne materielle Formgebung, mit denen sie sich hören oder sehen lassen, bedeutungslos. Natur wird der Vernunft nicht als ein Anderes entgegengesetzt, sondern letztere wird als Teil von ersterer verstanden. Sprache im Sinne des göttlichen λόγος ist einem solchen Verständnis zufolge als Bild und Gleichnis, Allegorie und Zeichen der Ort und das Datum der inte gralen Koexistenz von Innen und Außen, Ästhetik und Logik, Rede und Vernunft (oratio und ratio).94 Das Wort Gottes (verbum) oder die Sprache im Singular ist 91 ZH IV, 287,5–17 (an Johann Gottfried Herder, 29. April 1781). Vgl. hierzu Nikolaus von
Kues: De beryllo, c. 7 (h 2XI /1, n. 8): „Wenn wir durch den Beryll die Teilung sehen, wird so die unteilbare Verknüpfung Gegenstand sein. So auch bezüglich der Proportion, der Beziehung, der Schönheit und derartigem.“ [„Sic si per beryllum videmus divisionem, erit obiectum conexio indivisibilis; ita de proportione et habitudine et pluchritudine et talibus.“] 92 ZH V, 326,35–36 (an Friedrich Heinrich Jacobi, 16. Jänner 1785). 93 N III , 288,1 (Metakritik über den Purismus der Vernunft). 94 Der antike lógos, mit dem seiner Doppeldeutigkeit zufolge sowohl die konkrete Rede (oratio) als auch die intelligible Struktur (ratio) thematisiert sind, ließe sich durchaus mit ratio übersetzen. Das Wort ‚ratio‘ wäre ein Wort, welches Geistiges bedeutet.
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das in den disparaten und endlichen Sprachen wirkende Prinzip (operativa potentia) ihrer Erscheinung. Die Pluralität und Vielstimmigkeit der Sprachen versteht Hamann als die erscheinende Wirklichkeit des schöpferisch gedachten Wortes. „Auch wenn es“, wie Jürgen Trabant festhält, „bei Hamann nicht um Rhetorik geht, performativer, also wirksamer, kann man die Sprache nicht denken: Als Gotteswort ist das Sprechen die Quelle alles Seins. Das Sprechen ist hier – sozusagen prä-rhetorisch – in seiner alten magischen Funktion welterschaffendes Wort.“95 Dass es bei Hamann nicht um Rhetorik geht, lässt sich so nicht sagen, weil sein Begriff der Rhetorizität von Sprache eben dort ansetzt, wo der Metadiskurs der Rhetorik endet, der als ein System von Handlungen und Regeln erlernbar wäre. Das kann man, wenn man so will, als ‚magisch‘ im Sinne von ‚performativ‘ bezeichnen. Treffender wäre wohl darin das zu sehen, was sich übersetzend gibt und in Erscheinung tritt, ohne sich propositional zu fügen, weil die Grenzen zwischen mentalen und sinnlichen, kognitiven und affektiven Bezirken auf Die Entscheidung, dass im Zuge der von Hieronymus geleisteten Vulgata-Übersetzung der Bibel, welche die bis dahin gültigen lateinischen Versionen (Vetus Latina) ablösen sollte, für λόγος (Joh 1,1) die lateinische Entsprechung verbum gewählt wurde, beruht auf einem Einwand von Augustinus, der hinsichtlich der im Wort ausgesprochenen bewirkenden und gestalterischen Potentiale (operativa potentia) für verbum plädiert. Denn durch den Verstand (ratio) allein geschieht nichts, wie Augustinus festhält. „Ratio autem, etsi nihil illam fiat, recte ratio dicitur.“ (Augustinus: De diversis quaestionibus, LXIII q. 63) Hätte man, im Sinne eines instrumentellen oder rechnenden Denkens, ratio für den Ursprung des Mythos gewählt, dann wäre „im Anfang“, wie Johann Kreuzer ausführt, „nicht das Wort, sondern – sofern ‚ratio‘ von ‚reri‘ = rechnen herrührt – die Logistik“ (Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie. München 2000, S. 207, Anm. 2). Thomas von Aquin rekapituliert in seiner Super Evangelium S. Ioannis lectura die Beweggründe von Augustinus dahingehend, dass sich im Begriff ratio nur die „Erfassung des Geistes“, also „das Dasein des Sohnes im Vater“ ausdrückt, ohne dass jedoch der „Bezug auf das Außen mitausgesagt“, also ohne dass auf die wirkmächtige und „schöpferische Macht des Sohnes, sofern durch ihn alles gemacht ist“, hingedeutet wird. [„Dicendum quod ratio proprie nominat conceptum mentis, secundum quod in mente est, etsi nihil per illam exterius fiat; per verbum vero significatur respectus ad exteriora: et ideo quia Evangelista per hoc, quod dixit logos, non solum intendebat significare respectum ad existentiam Filii in Patre, sed etiam operativam potentiam Filii, qua ‚per ipsum facta sunt omnia‘ […].“] (Thomas von Aquin: Das Wort. Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums. Einführende Schriften, Bd. 1, Lat.–dt., hg. von Hans-Gregor Nissing und Berthold Wald. München 2017, I , 1 n. 32). 95 Jürgen Trabant: Die Rückkehr der Philosophie zu Rede und Dialog: Vico, Hamann, Herder, Humboldt. In: Handbuch Rhetorik und Philosophie. Hg. von Andreas Hetzel und Gerald Posselt, Berlin/Boston 2017 (= Handbücher Rhetorik, Bd. 9), S. 217–237, hier S. 229.
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Bewegungsgründen beruhen, die als Haltungen gleichzeitig Wahrheitsgründe zu sein haben. Diese sich übersetzende Pluralität reflektiert die radikal und bis zur Unverständlichkeit ausgereizte Polyphonie, für die sein Stil und seine Schreibart steht. Das verdeutlichen nicht nur die unzähligen Wörter aus diversen Sprachen, die er, bisweilen orthographisch entstellt, in seine Texte integriert, sondern natürlich auch sein Centostil, mit dem er die Sprachentfremdung, als deren Ursprung und Monument der Turmbau zu Babel firmiert, multipel in seine Texte bannt. Wo bei Hamann ein Wort zugegen ist, da steht nicht nur eine verborgene Bibliothek, sondern auch ein ungeschriebener Bedeutungszusammenhang, der sich vom Ende her bestimmt. Seine Texte treten nicht nur mit Anderen ins Gespräch, vielmehr greift in seinen Texten das Andere im buchstäblichen Sinne Raum, dass selten als geklärt gelten darf, wer überhaupt mit welcher Zunge über wen oder was spricht. Kritik wie Kommentar atmen, wie Sprache überhaupt, durch ein Cento.
V. Dieses der ursprünglichen Bedeutung des Wortes λόγος verpflichtete Bekenntnis zum Wort weist nicht zuletzt zurück auf das, was Cicero als die grundlegende Basis für menschliche Solidarität und für das Gelingen ihrer Vergemeinschaftung bestimmt hat. Das die Menschheit verbindende Moment sind Vernunft und Rede (ratio et oratio), die als principia und vinculum in intersubjektiven Verhältnissen, sofern Menschen mittels Lehren (docendo), Lernen (discendo), Mitteilen (communicando), Argumentieren (disceptando) und Urteilen (iudicando) in Beziehung treten, diese natürlich miteinander verbinden. Der Kern ihrer Bedeutung dürfte in dem paradoxen Umstand liegen, dass sie gleichermaßen Produkt und Produzent menschlicher Vergemeinschaftung (societas hominum) sind. An diesen Aspekt knüpft sich eine Art Maxime ethischen Handelns, die Cicero gewissermaßen anthropologisch definiert: „Am besten aber dient man der menschlichen Gemeinschaft und Verbundenheit, wenn man den Grad der Verbundenheit zum Maßstab für den Umfang der guten Tat nimmt.“96 Sprache und Vernunft in ihrer komplementären und konstitutiven Bezüglichkeit sind es, denn ohne die könnte es keine Bindung geben, die Verbundenheit des Einzelnen zur Gemeinschaft und der Gemeinschaft aus Einzelnen stiften, bewahren und stetig erneuern.
96 Cicero: De officiis, I ,50. „Optime autem societas hominum coniunctioque servabitur, si,
ut quisque erit coniunctissimus, ita in eum benignitatis plurimum conferetur.“
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Die Geschichte der Philosophie kennt seit der Antike den kaum zufälligen Widerspruch, dem zufolge nicht wenige von den Sprachhandlungen, welche eine Kritik an der Rhetorik formulieren, gleichzeitig zu den avanciertesten Zeugnissen der Geschichte der Redekunst zählen. Für Cicero, der auf dieses Paradox hinweist, offenbart sich Platon, indem er einerseits von der Nutzlosigkeit der Rhetorik und andererseits von der Bedeutung der Wahrheit zu überzeugen weiß, gerade als einer, der zu den „weitaus wirkungsvollsten und gewandtesten von allen Redner“ zu zählen ist.97 Philosophie kann nämlich gar nicht anders, so sie überzeugend praktiziert und tradiert sein will, als sich sprachlicher Ausdrucksmittel zu bedienen, die bis zu einem gewissen Grad subjektive Begriffe sind, will sie ihr Geschäft nicht bloß in dekontextualisierten Urteils- oder Schlussformen internalisieren. Sie bleibt also, obwohl sie bisweilen versucht ist, durch Konzepte mentalistischer Universalsprachen eine kritische Distanz zur Rhetorik zu gewinnen, an ein Paradigma der Rhetorizität von Denken gebunden. Die folgenreiche Isolierung der Praxis von Denken und Sprache und ihre daraus resultierende Institutionalisierung in zwei unabhängige Disziplinen resultiert aus dem Umstand, dass die Verstrickung von Philosophie in den Alltag politischen Engagements nicht selten, wie Cicero hervorhebt, kritisch bewertet und mit Spott bedacht wird.98 Allen voran die an Sokrates anschließenden Schulen sind es, die sich in der Hinsicht hervorgetan, beziehungsweise diese Entwicklung vorangetrieben haben. „Daher kam es zu jener freilich widersinnigen, nutzlosen und tadelnswerten Spaltung von – um es so zu sagen – Zunge und Herz, so dass die einen uns lehrten, den Verstand zu gebrauchen, andere das Reden.“99 Mit dem Bekenntnis zu „Herz“ und „Zunge“ steht ein Verständnis von Philosophie und Sprache zur Disposition, das nicht nur Logik und Rhetorik, sondern die ganze sinnliche Wirklichkeit des Menschen, sein Denken gleich wie sein Leiden und seine Leidenschaften adressiert. Auf Basis einer solchen Auffassung, in der Ästhetik und Logik zusammentreten, kann in der Rede sich etwas geben, dass als ein Ethos der Rede zu bezeichnen wäre. Die Einsicht, dass Vernunft und Sprache nicht separat zu nehmen sind und dass die Bedeutungen von Wörtern sowohl geschichtlich als auch kontextgebunden sind, diskutiert Hamann nicht zuletzt mit aller leidenschaftlichen Härte der Polemik in seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem, oder über
97 Cicero: De oratore, I ,47. „[…] omnim in dicendo gravissimo et eloquentissimo“. 98 Vgl. Cicero: De oratore, III ,59–62. 99 Cicero: De oratore, III ,61. „Hinc discidium illud extitit quasi linguae atque cordis,
absurdum sane et inutile et reprehendendum, ut alii nos sapere, alii dicere docerent.“
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religiöse Macht und Judentum, die sich in seiner Schrift Golgatha und Scheblimini! von 1784 niedergelegt findet: Das sittliche Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen gründet sich auf den natürlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache; die sittliche Nothwendigkeit, sein gegebenes Wort zu erfüllen, darauf, daß unsere innere Willenserklärung nicht anders als mündlich oder schriftlich oder thätlich geäußert, geoffenbart und erkannt werden kann, und unsere Worte, als die natürlichen Zeichen unserer Gesinnungen, gleich Thaten, gelten müssen. Vernunft und Sprache sind allso das innere und äußere Band aller Geselligkeit, und durch eine Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt hat, wird Glaube und Treue aufgehoben, Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseeligkeit gefirmelt und gestempelt.100
Sprache und Vernunft bilden auf Basis ihrer „Einsetzung“ in der Natur eine Einheit, als deren Urheber Gott firmiert. Mit ihrer Separation implodiert einerseits Gerechtigkeit und Soziabilität, andererseits restringiert sich Glück zu etwas, was Werk der Täuschung und Falschheit ist. Die Frage nach der moralischen Tugend einer Handlung ist die Frage nach dem Sinn und der Gestaltung einer Sprache, die den Anspruch des Wortes zu erfüllen hat. Eine moralische Handlung untersteht hinsichtlich ihres sittlichen Vermögens, als das Vermögen mittels Affirmation oder Negation sich auf etwas zu beziehen oder mit einem Anderen in Beziehung zu treten, dem Gesetz des Gebrauchs (usum), nicht dem des Rechts, wie von Mendelssohn behauptet. Das Gesetz des Gebrauchs ist das Naturgesetz der Sprache, das wiederum die Rechte auf Güter und Mittel der Gerechtigkeit entsetzt, so dass jede menschliche Rede, verstanden als eine Reaktion auf das Wort, implizit und notwendig eine Aktion des Wortes bildet. Jede Sprachhandlung antwortet als Präfiguration von Denken, Selbst- wie Weltbezug dem einen Sprechakt, der Weltschöpfung meint. Unter Gebrauch versteht Hamann nichts anderes als das, was von Hume als „kulturelle Gewohnheit“ (custom) bezeichnet wurde.101 Der Gebrauch von Vernunft und Sprache stellt kein Mittel zum Zweck der Glückseligkeit dar, welches einem äußeren Gesetz untersteht, sondern manifestiert ein innermediales Vermögen, das dem Menschen in seiner Verpflichtung dem Wort gegenüber zum Maßstab einer Sprachhandlung wird. Nicht allein als ein ‚ästhetisches und logisches‘ Vermögen, in dem sich Sinn und Geschick bedeutet, so 100 N III , 300,25–36 (Golgatha und Scheblimini!). 101 Vgl. David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding and Other Writings.
Hg. von Stephen Buckle. Cambridge 2007.
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eine Mitteilung schicklich und sinnig ist, auch als ein politisches und sittliches sind Wörter zu nehmen, weil sich an ihnen die Gesinnungen und Haltungen der Innerlichkeit mitteilen, die sich in Handlungen und Thaten ausdrücken. Weil in Wörtern unsere Wertvorstellungen äußerlich werden, die als ein Ensemble rhetorischer Handlungen diesen zu entsprechen haben, steht die Wahl zwischen Vernunft oder Sprache nicht zur Diskussion. Das eine Vermögen ist ohne das andere nicht zu haben, wie die drei aneinandergereihten Textstellen aus Ciceros De officiis verdeutlichen sollen, die Hamann daran anschließend zitiert.102 So wie es von Natur aus kein Privateigentum gibt und der Besitz von Gütern nur in Rekurs auf eine Inbesitznahme (occupatione) zu denken ist, so lässt sich auch die Sprache im Recht nicht rationalisieren, ohne dass damit die Natur der Sprache und die Sprache der Gemeinschaft reduktionistisch durchkreuzt werden.103 Ausgehend von diesen Überlegungen ist der Missbrauch von Sprache zu verstehen, den Hamann an Mendelssohns widernatürlichen Konventionalismus urgiert, mit dem nicht nur der natürliche Gebrauch und die natürlichen Zeugnisse der Sprache entfremdet, sondern auch Innen und Außen, Wort und Sache aufgespaltet werden. Eine so verstandene Auffassung von Sprache, die als eine Neutralisation der Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem das „Recht der Natur, sich des Worts, als des eigentlichsten, edelsten, und kräftigsten Mittels zur Offenbarung und Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung zu bedienen“,104 hintertreibt, zieht Konsequenzen nach sich, die eminent politisch sind. Denn die von Mendelssohn vollzogene Objektivierung von Sprache, die in den Begriffsbestimmungen von „Vermögen“, „Mittel“ und „Güter“ deren machtförmigen Charakter verleugnet, exekutiert erst die Sprachverwirrung, auf Basis dessen er wiederum Staat und ihre Rechtssphäre umschreiben und neu bestimmen kann. Vor diesem Hintergrund ist Hamanns leidenschaftliche Rhetorik der Kritik zu sehen, die mit einer Kaskade an Superlativen eine Verteidigungsrede der Sprache vorträgt, mit der am Beispiel der Instrumentalisierung von Sprache und der Inanspruchnahme von Gewalt durch das Recht eine Legitimierung atta102 Vgl. N III , 300,37– 301,2 (Golgatha und Scheblimini!); Cicero: De officiis, I ,23, I ,50 u. III ,75.
103 Die Einsicht, dass das Eigentum als Ursünde für die menschliche Entfremdung verant-
wortlich zu machen ist, wurde wohl am eindrücklichsten von Jean-Jacques Rousseau und Karl Marx vorgetragen: Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité. Hg. von Heinrich Meier. Paderborn et al. 31993 (= UTB für Wissenschaft, Bd. 725), S. 172–173; Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: ders. und Friedrich Engels: Marx Engels Werke. Bd. 23. Berlin 1962, S. 102. 104 N III , 301,23–25 (Golgatha und Scheblimini!).
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ckiert wird, die nach Hamann nichts weniger als falsch und böse ist. Mendelssohn (und mit ihm die ganze Berliner Aufklärung) mache sich durch den Despotismus seiner Objektivitätsphantasmen des „gröbste[n] Meineids“ schuldig, so dass er als „Übertreter dieses ersten Gesetzes der Vernunft und ihrer Gerechtigkeit zum ärgsten Menschenfeinde, Hochverräther und Widersacher deutscher Aufrichtigkeit und Redlichkeit“105 nur zu verurteilen wäre. Im Namen einer Gerechtigkeit, die als Sprachgerechtigkeit zu nehmen ist, spricht Hamann hier einem Deutschtum das Wort, das unter Zunahme der polemischen Rhetorik selbst Gefahr läuft, nur eine Gerechtigkeit der deutschen Sprache zu sein.106 Wenn etwas aus Ciceros Theorie von Pädagogik und Vergesellschaftung zu lernen ist, dann dies, dass die prekäre, stets instabile Verbundenheit von Menschen zu Menschen ohne die Bande von ratio und oratio nicht denkbar und ihre Isolierung voneinander folgenreich wäre. Implizit ist dieser Ansicht die Einsicht, dass jede Form der Vergemeinschaftung ein Ausdruck einer Medienwirklichkeit ist, die sich in Wahrnehmungen und Mitteilungen auszubilden hat. Naturgemäß ist es hierbei von eminenter Bedeutung, wie beziehungsweise auf welcher Basis und mit welchem Selbstverständnis sich Wahrnehmungen und Mitteilungen formieren. Ein Echo dieser ethischen Lehre lässt sich nicht nur bei Hamanns Theorie der Gemeinschaft vernehmen, bereits in der von Johannes von Salisbury formulierten Kritik an der schuldialektischen Marginalisierung von Logik und Rhetorik stiftet sie den theoretischen Ort, von dem aus eine Neubestimmung der Pädagogik formuliert wird. Salisbury, den Ernst Robert Curtius als eine „der anziehendsten Erscheinungen des 12. Jahrhunderts, als Mensch wie als Schriftsteller“107 preist, geht in seinem Traktat Metalogicon davon aus, dass Vernunft und Sprache in der Natur verbunden sind. In diesem Sinne versteht sich der Titel mit Blick auf das griechische Wort λογική (lat. logica), in deren Praxis Denken, Sprechen und Handeln fallen, als Reflexion über die Logik von Grammatik und Argumentation, von Findungs- (inventio) und Urteilslehre (iudicium).108 Die Bedeutung der Schrift, 105 N III , 301,28–32 (Golgatha und Scheblimini!). 106 Zum Denken einer Sprache als Gerechtigkeit und einer Gerechtigkeit als Sprache vgl.
die vorzügliche Studie von Werner Hamacher unter dem Titel Sprachgerechtigkeit; zu Hamann besonders Werner Hamacher: Rechte, Glauben, Centologie. Mendelssohns Jerusalem und Hamanns Golgotha und Scheblimini. In: ders.: Sprachgerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2018, S. 194–253. 107 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 1969, S. 86. 108 Vgl. Ekkehard Eggs: Art. „Argumentation“. In: HWR h, Bd. 1 (1992), Sp. 914–991, hier Sp. 950–953.
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aus der eine gewaltige Belesenheit auf der Schwelle zwischen traditioneller (logica vetus) und moderner Logik (logica nova) spricht, besteht darin, eine Art Metalogik des aristotelischen Organons (Analytica, Topica, Sophistici elenchi) verfasst zu haben, die als analytische und topische Logik dazu dienen soll, ein rhetorisch informiertes und theologisch intendiertes Bildungsprogramm zu errichten. Der Anlass für dieses Unterfangen findet sich in einer Kritik an der Rhetorik, mit der er nichts weniger als die Grundfesten der Lehren des Triviums attackiert sieht, für die er stellvertretend einen bis heute nicht identifizierten Autor verantwortlich macht, der im Text ‚Cornificius‘ genannt wird. Mit Blick auf die von ihm attestierte, „entzückende und fruchtbringende Ehe von Vernunft mit dem Wort“ (dulcis et fructuosa coniugatio rationis et uerbi) lässt sich verständlich machen, warum der Metalogiker an seinem Beispiel so entschieden gegen diejenigen vorgeht, welche die Rhetorik im Vergleich zur Dialektik nicht gebührend berücksichtigen: Wer auch immer versucht ist, dasjenige zu trennen, was Gott für das Wohl aller zusammengefügt hat, sollte zu Recht als Staatsfeind verurteilt werden. Derjenige, der die Lehre der Beredsamkeit aus den philosophischen Studien streichen will, missgönnt Mercurius die Philologie und ringt der Philologie ihren geliebten Mercurius aus den Armen. Auch wenn er die Beredsamkeit allein anzugreifen scheint, untergräbt und entwurzelt er alle artes liberales, greift die gesamte Tätigkeit der Philosophie an, zerreißt das Band menschlicher Gemeinschaft und zerstört den Ort der Nächstenliebe und des gegenseitigen Austauschs von Diensten.109
Weil mit der Depotenzierung der Topik gegenüber der Dialektik nichts weniger als die Natur des Menschen und das Gemeinwesen der Menschheit auf dem Spiel steht, wird derjenige, der von ihr absieht, als Staatsfeind (hostis publicus) verdammt. Beinahe wortgleich und nicht minder entschieden, ohne die Stelle vermutlich gekannt zu haben, wird es ihm Hamann mit seiner Metakritik der szientistischen Erkenntniskritik gleichtun. In seiner 1781 notierten und zeitlebens 109 Ioannis Saresberiensis: Metalogicon, I ,1 827 b–c. „Haec autem est illa dulcis et fructuosa
coniugatio rationis et uerbi, quae tot egregias genuit urbes, tot conciliauit et foederauit regna, tot uniuit populos et caritate deuinxit, ut hostis omnium publicus merito censeatur quisque hoc quod ad utilitatem omnium Deus coniunxit, nititur separare. Mercurio Philologiam inuidet, et ab amplexu Philologiae Mercurium auellit qui eloquentiae praeceptionem a studiis philosophiae eliminat. Et quamuis solam uideatur eloquentiam persequi, onmia liberali studia conuellit, omnem totius philosophiae impugnat operam, societatis humanae foedus distrahit, et nullum caritati aut uicissitudini officiorum relinquit locum.“
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unveröffentlichten Rezension zu Kants Vernunftkritik steht eine Stelle, die ebenso entschlossen die „gewaltthätige, unbefugte Scheidung“ der Vernunft in mentale und sinnliche Gehalte kritisiert, also diejenigen Sphären, welche „die Natur zusammengefügt hat“.110 Um ihrer Argumentation eine größtmögliche Autorität zu verleihen, rufen beide in ihrer Kritik an der Scheidung dessen, was Gott zusammengefügt hat, mit Mt 19,6 eine Stelle aus der Bibel auf. Analog dazu gilt es die Differenz von Sinnlichkeit und Verstand als eine Spannungseinheit nicht aufgelöster Differenzen zu verstehen, die es wie die Ehe nicht nur zu erhalten, sondern stets zu erneuern gilt. Die von Cicero formulierte Klage gegenüber der philosophischen Auseinanderdividierung von „Zunge und Herz“ (discidium […] linguae atque cordis) wird bei Salisbury und Hamann so gesehen theologisch legitimiert. Demgegenüber bilden der Stein ihres Anstoßes, auch in dieser Hinsicht schließen sie an Cicero an, die Spezialisierungstendenzen von Bildung und Wissenschaft, mit denen ihnen zufolge ein geradezu blasphemischer Reduktionismus einhergeht: Während der eine den scholastischen Routinen und Lehrgebäuden einer sich in Scheingefechte verlierenden Vernunft entgegentritt, stellt sich der andere quer zu den um sich greifenden Rationalisierungstendenzen eines sich aufgeklärt wähnenden Begriffs von Philosophie, Theologie und Politik. Auf der einen Seite operiert ein Begriff von Philologie auf Basis einer Offenbarungslogik, in der die Einsichten meist unausgewiesen als Allusionen und Centos mobilisiert werden, weil sie für sich sprechen und aus ihnen das Wort sprechen soll, während auf der anderen eine Philologie im Zeichen einer humanistischen Pädagogik darum bemüht ist, den aus der Antike sich speisenden Bildungskanon der septem artes liberales allumfassend wachzuhalten – der besagte Bildungskanon wird, indem die Philologie eine Art Kartierung antiker Wissenslandschaft zeichnet, allein anhand der ausgewiesenen Werke überliefert. In seiner Auseinandersetzung mit der aristotelischen Schrift Perí Hermēneías (De interpretatione), in der er vorrangig den sich veränderten Gebrauch des Wor110 N III , 278,14–15 (Rezension zur Kritik der reinen Vernunft). Eine in der Aussage ver-
gleichbare Stelle findet sich bereits im Text Philologische Einfälle und Zweifel über eine akademische Preisschrift: „Die Philosophen haben von jeher der Wahrheit dadurch einen Scheidebrief gegeben, daß sie dasjenige geschieden was die Natur zusammengefügt hat und umgekehrt“. (N III , 40,3–5) In der Metakritik nimmt er diese Wendung wieder auf, wenn er mit Blick auf die „gemeinschaftliche[] Wurzel“ der „zwey Stämme der menschlichen Erkenntnis“ festhält: „zu welchem Behuf nun eine so gewaltthätige, unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat!“ (N III , 286,29–34).
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tes „Kontingenz“ diskutiert, an dem die Veränderung von Wissen deutlich werden soll, findet sich die berühmt gewordene Sentenz von Bernard de Chartres tradiert, an der Salisburys probabilistische Auffassung von Bildung und Wissen (scientia probabilium) sinnfällig wird: Bernhard von Chartres pflegte zu sagen, dass wir gleichsam Zwerge auf den Schultern von Riesen seien, weshalb wir mehr und weiter als diese sehen würden – indes nicht dank eines schärferen Sehvermögens oder einer größeren Statur, sondern weil uns die Größe der Riesen erhebt.111
Im Sinne der Topik darf das als notwendig und allgemeinanerkannt gelten, was uns ein Erfahrungswissen gelehrt hat, dass es wahrscheinlich eintreten wird. Weil die Möglichkeiten individueller Erfahrung kontingent und begrenzt sind, speist sich ein solches Wissen um Erfahrungen aus der antiken Tradition, auf deren Schulter es zu sitzen hat, so es nicht unwissend und irrelevant sein will. Das Wissen der Antike ist aber nur dann gegenwärtig, wenn es in der Lehre nicht bloß reproduziert, sondern verstanden wird. Obwohl sich ihr Bildungsideal unterscheiden mag, weil Hamann keinen evolutionären oder teleologischen Begriff von Weisheit und Bildung vertritt, geht es weder Salisbury noch Hamann darum, den Unterschied zwischen Rhetorik und Denken, Sprache und Vernunft nivellieren oder in einer differenzfreien Harmonie auflösen zu wollen. Es kommt ihnen vielmehr darauf an, diese in einem Beziehungsverhältnis lebendig zu halten. Oder anders, mit einem Chiasmus aus Ciceros Frühwerk gesprochen: Denken ohne Rhetorik ist leer, Rhetorik ohne Denken mehr als nur blind, ja geradezu gefährlich. Cicero vertritt nämlich die Ansicht, „daß Weisheit ohne Beredsamkeit den Bürgerschaften zu wenig nützen kann, Beredsamkeit ohne Weisheit aber in den meisten Fällen allzu sehr schadet und niemals nützt.“112 Ohne Rhetorik ist die Philosophie nicht nur glanzlos, viel111 Ioannis Saresberiensis: Metalogicon, III ,4 900 c. „Dicebat Bernardus Carnotensis nos
esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora uidere, non utique proprii uisus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea.“ Neben vielen anderen findet sich eine Varia tion des Zitats auch in Herders Sprachursprungsschrift; vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: ders.: Werke. Frühe Schriften 1764– 1772. 10 Bde. Hg. von Ulrich Gaier. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1985, S. 695–810, hier S. 807. Zur Tradierung des Motivs vgl. weiterführend Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Frankfurt a. M. 1980. 112 Cicero: De inventione, I ,2. „Ac me quidem diu cogitantem ratio ipsa in hanc potissimum sententiam ducit, ut existimem sapientiam sine eloquentia parum prodesse civitatibus, eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque, prodesse numquam.“
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mehr ist sie um eine sinnfällige Wirklichkeit und um ein kraftvolles Mittel ärmer, mit Anderen und mit dem anderen Denken der Anderen in Beziehung zu treten. Ohne die ästhetische Differenz der Rhetorik, deren Affekte und Argumente ein wahrscheinliches und kein strenges Wissen produzieren, bleiben demgegenüber nur Kommunikationsoperationen übrig, die formallogisch oder diskursiv strukturiert sind. In ihren Wahrheiten gibt sich wenig, was wiederum als Alteritätserfahrung ins eigene Denken integriert oder, im Sinne Hamanns gesprochen, übersetzt sein will, weil ihre Schlüsse nur dann einen Wahrheitsanspruch besitzen, wenn sie weder wahrscheinlich noch kontingenzgebunden sind.
Sabine Marienberg (Berlin) Bewegliche Denkungsart und Lebendigkeit der Rede im Versuch über eine akademische Frage
1. Bewegung inmitten Hamanns Versuch über eine akademische Frage ist ein Anfang inmitten der Sprache. Entstanden in den frühen Jahren seiner Autorschaft,1 ist dies der Text, in dem er erstmals ausdrücklich die Sprache thematisiert und das Problem von Wort, Vernunft und Handlung umreißt, das ihn lebenslang umtreiben wird. Den Hintergrund seiner Ausführungen bilden die Verflechtungen von Sinnlichkeit und Denken, Körper und Seele, Tun und Erleiden, die sein gesamtes Schreiben durchziehen, ohne jemals in schlichten Gegenüberstellungen fassbar zu werden. Im Verständnis der Welt als bildgewaltige und verkörperte „Rede an die Kreatur durch die Kreatur“2 verschwimmen die Grenzen zwischen menschlichen Sprachhandlungen und der Eigentätigkeit der Sprachen ebenso wie diejenigen zwischen Zeichen und Gegenständen. Hamanns Sprachdenken weist hierin auf Ansätze voraus, die jede gestaltete Form einschließlich der selbst hervorgebrachten als eine radikal entgegenkommende und handlungsstiftende Instanz verstehen.3 1 N II , 119–126. In seiner ersten Fassung erschien der Text im Juni 1760 in den Wöchent-
lichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten, bevor er überarbeitet in die Kreuzzüge des Philologen aufgenommen wurde. 2 N II , 198. 3 Vgl. Horst Bredekamp: Der Bildakt, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Neufassung Berlin 2015, sowie in prägnanter Skizzierung ders.: Bildakt. In: 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung. Hg. von Marion Lauschke und Pablo Schneider. Berlin, Boston 2017, S. 25–33. Zum Angesprochensein durch ein Entgegenkommendes vgl. Wolfram Hogrebe: Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens. In: Das Entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung. Hg. von Franz Engel und Sabine Marienberg. Berlin/Boston 2016.
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Das unausgesprochene Thema von Hamanns Versuch ist die Sprache als bewegende Rede, die aus eigener Bewegtheit hervorgeht. Rede in diesem Sinne ist immer Antwort, übersetzende Aneignung eines existentiell bewegenden Vorgefundenen. Sie ist sinnliche Umformung und Neugestaltung sowohl früheren Sprechens als auch der Sprache selbst. Abseits einstudierter rhetorischer Techniken4 ist hier ein Redeverständnis akzentuiert, das die Einheit von Rhetorik und Poetik bewahrt. In der Tradition der Rhetorica ad Herennium und der Institutio Oratoria Quintilians begreift Hamann die verstörende Macht des Erstmaligen und Ungewöhnlichen als beständige Erneuerung von sprachlichen Formen und Figuren, die dem singulären Sprechen Halt und Herausforderung in einem sind.
2. Vielgestaltige Identität von Sprache und Denken Wie die meisten, wenn nicht alle seiner Schriften, ist Hamanns Versuch aus einem konkreten Anlass heraus und in unmittelbarer Reaktion auf einen anderen Autor entstanden. Die titelgebende akademische Frage war eine der Preisaufgaben der Königlichen Akademie der Wissenschaften – und unter diesen wiederum die erste, die die Sprache zum Gegenstand hatte: „Quelle est l’influence réciproque des opinions d’un peuple sur le langage et du langage sur les opinions?“ 1757 formuliert, wurde die Aufgabe 1759 durch Johann David Michaelis’ Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen eines Volcks in die Sprache und der Sprache in die Meinungen5 siegreich gelöst. Statt Michaelis’ Preisschrift im Einzelnen zu erörtern, verlegt sich Hamann zunächst auf eine phänomenologische Aufgliederung des Ausgangsproblems. In seiner Antwort auf die Beantwortung wendet er die Frage der Akademie in eine Frage nach der eigentlichen Fragestellung der Akademie um, die als verstanden vorausgesetzt wird und doch zuallererst selbst der Klärung bedarf.6 Nicht ein 4 Diese entsprächen derjenigen Beredsamkeit, die Hamann in einem Atemzug mit der
Grammatik als bloße Mittel der Sprache kennzeichnet. Für deren lebendiges Naturell ist sie nicht wesentlich (vgl. N II , 123). Sie steht im krassen Gegensatz zu der in der Vorrede zu den Kreuzzügen zitierten Beredsamkeit als actio: „Handlung, sagte Demosthenes, ist die Seele der Beredsamkeit, und auch der Schreibart“ (N II , 116). 5 Johann David Michaelis: Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen, welche den, von der Königlichen Academie der Wissenschaften für das Jahr 1759, gesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1760. 6 Ausführlicher zur Auseinandersetzung Hamanns mit Michaelis vgl. José Miranda-Justo: Michaelis’ Preisschrift und Hamanns Sprachauffassung bis 1760 (Versuch einer Gegen-
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einziger der darin verwandten Begriffe erweist sich als unverfänglich, vielmehr sind sie mehrdeutig bis hin zum inneren Widerspruch. So kann unter ‚Meynung‘ sowohl ein auf Wahrheit abzielendes Denken verstanden werden als auch ein bloß subjektives Fürwahrhalten mit dem Beigeschmack von Vorurteil oder Täuschung – also ‚doxa‘ statt ‚episteme‘ und damit das Gegenteil begründeten Wissens. Vielfältig und schwankend ist auch der zugrunde gelegte Sprachbegriff, bleibt es doch völlig offen, ob von Sprache im Allgemeinen, einzelnen historischen Sprachen oder individuellen Sprachhandlungen die Rede ist und welche sprachlichen Phänomene und Funktionen im einen oder anderen Fall zu untersuchen wären. Indem schließlich die Beziehungen zwischen diesen beiden so unbestimmten Gegenständen kurzerhand als ‚Einfluß‘ charakterisiert und damit auf ursächliche Zusammenhänge verengt werden, bleiben mögliche andere Relationen (wie etwa eine deterministische Parallelität oder ein skeptisches bloßes Nebeneinander) ausgeblendet. Die terminologische Vieldeutigkeit ist nicht in einem Mangel an Bestimmungen begründet, sondern in der Sache selbst. Weder lässt sich Sprache vom Denken isolieren noch kann man einen Standpunkt außerhalb beider gewinnen, von dem aus ihr Verhältnis in Augenschein genommen werden könnte.7 Hamanns vielzitiertes „Vernunft ist Sprache Λογος“8 verweigert allen dreien nicht zuletzt deshalb den bestimmten Artikel, weil es aus seinem Blickwinkel ein Ding der Unmöglichkeit ist, die sinnlichen und logischen Aspekte von Sprache und Denken zunächst separat zu vergegenständlichen, um anschließend danach zu fragen, wie sie im Allgemeinen zueinander stehen. Der Zusatz „an diesem Markknochen nag‘ ich und werde mich zu Tode drüber nagen“9 besagt, dass beständiges sprachliches – und das heißt sinnliches und gedankliches – Handeln der einzige Weg ist, um ihr Verhältnis immer wieder neu zu erkunden. Der unaufhebbaren Mehrdeutigkeit der Begriffe kann man nicht definitorisch ausweichen. Entsprechend stellt Hamann im Versuch das Zeigen vor das Sagen und Behaupten, das Anführen von Beispielen vor die Definition, Mitteilung und Verständigung vor die Setzung.
überstellung). In: Acta 1988, 239–254 sowie Josef Simon: Einleitung. In: Johann Georg Hamann: Schriften zur Sprache. Frankfurt a. M. 1967, S. 22–24. 7 „Man untersteht nach Hamann diesem Einfluß auch, wenn man darüber schreibt“, bemerkt Josef Simon in seinen Kommentar zum Versuch (Ebd., S. 22). 8 Brief an Herder vom 8. August 1784, ZH V, 177. 9 Ebd.
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3. Die Kunst des Anfangs Wie ein gelungener Text, in diesem Fall ein Epos, besser nicht beginnen sollte, klingt im Zitat aus der Ars poetica an, das Hamann dem Versuch als Motto voranstellt – nämlich mit der Ankündigung, eine umfassende Darstellung der Ereignisse zu liefern und diese womöglich samt Vorgeschichte der Reihe nach zu besingen: „fortunam Priami cantabo et nobile bellum“,10 stellt der namentlich nicht genannte kyklische Dichter in Aussicht und kann in der Durchführung seines überzogenen Programms nur scheitern. Dem großspurigen Anfang ‚ab ovo‘ stehen als positives Beispiel die Eingangsverse der Odyssee gegenüber. Homers bescheidenere Verheißung besteht darin, mit der Irrfahrt des Odysseus lediglich ein Teilmoment des trojanischen Krieges herauszugreifen und diesen so nicht vollständig und chronologisch zu behandeln, sondern in selbst gewählter inhaltlicher und zeitlicher Gestaltung des als bekannt vorausgesetzten Geschehens. Im Unterschied zur poetischen Mimesis außersprachlicher Wirklichkeit besteht die rhetorische Mimesis, die Horaz hier erstmals als literarische ‚imitatio‘ formuliert, in der Nachahmung eines tradierten Stoffes, den sie eigenständig aufgreift und zu überbieten sucht: War der Stoff Gemeingut, kann er doch rechtsgültig dein Eigentum werden. Nur mußt du dich nicht in dem bequemen, oft betretenen Kreise aufhalten, mußt nicht peinlich Wort für Wort mit Dolmetschers Treue wiedergeben, auch nicht als Nachahmer dich sklavisch einengen, so daß dann ängstliche Scheu oder des Werkes Eigenart dich hindert, einen Schritt nur abzuweichen.11
Die Verschränkung von Tradition und poetischem Eingriff bezieht Hamann im Versuch auf den Umgang mit Sprache im weitesten Sinn. Zu den Überlieferungen gehört alles, was habituell verankert und einer Deutung zugänglich ist, seien dies nun ganze Sprachen, Dialekte, Redeweisen oder auch Sitten und Gewohnheiten. Als materiell verkörperte Seite der „unbeweglichen Denkungsart“ offenbaren sie 10 „Priams Schicksal will ich singen und den weltberühmten Krieg“. Horaz: De arte poe-
tica, v. 137. Übers. von Wilhelm Schöne. In: ders.: Sämtliche Werke. Lat./dt. Bd. 2. München/Zürich 1982. 11 Ebd., vv. 131–135. Vgl. Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘, 2. überarbeitete Aufl. Darmstadt 1992, S. 153–155; die rhetorische Nachahmung ist allerdings keine rein sprachliche Angelegenheit, sondern bezieht die jeweilige Behandlung der Gegenstände und die pragmatische Dimension der Rede ein; vgl. Quintilian: Institutionis Oratoriae libri XII /Ausbildung des Redners. Lat./dt. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn, X , 2, 27; zur Überbietung des Originals vgl. X , 1, 4–5.
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die semiotische Dimension gemeinschaftlicher Praxis.12 Die Physiognomie einer Sprache gilt Hamann dabei als ebenso natürlich und körperlich wie die tatsächliche Physiognomie ihrer Sprecher. Künstlich, zufällig und beweglich sind demgegenüber Eingriffe, die tradierte sprachliche Formen bestenfalls erneuern und beleben und schlimmstenfalls selbstherrlich überformen. Die Rollen von ‚physis‘ und ‚thesis‘, natürlich und künstlich, Leib und Seele sind hier offensichtlich nicht ein für alle Mal verteilt.13 Eingriffe in Überliefertes gibt es in verschiedensten Größenordnungen und die Idiotismen und das Genie einer Sprache stehen den einzelnen Sprachhandlungen und dem Genie eines Autors in nichts nach. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich in den Resultaten früheren Sprechens gewissermaßen ständig selbst entgegenkommen. „Übersetzungssucht“ und „Demonstriersucht“ sind die Etiketten, die Hamann für die sklavische Treue zu Vorgängigem einerseits und allzu gekünstelte Neuerungen andererseits bereithält. Allein betrieben sind Übersetzung und Demonstration, unbewegliche und bewegliche Denkungsart problematisch. Nur in der tätigen Vermittlung von Vorgefundenem und Selbstgemachtem, im Neubeginn inmitten des Bestehenden entspringt lebendige Rede. Die Kunst des rechten Anfangs – den die Akademie in ihrer Frage und Michaelis in seiner Beantwortung augenscheinlich verfehlt haben – ist auch Gegenstand einer Stelle in Platons Phaidros, auf die Hamann zu Beginn des Versuchs in einer Fußnote verweist: Sokrates kritisiert die rhetorischen Qualitäten einer Rede des Lysias, in der dieser die These vertritt, dass die erotische Liebe der Freundschaft abträglich sei: Weder ist das Thema originell behandelt, noch vermag der Text formal zu überzeugen. Seine eigene frei improvisierte Rede, in der er sich scheinbar der Position des Lysias anschließt, beginnt er mit einer Analyse dessen, was unter Liebe überhaupt zu verstehen sei, denn vor aller Bewertung müsse der Begriff des ‚Eros‘ erst einmal bestimmt werden: Bei allem, mein Junge, gibt es nur einen Anfang, wenn man richtig vorgehen will: man muß wissen, worum die Überlegung geht, oder man verfehlt zwangsläufig ganz und gar das Ziel. Nun entgeht es den meisten Menschen, daß sie das Wesen einer jeden Sache nicht kennen; als wüßten sie es also, verständigen sie sich nicht darüber am Anfang der Untersuchung, und wenn sie ein Stück weit gekommen sind, müssen sie es natürlich büßen, denn sie sind weder mit sich
12 N II , 124. 13 Simon: Einleitung (wie Anm. 6), S. 22: „Sprache ist […] sinnlicher Ausdruck einer inne-
ren Verfassung der Gesellschaft. Aber sie ist auch bestimmend für diese Verfassung.“
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selbst noch mit ihren Gesprächspartnern im Klaren. Also wollen wir, ich und du, nicht das durchmachen, was wir an anderen tadeln – 14
Das Rahmenthema des Dialogs ist das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie. Entscheidend im Zusammenhang mit Hamanns Sprachdenken ist die Umdeutung, die im Fortgang der Unterredung sowohl die Liebe als auch die Beredsamkeit selbst erfahren: Der Liebesrausch ist ein göttlich inspirierter Wahn. Er verdankt sich, wie auch Poesie und Rhetorik, einer wahrhaftigen Begeisterung, die in genialischer Unwissenheit oder Verachtung von Kunstregeln schöpferisch handelt, ohne die eigene Abhängigkeit vom Vorgefundenen zu leugnen. Stehen sich in den Hand- und Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts die Termini ‚Redekunst‘ und ‚Beredsamkeit‘ – wenn auch nicht immer trennscharf – als die theoretische, regelgeleitete und die praktische, der individuellen Fertigkeit anheimgegebenen Seite der Rhetorik gegenüber,15 so erstaunt es nicht, dass Hamann vor allem letztere fokussiert.
4. Schrift als Rede In der Seelenlehre, die Platon im Phaidros entwickelt, ist es die Komplementarität von Bewegen und Bewegtwerden, die die menschliche Seele als lebendig und sterblich zugleich ausweist.16 Auch die „lebende und beseelte Rede“17 ist durch eine doppelte, tätige und erlittene Bewegung gekennzeichnet. Die Schrift dagegen redet nicht. Als bloßer Schatten lebendiger Mündlichkeit und Bewahrerin toten Scheinwissens hat sie weder einen konkreten Adressaten noch kann sie auf Fragen antworten. Ein lebendiges Schreiben in Hamanns Sinn – also eines, das anders als bei Platon weder abschließende Wesensbestimmungen noch festgelegte Asymmetrien zwischen Wissenden und Unwissenden kennt – muss demnach Schrift so in Rede überführen, dass ihr dialogischer Charakter ersichtlich wird. Da zudem noch der kleinste Unterschied im sprachlichen Material Bedeutungsunterschiede
14 Platon: Phaidros, 237 c. Hg. und übersetzt von Wolfgang Buchwald. München 1964. 15 Vgl. Peter Schnyder: Rhetorik: Begriffsgeschichte, 18./19. Jahrhundert. In: Rhetorik. Hg.
von Gert Ueding. Tübingen 2005, S. 67–70, hier S. 67 f.
16 „Denn das ‚stets Bewegte‘ ist unsterblich, was aber anderes bewegt und selbst von
anderem bewegt wird und also ‚einen Abschnitt‘ der Bewegung hat, hat auch ‚einen Abschnitt‘ des Lebens.“ Platon: Phaidros, 245 c (wie Anm. 14). 17 Ebd., 276 a.
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mit sich bringt, müsste im Grunde auch die artikulatorische Bewegung, die in der Schrift nur noch als Produkt vorliegt, erneut vollzogen werden.18 Nicht von ungefähr präsentiert Hamann den missglückten Beginn des kyklischen Epos als ‚scriptio continua‘, also in einem fortlaufenden Band aus Majuskeln, ganz ohne Wortabstände, Interpunktion und diakritische Zeichen: F ORT V NA M PR I A M IC A N TA B O T NOBI L E BE L LV M 19
Dass Buchstaben und ihre Zusammenstellung zu Worten als distinkte Einheiten verstanden werden, ist nicht selbstverständlich. Die im Griechischen und Lateinischen lange Zeit übliche kontinuierliche Schreibung verlangt den Lesern einen beträchtlichen interpretatorischen Aufwand ab. Mögliche Ambiguitäten und Irrtümer auf sämtlichen Gliederungsebenen sind ständig präsent. Der Sinn eines Textes wird gemeinhin durch wiederholtes lautes Vor- und Nachsprechen zwischen Lehrer und Schüler erschlossen, wobei es Aufgabe des Schülers ist, Gruppierungen, Betonungen, Atempausen und Phrasierungen als Lesehilfen einzutragen. Paul Saenger macht in seiner Studie zur ‚scriptio continua‘ die frühmittelalterliche Einführung von Wortabständen durch irische Mönche verantwortlich für den Übergang vom lauten zum stillen Lesen.20 Einen maßgeblichen Einfluss auf die Verbreitung der neuen Schreibweise auf dem europäischen Kontinent hat offenbar die Scholastik mit ihren so präzisen wie verschachtelten Gedankengän18 Dass feinere Modulationen unterhalb des festgelegten phonematischen und graphe-
matischen Inventars nicht mehr als bedeutungsbildend wahrgenommen werden, sieht Hamann (N II , 123 f.) als degenerative Erscheinung: „Der bloße Hauch eines Lautes ist hinlänglich die künstlichsten Distinctionen zu machen. Die Stimme der Thiere komt uns für ihren gemeinschaftlichen Wechsel eingeschränkter vor, als sie seyn mag, weil unsere Sinnen unendlich stumpfer sind. […] Der Rythmus und die Accentuation vertrat die jüngere Dialectik; ein tactfestes Ohr und eine tonreiche Kehle gaben ehemals hermenevtische und homiletische Grundsätze ab, die den unsrigen an Gründlichkeit und Evidenz nichts nachgaben.“ 19 N II , 120. 20 Paul Saenger: Space Between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford CA 1997; ders.: Lesen im Mittelalter. In: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. von Roger Chartier. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 181–217. Kritisch und weiterführend hierzu vgl. Jan Heilmann: Reading Early New Testament Manuscripts. ‚Scriptio continua‘, ‚Reading Aids‘, and Other Characteristic Features. In: Material Aspects of Reading in Ancient and Medieval Cultures. Materiality, Presence and Performance. Hg. von Anna Krauß, Jonas Leipziger und Friederike Schücking-Jungblut. Berlin/Boston 2020, S. 177–196.
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gen, die durch die Möglichkeit einer raschen visuellen Orientierung in ihren Binnenverhältnissen sichtbar werden.21 Spatien, systematisch entwickelte Interpunktion, die Zusammenfassung von Buchstaben zu Wörtern und die Unterteilung in Sätze, Abschnitte und Kapitel erlauben es, Sinneinheiten im Zusammenhang mit den Augen zu erfassen, ohne den Weg durch einen artikulierenden Vortrag zu nehmen. Die ‚actio‘ der Texte rückt in eine abstrakte Ferne, die die lautliche Vergegenwärtigung verzichtbar macht22 und keinen Raum für individuelle Ansprache lässt. Gegenüber der ‚scriptio continua‘ beinhaltet die ‚scriptio discontinua‘ eine vorweggenommene konzeptionelle Leistung eines Autors, die das Lesen ungemein erleichtert.23 Sie befördert eine lautlose und einsame Lektüre, die die proso dischen Merkmale der Sprache ebenso wie die lange praktische Einübung gliedernder Bewegungen zu überspringen erlaubt. Indem Hamann die unbewegliche, überlieferte Artikuliertheit diskontinuierlicher Schrift spielerisch preisgibt, gewinnt er die Dimension eines vorwärtstastenden Sprechens und Hörens zurück, in der gewohnte Unterscheidungen ihre Konturen verlieren. Bestimmung wird (abermals) zu einer Sache der sinnlichen Materialerkundung.
21 „Es geht – neben dem Grundprinzip der Dialektik – um das Streben nach absoluter
Deutlichkeit, um das Sichtbarmachen, dass Ganze aus Elementen aufgebaut sind, und zwar dergestalt, dass das Ganze die Teile erkennen lässt und die Teile immer auf das Ganze verweisen.“ Wolfgang Raible: Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen. In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Jahrgang 1991, Bericht 1, S. 24. 22 Dies wirkt im Fall des Lateinischen, in das die ‚scriptio continua‘ erst ab dem 2. nachchristlichen Jahrhundert für einige Zeit Eingang fand, auch auf die Sprache zurück: „Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Roger Bacon, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham schrieben, obwohl sie unterschiedlichen Völkern entstammten, allesamt ein vergleichbar einfaches und schnörkelloses scholastisches Latein, das sich durch eine bemerkenswerte Klarheit und Ausdrucksgenauigkeit auszeichnet, die auf Kosten des Rhythmus, des Metrums und der fließenden Klangfülle des klassischen Lateins erreicht werden.“ Saenger: Lesen im Mittelalter (wie Anm. 20), S. 195. 23 Eine solche Arbeitsteilung kann Hamann (N II , 341) nur suspekt sein. „Aus Kindern werden Leute, aus Jungfern werden Bräute, und aus Lesern entstehen Schriftsteller. Die meisten Bücher sind daher ein treuer Abdruck der Fähigkeiten und Neigungen, mit denen man gelesen hat und lesen kann“, schreibt er in Leser und Kunstrichter. Lesen und Schreiben gehören für Hamann ebenso zusammen wie Verstehen und Handeln. Dabei verläuft die Entwicklung vom Leser zum Autor nicht nur in eine Richtung, sondern der Autor wird, auch sich selbst gegenüber, immer wieder zum Leser.
Bewegliche Denkungsart und Lebendigkeit der Rede
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5. Gestaltete und erlittene Lebendigkeit Wie aber artikuliert sich sprachlicher Sinn, wodurch entsteht, mit Cassirer gefragt, symbolische Prägnanz im beweglichen Umgang mit einem Material? Cassirer bestimmt symbolische Prägnanz als „die Art […], in der ein Wahrnehmungserlebnis als ‚sinnliches‘ Erlebnis zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“ 24 Für die Bildwissenschaft hat Gottfried Boehm den Begriff der ikonischen Differenz geprägt. Er besagt, dass das Umspringen zwischen ‚Sehen‘ und ‚Sehen als‘ auf einem Grundkontrast zwischen Kontinuität und Diskontinui tät, zwischen unbestimmter Bildfläche und ihrer bestimmten Binnengestaltung beruht. Die ikonische Differenz markiert eine zugleich visuelle und logische Mächtigkeit, welche die Eigenschaft des Bildes kennzeichnet, welches der materiellen Kultur unaufhebbar zugehört, auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich alles Faktische überbietet.25
Dass Boehm die Organisationsform ikonischer Sinnerzeugung ausdrücklich als nicht‑sprachlich versteht,26 verdeutlicht nur, wie sehr Hamanns Sprachauffassung dem ikonischen Kontrast von Grund und Figur verpflichtet ist und wie entschieden er die Sprache vom Bild her denkt: „Verbalismus oder Figurismus! Dieselbe Übertragung und communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen, der Ausdehnung und des Sinns, des Körpers und Gedankens.“27 Warum Figuren sich jeweils vom Grund lösen und wahrnehmbar werden, kann letztlich nur geschichtlich beantwortet werden. Die Rhetorik kennt jedoch methodische Verfahren, um Prägnanz zu erzeugen. Die Passagen zur ‚memoria‘ aus dem dritten Buch der Rhetorica ad Herennium beschreiben nicht nur die räumliche Anordnung der Gedächtnisorte, die beim Erinnern einer Rede sukzessive abgeschritten werden, sondern auch ihre Ausstattung mit ‚imagines agentes‘, Bildern handelnder Figuren:
24 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 3. Phänomenologie der
Erkenntnis. Darmstadt 101994, S. 235.
25 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hg. von dems. Mün-
chen 1994, S. 29.
26 Vgl. Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In:
ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 34–53.
27 Brief an Jacobi vom 22. April 1787, ZH VII , 158.
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Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, wenn wir […] nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen.28
Bewegend sind vor allem solche Bilder, die auf irgendeine Weise maßlos, also etwa ausnehmend grausam, lächerlich oder schändlich sind und so durch ihre schiere Unverhältnismäßigkeit im Gedächtnis bleiben. Auch Quintilian rät mit Bezug auf Ciceros De oratore zu Erinnerungsbildern, die „lebhaft, einprägsam und auffallend“ sind, „so daß sie uns entgegenkommen und schnell in uns eindringen können“,29 wenn er sie auch nicht ganz so drastisch ausmalt wie der ‚auctor ad Herennium‘. Wie dagegen eine hervorspringende Lebendigkeit in der sprachlichen Redegestaltung zu erreichen ist, verhandelt Quintilian in der Figurenlehre der ‚elocutio‘. Als ‚Figur‘ gilt ihm „die Form, die im eigentlichen Sinne Schema heißt, als eine wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder Ausdruck gegenüber seiner gewöhnlichen, einfachen Erscheinungsform.“30 Ihre poetische oder rhetorische Wirksamkeit bezieht sie aus der beweglichen Erneuerung gefestigter Ausdrucksweisen. Während die Figurenlehre der ‚elocutio‘ den aktiven Eingriff in überlieferte Formen hervorhebt, wird der angehende Redner in der ‚memoria‘ gewissermaßen durch seine eigenen Bilder überwältigt. Die Theorie des Bildakts31 erweitert diesen Gedanken der Eigenaktivität des Geschaffenen auf den Umgang mit gestalteten Formen insgesamt. Indem sie Artefakte als lebendige Akteure eines dialogischen Geschehens begreift, kann es auch hier keinen konzeptionellen Anfang ‚ab ovo‘ geben. Bilder sind ebenso wenig Abbilder einer unabhängig von ihnen schon verstandenen Wirklichkeit wie sprachliche Darstellungen auf die fortwährende Klärung ihrer eigenen, auch materiellen Voraussetzungen ‚in medias res‘
28 Rhetorica ad Herennium, III , XXII , 37. Lat./dt. Hg. und übers. von Theodor Nüßlein.
Düsseldorf/Zürich 1998.
29 Quintilian: Institutio Oratoria, XI , 2, 22 (wie Anm. 11). 30 Ebd.: IX , 1, 11–12. Auerbach grenzt ‚Figur‘ begriffs- und wortgeschichtlich durch ihre
Neuheit, größere Plastizität und spielende Lebendigkeit vom statischeren ‚Schema‘ ab: Erich Auerbach: Figura. In: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des ‚FiguraAufsatzes‘ von Erich Auerbach. Hg. von Friedrich Balke und Hanna Engelmeier. Paderborn 2018, S. 121–188, hier insb. S. 121–123. Umfassend zum Schema bei Hamann vgl. Eric Achermann: Schema und Kabbala. Hamanns Geschichte von Anfang und Ende. In: Acta 2015, 173–250, hier 190–199. 31 Bredekamp: Der Bildakt (wie Anm. 3).
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verzichten können.32 Unableitbare gestaltende Eingriffe und Wahrnehmungen sind die Umschlagspunkte, die die bewegliche und unbewegliche Denkungsart in einer offenen Folge von Detaillierungen sichtbar werden lassen. „Hamanns Schriften sind in diesem Sinne immer auch Kunstwerke“, schreibt Josef Simon über Hamanns Bekenntnis zur Singularität seiner sprachlichen Handlungen.33 Die Fragestellung der Akademie und der Anspruch, sie systematisch statt rednerisch und rhapsodisch zu beantworten sind demgegenüber durchschaubare Versuche, dem selbst postulierten Wechselverhältnis von Sprache und Denken von vornherein zu entgehen.*
32 Vgl. Achermann: Schema und Kabbala (wie Anm. 30), S. 175: „Der Anfang liegt dort,
wo Ausdruck dem Eindruck gleichzeitig ist, indem Wahrnehmung in Tätigkeit übergeht.“ 33 Simon: Einleitung (wie Anm. 6), S. 24. * Die Autorin dankt für die Unterstützung des Exzellenzclusters ‚Matters of Activity. Image Space Material‘, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder – EXC 2025 – 390648296.
V. Kommunikation und Polemik
Gideon Stiening (Münster) Epistolarität als Ref lexions- und Darstellungsform. Hamanns Fliegender Brief als religiöse Bekenntnisschrift
So spricht der Herr der Heerscharen: Kehret um zu mir, spricht der Herr der Heerscharen, so will ich auch zu Euch umkehren, spricht der Heer der Heerscharen. – Sach 1:3.
1. Wider den „Prediger in der Wüsten“ – J. A. Eberhards Rezension von Golgatha und Scheblimini Johann August Eberhard, seit 1777 – statt Kant, der abgelehnt hatte1 – Nachfolger Georg Friedrich Meiers auf dem Wolff-Lehrstuhl in Halle und ab 1789 einer der erbittertsten Gegner Kants aus den Reihen der Leibnizianer,2 also ein zeitgenössisch bedeutsamer und einflussreicher Philosoph an einer immer noch einflussreichen Universität, dieser Johann August Eberhard war Mitte 1785 offenbar mit seiner Geduld am Ende: Ein Prediger in der Wüsten, an Kleidung und Sprache sonderbar und fremd! Aber auch eben darum unverständlich und räthselhaft. Wir können diesen Prediger leicht an seinem Kleide und an seiner Sprache von seinen Brüdern unterscheiden. Man ist sie schon an ihm gewohnt, und wir haben sie bisher ertragen, 1 Zu diesen Vorgängen vgl. Alexei N. Krouglov: Erste oder zweite Wahl? Kant und die
Suche nach einem Nachfolger für Meier in Halle. 1777/1778. In: Facetten der Kantforschung. Hg. von Christoph Böhr und Heinrich P. Delfosse. Stuttgart Bad-Cannstatt 2011, S. 87–103. 2 Vgl. hierzu u. a. Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin, New York 1996 sowie Gideon Stiening: ‚Ein jedes Ding muß seinen Grund haben‘? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das principium rationis sufficientis. In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Hg. von HansJoachim Kertscher und Ernst Stöckmann. Berlin, Boston 2012, S. 7–42.
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ob sie gleich den meisten nicht gefiel, weil sie mehr Verkleidung als Bekleidung schien. Um deutlicher zu reden: Die Manier des Schriftstellers, von dem wir reden, ist von denjenigen Lesern und Kunstrichtern, die wissen, woran sie sich zu halten haben, seit langer Zeit mit Nachsicht beurtheilt worden, und einige, welche Scherz verstehen, und die Geschicklichkeit und den Witz, der auch oft zu brodlosen Künsten gehört, zu schätzen wissen, haben sich mit ihm eingelassen und seine eigene Sprache mit ihm geredet.3
Eberhard trifft Hamann empfindlich: mehr Verkleidung als Bekleidung.4 Und da Eberhard offensichtlich in Fahrt ist, lässt er nicht locker, bezichtigt den „Prediger in der Wüsten“, den er mit sicherem Gespür identifiziert hat, zu „blenden“, zu „verwirren“, „Staub in die Augen zu werfen“ und „blauen Dunst zu machen“, also des ‚rasenden Gefasels der Gegenaufklärung‘.5 Zu allem Überfluss bemerkt er an der oben angedeuteten ‚Manier‘ dieses bekannten Predigers etwas Neues, und hält auch hierzu fest: „Zu allem diesem kommt noch, daß der Ton des Predigers nicht mehr durchgehends der ehemalige launichte, höchstens faustische, sondern oft ein grämlicher und beleidigter Ton ist.“6 Man muss nicht alle Momente an dieser Kritik teilen, um doch festzustellen, dass insbesondere das letzte Argument einen wunden Punkt trifft, weil es um Hamanns späte naturrechtstheologische
3 Anon. [Johann August Eberhard]: Rez. von ‚Golgatha und Scheblimini‘. In: Allgemeine
Deutsche Bibliothek 63 (1785), S. 33–37, hier S. 33; Hervorhebung von mir.
4 Dass Eberhard einen wunden Punkt bei Hamann getroffen hat, zeigen unmittelbar an
die Lektüre der Rezension anschließende Reaktionen in Briefen an Jacobi oder Herder, wo es u. a. hießt: „Vor allen Dingen wünsche ich Ihr Gutachten über die Recension meines Golgotha, weil ich meinem eigenen Urtheile nicht traue, und ob Sie mir anräthig seyn, die hämische Be- oder Verkleidung meiner Autorschaft durch eine Entkleidung u Verklärung des Predigers zu widerlegen und zu Schanden zu machen in einem fliegenden Briefe […]?“ (zitiert nach Johann Georg Hamann: Fliegender Brief. Hg. von Janina Reibold. Bd. 2. Hamburg 2018, S. 153). Siehe im Text selber, ebd., Bd. 1, S. 37. 5 Zu dieser prägnanten Formel Klaus Laermann: Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. Dietmar Kamper als Symptom. In: Merkur 39 (1985), S. 211–220. Nicht erst Isaiah Berlin (Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Frankfurt a. M. 1994, S. 63–92) ordnet folglich Hamann einer Bewegung zu, die sich kritisch zu den unterschiedlichen Formationen der Aufklärung positioniert, sondern schon Hamanns Zeitgenossen. Nimmt man dem Begriff der ‚Gegenaufklärung‘ die auch bei Berlin zu verzeichnenden normative Komponente und bedient sich seiner als historiographischer Kategorie, dürfte er – auch im Hinblick auf Hamann – erneut aufschließenden Charakter gewinnen. 6 Eberhard: Rez. von ‚Golgatha und Scheblimini‘ (wie Anm. 3), S. 34 f.
Epistolarität als Reflexions- und Darstellungsform
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Schrift Golgatha und Scheblimini geht, in der dieser grämliche und beleidigte Ton tatsächlich zu vernehmen ist.7 Janina Reibold, die Editorin und Kommentatorin des Fliegenden Briefes, schreibt über Hamanns Reaktion auf diese Rezension, er sei enttäuscht gewesen, umso enttäuschter, als er lange auf die angekündigte Besprechung gewartet habe.8 So sehr ich die Arbeit von Janina Reibold bewundere, hierin wage ich ihr zu widersprechen: Enttäuscht? Viel wahrscheinlicher hat er, und zwar seinem Naturell, seiner „auffahrenden Hitze“9 gemäß, getobt, die eh schon wenig geordneten Papiere durchs Zimmer geworfen, geschrien, geflucht, vielleicht ist er zu seinem alten Mentor und Freund Kant gelaufen und hat sich bitter beschwert.10 Als Interpret des eberhardschen Werkes, das mehr durch seine rationalistische Klarheit und Deutlichkeit, also eher durch seine Nüchternheit, denn durch seine süffisante Polemik oder lustvolle Ausstellung der Schwächen anderer sich auszeichnet,11 muss man von der Argumentationsstrategie und grausamen Prägnanz dieser Rezension überrascht sein. Sicher war solche Form der Besprechung in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erwünscht,12 aber der arrivierte Eberhard hatte eine Mitarbeit eigentlich nicht mehr nötig und schon gar nicht eine solch vernichtende Rezension. Man darf also davon ausgehen, dass sich der Hallenser Rationalist nicht allein an der „räthselhaften Sprache“,13 wie er sagt, gestört hat, sondern vielmehr auch und vor allem erhebliche sachliche Problemlagen erkannte, die ihn zu seiner Form der Auseinandersetzung veranlassten. Dazu gehört erkennbar sein Interesse, Moses Mendelssohn als Haupt der Berliner Leibnizschule, die nicht nur, wie schon seit Beginn des Jahrhunderts
7 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Gegen die Zeiten und das System eines Hobbs.
Hamanns Kritik des Naturrechts im Kontext. In: Acta 2015, 279–309.
8 Janina Reibold: Einführung. In: Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 7–41,
hier S. 9.
9 Hamann an Kant Ende Dez. 1759. In: Immanuel Kant: Briefwechsel. Hg. von Rudolf
Malter und Joachim Kopper. Hamburg 31986, S. 23.
10 Zu dem durchaus ungewöhnlichen persönlichen Verhältnis zwischen Hamann und
Kant vgl. u. a. Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Hg. von Heiner Klemme. Bd. 2. Hamburg 31990, S. 90–94 und S. 231–233. 11 Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge in: Ein Antipode Kants? (wie Anm. 2). 12 Vgl. hierzu u. a. Ute Schneider: Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenkultur. Wiesbaden 1996. 13 Eberhard: Rez. von ‚Golgatha und Scheblimini‘ (wie Anm. 3), S. 34.
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durch Theologen,14 sondern seit den 1760er Jahren durch Empiristen15 und seit kurzem gar von einem Königsberger Transzendentalphilosophen unter Druck gesetzt wurde, von den Angriffen, die Hamann in Golgatha und Scheblimini gegen den Jerusalem aufgeboten hatte,16 zu entlasten. Dabei geht es nicht nur um Autoritäten und Schulbildungen, sondern auch – und bei Eberhard stets zu erwarten – um philosophische Grundlagenprobleme: Der Philosoph zielt nämlich vor allem auf eine Berichtigung der hamannschen Kritik an Mendelssohns Eigentumsbegriff ab. Dabei zeigt sich, dass Eberhard den Kern der Kritik Hamanns an Mendelssohn und damit die letztlich unüberbrückbaren Differenzen beider Formen politischer Theorie durchaus erfasst hatte,17 wenn er den Konflikt um den ursprünglichen Erwerb und die damit verbundene Verteilungsgerechtigkeit in der Antinomie zwischen Selbstsucht und Wohlwollen gegen andere, d. h. Selbstliebe und Geselligkeit,18 gegründet sieht, dessen Entscheidungskriterien für Mendelssohn und Eberhard im Naturrecht enthalten sind, für Hamann dagegen ausschließlich im weisen Ratschluss Gottes. Die Bestimmungen des Naturrechts aber sind – der recta ratio entspringend – rational rekonstruierbar, während der Mensch den Willen Gottes nicht stets verstehen muss und ihm doch bedingungslos unterworfen bleibt. Eberhard erkennt mithin präzise, dass der von ihm aufgespießte „Prediger in der Wüsten“ ein politischer Theologe ist, gegen dessen
14 Siehe hierzu u. a. Detlef Döring: Die ‚Leibniz-Wolffsche Philosophie‘ in der Auseinan-
dersetzung mit der lutherischen Orthodoxie in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: ders.: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 44–54. 15 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening und Udo Thiel: Einleitung: Johann Nikolaus Tetens und die Tradition des europäischen Empirismus. In: Johann Nikolaus Tetens (1736– 1807). Philosophie in der Tradition des Europäischen Empirismus. Hg. von dens. Berlin, Boston 2014, S. 13–24 16 Zu den theologischen Dimensionen dieser polittheoretischen Kontroverse vgl. auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Mendelssohn, Hamann und die himmlische Jerusalem. In: Acta 2015, 251–278. 17 Insofern scheint mir das Urteil Reibolds (Einführung [wie Anm. 8], S. 9), Eberhard „setze sich darin [d. i. der Rezension] fast gar nicht mit Hamanns Text auseinander“, durchaus neuer Überlegungen wert. 18 Zu diesem Grundkonflikt aufklärerischer Theorie des Politischen vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001.
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Angriffe er die säkulare, wenigstens aber säkularisierte19 politische Philosophie Mendelssohns – und damit seine eigene – verteidigen will und muss: Es kömmt nämlich alsdann auf die Frage an, wodurch machen wir uns vollkommner, durch Selbstgebrauchen oder Geben? Daß die Selbstsucht diese Frage unrichtig beantworten könne, ist freylich wahr. Daraus folgt aber nicht, daß nicht die Gründe dazu in die Natur sollten gelegt seyn. Der Gesetzgeber hat gesprochen, er hat seinen Willen bekannt gemacht, wie der Eigenthümer entscheiden soll; aber die Entscheidung hat er dem Eigenthümer selbst überlassen. Wenn dieser indeß durch seine Schuld unrecht entscheidet; so wird er es nicht ungestraft thun.20
Es geht erkennbar um die Freiheit des menschlichen Willens im Angesicht des im und durch den Naturzustand wirksamen Willen Gottes, der auch für Eberhard allein die Verbindlichkeit des überpositiven Naturrechts garantieren kann.21 Um der Aufrechterhaltung einer straffähigen Verantwortbarkeit des Menschen muss Eberhard an der Entscheidungsfähigkeit des Eigentümers festhalten, während nach Hamann solche Freiheit der Entscheidung für ein naturrechtlich garantiertes Eigentum nur als Sünde zu verstehen, und daher zurückzuweisen ist.22 Gleichwohl sieht Hamann sich durch diese Rezension erkannt, gar ertappt und reagiert daher mit jener ihm eigentümlichen Wucht, die nicht nur seine Polemik gegen Mendelssohn, Hobbes und die gesamte politische Philosophie der Aufklärung – gegen jene „Theoristen“23 aus Golgatha und Scheblimini – weiterführt, sondern die Substanz und Unüberbrückbarkeit der Differenz zwischen ihm und 19 Zum bedeutsamen Unterschied zwischen säkularer, also tatsächlich rein weltlicher
und lediglich säkularisierter, also mit theonomen Versatzstücken arbeitender Theorie vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1988, spez. S. 35–46; dass alles neuzeitliche Naturrecht theonomen Grundlegungen insbesondere in verbindlichkeitstheoretischer Hinsicht nicht abstreifen kann, lässt sich nach lesen bei Gideon Stiening: Gott und der gerechte Krieg. Kants kritische Auseinandersetzung mit Achenwalls ‚Ius naturae‘. In: Kants Naturrecht-Feyerabend. Hg. von Stefan Klingner und Dieter Hüning. Leiden, Boston 2021, [im Druck]. 20 Eberhard: Rez. von ‚Golgatha und Scheblimini‘ (wie Anm. 3), S. 36. 21 Siehe hierzu Johann August Eberhard: Über den höchsten Grundsatz der Moral. In: Philosophisches Magazin. [Hg. Johann August Eberhard. Halle 1791] 4/3 (1791), S. 366– 372. 22 Vgl. hierzu N III , 299,30–34; zu Hamanns komplexen theo-anthropologischem Freiheitsbegriff siehe auch Anja Kalkbrenner: Anthropologe und Naturrecht bei Johann Georg Hamann. Göttingen 2016, S. 14–128. 23 N III , 306,26.
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Mendelssohn/Eberhard aufnehmend diese Kontroverse zunächst zum äußeren „Anlass“,24 später auch zum inneren Grund nimmt, um jenes letzte Projekt, das uns mit der vorbildlichen Edition des Fliegenden Briefes vorliegt, anzugehen. Form und Inhalt dieser Schrift ist jedoch von dem philosophisch-theologischen Gehalt und der polemischen Form ihres ‚Anlasses‘ nicht vollends zu trennen, und daher muss jede Auseinandersetzung mit Hamanns letztem großen Projekt mit einer Betrachtung von Eberhards Rezension beginnen.
2. Zur polemischen Form des Fliegenden Briefes Hamann hat nämlich nicht nur selbst angezeigt, dass die eberhardsche Rezension der Anlass eines neuen Projekts werden sollte; er macht diesen Sachverhalt durch eine dezidierte Analyse und Kritik jener Rezension in den ersten Stücken des Fliegenden Briefes kenntlich. Das Verhältnis von Eberhard-Rezension und den ersten Stücken des Projekts lassen sich noch präziser fassen: Hamann sucht in mehreren selbst polemischen Anläufen den äußeren Anlass durch philologische und systematische Kritik mit dem inneren Grund der Schrift, d. h. mit ihrer polemischen Form, mit ihrer epistolaren Rhetorik und damit ihrem Status als Bekenntnisschrift – und nichts anderes wollen diese Briefe werden – zu verbinden und so zu legitimieren. Im Folgenden soll das dritte Stück dieser Schrift (HfB 3)25 näherhin betrachtet werden, um an ihm exemplarisch einige Verfahren und Techniken dieser Bekenntnisschrift zu betrachten. HfB 3, das als „1. Fortsetzung“ ausgewiesen26 und in HfB 5 in einem neuen Anlauf modifiziert und weiterentwickelt wird,27 nimmt gleichwohl einige Elemente von HfB 2 auf, ordnet sie neu und verbindet Grundlegendes mit Exemplarischem. HfB 3 kann folglich als ein anschauliches Beispiel für den Schreibprozess des beginnenden Projekts gelten, der wie häufig im Brief als Moment des Textes selber firmiert.28 In diese Reflexion auf den Schreibprozess selber wird das angesprochene Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem dergestalt eingebunden, dass – wie stets bei Hamann – eine Hier24 So Reibold: Einführung (wie Anm. 8), S. 9–11. 25 Ich bediene mich hier der von Janina Reibold eingeführten Siglen; vgl. Hamann: Flie-
gender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 7; HfB 3 ist ebd., S. 25–37.
26 Ebd., S. 26. 27 Ebd., S. 47–69. 28 Vgl. hierzu schon Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an
Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968.
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archie zwischen beiden Dimensionen rationaler Reflexion aufgehoben ist bzw. je und je als aufzubrechendes vorgeführt wird.29 Hamann macht auf dieses für ihn typische, gleichsam antinomische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem auch gleich zu Beginn ausdrücklich aufmerksam: Der eigentliche Zusammenhang meiner Gedanken soll aber auch nicht in diesem fliegenden Briefe von den Fäden meines überlegten Entwurfs abhängen, so gern ich diesem Leitbande treubleiben möchte. Die Vorsehung hat dieses Gewebe und Gespinst eines speculativen Zusammenhanges gleichsam eigenhändig durch einen höheren und unüberwindlichen Zusammenhang ihrer Rathschlüsse auf einmal zerrißen, welche durch den augenblicklichen und natürlichen Lauf der Dinge und die adamantinos clauos des Schicksals die Willkühr unserer Gedanken, Wege und Maasreguln ebenso leicht bestimmen als vernichten.30
Darum wird es Hamann auch in der Folge zu tun sein: Bestimmung und Vernichtung des subjektiv-willentlichen Denkens und Handelns des Menschen nach Maximen („Maasreguln“) durch eine Vorsehung, deren dem Menschen unerkennbare Ordnung jeden spekulativen, also apriorisch-vernünftigen Zusammenhang der Dinge je schon zerrissen hat. Das entscheidende Instrument der Vorsehung, diesen Prozess des Hervorbringens und Vernichtens der Leistungen des Menschen in Gang zu setzen und zu erhalten, sind der „natürliche Lauf der Dinge“ und die Stahlnägel des Schicksals, denen gegenüber alles menschliche Denken und Handeln zugleich notwendig und hilflos ist. Natur- und Heilsgeschichte markieren mithin nach Hamann die engen Grenzen aller menschlichen Vernunft. Nun ist die Zurückweisung eines „speculativen“, d. h. hier apriorisch-rationalen Zusammenhanges der Gedanken und der Dinge, den Christian Wolff und noch Marcus Herz zum entscheidenden Gegenstand ihrer Philosophie erhoben hatten,31 im Zeitalter der deutschen Spätaufklärung nicht ganz unüblich. Die szientifischen Verfahren der rationalen Deduktion wie der empirischen Induk29 Siehe hierzu auch Oswald Bayer: Wahrheit oder Methode. Hamann und die neuzeitli-
che Wissenschaft. In: Acta 1988, 161–188.
30 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 26. 31 Vgl. hierzu Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der
Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr [Gesammelte Werke. Hg. und bearbeitet von Jean Ècole, Hans Werner Arndt u. a., Hildesheim 1979ff., Bd. I.2] Hildesheim 1983 sowie Marcus Herz: Betrachtungen aus der speculativen Weltweisheit. Königsberg 1771.
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tion gelten als unnatürlich und umständlich, mithin für weite Teile der Leserschaft als unverständlich.32 Schon 1755 betont Johann Georg Sulzer in der Vorrede zu seiner Hume-Übersetzung: Den andern Grund gab mir die Schreibart und der ganze Vortrag des Herrn Hume, welcher nicht der geringste Theil der Verdienste dieses Verfassers ist. Er führet seine Leser bis in die verborgensten und dunkelsten Tiefen der Philosophie, durch einen Weg der leicht, angenehm und gleichsam mit Rosen bestreuet ist. Die schwersten und abstraktesten Untersuchungen, die sonst diesem Theile der Weltweisheit ein finsteres und widriges Ansehn geben, sind hier auf eine Weise vorgetragen, wobey Gründlichkeit und Annehmlichkeit um den Vorzug zu streiten scheinen; durch die Feder dieses vortrefflichen Scribenten werden abgezogene Wahrheiten so angenehm, als lehrreiche Erzählungen, durch den Vortrag der Dichter.33
Sulzer fordert, dass jede Philosophie durch eine an Hume orientierte Schreibart nicht allein die Wahrheit ihrer Sätze verbürgen, sondern dass der Leser durch Gründlichkeit und Annehmlichkeit diese Wahrheiten „gleichsam fühlen“ können soll,34 denn „die Philosophie ist eine Wissenschaft für jeden Menschen, und muß auf eine Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm ist.“35 Sulzer macht zudem darauf aufmerksam, dass das Vorbild der humeschen Schreibart sich dem Vortrag des Dichters annähern und dadurch eine Popularisierung des philosophischen Denkens ermöglichen können soll.36
32 Siehe hierzu u. a. Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Populärphilosophie
der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 sowie Michael Ansel: Ernst Platner und die Popularphilosophie. In: Aufklärung 19 (2007), S. 221–242. 33 Johann Georg Sulzer: Vorrede. In: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersezt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg, Leipzig 1755, unpag. [S. I–XX , hier S. IVf.]. 34 Ebd., S. XI . 35 Ebd., S. VI . 36 Zu Sulzers durchaus komplexer Stellung in und zur Popularphilosophie vgl. Helmut Holzhey: Die Berliner Popularphilosophie. Mendelssohn und Sulzer über die Unsterblichkeit der Seele. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. von Martin Fontius und Helmut Holzhey. Berlin 1996, S. 201–216.
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Man schreibt also ab Mitte 1750er Jahre zunehmend Essays, also Versuche,37 oder eben Briefe.38 Selbst Lessing weist im Laokoon alle rationale Deduktion, obwohl sie dessen Kunstphilosophie der Sache nach zugrunde liegt, ausdrücklich zurück und überlässt sich einer essayistischen und das heißt hier schon „freiwilligen“ Folge der Gedanken. Lessing inszeniert gleichsam gegen die deduktive Systematik seiner Poetik und unter Verdeckung der tatsächlichen Entwicklungsgeschichte eine fiktive Genese – Christian Garve wird ihn in seiner Rezension ebendarauf hinweisen.39 Entscheidend für Hamanns anti-systematisches Argument ist jedoch weder die bessere Verständlichkeit also Popularität wie bei Sulzer noch die alle systematische Spekulation zurückweisende Natürlichkeit des menschlichen Denkens, auf die sich Lessing bezieht, sondern die unergründlichen Ratschlüsse der Vorsehung bzw. die unüberwindliche Strenge des Schicksals, die alle rationale Spekulation zugleich hervorbringt und in ihrer Geltung zerstört. Hamanns antispekulativer Habitus, sein Rhapsodismus, Fragmentarismus und Essayismus ist nicht volksaufklärerischer oder empiristischer, sondern – beides aufnehmend – theologischer Provenienz, weil er den Gedanken der unergründlichen, also über allem menschlichen Erkenntnismöglichkeit stehenden Weisheit und Gnade des Schöpfers sowie die aus dem Fall des Menschen entspringende Sündhaftigkeit der anders als sinnlichen Vermögen des Menschen, mithin die substanzielle Sündhaftigkeit von Einbildungskraft und Verstand/Vernunft, konsequent zu Ende denkt, indem er sie in seinen Reflexions- und Darstellungsweisen realisiert. Hans Graubner hat überzeugend darauf aufmerksam gemacht, dass Hamann eine religiöse Epistemologie entwickelt habe, die – eingebettet in eine „christologische Anthropologie“ – Einbildungskraft und Vernunft als „Agenten des Satans“ im Menschen und lediglich die sinnliche Wahrnehmung, weil ohne jede aktive Beteiligung des sündigen Menschen, als „Agent Christi“ anerkennt; Graubner weiter:
37 Siehe hierzu u. a. Nina Hahne: Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis in Zeitalter
der Aufklärung. Berlin, Boston 2015.
38 Vgl. hierzu u. a. Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert.
Wien, Berlin, Weimar 2000.
39 Zu diesen Zusammenhängen vgl. Gideon Stiening: Von der empirischen zur fiktiven
Genese. Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings Laokoon. In: Unordentliche Collectanea. Lessings ‚Laokoon‘ zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Hg. von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2013, S. 113–128.
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Von diesem doppelt sinnlich Gegebenen versuchen sich die Einbildungskraft und die Vernunft durch eigenes Herstellen von poetischen Phantasien und philosophischen Abstraktionen zu entfernen mit dem Ziel des Selbstseinwollens und der Überwindung bzw. der Verdrängung der mit der sinnlichen Existenz zugleich gegebenen Zeitgebundenheit und Endlichkeit des Menschen. Unter dessen gespaltener Perspektive nach dem Sündenfall hat die Natur den Charakter des vollkommenen Schöpfungswerks Gottes verloren. […] Der luziferische Drang, die Natur und den Menschen unter Umgehung der Sündenfallanthropologie wieder heil sehen oder gar heil machen zu wollen im Sinne einer menschlichen Wiederherstellung der ursprünglichen Schöpfungsnatur, ist nicht sinnliche Wahrnehmung, sondern abstraktes Sehen, theoria, eine Form, welche von der materia peccans abstrahiert hat.40
Erst vor dem Hintergrund dieser sündentheologischen Epistemologie wird aber ersichtlich, dass für Hamann alles Schreiben einerseits einzig mögliches Instrument im Kampf gegen den Unglauben, gegen Aufklärung und Atheismus in der Welt sein kann, andererseits je schon Sünde sein und bleiben muss, gerade weil es nur mithilfe von Einbildungskraft und Vernunft zustande kommen kann. Gegen diese unauflösliche Antinomie, notwendige Konsequenz seiner Epistemologie, schreibt Hamann sein Leben lang – u. a. in der Inszenierung antisystematischer Argumentationsbewegungen – an, und all dies Bemühen mündet nicht zufällig in die Form eines ‚fliegenden Briefes‘, weil sie seinen Antirationalismus mit seiner Bibeltreue vermitteln kann, wie sich noch zeigen wird. Wenn Hamann dabei gleichwohl auch auf den „natürlichen Lauf der Dinge“ und des Denkens referiert, dann ist zu berücksichtigen, dass die hier angerufene Natur stets als geschöpfliche gedacht wird. In dieser ‚naturtheoretischen‘ als einer theologischen Prämisse ist er sich mit seinem Freund Herder stets einig gewesen und geblieben,41 weil die ‚Natur‘ als Schöpfung zugleich mit einer deskriptiven und normativen Dimension von Ordnung eines von ihr verschiedenen Schöpfers gedacht wird, während die Natur als „Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in einer Erfahrung als verknüpft gedacht werden sollen“,42 weder einen Schöpfer noch eine normative Dimension impli40 Hans Graubner: Der junge Hamann und die Physikotheologie. In: Acta 2015, 35–51, hier
37.
41 Siehe hierzu u. a. Gideon Stiening: Dieser ‚große Künstler von Blendwerken‘. Kants Kri-
tik an Herder. In: Philosophie nach Kant. FS für Manfred Baum. Hg. von Mario Egger. Berlin, Boston 2014, S. 473–498. 42 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft will auftreten können. In: Kants Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußi-
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ziert. Die Theologie – und so Hamann und Herder – denkt die Natur als eine von ihrem personalen Urheber dependente Ordnung, die ebenso theoretische wie praktische Dimensionen enthält, während die säkulare Philosophie die Natur von jeder Dependenz sowie jeder moralisch-praktischen Dimension befreit. Wenn Hamann folglich von einem „natürlichen Lauf der Dinge“ spricht, dann ist diese natürliche Prozessualität in ihrer Substanz dergestalt soteriologisch gefasst, wie dies auch die adamantini clavi anzeigen. Dass die theologische Grundlegung dieses „natürlichen Laufes der Dinge“ und Gedanken eine polemische Volte im Hinweis auf die Gattungswahl dieser Bekenntnisschrift, den Brief, enthält, soll sich im Folgenden noch zeigen. Zunächst ist die an diese systematische Polemik gegen jeden rationalen Systemzwang anschließende empirische Kontroversdimension von HfB 3 in den Blick zu nehmen, die Hamann im unmittelbaren Anschluss an sein antispekulatives Entree ausführt. Nachdem er nämlich betont hat, dass der eigentliche Zusammenhang des nachfolgenden Fliegenden Briefes nicht vernünftiger Natur, sondern vielmehr durch die unergründliche, immerhin in ihrer Sündhaftigkeit erkennbare Natur seines menschlichen Selbst hergestellt werden solle, kommt er zügig auf einen der besonderen Anlässe für diese Schrift zu sprechen, der in der „Anwandlung der eigenen Sterblichkeit“ bestanden habe. Diese sei verursacht worden durch den Tod eines Mannes, der eine der wenigen positiven Rezensionen der Sokratischen Denkwürdigkeiten verfasst habe:43 Moses Mendelssohn, der am 4. Januar 1786, nur zwei Wochen vor der Niederschrift von HfB 3 am 18. Januar, verstorben war. Hamann bezieht sich neben der Rezension vor allem auf die Morgenstunden, die kurz zuvor in Berlin erschienen waren. Bekanntlich zielte der Berliner Aufklärer mit dieser späten Schrift darauf ab, den Vorwurf Jacobis, Lessing habe sich ihm gegenüber als Spinozist zu erkennen gegeben, zurückzuweisen. Zudem ging es dem Rationalisten darum, jene Form natürlicher Theologie zu verteidigen, die Wolffs Philosophie ermöglicht und nicht unerheblich zu jener Haskala beigetragen hatte, der sich auch Mendelssohn verpflichtet sah und die er maßgeblich befördert hatte.44 Hamann hatte in die Debatten über eine natürliche Religion, die Mendelssohn schon im Jerusalem gegen Lessings geschichtsphilosophische Auflösung schen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. [im Folgenden AA Band, Seitenzahl], hier AA IV, S. 320. 43 Vgl. Briefe, die neueste Literatur betreffend. Theil 6. Berlin 1762, S. 385–400 (19. Juni 1760). 44 Siehe hierzu u. a. Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 326–391.
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einer Egalität der positiven Religionen verteidigt hatte,45 mit seinem Golgatha und Scheblimini eingegriffen und offenbar Reaktionen Mendelssohns auf seine Angriffe auf jede rationale Theologie erhofft.46 Der Autor des Fliegenden Briefes stellt also die Veranlassung seiner Schrift in den Kontext jener religionsphilosophischen Auseinandersetzung der 1780er Jahre, die durch Kants Widerlegung der Gottesbeweise und Jacobis Spinozabriefe besondere Bedeutung innerhalb der Aufklärungsdebatten erhalten hatte, welche seit 1782/83 zudem in ein selbstreflexives Stadium eingetreten waren.47 Sowohl in der Zurückweisung der spekulativen Vernunft als Leitfaden des Fliegenden Briefes als auch mit der Referenz auf Mendelssohns Morgenstunden und dessen von Hamann der Lächerlichkeit preisgegebenen Apologie Lessings wird die polemische Zielrichtung des Projekts deutlich, das noch einmal alle Mittel gegen die Aufklärung in Stellung zu bringen sucht: Diesen 11ten Jänner – – – quem semper acerbum Semper honoratum (sic DI voluistis) habebo Aen. V.49.50 erfuhr ich die traurige Post des plötzlichen und von mir am wenigsten vermutheten Todes. Es schmerzt mich, weder Ihn noch mich selbst über die Unverbrüchlichkeit meiner redlichen Gesinnungen beruhigt zu haben, da es mir Gewalt gekostet, jede Äußerung bis zum Ausgange zu unterdrücken. Von der andern Seite hingegen ist es viel Beruhigung für mich, ohne Mitgefühl seiner Kränkung, mein eigentliches Ziel, die verpestete Freundin und Meuchelmörderin eines Mendelssohns und Leßings, mit Ihrem Bogen und aus Ihrem Köcher – o wärs mit Ihrem Arm! verfolgen, und Ihre Hausehre an frechen Schmarotzern und Nebenbulern rächen zu können.48
Die Nachricht vom Tode Mendelssohns evoziert bei dem Autor dieses Fliegenden Briefes mithin zweierlei Empfindung: Zum einen schmerzt es ihn, dem von ihm in Golgatha und Scheblimini massiv angegriffenen Philosophen nicht mehr seiner moralischen Integrität versichern zu können; die hätte Mendelssohn allerdings 45 Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Historisierte Religion? Mendelssohn und Lessing über
den Anspruch der jüdischen Religion. In: Lessing und die jüdische Aufklärung / Lessing and the Jewish Enlightenment. Hg. von Stephan Braese und Monika Fick. Lessing Yearbook 39 (2012), S. 221–239. 46 Vgl. hierzu die Zusammenstellung der einschlägigen Briefpassagen bei Karlfried Gründer: Hamann und Mendelssohn. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. von dems. und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 113–144. 47 Vgl. hierzu die Dokumentation: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht ausgewählt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Norbert Hinske. Darmstadt 41990. 48 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 29.
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gar nicht angezweifelt, wenngleich er, wie Hamann wusste, den Gehalt seiner Position als „Schwärmerei“ beargwöhnt hatte.49 Gleichwohl inszeniert Hamann – auch mit dem berühmten Vergil-Zitat – eine emotive Betroffenheit durch den Tod des theologischen Gegners. Zum anderen macht der Autor im anschließenden Satz deutlich, dass die Nachricht vom Tode des Philosophen dem Schreiber auch einige Beruhigung verschafft habe, weil er unter dieser Bedingung ohne jede Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Berliner Intellektuellen dessen „verpestete Freundin und Meuchelmörderin“, die auch Lessing auf dem Gewissen hat, zu verfolgen – bestenfalls mit ihren eigenen Waffen. Diese Wendung ist ebenso raffiniert wie durchtrieben: Denn Mendelssohn selbst hatte in der Vorrede zu den Morgenstunden die Philosophie als seine „verpestete Freundin“ deshalb bezeichnet, weil sie – aus Leidenschaft betrieben – eine Verstärkung seiner ihn seit 1771 quälenden „Nervenkrankheit“ bewirke.50 Hamann kündigt mithin an, die Philosophie mit ihren eigenen Waffen zu verfolgen, und zwar im Rahmen der Religionsstreitigkeiten, die durch Jacobi ausgelöst worden waren. Denn als „Meuchelmörderin“ Mendelssohns galt keineswegs die Philosophie, sondern – zumindest in Berlin – Friedrich Heinrich Jacobi selber, der durch sein rufschädigendes Gerücht zu Lessings Spinozismus Mendelssohn in den Tod durch Überanstrengung getrieben habe.51 Hamann realisiert mit diesen wenigen Sätzen also mehrere Intentionen: Erstens loziert er die entstehende Schrift in eine längere, ihn grundlegend betreffende theologische Kontroverse mit Mendelssohn, Lessing, Kant und der gesamten Aufklärung; zweitens kann er einen datierbaren Anlass für den Anfang der Schrift fixieren, das entspricht – wie sich gleich zeigen wird – präzise der Form des Briefes; drittens kann er seine theoriepolitische Absicht, die Verfolgung der ‚verpesteten Freundin‘ Philosophie kundtun; und viertens kann er durch deren Verantwortung für den Tod Lessings und Mendelssohns den ersten Adressaten des Fliegenden Briefs, Friedrich Heinrich Jacobi, öffentlich exkulpieren – wenigstens aber seine Stellung zu den in Berlin kursierenden Gerüchten kenntlich machen. Letztlich ermöglichen diese Ausführungen zu Mendelssohns Tod und den Konsequenzen für den Schreiber die Behauptung, den oben durch die Zurückweisung der spekulativen Vernunft als Leitmotiv des Briefes verlorenen ‚Faden‘ 49 Vgl. hierzu Gründer: Hamann und Mendelssohn (wie Anm. 46), S. 124 f. 50 Vgl. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes.
Hg. von Dominique Bourel. Stuttgart 1979, S. 6.
51 Vgl. hierzu u. a. Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreites.
Würzburg 1988.
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wieder aufzunehmen und damit nun endlich zum tatsächlich Grund des Projektansatzes vorzustoßen, zu einem wuchtigen Verriss der eberhardschen Rezension seiner Rechtstheologie. Bevor hierzu überzugehen ist, müssen einige Bemerkungen zu der Gattungswahl eingefügt werden: dem Brief.
3. Der Brief als Form von Individualität und Prophetie Hamann spricht nämlich schon vor diesem für ihn topischen Hinweis auf sein antisystematischen Vorgehen und den empirischen Anlass seines Scheiben von einer „güldenen Regul heroischer Briefsteller“,52 nämlich des epistolaren Schreibens medias in res, was bekanntermaßen auf eine Maxime Samuel Richardsons referiert. Richardson hatte festgelegt, das zentrale Moment der Verfertigung eines „familiar letter“, eines Privatbriefes, bestünde darin, dass sie „written, as it were, to the moment“ verfasst seien sollten.53 Diese an Humes Assoziationstheorie54 in eigenwilliger Weise orientierte und gegen den Deduktions- und Systemgedanken des Rationalismus entworfene Vorgabe für angemessenes Briefschreiben,55 52 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 26. 53 Samuel Richardson: The History of Sir Charles Grandison. In a Series of Letters, publis-
hed from the Originals, by the Editor of Pamela and Clarissa. Bd. 1. London 1754, S. XI [Preface]. 54 Vgl. hierzu u. a. Howard C. Warren: A History of the Association Psychology. London 1921 sowie Falk Wunderlich: Assoziationen der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley. In: Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2013, S. 63–84. 55 Die Bedeutung des englischen Empirismus und Sensualismus für die Empfindsamkeit hat schon Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1. Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974, S. 65–72 betont (vgl. ebenso Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1. Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 5 f.; sowie Friedrich Vollhardt: Aspekte der germanistischen Wissenschaftsentwicklung am Beispiel der neueren Forschung zur ‚Empfindsamkeit‘. In: Aufklärungsforschung in Deutschland. Hg. von Holger Dainat und Wilhelm Vosskamp. Heidelberg 1999, S. 49–77, spez. S. 53 f.). Walter Göbel (Der Shaftesbury-Mythos. Zum Verhältnis von Philosophie und Empfindsamkeit in England. In: Anglia 110 [1992], S. 100–118) hat dieses Bedingungsverhältnis kritisch hinterfragt; zur spezifischen Wirkung dieser Philosophie auf die Theorie und Praxis des Briefromans vgl. Gideon Stiening: ‚I have done with the science of man‘. Empirismus und poetische Form in den Briefromanen Richardsons, Rousseaus und Smolletts. In: Poetik des Briefromans. Medien- und wissensgeschichtliche Perspektiven. Hg. von Gideon Stiening und Robert Vellusig. Tübingen 2012, S. 49–82.
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beherrscht als Unmittelbarkeitspostulat die empfindsame Briefrhetorik seit den 1740 er Jahren in ganz Europa. Hamanns situativer und so scheinbar tatsächlich fragmentarischer Schreibstil ist mithin die Umsetzung einer seit seiner Jugend für Briefe geltenden Rhetorik natürlichen Schreibens. Auf den deutschen Sprachraum übertragen und popularisiert hat dieses Natürlichkeitspostulat Christian Fürchtegott Gellert, der in seiner einflussreichen Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen56 eine Reihe von Kriterien entwickelte, die das Postulat ‚schöner Natürlichkeit‘ des Briefes realisieren sollten. Zu diesen Kriterien gehörte 1. das sich Überlassen an den freiwilligen Lauf der Gedanken, d. h. das auch von Hamann stets betonte Absehen von einer vorher entwickelten Konzeption; 2. Bindung an die mündliche Rede – schon 1742 meint Gellert: „wovon wir reden können, davon können wir auch schreiben“57; 3. die Beachtung der je eigenen Individualität, die sich im Privatbrief ausdrücken solle; so heißt es bei Gellert: Wenn man endlich selber Briefe schreiben will, so [...] folge [man] seinem eignen Naturelle. Ein jeder hat eine gewisse Art zu denken und sich auszudrücken, die ihn von andern unterscheidet.58
Der nach „gutem Geschmacke“ verfasste Brief wird somit zu einem Medium, das dem Individualitätsverständnis einer spezifischen Aufklärungskultur59 eine sprachliche Ausdrucks- und Gestaltungsform zu verschaffen vermag. Noch in 56 Im Folgenden zitiert nach Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von
dem guten Geschmacke in Briefen. In: ders.: Werke. Hg. von Gottfried Honnefelder. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1979, S. 137–187. Zur epistolarhistorischen Bedeutung dieser Schrift vgl. auch Diethelm Brüggemann: Gellert, der gute Geschmack und die üblen Briefsteller. Zur Geschichte der Rhetorik in der Moderne In: Deutsche Vierteljahresschrift 45, S. 117–149; Rafael Arto-Haumacher: Gellerts Brieftheorie und Briefpraxis. Der Anfang einer neuen Briefkultur. Wiesbaden 1995, S. 12–39; Inka K. Kording: ‚Wovon wir reden können, davon können wir auch schreiben‘. Briefsteller und Briefknigge. In: Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation. Hg. von Klaus Beyrer und Hans-Christian Täubrich. Heidelberg 1996, S. 27–33; Hannelore Schlaffer: Glück und Ende des privaten Briefes. In: ebd., S. 34–45. 57 Christian Fürchtegott Gellert: Gedanken von einem guten deutschen Briefe. In: ders: Werke (wie Anm. 56), Bd. 2, S. 129–136, hier S. 130. 58 Gellert: Praktische Abhandlung (wie Anm. 56), S. 166. 59 Vgl. dazu Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 542 f. oder konkreter auf den Briefroman bezogen Hans Rudolf Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1971, S. 123, wonach „in der Wahl des Briefes als Individualaussage [...] sich die Neigung zur Emanzipation des Individuums“ zeigt.
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Friedrich Hölderlins Briefen ist gegen Ende des Jahrhunderts ein bewusster Reflex auf diese durch Gellerts Abhandlung inaugurierte Ermöglichung der Mitteilung empirischer Individualitätsbedingungen,60 und das heißt zumeist psychischer Befindlichkeiten, zu vernehmen. An seinen Freund Christian Ludwig Neuffer schreibt er Anfang Dezember 1795: Ich schäme mich, daß ich Dich so mit meinem Unmuth plage. Aber wenn ich mit Gewalt von meinem armen Individuum abstrahieren wollte, schrieb’ ich eine Dissertation und keinen Brief.61
Hamann hat sich in seinen eigenen Privatbriefen in vielerlei Hinsicht an die gellertschen Vorgaben für einen guten, also geschmackvollen Brief gehalten, in vielen Hinsichten aber auch nicht.62 Gellert verbietet beispielsweise ausdrücklich das Fluchen, die Verwendung von pöbelhaften Ausdrücken oder Dialekt; all das kann Hamann meisterhaft; so bedient er sich solcherart, an sich verbotener Rhetorik gegenüber Herder auch gerne in der gegenseitigen Versicherung ihrer antijudaischen Vorurteile. Gleichwohl muss das gesamte hammansche Korpus schon seiner Privatbriefe als eine der bedeutenden Exemplifikationen dieser Briefkultur des 18. Jahrhunderts gewertet werden – ein echtes Denkmal in diesem Jahrhundert des Briefes.63 Durch seine antisystematische Form, seine den Assoziationsgesetzen entsprechende Natürlichkeit und seine Bindung vor allem an die Individualität und damit durch die Ermöglichung des Bekennens lag der Brief für Hamann als Form seiner letzten, sein ganzes Werk synthetisieren sollenden Schrift also nahe. Allerdings erwuchs ihm gerade aus der hochelaborierten Briefkultur des Jahrhunderts eine gewichtige Problematik, die man mit einem Zitat erläutern kann: „Voyez donc à soigner davantage votre style. Vous écrivez toujours comme un enfant,“ so die Marquise de Merteuil an das Bürgermädchen Cécile Volanges.64 Cécile Volanges – in der Folge der Romanhandlung eines der Opfer der Marquise de Mer60 Zu diesem Begriff von Individualität vgl. Undine Eberlein: Einzigartigkeit. Das roman-
tische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt a. M., New York 2000.
61 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. Bd. 2. Mün-
chen 1992/94, S. 602.
62 Vgl. hierzu die Studien in Acta 2010. 63 Vgl. hierzu Eric Achermann: 5.11. Johann Georg Hamann. In: Handbuch Brief. Von
der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Marie Isabel Matthew-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel. Bd. 1. Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres. Berlin, Boston 2020, S. 945–953. 64 Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Hg. von Yves Le Hir. Korr. Ausg. Paris 1995, S. 247.
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teuil – wird schon mit diesem Satz als eine Person charakterisiert, die den Reflexionsanforderungen des Gesellschaftskampfes, die die Merteuil gerade an ihrer epistolaren Kompetenz beweisen wird, nicht gewachsen ist. Cécile weiß nicht wirklich, was sie tut, wenn sie schreibt. Die Marquise weist sie genau darauf hin. Die Infantilität der jungen Briefschreiberin stört die Marquise, wir befinden uns medias in res der Liaisons dangereuses Choderlos’ de Laclos, die 1782 veröffentlicht wurden und eines der bedeutendsten Exemplare des polylogischen Briefromans im 18. Jahrhundert darstellen, weil sie eben jene weibliche Natürlichkeit vermissen lässt, die für den Briefstil einer jungen Adeligen des vorrevolutionären Frankreich unabdingbar, d. h. hier aber nützlich und erforderlich ist, um in dem gerade für Frauen besonders schwierig zu bedienenden Dschungel höfischer Aristokratenhierarchien zu bestehen. Diese Sozialsysteme hatten gleichsam naturzuständliche Ordnungen, innerhalb deren Frauen nur indirekt agieren konnten, so über den Brief, dessen Formen nur die Marquise vollendet zu bedienen weiß.65 Dieser Hinweis aus dem in den frühen 1780er Jahren entstandenen Briefroman ist im Hinblick auf Hamann insofern von Interesse, als der Autor des Fliegenden Briefes von der rhetorischen und stilistischen Einübbarkeit und Herstellbarkeit eines natürlichen Schreibens wusste und – so die hier verfolgte These – eben dagegen anschreiben musste, und zwar in einer gleichsam doppelten Reflexion auf die wegen der Antisystematik erforderlichen Natürlichkeit und der natürlichen Brechung ihrer rhetorischen Herstellbarkeit. Im Zeitalter der Liaisons dangereuses bzw. der Leiden des jungen Werther musste Hamann, um ein ebenso authentisches wie glaubwürdiges Bekenntnis zu liefern, jeden Schein rhetorisch hergestellter Natürlichkeit verhindern, und das auch, weil es für ihn nicht nur Betrug, sondern Sünde wäre, die Natürlichkeit und damit Authentizität seines Bekenntnisses rhetorisch oder stilistisch, also mit dem bewussten Einsatz von Einbildungskraft und Vernunft, zu formieren.66 Als Bekenner im Fliegenden Brief ist Hamann eben auch: Antirhetoriker.67 Hamanns epistolarer Stil in diesem Fliegenden Brief ist ohne die Berücksichtigung dieser Negation eines nur hergestellten Natürlichen, ohne die in jedem Satz 65 Vgl. hierzu demnächst Gideon Stiening: Rächerinnen ihres Geschlechts? Zur kritischen
Reflexion auf Recht und Moral in den Lettres Persanes und den Liaisons dangereuses. In: Zwischen äußerem Zwang und innerer Verbindlichkeit. Literatur und Recht in der Aufklärung. Hg. von Susanne Lepsius und Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2021 [im Druck]. 66 Zu diesem für Hamann essentiellen Problemfeld siehe erneut Graubner: Der junge Hamann und die Physikotheologie (wie Anm. 40). 67 Siehe hierzu u. a. Andre Rudolph: Figuren der Ähnlichkeit: Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 148 f.
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inszenierte oder besser reflektierte doppelte Negation des spekulativen Zusammenhangs und seiner Sprache nicht zu fassen. Wenn in Lessings Laokoon die Formiertheit des Genetischen, d. h. der Unterschied zwischen einer fiktiven und der realen Genese der Gedanken erkennbar bleibt, so muss Hamann hinter diese Differenz zurück, oder anders: Er muss sie erneut überwinden. Das empiristische Postulat der konstitutiven Berücksichtigung der Genese des Gedankens soll nicht – und darf bei einer Bekenntnisschrift nicht – konzeptionalisiert, d. h. ratio nal geformt sein. Die Misere des Bekenners, der explizit und zu Recht darauf reflektiert, das „höchste[…] Ideal und Idol allgemeiner Autorschaft! Mich Selbst“ aussprechen und damit konstituieren zu wollen,68 besteht darin, dass auch die zweite Negation, die der Hergestelltheit des natürlichen Denkens, Reflexionsprodukt und damit Sünde bleiben muss. Jeder Bekenntnisbrief hat ein Problem in der Antinomie zwischen Unmittelbarkeit des Bekenntnisses und der Mittelbarkeit seiner schriftlichen Formiertheit; zugleich kann eben diese sprachliche Form und deren Tradierung zu ungeahnten Konsequenzen führen. Dieser Zusammenhang lässt sich u. a. an dem berühmten Bekenntnisbrief der Marquise de Merteuil in der Mitte des Romans dokumentieren, der ihr, weil von Valmont veröffentlicht, den politischen und gesellschaftlichen Hals brechen wird.69 Ein solches Grundproblem des Bekenntnisbriefes konstituiert auch Hamanns Fliegenden Brief und liefert dadurch einen gewichtigen Grund für weitere Elemente dieses dritten Abschnittes des Textes. Dazu gehört zunächst und zumeist der ausdrückliche Hinweis auf den Ausgang der nachfolgenden Reflexionen und ihrer Form von der empfindsamen Briefpoetik, dem Postulat der Briefsteller nach Unmittelbarkeit. Hamann beginnt seinen Brief also nicht einfach zu schreiben, beispielsweise mit der häufig üblichen Referenz auf die räumliche Distanz als Bedingung der Verfassens, so in Werthers ersten Satz: „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“70 Vielmehr erwähnt er zunächst seine kritische Orientierung an einer Epistolarpoetik, die – wenngleich Theorie – in ihrem gehaltlichen Kern antisystematisch und antispekulativ sein muss, um in der Reflexion auf diese Theorie jeden Schein hergestellter Natürlichkeit zu vermeiden und damit deren Überwindung reflektierend zu inszenieren. Es gibt in Briefromanen und Privatbriefen häufig Reflexionen auf das Schreiben bzw. den Beginn
68 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 23 (HfB 2). 69 De Laclos: Les Liaisons dangereuses (wie Anm. 64), S. 210–222. 70 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. In: ders.: Werke. Hamburger
Ausgabe. Hg. von Erich Trunz. Bd. 6. München 1988, S. 7.
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und den Grund des Schreibens selbst,71 aber eine Orientierung an der „güldenen Regul heroischer Briefsteller“72 muss jeder, notwendig um Natürlichkeit bemühte Brief bei aller Ironie vermeiden; Hamann inszeniert eben diese Unmöglichkeit, um sein stets beabsichtigtes Übersteigen künstlicher, also reflektiert hergestellter Natürlichkeit auszustellen. Zu diesem Anliegen gehört darüber hinaus die häufig und so auch hier ausgestellte Aktualität der Briefe, die – wie bei Werther oder den Liaisons dangereuses – in unmittelbarer Nähe, d. h. parallel zu dem ‚Lauf der Dinge‘, verfasst wurden, und diese Jeweiligkeit bzw. Aktualität auch dokumentieren, so in dem Bezug auf den Tod Mendelssohns, der nicht nur für Jacobi, sondern die von ihm mit Hamann vertretene Sache im Pantheismusstreit, dem es ja vor allem darum ging, den „Hass“ auf die Berliner Aufklärung73 endlich auch auf die Königsberger auszudehnen,74 deutlich erschwerte. Dennoch ist dieses jacobi-hamannsche Anliegen der Grund und Zweck des Fliegendes Briefes. Allerdings ist im Hinblick auf die Gattungswahl auch zu berücksichtigen, dass Hamann nicht nur einen Brief überhaupt, sondern einen Fliegenden Brief zu verfassen gedenkt, der die komplexe Referenz auf die zeitgenössischen Briefrhetorik um ein signifikantes Moment erweitert bzw. bestimmt: Denn als Fliegender Brief loziert Hamann sein Projekt in einen biblischen Kontext, der mit einer Passage aus dem Buch Sacharja näherhin bestimmt werden kann; dort nämlich heißt es in 5,1–4: Und ich hob meine Augen abermals auf und sah, und siehe, da war ein fliegender Brief. Und er sprach zu mir: Was siehst du? Ich aber sprach: Ich sehe einen fliegenden Brief, der ist zwanzig Ellen lang und zehn Ellen breit. Und er sprach zu mir: das ist der Fluch, welcher ausgeht über das ganze Land; denn alle Diebe werden nach diesem Briefe ausgefegt, und alle Meineidigen werden nach diesem Briefe ausgefegt. Ich will ihn ausgehen lassen, spricht der HERR Zebaoth, daß er soll kommen über das Haus des Diebes und über das Haus derer, die bei
71 Vgl. hierzu u. a. Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein
verwildeter Roman. Hg. von Ernst Behler. Stuttgart 1995, hier S. 17: „Hu! Es ist hier gar nicht heimisch, ein jeder Federstrich hallt wieder, wenn der Sturm eine Pause macht.“ 72 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 26. 73 Siehe hierzu den Brief Hamanns an Jacobi vom 3./4. Dezember 1785. In: Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 151 (Dokument E 10). 74 Zur dezidiert antikantischen Ausrichtung des von Jacobi angezettelten Spinoza-Streits vgl. Rolf-Peter Horstmann: Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 1991, S. 53–68.
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meinem Namen fälschlich schwören; er soll bleiben in ihrem Hause und soll’s verzehren samt seinem Holz und Steinen.75
In dieser schon sechsten Vision des Propheten, die ihm – an sich unverständlich – von einem Engel je ausgelegt wird, kündigt Gott an, die Diebe und Meineidige, die schon allzu lange straffrei ausgegangen seien, nun endlich abzustrafen, indem er deren Eigentum vernichtet.76 Diese immerhin epistolar fixierte Vision – in einem buchstäblich ellenlangen Brief – muss als eine drastische Drohung an Eigentumsbrecher und Gottesverleugner interpretiert werden, die den Delinquenten eine Existenzvernichtung verkündet. Wenn Hamann also neben der zeitgenössischen Briefrhetorik auf diese alttestamentarische Vision referiert, dann kündigt er neben der unmittelbaren Bindung an seine empirische Individualität zugleich einen Straffeldzug gegen die ‚Meineidigen und Diebe der Aufklärung‘ an, denen er Vernichtung androht. Allein im Titel seines letzten Projekts verbindet Hamanns also nicht allein empiristische Epistolarität und biblischen Glauben, sondern auch Reflexion auf und Handeln gegen die gottvergessene Aufklärung.
4. Zur Kontroverse mit Eberhard Der Überwindung des Eindrucks hergestellter Natürlichkeit dient auch die durchaus sachgerechte Nobilitierung des Anlasses zum inneren Grund des Schreibens, d. h. die kritische Sichtung der eberhardschen Rezension seines Golgatha-Textes; diese Auseinandersetzung beginnt wie folgt: In dem dreÿ und sechzigsten Bande der dickbesagten Allgemeinen deutschen Bibliothek (S. 20–44 No II.III.IV. der ausführlichen Recensionen, welche den Kurzen Nachrichten zum Vorab dienen) ist das Gericht über dreÿ Prediger gehegt worden, welche sich zu Gegnern des berühmten jüdischen Weltweisen aufgeworfen haben. Diese dreÿfache Recension hat den blasenden Mitlauter F. zum undurchdringlichen Monogramm ihres Fabricanten, der es jedem Dekan auf einer Universität zuvorthut, Schriftsteller nach Gefallen zu behandeln, aber
75 Zu Recht verweist auch Janina Reibold in ihrem Kommentar auf diese wichtige Stelle
aus der Heiligen Schrift; vgl. Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 123.
76 Vgl. hierzu u. a. Thomas Pola: Das Priestertum bei Sacharja. Historische und traditi-
onsgeschichtliche Untersuchungen zur frühnachexilischen Herrschererwartung. Tübingen 2003.
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beÿ alle dem ein sehr junger Fuchs in der Beurtheilung seiner und fremder Schriftstellereÿ zu seÿn scheint.77
Hamann ist erkennbar verärgert und der Brief ermöglicht ihm das Ausstellen dieser individuellen Emotivität; vor allem weiß er nicht, anders als der Rezensent in Bezug auf ihn, um wen es sich handelt. Mit zwei Argumenten wird die Polemik unmittelbar eröffnet: Zum einen weist Hamann dem Rezensenten zu, „Fabricant“, also willenloses Instrument in der ‚Fabrik‘ der Allgemeinen Deutschen Bibliothek zu sein; als solches maßt er sich zudem die rein formelle Autorität eines Dekans an, als die er jedoch die Institutionen von Kritik und Zensur verwechselt habe.78 Zum anderen wirft er dem Rezensenten Unerfahrenheit als „junger Fuchs“ vor, womit er sich allerdings bei dem Anfang 1786 46-jährigen Eberhard deutlich verschätzt; alle drei Zuweisungen aber sollen schon zu Beginn der Erörterung die Sachkompetenz des Rezensenten in Frage stellen. Hamann wendet diese rein formelle Autorität beanspruchende Kritik in all ihrem Momenten einige Zeilen später konsequent gegen die Institution der Zeitschrift selber: Ohne mich an dem dreÿfachen Diadem eines Verlegers, Schriftstellers und Kunstrichters zu vergreifen, würde es freÿlich für das Fabrickwesen der allgemeinen deutschen Bibliothek rathsamer und vortheilhafter seÿn, wenn die durch geübte Mitarbeiter, welche ihre eigene Schöppenstühle und Waarenlager angelegt haben, erledigte Stellen nicht von AbcSchützen und Fibelisten ersetzt würden – oder diese sich aller Beurtheilung enthielten; sondern sich begnügten den Innhalt eines Buchs, so gut sie könnten ihren allgemeinen deutschen Lesern vorzubuchstabieren, und sich beÿ einem so großen Mangel des Gedächtnisses an keine Pseudokritik ihrer älteren Brüder leichtsinnig wagten, noch mit dem Selbstlobe ihrer Unparteÿlichkeit (S. 21) den blauen Dunst zu vertreiben suchten.79
77 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 29 f. 78 Dekane waren an Universitätsstädten für die Zensur von Publikationen, die in das
Fach ihrer Fakultät fielen, zuständig, wie Hamann von seinem Freund Kant wusste, der das Amt bisweilen ausübte; auch in dieser Praxis gab es die Auseinandersetzung über den Unterschied zwischen Kritik (in einer Rezension) und Zensur; vgl. hierzu Gideon Stiening: Die ‚Freiheit der gelehrten Feder‘ und der ‚Strich des Censors‘. Immanuel Kant und die Universitätszensur. In: Studien zur Entwicklung preußischer Universitäten. Hg. von Reinhard Brandt, Werner Euler und Werner Stark. Wiesbaden 1999, S. 163–201. 79 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 37.
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Der Schreiber dieses Fliegenden Briefes überlässt sich an dieser Stelle schlichtem Ressentiment und oberlehrerhafter Herablassung, die mehr seine erhebliche Verärgerung anzeigt, denn Sachargumente entwickelte; die Gattung des Briefes, die Individuelles forderte, gab ihm hierzu die Lizenz. Im nächsten Absatz nach dem vorletzten Zitat sucht Hamann dieses Urteil über die Unerfahrenheit des Rezensenten zu begründen, und zwar damit, dass sein Werk zwischen zwei weiteren Kritiken des Jerusalem gleichwertig abgefertigt wurde, die von einem Dorf- und einem Stadtpfarrer verfertigt wurde. Das kann natürlich nur einem Anfänger passieren: Ihn, Hamann, mit zwei Pfarrern in eine Reihe zu stellen, deren einer sich durch ein Lesebuch für alle Stände, der andere durch ein Verlorenes Paradies in fließender Prose hervorgetan hat;80 allein diese Zusammenstellung ist nach Hamann Ausdruck der Unerfahrenheit des Rezensenten und der Parteilichkeit der Zeitschrift. Anschließend verlegt sich Hamann auf eine mehrseitigen Kritik der drei Rezensionen; allerdings beginnt er damit, die erste und die dritte Rezension zu bearbeiten, d. h. nicht die seines eigenen Buches. Zu diesem Zweck bemüht er sich, den Kriterienapparat der Kritik zu rekonstruieren. Diese Analyse erfolgt aber nicht ohne polemische Bewertung der Leistungsfähigkeit der Argumentation, wie das folgende Beispiel zeigt: Wenn der Recensent dieses im rechten Ernst meÿnt, so dürfte er in einem noch ärgeren Misverständniße seiner selbst auf der That ertappt werden, und Gefahr laufen, nicht einmal zu wißen, noch zu verstehen, was er selbst schreibt und geschrieben hat.81
Nicht mal Kant war ein Jahr zuvor so grausam mit Herder verfahren,82 aber Hamann und sein Idol, er selbst als Autor nämlich, vor allem aber die damit verbundene Sache des rechten Glaubens sehen sich offenbar so tief getroffen und so vollkommen unverstanden, dass er dem Rezensenten nicht nur Widersprüche,83 sondern vielmehr die Unfähigkeit, sich selbst zu verstehen, attestiert. Hamann hat damit aber jeden Rahmen einer Sachanalyse verlassen, um einen Vernichtungsund Rachefeldzug zu initiieren; zu Recht spricht Janina Reibold von Gesten der „Gewalt und Brutalität“, die der Fliegende Brief – zumindest auch – ausgeprägt 80 81 82 83
Ebd., S. 33–37. Ebd., S. 34. Gemeint ist Kants deutliche Rezension von Herders Ideen, in AA VIII , S. 43–66. Eigentlich nämlich ist der Vorwurf interner Widersprüche eine ultima ratio von Verstehensprozessen, vgl. hierzu Klaus Weimar: Was ist Interpretation? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), S. 104–115.
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habe.84 Legitimiert sind diese Gesten aber nicht allein durch die verletzte Persönlichkeit des Briefschreibers, sondern durch die von ihm vertretene theologische Sache. In dieser Weise aber geht es in HfB 3 noch weiter in der offenbar unstillbaren Lust an der sarkastischen Betrachtung der Rezension und ihres, für Hamann klar und ganz zu Recht der Berliner Aufklärung entstammenden Autors. Es ist allerdings nicht festzustellen, dass Hamann den Kern der Kritik an seiner politischen Theologie behandelt oder auch nur tangiert hätte; seine Polemik gegen die Rezension im Medium des Bekennerbriefes will auch offenbar gar nicht sachlich analysieren, sondern den Gemütszustand als unverstandener, tief verletzter, eigentlich genialer Autor an sprachlichen Virtuositäten realisieren; da wird dann der „Bogen der philosophischen Betrachtung überspannt“ oder „die Sonne des zureichenden Grunds unbrauchbar und unschädlich gemacht“,85 da verrät die „Sprache“ der Rezension den „preußischen Galiläer, der einen übeln Geruch seiner armen Provinz meilenlang verbreitet“.86 Im Hinblick auf das von Eberhard treffsicher aufgespießte und in der Darstellung mit einem Hauch hamannscher Polemik versehene Problem, den unauflöslichen Konflikt zwischen politischer Theologie und politischer Philosophie87 am Beispiele des Naturrechts auf Eigentum, erfährt man in diesem ersten Anlauf nichts. So hat sich das Bedürfnis nach Bekenntnis in den weidwunden Sprachspielen des Briefschreibers vom Anlass, wenigstens aber von der Rationalität der theologisch-philosophischen Kontroverse gelöst. Um den hohen Grad der Verschmelzung von Autor und empirischem Individuum zu dokumentieren, ist ein solches Verfahren klug gewählt; die tatsächlich theologisch-politische Problemlage aber geht in diesem selbstrettenden Furor unter.
84 85 86 87
Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 21. Beide Zitate ebd., Bd. 1, S. 33. Ebd., S. 37. Vgl. hierzu u. a. Heinrich Meier: Was ist politische Theologie? Einführende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff. In: Jan Assmann: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. München 32006, S. 7–22: „Autorität, Offenbarung und Gehorsam sind aber […] die entscheidenden Bestimmungen der Sache der Politischen Theologie. […] Während die politische Theologie rückhaltlos auf das unum est necessarium des Glaubens baut und in der Wahrheit der Offenbarung ihre Sicherheit findet, stellt die politische Philosophie die Frage nach dem Richtigen ganz und gar auf den Boden menschlicher Weisheit, um sie hier in der grundsätzlichen und umfassendsten Art und Weise zu entfalten, die dem Menschen aus eigenen Kräften zu Gebote steht.“
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5. Zusammenfassung und Ausblick Hamanns Fliegender Brief – gescheitert oder nicht, womöglich war das Scheitern ja schon Teil des Plans – steht als Bekenntnisbrief in der Tradition der Epistolarkultur der mittleren und späten Aufklärung und deren Nobilitierung des emotiv fundierten Privatbriefes, in dem man – nach einer glücklichen Formulierung Albrecht Schönes – seine Gefühle „aufs Papier wühlen“ durfte und sollte;88 eben das macht auch Hamann. Zugleich bindet er diese Tradition an die alttestamentarische Form der göttlichen Strafandrohung durch einen Fliegenden Brief, der der Aufklärung existenzbedrohenden Bestrafung für ihren – noch in der Form der rationalen Theologie erkennbaren – „Atheismum“89 verkünden will. Hamann bemüht sich allerdings dieser im Briefroman der Spätaufklärung poetisch gestalteten und damit popularisierten Emotions-Kultur eine reflexive Wendung abzugewinnen, indem der die poetische und rhetorische Formiertheit solcher natürlichen Unmittelbarkeit zu übersteigen trachtet, und zwar in einer Inszenierung gleichsam zurückgewonnenen Natürlichkeit, derer es für das letzte Bekenntnis des Autor als eines Individuums und strafandrohenden Propheten des Herrn bedarf. Dass das gelungen sei, mag man bezweifeln, womöglich kann so etwas gar nicht gelingen. Die Ergebnisse des Versuches aber, das hat die Edition Janina Reibolds uns gezeigt, sind für eine Geschichte der Briefkultur des 18. Jahrhundert unverzichtbar.
88 Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: FS für
Richard Alewyn. Hg. von Herbert Singer und Benno von Wiese. Köln, Graz 1967, S. 193–229. 89 Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 33.
Frank Simon (Lüdinghausen) Hamann und die Rhetorik. Das decorum im Brief an Johann Gotthelf Lindner vom 21. März 1761
Hamanns Brief an Lindner1 Der Brief Hamanns ist ein Antwortbrief auf ein nach Ausweis des Kommentares nicht überliefertes Schreiben von Johann Gotthelf Lindner.2 Er gehört in den Kontext von Hamanns „Sokratischen Denkwürdigkeiten“ bzw. ihres Nachspieles, der „Wolken“ und Lindners Schuldrama „Albert oder die Gründung der Stadt Riga“.3 Dieses Drama ist der umfangreichste Beitrag zu einer Sammlung von Schriften, die aus Anlass des Thronjubiläums der Zarin Elisabeth im Jahr 1760 entstanden waren. Im Rahmen einer Schulhandlung wurde Lindners Drama am 27. 11. 1760 in der Domschule zu Riga, deren Rektor Lindner war, aufgeführt.4 Später löste die Problematik des Schuldramas in Verbindung mit anderen polemischen Schriften Hamanns „Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend“, aus.5 In den Grenzen, die die Unkenntnis des vorausgehenden Briefes Lindners setzt, lässt sich etwa folgende Disposition erkennen: 1 ZH II , 68–76 und HKB 203. 2 HKB 203 (ZH II , 68,24). Zu Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) vgl. Königsberger um
Kant. Hg. von Joseph Kohnen. Berlin 1993, S. 133–135.
3 Johann Gotthelf Lindner: Albert, oder die Gründung der Stadt Riga : ein Schuldrama,
bey der Gedächtnissfeier der hohen Gelangung zum Throne Ihrer Kaiserl. Majestät […] vorgestellt in der hiesigen Stadt- und Domschule den 27. Novemb. 1760. 4 Lindners Drama und die übrigen Schriften, die aus Anlass der Schulhandlung entstanden sind, sind auf dem Server der Universität Tartu unter dspace.ut.ee/handle/10062/27545 verfügbar (abgerufen: 28. 5. 2020). Für diesen Hinweis sei Frau Iris Nowak, M. A. (RUB Bochum) gedankt. 5 Johann Georg Hamann: Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend. Einführung und Kommentar von Sven-Aage Jørgensen. Kopenhagen 1962.
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1 Einleitung (ZH II, 68,1–69,5) 2 Das decorum als Begriff der Rhetorik (ZH II, 69,6–70,25) 3 Das decorum in der Freundschaft und die Nächstenliebe (ZH II, 70,26–76,24)
Das decorum als rhetorische Kategorie Das decorum ist eine zentrale Kategorie der rhetorischen Stillehre. Synonyme sind das aptum, decens, conveniens; der entsprechende griechische Begriff ist das πρέπον.6 All diese Ausdrücke bezeichnen das Angemessene, Gehörige in den verschiedenen Anwendungsgebieten der rhetorischen Stillehre, also in der Argumentation, in der gewählten Stilebene, in der sprachlichen Gestaltung, der Disposition, um nur einige zu nennen.
Das decorum bei Lindner: Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst von 1771 Den von Hamann in seinem Brief angesprochenen Sachverhalten am nächsten kommt in Lindners Kurzer Inbegriff der Aesthetik, Redekunst und Dichtkunst7 von 1771 der § 6 des 3. Abschnittes des 5. Hauptstücks, das „Vom Inneren der Poesie“ überschrieben ist (S. 286–293). Dort behandelt Lindner im Rahmen seiner Poetik die poetischen Charaktere und ihre Eigenschaften. Sie können entweder beschrieben oder durch ihre Reden und Taten dargestellt werden. Beides verdeutlicht Lindner an Beispielen aus Klopstocks Messias und Vergils Aeneis; diese Beispiele ergänzt er um Bemerkungen zum Charakter im Allgemeinen, den Konsequenzen für die poetische Darstellung und schließt mit einer Bemerkung ab, in der er der Sache nach das decorum berührt, wenn er auch diesen Begriff nicht explizit nennt. Da jeder Charakter aus guten und schlechten Eigenschaften (Tugenden und Lastern) gemischt sei, seien vollkommene Charaktere für die Bühne nicht geeignet, da langweilig; der Dichter müsse eine geeignete Mischung aus guten und schlechten Eigenschaften finden und entweder die einen oder anderen steigern, ein durch 6 Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studie-
rende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. Ismaning 101990, § 48. 7 Johann Gotthelf Lindner: Kurzer Inbegriff der Ästhetik, Redekunst und Dichtkunst. Zwei Teile. Königsberg und Leipzig 1771/72 [Reprint: Frankfurt a. M. 1971].
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Aristoteles (vgl. Poetik, Kap. 2 und 13) inspiriertes Held- oder Schurken-Prinzip. Im Anschluss an Aristoteles fordert Lindner ferner angemessene Charaktere zu erfinden; diese Forderung ist dann erfüllt, wenn der Zuschauer oder Leser nach Kenntnis der Person ihre Entschlüsse vorhersagen kann, eine Art Stimmigkeitsprinzip.
Das decorum in Hamanns Brief an Lindner Hamann entlehnt seinen Begriff des decorum nicht aus einer antiken rhetorischen Quelle oder aus einer zeitgenössischen rhetorischen Kunstlehre, sondern aus einer Schrift Miltons, die unter dem Titel Of education. To Master Samuel Hartlib 1644 zuerst erschienen war.8 Es handelt sich hierbei um ein Erziehungsprogramm, das das zwölfte bis einundzwanzigste Lebensjahr umfasst und in dem Lernstoff, literarische Bildung und praktische Anwendung miteinander verbunden werden. Katalogartig werden Unterrichtsgegenstände, -autoren und zu lernende Sprachen aufgezählt. Milton vertritt in dieser Schrift an zwei verschiedenen Stellen zwei verschiedene Erziehungsziele. An der ersten Stelle wird die Erziehung in einen theologischen Kontext gestellt: Sie dient dazu, die Erkenntnis Gottes wiederherzustellen, die durch den Sündenfall verlorengegangen ist. Aus der Erkenntnis entspringen Liebe und Nachahmung Gottes, ja, Milton vertritt sogar den platonischen Gedanken der Angleichung an Gott, die durch Vervollkommnung der Seele in Verbindung mit dem Glauben geschehen soll.9 An der zweiten Stelle beschränkt sich Milton auf ein bürgerliches Erziehungsziel: Die Erziehung soll dazu befähigen, alle privaten und öffentlichen Pflichten in Krieg und Frieden zu erfüllen.10 Die Lektüre der lateinischen und griechischen Klassiker sowie Rhetorik, Logik und Poesie siedelt Milton am Schluss seines Curriculums an. Mit Bezug auf die Poesie/Poetik erwähnt Milton dann auch das decorum: Poetik soll nicht bloß Verslehre sein, sondern „that sublime Art which in Aristotles Poetics, 8 Of Education. Introduction. Onlineedition: Luxon, Thomas H., ed. The John Milton
Reading Room, http://www.dartmouth.edu/~milton, Juli, 2020. Ein Neudruck erfolgte 1673 zusammen mit Miltons frühen Gedichten. 9 „to repair the ruines of our first Parents by regaining to know God aright and out of that knowledge to love him, to imitate him, to be like him, as we may neerest by possessing our souls of true vertue, which being united to the heavenly grace of faith makes up the highest perfection.“ 10 „a compleat and generous Education that which fits a man to perform justly, skilfully and magnanimously all the offices both private and publick of Peace and War.“
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in Horace, and the Italian Commentaries of Castelvetro, Tasso, Mazzoni, and others, teaches what the laws are of a true Epic Poem, what of a Dramatic, what of a Lyric, what Decorum is, which is the grand master-piece to observe.“ Dabei sieht Milton in diesem Begriff primär einen poetischen, denn er bezieht ihn auf Epik, Drama und Lyrik und sieht ihn dementsprechend auch in der Poetik des Aristoteles und bei Horaz, also vermutlich in dessen ars poetica, verankert. Hamann folgt Milton, indem er diesen Begriff mit Lindners Schuldrama in Verbindung bringt, weicht aber einer Beurteilung von Lindners Werk aus: „Ich habe auch Zeit gehabt Ihre Schulhandlung etwas mehr als die vorigen überlesen zu können. Da ich die Regeln eines Schuldrama nicht kenne; so bin nicht im stande von der Vollkommenheit oder Güte Ihres Alberts zu beurtheilen.“11 Doch Anlass zu einem Urteil wird dann der Anhang, mit dem Lindner die ganze Schulhandlung beschlossen hat. Es handelt sich dabei um eine Übungsaufgabe aus der Unterrichtspraxis: Adrast, ein Höfling des Kyros, tötet versehentlich einen der beiden Söhne des Königs. Er beschließt, sich auf dem Scheiterhaufen des Getöteten selbst zu entleiben.12 Die Übungsaufgabe besteht darin, den fälligen Abschiedsbrief des Adrast zu schreiben. Nach einem anfänglichen Lob (der Brief sei „wie die Aloe anzusehen“13) erfolgt ein indirektes Urteil durch Exzerpte einer rhetorikkritischen Rede aus dem unter dem Titel Satyricon bekannten Werk des Petron.14 Die Kritik der Rhetorik ausbildung in den Schulen des Prinzipates besteht darin, dass die Schüler nichts lernen, was in der alltäglichen Lebenspraxis begegnet, sondern in die Rolle von möglichst spektakulären Personen wie Tyrannen und Piraten schlüpfen, um das Deklamieren zu lernen. Petron macht diese Praxisferne des Rhetorikunterrichtes dafür verantwortlich, dass die jungen Menschen verdummen; wer in diesen Schulen ausgebildet werde, könne nicht mehr Verstand besitzen als derjenige gut duften, der in der Küche wohne.15 Freilich macht Petron hierfür nicht die Rhetoriklehrer, sondern den Geschmack der Kunden, der Schüler und ihrer Eltern, verantwortlich. Die Lehrer seien gezwungen, mit Verrückten zu rasen, andern11 ZH II , 69,6–9. 12 Die Geschichte ist überliefert in Herodot: Historien I , 35–45, bes. 43–45. 13 ZH II , 69,12. Aloe ist als wohlriechende Salbe bezeugt Hld 4,14, Joh 19,39. 14 Nachweise und Übersetzung nach HKB 203; nach einem Besuch in einer Rhetoren-
schule beklagt sich Encolpius bei einem Bekannten, dem Redner Agamemnon, über den aktuellen Zustand der Redekunst. Nach Ausweis des Briefes kannte Hamann diese Passagen des Satyricon schon seit seiner Schulzeit und identifizierte den Verfasser mit Titus Petronius Arbiter, der in engem Kontakt zu Nero stand (ZH II , 70,1–4). 15 ZH II , 69,21 f.
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falls niemand ihre Schulen besuchen würde.16 Das Ergebnis wird folgendermaßen zusammengefasst: „Jetzt spielen sie als Kinder in den Schulen, als junge Männer werden sie auf dem Forum ausgelacht werden und, was schändlicher als beides ist, was wer auch immer falsch lernt, das will er im Alter nicht zugeben.“17 In diesen Zeilen wird denn auch deutlicher, worin die Verletzung des decorum besteht: Sie liegt im Bereich der Ethopoiie, der Nachahmung der charakteristischen Redeweise einer Person,18 die dort scheitern muss, wo die nachzuahmende Person zu weit von dem Erfahrungsbereich des Nachahmenden entfernt liegt. Genau hier setzt Hamanns Kritik ein: „Ein Brief an seinen Mitschüler, an seinen Vater würde dem Mr. S – –19 nicht gerathen seyn aber ein Brief an Croesus – das macht euch Lust, das treibt euch Proben eines armen Witzes zum Zeichen euren Reichthums auszuhängen.“20 Der lydische König Krösus ist durch Herodots Historien in den europäischen Gedächtnisschatz aufgenommen und auch Gegenstand der Schullektüre geworden. Als Person von höchstem Stand ist er nach den Maßstäben der klassizistischen Ästhetik epischer oder tragischer Darstellung fähig. Indem Lindner Krösus als Adressaten des Briefes wählt, führt er den Bearbeiter zugleich in die Höhe dieser Stilebene, des erhabenen Stils. Anders als Krösus wären ein Mitschüler, ein Vater alltägliche Personen; nach den Maßstäben klassizistischer Ästhetik wären sie in Gattungen wie der Komödie oder der Satire anzusiedeln, ein mittlerer Stil wäre angemessen. Es geht Hamann jedoch nicht um eine Kritik im Rahmen der klassizistischen Ästhetik, sondern seine Kritik ist christlich motiviert: „Seht in eurem Mitschüler ein Beyspiel eurer Blöße, Dürftigkeit – Wenn man euch Lust zu schreiben und in der Declamation und im Styl zu üben geben will; so muß man zu thörichten Aufgaben seine Zuflucht nehmen.“21 Er verlangt, zuerst den Weg der Selbsterkenntnis zu gehen und diese auf den anderen zu übertragen, in ihm eben den Sünder zu sehen als den Hamann sich selbst erkannt hat.22 Dementsprechend ist das Epitheton „thöricht“ im Sinne der Entgegensetzung von Weisheit und Torheit (des Glaubens) gemäß 1 Kor 18–31 zu verstehen. „Thörichte Aufgaben“ sollen 16 ZH II , 69,23 f. 17 ZH II , 69,36–70,1: „Nunc pueri in scholis ludunt, iuuenes ridentur in foro et quod 18 19 20 21 22
vtroque turpius est, quod quisquis perperam discit, in senectute confiteri non vult.“ Lausberg, Elemente (wie Anm. 6), § 432. Ungeklärt ist, wie das S – zu ergänzen ist. Vorschlag HKB 203: Studiosus. ZH II , 70,19–22. ZH II 70,16–19. Vgl. dazu Londoner Schriften, 410,5 f.: „Um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar.“ (Brocken, § 1).
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also dazu führen, die Ansprüche der (menschlichen) Weisheit zu entlarven und zur Torheit des Evangeliums zu lenken. So gipfelt Hamanns Urteil über Lindners Krösus-Aufgabe in folgender Sentenz: „Die schöne Natur muss in einer tragischen Aufgabe nicht mit Hintansetzung des siebenten Gebots nachgeahmt werden. Ahmt nach Kinder ! aber stehlt nicht. Ahmt gute Muster nach aber nicht das in dem Anhang.“23 Lindners Intention sieht Hamann in der Nachahmung der schönen Natur; die dazu dienende Aufgabe ist eine tragische, weil der Brief an Krösus zugleich ein Abschiedsbrief ist, da der Verfasser sich auf dem Scheiterhaufen des Krösus-Sohnes selbst richten will. Fraglich ist, inwiefern Hamann unter Bezugnahme auf das siebte Gebot hier von Stehlen reden kann. Gemeint sein könnte, dass Lindners Aufgabe verlangt, sich im Sinne der Ethopoiie in eine fremde Persönlichkeit hineinzuversetzen. Da dies scheitern muss – wie soll sich ein rigaischer Schüler im Jahre 1760 in einen am lydischen Hofe lebenden Adligen, der im Begriff ist, Selbstmord zu begehen, einfühlen? – wird die Nachahmung zum Diebstahl, indem einer fingierten fremden Persönlichkeit die eigene untergelegt wird. Hamann entwickelt diese Überlegungen aus dem Anhang von Lindners Schulhandlung. Doch kann man annehmen, dass Lindners Interesse und Wunsch nach einem Echo Hamanns mehr dem Hauptwerk, seinem Schuldrama, gegolten hat. Sein Inhalt: Bischof Albert hat eine christliche Siedlung gegründet, eben den Kern des späteren Zentrums der Stadt Riga. Dabei ist es auch zu Bekehrungen von heidnischen Livländern gekommen. Ein livisch-heidnisches Heer rückt an, um die Neugründung und damit auch die Mission im Keim zu ersticken. Der Anführer des Heeres, ein heidnischer Live, versucht einen bekehrten prominenten Liven zur Rückkehr zur heimischen Religion und in das livländische Heer zu bewegen, teils durch Überredung, teils durch Gewalt. Er hält dessen Frau und Kinder als Geiseln gefangen, während die christliche Gegenseite wiederum livländische Geiseln besitzt. Der Konflikt soll durch einen Zweikampf beendet werden, was der christliche Livländer ablehnt; sein Gegner legt darauf einen Hinterhalt, beide sterben, als das Opfer sich verteidigt. Da der Anführer gefallen ist, löst sich auch die Bedrohung Rigas durch das livländische Heer auf. Aufgrund der statischen Anlage der Handlung – Konflikt und Situation bestehen vom ersten bis zum sechsten Auftritt fort und werden erst im siebten und letzten Auftritt aufgelöst – ist es gerechtfertigt, eher von einem dramatisierten Dialog als von 23 ZH II , 70,13–16. Mit „Nachahmung der schönen Natur“ greift Hamann eine Formel von
Batteux auf, vgl. Aesthaetica in nuce, mit einem Kommentar herausgegeben von SvenAage Jørgensen, Stuttgart 1968, S. 111,23 f. und Anm. 24.
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einem Drama zu sprechen.24 Dazu trägt auch bei, dass Lindner die drei Einheiten gewahrt hat: Alles spielt an einem Ort, im Laufe eines Tages, und auch die Einheit der Charaktere ist streng beachtet. Überträgt man, was Hamann aus Anlass des Anhanges entwickelt hat, auf Lindners Drama, so darf man annehmen, dass Lindner in Hamanns Augen das decorum verfehlt hat. Angesichts so entlegener Charaktere kann die Aufgabe der Ethopoiie nur scheitern.
Das decorum in der Freundschaft und in der Nächstenliebe: der zweite Briefteil Seit Hamanns Rückkehr aus London – er hatte dort eine schwere Existenzkrise erlebt, aus der ihn eine vertiefte christliche Sünden- und Erlösungserfahrung befreite25 – war er seinen Freunden nicht mehr derselbe. Er löste sich aus den Wegen des Denkens der Aufklärung, in denen sie ihn festhalten wollten. Den neuen Menschen Hamann versuchte Hamann zweien seiner nächsten Bekannten, Kant und Behrens, in seinen „Sokratischen Denkwürdigkeiten“, zu zeigen, irritierte und verstörte seinen Bekanntenkreis damit jedoch mehr als sich ihm verständlich zu machen. Diese Freundschaftskrise ist auch in diesem zweiten Teil des Briefes zu erkennen, wenn Hamann schreibt, seine Nächsten seien unter sich einig geworden, jeden Zug der Wahrheit, die ihm entfahre, eine Beleidigung zu nennen.26 Dieses neue, gestörte Verhältnis zu seinen Freunden reflektiert Hamann unter Bezugnahme auf biblische Personen, so auf die „Rotte Dathan und Kora“ (Num 16), die gegen Moses rebellierte, der ein sehr geplagter und sanftmütiger Mann (vgl. Num 12,3) war (nicht ohne im gleichen Atemzug die Identifikation mit Moses zurückzunehmen)27 und auf Hiob, dem, nachdem ihn seine Freunde nicht überzeugen konnten, nun Elihu Vorwürfe macht (vgl. Hi 34,7). Dieser biblische Bezug wie auch mehrere Passagen des Briefes zeigen deutlich, dass nun
24 Vgl. dazu Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung, Erster Band. Darmstadt 1963,
S. 325 f. und S. 334 (Lindner wendete die drei Einheiten des Dramas auch auf das Schuldrama an). 25 Vgl. dazu Londoner Schriften, S. 3–5. 26 ZH II , 71,8–10. 27 ZH II , 71,21–24.
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auch Lindner Vorbehalte gegen Hamann entwickelte und in seinem Brief auch geäußert hat.28 In dieser Situation greift Hamann auf das decorum zurück, das er zunächst in ästhetisch-stilistischer Bedeutung herangezogen hatte. Er wiederholt das Zitat aus Miltons Schrift,29 erklärt nun aber, das höchste decorum bestehe öfters in Beleidigung des subordinirten und Convenance breche öfters die feyerlichsten Conventions.30 Da auf diese Aphorismen unmittelbar die Passage folgt, in der Hamann sein gestörtes Verhältnis zu seinem Freundeskreis darstellt, ist davon auszugehen, dass der Begriff jetzt auch eine ethische Dimension erhält: das subordinierte decorum wäre dann dasjenige, das im nächsten Satz als conventions bezeichnet wird, also das konventionell Angemessene im Umgang mit Freunden und Bekannten; es kann durch Convenance und das höchste decorum außer Kraft gesetzt werden. Worin besteht es? Ähnlich wie im ersten Teil des Briefes31 wird es hier, im zweiten Teil, als Akt der christlichen Nächstenliebe gedeutet: „Der größte Liebesdienst den man seinem Nächsten thun kann, ist ihn zu warnen, zu bestrafen, zu erinnern, sein Schutzengel, sein Hüter zu seyn;“32 Das ist ein anderer Anspruch an die Nächstenliebe als der, den Hamann Lindner unterstellt: „Ihre Liebe hat aber, wie es scheint, zum Symbolo: Thu Du mir nichts und ich thu Dir wieder nichts.“33 Das ist ein harter Vorwurf, aber nicht Hamanns letztes Wort in diesem Freundschaftsteil des Briefes. Vielmehr versucht er Lindners Vertrauen zu gewinnen, indem er ihm den neuen Hamann zeigt, der sich einen Vers eines Kirchenliedes zu eigen machen kann: „Ein Gott, Ein Nächster – Ich flochte Ihm die Dornen-
28 Erschließen lassen sich etwa ein hohes Briefporto, das Lindner durch Hamanns Unge-
schicklichkeit entrichten musste (ZH II , 70,26–71,3), unterschiedliche Auffassungen zu Leidenschaften und Liebe (ZH II , 71,28–34), Misstrauen bezüglich der Haltung zu den jeweiligen literarischen Gegnern (ZH II , 71,35–72,3) sowie Hamanns Haltung zu familiären Streitigkeiten Lindners (ZH II , 72,16–29). Zu Hamanns Verständnis von Freundschaft vgl. Unger (Anm. 24), S. 172–176. 29 „Das Decorum ist die grand master-piece to observe für jeden, besonders den Dramatischen Dichter.“ (ZH II , 71,5–7). 30 Vgl. ZH II , 71,7 f. 31 Vgl. ZH II , 70,16 f. 32 ZH II , 71,14 f. 33 ZH II , 71,31 f. Symbolum ist der traditionelle Ausdruck für ein Glaubensbekenntnis.
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kron, Ich sprach Ihm mehr als alle Hohn“,34 diese Karfreitagsstimmung35 aber im Sinne der österlichen Auferstehungsbotschaft auflöst: „Morgen ist Ostern, lieber Freund. Morgen werde ich singen können: Der Herr lebt und gelobet sey mein Hort.“36 So nutzt Hamann den Begriff des decorum, die mit Lindner gemeinsame Kommunikationsbasis zu erhalten und gleichzeitig die Bedeutung des Begriffes im eigenen, spezifisch christlichen Verständnishorizont zu nuancieren.
34 ZH II , 73,5 f. Gemäß HKB 203 ein Zitat aus einem Kirchenlied. In den „Gedanken über
meinen Lebenslauf “ (Londoner Schriften, 343) stellt Hamann sein Bekehrungserlebnis in ähnlichen Worten dar: „Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Thränen v ich konnte es nicht länger – ich konnte es nicht länger mein[em] Gott verheelen, dass ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingebor[enen] Sohnes war.“ 35 Der Brief ist auf den 21. März 1761 datiert, der Brief Lindners erreichte Hamann Karfreitag (= 20. März), er schreibt also an einem Ostersamstag, vgl. ZH II , 68,24. 36 ZH II , 73,8 f.
Wilhelm Schmidt-Biggemann (Berlin) Kult, Katholizismus, Freimaurerei. Hamanns Hierophantische Briefe im Kontext
Der größere Themenkomplex, den Hamanns Hierophantische Briefe kritisch adressieren, lässt sich mit dem Stichwort Philosophia perennis charakterisieren. Philosophia perennis ist das Religionskonzept, nach dem die christliche Religion in der natürlichen Religion und den frommen heidnischen Kulten virtuell grundgelegt ist und durch die jüdische und christliche Offenbarung, die von der Kirche verwaltet wird, zu ihrer eigentlichen Vollendung gebracht wird. Mit dieser für die Theologie der Renaissance und der Aufklärung konstitutiven Konzeption, die auch den frommen Heiden die ewige Seligkeit verspricht, kann Hamann als strikt biblizistischer Lutheraner nichts anfangen. Was nicht in diese Konzeption seiner Theologie passt, ist für ihn Heidentum. Mit diesem Rigorismus ist jeder fromme Kultus, in welcher Konfession und Fassung auch immer, als heidnisch charakterisiert. Die neueren Variationen dieser mithin als heidnisch qualifizierten Philosophia perennis sind für Hamann die Natürliche Theologie der Aufklärung, der Deismus und auch der Katholizismus, den er als heidnische Mysterienreligion klassifiziert. In diesem Sinne verhandeln die Hierophantischen Briefe folgende Probleme: 1. die Fragen nach dem Verhältnis heidnischer Kulte zum Christentum; 2. das Verhältnis der Kulte und Mysterien inner- und außerhalb des Christentums zur Freimaurerei; 3. das Verhältnis von Kult, Katholizismus und Offenbarung.1
1 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Johann Georg Hamann. Stuttgart 1976, S. 80. – Die Hie-
rophantischen Briefe sind von den Herausgebern der Reihe Hamanns Hauptschriften erklärt (HHE V) unter Mysterienschriften klassifiziert worden, gemeinsam mit Versuch einer Sibylle über die Ehe (1775), Eine Schürze von Feigenblättern (1777) und Konxompax (1779). Freilich ist diese Zusammenstellung nicht einfach zu begründen – die Herausgeber Evert Jansen Schoonhoven und Hans Martin Seils tun sich diesbezüglich denn, wie die Einleitung zeigt, auch schwer.
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Insgesamt stehen die Hierophantischen Briefe in der Mitte von Hamanns Autorschaft: 1758 schrieb er in London seine Biblischen Betrachtungen, die zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben. Ein Jahr später wurden seine Sokratischen Denkwürdigkeiten gedruckt, 1762 erschienen die Kreuzzüge des Philologen, eine Sammlung, die sein bekanntestes Werk enthält, die Aesthaetica in nuce. Zehn Jahre lang schwieg Hamann, dann, 1771/72, veröffentlichte er seine sprachtheo retischen Werke, darunter die Auseinandersetzungen mit Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache und die Philologischen Einfälle und Zweifel. Es folgten 1775 die hier besprochenen Hierophantischen Briefe, der Versuch einer Sibylle über die Ehe, die Schürze von Feigenblättern und Konxompax. In seinem letzten Lebensjahrzehnt setzte sich Hamann als Übersetzer und Kommentator mit Humes Dialogen die natürliche Religion betreffend auseinander, ehe er Kants Kritik der reinen Vernunft in seiner Metakritik über den Purismum der Vernunft kritisierte. Schließlich konturierte er sein Christentum in Golgatha und Scheblimini (1784) polemisch gegen Mendelssohns Jerusalem. Den Fliegenden Brief, an dem er bis zu seinem Tode in Münster 1788 arbeitete, hat er nicht mehr vollendet.
Hamanns Charakteristik Starcks Die Hierophantischen Briefe sind gegen Johann August Starcks Königsberger theologische Antrittsdiputation De Tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam von 1774 geschrieben. Starck ist der erste bedeutende Gegner Hamanns, den er als Vertreter der Natürlichen Religion, des Deismus und auch als Freimaurer bekämpfte; allerdings unterschätzte er wohl die Bedeutung Starcks als Freimaurer, obwohl er wusste, dass Starck Verfasser der anonym erschienenen Apologie des Ordens der Frey-Maurer war.2 Er kannte ihn persönlich, denn Starck wohnte bei seinem Logenbruder, dem Königsberger Verleger Johann Jakob Kanter, bei dem auch Hamann häufig verkehrte. In einem Brief an Herder vom 3. April 1774 charakterisierte Hamann Starck kritisch distanziert:
2 Apologie des Ordens der Frey-Maurer. von dem Bruder ****. Mitgliede der ** Schotti-
schen Loge zu P. * Philadelphia im Jahr 5651. d. i. 3882 [Königsberg: Hartung 1769]. – Vgl. dazu Hamanns An den geheimen Ausschuß der G.v.V. Frey Mäurer Loge zu Königsberg in Preußen […] den 13. Octobr. 772; N III , 61–65.
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Dieser Mann kam aus Petersburg wo er mit Büsching bekannt geworden war, ist ein Schüler Michaelis, mit dem er sich aber entzweyt haben muß. Hat eine Zeitlang in Paris zugebracht, und nicht ohne Nutzen als Bibliothecarius auch große Versuchung gehabt sein Glück daselbst zu machen. Sein Name ist Stark und ist eines mecklenburgschen Raths Sohn. Dieser Mann hat den 24 Mart. pro loco Prof. Theol. ord. disputirt: Tralatitia ex Gentilismo in religionem Christianam.3
Hamann berichtet weiter, Starck habe ihn um Literatur für diese Disputation gebeten und er habe ihm den „Pfanner u ein paar Kleinigkeiten“ gegeben, „weil mir das gantze Thema so jugendl. vorkommt als die Monadenlehre in meinen akademischen Jahren.“4 Hamann hält das Thema offensichtlich für abgegriffen, den Promotionsakt selbst für eine theologische Zumutung: Ohngeachtet er mir keine Disputation hatte zukommen laßen, [also ohne förmliche Einladung], schlich ich mich gantz wieder meine Sitten ins Auditorium maximum und hatte die Zufriedenheit den D. Lilienthal über die 2 ersten § §. opponiren zu hören der ihn lauter Unrichtigkeiten und Unwißenheit der von ihm angeführten Quellen überführte. Er hatte sich gegen Lindner so kraus gemacht und suchte so seicht seinem zweyten frommen Gegner auszuweichen, daß ich alle Geduld verlor und aus dem Tempel lief.5
Das Resultat dieser wütenden Enttäuschung Hamanns ist, dass er „große Lust“ verspürte, „diesen katholischen Pfaffen zum Proselyten des von ihm immer gespotteten und verlachten Luthers zu machen. Diese Disput. enthält blos den ritus; eine zweyte soll die Dogmata in sich schlüßen. Er redt immer wie in der Freymäurerapol. von der doctrina arcana.“ Starck schreibe zwar ein gutes Latein, das sei aber „auch alles“: Sonst hat er weder den geringsten Verstand vom Heidentum und Christentum, und ist bey einigen guten Gaben ein fauler Bauch, wie Paulus von den Kretern u Luther von den Mönchen sagt. Seine dogmata dürften wohl niemals erscheinen; aber wie leicht würde es ihm werden die Lehre der Menschwerdung, Versöhnung der Heil. Dreyeinigkeit als Reliquien des Heidenthums zu behandeln.
3 ZH III , 77. 4 ZH III , 77 f. – ‚Pfanner‘ steht für: Tobias Pfanner: Systema theologiae gentilis purioris.
Basel 1679.
5 Gemeint sind: Christoph Theodor Lilienthal (1717–1781) seit 1751 o. Prof. für Theologie
in Königsberg, Hofprediger; Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) Prof. poes., Hofprediger, Kirchen- und Schulrat in Königsberg, Hamanns Beichtvater.
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Insgesamt sei die Disputation eine „Wasserblase“.6 Was immer das heißen mag, muss Starck Hamann gleichwohl beeindruckt haben. Nach dem Tode Johann Gotthelf Lindners wählte er ihn 1776 als Beichtvater, und in seinem letzten, unvollendeten Werk, dem Fliegenden Brief, kam er noch einmal auf Starck zu sprechen.7 Starcks intensive masonische Parallelbiographie aber hat Hamann offensichtlich nicht wahrgenommen. Für ein eingehenderes Verständnis seiner Disputation von 1774, gegen die Hamann seine Hierophantischen Briefe schrieb, ist die Kenntnis von Starcks theologisch-freimaurerischem Doppelleben unerlässlich.
Johann August Starcks Doppelbiographie Starck als Freimaurer
Johann August Starck, 1741 in Schwerin geboren, hatte 1761 sein Studium bei Johann David Michaelis begonnen, von dem er sich später abwandte. Schon im selben Jahr war er in eine französische Militärloge in Göttingen aufgenommen worden. 1763 verschaffte ihm Anton Friedrich Büsching (1724–1793), der selbst Freimaurer war,8 einen Posten als Lehrer für Alte Geschichte und Orientalistik in St. Petersburg, obwohl er das Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Hier lernte Starck den Grafen Peter Melesino oder Melissino (1716–1797) kennen, einen Generalleutnant der kaiserlich russischen Armee, der glühender Freimau6 ZH III , 78. 7 Hamann erinnert sich (N III , 380): „Vor ungefehr zwölf Jahren, gab ein damals preu-
ßischer Hofprediger Etwas unter dem Namen Hephästion heraus, und berief sich, erst in der Vorrede zur zweyten Auflage, auf einen ägyptischen Priester, ohne das geringste Merkmal seiner Urkunde und Mittelbegriffe zwischen dem Inhalte und einer so homonymischen Aufschrift seines Buchs anzuführen. Der Berlinische Strabo geruhte flugs diesen grundlosen Umstand, in seinen Wöchentlichen Nachrichten, abermal nachzuschreiben. Wahrscheinlicher war dieser apokryphische Titel ein bloßer Familienspaß, oder eine witzige Anspielung auf den Namen eines ‚Alexander von Adlerheim‘, unter dessen Maske der nemliche Schriftsteller eine ‚Apologie des Ordens der Freymäurer‘ zu Philadelphia 5651 (Königsberg 1769) herausgegeben hatte.“ – Die Biga (N V, 40 [51/539]; N V, 41 [52/557]; N V, 56 [79/79]) verzeichnet von Starck folgende Werke: „Predigten. Königsberg 1775“ (Geschenk des Druckers); „Hephaestion. Königsberg 1775“ (Geschenk des Autors); „Libellus de Aeschylo. Göttingen 1763.“ – Zu Starck im Fliegenden Brief vgl. den Kommentar zu Johann Georg Hamann: Fliegender Brief. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Janina Reibold. Bd. 2. Hamburg 2018, S. 103–105. 8 Vgl. Ferdinand Runkel: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland. Bd. 1. Berlin 1931, S. 272.
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rer war. Dessen Loge arbeitete nach dem ‚Schottischen‘ Hochgradsystem. Es geht angeblich auf den Templerorden zurück, der wiederum sein Geheimwissen von den Ägyptern haben soll.9 Es handelte sich um die Logenordnung Karl Gotthelfs von Hund und Altengrotkau (1722–1776). Starck schloss sich dieser Loge an. Von Hund war einer der einflussreichsten Freimaurer in Deutschland. Für seine masonische Karriere ist die folgende Geschichte konstitutiv: 1742 sei er in Paris am Hofe des schottischen Thron-Prätendenten Charles Edward Stuart von einem mysteriösen Ritter ‚à penna rubra‘ (von der roten Feder) in Gegenwart von Lord Kilmarnock und Lord Clifford, zweier Anhänger des Prätendenten, zum Ritter des alten, in Schottland fortlebenden Templerordens geschlagen und zugleich zum „Heermeister“ (Provinzial-Großmeister) der VII. Ordensprovinz – Deutschland – ernannt worden. Die Stuarts waren katholisch, und die ‚schottischen‘ Logen hatten u.a. die Aufgabe, die ‚jakobitischen‘ – d. i. die schottisch-restaurativen – politischen Interessen des Thronprätendenten zu unterstützen; es ist deshalb durchaus plausibel, dass die ‚schottische‘ Logenordnung eine untergründig katholisierende Tendenz hatte.10 Der Name ‚Schottische Freimaurerei‘ ist von der Rolle der Stuarts in der masonischen Frühzeit abgeleitet. An den besagten Stuart-Prätendenten Charles Edward knüpften sich die freimaurerischen Stuart-Legenden, die in zahlreichen Versionen in der jakobitischen Freimaurerei erzählt wurden. Der Templerorden der strikten Observanz (und hier besonders der Reichsfreiherr von Hund) berief sich auf Charles Edward, der angeblich Kenntnisse der alten Mysterien der Maurerei hatte und als ‚Geheimer Oberer‘ figurierte. Diese Legende benutzte von Hund für seine maurerische Arbeit in Deutschland. Er gründete in Naumburg die Schottenloge ‚Zu den drei Hämmern‘ und übernahm für deren Legitimierung die Tempelritterlegende. Zugleich stabilisierte er seinen Orden gesellschaftlich und finanziell durch gezielte Anwerbung von Adeligen. Die Logenordnung war die ‚Strikte Observanz‘; die Leitung hatten angeblich ‚Unbekannte Obere‘, S(uperiores) I(ncogniti); es gab ‚Drei Johannisgrade‘, einen ‚Schottengrad‘, und einen ‚Inneren Orient‘. Der ‚Innere Orient‘ wiederum gliederte sich in zwei Grade: ‚Novize‘ und ‚Eques‘. Die Ordnung der Tempelritter war wegen der Konstruktion der ‚Geheimen Oberen‘ keineswegs stabil; in der Tat gab es Hochstapler, die sich 9 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Traditionskonkurrenzen. Eine Kreditgeschichte
offenbarter Ursprungsgeschichten. In: Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in Western Esotericism. Hg. von Andreas B. Kilcher. Leiden/Boston 2010, S. 344–371. 10 Art. ‚Hund, Karl Gotthelf ‘. In: Eugen Lennhoff und Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikon (1932). Repr. Wien/München 1975, Sp. 719–725.
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als unmittelbare Vertreter der Geheimen Oberen ausgaben und denen kurzeitig auch geglaubt wurde. Ab 1766 wird die Rolle des damals erst 25 jährigen Johann August Starck in der schottischen Freimaurerei wichtig. Er veränderte die Ordnung der Strikten Observanz durch seine Idee eines sogenannten ‚Klerikats‘, das der alten Ordnung übergestülpt wurde. Starck propagierte „ein neues, geistlichen Orden nachgebildetes Hochgradsystem, das ‚Klerikale System‘, dessen Brüder die Fratres Clerici Ordinis Templariorum waren […], mit katholisierenden Tendenzen.“11 Ab 1770 wurde zusätzlich – allerdings nicht allgemein anerkannt – der rein katholische Grad ‚Eques professus‘ eingeführt. Starck war wahrscheinlich am 8. Februar 1766 in Paris in der Kirche St. Sulpice zum Katholizismus konvertiert.12 Im gleichen Jahr bekam er das Magisterium philosophiae durch die Universität Göttingen in absentia verliehen. 1767/68 wurde er Konrektor des Gymnasiums in Wismar; hier entwickelte er seine neuen masonischen Ideen. Der Rostocker Stuhlmeister Joachim Heinrich von Schröder hatte ihm Verbindung mit von Hund verschafft, 1767 inszenierte Starck dann in der Wismarer Loge ‚Zu den drei Löwen‘ seine Ordnung des ‚Klerikats‘: Der Altar wurde von katholischen Priestern geweiht. Die Brr. dieses, mit den Gold- und Rosenkreuzern nahe verwandten, Templerei mit Theosophie verquickenden sogenannten „K.[lerikalen] S.[ystems]“, die Kleriker (fratres clerici), waren, der Ordenslegende zufolge, angeblich Nachkommen der Essäer, die im Heiligen Lande mit der Erforschung der geheimen Kenntnisse der Natur sich beschäftigten und zu hoher Wissenschaft, zu größerer Vollkommenheit gelangt seien. Sie hätten sich durch Vermittlung des Heiligen Bernhard [von Clairvaux] mit dem Tempelherrenorden verbunden und eine besondere Regel erhalten und wären die eigentlichen Bewahrer der Gesetze und Geheimnisse des Ordens geblieben. Bei der Aufhebung des Tempelherrenordens hätten sie dessen geheimste Nachrichten und Urkunden in Verwahrung genommen und viele Kostbarkeiten gerettet, in deren Besitz sie sich teilweise noch immer befänden. Die ‚fratres clerici‘ besäßen die letzten Aufschlüsse aller Geheimnisse der natürlichen und göttlichen Alchimie. Es bestehe ein geheimes Hochkapitel von geweihten Klerikern, die die wahren ‚Unbekannten Oberen‘ der Freimaurerei und die eigentlichen Leiter des ‚Innersten Ordens‘ seien.13 11 Ebd., Sp. 722. 12 Gemäß der Mitteilung des Abts Picot in: Biographie Universelle ancien et moderne.
Bd. 43. Paris 1825, S. 471; zitiert in HHE V, 25.
13 Art. ‚Klerikat, Klerikales System‘. In: Lennhoff und Posner: Internationales Freimaurer-
lexikon (wie Anm. 10), Sp. 840.
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Die Geheimnisse seien nach Petersburg gelangt und er, Starck, habe aufgrund dieser Geheimnisse das System der Strikten Observanz durch das Klerikat verbessert. Starck bot dem Freiherrn von Hund die Zusammenarbeit mit seinem Klerikalen System an. Hund akzeptierte Starcks Bedingungen, wonach die Kleriker der Strikten Observanz übergeordnet sein sollten. 1772 kam es auf dem Konvent von Kohlo (Niederlausitz) zu einem pactum fundamentale, bei dem sich die Kleriker mit der ‚weltlichen Branche‘, dem Hundschen System der Strikten Observanz, „wiedervereinigten“.14 Die Ordnung von Starcks Klerikern, deren Zahl 70 nie überschreiten durfte, bestand in drei Graden: 1. Hochschotten, 2. Novizen, 3. Kanoniker. Diese dritte Gruppe war die wichtigste. „Der Unterricht der Kanoniker war teils historisch, teils magisch okkult. In den Unterrichtsakten findet sich die Philosophia hermetica von Federico Gualdo, einem Rosenkreuzer. Dieser gab sich ein Alter von 400 Jahren, die er seinem geheimen Lebenselixier danken wollte. Eine zweite bedeutsame Lehrschrift der Kleriker ist die Tabula Chaeremonis sacerdotis et philosophi memphici de mysteriis, die sich auf der alchemistischen Schrift Tabula Smaragdina aufbaut.“15 Es handele sich, sofern es um geistliche Handlungen geht, offensichtlich um eine Übertragung „katholischer Priester- und Mönchsweihen ins Protestantische“.16 Starck sei im Besitz dieser ‚Klerikalen Akten‘ gewesen. Ob er sie selbst verfasst oder ob er sie tatsächlich irgendwoher bekommen hat, lässt sich wohl nicht mehr klären. Schon 1771 war Herzog Ferdinand von Braunschweig, Lessings (1729–1781) Dienstherr, für das neue System gewonnen worden. Er wurde zum Großmeister aller vereinigten Logen der VII. Provinz (Germania) gewählt; und am 22. Mai 1775 zogen 26 deutsche Fürsten als Mitglieder der durch das Klerikat neudefinierten strikten Observanz in einem feierlichen Festzug zum Ordenshaus in Braunschweig. Starck in Königsberg
Das also war der geheime gesellschaftliche Hintergrund des Königsberger Oberhofpredigers. Seit 1770 war Starck an der Königsberger Universität außer14 Ebd. 15 Eine Kopie finde sich im Archiv der großen Landesloge der Freimaurer von Deutsch-
land; so der Art. ‚Klerikale Akten‘. In: Ebd., Sp. 839.
16 Ebd., Sp. 838 f.
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ordentlicher Professor für Orientalistik und bald auch für Logik und Metaphysik, zugleich wurde er zum Hofkaplan ernannt. 1773 erlangte er das Doktorat der Theologie17 und wurde vierter Professor für Theologie an der Universität Königsberg. Seinen Philosophielehrstuhl gab er auf. Im März 1774 erfolgte die bereits erwähnte Antrittsdisputation De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam,18 gegen die Hamann seine Hierophantischen Briefe schrieb. Ob Starck, der mit seinen masonischen Beschäftigungen anderweitig intensiv engagiert war, sich um Hamanns Polemik überhaupt ernsthaft gekümmert hat, ist mir unbekannt. Hamann hat ihm jedenfalls ein Exemplar der Hierophantischen Briefe zukommen lassen.19 Starck heiratete 1774 Maria Albertine Schultz, die jüngste Tochter des verstorbenen Generalsuperintendenten Franz Albert Schulz, dessen Amt er zwei Jahre später übernehmen sollte. Zugleich wurde er Haupthofkaplan und dritter Professor der Theologie. Starcks spätere masonische Biographie
Offensichtlich waren Starck seine masonischen Aktivitäten wichtiger als seine offiziellen Amtspflichten in Königsberg. 1775 erschien dort seine Schrift Hephästion (Hephaistion = Schmiede), die die Grundlehren der Natürlichen Theologie darstellte. 1777 verließ er Königsberg und ging an die Academia Petrina in Mitau, Hauptstadt des damaligen Herzogtums Kurland, zugleich ein Zentrum der Freimaurerei. Allerdings überwarf er sich mit den dortigen Freimaurern, die ihn zwingen wollten, sein geheimes Wissen über das Klerikale System preiszugeben.20 In der Folge kam es 1778 zur Trennung zwischen dem Klerikalen System und dem der strikten Observanz.21 Damit waren Schicksal und Existenz beider Ordnungen besiegelt. Auf dem Freimaurerkongress 1782 in Wilhelmsbad bei Darmstadt 17 Starcks theologische Qualifikationsarbeit: Dissertatio inauguralis de usu antiquarum
versionum Scripturae Sacrae interpretationis subsidio. Königsberg 1773.
18 Johann August Starck: De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam liber singu-
laris. Königberg 1774. – Dass Hamann gegen diese Disputation seine Hierophantischen Briefe schreibt, darauf verweist er in N III , 127; ZH III , 77 f.; vgl. auch HHE V, 18–30. 19 ZH III , 195. – Vgl. hierzu Michael Vesper: Aufklärung, Esoterik, Reaktion. Johann August Starck (1741–1816). Geistlicher, Gelehrter und Geheimbündler zur Zeit der deutschen Spätaufklärung. Darmstadt 2012, S. 56 f. (n. 242). 20 Lennhoff und Posner: ‚Klerikat, Klerikales System‘ (wie Anm. 13), Sp. 841. Vgl. auch Runkel: Geschichte der Freimauerei in Deutschland (wie Anm. 8), S. 299. 21 Ludwig Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Heidelberg 1980, S. 10.
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lösten sich die Strikte Observanz und das Klerikale System auf.22 Starck war ein Jahr früher nach Darmstadt umgesiedelt.23 An der Organisation des Wilhelmsbader Kongresses hat er wohl mitgewirkt, für den Karl von Hessen-Darmstadt,24 Vizekönig von Dänemark, und Ferdinand von Braunschweig,25 der noch immer als Großmeister aller Schottischen Logen fungierte, wesentlich verantwortlich waren.26 Die Zerwürfnisse im Orden veranlassten Starck 1785 zur Abfassung einer Kampfschrift gegen die Strikte Observanz mit dem Titel Saint Nicaise.27 1785 entbrannte ein öffentlicher Streit um Starcks evangelische Überzeugung. Starck war lutherischer Superintendent in Königberg gewesen und versah dieses Amt jetzt in Darmstadt. Die Berlinische Monatsschrift hatte offensichtlich Wind von Starcks konfessioneller Unentschiedenheit bekommen und behauptete von ihm als „einem bekannten protestantischen Gottesgelehrten“, dass er „ein Jesuit von der vierten Klasse sei.“28 Starck klagte gegen die Zeitschrift und verlor den 22 Vgl. ebd., S. 21–54; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenauf-
klärung. Berlin 2004 S. 41–45.
23 Seine Bibliothek ist als Sondersammlung Teil der ULB Darmstadt. 24 Landgraf Karl von Hessen-Kassel (1744–1836), Schwiegersohn bzw. Schwager der däni-
schen Könige Friedrich VI . und Christian VII ., dänischer Feldmarschall und Statthalter in Schleswig-Holstein, zeitweise auch in Norwegen. Eine neuere Biographie unter Einschluss der maurerischen Tätigkeiten fehlt. Für die äußere Biographie aufschlussreich sind die von Karl Bernhardi herausgegebenen Denkwürdigkeiten des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel (Kassel 1866). Zu Karls späteren spiritualistischen Aktivitäten vgl. Antoine Faivre: J. C. Lavater, Charles de Hesse, et l’École du Nord. In: ders.: Mystiques, théosophes et illuminés au siècle des lumières. Hildesheim 1976, S. 175–190. 25 Zum Zusammenhang vgl. Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 (wie Anm. 21). 26 Starcks Beitrag zu diesem Kongress war die Schrift Über die alten und neuen Mysterien (Berlin 1782). 27 Saint Nicaise oder eine Sammlung merkwürdiger maurerischer Briefe, für Freymäurer und die es nicht sind. Aus dem Französischen übersezt. Frankfurt a. M. 1785. 28 Anon.: Beitrag zur Geschichte zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei. In: Berlinische Monatsschrift (Januar 1785), S. 59–80. In dem anonymen Artikel wurde Starck als „Jesuit von der vierten Klasse“ bezeichnet, „von der Klasse, welche das Gelübde thun muß, sich zu Missionen brauchen zu lassen.“ (ebd., S. 62). Der Artikel löste eine ziemlich absurde Debatte über die geheime Unterwanderung der Freimaurerlogen durch den 1773 aufgelösten Jesuitenorden aus. Im Juliheft des folgenden Jahres wurde in einem gleichfalls anonymen Artikel eröffnet, wer denn „auf Veranlassung solcher Gesellschaften katholisch geworden, die Tonsur empfangen, zum Klerikus gemacht, ja selbst ein Jesuit der vierten Klasse geworden sein soll“, nämlich: „Hr. Johann August Stark, Magister der Philosophie, und Doktor der Theologie, welcher bekanntlich seit mehrern Jahren sehr wichtige Aemter in der lutherischen Kirche bekleidet hat, ehemals Professor der Theologie, Generalsuperintendent (d. h. erster Geistlicher im ganzen
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Prozess. Gedicke und Biester, die Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift, veröffentlichten 1787 die Prozessakten, Starck replizierte noch im selben Jahr mit einer zweibändigen Gegendarstellung Ueber Krypto-Katholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime Gesellschaften.29 In Darmstadt wirkte Starck in der Folge schriftstellerisch für eine konfessionelle Verständigung30 und gegen die Französische Revolution.31 1811 wurde er in den Freiherrenstand erhoben. 1816 starb er siebzigjährig in Darmstadt.
De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam Welche Bedeutung Starck 1774 der Disputation pro loco für eine Königsberger theologische Professur beigemessen hat, lässt sich nicht genau bestimmen – sehr hoch kann sie nicht gewesen sein, denn der Promotionsakt fiel in die Zeit, in der er von seinen masonischen Aufgaben vollständig absorbiert war. Die Verschmelzung der Strikten Observanz mit dem Klerikat war vollzogen; er stand im Zenit seiner Karriere bei den Freimaurern, die vom deutschen Hochadel gestützt wurden. Die Disputation kann wohl am ehesten als Schritt gewertet werden, durch den Starck seine bürgerliche Existenz sichern wollte. Für seine freimaurerische Spitzenposition war dies Bedingung. Der Text der Disputation ist durchaus geeignet, masonische, religionsgeschichtliche und im engeren Sinne theologische Positionen zu verbinden – es handelt sich um eine Verteidigung kultischer Religiosität im Rahmen einer Philosophia perennis. Im Proömium stellt Starck die These vor: Die ursprünglich reine Religion des Urchristentums sei durch die heidnischen Riten „valde a pristina puritate ac simplicitate“ verändert worden.32 Es handle sich bei dieser Abhandlung nur um die erste von zwei geplanten. Diese erste behandle den äußeren Kult Königreich), und Oberhofprediger zu Königsberg war, und itzt als Oberhofprediger zu Darmstadt steht […]“; Anon.: Noch etwas über Geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland. In: ebd. (Juli 1786), S. 44–100, hier S. 45 und 46 f. Zit. nach Hamann: Fliegender Brief (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 105; Quellengabe hier irrtümlich „Juli 1785“. 29 Ueber Krypto-Katholizismus, Proselytenmacherei, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachten Beschuldigungen, mit Acten-Stücken belegt. Frankfurt a. M./Leipzig 1787. 30 Theoduls Gastmahl, oder über die Vereinigung der verschiedenen christlichen Religionssocietäten. Frankfurt a. M. 1809. 31 Der Triumph der Philosophie im 18. Jahrhundert. 2 Bde. Germantown [Augsburg] 1804. 32 Starck: De tralatitiis (wie Anm. 18), S. 1 [sehr von der ursprünglichen Reinheit und Einfachheit].
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(externa christianorum disciplina), die zweite, die nie erschien, solle die Dogmengeschichte behandeln (dogmata proponet, ubi eorum fontes atque caussas inquirimus).33 Es folgen zwölf Paragraphen:34 § 1: Die christliche Gemeinschaft besaß von Anfang an einige, sehr einfache Kultformen. § 2: Die alten jüdischen Kultformen wurden teilweise im frühen Christentum weiterverwendet. Vor allem das ‚Amen‘ des jüdischen Gottesdiensts sei christlich übernommen worden.35 § 3: Weil sich die Christen aber auch von den Juden unterscheiden wollten, wurden unter dem Einfluss vieler Heidenchristen Kulte der griechischen Mysterienreligionen übernommen. Der griechische Begriff ‚mysterion‘ belege dies.36 § 4: Die den Mysterienreligionen entlehnten Worte wurden für die Taufe und die Taufvorbereitungen verwendet. Die wichtigen kultischen Termini sind ‚katharos‘ und die Bußformeln der Taufe ‚abstinentia‘ sowie ‚confessio‘. Ein wichtiger Beleg für die mystische Bedeutung der Taufe findet sich bei Paulus Röm. 6,4–6, wo Paulus erläutere, wie die Gläubigen durch die Taufe mystisch sterben und auferstehen. § 5: Die Kirchenväter hätten nicht alle Übernahmen aus den heidnischen Kulten verurteilt, sondern viele gebilligt, weil sie uralte Wahrheiten enthielten, die freilich im Heidentum verdorben worden seien.37 So gebe es bspw. die Märtyrerverehrung schon in der Urkirche; diese Kulte hätten sich seit der Konstantinischen Wende verstärkt. § 6: Seit dem konstantinischen Frieden seien weitere Riten aus dem Heidentum übernommen worden, nämlich: § 7: Die Altäre und ihr Schmuck, § 8: Die Festsetzung heiliger Zeiten, u. a. sei der Sonntag eingeführt worden. § 9: Neben den Reinigungsriten seien auch Weihwasser und Weihrauch aus dem heidnischen und jüdischen Kultus übernommen worden. Das Christentum habe sich aus Akkommodationsgründen den vorgefundenen Riten angeglichen, „ut vel splendidiorem et acceptabilem magis Christi cultum iis redderent, qui a
33 Ebd., S. 3 [zeigt die Lehrmeinungen auf, wobei wir nach Quellen und Ursachen for-
schen].
34 Für die Zusammenfassung wurde auch Schoonhovens Einleitung verwendet, HHE V,
22–24.
35 Starck: De tralatitiis (wie Anm. 18), S. 4. 36 Als Belege führt Starck – ebd., S. 9 f. – Athanasius, Augustin, Cyrill von Jerusalem
(Katechesis VI) an.
37 Das ist auch die These in Starcks: Ueber die alten und neuen Mysterien. Berlin 1782.
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veritate adhuc erant alieni, vel imbecilliorum animis indulgerent.“38 Das gelte vor allem für den Taufritus. § 10: Ebenso seien Reliquienverehrung und Prozessionen Übernahmen aus dem Heidentum. Starcks Beispiele sind der Gürtel Marias, die Kreuzesreliquien, die Dornenkrone.39 Diese Kulte seien nicht nur Übernahmen aus dem Heidentum, sondern hätten sich auch rein innerkirchlich entwickelt. § 11: Der äußere Kult habe viele Wandlungen durchgemacht,40 er finde sich teils schon in der Synagoge, teils in heidnischen Tempeln. Der jüdische Kult und seine Priesterordnung stamme, wie Michaelis in seinem Mosaischen Recht festgestellt habe, aus der Zeit nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil und der Ordnung des zweiten Tempels. Von dort habe das Christentum viele Kulte und Ordnungen übernommen. Das Bischofsamt und damit eine innerkirchliche hierarchische Ordnung sei seit Konstantin politisch und kirchenorganisatorisch wichtig geworden. Vor allem sei die kultische Kleidung der Priester eine Übernahme aus dem Heidentum und dem Judentum. Das gelte auch für die Dämonenaustreibung, das Zölibat und die Riten des radikalen Mönchtums. § 12: Starck kennt die reformatorischen Einwände gegen die kirchlichen Riten, aber er kann sie nicht billigen. Er hält dagegen: 1. Die menschliche Natur werde mehr durch äußere Zeichen als durch Vernunftgründe [zur Religion] bewogen. Die meisten Menschen seien außerstande, einer Religion zu folgen, die „ab omni ritu puram atque liberam“41 sei. Sie brauchten „iucunditas et splendor“.42 2. Die Würde der Religion fordere feierliche Gebräuche. „Quod et dignitati religionis egregie respondere videtur.“43 3. In den Kulten werde die Wahrheit der Religion zwar verhüllt, aber der Kult sei auch eine Hilfe für das einfache Volk. 4. Schließlich müssten – ein altes Argument aller Kultvertreter – die Geheimnisse der Religion vor Profanisierung geschützt werden. Auch Paulus habe festgestellt, dass die Heiden den einen, verborgenen Gott, mit ihrem Kult insgeheim verehrten; und vor allem hätten die heidnischen Priester in Kenntnis der natürlichen Religion wichtige Wahrheiten für ihre Völker verhüllt: „Multas enim et sane magnas veritates, uti idolorum vanitatem, Dei unitatem, praemia et poenas futurae vitae gentes neutiquam ignorasse a viris doctis satis superque demonstratum est: sed quantis haec involucris tecta, et fabellarum figmentis veritas deformata fuerit, omnes sciunt.“44
38 Starck: De tralatitiis (wie Anm. 18), S. 40 [um Christi Verehrung denen glänzender und
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annehmbarer zu machen, die bis dahin der Wahrheit fremd waren, oder schwächeren Gemüter zu gefallen]. Ebd., S. 49. Ebd., S. 53. Ebd., S. 66. [von jedem Ritus ledig und frei] Ebd., S. 66. [Annehmlichkeit und Glanz] Ebd., S. 67. [Was der Würde der Religion vorzüglich zu entsprechen scheint.]
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Das Fazit von Starcks Disputation ist ein Bekenntnis zur Natürlichen Religion. „Zweck und Ziel aller Religion ist es, daß der Geist des Menschen von der Erde zum Himmel emporgehoben werde und wahre Tugend, Liebe zu Gott, und Furcht vor Gott in der sterblichen Brust gedeihe. Wenn, um dies zu erreichen, die äußere Kultform der Lehre selbst zu Hilfe kommt, hat die Religion ihren Zweck erreicht.“45 Wenn man sich die Hauptargumente Starcks ansieht, so sind sie eine Verteidigung des gottesdienstlichen Kultes. Von dogmatischen Positionen wie der Rechtfertigung durch den Glauben, vom Schriftprinzip, von der Christologie ist nicht die Rede. Vielmehr geht es um eine Darstellung der kultischen Variante der Philosophia perennis und der Natürlichen Religion. Diese Tendenz passt durchaus zu seiner freimaurerischen Parallelbiographie. Aber Starck bedient mit seiner Disputation auch eine wohl etablierte theologisch-historische Disziplin. Er zitiert die historische Religionswissenschaft und die Kirchengeschichten aller Konfessionen: Bellarmins Controversiae sowie Baronius’ Kirchengeschichte für die Katholiken, für die Kirchen der Reformation Vossius’ De Idololatria, Spencers De Diis Syriis, Jurieus Histoire de Dogmes et des Cultes, Warburtons Divine Legacy of Moses, Vitringas De Synagoge vetere, Van den Daeles De originatione et Progressu Idololatriae, Ushers De Origine Episcoporum und natürlich Michaelis’ Mosaisches Recht. Alle diese Traditionen sind Hamann suspekt. Für ihn ist entscheidend: Wenn der Kult legitimer und konstitutiver Teil der Religion ist, dann fällt der Monopolanspruch der Bibel für den Glauben und damit für das Seelenheil jedes Einzelnen. Freilich sind die Prinzipien sola scriptura und sola fide, die sich gegenseitig stützen und auf die Hamann seine Argumente baut, selbst lange brüchig geworden. Zwar veröffentlichte Lessing Hermann Samuel Reimarus’ (1694–1768) ätzende Kritik des Alten und Neuen Testaments erst einige Jahre später, aber durch die historisch-philologische Kritik war die theologische Autorität der Bibel bereits bedeutend vermindert. Mit der spät datierten Redaktionsgeschichte des neutestamentlichen Kanons näm44 Ebd., S. 68. [Dass viele und sicherlich große Wahrheiten, wie der Götzen eitler Wahn,
die Einheit Gottes, Lohn und Strafe eines künftigen Lebens den Heiden keineswegs unbekannt waren, das haben gelehrte Männer mehr als genug erwiesen: unter wie vielen Schleiern verdeckt aber und durch wie viele fabelhafte Erdichtungen entstellt diese Wahrheit war, das weiß jeder.] 45 Ebd., S. 70: „Is namque omnis religionis finis atque scopus est, ut a terra ad coelum evehantur mentes hominum, vera virtus, Deique amor atque timor in pectore mortali vigeat; ad quod obtinendum, si externa cultus forma ipsi doctrinae succurrit, finem suum religio consecuta est […].“ Ich zitiere die Übers. von Schoonhoven, HHE V, 24.
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lich hatte sich die Bibel selbst als Produkt der Kirchengeschichte zu erkennen gegeben. Nicht mehr war die Bibel die Basis der Kirchengeschichte, sondern es kehrte sich die Entwicklung um: Die Kirchengeschichte wurde zur Basis der Bibel. Hier war vor allem Johann Salomo Semlers (1725–1791) Von freier Abhandlung des Kanon (1771) entscheidend. Wenn die Bibel nicht mehr als verlässlicher Text galt, dann bekam die dogmatische Frage nach der Seligkeit der Heiden, die seit Moses Mendelssohns (1729–1786) Phädon (1767) und Johann August Eberhards (1739–1809) Neuer Apologie des Sokrates (1772) heftig diskutiert wurde, eine neue Dimension. In diesen Zusammenhang der Dogmenauflösung gehört auch Starcks Dissertation De tralatitiis. Das hat Hamann genau gesehen, und er hat darauf in seinen Hierophantischen Briefen reagiert.
Hamanns Hierophantische Briefe Hamann replizierte auf Starcks Disputation,46 ohne die intensiven masonischen Aktivitäten des frisch ernannten Universitätstheologen zu berücksichtigen. Er beurteilte ihn ausschließlich durch seine lutherische Brille; das hatte zur Folge, dass er die Kultfrömmigkeit Starcks als zugleich deistisch und katholisierend abqualifizierte. Das war zwar nicht ganz falsch, aber es war schräg. Die kultische Dimension der Religion war Hamann fremd, er lehnte sie unbesehen von vornherein ab, und das geschah ohne wirkliche Kenntnis der katholischen Kultfrömmigkeit. Woher sollte er diese auch kennen? Vielmehr verband er die Kultfrömmigkeit wegen ihrer ‚heidnischen‘ Parallelen mit einem abstrakten Deismus, der sich für ihn von Atheismus nicht unterschied. Starcks Anstellung in Königsberg war durchaus mehr als die eines einfachen Universitätstheologen. Sein Ziel war es offensichtlich, Christentum und Freimauerei im Sinne einer gemeinsamen Tradition der Philosophia perennis zu verbinden. Dieses Ziel sah er auch als Aufgabe einer aufgeklärten Reform des Luthertums an, das die Kulte der frühen Kirche akzeptieren müsse. Die Tendenz entsprach durchaus Mendelssohns Phädon und Eberhards Neuer Apologie des Sokrates. 46 Hamann hat die Hierophantischen Briefe unter dem Pseudonym „Vettii Eapagthi Regio
monticolae“ veröffentlicht. In einer Fußnote zum Fliegenden Brief schreibt Hamann: „Vettius Epagathus Lugdunensis starb als advocatus Christianorum und Blutzeuge unter dem Römischen Kaiser Antonius Verus (Euseb. Eccles. L. V. c. I) […].“ Eusebius (5,1,9) berichtet, dass Vettius anlässlich der Kirchenverfolgung im Jahr 177 die Christen öffentlich verteidigt habe. Auf die Frage, ob er selbst Christ sei, habe er dies mit lauter Stimme bejaht.
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Gegen diese Entdogmatisierung des Christentums wendet sich Hamann in seinen Hierophantischen Briefen mit Vehemenz: Er besteht auf der Selbständigkeit des bibelorientierten Christentums, das er typologisch mit der Verbindung des hebräischen Alten und des griechischen Neuen Testaments begründet und das er in der Urkirche verortet. Seine zeitgenössischen Gegner sind der Deismus und die zugehörige Neologie; und diese Kombination identifiziert er umstandslos mit dem Katholizismus. Seine Kenntnisse des Katholizismus sind minimal, in den Hierophantischen Briefen kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, er wisse davon kaum mehr als er in der Christentum-Satire Friedrichs II., dem Abrégé de Histoire Ecclesiastique de Fleury von 1766 gelesen hat. Diese Sammlung von kritisch verfälschenden Exzerpten aus der berühmtesten katholischen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts hatte Friedrich II. von Preußen veranlasst und mit einem so religionskritischen Vorwort versehen, dass er sich zu Lebzeiten nicht dazu bekennen mochte.47 Hamann besaß den Abriss48 und wusste wohl auch, wer hinter dem Vorwort stand, gehörte Friedrich doch zu seinen theologischen Lieblingsfeinden.49 Gleichwohl verwendet Hamann das Abrégé, als ob es die Ansicht des frommen katholischen Historikers Claude Fleury (1640–1723) wiedergebe.50 Dabei zeigen der Anfang und der Schluss des Vorworts, die antichristliche und kirchenkritische Tendenz des Buchs überdeutlich: Un Juif de la lie du Peuple, dont la naissance est douteuse, qui mêle aux absurdités d’anciennes prophéties hebraïques, des préceptes d’une bonne morale; auquel on attribue des miracles, & qui finit par être condamné à un supplice ignominieux, est le héros de cette Secte. Douze fanatiques se répandent de l’Orient jusqu’en Italie, ils gagnent les Esprits par cette morale si sainte & si pure
47 Abrégé de l’Historie Ecclésiastique de Fleury. Traduit de l’Anglois. A Berne [recte Ber-
lin] 1766. – Friedrich II . hat seinen Auszug 1762 in den letzten Monaten des Siebenjährigen Krieges während der Belagerung von Schweidnitz, bearbeitet. Er hat zwar die Autorschaft halbherzig abgeleugnet, aber aus seinem Briefwechsel wird deutlich, dass er der Verfasser des Vorworts (Avant-Propos) und wohl auch der Kompilator war. Ich zitiere hier nach der Originalausgabe. Der Text ist auch Teil der Werke Friedrichs II .: Œuvres de Frédéric le Grand. Hg. von Johann David Erdmann Preuß. Bd. 7. Berlin 1847, S. 131–144. – Zu den Entstehungsbedingungen vgl. Heinrich Morf: Friedrich der Große als Aufklärer. In: Wissen und Leben 11 (1912/13), S. 26–38. 48 Biga Bibliothecarum, N V, 63 (93/294). 49 Vgl. Hamanns Invektive gegen Friedrich II . Au Salomon de Prusse, N III , 55–60. 50 Claude Fleury: Histoire ecclesiastique. 20 Bde. Paris 1691–1720.
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qu’ils prêchoient; & si l’on excepte quelque Miracles propres à ébranler les imaginations ardentes, ils n’enseignoient que le Deisme.51
Hamann wird diesen Passus zitieren. Die Christenverfolgung habe den Fanatismus der Gläubigen nur gesteigert, der Bilderkult sei durch „saints Imposteurs“ eingeführt, der ursprüngliche Deismus der Apostel durch die griechische Philosophie umgarnt worden, so dass aus dem Jesus der Apostel der Sohn Gottes geworden sei. Es folgt eine Kurzdarstellung der Kirchengeschichte als einer ständigen Steigerung ungerechtfertigter politischer Machtansprüche, die kurzfristig durch die Reformation verändert wurde. Der positive Einfluss des Protestantismus auf die katholische Dogmatik habe sich auch im Konzil von Trient gezeigt: L’œuil critique & sévére des Réformateurs arrêta les Peres du Concile de Trente, prêts à faire de la Vierge la quatriéme personne de la Trinité: toutefois pour la consoler ils lui donnèrent le titre de Mere de Dieu & de Reine du Ciel.52
Mit dieser Mariologiekritik ist die Bedeutung der Reformation aber auch erschöpft. Als Fazit gilt für die gesamte kirchlich verfasste christliche Religion, welcher Konfession auch immer: En un mot l’Histoire de l’Eglise nous présente l’Ouvrage de la politique, de l’ambition & de l’intérêt des Prêtres: au lieu d’y trouver le caractère de la Divinité, on n’y remarque qu’un abus sacrilége du nom de l’Etre Suprême, dont des imposteurs révérés se servent comme d’un Voile pour couvrir leurs passions criminelles. On se gardera bien de rien ajoûter à ce tableau: on croit en arriver
51 Friedrich II .: Avant-Propos. In: Abrégé de l’Historie Ecclésiastique de Fleury (wie
Anm. 47), S. 3 f. [Ein Jude aus dem Bodensatz des Volkes, dessen Geburtsumstände zweifelhaft sind, der den Absurditäten der alten hebräischen Prophezeiungen Lehren einer gesunden Moral beimischt, dem man Wunder zuschreibt und dessen Leben damit endet, dass er zu einer verächtlichen Hinrichtung verurteilt wird, ist der Held dieser Sekte. Zwölf Fanatiker verteilen sich vom Orient bis nach Italien, mit der so heiligen und so reinen Moral, die sie predigten, gewinnen sie die Geister; nimmt man gewisse Wunder aus, die geeignet sind, die hitzige Einbildungskraft zu erschüttern, so lehrten sie nichts anderes als Deismus.] 52 Ebd., S. 30 f. [Das kritische und strenge Auge der Reformatoren stoppte die Väter des Konzils von Trient, die sich anschickten die Jungfrau zur vierten Person der Dreifaltigkeit zu machen; um sie zu trösten, verliehen sie ihr den Titel Mutter Gottes und Königin des Himmels.]
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assez dit pour quiconque pense, & l’on ne prétend point épeler pour des Automates.53
Aus dieser gleichermaßen kult- und kirchenkritischen Perspektive hat Hamann seine Hierophantischen Briefe geschrieben, und unter diesen Voraussetzungen wird auch sein – mitunter groteskes – Missverständnis des Katholizismus und die daraus folgende Polemik verständlich. Erster Brief: Praeludium – Starcks Balken im Auge des Katholizismus
Hamann beginnt mit einem polemischen Referat von Starcks Disputation De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam. Die Religion sei am Anfang einfach und schmucklos, aber der natürliche Hang des Menschen zum Wahnsinn habe entstellende Riten und Gebräuche eingeführt. Hamann reagiert auf diese These Starcks sofort mit seinem konfessionspolemischen Hauptargument: Der Katholizismus beruhe mit seinen Riten auf dem Heidentum, dogmatisch sei der Katholizismus blind. Starcks „genealogischer“ Herleitung der Riten fehle es an der „dogmatischen Bestimmung der zu dieser Materie nöthigen Begriffe und Grundsätze“,54 so „daß man allenthalben nichts als einen blinden Splitterrichter des Pabsttums mit einem Sparren des Pabsttums in seinem Schalksauge, oder einen typischen Zeichendeuter des verblichenen Jahrhunderts lächerlichen Angedenkens, wahrzunehmen scheint.“55 Der angemaßte „Splitterrichter“ (Mt 7,3) ist offensichtlich der Katholizismus, der das Heidentum für die Fehler kritisiert, die es selbst in viel größerem Maße hat: „Sparren des Pabsttums“ in seinem, d. i. Starcks „Schalksauge“. Für Starck steht, laut Hamann, fest, „daß das christliche Rom dem heidnischen seinen Aberglauben abgeborgt hat.“56 Die Konfrontation, die Hamann aufmacht, heißt: römisch-katholisch gegen biblisch. Hamann hat als intellektueller Schrift-
53 Ebd., S. 37. [Kurz, die Kirchengeschichte zeigt uns das Werk der Politik, des Ehrgeizes
und des Interesses der Priester. Statt dem Wesen der Gottheit begegnen wir hier einzig dem Missbrauch des Namens des Höchsten Wesens, dessen sich verehrte Betrüger wie eines Schleiers bedienen, um ihre verbrecherischen Leidenschaften zu verhüllen. Wir werden uns hüten, diesem Bild etwas hinzuzufügen; für einen jeden, der denkt, haben wir wohl genug gesagt, für Automaten zu buchstabieren aber, ist nicht unsere Absicht.] 54 HHE V, 41; N III , 137. 55 HHE V, 41 f.; N III , 137 f. 56 HHE V, 42; N III , 138.
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Monopolist und unversöhnlicher Gegner aller Religionshistorie kein Verhältnis zum Kult als Moment des Religiösen. Zweiter Brief: Christentum – freimaurerisch?
Dieser zweite Brief ist auffallend kurz, er ist getragen von Hamanns Entrüstung darüber, dass Starck Luther kritisiert hatte. Starck hatte die Frage gestellt, ob es in der christlichen Kirche einen Platz geben könne für Riten und äußere Zeremonien. Er weiß natürlich, dass die Reformatoren den äußerlichen Ritus weitgehend abgelehnt haben. Hamann wittert nun umgekehrt in der Betonung des Kults und in Starcks Kritik von Luthers Kultablehnung katholische Werkgerechtigkeit, die er wiederum umstandslos mit dem Heidentum identifiziert. Seinem fiktiven Briefpartner gegenüber stellt Hamann fest, daß die ganze Gallerie der heidnischen Misbräuche im Christentum, nach dem Gesichtspuncte des Pabstums, als der ältesten, wahren und einigen katholischen Mutterkirche angelegt ist, und das liebe Luthertum, wie ein bloßes Schisma und eigenmächtiger Separatismus eines aufstößigen, unwissenden und wahnsinnigen Mönchs in gar keine Rechnung kommen kann, und daß wir, um den Namen Christen zu verdienen, noch eines stärkeren Reformators zu erwarten haben […].57
Hamann unterstellt Starck, dass er dieser Reformator sein wolle, denn der Text fährt fort: „eines Alexanders und seines Gesellen Hephaistos.“ Starck hatte die Vorrede seiner Apologie des Ordens der Freimäurer 1769 mit „Alexander von Adlersheim“ unterschrieben und 1774, im Jahr der Disputation De Tralatitiis, ein Büchlein mit dem Titel Hephästion herausgegeben.58 Als Beleg für die Ablehnung Luthers, die Starck mit den Katholiken teile, zitiert Hamann ausgerechnet die Vorrede von Friedrich II. zum Abrégé de L’Histoire Ecclesiastique de Fleury: „Si l’on s’arrête aux bassesses grossieres de stile, Martin Luther ne paroîtra qu’un Moine fougueux, Ecrivain barbare d’un Peuple peu éclairé.“59 Die Reformation wird hier als Schisma vom apostolischen Christentum gedeutet; das apostolische Christentum, auf das sich der Katholizismus beruft, 57 HHE V, 47; N III , 140. 58 Vgl. den Kommentar von Schoonhoven in HHE V, 47. 59 HHE V, 47. – Friedrich II .: Avant-Propos (wie Anm. 51), S. 29 [Richtet man seine Auf-
merksamkeit auf die ungehobelten Niederträchtigkeiten des Stils, so erscheint Martin Luther bloß als ein aufbrausender Mönch, als ein barbarischer Schriftsteller eines wenig aufgeklärten Volkes.]
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habe, gemäß der zitierten Satire Friedrichs II. auf das Christentum, ursprünglich nur eine deistische Lehre verkündet. Das apostolische Christentum ist also gemäß der – aus der Fleury-Vorrede Friedrichs II. zitierten Kirchengeschichte – selbst ursprünglich nur Natürliche Theologie und nie Erlösung und Gnade erhoffender Glaube gewesen. Genau diese angeblich katholische Lehre kann Hamann nicht teilen und hält dagegen: „Ab initio non fuit sic.“60 Für Hamann aber sind damit zwei Punkte geklärt: 1. Katholizismus ist Deismus; 2. Die Lehre, die die neuen Deisten mit ihrer Veränderung des Protestantismus beabsichtigen, ist in der Tendenz Kryptokatholizismus, und dieser ist zugleich die Ideologie der Freimaurer. Dritter Brief: Christentum und Kult
Hamann hat anscheinend – und nicht zu Unrecht – den Eindruck, dass er sich mit seiner Invektive gegen die unheilige Allianz von Kryptokatholizismus, Deismus und Aufklärungsprotestantismus durchaus isoliert hat; er steht gegen allen theologischen Zeitgeist. Dieser Zeitgeist begreift sich als vernünftig, und der Geist argumentiert folglich rational. Dieser Denkduktus ist für den strikten Lutheraner Hamann selbst diskreditiert. Er ist anmaßend gegenüber der Offenbarung, er ist sündhaft, denn er macht das menschliche Denken zum Maßstab der Akzeptanz des göttlichen Wortes. Angesichts dieser Verdorbenheit der argumentativen Rede bleibt allein die Verkündigung übrig, die prophetische Rede. Hamann sieht sich deshalb typologisch als neuer Johannes, als Prediger in der Wüste. Zugleich weiß er, dass die zeitgenössische Theologie gelehrt ist und sich in ihrer Gelehrsamkeit selbst zerstört. Hamann kennt, liebt und hasst diese Attitüde, er bezieht sich ironisch-prophetisch (falls dieses Paradox denn denkbar ist) genau auf diesen Habitus, den er seit seinen Kreuzzügen des Philologen von 1762 imitiert, parodiert und perfektioniert hat. Aber er hat sich nie bereitgefunden, aus dieser gelehrten Hassliebe eine Argumentation zu stricken. Deshalb bleibt die Prophetenrede des Wüstenpredigers exklamatorisch. Der Flickenteppich von Eigenzitaten zu Beginn dieses dritten Briefs ist zugleich ein Beleg für die Kontinuität seiner Verkündigung. In der Aesthaetica in nuce hatte er gegen die philologische Theologie von Johann David Michaelis (1717–1791) polemisiert. „Heil dem Erzengel“ – und fährt hier nun fort, „widerkäuender Gemeine mit gespaltener Klaue! Lau Wasser, wie sein Styl, sey, Nachwelt! in
60 HHE V, 48; N III , 140. [Von Anfang weg war dem nicht so.]
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Deinem Munde sein Name.“61 Michaelis war ihm die typologische Verkörperung des Teufels, der gefallene Erzengel mit gespaltener Klaue, dessen Argumente die Bibelphilologen wiederkäuten, war der Berliner Probst Johann Joachim Spalding (1714–1804). Beide zieh er biblisch der Lauheit derjenigen, die der Herr ausspeien wollte aus seinem Munde (Offb 3,16). So schreibe er, anders wolle er gar nicht schreiben. Es handelt sich weniger um ein trotziges stilistisches Aufspreizen als um ein Anschreiben gegen die deistischen Selbstverständlichkeiten, die mit ihrer Pseudo-Klarheit die Tiefe der Schrift und der Offenbarung verdecken. Der Prophet verkündet heilige Worte, die durch ihre Offenbarungseinwurzelung wirken wollen; gleichviel, ob sie verstanden werden oder nicht. Nach dieser prophetischen Selbstrechtfertigung folgt eine Auseinandersetzung mit dem Vorwort Friedrichs II. zum Abrégé de l’Histoire Ecclesiastique de Fleury, das er im zweiten Brief durchaus affirmativ gegen den Katholizismus zitiert hatte. Jetzt geht es aber um die Konfrontation des Predigers in der Wüste mit dem falschen Salomon de Prusse und dessen Lehren. Hamanns prophetische Invektive lautet: „Ein Herr, der zu Lügen Lust hat, des Diener sind alle gottlos“ (Spr 19,12). Gegen das „materielle[…] Nichts des Theismus“ hält er das „unerklärliche oder geistige Etwas des Christentums in seinem unbekannten Werth“.62 Das materielle Nichts des Theismus wird durch Friedrich II. verkörpert. Der Preußenkönig wird als neuer Typus des römischen Kaisers Julian, des Apostaten, vorgestellt: Der habe einerseits den Sonnenkult und andererseits den Kult der Göttermutter eingeführt. Der Katholizismus ist damit als Deismus typologisch identifiziert; und dieses Neualtheidentum findet Hamann bei Starck wieder, der Friedrich II., also dem neuen Julian Apostata, zuarbeitet: Starck habe seine Kulte aus den „Absurditäten eines Libanius und Jamblichus“ übernommen und sei „in kindische Entzückungen über ihren Witz“ verfallen; er sei ein philosophischer Legendenschreiber „für Leser der Finsternis“, nicht aber für „Hermenevten mit gewaffneten Augen“.63 Gegen den so herauspräparierten magischen Popanz von Sonnenkult (Christus– Sol) und Göttermutter (Maria Theotokos) stellt er die fleischgewordene Offenbarung eines „jüdischen homunculi“, dessen Name gemäß dem Philipperhymnus (Phil 2,9)
61 HHE V, 49; N III , 141; Selbstzitat aus N II , 197 (Aesthaetica in nuce) – gegen Michaelis –
und N III , 51 (Philologische Einfälle und Zweifel) – gegen Spalding.
62 HHE V, 61; N III , 144. Hamann verwendet – wie andere auch – ‚Theismus‘ für heutig
‚Deismus‘.
63 HHE V, 63 f.; N III , 144.
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über aller mythologischen Götter, griechischen Weisen, römischen Helden und Cartouchen […] mehr erhöhet worden, als es keinem modernen jemals gelingen wird, sich selbst unsterblich zu schreiben […].64
Weder die magische Praxis des Kults noch die Ethik einer gesunden Moral seien das Wesentliche an dieser angeblich Natürlichen Religion; vielmehr sei die Religion Starcks, ebenso wie die der Katholiken und die Friedrichs II., allein Politik.65 Genau das hatte Friedrich in seinem Abrégé de L’Histoire Ecclesiastique de Fleury allen Religionen unterstellt. Ihm aber gehe es, so hält Hamann fest, um das Bekenntnis des wahren Glaubens, und dieses christliche Symbolum sei verschieden von den Symbola, den Riten und Zeichen, die bei den Freimaurern verwendet würden. Mit prophetischer Unbedingtheit besteht Hamann darauf, dass deren gemeinsame Bezeichnung nichts an der Besonderheit des christlichen Symbolum ändere. Doch worin besteht diese? Vierter Brief: Tradition vs. Schriftprinzip
Schrift- und Traditionsprinzip sind der nachtridentinische Streitfall zwischen Luthertum und römischem Katholizismus – und Hamann findet diese Entgegensetzung bei Starck wieder. Mit prophetischer Insistenz wird er nicht müde zu wiederholen, dass in der Tradition allein keine Legitimität liege: „Vielleicht liegt in der ganzen Voraussetzung so viel Aberglauben und Misverständnis zum Grunde als bey der Verehrung der Mutter Maria.“66 Wenn das katholisch-freimaurerische Traditionsprinzip insgesamt abgelehnt wird, bleibt – auch dies ist Ummünzung eines alten reformatorischen Arguments – einzig die Berufung auf die Urkirche. Hamann hat sich mit dieser Problematik intensiv auseinandergesetzt.67 Hier stützt er sich auf die neuen Ergebnisse der Kirchengeschichtsschreibung, auf Johann Lorenz von Mosheims (1694–1755) De rebus Christianorum ante Constantinum magnum.68 Hamann übernimmt Mosheims Thesen: Die frühen Gemeinden hätten ihre Autorität nur auf die Apostel gebaut, erst mit den frühesten Konzilien in Griechenland sei auch die Hierar64 HHE V, 64 f.; N III , 144 f. 65 HHE V, 64; N III , 144. 66 HHE V, 72; N III , 148. Möglicherweise spielt Hamann auf die zitierte Polemik gegen die
Marienverehrung an, die sich in der Vorrede des Abrégé findet.
67 Exzerpte zur Urkirche aus dem Jahr 1773 in N V, 314 f. 68 Johann Lorenz von Mosheim: De rebus Christianorum ante Constantinum Magnum
Commentarii. Helmstedt 1753.
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chie entstanden, „die unserm Hierophanten [Starck] am meisten auf dem Herzen liegt.“69 Wie Luther konfrontiert Hamann die Freiheit eines Christenmenschen mit der römisch-babylonischen, jetzt auch deistisch-freimaurerischen Knechtschaft der Heiden: Keine ökumenischen und apostolischen Gebräuche könnten „unserer Freyheit in Christo Einspruch thun“.70 Es geht also um die Freiheit eines Christenmenschen gegen alle Tradition. Hamann spielt die johanneische Logostheologie gegen jegliche Kirchengeschichte aus: Sollte das Christentum nicht älter als das Heidentum und Judentum seyn, und hat der Anfänger und Vollender unsers Glaubens nicht selbst gesagt: ‚Ehe denn Abraham – – – –[ward, bin ich]‘.71
Argumentativ bedeutet das: Wenn es Hamann ernst wird, zitiert er die Bibel als letzte Autorität; die Geschichtlichkeit der biblischen Tradition kann seinen Glauben nicht wirklich erschüttern. Dem Papsttum wird dagegen als Leitinteresse Politik anstelle von Glaubensverkündigung unterstellt. Es bediene die „Frage der Kinder Zebedäi: wer der erste Minister im Himmelreiche seyn würde?“72 Das anschließende Zitat aus dem Abrégé de l’Histoire Ecclésiastique de Fleury exemplifiziert semantisch spinnwebig Hamanns prophetische Ironie: – Ja haben die Knechte aller Knechte [Servus servorum Die = Päpste; Friedrich II. = Der ‚erste Diener meines Staates‘] nicht selbst Philosophen und Virtuosen das offenherzige Bekenntnis abgelockt: ‚tant leur politique étoit supérieure à celle des Souverains‘!73 War nicht einer der Zwölfboten [Judas] ein Theist und würdiger Vorläufer des Selbstmörders Blount und seines jüngst abermals apotheosirten oder kanonisirten Apollonius Kappadox?74
Die Judasse, d. h. die Päpste, Friedrich II., Blount und Apollonios von Tyana, wollen die Freiheit des Christenmenschen unter ihre Herrschaftsinstrumente knech69 HHE V, 77; N III , 149. 70 HHE V, 77; N III , 149. 71 HHE V, 78; N III , 149. – Mit Verweis auf Joh 8,58. 72 HHE V, 79; N III , 149. 73 Friedrich II .: Avant-Propos (wie Anm. 51), S. 20. [so sehr war ihre Politik derjenigen
der Fürsten überlegen]. Es geht um die Frage des Supremats der Päpste gegenüber den politischen Herrschern im MA . 74 HHE V, 79 f.; N III , 149. – Die letzte Anspielung geht auf Apollonios von Tyana, dessen Wundergeschichten von Charles Blount (1654–1693) als Kritik am NT gedeutet und als Satiren auf Jesus gelesen wurden. Blount beging Selbstmord.
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ten, unter Kirchenrecht und Kult. Dagegen steht die Bibel als das unveränderliche Wort Gottes. Offensichtlich ist Hamann entschlossen, die Autorität der Bibel von philologisch-historischen Kriterien nicht erschüttern zu lassen. Die Frage nach dem Kanon war aktuell: Johann Salomo Semlers Abhandlung von freier Abhandlung des Kanon war 1771 erschienen, mit Johann David Michaelis’ exegetischer Methode hatte sich Hamann schon 1762 in der Aesthaetica in nuce kritisch auseinandergesetzt – er hat ihn auch, wie erwähnt, im dritten der Hierophantischen Briefe zitiert. Die Bibel aber bleibt für Hamann gegenüber der historisch-kritischen Philologie sakrosankt. Kritik am Kanon tut er ab.75 Zwar ist seine Behauptung der Monopolstellung der Bibel weder ironisch noch verrätselt, doch kann sich Hamann die satirische Parenthese „Juden und Voltairen“ nicht verkneifen: Wenn allso unsere Religionsbücher auf den Vorzug einer allerhöchsten Eingebung Anspruch machen: so fordern sie, mit und im Geist desjenigen anbetungswürdigen und uns verborgenen Wesens gelesen zu werden, das sich als Schöpfer Himmels und der Erden verklärt und vorzüglich vor allen Nationen, sich einem kleinen Hofgesindel ungläubiger und verächtlicher Theisten von eingeschränkten Einsichten, verdorbenen Neigungen, hyperbolischen Einbildungskräften und der lächerlichsten Selbstgenügsamkeit und Eitelkeit, wie unsere Juden und Voltairen76 bis auf den heutigen Tag sind, vertraulicher offenbart – – so fordern diese Bücher schlechterdings mit und in dem Geist desjenigen Theisten gelesen zu werden, der als ihr König, ohngeachtet der gesundesten und wohlthätigsten Moral, welche die Blüthe, das Salz und den Äther des erhabensten Stoicismus und Epikurismus vereinigte, eines schmählichen, freywilligen und verdienstlichen Todes starb und die fröhliche Botschaft seiner Auferstehung und Erlösung und Wiederkunft zum Weltgerichte vom Auf- bis zum Niedergange der Sonne, vom Süd- bis zum Nordpol hat verkündigen und erschallen lassen.77
Fünfter Brief: Zerschlagung des Heidentums durch prophetische Offenbarung
Der Brief ist ein Muster komplexer typologischer Rhetorik; man muss sich strecken, um die verschachtelte Bildlichkeit zu begreifen. Die verwendeten Typen sind die Erfindung des Pulvers und des Buchdrucks; diese Erfindungen werden 75 HHE V, 83 f.; N III , 150: „Wenigstens scheint mir die Revision des Kanons mit einem
großen Umwege durchgewühlt worden zu seyn, ohne daß ich absehen kann, was die Gelehrsamkeit so wol als der moralische und ästhetische Geschmack unsers Jahrhunderts, geschweige das Christentum in der Hauptsache sonderlich gewonnen habe.“ 76 Mendelssohn wird zusammen mit dem Judenverächter Voltaire als Deist qualifiziert. 77 HHE V, 87 f.; N III , 151 f.
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gleichermaßen fruchtbar in Militärwissenschaft und reformatorischer Theologie. Dem Ganzen liegt die typologische Analogie zugrunde: Das Heidentum wird allein im Christentum vollendet. Erneut ist auch diese enigmatische Verknäuelung gewürzt mit einer Invektive gegen Friedrich II. Hamann setzt mit einem Bezug auf Karl Gottlieb Guischard (1725–1775) und dessen Mémoires critiques et historiques ein.78 Guischard wurde preußischer Offizier, begegnete Friedrich II., der ihn zu seinem Vertrauten machte und Quintus Icilius nannte. Hamann referiert zunächst die Caesar-Abschnitte von Guischards Buch. Dann vergleicht er Caesar mit Friedrich II.; im Gegensatz zu Caesar aber beruhe Friedrichs Ruhm auf dem „Hirnschädel eines Mönchen, der den göttlichen Einfall hatte das höllische Schießpulver zu erfinden.“79 Mit dem Schießpulver und der Militärwissenschaft werden nun Druckkunst und Theologie verglichen: Das Schießpulver ist eine Revolution der Militärkunst, die Druckerkunst ist die Revolution der biblischen Verkündigung, zugleich Bedingung des Drucks der Ablässe und der „Ablaßreformation eines Mönches“.80 Von hieraus springt Hamann zum Traditionsprinzip von Starcks Tralatitia ex gentilismo und zu dessen These, dass das Christentum von den hellenistischen Mysterien beeinflusst worden sei. Wie Schießpulver und Druck sowie Ablass und Ablassreform ihrer Bestimmung in Krieg sowie Verkündigung zugeführt wurden, so sei das Heidentum durch das Christentum aufgehoben und seiner Bestimmung zugeführt worden. Weder Pulver noch Druckkunst sind ohne ihre Umsetzung in Praxis – d. i. Krieg und Information – etwas wert. Nicht anders verhält es sich mit dem Heidentum; es hat seine Bestimmung allein im Christentum. Und so fragt Hamann: „Hat die Ausbreitung des Christentums nicht eben so sehr zur Reformation des Heidentums beygetragen, als letzteres vielleicht zur Verfälschung des ersteren?“81 Als eine solche Verfälschung des Christentums durch das neue Heidentum sieht er offensichtlich Eberhards These von der Seligkeit der tugendhaften Heiden an, die dieser in seiner Neuen Apologie des Sokrates vertreten hatte.82 Hamann kann das Heidentum, welches das Christentum verdorben habe, an vielen Stellen und zu allen Zeiten ausmachen: In der kindlichen „Lüs78 Karl Gottlieb Guischard: Mémoires critiques et historiques sur plusieurs points
d’Antiquités. 4 Bde. Berlin 1773.
79 HHE V, 97; N III , 156. – Gemeint ist natürlich Bertold Schwarz, der im 14. Jahrhundert
das Schießpulver erfunden haben soll; er war Franziskaner.
80 HHE V, 98; N III , 156. 81 HHE V, 101; N III , 158. 82 „Und wenn das Heidentum auf die Seeligkeit wenigstens in Thesi der neuesten sokrati-
schen Apologisten und Briefsteller Anspruch machen kann“; HHE V, 101; N III , 158.
Hamanns Hierophantische Briefe im Kontext
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ternheit nach jeder verbotenen Gartenfrucht“, bei „Menschenjägern von philosophisch-poetischer Einbildungskraft, in dem systematischen Bau eines Thurms von unabsehbarer Spitze“, vor allem aber bei Hermes Trismegistos, verantwortlich für Heidentum, Papsttum und Antichristentum.83 Die heidnischen Lehren, die das Christentum verworfen hat, sind „Theomachie“, „Autocheirie“ (Selbstmord), Dämonengeißel, Wettergötter.84 Die Propheten der wahren Offenbarung haben die alten falschen Religionen zerschlagen: Männer wie Elias, der die Propheten Baals erschlägt, Luther, der das Heidentum des Katholizismus zerstört – in dieser Typologie sieht sich Hamann, wenn er als Prophet die deistischen Mysterienreligionen eines Starck entlarvt und destruiert. Sechster Brief: ein akademischer Akt
Der sechste Brief ist irritierend: Er enthält zunächst nicht mehr als einen protokollarischen Auszug aus der Disputation von 1774, in der Starck seine Thesen von der Tralatitio verteidigte. Nach dem Bericht eines ansonsten unbekannten Hamann-Adlatus werden hier die Einwände von Starcks Kollegen Christoph Theodor Lilienthal wiedergegeben, die rein akademischer Natur sind und typische Gelehrtenprobleme und –streitigkeiten exponieren. Vielleicht muss man diesen Brief insgesamt als Gelehrtensatire begreifen, welche die Gleichgültigkeit und Nichtswürdigkeit akademisch-historischer Gelehrsamkeit kritisiert. Doch ist auch hier Hamanns Position als Prophet auf irritierende Weise integriert. Es fragt sich: Was ist, wenn ein gelehrter theologischer Prophet andere theologische Gelehrte als nichtswürdig und heilsverhindernd denunziert? Siebenter Brief. Die Toleranz und das Gleichnis vom Unkraut im Weizen
Die Diskussion um die natürliche Theologie, um die Seligkeit der Juden und Heiden, provoziert unvermeidlich das Thema ‚Toleranz‘. Friedrichs II. Vorwort zum Abrégé war denn auch von einer ständigen Anklage gegen die Intoleranz des Katholizismus durchzogen. Hamann nimmt die Frage nach der Toleranz auf, aber er wendet sie biblisch – eine an sich wenig überraschende Wendung. Toleranz sei die „schönste Himmelstocher der drey paulinischen Gratien“85 Glaube, Hoffnung und Liebe. Allerdings verbindet er diese Eloge sofort mit dem Gleichnis 83 HHE V, 102; N III , 158. 84 HHE V, 104 f.; N III , 158 f. 85 HHE V, 114; N III , 164.
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vom Unkraut im Weizen (Mt 13,24–30). Und das ist evidentermaßen nicht sehr tolerant, insofern es besagt: Toleranz ist nur so lange nötig, als sie der „Providenz des großen Hausvater bis zur Erndtezeit empfohlen bleibt.“86 Damit assoziiert der siebente Brief die sieben Schrecken der Johannesapokalypse (Offb 15). Ist das Hamanns Toleranz gegenüber den Katholiken, Deisten, alten und neuen Heiden? Toleranz wird mit dem Weltgericht, mit Apokalypse und Eschatologie überflüssig. Hamanns Bibelstellenkombinat macht deutlich, dass das Ende der Welt auch Tag des Grimms ist: Dies irae. Die Welt, predigt der Prophet Hamann, befindet sich nicht in einem ewigen Fortschritt, sondern sie ist vergänglich; am Ende aber steht das Weltgericht. Deismus, Katholizismus und Judentum werden im Eschaton gerichtet, d. h. als Unkraut verbrannt. Und so findet sich am Ende des siebten Briefs noch einmal eine deutliche protestantisch-prophetische Invektive gegen Theismus und Papsttum, die in ein und demselben Atemzug die selbstgestellten rhetorischen Fragen beantwortet: „Ob nicht der Unglaube des Theismus und der Aberglaube des Pabsttums im Grunde einerley Meinung und Absicht und Erfolg haben, sich blos entgegensetzt scheinenden, aber wirklich correlativen Trieben dem allerheiligsten Glauben der Christen widersetzen und eben dadurch als Werkzeuge das unsichtbare oder geistliche Wachstum desselben befördern, wider ihr Wissen und Wollen – „ob der Theismus, als ein natürlicher Sohn des Pabsttums und zu gleich sein ärgster Erb= und Hausfeind, nicht eine Hierarchie im Schilde führe, gleichwie das Pabsttum den Unglauben in petto habe –“ „ob das Pabsttum nicht mit dem Theismo eine muthwillige Blindheit und Unwissenheit des wahren Gottes und mit dem Heidentum das Gaukelspiel der Abgötterey gemein habe –“.87
Ein kurzes katholisches Nachspiel Die Hierophantischen Briefe erweisen sich als durchaus zwiespältige Lektüre: Dem unbedingten Lutheraner sind alle Kultformen schlechterdings inakzeptabel – heidnisch. Katholizismus, Judentum, Freimaurerei, Deismus, antike Religionen sind der gemeinsame Feind, ein immenser Pappkamerad. Kultische Praxis ist für Hamann keine Frömmigkeitskategorie, sie erscheint ihm als vorgeschoben und verlogen. Bei seiner Kritik am Katholizismus bedient er Aufklärungsklischees, 86 HHE V, 115; N III , 164. 87 HHE V, 116 f.; N III , 164 f.
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die er sonst bekämpft. Indem er sein Bild des Katholizismus aus dem Abrégé de l’Histoire Ecclésiastique de Fleury seines antiklerikalen Monarchen extrahiert, erzeugt sich Hamann ein durchaus schiefes, inadäquates Bild der von ihm kritisierten Gegenposition. Hamanns evangelische Religiosität sollte denn auch eine Wirkung haben, die er – zumindest im Jahre 1774 – gewiss nicht beabsichtigt hatte: Er wurde zum mittelbaren Urheber derjenigen Konversionswelle zum Katholizismus, die nach seinem Tode begann. Hamann ist 1788, zwölf Jahre nach Erscheinen der Hierophantischen Briefe, in Münster gestorben, im Hause der Fürstin Amalie von Gallitzin (1748–1806), die den hochkonservativen katholischen Kreis von Münster zusammen mit ihrem Freund Franz von Fürstenberg (1729–1810) begründet hatte. Die Fürstin, die zunächst vor allem philosophisch interessiert war – Diderot (1713–1784) hat sie zweimal in Den Haag besucht – war als junge Frau Anhängerin des niederländischen neuplatonischen Philosophen Frans Hemsterhuis (1721–1790), einem Verächter der Bibel. 1783 begann sie sich unter dem Einfluss Franz von Fürstenbergs, Franz Caspar Bucholtz’ (1760–1812) und Bernhard Heinrich Overbergs (1754–1826) für das Christentum zu interessieren; Hemesterhuis trat in den Hintergrund. Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und Bucholtz brachten ihr die Schriften von Hamann näher. Als Hamann 1788 Jacobi in Pempelfort besuchte, kam er auch nach Münster. Er muss in seinen letzten Lebenswochen ein erhebliches religiöses Charisma entfaltet haben, denn die Fürstin und ihr Kreis empfanden ihn als heiligmäßig und biblisch fromm. Hamann selbst hat der Fürstin klargemacht, dass nicht das Streben nach Perfektion, sondern die göttliche Gnade das Entscheidende an der Religion sei. Im Sinne Hamanns darf man diese Lehre als lutherische Gnadentheologie versus katholische Werkfrömmigkeit deuten. Nach dem Tode Hamanns wurde die Fürstin Gallitzin jedoch nicht etwa biblizistische Lutheranerin, sondern fand, dass der Katholizismus die Konfession sei, die der hamannschen Religiosität am ehesten entspreche. Der zutiefst evangelische Karlfried Gründer hat diese Konversion in seinem Aufsatz Hamann in Münster – wohl auch in Anspielung an seine Frau, die katholisch war – so beschrieben: „Mit liebevoller Strenge zwingt [Hamann die Fürstin] zum Abbau jeglichen, auch des als Demut getarnten Stolzes; zur Rücknahme aller eigenmächtigen Selbstvervollkommnung, zur vorbehaltlosen Überantwortung an die Barmherzigkeit Gottes.“ Das sei, so Gründer, eine zentrale evangelische Figur – und nun: „Der lutherische Zöllner Hamann hat die katholische Fürstin Gallitzin in die Tiefe des
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christlichen Glaubens eingebracht – den sie künftig geklärter und ruhiger in ihrer Kirche verwirklichen konnte.“88 Die Fürsten Gallitzin war ihrerseits wesentlich für die Konversion des frommen Lutheraners Friedrich Leopold Graf zu Stolberg zum Katholizismus verantwortlich, einer Konversion, die für die romantische Katholizität essentiell werden sollte. In diesem Kreis war Hamann ein kanonischer Autor, trotz seiner Hierophantischen Briefe.
88 Karlfried Gründer: Hamann in Münster. In: Fürstenberg, Fürstin Gallitzin und ihr
Kreis. Quellen und Forschungen. Zusammengestellt von Erich Trunz. Münster 1955, S. 74–91, hier S. 89. Wiederabgedruckt in: Johann Georg Hamann. Hg. von Reiner Wild. Darmstadt 1978, S. 264–298, hier S. 285 f.
Christian Sinn (St. Gallen, Schweiz) „Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans“. Zum wissenschaftstheoretischen Geltungs anspruch von Hamanns Rhetorik am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Michaelis
Ausgehend von der epistemischen Relevanz von Hamanns Rhetorik (1) erläutert der Beitrag zunächst Hamanns Verständnis von Mathematik und insbesondere Geometrie als wissenschaftstheoretisches Paradigma methodisch kontrollierten und verbindlichen Zeichenhandelns (2) und leitet daraus die erste Bedingung für Hamanns spezifische wie zunächst nicht-evidente und nicht-rhetorische Verbindung von Offenbarungstheologie und Wissenschaftstheorie ab (3). Die zweite besteht in der hypokrisis als zwar problematische rhetorische Voraussetzung. Jedoch lässt sich gerade hierdurch bei Hamann eine für die Wissenschaftstheorie wesentliche Methodenkritik ableiten (4). Dies wird am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Michaelis abschliessend belegt (5).
1. Epistemische Relevanz und anthropologische Begründung von Hamanns ‚dunklem‘ Stil Nicht nur durch seine schulische Ausbildung war Hamann mit der Rhetorik vertraut, seine Biga Bibliothecarum belegt sein spezifisches Interesse an den einschlägigen Rhetoriklehrbüchern seiner Zeit, v. a. Lamy und Gottsched, aber auch Baumgarten. Hamann schreibt diese Tradition der Rhetorik nicht fort, denn die aufklärerische Rhetorik des 18. Jahrhunderts geht zwar auf die puristische Stilkritik Ciceros zurück und richtet sich daher von vornherein gegen Hamanns durch Paradoxa erzeugte Ideenspiele. Diese aber stehen paradox genug Kants Rhetorikbegriff nicht etwa entgegen, sondern sind ihm ganz gemäß. Denn in der Konstruktion einer vermeintlichen Verfallsgeschichte der Rhetorik wird gerne eine einseitige, selbst ‚rhetorisch‘ im pejorativen Sinne zu nennende Darstellung von Kants Rhetorikbegriff in Anspruch genommen, nach der Kant in § 53 der Kritik der Urteilskraft bekanntlich Rhetorik als eine „hinterlistige
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Kunst“ definiert habe, die als „Kunst, sich der Schwächen seiner Mitmenschen zu seinen Absichten zu bedienen […] gar keiner Achtung würdig“ sei.1 Diese negative Bestimmung der Rhetorik wird indes erst gegenüber ihrer zuvor in § 51 erfolgten positiven Charakterisierung erkennbar. Hier definiert Kant Rhetorik unter jenem Aspekt, der für den Zugang auf Hamann entscheidend ist, nämlich als „Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben.“2 Der gute Redner führt ein Geschäft so aus, „als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei“,3 geht es doch um die Erfindung neuer Gedankengänge und methodischer Verfahren. Daher ist Kants Rhetorikbegriff auch nicht mit der in De oratore 3.66 vollzogenen Verurteilung all dessen, was ungewöhnlich, schwer verständlich und dunkel ist, gleichzusetzen, gewährte doch auch Cicero gleichwohl acutus und subtilis durchaus noch Raum. Die Stilkritik Ciceros verschärfte sich jedoch in Gottscheds Ablehnung jeglicher argutia als „das glänzende Nichts dieser gaukelhaften Art zu denken und zu schreiben“,4 während für Baumgartens Ästhetik, eine nun nicht unwesentliche philosophische Referenz Kants, die confusio aufgrund der durch sie provozierten argutia gerade Bedingung der Möglichkeit einer neuen Wissenschaft war: § 7 Man mag einwenden: 5) Die Verwirrung ist die Mutter des Irrtums. Ich antworte: a) Aber sie ist die unerläßliche Bedingung zur Auffindung der Wahrheit, weil die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Deutlichkeit. Aus der Nacht führt die Morgenröte zum Mittag. b) Deswegen muß man für die Verwirrung Sorge tragen, damit aus ihr keine Irrtümer entstehen, wie sie alle und in großer Menge bei denen auftreten, die sich nicht um sie bekümmern. c) Es wird nicht die Verwirrung empfohlen, sondern die Erkenntnis verbessert, insofern jener notwendigerweise etwas an Verwirrung beigemischt ist.5
1 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der
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Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, I. Abt., Bd. V. Berlin 1913 (= Akademie-Ausgabe). Im Folgenden zitiert als: „AA , Bd, S., (KdU §)“, hier: AA V, S. 327 (KdU § 53). AA V, S. 321 (KdU § 51). Ebd. Johann Christoph Gottsched: Schriften zur Literatur. Hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1982, S. 246 (Rezension zu Johann Jacob Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie). Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übers. und hg. von Dagmar Mirbach. Bd. 1. Hamburg 2007, S. 15.
Zum wissenschaftstheoretischen Geltungsa nspruch von Hamanns Rhetorik
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Während Gottsched die ciceronianische Tradition der Verurteilung der Dunkelheiten der Stoiker und hier insbesondere ihrer Verwendung von Neologismen und paradoxaler Rede fortschreibt, aktualisiert Baumgarten die stoische Rhetorik gerade im Interesse an Aufklärung und Förderung der Wissenschaften. Denn die cartesische Fokussierung auf die klaren und deutlichen Begriffe hatte schon Leibniz zum Widerspruch provoziert, indem er nicht nur den positiven heuristischen Wert ‚konfuser‘ Ideen einklagte, sondern Descartes’ kontradiktorischen Gegensatz zwischen ‚klar‘ und ‚unklar‘ als jene Kontinuität eines polar-konträren Gegenteils präzisierte, die dann Baumgarten in § 7 c) artikulieren wird: Es gibt eine für die Wissenschaften hochinteressante Kontinuität zwischen den Ideen und keine einfache Dichotomie. Die epistemische Relevanz konfuser Ideen ist bei Hamann ähnlich wie Baumgarten letztlich anthropologisch begründet: Zusammengesetzte Wesen [aus Leib und Seele] sind keiner einfachen Empfindung, noch weniger Erkenntnis fähig. Empfindung kann in der menschl. Natur eben so wenig von Vernunft, als diese von der Sinnlichkeit geschieden werden.6
Unter diesem Aspekt wird dann auch die Verschiebung der Rhetorik auf die Ästhetik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nachvollziehbar, sind es doch die ästhetischen Erfahrungen mit den konfusen Ideen künstlerischer Artefakte, die die Erkenntnis verbessern, da sie zur Reflexion auffordern, so dass bei Baumgarten die wissenschaftsästhetische Frage fokussiert wird, „ob und inwiefern Schönheit ein qualitatives Merkmal wissenschaftlicher Wahrheit ausmacht“.7 Von hier aus ist dann nicht nur durch den Rückbezug der Ästhetik auf die Rhetorik der Bezug zwischen letzterer und der Wissenschaftstheorie einsehbar. Wichtiger ist, dass Kant selbst den für Hamann konstitutiven Bezug zwischen Rhetorik, Ästhetik und Wissenschaftstheorie durch § 49 der Kritik der Urteilskraft durch den paradoxen unbegrifflichen Begriff der ästhetischen Idee erhellt, die nicht im Kontext der Ästhetik verbleibt, sondern ein ebenso über die Philosophie Kants hinausgehendes Problem moderner Wissenschaft zu lösen verspricht: Wie ist ein methodisch-didaktischer Zugang zu Unanschaulichkeit,8 wenn nicht sogar 6 ZH VII , 165,37–166,3 (An Friedrich Heinrich Jacobi, 27. April 1787). 7 Holger Wille: Was heißt Wissenschaftsästhetik? Zur Systematik einer imaginären Dis-
ziplin des Imaginären. Würzburg 2004, S. 11.
8 Vgl. Ernst-Ludwig Winnacker: Am Faden des Lebens. Warum wir die Gentechnik brau-
chen. München 1993, S. 18. Bereits der Titel macht auf den performativen Widerspruch Winnackers aufmerksam. Wir brauchen Metaphern, um die Unanschaulichkeit moderner Wissenschaft überhaupt erzählen zu können.
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Unbegrifflichkeit9 zu gewinnen? In Kants Terminologie gelingt dies durch die ästhetischen Ideen: unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.10
Seinen Grundbegriff der ästhetischen Idee aber operationalisiert Kant durch die rhetorische Figur der Hypotypose. Bei ihr handelt es sich nicht um eine direkte Anschauung (evidentia), sondern um die Übertragung einer Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf jene ästhetische Idee der Vernunft, der keine Anschauung direkt korrespondiert. Wie so oft bricht Kant hier einen interessanten Gedanken ab, den Hamann dann vertiefen wird: Dies Geschäft [einer Untersuchung der Hypotypose als Regelreflexion] ist bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdiente; allein hier ist nicht der Ort sich dabei aufzuhalten.11
2. Die Mathematik als wissenschaftstheoretisches Paradigma methodisch kontrollierten und verbindlichen Zeichenhandelns12 Dieses ‚Geschäft‘ hat Hamann anstelle von Kant unternommen, indem er Rhetorik als Sprachkritik betreibt. Während Kant den Ort zu einer Untersuchung der Hypotypose nicht findet, vertieft Hamann die Reflexion auf die sprachlichen Bedingungen gerade des wissenschaftlichen Denkens. Nun ist allerdings die mögliche Leistung der Rhetorik als sprachanalytisches Instrument der Philosophie, das ihren aufklärerischen Interessen erst zur Wirksamkeit verhilft, nicht 9 Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. Hg. von Almut Todorow, Ulrike Land-
fester und Christian Sinn. Tübingen 2004.
10 AA V, S. 314 (KdU § 49). 11 AA V, S. 352 (KdU § 59). 12 Die folgende Argumentation verdankt wesentliche Impulse Henri Veldhuis: Ein versie-
geltes Buch. Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730–1788), Berlin/New York 1994.
Zum wissenschaftstheoretischen Geltungsa nspruch von Hamanns Rhetorik
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unmittelbar evident, da der kantische Rhetorikbegriff zuerst gegenüber seinen wirkungsgeschichtlich bedingten Verzerrungen rehabilitiert werden muss, damit überhaupt die eigentümliche Leistung Hamanns anerkannt werden kann, die in der später noch zu erläuternden methodischen, aber auch ethischen Kontrolle rhetorischer Zeichenprozesse am Paradigma der Mathematik, insbesondere der Geometrie besteht, aber gleichwohl vom mos geometricus scharf abgegrenzt werden muss. Die ästhetischen Ideen sind nur das Extrem einer sich schon im Alltag immer vollziehenden semiosis, d. h. jenes Prozesses lebendiger Metaphernbildung, der nicht zu ungenauem und verschwommenen Denken führt, sondern Denken erst ermöglicht.13 Denn die Metaphern der Sprache haben nicht nur metaphorische Bedeutung. Ein solches Verständnis stellte die sprachliche Natur der Metaphern dem Zerrbild einer Philosophie gleich, die im infiniten Regreß eine schlechte Unendlichkeit zur Grenze des Erfahr- und Sagbaren macht. Im Verstehen der Metaphern der Sprache verstehen wir immer zugleich mehr als ihr bloßes Bedeuten.14
Die Rhetorik hat ihr partiales Recht darin, dass sie die durch Metaphern bestimmende Wahrnehmung respektiert und das, was sich zwar der Begriffsbildung entzieht, aber doch zugleich immer neue Begriffe generiert, reflektiert, nämlich die semiosis als das Faktum des unendlichen Verweises von Zeichen auf andere Zeichen. Unter diesem Aspekt hält Hamann die Rhetorik auch für angemessener als den unmöglichen Versuch der Philosophie, die semiosis durch systematisches Sprechen stillzustellen. Gerade bei Hamann ist deshalb aber auch durch rhetorische Experimente immer wieder zu überprüfen, inwiefern Sprache Erkenntnis nicht nur ermöglicht, sondern das Erkennen gefangen hält. Rhetorik als Sprachkritik impliziert insbesondere eine Theorie jener Konnotationen, die einerseits den Prozess der semiosis lebendig erhalten, weil immer wieder Neues aus Altem verstanden werden kann, andererseits aber auch die Differenzen nicht nur zwischen Zeichen und Referent, sondern auch die zwischen Leib und Seele wiederum sinnlich-zeichenhaft vermitteln: „Wie abscheulich würde der Mensch seyn vielleicht, wenn ihn der Leib nicht in Schranken hielte!“15
13 Paul Ricoeur: Die lebendige Metapher. Übers. von Rainer Rochlitz. München 1986. 14 Johann Kreuzer: Der Witz der Metapher. Überlegungen zu Jean Paul. In: Zeitschrift für
Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 42/1 (1997), S. 29–43, hier S. 40.
15 N I , 309,12–13 (Brocken).
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Es ist nun aber eben die Frage nach dem konkreten ‚Wie‘ der Relation zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und unanschaulichen Begriffen, die nicht nur von anthropologischer, sondern von wissenschaftstheoretischer Bedeutung ist und die durch die Erfahrung ästhetischer Ideen unumgänglich wird, jedenfalls dann, wenn man an theoretisch-analytischer Erkenntnis interessiert ist und keine mystagogische Unterweisung beabsichtigt, für die sich solche Ideen zwar wohl auch eignen mögen. Im Falle Hamanns aber wird man darauf hinweisen dürfen, dass ihm die Geometrie als Modell der Analyse und methodischer Kontrolle von Zeichenrelationen nützlich ist, ohne dass er hierdurch wie die systematische Philosophie die semiosis selbst stillstellen möchte. Vielmehr setzt Hamann den semiotisch unabschliessbaren Prozess fort, indem er durch narrative Formen des Paradoxons, durch gnomische Formulierungen, textimmanente Rezeptionen, Beglaubigungsstrategien, Erzähler n-ter Ordnung, Herausgeberfiktionen und andere metatextuelle Strategien die Distanz zu den eigenen Formen des Sprechens und Schreibens, darum aber auch neuen Raum für die Wissenschaften selbst gewinnt. Deren auf Inhalte fokussierte Beobachtungen erster Ordnung überführt Hamann in ein System zweiter Ordnung, in dem poetische und mathematische Sprache kongruieren. Da die „ganze Gewißheit der Mathematik […] von der Natur ihrer Sprache ab[hängt], und ihrer Schreiberey“16, muss diese besondere Sprache so analysiert werden, dass im Kontext einer allgemeinen Sprachendidaktik ihre Spezifik als „eine der sinnreichsten und schönsten Sprachen“17 nachvollziehbar wird. Die Rede von der Mathematik als Sprache ist also nicht metaphorisch im pejorativen Sinne gemeint,18 vielmehr stellt die mathematische Sprache, bei der „aller Misverstand von selbst ausgeschlossen wird“,19 das exemplarische Gelingen von Kommunikation aufgrund verbind lichen Zeichenhandelns dar: Unterdeßen aber [im Unterschied zu Algebra und Arithmetik, C. S.] die Geometrie so gar die Idealität ihrer Begriffe von Puncten ohne Theile, von Linien und Flächen auch nach idealisch getheilten Dimensionen durch empirische Zeichen und Bilder bestimmt und figirt; misbraucht die Metaphysik alle Wortzeichen
16 ZH V, 359,33–35 (An Johann George Scheffner, 11. Februar 1785). 17 N III , 343,30–31 (Hausbuch). 18 Vgl. hierzu auch Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment. Neuzeitliche Natur-
wissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin/New York 2003, S. 192. 19 ZH V, 213,3 (An Johann Gottfried Herder, 15. September 1784).
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und Redefiguren unserer empirischen Erkenntnis zu lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältniße, und verarbeitet durch diesen gelehrten Unfug die Biderkeit der Sprache in ein so sinnloses, läufiges, unstätes, unbestimmbares Etwas = x, daß nichts als ein windiges Sausen, […] [ein Aberglaube] an entia rationis […] übrig bleibt.20
Der Vorzug der Geometrie gegenüber Algebra und Arithmetik besteht darin, dass diese mit empirischen Zeichen etwas verbindlich darstellen müssen, was sich der Anschauung gerade entzieht, d. h. sie ist die konkrete Einlösung jener oben skizzierten wissenschaftstheoretischen Fragestellung, die Kant in § 59 der Kritik der Urteilskraft in rhetorischer Begrifflichkeit untersucht, wie nämlich Begriffe, denen „vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“,21 gleichwohl durch symbolische Hypotyposen dargestellt werden können.22 Lambert war in dem bereits 1764 erschienenen Neuen Organon dieser Frage nachgegangen und hatte als für den Menschen notwendige Sprachhandlung anerkannt, „unbekanntere und auch gar nicht in die Sinne fallende Dinge durch bekanntere vorstellig zu machen“.23 Die Hypotypose ist das missing link zwischen Rhetorik und Wissenschaftstheorie24 und wird von ganz unterschiedlichen Denkern und Dichtern des 18. Jahrhunderts wenn nicht dem Namen, so doch der Sache nach gemeinsam verwendet. So müssen bei Jean Paul auch die Naturwissenschaften den „ungeheuren Sprung vom Sinnlichen als Zeichen ins Unsinnliche als Bezeichnetes“25 tätigen, d. h. auch sie müssen rhetorisch verfahren, da sie gleich mit einer doppelten Kontingenz zu kämpfen haben. Nicht nur die kontingente Relation zwischen den Zeichen der Naturwissenschaften, z. B. Chemie als wissenschaftliches System und den Zeichen der Natur, hier den chemischen Elementen, sondern auch die 20 Ebd., 213,4–13. 21 AA V, S. 353 (KdU § 59). 22 Vgl. zur Aufarbeitung und Aufklärung des komplexen Verhältnisses von Hypotypose
und Evidenz in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts: Wolfgang Rapp: ‚Sprachdeuteleyen‘. Mikrologische Aufsätze zum Schreibverfahren Karl Philipp Moritz’. Diss. Konstanz 1999. Online unter https://kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/12321/ Rapp-Dissertation.pdf?sequence=1&isAllowed=y [13.09.2019]. 23 Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. Hg. von Hans-Werner Arndt. Bd. II . Hildesheim 1965, S. 112. 24 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1969), S. 7–142. 25 Jean Paul: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Norbert Miller. Bd. 9. München 1975, S. 107 (Vorschule der Ästhetik § 27).
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nicht weniger kontingente Relation zwischen den Zeichen der Natur und ihrem jeweils Bezeichneten, z.B. Kausalität, muss bewältigt werden. Jedoch lässt sich im Falle der Naturwissenschaften der von Baumgarten und Jean Paul gleichermassen fokussierte Übergang vom sinnlichen Zeichen zum unsinnlichen Bezeichneten durch Hamanns Paradigma der Geometrie methodisch kontrollieren, während die Metaphysik sinnliches Zeichen und ideelle Bedeutung nur noch zu ‚Redefiguren‘ und ‚lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältniße‘ macht, d. h. rhetorisch-kontingent verfährt. Zwischen den Extremen der Metaphysik als schlechter Rhetorik und der systematischen Philosophie als Negation jeglicher Rhetorik findet sich bei Hamann das Modell der Geometrie, das die Kontingenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem minimiert und Sinnlichkeit und Rationalität verbindet. Daher ist Hamanns Rekurs auf die Geometrie im Unterschied zu Kants Begriff der Hypotypose eigentümlich ‚unrhetorisch‘. Die Geometrie steht für das Vermögen des Menschen, sinnliche Zeichen streng zu normieren und ihnen gerade dadurch mehr Bedeutung zukommen zu lassen, als in ihnen selbst enthalten ist. Das nicht-triviale Verhältnis zwischen Hamann und Kant besteht also darin, dass ausgerechnet der vermeintliche ‚Irrationalist‘ Hamann davor warnt, eine nicht-empirische Sprache rhetorisch zu gebrauchen. Zwar verbürgt das Modell der euklidischen Geometrie keine absolute, d. h. tautologische Sicherheit wie die axiomatischen Setzungen der Analysis, da ihre Definitionen der Erfahrung entnommen sind. Aber im Kontext empirischer Erkenntnis handelt es sich um die höchste Verbindlichkeitsstufe, da es sich um die einfachsten Zeichen handelt, die zugleich sinnlich normiert werden können. Gibt „es einfache natürl. Puncte, auf die sich alles reduciren läßt, oder besteht alles aus mathematischen Linien“?26 Diese aber „setzen ja schon eine Sprache zum voraus, und lassen sich ebenso wenig ohne die letztere denken, wie die Rechenkunst ohne Zahlen – –“.27 Hamann führt die Vernunft am Modell der Mathematik auf ihre sprachlichen Bedingungen zurück, indem er von der These ausgeht, dass die Wörter „ihren Werth [haben] wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen“,28 d. h. dass sprachliche Strukturen nicht rein arbiträr sind, sondern abhängig von ihrem jeweiligen kognitiven Gebrauch. Geht man nicht von der gegenwärtigen Kognitiven Lingu-
26 ZH VII , 459,8–10 (An Johann Gottlieb Steudel, 4. Mai 1788). 27 N III , 21,24–26 (Zwo Recenisonen). 28 N II , 271,32–33 (Beurtheilung der Kreuzzüge).
Zum wissenschaftstheoretischen Geltungsa nspruch von Hamanns Rhetorik
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istik29 wie der neueren Mathematikdidaktik30 gleichfalls geteilten Annahme aus, dass gedanklichen Aktivitäten sprachliche entsprechen, findet keine Erkenntnis statt und die unterschiedlichen sprachlichen Register, z. B. ‚Alltagssprache‘, ‚Bildungssprache‘, ‚Wissenschaftssprache‘ werden lediglich nur als unterschiedliche Ausdrucksformen desselben Inhalts verstanden, nicht aber auch als unterschiedliche Formen des Denkens. Diese Einsicht ist wesentlich für das Verständnis von Rhetorik für die Wissenschaften im Sinne der Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Gelingensbedingungen möglicher Erkenntnis. Das gilt nicht nur hinsichtlich der durch Sprache bestimmten Wahrnehmungen, die linguistisch gesehen v. a. durch die sogenannten kognitiven Diskursfunktionen bestimmt werden, sondern durch die Herstellung einer grundsätzlich dialogischen Perspektive, in der der Erkennende dazu genötigt wird, die cartesische Subjekt-Objekt-Position zu verlassen.31
3. Zur Vereinbarkeit von Offenbarungstheologie und Wissenschaftstheorie bei Hamann Diese Einsicht in die Rationalität Hamanns muss wiederum zur Revision der von Steinthal bis Berlin32 belasteten Wirkungsgeschichte führen, die im ahistorischen Zugang auf Hamann seine ‚Dunkelheit‘ bemängelt und sie als Ausdruck eines Irrationalismus bewertet, von dem nichts zu lernen ist: Hamann ist ein frommer Lutheraner und heftiger Gegner der Aufklärung – weiter nichts. Bald kann uns seine Narrenkappe belustigen, bald das Feuer
29 Z. B. Wolf-Andreas Liebert: Metaphernbereiche der deutschen Alltagssprache. Kognitive
Linguistik und die Perspektiven einer Kognitiven Lexikographie. Frankfurt a. M. 1992.
30 Z. B. Michael Meyer und Susanne Prediger: Sprachenvielfalt im Mathematikunterricht –
Herausforderungen, Chancen und Förderansätze. In: Praxis der Mathematik in der Schule 54 (2012), S. 2–9. 31 Heinzpeter Hempelmann: Wie wir denken können. Wuppertal 2000, bes. S. 45–48. 32 Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. von Henry Hardy. Übers. von Jens Hagestedt. Berlin 1995. Trotz der Unhaltbarkeit der These Berlins zeigt sich ihre Wirkungsmächtigkeit in der gegenwärtigen neuesten Fortschreibung durch Steven Pinker: Aufklärung jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt a. M. 2018.
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seines tiefen Gemüts hinreissen – belehren kann er uns nicht, glaubt er nicht nöthig zu haben; ja das Bedürfnis nach Belehrung scheint ihm Sünde.33
Diese Bewertung wird weder Hamann noch dem lutherischen Protestantismus gerecht, der mit Melanchthon beginnend und über Schleiermacher mindestens bis zu Cantor wesentliche Beiträge zur Wissenschaftstheorie leistete. Aber auch im Falle Hamanns sollte dessen rhetorisches Mittel des „acutum dicendi genus“34 nicht nur als soziale Diskurspraxis, sondern auch wissenschaftstheoretisch ernst genommen werden. Denn Hamann bringt über gezielte Provokationen Kommunikation über die Funktion von Wissenschaft in Gang und kommuniziert Wissenschaftskommunikationen. Hierzu verwendet er die in der antiken Rhetorik selbst angelegte, durchaus nicht ungewöhnliche Norm der obscuritas zu einem Angriff auf „Kants transzendentalphilosophischen Versuch, die Eigentlichkeit systematischen Sprechens durch eine allgemeine Kategorienlehre zu retten“.35 Deutlicher als Kant, aber nicht in totaler Opposition zu ihm geht Hamann von der Unhintergehbarkeit der sprachlich-konstruktiven Leistungen für das menschliche Denken aus. In diesem Kontext bezeichne ‚Rhetorik‘ für die nachfolgenden Ausführungen den theoretischen Raum, in dem Hamann die Tatsache reflektiert und selbst zur Sprache bringt, wie Sprache sowohl als Sprechen wie als Schrift mit dem Denken engstens zusammenhängt, ja Denken in den Akten des Sprechens und Schreibens allererst hervorgebracht wird. Bevor diese Auffassung von Rhetorik hinsichtlich ihrer wissenschaftstheoretischen Ansprüche erläutert wird, muss aber vorab betont werden, dass sie nicht im Widerspruch zu den lutherischen offenbarungstheologischen Kontexten steht, die für Hamann in der Tat von ausgesprochener Bedeutung sind: Da der Glaube zu den natürlichen Bedingungen unserer Erkenntniskräfte und zu den Grundtrieben unserer Seele gehört; jeder allgemeine Satz auf guten Glauben beruht, und alle Abstractionen willkührlich sind und seyn müssen: so berauben sich die berühmtesten Speculanten unserer Zeit über die Religion selbst ihrer 33 Heymann Steinthal: Der Ursprung der Sprache im Zusammenhange mit den letzten
Fragen alles Wissens. Eine Darstellung, Kritik und Fortentwicklung der vorzüglichsten Ansichten. 4. erw. Aufl. Berlin 1888, S. 45. 34 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Zu Hamanns Stil. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 16 (1966), S. 374–387, hier S. 378. 35 Christian Strub: Ordo troporum naturalis. In: Rhetorik. Figuration und Performanz. DFG -Symposion 2002. Hg. von Jürgen Fohrmann. Stuttgart 2004, S. 7–38; hier S.31.
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Vordersätze und Mittelbegriffe, die zur Erzeugung vernünftiger Schlußfolgen unentbehrlich sind […].36
Vernunft setzt Offenbarung immer schon voraus, da es keine Letzt- und Selbstbegründung von Vernunft geben kann. Nicht Vernunft und Logik stehen daher für Hamann in Frage, im Zentrum seiner Argumentationen steht vielmehr die ganz vernünftige metalogische Einsicht, dass die verwendeten Prämissen vernünftiger Schlüsse nicht selbst logisch gewonnen werden können, sondern auf gutem Glauben beruhen. Denn selbst die formale Logik muss Prämissen verwenden, die sie nicht auf wiederum selbst formalem Wege erzeugen kann. Das ist das ernstzunehmende logische Argument Hamanns für ‚Offenbarung‘, das durch ein zweites, ethisches begleitet wird: ‚Offenbarung‘ wird nur in einer an Liebe orientierten Erkenntnis erfahren, nicht aber in einer Erkenntnis aus Selbstliebe.37 Es geht also nicht um die Differenz zwischen Vernunft und Offenbarung, sondern um die funktionale Ausrichtung und den Kontext rationaler Kompetenzen, die als solche nicht negiert werden, wie es ein konsequenter Irrationalismus tun müsste. Die Grundfrage, die sich hier stellt, ist, ob Erkenntnis als Selbstsetzung oder als Relation zu einem Anderen verstanden wird. Folgt man Hamanns Argumentation, dann benötigt die Wissenschaftstheorie nicht nur die Rhetorik, sondern diese die Religion, nämlich im Sinne der Bindung an die Sicht eines Anderen, die sich nicht durch Selbstsetzungen erzeugen lässt. ‚Offenbarung‘ bedeutet dann in einem schlichten Sinne die durch einen Anderen geschenkte neuen Sichtweise, die theologisch gesehen in der Kondeszendenz Gottes gründet: Unglaube im eigentlichen historischen Wortverstande ist also die einzige Sünde gegen den Geist der wahren Religion, deren Herz im Himmel, und ihr Himmel im Herzen ist. Nicht in Diensten, Opfern und Gelübden, die Gott von den Menschen fordert […] besteht das Geheimnis der christlichen Gottseeligkeit; sondern […] im höchsten Gute, das er geschenkt hat […].38
Es ist also nicht so, dass das, was man als ‚Wissenschaftstheorie‘ Hamanns bezeichnen könnte, eine nachträgliche, ihm selbst fremde Perspektive bezeich36 N III , 190,16–23 (Zweifel und Einfälle). 37 Hempelmann: Wie wir denken können (wie Anm. 31), S. 55–67. Vgl. hierzu meinen Bei-
trag: Liebe. Anmerkungen zur Wissenschaftstheorie Friedrich Schlegels. In: Die Lesbarkeit der Romantik. Material, Medium, Diskurs. Hg. von Erich Kleinschmidt. Berlin 2009, S. 137–157. 38 N III , 312.4–6 (Golgatha und Scheblimini).
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nete. Hamann begründet sie vielmehr logisch wie ethisch als Einsicht in die notwendige Dialogizität von Erkenntnis und daraus resultiert dann eine gleich zweifache Funktion der Rhetorik für ihn. Sie kann erstens seine vornehmlich an Bacon erarbeitete Wissenschaftstheorie mit einer lutherischen Theologie der Offenbarung verbinden. Sollte diese Verbindung nicht nur ‚rhetorisch‘ im pejorativen Sinne, sondern sachlich begründet sein, müsste gegenwärtige wissenschaftliche Orientierung ein mehr als nur historisches Interesse an Hamann entwickeln. Zweitens aber gilt seine von dieser Verbindung unabhängige Einsicht in die Dialogizität jeglicher Erkenntnis und den daraus konstituierten rhetorischen Zusammenhang: „Sie [Kant] müßen mich fragen und nicht Sich, wenn Sie mich verstehen wollen.“39
4. Hypokrisis als Methodenkritik ‚Liebe‘ bedeutet in diesem Kontext, nicht gegenüber Anderen recht haben, sondern sie überhaupt erst einmal verstehen zu wollen und hierzu gehört dann auch, sich von der eigenen begrifflichen Orientierung zumindest temporär einmal zu distanzieren und der Ungewissheit auszusetzen. Das ist ein radikaler Gegenentwurf zu den Systemgebäuden des Deutschen Idealismus, der sich der von Hamanns Interessen zunächst unabhängigen anthropologischen Einsicht der Rhetorik verdankt, dass der zeichenhandelnde Mensch, das animal symbolicum (Cassirer), immer schon Teil jener Botschaften ist, die er rezipiert. Das zielt nicht nur auf den später noch zu erörternden adressatengerechten Anspruch, der jeder Rede als implizite Norm zugrunde liegt und besonders für die lutherische Theologie und Hermeneutik als subtilitas applicandi wesentlich ist. Vielmehr verstehen Menschen Texte – ‚Text‘ hier in einem weiten Sinn als vom Menschen selbsterzeugtes semantisches Netz verstanden – nur dann, wenn sie die Produktionsregeln der betreffenden Textsorten auch beherrschen. In einem Offenbarungsgeschehen aber ist der Rezipient zugleich Teil eines Textes, den er nicht selbst verfasst hat. Jene Theaterstücke der Frühen Neuzeit, die wie der Cenodoxus den Zuschauer zugleich als Schauspieler definieren, legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab.40 An diesem Punkt jedoch wird die unvereinbar scheinende Verbindung von Rhetorik, Wissenschaftstheorie und Offenbarungstheologie sowohl nachvollziehbar wie gleich in mehrfacher Weise problematisch: So wie Offenbarung nur erfah39 ZH I , 453,15 (An Immanuel Kant [1759]). 40 Jakob Bidermann: Cenodoxus. Übers. und hg. von Christian Sinn. Konstanz 2004.
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ren wird, wenn ihr Empfänger nicht als passiv Wahrnehmender verstanden wird, sondern ihr aktiver Teil ist, ist der wissenschaftlich Erkennende zugleich Teil des von ihm Erkannten. Offenbarung wie Wissenschaft liegt die rhetorische Kategorie ‚Leidenschaft‘ zugrunde, ein explikationsbedürftiger Begriff, dessen epistemische Potenz Hamann durch die antike Rhetorik begründet, obwohl man doch nun gerade dieser doxa und nicht episteme unterstellen müsste:41 Wem die Historie (kraft ihres Namens) Wissenschaft; die Philosophie Erkänntnis; die Poesie Geschmack giebt: der wird nicht nur selbst beredt, sondern auch den alten Rednern ziemlich gewachsen seyn. Sie legten Begebenheiten zum Grunde, machten eine Kette von Schlüssen, die in ihren Zuhörern Entschlüsse und Leidenschaften wurden.42
Die Genese eines Erkenntnisfortschritts darf demnach nicht durch die Darstellung der Geltung einer Erkenntnis verschleiert werden. Forschungswege werden nur dort nachvollziehbar, wo die drei Teile der Geschichte, Philosophie und Poesie sich nicht isolieren, sondern in einer auf episteme ausgerichteten Rhetorik funktional aufeinander bezogen sind. Also nicht ‚Erkenntnis der Leidenschaften‘, wie es von der zeitgenössischen rationalistischen Philosophie formuliert wurde, sondern ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ oder auch ‚Erkenntnis als Leidenschaft‘ ist Gegenstand von Hamanns Rhetorik. Es handelt sich dabei zwar keineswegs um eine nur auf epistemische Kontexte abgestellte Rhetorik und doch sind ihr wissenschaftstheoretische Geltungsansprüche inhärent. Hamann fragt, welche Leidenschaft der ‚Erkenntnis der Leidenschaften‘ zugrundliegt, und gibt sich deshalb auch mit blossen Angriffen auf scheinbar leidenschaftslose etablierte Wissenschaftspraxis nicht zufrieden. Erst indem ein neues Normensystem etabliert wird, das in den Mehrdeutigkeiten der Sprache selbst gründet, kann man die andere Seite der Erkenntnis in den Blick nehmen. Darum sind Hamanns Texte, die v.a. in der erkenntnislogisch wesentlichen Figur des Enthymems als verkürzten Schlusses gründen und gleichsam das missing link zwischen Rhetorik und Wissenschaftstheorie bilden, wissenschaftshistorisch so wichtig. Denn der epistemologische Wert solcher in Leidenschaft gründender Rhetorik entspringt, wie bereits eingangs skizziert wurde, durchaus aufklärerischem Inter41 Vgl. Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Mazzino Montinari und
Giorgio Colli. Bd. II . Berlin 1967, S. 425: „Das ist der erste Gesichtspunkt: die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine doxa, keine episteme übertragen.“ 42 N II , 176,20–24 (Kleeblatt Hellenistischer Briefe 2).
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esse und ist mit dem auch existenziell relevanten „Aushalten der Unbestimmtheiten einer kontingenten Bedeutung“ verbunden.43 Darauf aber kommt es Hamann an. Das freie Spiel der Einbildungskraft wird nicht nur für künstlerische, sondern auch für wissenschaftliche Projekte als wesentlich angesehen. Die Rezeption dieses wesentlichen Gedankens wird freilich dadurch erschwert, dass der künstlerische und der wissenschaftliche Aspekt bei Hamann nicht voneinander getrennt werden und faktuale und fiktionale Textsorten eine wilde Ehe führen. Offenbar geht es ihm darum, die Verfahrenshaftigkeit der Rhetorik für die Wissenschaften selbst zu deren eigener Sache zu machen. Das aber überfordert die Rezeption seiner Schriften. Gleichwohl ist die Diskussion über das Verhältnis der Wissenschaften zur Rhetorik unabhängig von Hamann von entscheidender Bedeutung, vor allem bei Baumgarten und Jean Paul, aber auch bei Friedrich Schlegel und Schleiermacher und darum ist es auch nicht unhistorisch oder gar von vornherein verkehrt, mit der Frage des Verhältnisses der in die Ästhetik transformierten Rhetorik und Allgemeiner Wissenschaftstheorie auf Hamann zuzugehen.44 Letztere gewinnt ihren Begriff von sich selbst eben nicht mehr einfach in Abgrenzung von der Rhetorik, sondern realisiert zunehmend die Rolle der Sprache für jegliche Kognition – das ist der wesentliche sprachphilosophische Kontrapunkt zu Kant, den Hamann setzt. Der andere damit verbundene, nicht weniger starke Kontrapunkt besagt, dass sich die Wissenschaften durch die Reflexion der von ihnen verwendeten sprachlichen Mittel in eine Theorie ihrer selbst umzuwandeln beginnen. Problematischer als der Begriff der Leidenschaft ist indes der zunächst neutral scheinende Begriff der Handlung als rhetorische actio. Wie jedoch Eric Achermann in seiner Analyse der Vorrede zu den Kreuzzügen erarbeitet hat, nimmt Hamann eine Rückübersetzung der lateinischen actio in die griechische hypokrisis so vor, dass dadurch eine gleich dreifache Bedeutungsverschiebung erzeugt wird, die den theoretischen Begriff nun selbst performativ versteht, so dass Hamann im Akt des Schreibens nicht einfach über ‚Handlung‘ spricht, sondern diese allererst erzeugt, mit zunächst negativen Konnotationen, da sie neben ‚Antwort‘ und
43 Christina Reuter: Autorschaft als Kondeszendenz. Johann Georg Hamanns erlesene
Dialogizität. Berlin/New York 2005, S. 197.
44 Vgl. meinen Beitrag: ‚[...] diese Wissenschaft ist noch nicht vorhanden.‘ Der wis-
senschaftsästhetische Entwurf einer Allgemeinen Methodenlehre an der Wende zum 19. Jahrhundert als Grundlage romantischer Textproduktion. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft 16 (2004), S. 27–56.
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‚Rolle‘ auch ‚Heuchelei‘ und ‚Verstellung‘ impliziert.45 Dieser Aspekt wird später noch anhand der Auseinandersetzung mit Michaelis durch Hamanns wesentliche Plautus-Rezeption vertieft werden. Zunächst aber muss die mögliche positive Konnotation von hypokrisis, sowohl im Hinblick auf Offenbarung wie Wissenschaftstheorie mitbedacht werden, folgt doch aus ihr für Hamann, dass unter Wissenschaftstheorie eine der Offenbarungen Gottes verstanden werden könnte. Denn die Einsicht in die Rhetorizität alles Geschriebenen gilt eben nicht nur für die Bibel selbst, deren „Eingebung“, Gott zum Schriftsteller zu machen „eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes“46 bedeutet, sondern wertet zugleich die Rhetorik auf und führt sofort in die Auseinandersetzung mit der modernen Wissenschaft hinein. Denn wenn Michaelis den Sonderstatus der Heiligen Schrift nicht zuletzt mit dem Hinweis auf ihre Rhetorik aufheben will, so geht es Hamann umgekehrt darum, die Offenbarung Gottes in rhetorischen Erzeugnissen nachzuweisen, um wie auch immer abgeschwächte oder gar pervertierte, ‚sündhafte‘ Formen es sich hierbei auch handeln mag. Aus dieser Grundüberzeugung Hamanns, nach der Gott sich überall zu offenbaren vermag, resultieren dann gleich zwei erhebliche wissenschaftstheoretische Ansprüche: Einerseits eine Metakritik von Wissenschaft, die wie jede ernstzunehmende Wissenschaftskritik nur als implizite Wissenschaftstheorie funktionieren kann. Diesen Aspekt hat v. a. Unger verfolgt, wenn er zu Recht auf die Relevanz Bacons verweist, dessen rhetorische Verfahren zugleich mit dem Anspruch des Empirismus verbunden sind. Hamanns Adaption von Bacons rhetorischer Form der Wissenschaftstheorie ist nun auf den ersten Blick alles andere als theoretisch, geht es ihr doch um eine Überlegenheit gegenüber der abstrakten Wissenschaft, endlich und vor allem in der energischen Herausstellung des „parabolischen“ oder symbolischen Momentes in der Dichtung und ihrer darauf beruhenden organischen Beziehung zur Religion sowie der entscheidenden Anerkennung einer von aller Profanphilologie streng zu unterscheidenden allegorischen Exegese des inspirierten Bibelwortes.47
45 Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz,
Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997, bes. S. 165–252.
46 N I , 5,3–4 (Über die Auslegung der Heiligen Schrift). 47 Rudolf Unger: Hamann und die Aufklärung. Jena 1911, S. 263.
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So ist zwar Kants Argumentation durchaus vernünftig, dass der durch die Reformation initiierte Prozess der scriptura sui ipsius interpres konsequent in der Verwissenschaftlichung durch jene Bibelphilologie münden müsse, wie sie Michaelis betrieb. Jedoch fehlt Hamann die kritische Reflexion der Grenzen dieser Wissenschaft und der mit ihr verbundenen Setzungen. Die angeblich streng historisch verfahrende Interpretation verfährt nicht weniger willkürlich als durch Inspiration bestimmte Auslegungen: Der buchstäbliche oder grammatische, der fleischliche oder dialectische, der kapernaitische oder historische Sinn sind im höchsten Grade mystisch, und hängen von solchen augenblicklichen, spirituösen, willkührlichen Nebenbestimmungen und Umständen ab, daß man ohne hinauf gen Himmel zu fahren, die Schlüssel ihrer Erkenntnis nicht herabholen kann […].48
Die Bibelphilologie kann ihre Akzentuierung historischer Kontingenzen ebenso wenig begründen wie eine auf reine Applikation bedachte ‚inspirierte‘ Lesart und ist daher ebenso als ‚mystisch‘ einzuschätzen. Aus dieser Methodenkritik folgt jedoch keine irrationale Lesart der Bibel. Gerade weil Hamann an jenem Geist interessiert ist, der die Verkündigung bestimmte, ist sein Zögern innerhalb der Differenz zwischen ‚Geist‘ und ‚Buchstabe‘ als wissenschaftstheoretisches Argument rational reformulierbar. Es besteht kurz gesagt darin, dass Erkennen erstens immer ein Erkennen-Wollen, d. h. nicht rein kognitiv, sondern emotional-volitional bestimmt ist und darum auch zweitens, dass die jeweiligen Erkenntnisinteressen zu explizieren und eben nicht als selbstverständlich vorauszusetzen sind, d. h. aber auch, dass gerade die Lektüre ‚profaner‘ Texte und die naturwissenschaft liche Erkenntnis in Interessen gründet und nicht qua Textsorte und Methode frei von jener Problematik ist, wie sie bei der Lektüre der Bibel nur in besonderer Form augenfällig wird. Denn wenn man die biblischen Texte nur nach den Grundsätzen einer allgemeinen Rhetorik liest wie Michaelis, dann werden damit die Fragen nach dem erkennenden Subjekt, dessen Erkenntnisvoraussetzungen und die Reflexion auf das eigene wissenschaftliche Tun ausgeblendet, wie sie die ‚spezielle‘, d. h. individuell operierende Rhetorik Hamanns kennzeichnet, die den Leser zu einer grundsätzlichen Reflexion über den je eigenen Sprachgebrauch zwingt. Die zugrundeliegende Annahme Hamanns ist dabei, dass auch noch die höchsten Ansprüche apophantischen Denkens wesentlich sprachlich verfasst sind, da Erklärungen der Philosophie und Theologie auch nur unter ausbildungsbezogenem Aspekt, aber 48 N II , 203,35–39 (Aesthaetica in nuce).
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auch als Teil ihrer praktisch orientierten Verbesserungsanstrengungen sprach liche Akte sind, die neben einer wissenschaftsgerechten Einstellung auch die Sprache der Wissenschaften adressatengemäss modifizieren müssen.
5. Parrhesia: Hamanns Auseinandersetzung mit Michaelis Die Berücksichtigung der Adressatengerechtigkeit ist zentral für Hamanns Auseinandersetzung mit Michaelis. Jeder Sprachgebrauch, auch der wissenschaftliche müsste Hamann zufolge je nach konkretem Publikum entsprechend modifiziert werden. Jedoch ist dies nicht mehr möglich, da das Publikum, wie die Anfangsrede der Sokratischen Denkwürdigkeiten in ihrer Überschrift An das Publicum, oder Niemand, den Kundbaren bezeugt, ein Niemand ist.49 Gegenüber der Anonymität des modernen Publikums, das keine direkte Rückmeldung wie lebendige Adressaten gibt, gelingt Hamann die Reinszenierung konzeptueller Mündlichkeit innerhalb der medialen Schriftlichkeit nun so, dass er zwischen verschiedenen sprachlichen Niveaus hin- und her wechselt, um auf den möglichen Missbrauch schriftsprachlicher Register aufmerksam zu machen. Seine satura wechselt aber nicht nur zwischen, sondern vor allem innerhalb bestimmter Diskurse, so dass die von ihm verwendeten Begriffe je nach Situation und Adressat unterschiedlich dicht expliziert werden müssen. Zugleich werden damit die als real ausgegebenen Begriffe von Philosophie und Wissenschaft auf ihre sprachlichen Bedingungen zurückgeführt. Durch rhetorische Fragen und Ironie provoziert Hamann einen durch Maskenrede freilich sehr vermittelten Dialog über das Wesen von Wissenschaft als nicht nur auf Wahrheit ausgerichtete Erkenntnisanstrengung, sondern als genuiner Ausdruck menschlicher Freiheit. Zwei Beispiele sollen das im Folgenden belegen.
49 N II , 59,1–5 (Sokratische Denkwürdigkeiten). Bei diesem aus Euripides stammenden Zitat
handelt es sich um jenes bloße Bildungswissen, das Hamann sogleich in den folgenden Sätzen unter Rekurs auf „Sp. Sal. IX . 13“ und „2 Tim. III . 7“ als ein Vielwissenwollen kritisiert, das überhaupt nicht zur Erkenntnis führen kann. Entweder wird also das Publikum durch das Euripides-Zitat von vornherein abgeschreckt, oder aber es ist das falsche Publikum, wenn es diesen Satz bildungsbeflissen zu verstehen versucht. Es gibt also kein Publikum.
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5.1 Philosophisches vs. historisches Selbstverständnis
Zum ersten Beispiel, einem kurzen, aber sehr komplexen Zitat aus Beurtheilung der Kreuzzüge in dem sich Hamann in Differenz zu Michaelis selbst als Parrhesiasten bezeichnet: Der dritte Brief bezieht sich auf ein Urtheil des punischen Geschmacks, das dem Verfasser vielleicht einmal bey einer Schaale Bischoff über des Hrn. Michaelis Schriften aufgestiegen seyn mag, wie Plautus sagt: Vinum luctator dolosus est […]. Unterdessen kann man zur Steuer der Wahrheit endlich wol sagen, daß er die Parrhesie seiner Meinungen in der Sprache einer jungfräu ierlichkeit so zu errathen und so zu verstehen giebt, daß er mit der lichen Z Galathe keinen Apfel wirft ohne den Leser zugleich an – – nos praelia virginum Sectis in iuuenes vnguibuis acrium in nachdrücklicher Kürze zu erinnern.50
Das komplexe Zitat lohnt eine langsame Lektüre, wird hierdurch doch Hamanns parrhesia als rhetorisches Verfahren der freien Rede, die zwischen lutherischer Offenbarungstheologie und baconscher Wissenschaftstheorie schmale Brücken zu bauen versucht, in nuce hörbar: Der punische Geschmack ist selbst ein pun, ein Wortspiel über Wortspiele, das sich einerseits zwischen dem lateinischen punica für ‚punisch‘, und dem englischen punning für ‚ein Wortspiel machen‘ bewegt, so dass Hamann im Rekurs auf eine damals Swift zugeschriebene, tatsächlich aber von Thomas Sheridan verfasste Ars punica sive Flos Linguarum: The Art of Punning, or the Flower of Languages Michaelis’ gelehrte Frage nach dem Einfluss der Sprache als (unfreiwilligen) Wortwitz versteht,51 die „ohne es zu wissen, die Barbarey seiner Zeiten und die Tücke seines Herzens“52 offenbart. Hamann nimmt aber durch punica ebenso Bezug auf den punischen Kirchenvater, nämlich Augustinus als Nordafrikaner. Das leuchtet ein, wenn man weiss, dass Hamann Luther, den Augustinermönch, an anderer Stelle auch den punischen Prediger nennt,53 dessen ars punica er nun selbst gegen Michaelis’ Wortwitze fortführt. Dies leuchtet wiederum ein, wenn man weiss, dass Hamann Nicolai gegenüber Michaelis als den Erasmus unserer Zeit bezeichnet hatte.54 Damit ist das theolo50 N II , 271,24–38 (Beurtheilung der Kreuzzüge). 51 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Querdenker der Aufklärung. Studien zu Johann Georg
Hamann. Göttingen 2013, S. 119.
52 N II , 213,23–24 (Aesthaetica in nuce). 53 N III , 301,33 (Golgatha und Scheblimini). 54 ZH III , 6,18 (An Friedrich Nicolai, 22. September 1771).
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gische Schlachtfeld in der Opposition zwischen Erasmus und Luther, Michaelis und Hamann abgesteckt. Punische, d. h. lange dauernde und erbittert geführte Kriege des Geschmacks müssen geführt und nicht etwa beigelegt werden, so die unmissverständliche Botschaft in Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht. Der punische Geschmack verdankt sich in der Selbstpersiflage Hamanns einer Schale Bischof, d. h. er hat wohl zuviel von jenem Punsch getrunken, den er in Zweifel und Einfälle zur Satire auf religiösen Konsum nutzt und Mendelssohn wiederum so reparodiert: Die meisten Menschen halten die Religion, in Absicht auf die Seele, für eben das, was dem Körper eine Magenstärkung ist. Vielen Leuten scheint es ausgemacht zu seyn, daß man den Magen wärmen müsse, um ihn zu stärken. Sehr viele ältliche Herren bedienen sich dazu, fein warmer dogmatischer Suppen, die sie zum Frühstücke, Mittagbrode und Abendbrode reichlich genießen. Seit einiger Zeit stehet eine Gattung feuriger Jünglinge auf […] um ihrem Magen Kraft zu geben […] bedienen sie sich hitziger Getränke. Sie trinken unabläßig Punsch, Bischof und Kardinal.55
Nun imaginiert der fingierte Rezensent Hamanns diese Auffassung von Religion als aufputschender Seelenstärkung durch eine darauffolgende komplexe rhetorische Inszenierung. Durch den Kontext von Plautus Pseudolus56 – „wie Plautus sagt: Vinum luctator dolosus est“ –löst sich dieser Rezensent vollends vom historischen Michaelis und geht zu einer rein rhetorischen Denkfigur der parrhesia über, die bei Plautus als Figur der Selbstnegation wortgewaltig allen Worten abzuschwören weiss. Die Handlung von Pseudolus ist schnell erzählt: Die Liebe von Calidorus zu einem Mädchen wird durch widrige Umstände, Mangel an Geld und übelwollende Menschen bedroht. Pseudolus, der Calidorus treu ergebene Sklave, kommt diesem zu Hilfe. Das von einem Schuft versklavte Mädchen wird durch Pseudolus’ kaum zu durchschauenden Betrugspraktiken freigekauft und dieser feiert im obigen Zitat zuletzt in überschäumender Trunkenheit, aber sachlich durchaus berechtigt, seinen Sieg. Bezieht man das nun auf die zuvor inszenierte ‚punische‘ Konstellation zwischen Hamann und Michaelis, so träte Hamann in die Rolle des mit offenem 55 Moses Mendelssohn: Rezension der Beylage zun Denkwürdigkeiten des seligen Sokrates.
Von einem Geistlichen in Schwaben. Halle, 1773, 28 S. in 8. In: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Hg. von Friedrich Nicolai. Bd. 24, 1. Stück. Berlin/Stettin 1774, S. 287–296. 56 Plautus: Pseudolus, V, 1, 6–8.
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Betrug spielenden ‚Sklaven‘, der ein Mädchen alias den historischen Text vom ‚Schuft‘ Michaelis freikauft. Hamann, genauer gesagt, der durch ihn fingierte Erzähler, lässt zwar seine Parrhesie nur erraten. Er spricht also nicht in freier Rede, geht aber wie Pseudolus in seiner Verstellung ganz offen vor. Die in Beur theilung der Kreuzzüge vollzogene Zitatkontamination von Plautus, Vergil und Horaz ist Ausdruck dieser parrhesia: Warf bei Vergil noch die schöne Galathee den Apfel nach dem Sänger selbst, so wirft Hamanns Rezensent nun mit der Galathee Äpfel nach dem Leser und nach Michaelis. Der sich nach Plautus und Vergil anschliessende Rekurs auf die sechste Ode des ersten Buchs von Horaz markiert dabei, dass es um das Selbstverständnis eines Dichters geht, der über die hohe Kunst verfügt, Krieg in Schönheit zu verwandeln. Das lyrische Ich dieser Ode weiss am Anfang vom Krieg nicht erhaben zu singen, sondern erreicht seine sich aus allem Zweifel und Widerspruch herausdrehende dichterische Rede erst in dem Moment, wo es Leichtigkeit als Geschenk erfährt. Am Ende der Ode ist deshalb nur noch mit Mädchen, deren Nägel aber beschnitten sind, Krieg zu führen. So folgt also das hier skizzierte Zitat aus Hamanns Beurtheilung der Kreuzzüge selbst der rhetorischen Struktur bei Horaz, die Schweres scheinbar spielerisch in Leichtes verwandelt. Wie immer man dieser Struktur folgend Hamanns Bezug zu Michaelis im Allgemeinen auch verstehen will: Bevor Theologie, Religion, gar Kirche zum kontradiktorischen Gegenteil von Aufklärung werden konnten, ist, zumindest auf die deutsche Aufklärung bezogen an ein sich von selbst einspielendes Verfahren zu denken, durch das sich im Falle Hamanns theologische Wahrheit sinnlich vergegenwärtigen lässt und das im Falle von Michaelis Aufklärung durch die Theologie vollzieht. Eine solche aufeinander bezogene dialogische Praxis muss zu jener Kontingenzerkenntnis historischer Erfahrung führen, die beide, Michaelis wie Hamann nur in je unterschiedlicher Weise teilen. Das ist ja die wesentliche Leistung von Michaelis, sein Kontingenzdenken, d. h. dass nur mit Hinsicht auf die Kontingenz des Wissens und seine Akzeptanz ein Fortschritt der Wissenschaften zu erhoffen ist. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass es Michaelis, aber auch Hamann um das Wissen der Wissenschaften zunächst gar nicht geht, sondern um die Bestimmungsmöglichkeit des Rechtes qua Vernunft: Ein bloßer Rechtsgelehrter kann damit zufrieden seyn, daß er die Gesetze kennet, die in seinem Lande gültig sind: allein wer über die Gesetze philosophiren, und, […] wer mit dem Auge eines Montesquieu die Gesetze ansehen will, dem ist es unentbehrlich, die Rechte anderer Völker zu kennen; je entfernter an Zeit
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und Himmelsstrich, desto besser. Wer weiter nichts als sein eigenes Vaterland, oder die ihm an Zeit und Lage nahen Länder und Völker kennet, dem kommt in den Gesetzen manches als nothwendig vor, was doch bey andern Umständen anders seyn muß: das Willkührliche des Rechts, das nach jedem Himmelsstrich und nach hundert andern Umständen Veränderliche der gesezgebenden Klugheit, fällt ihm nicht in die Augen.57
Ganz anders argumentiert Hamann: Die Beschäftigung mit dem mosaischen Recht ist für ihn zentral hinsichtlich der Einsicht in die Genealogie unserer Rechtsvorstellungen, die nicht einfach kontingent sein dürfen, sondern ja den Anspruch haben müssen, verbindlich zu sein. Hamanns Suche nach Leitlinien verbindlicher Rechtspraxis gerät allerdings in die Gefahr, rechtspositivistisch zu argumentieren, indem er eine rhetorisch vermittelte Universalität der biblischen Überlieferung behauptet. Es handelt sich dabei keineswegs um eine ‚schlechte‘ Rhetorik im Sinne hinterlistigen Vorgehens. Hamann ist nicht weniger rational als Michaelis, wenn er nicht biblizistisch, sondern rhetorisch danach fragt, wie wir von unserer jeweiligen Zeit und Gesellschaft aus Bezug zu biblischen Texten finden können, um von dort aus uns selbst besser verstehen zu können. Auch hier ist die Kontingenz biblischer Texte der philosophisch-philologische Initialpunkt. Die Bibel wird bei Hamann ebenso wenig wie bei Michaelis als Quelle überzeitlicher Normen und Werte verstanden. Anders als Michaelis wertet Hamann jedoch die Differenz zwischen Text und Applikation, historischer Kontingenz und der Suche nach gegenwärtiger Rechtsverbindlichkeit nicht nur heuristisch, sondern auch pragmatisch positiv. Einfacher gesprochen: Für Michaelis ist das mosaische Recht als Recht unter vielen interessant hinsichtlich der philosophischen Problematik der Kontingenz von Recht; für Hamann ist das mosaische Recht eine historische Aufgabe. Wir kommen erst zu unserem Recht, wenn wir diese Aufgabe ernst nehmen und uns in Bezug zu ihr setzen oder noch einfacher gesprochen, wenn wir uns nicht nur als vernünftige, sondern als wesentlich historische Wesen verstehen, die sich nicht im Selbstverständlichen bewegen, sondern als Parrhesiasten um Recht und Wahrheit kämpfen müssen.
57 Johann David Michaelis: Mosaisches Recht. Erster Theil. Zweite vermehrte Ausgabe.
Reutlingen 1793, S. 2.
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5.2 Philologischer Wortwechsel als Experimentalphilologie
Die hier nur sehr kurz skizzierte Differenz zwischen philosophischem und historischem Selbstverständnis liegt auch dem zweiten Beispiel, Hamanns berühmter Anrede an Michaelis in der Aesthaetica in nuce zugrunde, die sich unter intertextueller Signatur wie im ersten Beispiel aus den Beurtheilungen der Kreuzzüge ein angeredetes Gegenüber erfindet, das keine reale Person mehr, sondern eine abstrakte figura betrifft, die mehr auf den Begriff des Philologen denn den des Theologen zielt: Heil dem Erzengel über die Reliquien der Sprache Kanaans! – auf schönen Eselinnen siegt er im Wettlauf; – aber der weise Idiot Griechenlands borgt Euty phrons stolze Hengste zum philologischen Wortwechsel.58
Wenn Hamann in der Aesthaetica in nuce nach der Differenz zwischen dem Erzengel und dem weisen Idioten, zwischen den schönen Eselinnen und Eutyphrons stolzen Hengsten, zwischen agonalem Wettlauf und unendlichem Wortwechsel so fortfährt: Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse […]59
dann reiht er selbst Gleichnisse aneinander und geht hinter die aristotelischen Schlussformen auf die platonische dihairesis zurück, zumal er sich in der Fussnote auf Bacons De dignitate et augmentis scientiarum bezieht: „ut hieroglyphica literis: sic parabolae argumentis antiquiores, sagt Bacon, mein Eutyphron.“60 Mit Bacon als Eutyphron kommt nun Hamann in der Tat dem neuen methodischen Profil des 18. Jahrhunderts näher als die von Descartes herrührende newtonsche Experimentalanalysis. Die Methodologie Newtons ist zwar hinsichtlich des Entdeckens empirisch geworden, seine Darstellungsform orientiert sich gleichwohl noch am antiken Vorbild der apriorisch-synthetischen Methode. Im 16. Jahrhundert wurde die aristotelische Beweistheorie durch Zabarella aber entscheidend erweitert: Die analytische Methode wird als demonstratio quia umformuliert – Beweis, dass etwas so ist, wie es ist – und die synthetische Methode als demonstratio propter gefasst – Beweis, warum etwas so ist, wie es ist. 58 N II , 197,11–14 (Aesthaetica in nuce). 59 Ebd., 197,15–17. 60 Ebd., 197,39–40.
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Dieser wissenschaftshistorische Kontext ist wesentlich, denn vorderhand könnte es ja so scheinen, als ginge Hamann auf die antike Methodenlehre zurück, der gegenüber Michaelis die neue empirische Sozialwissenschaft erfindet. Gleichwohl verhält es sich umgekehrt, denn gerade in der anwendungsorientierten Mathematik Eulers und Lagranges wird das antike Programm einer Allgemeinen Methodenlehre innovativ so eingelöst, dass empirische Phänomene nicht mehr wie zuvor durch eine logische Deduktion aus Axiomen nachträglich gerechtfertigt werden. Unter diesem Aspekt ist dann selbst Hilberts Formalismus des 20. Jahrhunderts antiquiert. Vielmehr müssen in der Mathematik des 18. Jahrhunderts von empirischen Phänomenen ausgehend jene Differentialgleichungen abduziert werden, durch die sie sich dann als Spezialfälle bestimmen lassen. Es sind diese mathematischen wie abduktiven Kontexte, mit denen Hamanns Aesthaetica in nuce eine Neuorientierung gegenüber der aufklärerischen Philosophie wagt. Mit Michaelis, so sieht es Hamann, hat sich das Verhältnis zur Geschichte zwar seinem Umfang nach erweitert, seinem Sinn aber nach verhärtet. Denn der mögliche lebendige Sinn der Geschichte wird nur auf jene Reliquien reduziert, die sich philologisch noch verwalten lassen. Unter diesem Aspekt gewinnt der Erzengel Michaelis den philologischen Wettlauf. Dagegen schlägt Hamann vor, wie Sokrates, der weise Idiot Griechenlands, zu fragen, wie sich der historische Sinn seinem eigenen Sein nach im Dialog erst noch zeigen wird, d. h. im philologischen Wortwechsel operiert Hamann als „Experimentalphilologe“,61 der so Bacons Wissenschaftsprogramm für die Philologie adaptiert: Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.62
Diese Experimentalphilologie wird nicht isoliert betrieben, sondern steht im Kontext der für Hamann spezifischen Rhetorik des Verbergens, wenn nicht Verstellens und Zeigens,63 wie sie sich v.a. in den para-, genauer peritextuellen Text61 Johannes von Lüpke: Zur theologischen Dramaturgie in Hamanns Autorschaft. In: Acta
1992, 305–329, hier 305.
62 N II , 71,25–31 (Sokratische Denkwürdigkeiten). 63 Anja Kalkbrenner: Selbstdarstellung und Verstellung in Hamanns Briefen. In: Acta
2010, 115–128.
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signalen, allen voran den hybriden Untertiteln dokumentiert.64 Auch der philologische Wortwechsel impliziert Texthybride als gleichsam materielles Substrat des historischen Sinns und seiner möglichen Wahrheit. Dieser Wortwechsel setzt Beziehungen zu Sinn und Wahrheit schon voraus und arbeitet auf einer Grundlage, die so noch nicht vorhanden ist. Führt man, so Hamann, wie Michaelis zur philologisch hergestellten Einsicht in historische Kontingenz nur deshalb hin, um von dort aus nach philosophischen, d. h. historisch unabhängigen Normen zu suchen, so gerät man in einen Regress ohne Ende, während Hamanns Verfahren des wohl eher rhetorisch zu bezeichnenden Wortwechsel prima facie endlos und ohne Möglichkeit, wie im Wettlauf zu siegen, zu sein scheint, aber in dem sich die möglichen Wahrheiten der Geschichte selbst interdiskursiv einspielen. Das gilt nun nicht zuletzt für die sich im Lauf der Zeit sich ändernde Beziehung zwischen Hamann und Michaelis.65 Hamanns Dialogizität setzt nicht auf Sieg, sondern auf die Wahrhaftigkeit des Wortwechsels, die nur in Spannung zu seiner Rhetorizität lebendig bleibt. Nur so kommt man hinter die Konstitution des Wissens der Wissenschaften und darin liegt dann auch der Sinn von Hamanns Rhetorik als allgemeiner Wissenschaftstheorie. Sie gründet auf parrhesia, die freie Rede, die bereit ist, ihr eigenes, aber nicht fremdes Leben für andere aufs Spiel zu setzen. In diesem Kontext steht auch die ambivalente Zitatkombination am Anfang der Aesthaetica in nuce: Das erste Zitat, Richter 5, 30, lässt sich auf Hamann selbst beziehen, der ‚Buntgewirktes‘ als rhetorische Textur seines Schreibens dem Leser im Akt des Lesens selbst vor Augen führt, leitet doch dieses Zitat zu den ‚schönen Eselinnen‘, Richter 5, 10, über, auf denen Michaelis reitet. Damit wird zwar eine Kohärenz zwischen Hamann und Michaelis selbst hergestellt, die aber durch zwei andere Zitate, Hiob 22, 19–22, und das bereits analysierte Horaz-Zitat ‚bunt‘ durchbrochen wird. Der gemein64 Vgl. am Bsp. des Konxompax Johannes von Lüpke: Hamann und die Krise der Theolo-
gie im Fragementenstreit. In: Acta 1988, 345–383.
65 Für einen differenzierten historischen Zugriff auf das Verhältnis zwischen Hamann und
Michaelis vgl. u. a. die Arbeiten von Wolfgang-Dieter Baur: Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit. Berlin/New York 1991, bes. S. 152–162; Rudolf Smend: Kritiker und Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentarischer Wissenschaft. Göttingen 2017, S. 140–153; Volker Hoffmann: Johann Georg Hamanns Philologie. Hamanns Philologie zwischen enzyklopädischer Mikrologie und Hermeneutik. Stuttgart 1972, v. a. S. 161–173; Joachim Ringleben: Göttinger Aufklärungstheologie – von Königsberg her gesehen. In: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. von Bernd Moeller. Göttingen 1987, S. 82–110; Maike Rauchstein: Fremde Vergangenheit. Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1891). Bielefeld 2017.
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same Kontext dieser vier Zitate besteht in einem hochproblematischen brutalen Kontext der Gewalt und des Krieges, auf den endlich der Friede folgt: Barak, der die Sprache Kanaans tötete, und Jaël, die Sisera tötete, stehen für die zum Ausdruck gebrachte historische Erfahrung der Befreiung Israels, Horaz bezieht sich auf die römischen Bürgerkriege, denen endlich der Friede folgt, während Hiob der Friede gegenüber seinen Widersachern versprochen wird. In diesem Kontext bekommt die Spannung zwischen parrhesia und Rhetorik, Hamann und Michaelis erst ihre nicht zuletzt politische Bestimmung: Hamann alias Debora alias Sokrates betritt mit Michaelis alias Barak alias Erzengel gemeinsam ein paradoxes wie fruchtbares Sprachland. Im Wort- und Zitatwechsel können sie das neu eröffnen, was Systembildungen ein- und abzuschliessen versuchen. Gegenüber Michaelis’ wissenschaftlich solidem Umgang mit Texten, zumal der Bibel, weist Hamann darauf hin, dass wir uns immer schon in einem Streitraum, einem Raum der Kontroversen, im Konflikt der Interpretationen befinden und nach selbständigen Antworten suchen müssen. Wenn man dergestalt immer noch ‚in der Mache‘ ist, d. h. nicht nur im gemeinsamen Gespräch nach Wahrheit sucht und in Revisionen und Wortwechseln die immer nur vorläufig bleibende Erkenntnis problematisiert, sondern sich im echten, parrhesiastischen Streit befindet, dann kann einer der tröstlichen wie wissenschaftstheoretisch relevanten Beiträge christlicher Eschatologie darin bestehen, dass sie gegenüber dem rollenden „Donner der Beredsamkeit“66 darauf hinweist, dass das letzte Wort vom Stuhl des letzten Richters nirgends schon gesagt wurde: Was ich geschrieben hab, das decke zu Was ich noch schreiben soll, regiere Du.67
66 N II , 208,23 (Aesthaetica in nuce). 67 ZH II , 145,17–18 (an Johann Gotthelf Lindner, 26. März 1762).
Katie Terezakis (Rochester, USA) Hamann’s Critique of Liberalism
Liberalism is a political theory with significantly different shades, but is always at heart a doctrine about individual rights, geared toward the fundamental right of individual freedom. Even in liberalism’s most communitarian vein, the interrelation between the self, the community, and other binding contexts is one which must preserve the autonomous individual decision-maker within the social organism. Liberal institutions developed coevally with capitalism, with modern imperialism, and with science and value theories as we know them. What liberalism has come to be cannot be dissociated from a capitalist economy, because as a matter of historical fact, the tools through which liberal institutions constitute themselves – such as law and public policy – are forged in tandem with the technologies of capitalist markets – foremost those regulating production and property. Both as a political philosophy and as an active mode of institutional organization, liberalism has always been motivated by internal critics and external malcontents. And liberalism has remained constitutionally vulnerable to illiberalism. Also as a matter of historical fact, different liberal societies have responded to challenges with more or less sustainably democratic developments. Yet even considering the differences among liberal societies, and even with the understanding that liberal institutions are forged under pressure, we must allow that the crisis of liberalism today is extreme, if not entirely new. We now employ the term neo liberalism to name the way that economic policies, designed to capture profit, have succeed in transforming ostensibly liberal government into a legate of corporations. Parallel neoliberal practices directing housing, education, healthcare, and food-production engineer a civil society administered by debt. In the neoliberal society, individuals are disaggregated from one another by the expense of everyday life, which coincides with our ongoing preoccupation with progress and personal responsibility.
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This slow-motion crisis, in which liberalism is acceding to neoliberalism in a host of nations and political unions, prompts me to return to Hamann. Hamann reminds us of what constitutes an authentic rejection of liberalism. Relatively early on, he identifies congenital bugs in the younger, greener form of political liberalism. These same fundamental concerns are the sole value-commitments on which later, far-left critiques of liberalism correspond with later, far-right and neoconservative critiques of liberalism. Hamann’s identification of an inbuilt, duplicitously coercive liberal force, geared to undermine the human freedom it vaunts, is the node from which romantic anti-capitalism springs, and concurrently, free-market fundamentalism. So for us, even while mindful of how radically our modes of life have changed since the 18th century, Hamann nevertheless presents a helpful picture of what real non-liberals were worried about, when they worried about liberalism, and what real non-liberals saw as the degenerative disorder hidden within the promise of liberal rights. In itself this is no readymade solution to our contemporary civil crisis, but it does offer a platform for communicating with those others who are apt to accede to demagoguery and jingoism, when their confidence in liberal politics is destroyed, and where their animosity toward neoliberal fulfilment is most intense. Perhaps too, Hamann’s insights prompt us to rethink how democratic association, sparked to cast off domination, might yet be supported. Before moving forward to describe Hamann’s position, a few caveats: first, the primary texts I will treat here, Hamann’s critical review of Moses Mendelssohn’s Jerusalem, Or on Religious Power and Judaism (1783) and his follow up polemic, Disrobing and Transfiguration: A Flying Letter to Nobody the Well Known, which was written in 1786 after Mendelssohn’s death, surge with the sort of anti-Semitic rhetoric we have come to recognize as both ominous and clichéd. A more thorough extraction of Hamann’s critique of liberalism would need to dwell carefully on the question of anti-Semitism’s septicity to the argument itself.1 1 To quote from just a few pages within Golgotha [“Golgatha” in the original] and Sheb-
limini!: “Genuine Judaism” is, for Hamann, the revealed religion that leads necessarily into Christianity; what is left behind is the “empty cocoon and the dead chrysalis of Judaism.” Emptied of the truth it once housed, “Judaism [is] the priestly nation of a mere bookbag-religion, [and] according to the expression of Scripture, a reproach to God and to divine reason.” Opposing its noble beginning in revelation and prophesy, Judaism chooses political and moral legislation over divine counsel and salvation; it seeds not just Christianity, but left to itself, also rationalism, dogmatism, and the paternalistic state. These become a “more than Egyptian bondage and a more than Babylonian captivity,” for “exclusive self-love and envy are the legacy and trade of a Jewish naturalism, contrary to the Royal Law to love one’s neighbor as oneself.” Johann
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Secondly, Hamann was not the citizen of a liberal democracy but a subject to King Frederick of Prussia, and witnessed Frederick’s redesigning of the judiciary, the free press, and the military. Hamann saw the progressive theoretical justification of Frederick’s politics and of more democratic rejoinders to them, as they developed out of the Berlin schools and in the works of Kant. So, Hamann had a close view of how theoretical initiatives come to reflect and endorse the political and economic policies that coalesce into modern liberalism, but he experienced them in their nascence. Finally, Hamann was a thoroughly devout Pietist, whose proposed alternative to the liberal state, but likewise to any earthly government, is the kingdom of heaven. In other words, Hamann does not think he has to provide political alternatives at all; his skepticism about the long-term prospects of nascent liberalism only requires a loose counter-image of people living in groups with shared material interests, who mutually aid one another and thereby also cultivate their divine, biological inheritance. Therein is the real divine law sheltered and awaiting elaboration.2 These may be caveats, but they are linked to the reasons that Hamann allows us to broach an understanding of those embroiled, potentially reactionary, but potentially radically democratic forces which liberal and neoliberal societies engender. For his own zealous reasons, Hamann recognized both a distorted need for connection and the likelihood of devastating loss lodged within liberal ideology. Onward, then, to Hamann’s insights. Hamann wrote Golgatha and Sheblimini! in 1784. With Golgatha, he refers to Christ’s crucifixion; with Sheblimini, Hamann names God’s promise to sit Christ at his right, and to make Christ’s enemies into his footrest. Together, the words span the range through which a painful humbling is linked to the promise of its opposite. The value of promising will figure decisively in the text. The essay, again, is a critical review Mendelssohn’s newly published Jerusalem (1783). Mendelssohn was arguably already the most important figure of the Berlin Enlightenment; today he epitomizes it. In Jerusalem, Mendelssohn describes the political framework, and enlightened civil tolerance, within which Jews and Christians could thrive equally well, politically and ethically. With his critique of Mendelssohn, Hamann takes Georg Hamann: Golgotha and Sheblimini! In: Hamann: Writings on Philosophy and Language. Ed. and transl. by Kenneth Haynes. Cambridge/New York 2007, pp. 185–196. Sections of Disrobing and Transfiguration: A Flying Letter to Nobody, the Well Known are available in the same edition (pp. 219–239). 2 Hamann: Golgatha and Sheblimini! (see note 1), p. 194 and 197.
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aim at the foundational social contract theory on which Mendelssohn’s liberal model is based. Hamann has a number of problems with social contract theory and with Mendelssohn, but I want to focus on the most egregious: Hamann charges Mendelssohn (who is also a stand in for contract theorists from Hobbes through Kant) with utilizing the concept of rights as regulative markers, to invent a particular theological and philosophical subject of rights. Like the layer of painted coating that turns glass into a mirror, the discourse on rights is a crafty layering, reflecting back the image of one who possesses them. Yet the particular individual possessing rights, according to Hamann, is obscured rather than revealed by the abstract characterization. Hamann argues that any subject created to hold political rights is therewith distanced from relationships to others, from ongoing development in communicative practices, and from the way that distinct personalities are created in expansive relationships, and can be stalled when the dynamism of everyday life is replaced by a theoretical standard, alleging its essential element. “Rights” are regulative ideals, not inborn attributes of some animals instead of others. Hamann has no charge against regulative principles (regulative Grundsätze) as such. He affirms our reliance on imaginative, illusory ideals to think and communicate. Hamann’s charge – which he worked out immediately after penning Golgatha, in a missive against Kant’s first Critique (Metacritique of the Purism of Reason, 1784) – has first to do with the way the regulative so easily gives way to assumptions of realism (here he sides with Kant’s defense of the focus imaginarius); and second, with the way that we assert regulative markers as if they are cognitively separable from the language, customs, and the relational context of their thinker (here his sharpest criticisms of Kant are anchored).3 Hamann’s rejection of the discourse of political rights is paired with his criticism of social contract theory because together they avow a frail kind of naturalism; a pseudo-naturalism that creates the so-called “state of nature” as a place holder which almost immediately becomes the only place imaginable outside of the liberal fold. The state of nature is likewise regulative, and potentially useful for orienting an imaginative fantasy about why people associate in civic organizations, but it is a deceptive or “devilish” regulative, giving us cognitive orientation 3 Johann Georg Hamann: Metacritique of the Purism of Reason. In: Gwen Griffith Dick-
son: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism, translations and interpretative essays. New York/Berlin 1995, pp. 517–525. The focus imaginarius appears in the Critique of Pure Reason (KrV A 644/B 672), or in English translation: Immanuel Kant: Critique of Pure Reason. Transl. and ed. by Paul Guyer and Allen W. Wood. Cambridge 2000, p. 591.
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in the form of a gatekeeper, which prevents rather than accommodates further scrutiny. With the state of nature, social contract theory fixes the conjectural as if it is a natural given; once posited, the concept of a state of nature goes unquestioned. Though Kant warns of the metaphysical error in such an elision from ideal to real, it is not until Marx offers his explanation of “ideology” (Ideologie) that the situation Hamann describes receives its proper name. When Nietzsche later portrays the state as the newest “idol,” that coldest of cold monsters, he sits squarely in this tradition.4 Hamann charges that the state of nature is an imaginary construction that conceals actual social relationships and that excuses imbalances in power; it is an ideology positioned to enable state power over individuals. Hamann’s critique of Mendelssohn continues in the vein later revisited by both Marx and Nietzsche: “justice,” in its modern iteration, becomes necessary in the world invented by social contract theorists. Mendelssohn and his proto-liberal fellows, guided by their pseudo-naturalism, worry about cases of “collision” (Collisionsfälle) between the authority to-do and the authority to-prevent.5 Although Mendelssohn argues that we have a fundamental duty to love, or to exercise beneficence, he knows to worry about dependence on any other’s benevolence for one’s own independence. So he must invent the “law of justice,” Hamann argues, for it is but the next slip of confusion following from the dissembling of the deceptiveregulative state of nature. With political rights and the laws that scaffold them, Hamann writes, “physical force takes the place of moral capacity”;6 we teach fear of punishment rather than cultivating our preexisting connections, in spite of Mendelssohn’s beneficent intentions. And once in the running, the inventors of rights cannot stop themselves: “Like worms through children,” Hamann writes, “laws pass through sickly men of letters…”;7 they take what is nourishing from the living organism. But wherefrom this desire to invent and follow laws?, Hamann asks. “The extraordinary taste for law-giving and the royal luxuriance in it demonstrates just as large an incapacity to govern oneself as to govern one’s equal; it is a mutual 4 Friedrich Nietzsche: Thus Spoke Zarathustra. A Book for All and None (I. 11). Trans-
lated by Adrian Del Caro. Cambridge 2006, pp. 34–36.
5 Moses Mendelssohn: Jerusalem. In: Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläums
Ausgabe. Bd. 8. Schriften zum Judentum II . Ed. by Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Canstatt 1983, p. 123; Engl. as: Jerusalem, Or, On Religious Power and Judaism. Transl. by Allan Arkush, introd. and comment. by Alexander Altmann. Hanover/London 1983, p. 54–55. 6 Hamann: Golgatha and Sheblimini! (see note 1), p. 173. 7 Ibid., p. 172.
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need for slaves and despots who resemble the slaves”.8 Hamann is putting his finger on a sore-spot that wouldn’t surprise Nietzsche, but here his insight is even closer to the young Marx’s concern with the ideology concealed in rights.9 For once the deceptive regulative is posited, and a sovereign is empowered to hold the fort against the state of nature, the dissembling about individual capacities and productive social interdependencies continues. It is no simple, childish error that Mendelssohn makes when he describes the state, as well as liberty of conscience and even religion, as moral entities in and of themselves. The abstraction allows Mendelssohn to regard the liberal state as a virtual person, and as such, Hamann notices, Mendelssohn allows that “civil society, viewed as a moral person, holds the “right of coercion” (Recht auf Zwang).10 Hamann quotes from Mendelssohn’s terms of choice, but for the present purposes I am bracketing the fact that most of Mendelssohn’s argument is actually concerned with disallowing the state any right of coercion regarding religion or the lack of religion. On Hamann’s reading, Mendelssohn is so committed to the strength of defensive rights that he is willing to imagine individual entitlement over and against God’s decrees – a contraction in terms, which disregards the nature of divine revelation in and through human projects. “What an extravagance of these mystical laws,” Hamann writes, “in order to adduce a miserable law of nature that is scarcely worth saying and suits neither the state of society nor the matter of Judaism! ‘Even that which they build, an Ammonite would say … if a fox go up, he shall even break down their stone wall’.” 11 That is: utilizing the posited state of nature does not even justify itself. Neither the religion about which Mendelssohn is advising tolerance nor the tolerant state he is imagining can become secure enough to protect themselves or one another. They are forged in fantasy and crumble under the most natural pressures. On Hamann’s account, then, the paradox later theorists see in the way that modern imperialism, the cross-Atlantic slave-trade, and chattel slavery attend the birth of the liberal state is no paradox at all, but of a piece in the self-same bid to dominate and own – others and property, interchangeably. By replacing complex, historically involved human relationships with laws governing the rights and duties of individual citizens, liberal law supersedes the 8 Ibid., p. 186. 9 Karl Marx: On the Jewish Question. In: The Marx-Engels Reader. Ed. by Robert C.
Tucker. New York 1978, pp. 26–52.
10 Hamann: Golgatha and Sheblimini! (see note 1), p. 166 (fn 17) and p. 169 (fn 36). 11 Ibid., p. 170.
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way that promising or avouching for something entails an existential endeavor of the whole person; promising is constitutive for self-constitution. Hamann writes: All social contracts derive, according to the law of nature, from the moral capacity to say Yes! or No!, and from the moral necessity to make good the word that has been given. The moral capacity to say Yes! or No! is based on the natural use of human reason and speech; the moral necessity to fulfill the word that has been given is based on the fact that our inward declaration of will can be expressed, revealed, or known only in speech or writing or action, and that our words like our deeds must be regarded as the natural signs of our convictions. Reason and language are therefore the inner and outer band of all social life.12
Where we interact with legally defined others and the formal rights and duties that relate us, we lose both the scene of individual ethical development, and tangible accountability in our social relationships. Hamann’s is not the position later called libertarianism. He continues: Is it wisdom and goodness to give and to leave to each its own? Of course it is in the sole case where there is no other law of property than the wisdom and goodness of the giver. However, this case is the only one of its kind.13
In a world of angels, we might simply leave one another alone. But Hamann does not believe we can advance, ethically or rationally, by enshrining individual liberty, because qua ideal, liberty is historically situated; liberty has different relevant characteristics in different cultural contexts, and must be reevaluated as situations change. Liberty is something we learn and express in communicative practices. Freedom is not an attribute we necessarily have, but something we realize with and adapt to the needs and interests of others. Hamann clarifies: Should everyone intend to set up his unphilosophical Me as the royal umpire in cases of collision, neither a state of nature nor a state of society is possible. […] So it is hardly worthwhile to continue to rummage around in the speculative and theoretical rubble of the right to property […].14
12 Ibid., p. 175. 13 Ibid., p. 171. 14 Ibid., p. 175.
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Liberal law and its ideologically charged notions of rights and individual responsibilities – developed in reaction to the fearsome state of nature or its Lockean corollary, the state of war – herald the loss of independent decision making, along with the ethical development that happens by staking oneself on projects to which others may also hold one accountable. Hamann notices that in the regulative fantasy which replaces a natural state of affairs, “rights” become those things we get to enjoy, as long as they do not interfere with others’ liberty, and “duties” are those things we suffer, when what we really want to do would interfere with others’ happiness.15 Others, then, are those we come to know as limits on our self-fulfillment; we bear their needs passively. But ourselves alone (the Me that Mendelssohn’s liberal law philosophizes) we experience actively. For Hamann, this is a suspension of our natural social relationships. So we lose, or stand to lose, our reasonable and expressive agency, our natural interdependency, and our embeddedness in nature as the scene of personal development and social being.16 Hamann’s position itself remains undeveloped, but we can already appreciate how different it looks from later modern conservatism, which rotates on the axial sanctity of the individual and the assumed brutality of the either the state of nature or the state of war into which we inevitably stumble. Hamann suggests an anti-liberalism wedded to our interdependency with the natural world, and to ourselves as relentlessly natural beings. Hamann would not be seduced by our contemporary cultural and political fundamentalists and self-avowed traditionalists, in part because as political conservatives, they remain default liberals, aiming to preserve limited government, embracing personal responsibility, and identifying themselves foremost as defenders of individual freedom. Even an anarcho-capitalism theoretically willing to do without government and to embrace naturalism would fail the existential test of facing up to the devilish regulative, in that it merely transfers its faith to the Market. Nor would Hamann see in our more openly reactionary movements, recurrently allied with conservative right-wing political parties, any alternative forms of government or social reproduction, because only the holding-pattern of xenophobia, nationalism, and white supremacy are on offer among them. Hamann thinks we must make and work with tools – and he regularly cele brates language as our greatest technology to date – but he admonishes that our inventions can also do more harm than good. Liberal government as a tool of social organization is such a technology – multipart with both ideal and real 15 Ibid., p. 169–170. 16 Ibid., p. 167–168.
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components – but ultimately corrupting. Whereas modern conservatism from libertarianism to radical orthodoxy to the alt-right depends on a liberal model it has never figured out how to overcome, Hamann offers genuine resistance to the liberal project. Allow me to return to Hamann’s detection of the deceptive regulative principle embedded in liberal rights and corresponding liberal institutions, which Hamann calls devilish (teuflisch) institutions. I have recounted Hamann’s exposing of a falsely-autonomous individual subject within the rhetoric of liberal rights and duties. Bracketing his anti-Semitic pitch and his unwillingness to detail any specifically political alternative, Hamann still zeros in on the way that the develop ment of individual personality and of moral autonomy are enfeebled, rather than supported, by the idol of liberal freedom. In emergent political liberalism, individual freedom and the rights that protect it are divorced from their dynamic context in everyday life. This is neither the first nor the last time that Hamann emphasizes our tendency to obscure the actualities of personal and social being with false generalizations about them. His first real (post-conversion) essay, the Socratic Memorabilia, opens with a dedication “To the Public, or Nobody, the Notorious” (An das Publicum, oder Niemand, den Kundbaren), which Hamann immediately identifies as an idol, but also as an alienation of human powers; a tyrant with the largesse to tolerate everything except the ability to pay-up one’s dues.17 The problem with the Publicum is not merely that it does not represent any person, but that believing it must so represent them, people accept its norms and follow its posited will. The Publicum stands in the way of a community’s ability to constitute itself, by claiming that it is already constituted. The prefabricated notion of a Publicum claims the power to give or withhold toleration; it tells us what our norms must already be – inviting only submission and sycophancy. From the beginning of his authorship, then, by calling out the idol of the Public in an open letter to two friends, Hamann juxtaposes the specificity of personal communication with the general, passive grammar used to shore up the abstract individual, as if he already and necessarily existed, with his abstracting universal reason and his universally just civic membership. Of course, one of the many jokes is that the Public cannot respond to Hamann, because it neither understands him nor even exists as such, unlike the two intimate friends to whom Hamann is also writing in the Socratic Memorabilia.
17 Johann Georg Hamann: Socratic Memorabilia. In: Griffith Dickson: Johann Georg
Hamann’s Relational Metacriticism (see note 3), pp. 375–407.
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In 1784, shortly after Hamann wrote Golgatha, Kant published his Answer to the Question: What is Enlightenment? Hamann writes in a letter to Lavater: “what our Kant has published in the December edition of the Berlinische Monatsschrift about self-inflicted immaturity rather than guardianship cuts me to the quick.”18 Hamann is by now well-accustomed to Kant’s position, so why does he have such an intense reaction? I believe it is because Hamann recognizes how ripe for exploitation this notion of autonomy is, not only into an alienation from natural and social dependencies, but into self-alienation. Hamann suspects not only that Kant will carry the philosophical spirit of their time, but that Kant’s critical metaphysics as well as his political theory will center upon this alienating, exploitative notion of personal autonomy. Modern individuals are being set up for failure, because they cannot attain the sort of independence Kant envisions, and having bought into it, cannot but be shamed into abjection for their failure. Hamann is cut to the quick on behalf of the three daughters he goes on to mention, who he describes as suspicious of such false freedoms, and on behalf of future people who will be thrown into a world wherein they will be told they are free, prevented from exercising the conditions of freedom, and left with only themselves and any supposed enemies of the state to blame for their mysterious discontent. In a letter to Christian Jacob Kraus of about the same time, Hamann elaborates on the offense: Kant’s definition of enlightenment as an emergence from self-incurred immaturity launches a new, more pernicious type of original sin. Hamann identifies in particular “the accursed adjective self-incurred” (selbstverschuldet),19 for expressing the way this kind of debt or guilt will carry the impossibility of its resolution. Since one can only blame oneself for a secondary, in effect chosen immaturity, willingness to exercise one’s reason requires allegiance to the leader or state who expects nothing less of us (because it is “reasonable”). Autonomy is not only an alienation from community, nature, and self, then, it is also the establishment of the seat of autonomy with the law of reason, justice, and justly contracted statehood. “Our Kant” has cut Hamann so painfully to the quick because Kant has used his considerable genius to support illegitimate state power, packaging it as the benevolent guardianship of a caring parent, willing to teach children independ18 ZH V, 294. – I am grateful to Stephan Shaw for drawing this letter to my attention, in
his tremendous treatment of Hamann (The Metacritique of Pure Reason. The Older Kant and Hamann’s Heightened Critique. Unpublished Dissertation in Philosophy. Staffordshire University). Shaw’s reading of this and the following letter provide a basis for the claim I make here. 19 ZH V, 289.
Hamann’s Critique of Liberalism
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ence in good time. So long as the holder of political power appears as a protector and the subject of power as personally responsible for maturing into independence, we will remain too estranged to even consider mounting a viable alternative to this status quo. It is this insight into the acceptance of state power on the liberal model which unites later conservative with later progressive movements. Whereas our contemporary political conservatives tend to agree that the welfare state is infantilizing, and that it stands in the way of individual responsibility and self-reliance – our contemporary political progressives tend to worry that far from upholding its commitment to public welfare, the state has become a functionary of corporate power. Both groups would tend to agree that state guardianship proves to be a sham, on the current models, even if they would disagree about whether the state should or could succeed at its expressed goal of civic-welfare. Hamann, a master of style, tells us that the liberal state has always been the real, coercive achievement of a style of regulative positing and imaginary focus. Since its transcendental rebirth in social contract theory, the state has been disguised rhetorically as the reasonable and just guardian of its public. This state is wrought of illusory constructions about the autonomous individual, their rights, and the just laws necessary to protect them. Again and now for the final time, I will close by wondering: what if we accept Hamann’s insistence on the interdependencies of social life, on our interminable reliance on intersubjective communication, and on the universality not of autonomous human reason, but of the natural world and our bodies and embodied cognitions as part of the natural domain? And what if, from Hamann’s critique of the duplicities in social-contract models of the liberal state, we consider how enshrining ideals of individual liberty and the right to property turn in on themselves, in later liberal practice, to help precipitate neoliberal crisis? At this very moment when our democratic practices are destabilizing, with the climate warming, with alarming numbers of political and climate refugees seeking state protection, and with the free press, among other liberal institutions, caving from within – it is my hope that there is something more to learn from Hamann’s critique of emergent liberalism, and from his unapologetic rejection of social-contract model consent, autonomy, and state power.
Gwen Griffith-Dickson (London, UK) Despots and Demagogues. Hamann’s Rhetoric in the face of Tyranny
Rhetoric is not about fact, even when it puts forward evidence; it is not about theory, even when it presents itself as systematic. Rhetoric’s desire is at least to edify, but more often to persuade, motivate; and it aims, often quite tactically, at a particular audience and is inseparable from its social and political context. Rhetoric is relational, and values communication as an act and an art in itself, not merely a task of reportage or proffering impersonal argument. It is committed and therefore in its desirable forms, is principled and purposive. Rhetoric calls for you to see or understand something in a certain way. It might or might not dispute the claimed facts of a dispute, but whether it does so or not, it aims at our interpretation – and maybe therefore at moving us to action. As such, it forms an ideal frame in which to consider the unique style – the ‘communication’ style – of Johann Georg Hamann; famously against system, provocative, exaggerated, and fanciful. Hamann’s rhetoric is like Jesus of Nazareth – not always understood as such; indeed, often not understood at all. Like Jesus’ self-explanation of his parables, Hamann’s writings speak so that that others do not understand. Hamann’s playful use of pseudonyms and mouthpieces, strings of obscure references, puzzling allusions, idiosyncratic metonymy are not signs of ineptitude but counter-intuitive rhetorical devices. It is Hamann’s writings on political matters, and the claim that they should be understood as rhetoric in the best sense, that I would like to consider here. The desire to speak in order to not be understood is not always as perverse and self-defeating as it could seem. There is one situation where this dissimulation has a real point: where understanding might bring mistreatment or even persecution. This applied to Hamann’s economic, indeed political circumstances: employed by a government whose rule he considered unjust and injurious to its people. While Hamann’s writings are notoriously unsystematic, they definitely have talking points which remain broadly consistent across his oeuvre; this is certainly
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the case for his political reflections. His political observations focus, directly and personally, on his own monarch and not on theories of governance per se. The mode of discourse is mainly satire, as in Au Salomon de Prusse and Lettre Perdue;1 but if so the genre is not merely wit or levity. The points are serious and substantive, and not without pathos. Our ability to understand Hamann’s political writings as a work of rhetoric – and indeed, to recognise rhetoric as a valuable intellectual endeavour – are affected by the way in which we, in our time, frame Hamann in his intellectualhistorical context.
Contemporary Rhetoric about ‘The Enlightenment’ and ‘The Counter-Enlightenment’ We seem to have an ongoing fascination with telling stories about the Enlightenment; meta-narratives that make sense of a complex diverse period, but which also implicitly tell the story of our cultural and intellectual history since. We also tell stories of the Enlightenment that attempt to make sense of our ‘political’ history, not least in the twentieth century. More recently this activity has been updated to begin to make sense of the early twenty-first century – in particular, the so-called Global War on Terror. Arguably this construal of intellectual history is ‘itself ’ best seen as acts of ‘rhetoric’ – attempts to persuade us to frame or interpret our own intellectual trajectory in a certain light, perhaps with underlying political aims. In the twentieth century, we have seen sophisticated critiques of the Enlightenment conducted by Cassirer, Adorno, Horkheimer; while Jacob Talmon found the roots of totalitarian democracy in the Enlightenment.2 But more often, especially in Anglophone writing, a particular narrative constructs “The Enlightenment” as the phenomenon responsible for creating a liberal order, human rights, democracy in Europe, the United States, Canada, and other modern democracies. Annelien Dijn offers a crisp summary of this story: For centuries, Europeans lived under the combined tyranny of priest and king. The Renaissance and Reformation dented the power of this hybrid monster over men’s minds. But around the turn of the eighteenth century, a much more fundamental challenge to the status quo emerged. A new generation of men (for 1 N III , 55–60 (Au Salomon de Prusse); N II , 299–316 (Lettre perdue). 2 Jacob Talmon: The Origins of Totalitarian Democracy. London 1961.
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this is a story without women) stood up and cast off the shackles of superstition and authority in the name of reason. Taking their cue from Holland and especially England, the most liberal European nations, they waged a war for religious and political freedom. The generals of this war, a little flock of self-styled ‘philosophes’, resided in France, but troops were enlisted throughout the whole of Europe. Displaying great courage, wit, and perseverance, they managed to gain the upper hand against the forces of darkness. By the end of the eighteenth century, a mental revolution had been achieved. The events of 1776 and 1789 were the outcome of this intellectual sea-change. The modern, liberal democracies they created put the philosophes’ programme into practice.3
In a very substantial set of volumes, Jonathan Israel in America has created a tetralogy that asserts a specific and narrow Enlightenment source for liberalism and democracy: what he calls the ‘Radical Enlightenment’, found above all in Spinoza, which he credits with establishing the egalitarian core of the modern conception of freedom, in opposition to a religious conservative body.4 Israel views Spinozist monistic materialism, rejecting supernatural things, as inherently democratic. He summarises his position thus: the Enlightenment naturally divides into two broad streams, one of which [the Radical Enlightenment] developed an uncompromisingly rejectionist critique of religion and especially religious authority, while tying this foundation […] to social and political reform. In its early stages, this ‘enlightenment’ evolved mainly underground, being repressed and persecuted by the political and church authorities. Simultaneously, a rival, larger and more respectable ‘moderate stream’ refrained from full rejection of religious guidance – while urging some reforms and toleration – and remained more moderate in its social and political reformism, along lines indicated by Locke, Montesquieu, Hume, and Voltaire, in this way consciously avoiding a systematic attack on monarchy, aristocracy, and ecclesiastical power.5
3 Annelien de Dijn: The Politics Of Enlightenment. From Peter Gay to Jonathan Israel.
In: The Historical Journal 55 (2012), pp. 785–805.
4 Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–
1750. Oxford 2002; Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford 2006; A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy. Princeton 2009; Democratic Enlightenment: Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011. 5 Jonathan Israel: Rousseau, Diderot, and the ‘Radical Enlightenment’. A Reply to Helena Rosenblatt and Joanna Stalnaker. In: Journal of the History of Ideas 77 (2016), pp. 649–677, here p. 650.
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Hamann is usually left out of these otherwise ambitious acts of story-telling, but when he is included, he is usually built into their constructed Gegenaufklärung or Counter-Enlightenment. What this constructed phenomenon is ‘against’ is usually summed up in a single word: ‘reason’. And, because most of these grand narratives derive the alleged liberal, democratic political achievements from the championing of reason, it is no surprise that the Counter-Enlightenment in these writers’ minds stands for ‘irrationalism’. So, finally, irrationalism, from Hamann to Nietzsche, is claimed to lead us to fascism, totalitarianism, and Nazism in particular. The thesis that presents Hamann as an irrationalist, has had a traceable impact in English-speaking treatments of Hamann, through the mediation of Isaiah Berlin, when handled in a history of ideas context.6 Isaiah Berlin absorbed this view uncritically from limited reading and fed this into an English-speaking readership that presumably did not have the linguistic ability to engage with Hamann in German or with German-speaking Hamannforscher. Berlin, in his wider personal quest to find the geistesgeschichtliche roots of modern totalitarianism, claimed to find its origins in thinkers such as Hamann and de Maistre; the sources of the irrationality that – at its worst – causes humanity to destroy itself in irrational violence. Many have mounted our critiques or our deconstructions of Berlin’s interpretations, but nevertheless this framing still survives uncriticised ‘outside’ the world of expert Hamann Studies. As Robert Norton observes, this view was absorbed into a wider cultural critique in the wake of 9/11 and the Global War of Terror, contemporaneously with the Iraq war. Two books appeared which claimed that the origin of this hatred of the West did not arise from al-Qa‘ida or Islamist thinking, but in the West itself: precisely in the alleged Counter-Enlightenment.7 In short, the origins not merely of European totalitarianism, but a hatred of the West from further east can purportedly be found in the Gegenaufklärung. (Having had to defend Hamann against the charge of being a proto-Nazi, it seems that English-speaking Hamannforscher now have to defend Hamann against the accusation of being a proto-jihadi!)
6 Isaiah Berlin: The Magus of the North. J. G. Hamann and the Origins of Modern Irra-
tionalism. London 1993.
7 Robert Edward Norton: The Myth of the Counter-Enlightenment. In: Journal of the
History of Ideas 68 (2007) pp. 635–658. The works he refers to are Ian Buruma and Avishai Margalit: Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies. London 2004; Lee Harris: Civilization and its Enemies. New York 2004.
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Along with many others, I have argued against understanding Hamann as a wild irrationalist; a mere Gegenaufklärer.8 Here I will confine myself to a few brief observations about these constructions and narrations of the Enlightenment and the Counter-Enlightenment: 1. The so-called Enlightenment was a period of time; not a school of thought. (I cannot imagine gathering all the European intellectuals together and expecting them to agree for even an hour, let alone a ‘long century’.) Intellectual historians recognise a diversity on the question of rationalism and empiricism or positivism. But there were many other diversities, some of which I think go unnoticed even in the more epic treatments of this period. 2. The idea of a movement contemporaneous with an ‘Enlightenment’ which nevertheless opposed it is a story that only arose much later than the Enlightenment itself; and it is not an ideologically neutral project. As Norton writes: As an explanatory paradigm, if not in actual name, the ‘Counter-Enlightenment’ came into existence much later than the Enlightenment itself and was part of an ideological program carried out in the guise of historical analysis. It did not arise as a merely neutral designation, a value-free explanatory term. It was, rather, a fundamentally partisan construct from the very beginning, one designed to shape the present through an activist, which is to say ideologically biased, reading of the past. At its inception, the notion of the Counter-Enlightenment, which seems merely to describe contemporary, that is eighteenth-century, opposition to the Enlightenment, was in fact fashioned as a weapon in a twentieth-century campaign to destroy it.9
This creation of a ‘Counter-Enlightenment’ is itself an act of rhetoric, I would argue. 3. In the eighteenth century, irritable reactions to ‘universal healthy reason’ are not alike. The non-rational account of humanity provided by the Marquis de Sade, or later so-called irrationalists, is not the kind of metacritique provided by Hamann. Hamann objected (rightly in my view) to the prosopopoeia, or even the deification, of reason: its removal from social context, from the body, revelation and divine inspiration, the love of one another and above all from language. Even if we reluctantly accept the term ‘irrationalist’ for some thinkers in the eighteenth 8 See John Betz: After Enlightenment. The Post-Secular Vision of J. G. Hamann. Oxford
2012. Also Gwen Griffith-Dickson: Johann Georg Hamann’s Relational Metacriticism. Berlin 1995. 9 Norton: Myth (see note 7), p. 651.
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century, we are clearly not dealing with the same complex of ideas and orientations. 4. The political diversity of the Enlightenment is almost guaranteed to be underplayed if you want to attribute to it an entire political outlook that arose two hundred years later. In particular, if you want to credit the Enlightenment with liberal democracy as we currently understand it, you will have your moments of embarrassment with the philosophes but also with Immanuel Kant himself. It has to be said that some views of what the enlightenment is – particularly views that see it as all about reason – are apparently compatible with authoritarianism or political dictatorships. 5. Accounts that see the Enlightenment as summed up in the idea of ‘reason’, and see its chief activity in rebutting the overweening authority of the Church, fail to recognise the theological diversity in the Enlightenment. Religious thinkers in the Enlightenment were not invariably conservative, ecclesial authoritarians; inevitably obstructers of the glorious march to liberal democracy. Indeed, not every thinker of faith was a fan of the Church hierarchy. The binary thinking that sees religious belief as entailing a conservative orientation fails to recognise what we might now call ‘radical’ or ‘liberal’ or indeed anti-authoritarian forms of faith and believing, and reflecting and writing that were present in the Enlightenment. George Berkeley, who was himself a Bishop, made the existence of God the ground of his empiricist epistemology.10 For such philosophers the debates were not about ecclesiology and authority; nor were they wedded to inherently conservative positions; as people of their time they were reasoning through faith – an activity which did not begin for the first time in the eighteenth century. There are deeper theological concerns and arguments in the long century of the Enlightenment that have nothing to do with hierarchy, power, ecclesiology, and authority, and overcoming them through free-thinking reason. And, of course, one of the strands of religiosity in the long-18th century was Pietism, a Quietist and dissenting movement that was not wedded to religious authoritative power-structures but stressed the individual relationship to God. In Hamann’s treatment, this stance is not individualistic because it is grounded in a community and tradition which is not located in a hierarchy but rather in a society; a set of relationships that seeks to be about love, not power. 6. Finally, it should be noted how far these narratives of the Enlightenment depict the flowering of reason as a way to challenge ‘religious’ authority but not ‘political’ power-structures. The philosophes of France were not revolutionaries 10 George Berkeley: Philosophical Works. London 1975.
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against the ancien regime. Some argument needs to be provided – and most often isn’t – for a core but unspoken assumption of this Enlightenment story. How can religious critique, absent of ‘political’ challenge and dissent, turn into the specifically ‘political’ liberalism and democracy as this account claims? We could also put it simply: the key notion these meta-narrators of the Enlightenment are playing with is ‘reason’. Not ‘freedom’. It is difficult to argue that their narratives are a collection of facts; and it is worth considering that this account of the origins of Western political liberalism as the outcome of religionrejecting reason is an unconscious achievement of rhetoric.
Hamann’s Rhetoric on Tyranny Hamann is a sharp and indeed passionate critic of political authoritarianism, despotism and tyranny. To be sure, he should not be considered a hero of the Enlightenment meta-narrative who glorifies reason at the expense of faith and revelation. However, he is equally not a villain of the ‘Counter-Enlightenment’ meta-narrative, namely, a religious reactionary who enables totalitarianism. Nor, despite his religious faith, is Hamann an ecclesiastical conservative. Hamann’s motivation, methods, values and political attitudes differ dramatically from the portrait offered by the historians of ideas we considered earlier. Hamann’s world-view is founded on a view of the human person, of cultures and traditions, that is profoundly anti-establishment; but part of a more complex subversion of tyranny, authoritarianism, and totalitarianism than a shallow promulgation of free-thinking reason. In contrast to the Enlightenment metanarrative of political liberalism, Hamann’s outlook is grounded not in so-called autonomous reason but in the deep connection of human relationships and our capacity for them (or not). I suggest that this reverence for human relationships is closely connected with an openness to the truth, with a counter-intuitive insight: to flourish, tyranny must ultimately contain the rejection of both these things: ‘truth’ and ‘other people’. We will explore this notion through considering the textual embodiment of Hamann’s political rhetoric. Hamann’s rhetorical critique of tyranny and authoritarianism is not derived from a view of the use of reason as an entitlement of the human person. But that clearly does not entail that it is ‘irrationalist’. What we will see, ultimately in his reaction to Kant in 1784, is that the personal use of ‘universal healthy reason’ is no foundation – let alone a guarantee – of political freedom, social justice, and economic equality. If reason is unable to deliver those, and indeed if the use of
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reason is compatible with being told to ‘think freely but still obey’ – then reason ‘cannot’ deliver what our contemporary historians of ideas claim. Throughout his writings, the most fundamental, salient theme is Hamann’s anger at the inequality needlessly imposed by Friedrich’s regime. This economic inequality, the very real financial hardship forced on the populace by the tax structure, is in contrast to the fundamental responsibility of the ruler to look after one’s people. The suffering inflicted by this oppression is portrayed frequently throughout Hamann’s writings. As moments of rhetoric, not theory, Hamann’s objections are based not on abstract arguments about rights; but on the very real infliction of suffering and a lack of compassion. Concrete abuses of power are what he describes, not infringements of what Europe would later declare as inalienable human rights. The positive case that Hamann wants to put in its place, meanwhile, is that the human person’s nature and being is grounded in our creation by God, as a political animal with republican privileges: a vocation of critique and leadership bestowed on each of us. A key text in which to find this critique is not one of his published works, but one of his letters; his letter to Christian Jacob Kraus (18. 12. 1784) takes on Kant’s essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?11 Although a letter, as Oswald Bayer has indicated its style is something of a hybrid:12 it has none of the intimacy or the clear and concise style of his more personal communications; rather it has much more of the obscure allusions and disguise of his published works. Thus it is a prime piece of Hamann’s rhetorical style. Two dimensions run through both Kant’s essay and Hamann’s letter: an intellectual claim, the ostensible purpose of Kant’s essay, which announces what Enlightenment consists in and why the mass of humanity hasn’t got it. The second is the political scenario that forms the social and governmental context of their time. In his essay, Kant paints a portrait of the average adult as failing to think independently and critically. Kant characterises this as selbst verschuldeten Unmündigkeit, arising from cowardice and laziness (Faulheit and Feigheit); asserting that only a few have cultivated their own minds and freed themselves from these afflictions. Thus for enlightenment, what is needed is the courage and energy to 11 ZH V, 289–292. Also reprinted in Oswald Bayer’s volume cited below, note 12, pp. 431–
437.
12 Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart 2002. p. 438.
Bayer gives an extension analysis and exegesis of this work.
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self-emancipate; and to be left in freedom. Kant deems that the freedom required is the most innocuous one: freedom to make public use of one’s reason in all matters. Here Kant introduces a distinction between two different forms of reason; which I will designate as ‘professional’ vs. ‘personal’.13 The personal use of reason is “that use which anyone may make of it as a man of learning addressing the entire reading public.” The professional use of reason “is that which a person may make of it in a particular civil post or office with which he is entrusted.” In the example of a civil servant, let us say that professionally he is obliged to work for the party in government. ‘Personally’, however, he might vote against the party in power and is not obliged to support it – whilst remaining utterly faithful and reliable when it comes to the execution of his professional responsibilities. Kant’s core claim is that the restriction of professional reasoning does not impede enlightenment. “Don’t argue, march!” is the obligation of the soldier; “don’t argue, pay!” is the obligation of the taxpayer, and for the clergyman, “Don’t argue, believe!” Kant at no point in this essay acknowledges the authoritarian nature of Friedrich’s regime, nor the oppression it imposed. On the contrary, he praises the monarch’s alleged tolerance and generosity in allowing his subjects to think freely in their personal lives, noting with approbation, “Only one ruler in the world says: Argue, as much as you want and about whatever you want, but obey!”14 In contrast, what is at issue for Hamann is not ‘enlightenment’ as some form of inner judgment but something starkly different: social and political empowerment and liberty. The ability to think something in private is not the critical question. What is the ‘point’ of Enlightenment, one could ask? What is it that healthy reason should deliver for the individual, for the citizen? In his letter to Kraus, Hamann is particularly enraged by the Kantian terms which in Hamann’s view are no better than insults: “immaturity”, “cowardice, laziness” and, to crown it all, that these alleged attributes are “self-incurred”. These “slanders”, disappointingly, are in fact Kant’s chief conceptual tools in his analysis of the problems of the unenlightened populace. Hamann’s rhetorical reaction, 13 I will depart from standard translations (or designations) of the ‘private’ (Privatge
brauch) and the ‘public’ (der öffentliche Gebrauch) uses of reason; for to modern readers Kant uses the terms precisely in the opposite fashion to what would intuitively be understood today. Thus for Kant’s Privatgebrauch I will use ‘professional’, and for Kant’s öffentlicher Gebrauch I will use ‘personal’. 14 “(Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!)” An English translation of Kant’s famous essay is available in: What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and Twentieth-Century Questions. Hg. von James Schmidt. London 1996, pp. 58–64, here p. 59.
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therefore, is not just a question of finding Kant’s tone regrettable or lacking in courtesy. Rather, it is a matter of substance: the adequacy of Kant’s analysis, the credibility of Kant’s core claims. Selbst verschuldet
Hamann names Kant’s proton pseudos as the accusation that this lack of adulthood (Unmündigkeit) is selbst verschuldet, self-imposed. Hamann’s counter-charge is that the domination involved is supremely imposed by the “guardian”. This oppressive disempowerment is true in two dimensions, the intellectual (thinking for oneself) and political (freedom to both think and act as one chooses). The intellectual guardianship is imposed by Kant and his kind. For to whom do ‘you’ ever say, “Argue as much as you like, but you must obey!” Not to your colleagues, friends, or peers; such a thing is normally said only to children. Anyone who is ordered to obey despite the truth of their objections has not imposed this on themselves. But it is also true that this incapacity is not just an intellectual question, but is ‘politically’ imposed, and forcefully. As Hamann writes in Lettre perdue, “Whoever rules subjects must compel them or delude them. Justice is never done in this dual task other than in hate and contempt for a people, with all the evil of a tyrant and a sophist, but behind the mask of a hypocritical morality and humanity.”15 This political subjugation is not self-chosen; it arises either from force and coercion, or from manipulation and deceit. Indeed in our time in Western democracies, it is the latter that seems to be succeeding too well in Europe and North America. We have ‘demagogues’, but Hamann had a ‘despot’, and as he observed in his letter to Kraus, Friedrich had a large and well-regulated army at his disposal to compel his subjects. Unmündigkeit
Thus the lack of truly adult status and guardianship are really not the correct categories in which to analyse the problem, though Hamann reluctantly says he will tolerate them as an “analogy”. The categories of child/adult are merely an 15 N II , 302: “Pour gouverner des sujets, il faut ou les contraindre ou les tromper. On ne
réussit jamais dans cette double charge, sans haïr souverainement les hommes avec toute la méchanceté d’un Tyran et d’un Sophiste, mais sous le masque d’une morale et d’une humanité hypocrites.”
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analogy for a more literal description, which is subject/ruler. What they have in common, that which allows the analogy, is a contrast in ‘power’. An adult is not necessarily more intelligent, free-thinking, or independently-minded than a child; and if Kant truly had these cognitive attributes in mind then the concept of Unmündigkeit is ill-chosen to describe the state of affairs he addresses in his essay. What distinguishes an adult from a child, apart from experience, is that the adult possesses more power and control than the child. So too does the despot possess more power and control than the subject. And finally, we should note that a differential in power between human beings is rarely if ever truly self-incurred. Faulheit und Feigheit
What makes a child a child and not an adult? What is the difference between a child and an adult? Not cowardice and laziness. As Hamann says, how can you accuse the “immature” ones when their “guardian” has a large, well-disciplined army? Nor is it intellectual laziness to be forced to work to exhaustion in order to survive, so that you have no leisure to think, as Hamann’s fellow citizens were. Being excluded by poverty from education is not laziness either. Nor is it sheer laziness if you do not exercise your reason by penning essays for publication, because you lack the leisure, the skills, and the public voice. Kant’s failure of insight – or even, perhaps, a failure of empathetic imagination – represents a triple false accusation. Firstly, that this state of affairs for the subject of Friedrich’s regime is self-incurred; secondly, that it consists in immaturity; and thirdly, that it arises from cowardice and laziness. Kant is guilty of what current cant calls ‘victim-blaming’. To portray it, Hamann’s rhetorical style makes use of a variety of themes involving sight and blindness throughout the essay – Kant is quite simply blind to the truth here – as well as imagery of light and weak or false light – clearly alluding to En-light-enment. Ausgang aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit
Kant calls for an exodus from cowardly, lazy, self-incurred immaturity. Once you dare to think for yourself, you will quite naturally acquire that maturity and the freedom to exercise your ‘purely personal’ use of reason. There is arguably a contradiction in being ‘ordered’ to think for yourself, to be independent yet obey the instruction to take up critical thinking. Whatever we might say about the intellectual point, however, the political question is this: does the writing of essays in a personal capacity confer on us political freedom,
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social justice, and economic equality? In Hamann’s eyes, Kant fails to perceive the impact of the lack of political freedom on the exercise of reason itself. Still less can personal reflection be the necessary and sufficient condition for eradicating poverty, the economic inequality that so distressed Hamann. The manipulation tactics of would-be dictators in their attempts to gain power may well include obfuscation, dangerous distortion of the truth, and appeals to disruptive emotion to cloud and prevent robust criticism of their manifestos. And meeting political rhetoric with sceptical independent critique might well be an aspect of the prevention of authoritarianism. But once you are in a dictatorship, as Hamann and Kant were, no amount of the personal use of reason can overthrow a tyrant who has a “large well-disciplined army”. For Hamann, freedom is the context in which thinking and learning can arise – not the other way around. This is as true of social and political freedom as it is for the conditions of thought. When in dispute with his friend Herder in Philosophische Einfälle und Zweifel,16 Hamann insisted that freedom from instinct was not the critical point, but rather a more fundamental and social freedom is necessary for us to reflect, and pass on those reflections in tradition and sociality. It is not so pertinent that the phenomenon of freedom presupposes thought; but instead that thought presupposes freedom. So against Kant, Hamann would say “you can’t think your way to freedom” – especially political freedom; but not even for cognitive freedom, given the holism of the human person. No one can credibly believe that the personal use of reason, valuing independent critical thinking, will somehow lead to political liberation. Kant himself clearly does not seem to think so. For all his calls to boldness, the reality is that Kant appears content to leave us in our political Unmündigkeit. Think like an adult; but when it comes to the social-political realm, you much obey, march, pay as docile as a child. Sapere aude! but not – facere aude! Dare to think, but do not dare to act. This in Hamann’s eyes is the proton pseudos of the specifically political dimension of Kant’s argument: the destructive impact of the personalprofessional distinction in the use of reason. The insistence that, for all our criticism of religious authority, we must uncritically obey political authority, is not merely a regrettable oversight. It is actually ‘preventive’ of political freedom and social and economic justice, by preventing the citizen from taking effective action for changing unjust circumstances.
16 N III , 35–53.
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Priests or Despots?
The liberation that Kant’s politically-passive free-thinking offers is a liberation from a dogmatic, non-rational church authority. The Church is the principle target for Kant and he says as much.17 But Hamann asks, which is worse, an army of priests; or an army of thugs and purse-snatchers? In Hamann’s eyes, those that can do violence and strip you of the means of survival are surely worse. For Hamann, liberation from the Church is not the Enlightenment which ordinary people most urgently need. Liberation from tyrants, and the economic and political oppression that they create, is what the Enlightenment should have delivered. And here is where Hamann in several writings gestures at a critique of Friedrichian ‘tolerance’. The tolerance that Friedrich offers – and Kant praises – is not real freedom of critical thought, a true openness to dissent. Certainly it is not a recognition and acceptance of the needs of the vulnerable, of minorities in society, that Locke and others saw the need of. It does not allow genuine freedom for the exercise of what Hamann in Philosophische Einfälle und Zweifel calls our vocation of critique and leadership.18 In practice, for Friedrich the religious free-thinker but authoritarian political ruler, the critique of the Church is no more and no less than a challenge to a rival power-structure. Religious scepticism empowers and furthers Friedrich’s own opinions and his cause, insofar as ecclesial power structures would threaten his own domination. So Friedrich’s tolerance is not liberalism, liberation, or freedom. It is the elimination of the potential threats to his own exercise of power found in the rival power structure of church hierarchy. Thus his enlightened religious tolerance is not an opening to freedom of thought and dissent and liberalisation: it is a move towards increasing totalitarianism, increasing dictatorial control of ‘hearts and minds’. 17 Kant: What is Enlightenment? (see note 14), pp. 62–63. “I have placed the main point
of enlightenment – mankind’s exit from its self-imposed immaturity – primarily on religious matters since our rulers have no interest in playing the role of guardian to their subjects with regards to the arts and sciences and because this type of immaturity is the most harmful as well as the most dishonorable.” [„Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d.i. des Ausgangs der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.“] 18 N III , 37.
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This privileging of Friedrich’s secular domination over the Kingdom of God – even if imperfectly recognised in religious structures – is why Hamann condemns what he sees as Kant’s capitulation so severely. In contrast to Kant and Friedrich, what does Hamann call for in his letter to Kraus? Not a Counter-Enlightenment; not a rejection of reason. On the contrary! What Hamann calls for is a ‘true Enlightenment’; which is an escape from the imposition of external control, whether in thought, one’s profession or vocation, one’s faith and spiritual or the economic and political circumstances. In this Enlightenment as liberation, the key operative word is not reason; it is ‘freedom’.
Hamanns aktuelle Political Rhetoric In a response to Herder (Philosophische Einfälle und Zweifel), more than a decade before his engagement with Kant, Hamann sketches a portrait of the human person that underlies his political rhetoric and is the ground for his stance. We have a dignity and worth that is God-given, by virtue of our creation which is in God’s image and inscribed in our nature. Using Aristotle, he suggests that we are social animals with “republican privileges”19 and a vocation that consists in critique and in leadership. We might observe firstly that for Hamann we all have the vocation of leadership – not just the ruler; and that this too is granted by God. This is exercised not least in our vice-regency and stewardship of all of creation.20 Secondly, this capacity for critique, the free use of reason, is not granted by Friedrich – nor, for that matter, by Kant or anyone else. It is as inalienable as any of our other faculties or rights. It is something neither Kant nor Friedrich (nor any other “adult” or mündige person) can grant or withhold. They can only punish it or liberate it. Insofar as Hamann names our human vocation a ‘critique’, and calls for a true Enlightenment, this should end forever the claims that Hamann is an irrationalist who is against the Enlightenment. The meta-narrative of the supposed CounterEnlightenment needs to be rewritten, above all where it claims to probe the origins of contemporary European and American political movements and events. Hamann’s political thought is all the more timely – and in its own way, more aktuell than some of our contemporary commentators – because he focuses on economic inequality, its deep and powerful connections with authoritarianism, 19 N III , 38: “das republicanische Vorrecht”. 20 N III , 31–32.
Hamann’s Rhetoric in the face of Tyranny
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seeing wealth as its root. The secret motivation of contemporary European and American authoritarian movements might be financial, but its method is in the two-fold denial of ‘truth’ and of the rights and dignity of ‘the Other’ – those who are vulnerable and marginalised. The true Enlightenment that Hamann calls for is actually a liberty grounded in the dignity of the human person formed in God’s image. It brings in its train a politics of compassion, of justice, of equality; a citizenship of critique (including bitter and irreverent satire); a leadership by the citizen. Religious thinking in the Enlightenment can also be politically radical, not just conservative; the critical question is not about faith, not even about reason, it is about power. Reason used in support of autocratic power is exactly the kind of critique Hamann conducted. This is not an irrationalist position of anti-reason; it is the critique of the oppressive uses to which reason is put. Indeed, using reason to support autocratic power is not ‘rational’. Seeing our relationship to God as ultimate, and greater than any other, ‘can’ be radicalising. It undercuts the claim of every political authority in favour of a more ultimate commitment which is both an obligation and a liberation. The radical believer paves the way for the idea that the citizen has rights over against the ruler, rights that are transcendent. For Hamann this is theological in its ground. Hamann’s rhetoric grounds our rights to freedom ontologically – indeed, constitutes them as inalienable, and not something merely conferred by legal declarations of rights. For Hamann, it is fundamentally a relationship with God that liberates us from our imposed “cowardice” and creates boldness towards those self-appointed guardians. Such an insight, and the desire to communicate it, cannot be a matter of evidence, still less an inferential system of propositions. It is and can only be communicated as an act of rhetoric, in the best sense: a wish to share, a passion to persuade the reader that truth and wisdom are to be found here. To see humanity and the world in this light is to return us to that original intimacy in which God delighted to play with his human children – and they did not prey upon or oppress each other.21 For all Kant’s sophistication and Hamann’s childlikeness, it is the latter’s analysis that has more to say to our contemporaries. In our time, “argue as much as you like, but just obey!” is not a safe utterance – not even in Western democracies. Hamann’s admirers might well wish he were alive today to entertain us with
21 N III , 32.
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his political satires; but at least we can edify ourselves with his ethical critique of despots and demagogues.
IV. Aus der Editionswerkstatt
Janina Reibold (Heidelberg) Die Hamann-Sammlung von Julius Halle oder Kreuz- und Querzüge des vermeintlichen Sammelbands von Johann Michael Hamann1
Als ich im Dezember 2019 einen Erstdruck vom Hamanns Sokratischen Denkwürdigkeiten in den Händen hielt, der bei Christian Hesse Auktionen in Hamburg von der Heidelberger Theodor Springmann Stiftung erworben wurde, war ich überrascht. Alles an diesem Bändchen ist fragil: die Größe, das Gewicht, der Umschlag mit bloßem Buntpapier – und dennoch wirkt es auch nach über 250 Jahren, die seit dem Erscheinen 1759 vergangen sind, wie frisch aus dem Ei gepellt. Die blauen und schwarzen ‚Blumenkreuze‘ auf dem Herrnhuter Stempeldruckpapier des Umschlags sind immer noch kräftig, die Seitenränder – geschützt mit einem dreiseitigen Rotschnitt – fast nicht berieben oder geknickt. Doch die größte Überraschung erwartete mich erst im Inneren des Bandes: Die eigenhändigen Annotationen Hamanns, die sich auf mehr als der Hälfte der Seiten des Exemplars finden, wirken wie gerade erst niedergeschrieben, die Tinte hat kaum Farbe verloren (vgl. Abb. 3). In der rechten unteren Ecke des Vorsatzblattes findet sich eine datierte Widmung oder Besitzeintragung für den Sohn: „Johann Michael Hamann. / VIII Jul. MDCCLXXXVII.“ Selbst der Verschreiber Hamanns in der römischen Jahreszahl ist deutlich zu erkennen (vgl. Abb. 1). Für einen kurzen Moment erlag ich der leisen Hoffnung, dass es sich bei dem Band um ein bisher nicht bekanntes annotiertes Exemplar der Sokratischen Denkwürdigkeiten handeln könnte, doch bereits nach kurzer Recherche wurde mir klar, dass die handschriftlichen Annotationen des wiederaufgetauchten Bändchens bis ins Detail identisch mit denen auf den Photographien in Band 118 des HamannNachlasses der ULB Münster sind.2 Allerdings gibt es zwei gewichtige Abweichungen. Zum einen wurden die Münsteraner Photographien, die aus dem Nachlass Josef Nadlers stammen, eindeutig von einem Sammelband aufgenommen und 1 Für ihre Unterstützung bei der Recherche zu diesem Beitrag danke ich Ernst Fischer,
Florian Fischl und Reinhard Wittmann.
2 ULB Münster, N. Hamann, Bd. 118.
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Abb. 1: Sokratische Denkwürdigkeiten, Vorsatzblatt mit der Besitzeintragung für Hamanns Sohn Johann Michael. Scan des Originals der Theodor Springmann Stiftung Heidelberg
nicht von einem Einzelband der Schrift. Auf fast allen Photos ist Umschlag und vor allem die Bindung eines umfangreichen Bandes zu erkennen. Zum anderen sind die Seiten von dem Original und dem photographierten Exemplar unterschiedlich beschnitten, so dass einige handschriftliche Annotationen bei dem photographierten Exemplar am Seitenrand leicht abgeschnitten sind (vgl. Abb. 2 und 3). Wie ist es möglich, dass sich dennoch die handschriftlichen Anmerkungen Hamanns bis aufs i-Tüpfelchen gleichen? Schlägt man in der von Sabine Kinder zusammengestellten Findliste des Hamann-Nachlasses Band 117 und Band 118 nach, findet man je den Eintrag: „Sammelband Johann Michael Hamanns“.3 In der Übersicht über die überlieferten Materialien beschreibt Josef Nadler 1930 diesen vermeintlichen Sammelband folgendermaßen: 6. [Sammelband; JR] Joh. Michael Hamann. Reste eines Sammelbandes liegen vor in einem Exemplar der ‚Sokratischen Denkwürdigkeiten‘. Es hat auf dem Vorsatzblatt den Eintrag ‚Johann Michael Hamann. VIII. Jul. M DCCLXXXVII‘. Möglicherweise gehören in diese Umgebung je ein Exemplar ‚Wolken‘, ‚Essais‘, ‚Kreuzzüge‘, ‚Zwo Recensionen‘, ‚Golgatha und Scheblimini‘. Alle mit hs. Anmerkungen von Hamanns Hand. Die Sammlung gehörte dem Berliner Justizrat Sello, wurde am 4. 11. 1908 durch den Berliner Antiquar E. R. Greve versteigert und von dem Münchner Antiquar J. Halle erworben. Sie befinden sich im Besitz von dessen Witwe. (Schulte-Strathaus an Warda 16. 2. 1909 und an mich 23. 9. 1930.) Ich habe die Bände noch nicht sehen können, da sie nur an Ort und Stelle verglichen werden dürfen.4 3 Josef Nadler: Die Hamannausgabe. Vermächtnis, Bemühungen, Vollzug. Faksimile-
druck nach der Ausgabe von 1930 mit der Findliste zu Josef Nadlers Hamann-Nachlaß in der Universitätsbibliothek Münster/Westf. von Sabine Kinder und einem Vorwort von Bernhard Gajek. Bern u. a. 1978, S. 14*. 4 Nadler: Die Hamannausgabe (wie Anm. 3), S. [206].
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Für seine Verhältnisse ungewöhnlich deutlich zeigt Nadler 1930 in diesen wenigen Zeilen die Unsicherheiten an, die in seine Beschreibung des angeblichen Sammelbandes eingeflossen sind. Diese offen eingestandene philologische Unsicherheit vermisst man 1950/51 hingegen in den Bänden II und III seiner Ausgabe, sie lässt sich aber anhand der einzelnen Nachweise im Apparat deutlich ablesen. Hier werden bei den betreffenden Schriften von Nadler nämlich vier verschiedene Überlieferungsträger mit handschriftlichen Annotationen benannt: 1. Einzelexemplare aus dem Vorbesitz Johann Michael Hamanns (= B) im Fall der Sokratischen Denkwürdigkeiten und der Wolken5 2. Sammelband Johann Michael Hamanns (ebenfalls = B) im Fall der Kreuzzüge6 3. Sammelband J. Halle, München (= Mü) im Fall der Essais à la Mosaique, den Zwo Recensionen und dem Ritter von Rosencreuz7 4. Einzelexemplar J. Halle, München aus dem Vorbesitz Johann Michael Hamanns (= Ha) im Fall von Golgatha und Scheblimini!8 Diese sieben Exemplare entsprechen den Photographien der zwei Sammelbände, die heute als Band 117 und Band 118 in der ULB Münster aufbewahrt und in der Findliste als „Sammelband Johann Michael Hamanns“ bezeichnet werden. Wie erklärt sich aber die Unsicherheit Nadlers in Bezug auf diese Materialien, dass er sie auf vier verschiedene Weisen bezeichnete? Und vor allem wie kann es sein, dass eine Schrift 1932 Teil eines Sammelbandes war und mit diesem beschnitten wurde und 2019 unversehrt unbeschnitten als Einzelband mit einer Buntpapierbroschur der Zeit wieder auftaucht? Ein Sammelband lässt sich auflösen, eine Broschur fälschen – ja, aber ein beschnittener Buchblock lässt sich ohne magische Kräfte nicht wiederherstellen. Die Antwort ist etwas kurios und hängt wie so oft mit der merkwürdigen Editionsgeschichte der Schriften Hamanns zusammen.9 Ich möchte sie im Folgenden so weit entfalten, wie mich meine Recherchen tragen.
5 6 7 8 9
N N N N
II , 383, 395, 398. II , 398. II , 416 und N III , 416, 420. III , 469.
Vgl. hierzu allgemein Janina Reibold: Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition. Ein Zwischenbericht. In: Acta 2015, 453–475.
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In zwei nicht mehr überlieferten Briefen hatte Ernst Schulte Strathaus sowohl 1909 Arthur Warda und erneut 1930 Nadler berichtet, dass der Ende 1927 verstorbene Antiquar Julius Halle in München in seiner Privatsammlung „Deutsche Literatur“ mehrere Hamann-Erstdrucke mit handschriftlichen Annotationen verwahre, darunter vor allem ein Exemplar der Sokratischen Denkwürdigkeiten mit der Besitzeintragung des Sohnes Johann Michael.10 Die Halle’schen Bände entstammten angeblich alle der berühmten Privatsammlung des Berliner Justizrats und Strafverteidigers Dr. Erich Sello (1852–1912), der Teile davon bereits zu Lebzeiten bei einer Versteigerung des Buch- und Kunst-Antiquariats E. R. Greve in Berlin am 4. November 1908 verkauft hatte.11 Im Greve-Katalog finden sich zwölf Erstdrucke Hamanns, vereinzelt ergänzt um den Hinweis, dass sich Randnotizen „von alter Hand“ in den Drucken befänden. Vermutlich wurde die gesamte Hamann-Sammlung Sellos bei dieser Auktion 1908 verkauft,12 sie bestand demnach aus: 1. Sokratische Denkwürdigkeiten „Umschlag der Zeit. Mit Notizen von alter Hand“ 2. Wolken „In altem Papierumschlag. […] Mit einigen alten Randnotizen“ 3. Schriftsteller und Kunstrichter „Reizender Papierumschlag“ 4. Essais à la Mosaique „Reizender alter Papierumschlag“ 10 Nadler: Die Hamannausgabe (wie Anm. 3), S. [206] und Schulte Strathaus: Der sokra-
tische Philolog. Kreuz- und Querzüge eines Hamann-Sammelbandes. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 1963, S. 139–149, hier 141. 11 Katalog einer wertvollen Berliner Privat-Sammlung. Versteigerung. Mittwoch, den 4. November und folgende Tage […] durch E. R. Greve, Berlin W. 15, Uhlandstr. 31, Buchund Kunst-Antiquariat. 1908. 12 Weitere Teile der Sammlung Sellos wurden zu Lebzeiten am 19. bis 22. April 1911 durch den Kunstsalon Maximilian Macht verkauft, vgl. den Eintrag zu demselben für die geplante Publikation im Lexikon des Kunsthandels der Moderne im deutschsprachigen Raum 1905–1937 unter: https://sammlung-online.berlinischegalerie.de (zuletzt eingesehen: 10. 11. 2020); einen Katalog zu dieser Auktion konnte ich bibliographisch bislang nicht finden. Posthum wurde die restliche Privatbibliothek Sellos dann 1915 versteigert, vgl. Bücherei aus dem Nachlass des Herrn Justizrat Erich Sello-Berlin. Deutsche Literatur des 16.–20. Jahrhunderts. Versteigerung: 26. Oktober und folgende Tage. Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus, Berlin (Katalog Nr. 1738). Berlin [1915]. Im Katalog findet sich kein Hamann-Titel.
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5. Leser und Kunstrichter „Reizender alter Originalumschlag“ 6. Kreuzzüge des Philologen „Etwas stockfleckig, sonst schönes Exemplar im Originalumschlag“ 7. Fünf Hirtenbriefe „In reizendem Originalumschlag der Zeit“ 8. Mitauisches Intermezzo (Hamburgische Nachricht …) „Schönes Exemplar mit einigen Randnotizen von alter Hand“ 9. Ritter von Rosencreuz „Schöner alter Buntpapierumschlag“ 10. Zwo Recensionen „Im alten Originalumschlag“ 11. Bolingbroke „im reizenden Originalumschlag“ 12. Golgatha und Scheblimini „in reizendem alten Papierumschlag“13 Ob Julius Halle die sieben 1932 im Familienbesitz befindlichen Hamann-Drucke tatsächlich sämtlich bei der Auktion am 4. November 1908 erworben hatte, ist leider nicht eindeutig zu belegen. In zumindest fünf seiner Exemplare lässt sich ein Exlibris Sellos nachweisen, so dass die Vermutung naheliegt, dass auch die anderen beiden aus ebendieser Sammlung stammten. Beweisen lässt sich dies allerdings nicht, da sowohl Julius Halles Exemplar der Wolken sowie jenes der Essais à la Mosaique seit 1932 verschollen sind und die Seiten mit den zu erwartenden Exlibris damals nicht mitphotographiert wurden. Auffallend ist allerdings, dass lediglich bei dem Exemplar der Sokratischen Denkwürdigkeiten und bei jenem der Wolken im Greve-Katalog vermerkt ist, dass sie „Randnotizen“ „alter Hand“ hätten, bei den anderen fehlt dieser Zusatz.14 Allerdings wurden die handschriftlichen Randnotizen im Katalog auch nicht als „von der Hand des Autors“ beworben, sondern eher als Manko erwähnt. Es scheint also nicht sonderlich abwegig zu sein, dass entsprechend der Angaben Nadlers in Die Hamannausgabe, die gesamte Halle’sche Sammlung 1908 bei der Auktion Greve erworben 13 Katalog einer wertvollen Berliner Privat-Sammlung (wie Anm. 11), S. 81 f. (Nr. 1176–
1187).
14 Ebd. Es besteht die theoretische Möglichkeit, dass Sello von vier Drucken mehrere
Exemplare (mit und ohne Annotationen) besessen hatte und Halle die annotierten Exemplare mit dem Exlibris Sellos zu einem späteren Zeitpunkt erworben hatte. Dies scheint mir aber eher unwahrscheinlich zu sein.
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wurde.15 Der Verbleib der anderen fünf Exemplare Erich Sellos, die 1908 auktioniert wurden und die Halle offenbar nicht erworben hatte, ist leider unbekannt. Unter ihnen befand sich mindestens ein Exemplar des Mitauischen Intermezzos mit handschriftlichen Annotationen. Das Antiquariat J. Halle war ein bedeutendes jüdisches Antiquariat in München, das auf Alte Drucke (Inkunabeln, Americana, Kupferstiche) spezialisiert war. Es wurde im Januar 1889 gegründet und bestand offiziell bis 1936.16 Der Gründer war Isaak Halle (1864–1927), später Julius Halle genannt.17 Das Ladengeschäft war in der Ottostraße 3a in der Münchner Maxvorstadt angesiedelt. Das Quartier „zwischen Lenbachplatz und Pinakotheken, Wittelsbacher Palais und Propyläen“ entwickelte sich um 1900 zum Zentrum des reine Seltenheitsantiquariats.18 Vor allem die Firmen der Brüder Ludwig Rosenthal (gegründet 1867) und Jacques Rosenthal (selbständig ab 1895) erlangten Ruhm bei Bibliophilen in der ganzen Welt; der dritte Bruder Nathan Rosenthal betrieb ebenfalls ein Antiquariat (selbständig ab 1895), jedoch von periphererer Bedeutung.19 Julius Halle stammte gleichfalls aus der Familie Rosenthal: Sein Mutter war Jette Rosenthal (1844–1920), die Schwester der drei Rosenthaler Antiquare in München.20 Im September 1878 zog Julius Halle von Schnaittach nach München zu seinem Onkel Ludwig Rosenthal und absolvierte dort eine Antiquariatslehre; elf Jahre später 15 Nadler: Hamannausgabe (wie Anm. 3), S. [206]. 16 Das Münchner Stadtarchiv hat freundlicherweise anhand der polizeilichen Meldeun-
terlagen und den darin enthaltenen Steuerlisten sowie der Einwohnermeldekartei und Gewerbekartei im Münchner Stadtarchiv ein „biographisches Gerüst“ zur Familie von Julius Halle erstellt und mir am 16. November 2020 zukommen lassen. Ich danke insbesondere Anton Löffelmeier für diese Unterstützung. Vgl. zur Firmengründung auch: Gesammt-Verlags-Katalog des Deutschen Buchhandels […]. XVI . Ergänzungs-Band. Dritte Abteilung. 1. Theil (Leisnig bis Rybnik). Münster i. W. 1893, S. 614 sowie v. a. Reinhard Wittmann: Münchens Jüdische Antiquariate – Glanz und Zerstörung. In: Michael Brenner (Hg.): Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Heft 2 (2009), S. 23–42, hier 38 f. 17 Julius Halle starb am 9. Dezember 1927 im Alter von 63 Jahren, vgl. Stadtarchiv München: Familie Julius Halle (wie Anm. 16) sowie die Bekanntmachungen von Geburten, Hochzeiten und Sterbefällen in der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung vom 15. Januar 1928. Schulte Strathaus gibt hingegen fälschlicherweise 1928 als Sterbejahr Halles an, vgl. ders.: Der sokratische Philolog (wie Anm. 10), S. 141. 18 Wittmann: Münchens Jüdische Antiquariate (wie Anm. 16), S. 35. 19 Vgl. dazu v. a. Stadtarchiv München (Hg.): Die Rosenthals. Der Aufstieg einer jüdischen Antiquarsfamilie zu Weltruhm. Wien u. a. 2002. 20 Stadtarchiv München: Familie Julius Halle (wie Anm. 16) und Wittmann: Münchens Jüdische Antiquariate (wie Anm. 16), S. 38.
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machte er sich selbständig.21 Anlässlich des 83. Geburtstages des Onkels erinnerte sich Julius Halle im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel schwärmerisch des Antiquars sowie dessen Geschäftsführung.22 Julius’ Mutter Jette Halle, geb. Rosenthal, zog im August 1886 nach dem Tod ihres Mannes David Halle, einem Lehrer in Schnaittach, mit ihren anderen Kindern ebenfalls in das Haus des Bruders in der Hildegardtstraße 16. Ihr zweiter Sohn David Halle (1872–1914) absolvierte vermutlich ab 1886 eine Buchhandelslehre bei Ludwig Rosenthal und wurde im Mai 1898 Teilhaber im Geschäft des Bruders Julius Halle.23 Im Jahre 1904 heiratete Julius Halle Ida Fichtelberger (geb. 1881 in Schnaittach), die nach seinem Tod 1927 das Antiquariat weiterführte.24 Neben den Antiquariaten der Brüder Rosenthal waren es vor allem die Jüdischen Antiquariate Julius Halles sowie jene Emil Hirschs, Gottlob Hess’, Hans Werner Taeubers, Willy Heimanns und der Gebrüder Weiß,25 die München den Ruf als „Zentrum des europäischen Antiquariatshandels“ 26 einbrachten. Ernst Schulte Strathaus (1881–1968) war spätestens seit 1904 mit Julius Halle bekannt. Am 1. April 1904 wechselte er als Mitarbeiter vom Süddeutschen Antiquariat (Dr. H. Lüneburg) ins Antiquariat J. Halle in München, wo er dreißig Jahre lang beschäftigt war. In seinen Erinnerungen 1961 beschrieb Schulte Strathaus den Wechsel zu Halle als den „Schritt in die verlockende weite Welt der ‚Wertvollen alten Bücher und Manuskripte‘, der Inkunabeln, Frühdrucke, Holzschnittbücher, Dokumente der Wissenschaften, der mittelalterlichen Text- und
21 Stadtarchiv München: Familie Julius Halle (wie Anm. 16). 22 Max Ziegert: Ludwig Rosenthal, der Gründer von Ludwig Rosenthal’s Antiquariat in
München. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 9. April 1923, S. 447–450, hier 449. 23 Stadtarchiv München: Familie Julius Halle (wie Anm. 16) sowie Anton Löffelmeier: Ludwig Rosenthal als „Wegbereiter“ (1840–1928). In: Stadtarchiv München: Die Rosen thals (wie Anm. 19), S. 61–89, hier 82f. 24 Stadtarchiv München: Familie Julius Halle (wie Anm. 16) und Staatsarchiv München: Polizei Direktion München 13450 (Halle, Ida). 25 Vgl. zur Geschichte dieser v.a. Wittmann: Münchens Jüdische Antiquariate (wie Anm. 16). Hellmuth Wallach (1901–1989), Schwiegersohn Emil Hirschs, erinnerte sich 1985 in einer anekdotischen Rede der Münchner Antiquariatsszene in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die letztlich nie gehaltene Rede erschien 1994 als Privatdruck des Autkionshauses Hartung & Hartung, vgl. Helmuth Wallach: Die Münchener Antiquare von einst. München [1994]. Auf S. 18 widmet er sich auch dem Antiquariat J. Halle, Ida Halle und Ernst Schulte Strathaus, den er ebd. als „Spiritus Rektor“ des Antiquariats bezeichnet. 26 Löffelmeier: Ludwig Rosenthal als „Wegbereiter“ (wie Anm. 19), S. 79.
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Bilderhandschriften“.27 Schulte Strathaus war bis kurz vor seiner Ernennung zum Sachbearbeiter, später Amtsleiter, für kulturpolitische Fragen im Stab von Rudolf Heß im April 1934 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Antiquariat J. Halle gewesen und hatte 1931 sogar Prokura für das Geschäft.28 Heß und Schulte Strathaus kannten sich über Heß’ Ehefrau Ilse Pröhl, die von 1921 bis 1924 ebenfalls im Antiquariat J. Halle tätig war.29 1932 heiratete Schulte Strathaus Heilwig Seidel (1908–1994), die Tochter der Dichterin Ina Seidel. Diese hatte bereits 1933 ein „Treuegelöbnis“ auf Hitler unterzeichnet und wurde 1944 in die GottbegnadetenListe von Göbbels und Hitler aufgenommen. Die Kontakte der Familie Schulte Strathaus zur NS -Führung waren also außerordentlich gut. Für den Bibliographen Schulte Strathaus ließ sich nach eigenen Angaben im Antiquariat J. Halle aber zunächst sein „Wunschtraum“ realisieren: der Aufbau einer Bibliothek der Erstausgaben des 18. und 19. Jahrhunderts: ich schlug dem Inhaber Julius Halle vor, außerhalb des geschäftlichen Rahmens für ihn persönlich eine Bibliothek Deutsche Literatur aufzubauen. Das geschah: mit Spürsinn, Glück und Verstand brachte ich in etwa 25 Jahren eine auserlesene, umfassende Sammlung Erstausgaben von Gottsched bis etwa Gottfried Keller zusammen. Die Sammlung war mein Werk und eine Rüstkammer für meine eigenen Arbeiten. (Sie soll, nach dem Tod des Eigentümers Julius Halle in die Schweiz überführt, dort noch geschlossen aufgestellt sein.)30
Im Rahmen des Aufbaus dieser Privatsammlung für Julius Halle war Schulte Strathaus vermutlich auch für den Erwerb der Hamann-Drucke aus der Sello’schen Sammlung bei der Auktion im November 1908 in Berlin verantwortlich gewe27 Ernst Schulte Strathaus [Erinnerungen zum 80. Geburtstag]. In: […] der Bibliophilen
e.V. Neue Folge, 3. Jahrgang, Heft 3, Juli 1961 (Sekretariat: München-Solln, Sambergerstr. 27), S. 65–68, hier 65. (Kopie mit unvollständiger bibliographischer Angabe im Institut für Zeitgeschichte – Archiv, Sign. ZS-2089-8 bis ZS-2089-11. Es handelt sich nicht um die Zeitschrift der Gesellschaft der Bibliophilen e.V.: Imprimatur). 28 Vgl. die Aussagen Schulte Strathaus’ im Spruchkammerverfahren von 1947–1950 (Staatsarchiv München: SpkA K 4641 Schulte-Strathaus, Ernst), Susanne Meinl und Bodo Hechelhammer: Geheimobjekt Pullach. Von der NS -Mustersiedlung zur Zen trale des BND. Berlin 2014, S. 20 sowie Ernst Fischer: Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933. Ein biographisches Handbuch, 2. Aufl. (= Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Drittes Reich und Exil. Teil 3: Exilbuchhandel – Supplement). Berlin/Boston 2020, S. 182, s. v. ‚Halle, Ida‘. 29 Ebd. 30 Ernst Schulte Strathaus [Erinnerungen zum 80. Geburtstag] (wie Anm. 27), S. 66 f.
Die Hamann-Sammlung von Julius Halle
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sen.31 Er pflegte bereits seit Mai 1908 eine intensive Korrespondenz mit Arthur Warda, der in Vorbereitung der Hamann-Ausgabe an einem Verzeichnis aller Hand- und Druckschriften arbeitete und Schulte Strathaus bei der Erstellung seiner Hamann-Bibliographie unterstützte, die 1913 im Rahmen von dessen Bibliographie der Originalausgaben deutscher Dichtungen im Zeitalter Goethes erschienen ist.32 Im Februar 1909 hatte Schulte Strathaus brieflich Warda wohl von dem Erwerb berichtet und möglicherweise sogar die Hamann-Drucke einzeln aufgelistet.33 Zweiundzwanzig Jahre später, am 23. September 1930 bestätigte er wohl Nadler, dass die annotierten Hamann-Erstdrucke weiterhin Teil der Halle’schen Privatsammlung „Deutsche Literatur“ seien und vor Ort bei der Witwe Ida Halle eingesehen werden könnten.34 1931 erhielt Nadler einen Ruf an die Universität Wien und ließ sich, um weiterhin an der Hamann-Ausgabe arbeiten zu können, einen Großteil des Königsberger Hamann-Nachlasses sowie weitere verstreute Nachlass-Materialien photographieren. Ein schwieriges Unterfangen stellte dabei die Reproduktion des Herder-Sammelbandes dar, den Anton Kippenberg 1930 durch Vermittlung Schulte Strathaus’ aus besagter Privatsammlung „Deutsche Literatur“ von Ida Halle erworben hatte und der sich heute im Goethe Museum Düsseldorf befindet.35 Nach einiger Diplomatie durch Julius Petersen und die Königsberger Gelehrte Gesellschaft wurde der Band im März 1931 von der Deutschen Bücherei in Leipzig photographiert.36 Die Photographien wurden von einem Leipziger 31 So auch Schulte Strathaus zumindest für die Sokratischen Denkwürdigkeiten in ders:
Der sokratische Philolog (wie Anm. 10), S. 141.
32 Bibliographie der Originalausgaben deutscher Dichtungen im Zeitalter Goethes. Nach
den Quellen bearbeitet von Ernst Schulte-Strathaus. München/Leipzig 1913, S. 1–19.
33 Vgl. Nadler: Hamannausgabe (wie Anm. 3), S. [206]. Der Brief selbst ist nicht überlie-
fert.
34 Ebd. Der Brief selbst ist nicht überliefert. 35 Vgl. Schulte Strathaus: Der sokratische Philolog (wie Anm. 10), S. 141 f. Goethe Museum
Düsseldorf. Anton und Katharina Kippenberg Stiftung, Sign.: Gc 1.
36 Vgl. zu dem Vorgang die großteils unpublizierte Korrespondenz zwischen Nadler,
Petersen, Kippenberg und Heimsoeth aus dem Deutsches Literaturarchiv Marbach (= DLA), dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (= GSA) und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (= ÖNB): Nadler an Petersen, 15. 10. 1930 (DLA A : Petersen, 73.493/6); Petersen an Nadler, 18. 10. 1930 (DLA A : Petersen, 73.481/2); Kippenberg an Nadler, 20. 10. 1930 (DLA A : Petersen 73.506); Nadler an Petersen, 30. 12. 1930 (DLA A : Petersen 73.493/8); Petersen an Kippenberg, 2. 1. 1931 (GSA 50/2606,2); Kippenberg an Petersen, 5. 1. 1931 (GSA 50/2606,2); Petersen an Nadler, 6. 1. 1931 (DLA A : Petersen, 73.481/3); Petersen an Kippenberg, 14. 1. 1931 (GSA 50/2606,2); Heimsoeth an Kippenberg, 14. 1. 1931 (GSA 50/1459); Kippenberg an Heimsoeth, 16. 1. 1931 (GSA 50/1459); Kip-
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Buchbinder zu zwei Leinenbänden gebunden, der Buchblock beschnitten und die beiden Photo-Sammelbände des Herder-Sammelbands über den Insel-Verlag an die Königsberger Gelehrte Gesellschaft geschickt.37 Bereits im Frühjahr 1931 ließ sich Nadler Photographien der nun in Königsberg aufbewahrten zwei photographierten Herder-Sammelbände anfertigen und nach Wien übersenden.38 Diese photographierten Photographien werden heute als Band 119 und 120 in der ULB Münster aufbewahrt.39 Die ursprünglichen Photo-Sammelbände der Königsberger Gelehrten Gesellschaft haben wohl ähnlich wie der restliche Königsberger Hamann-Nachlass den Zweiten Weltkrieg nicht überstanden. Der originale Sammelband hingegen hat es nach 1945 mit der Sammlung Kippenberg von Leipzig nach Düsseldorf ins Goethe Museum geschafft, so dass wir heute die Nadler’schen Photographien der zwei Photo-Sammelbände mit dem einen originalen Sammelband vergleichen können. Im Mai 1931 veranlasste Nadler, wiederum mit Unterstützung Heinz Heimsoeths (Sekretär der Königsberger Gelehrten Gesellschaft) und Kippenbergs, die Reproduktion der beiden Goethe-Sammelbände durch das Goethe-Nationalmuseum in Weimar.40 Die Photographien wurden wohl im gleichen Stil wie der Herder-Sammelband gebunden und in Königsberg aufbewahrt. Die überlieferten Nadler’schen Photographien in Band 115 und 116 der ULB Münster sind erneut photographierte Photographien. Die originalen zwei Sammelbände finden sich weiterhin im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar, die Photo-Sammelbände sind nicht überliefert. Am 30. Dezember 1931 schrieb Nadler in einem Brief an Petersen: Was die Hamannausgabe anlangt, so habe ich das Material beisammen, bis auf die wenigen Exemplare mit Randbemerkungen, die sich im Besitze der Witwe des Münchner Antiquars Halle befinden. Diese Exemplare sind in meinen Propenberg an Petersen, 16. 1. 1931 (GSA 50/2606,2); Kippenberg an Heimsoeth, 19. 1. 1931 (GSA 50/1459); Heimsoeth an Kippenberg, 22. 1. 1931 (GSA 50/1459); Insel an Heimsoeth, 28. 1. 1931 (GSA 50/1459); Heimsoeth an Insel, 29. 1. 1931 (GSA 50/1459); Insel an Heimsoeth, 17. 2. 1931 (GSA 50/1459); Heimsoeth an Insel, 20. 2. 1931 (GSA 50/1459); Insel an Heimsoeth, 23. 3. 1931 (GSA 50/1459); Heimsoeth an Nadler, 25. 3. 1931 (ÖNB 395/28-1); Heimsoeth an Insel, 26. 3. 1931 (GSA 50/1459). 37 Ebd. 38 Vgl. Heimsoeth an Nadler, 25. 3. 1931 (ÖNB 395/28-1). 39 ULB Münster, N. Hamann, Bd. 119 und 120. 40 Vgl. Heimsoeth an Kippenberg, 16. 5. 1931 (GSA 50/1459); Kippenberg an Heimsoeth, 18.51931 (GSA 50/1459); Kippenberg an Heimsoeth, 20. 5. 1931 (GSA 50/1459) und Nadler an Petersen, 3. 9. 1931 (DLA A : Petersen 73.493/10).
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legomena S. 206 [d. i. Hamannausgabe (wie Anm. 3); JR] vermerkt und für die Ausgabe unerlässlich. Ich habe vor einigen Monaten Prof. Kippenberg gebeten bei Frau Halle dahin zu vermitteln, dass die Bändchen fotografiert werden können […] Frau Halle hat nun die Kopierung der Bändchen mit der Motivierung abgelehnt, sie seien gegenwärtig nicht zur Verfügung. Mir ist das sehr merkwürdig.41
Auf Nachfrage Petersens im Januar 1932 bat Kippenberg, der ebenfalls eine abschlägige Antwort von Ida Halle, deren Mann Julius 1927 verstorben war, bekommen hatte, Schulte Strathaus um Hilfe bei der Suche nach den HamannBänden.42 Bereits wenige Tage später konnte Kippenberg vom erfolgreichen Fund der Bände berichten: Die Nadler-Sache hat sich glücklich gelöst. Heute schreibt mir Schulte-Strathaus: ‚ich habe nach vielen Mühen in der Halleschen Sammlung die HamannBände ausgegraben und werde sie Ihnen in den nächsten Tagen schicken.‘ Gottlob, das wäre erledigt.43
Im Juni 1932 übersandte Ida Halle zum Zwecke der Reproduktion sieben HamannErstdrucke an den Insel-Verlag, der diese wie bereits im Jahr zuvor den HerderSammelband durch die Deutsche Bücherei in Leipzig photographieren lassen sollte. Am 9. Juni 1932 wandte sich dieser mit einer Nachfrage an Heimsoeth: Endlich sind uns von Frau Halle die Hamann-Bändchen zur Verfügung gestellt worden. Es sind im Ganzen sieben, von denen der eine ‚Golgatha und Scheblimini‘ zur Reproduktion nicht in Frage kommt, da er keinerlei Eintragungen Hamanns enthält. Die anderen sechs sind inzwischen der Deutschen Bücherei übergeben worden. Sie berechnet für die Anfertigung eines photographischen Positivs M.130.––; hierzu kämen die Buchbinderkosten. Bitte geben Sie uns bald Bescheid, ob Sie mit dem Preis einverstanden sind. Vielleicht teilen Sie gleichzeitig mit, ob Sie die Bändchen wieder in einem Band zusammen geheftet wünschen [wie bei der Reproduktion des Herder-Sammelbands; JR].44
Die Antwort auf den Brief ist nicht erhalten, doch zeigen die überlieferten Photographien in der ULB Münster eindeutig, dass das Exemplar von Golgatha und 41 Nadler an Petersen, 30. 12. 1931 (DLA A : Petersen D 62.348/1). 42 Petersen an Kippenberg, 16. 1. 1932 (Nr. 347) und Kippenberg an Petersen, 18. 1. 1932
(Nr. 348) in: Anton Kippenberg. Der Briefwechsel mit Julius Petersen 1907 bis 1941. Hg. von Thomas Neumann. Norderstedt 2000. 43 Kippenberg an Petersen, 25. 1. 1932 (Nr. 349) in: ebd. 44 Insel-Verlag an Heimsoeth, 9. 6. 1932 (GSA 50/1459).
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Scheblimini! dennoch mitphotographiert wurde (es enthält auch eine handschriftliche Notiz) sowie dass die Photographien der sieben Halle’schen Hamann-Bände zu zwei Photo-Sammelbänden zusammengebunden wurden.45 Die Photographien wurden im August 1932 angefertigt.46 Kurz darauf ließ sich Nadler wohl wie im Fall des Herder- und der Goethe-Sammelbände Photographien von den beiden Photo-Bänden anfertigen. Diese sind in Band 117 und 118 der ULB Münster überliefert, die eigentlich hergestellten beiden Photo-Bände sind in Königsberg verloren gegangen. Im Ganzen bestand die Halle’sche Hamann-Sammlung 1932 aus folgenden sieben annotierten Einzelbänden, hier gelistet nach ihrem Erscheinungsjahr (nicht nach der Reihenfolge in den Photo-Bänden) sowie mit Angabe ihrer heutigen Aufbewahrungsorte: 1. Sokratische Denkwürdigkeiten mit Besitzeintragung Johann Michael Hamanns und handschriftlichen Annotationen Exlibris Sello Verkauf: 1999 bei Bassenge47 und 2019 bei Hesse48 Aufbewahrungsort: Theodor Springmann Stiftung, Heidelberg (erworben 2019) 2. Wolken mit handschriftlichen Annotationen vmtl. mit Exlibris Sello Verkauf: möglicherweise 1984 bei Hauswedell49 gegenwärtiger Verbleib unbekannt 45 ULB Münster, N. Hamann, Bd. 117 und 118. 46 Das geht aus einer Nachfrage vom November 1932 hervor, in der der Insel-Verlag den
Herausgeber der Briefe Walther Ziesemer bittet, die Rechnung für die Photographien der Halle’schen Drucke zu begleichen, da Nadler trotz wiederholter Mahnungen bislang seine Schuld nicht beglichen habe, vgl. Insel an Ziesemer, 23. 11. 1932 (GSA 50/3859). Ziesemer lehnte dies aber mangels Mitteln ab, vgl. Ziesemer an Insel, 17. 12. 1932 (GSA 50/3859). 47 Galerie Gerda Bassenge, Berlin: Literatur und Buchillustration des 17.–19. Jahrhunderts, Kinderbücher, Philosophie, Autographen. Auktion 74 (14./15. Oktober 1999), Nr. 2144. 48 Christian Hesse Auktionen 20 (23. 11. 2019), Nr. 544. 49 Sammlung Dr. Ernst L. Hauswedell: Wertvolle Bücher, Autographen, Dekorative Graphik. Auktion 252 (23./24. 5. 1984), Nr. 1351. Im Katalog heißt es, dass „10 Blätter im Rand ausgebessert“ seien. Dies entspricht exakt der Anzahl der handschriftlich annotierten Seiten der Photographien in Band 118 der ULB Münster. Weiter heißt es im
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3. Essais à la Mosaique mit handschriftlichen Annotationen vmtl. mit Exlibris Sello gegenwärtiger Verbleib unbekannt 4. Kreuzzüge des Philologen mit handschriftlichen Annotationen Exlibris Sello Verkauf: 1978 bei Kaldewey50 und 1997 bei Tenschert51 gegenwärtiger Verbleib unbekannt 5. Zwo Recensionen mit handschriftlichen Annotationen Exlibris Sello Aufbewahrungsort: SUB Göttingen, Sign. DD 92 A 33812 Rara (erworben 1992) 6. Ritter von Rosencreuz mit handschriftlichen Annotationen Exlibris Sello Aufbewahrungsort: SUB Göttingen, Sign. DD 92 A 33813 Rara (erworben 1992) 7. Golgatha und Scheblimini! mit einer handschriftlichen Annotation auf S. 77 Exlibris Sello gegenwärtiger Verbleib unbekannt Die Bände 117 und 118 des Hamann-Nachlasses der ULB Münster umfassen also tatsächlich Photographien der Sammlungen Erich Sellos bzw. Julius und Ida Katalog, dass die Titelrückseite mit einem „Stempel“ versehen sei. Dies könnte auf das Exlibris Sellos hindeuten. Leider ist im Katalog auf Tafel 100 lediglich das Titelblatt der Wolken abgebildet. Dieses weist allerdings keine spezifischen Merkmale auf, die eine eindeutige Identifikation ermöglichen könnten. 50 Gunnar Kaldewey: Hehres & Triviales oder aus den Leihbibliotheken der Goethezeit. Zehnter Teil (Katalog 44). Hamburg 1978, Nr. 315. Im Katalog findet sich auf S. 6–16 ein ausführliches Vorwort von Margot Westlinning und Bernd Neumann zu dem Exemplar mit drei Abbildungen. 51 Heribert Tenschert: „Ein Titel reicht bis zum nächsten…“. Deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts in bibliophilen Exemplaren (Katalog 39). Antiquariat Bibermühle AG , Ramsen/Schweiz und Antiquariat Heribert Tenschert, Rotthalmünster 1997, Nr. 34. Dort ebenfalls mit zwei Abbildungen. Ich danke Heribert Tenschert für die freundliche Übersendung des Katalogs.
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alles. Die handschriftlichen Annotationen stimmen im Fall der vier nachweisH baren Drucke eindeutig überein (vgl. Abb. 2–9). Die Abweichungen im Beschnitt der Seiten und der damit verbundene Verlust einiger Annotationen lässt sich dadurch erklären, dass die überlieferten Photographien nicht von den Originalbänden gemacht wurden, sondern von Photographien derselben, die 1932 zu zwei Bänden gebunden wurden. Diese Bindung der Photographien erfolgte primär aus praktischen Gründen zwecks geordneter Aufbewahrung und hat kein Äquivalent in den Originalen. Die Sammlung Julius und Ida Halles bestand zweifelsohne aus den oben aufgelisteten sieben Einzelbänden. Lediglich einer dieser sieben Bände, nämlich die Sokratischen Denkwürdigkeiten, hat auf dem Vorsatzblatt die Besitzeintragung von Hamanns Sohn Johann Michael mit dem Datum 8. Juli 1787. Die anderen sechs Bände wurden nicht ‚gewidmet‘. Es scheint mir sehr unwahrscheinlich zu sein, dass die Sokratischen Denkwürdigkeiten mit der Widmung die erste Schrift eines ehemaligen Sammelbandes gewesen ist, der dann vor oder von Sello vor 1908 aufgelöst und zu Einzelbänden gebunden wurde. Die Blattgröße der Buchblöcke der vier überlieferten Exemplare ist unterschiedlich,52 der alte dreiseitige Rotschnitt spricht nicht für einen späteren Beschnitt. Die Einbände sind alle im Stil der Zeit: Die Sokratischen Denkwürdigkeiten und der Ritter von Rosencreuz in Buntpapierbroschur mit blauen und schwarzen ‚Blumenkreuzen‘ (vermutlich Herrnhuter Stempeldruckpapier), die Zwo Recensionen in schlichter einfarbiger türkis-blauer Buntpapier broschur und die Kreuzzüge laut des Katalogs Heribert Tenscherts im „Pappband im Stil der Zeit mit altem Buntpapierbezug, die alten Original-Buntpapierumschläge eingebunden“53. Einen Hinweis, dass es einen Sammelband des Sohnes Johann Michael Hamann jemals gegeben habe, finden wir lediglich in der oben zitierten Beschreibung Nadlers desselben von 1930 – hier jedoch mit ausdrücklichen Zweifeln, ob der Stichhaltigkeit der Behauptung.54 Die Photographien selbst wurden erst zwei Jahre später angefertigt. Wahrscheinlicher ist es, dass Nadler sich nach einer tur-
52 Die Blattgröße der Sokratischen Denkwürdigkeiten ist 148 × 86 mm; der Ritter von
Rosencreuz hat das Format 159 × 92 mm, die Zwo Recensionen messen 158 × 91 mm und die Kreuzzüge haben eine Blattgröße von 157 × 92 mm (laut Tenschert: Katalog 39 [wie Anm. 51], S. 74). 53 Tenschert: Katalog 39 (wie Anm. 51), S. 74. 54 Vgl. Nadler: Hamannausgabe (wie Anm. 3), S. [206]. Schulte Strathaus wiederholt diese Aussage Nadlers fast wortwörtlich 1963 in ders.: Der sokratische Philolog (wie Anm. 10), S. 141, allerdings ohne Ausweis der Referenz.
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bulenten Welt- und Editionsgeschichte55 gut zwanzig Jahre später 1950/51 bei der Fertigstellung der Bände II und III seiner Ausgabe nicht mehr sicher erinnerte, welcher Provenienz die photographierten Photographien der Halle’schen Sammlung gewesen sind: Er schwankt daher zwischen Einzeldruck und Sammelband, mal aus dem Vorbesitz Johann Michael Hamanns, mal aus dem Besitz J. Halles in München, mal beides. Fest steht, dass die sieben Drucke 1950 bereits nicht mehr im Besitz des Antiquariats Halle waren. Julius Halle war Ende 1927 gestorben, seine Witwe Ida Halle (1881 bis nach 1941) führte das Geschäft bis zu dessen Liquidierung 1935 weiter.56 Die ‚Machtergreifung‘ der Nazis bedeutete das Ende der jüdischen Buchkultur Münchens. Mit zerschlagenen Schaufenstern […] und Boykottaktionen begann es, bald folgten die bürokratischen Schikanen und Repressionen, die Steuerprüfungen, Devisenverweigerungen, Passbeschränkungen, ab 1935 Berufsverbote für ‚Nichtarier‘, schließlich die Zwangsauflösungen und ‚Arisierungen‘ der Firmen57
Wohl bereits ab dem Frühjahr 1933 konnte Ida Halle das Antiquariat nicht mehr in der gewohnten Form führen. Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 riefen die neuen Machthaber am 1. April zu einem „Judenboykott“ auf, bei dem es besonders in München zu gezielten gewaltsamen Ausschreitungen gegen jüdische Menschen, Geschäfte und Einrichtungen kam.58 Die jüdischen Antiqua riate waren hiervon nicht ausgenommen und so musste Ida Halle wie hunderte
55 Vgl. dazu ausführlicher Reibold: Kurze Geschichte der langen Hamann-Edition (wie
Anm. 9).
56 Laut der Gewerbekartei des Stadtarchivs München meldete Ida Halle am 20. Januar 1928
rückwirkend zum 9. Dezember 1927, dem Todestag ihres Mannes, die Übernahme des Antiquariats Halle an. Am 12. Februar 1936 wurde die Firma gelöscht. Vgl. Stadtarchiv München: GEW-GK , Halle Ida sowie Familie Julius Halle (wie Anm. 16). Im Adreßbuch des Deutschen Buchhandels von 1935 wird das Antiquariat J. Halle noch auf S. 226 ganz normal gelistet. Im Spruchkammerverfahren gibt Schulte Strathaus fälschlicherweise 1934 als Zeitpunkt der Auflösung des Antiquariats „infolge der politischen Umwälzungen“ an. Er wollte wohl mit dieser falschen Angabe plausibel machen, dass sein Ausscheiden aus dem jüdischen Antiquariat zum 31. März 1934 primär äußere Gründe gehabt habe und nicht freiwillig im Hinblick auf seine Einstellung im Stab Heß’ zum 1. April 1934 erfolgte. Vgl. Staatsarchiv München: SprkA K 4641 (wie Anm. 28). 57 Wittmann: Münchens Jüdische Antiquariate (wie Anm. 16), S. 40. 58 Richard Bauer und Michael Brenner (Hg.): Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2006, S. 164.
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andere jüdische Buchhändler59 ab 1933 die Auflösung ihres Antiquariats sowie ihre eigene Emigration vorbereiten. Laut den Recherchen Ernst Fischers gab Ida Halle daher bereits 1933 Teile des Antiquariatslagers dem in die Niederlande flüchtenden Bekannten Ernst Horwitz (1909–1941) zum kommissionsweisen Verkauf mit.60 Ernst Horwitz wurde im Herbst 1940 in Amsterdam „auf dem Weg zur Post während einer überraschenden NS -Einzelaktion mit 200 anderen Menschen von einer Streife aufgegriffen und (wahrscheinlich zu Menschenversuchen) ins KZ Mauthausen gebracht, wo er an ‚akuter Leberatrophia‘ starb.“61 Einen anderen Teil des Lagers konnte Emil Offenbacher (1909–1990), der seit 1931 im Antiquariat angestellt war, Ende 1933 bei seiner Flucht nach Paris überführen; es handelte sich wohl vornehmlich um naturwissenschaftliche Werke.62 Im Frühjahr und Herbst 1933 erschienen noch wie üblich zwei thematische Kataloge des Antiquariats J. Halle, 1934 folgte lediglich noch der Folgekatalog zur Alten Medizin.63 Die drei Kataloge wurden vermutlich bereits im Jahr 1932 vorbereitetet. 1935 kam es dann zur Zwangsliquidation des Antiquariats. Auf zwei sogenannten „Judenauktionen“ wurden die Reste des Lagers versteigert.64 Die erste fand im Mai 1935 bei Paul Graupe in Berlin statt.65 Unter der Rubrik „Das Neueste“ vermeldete die Zeitschrift Philobiblon: „Das bekannte Antiquariat J. Halle in München liquidiert und
59 Vgl. zu den Biographien von rund 900 im deutschen Buchhandel tätigen Personen das
umfangreiche Handbuch von Ernst Fischer: Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933 (wie Anm. 28). 60 Fischer: Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933 (wie Anm. 28), S. 182, s. v. ‚Halle, Ida‘. 61 Ebd., S. 227, s. v. ‚Horwitz, Ernst Morits Martin‘. 62 Ebd., S. 182, s. v. ‚Halle, Ida‘ und S. 365, s. v. ‚Offenbacher, Emil‘. 63 Antiquariat J. Halle, München: Alte Medizin (Katalog 73). München [1933]; angekündigt in Philobiblon. Eine Zeitschrift für Bücherliebhaber. VI . Jahr, Heft 3 (1933), S. 120. Antiquariat J. Halle, München: Wertvolle neue Erwerbungen (Katalog 74). München [1933]; angekündigt in Philobiblon. Eine Zeitschrift für Bücherliebhaber. VI . Jahr, Heft 6 (1933), S. 224. Antiquariat J. Halle, München: Alte Medizin (Katalog 75). München [1934]; angekündigt in Philobiblon. Eine Zeitschrift für Bücherliebhaber. VII . Jahr, Heft 7 (1934), S. 334. 64 Vgl. zur Suche nach Beständen aus dem Antiquariat J. Halle auch Christoph Cluse: Aus dem wiederentdeckten Trierer Zinsregister von 1347–1406. In: Aschkenas 26/1 (2016), S. 69–90. 65 Paul Graupe, Berlin: Die gesamten Bestände der Firma J. Halle, München, i.l. […]. Versteigerung 144 am 24. und 25. Mai 1935.
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ließ seine gesamten Bestände am 10. und 11. Mai bei Paul Graupe versteigern.“66 Eine weitere Auktion der ‚Restbestände‘ erfolgte im November 1935 bei Karl & Faber in München.67 Zwischen Mai und Oktober 1935 versuchte Ida Halle vergeblich eine „Erlaubnis zur Weiterführung des Geschäfts“ bei der Industrie- und Handelskammer zu München zu erwirken.68 Gleichzeitig mit der Liquidation der Lagerbestände bei Graupe im Mai 1935 wurde in der Zeitschrift Philobiblon das Erscheinen des Katalogs 76 des Antiquariats angekündigt.69 Dies ist zunächst höchst verwunderlich, da das Erscheinen eines Katalogs im scheinbaren Widerspruch zur Liquidation des Unternehmens steht. Tatsächlich zeigt das Erscheinen dieses Katalogs jedoch, dass Ida Halle Mitte 1935 nicht nur ihre Firma liquidieren musste, sondern bereits ihre persönliche Emigration vorbereitete. Der Katalog listet nämlich in 502 Nummern „Originalausgaben der deutschen Literatur“ und dürfte damit in weiten Teilen der Privatsammlung „Deutsche Literatur“ Julius Halles entsprechen.70 Lediglich ein Exemplar dieses letzten Katalogs des Antiquariats ist in einer öffentlichen Bibliothek überliefert, wurde allerdings von der Bayerischen Staatsbibliothek fälschlich auf 1937 datiert.71 Am 29. Oktober 1935 erging die vernichtende Mitteilung der Reichskammer der bildenden Künste an Ida Halle, dass ihr „die weitere Ausübung des Berufs als Kunst- und Antiquitätenhändlerin“ untersagt sei und ihr Geschäft unverzüglich zu schließen sei, da sie nach „Überprüfung der in Ihren persönlichen Eigenschaften begründeten Tatsachen […] nicht die erforderliche Eignung und Zuverlässigkeit [besitze], an der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich mitzuwirken“.72 Am 12. Februar 1936 wurde die Firma „Antiquariat J. Halle“ laut der Gewerbekartei des Stadtarchivs München endgültig gelöscht.73
66 Philobiblon. Eine Zeitschrift für Bücherliebhaber. VIII . Jahr, Heft 5 (1935), S. 199.
Ebd. auf S. 240 wird auch der entsprechende Katalog der Auktion 144 aufgeführt (wie Anm. 65). 67 Karl & Faber: Deutsche Literatur, Literatur-Geschichte, Bibliothek Franz G. MessowAachen und andere Beiträge. Auktion XII (12.–14. November 1935). 68 Staatsarchiv München: Pol. Dir. München 13450 (wie Anm. 24). 69 Philobiblon VIII /5 (1935) (wie Anm. 62), S. 240. 70 Aniquariat J. Halle, München: Originalausgaben der deutschen Literatur (Katalog 76). München [1935]. 71 Vgl. Karlsruher Virtueller Katalog (http://kvk.bibliothek.kit.edu) sowie Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek: Katalog: (Halle, J.) / 76, Sign.: Cat. 275 s-76. 72 Staatsarchiv München: Pol. Dir. München 13450 (wie Anm. 24). 73 Vgl. Stadtarchiv München: GEW-GK , Halle Ida.
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Bereits im gleichen Monat plante Ida Halle ihre Emigration nach Zürich in die Schweiz, die allerdings erst im Juni 1936 stattfinden konnte, da ihr in der Zwischenzeit vorsorglich der Reisepass eingezogen worden war. Laut umfangreicher Akten der Polizeidirektion München lebte Halle interimsweise im Hotel Regina Palast und beabsichtige zu ihrer Tochter Lessy (geb. 1905) und ihrem Mann Willy Neu nach Zürich zu ziehen. Am 20. Juni 1936 erfolgte die „Versendung des Umzugsguts, bestehend aus der Wohnungseinrichtung, Haushaltungsgegenständen, Kleidern und Schriften […] im Möbelwagen“ nach Zürich. Angeblich soll sie ebendort den Antiquariatsbuchhandel fortgeführt haben, genaueres hierzu ebenso wie ihr Todesjahr ließ sich jedoch bislang nicht eruieren.74 Ihre Spur verläuft sich mit dem Feststellungsvermerk ihrer Emigration auf der Einwohnermeldekarte 1936 sowie eines erneuten Antrags auf Ausstellung eines Heimatscheins für den Aufenthalt in der Schweiz vom Juli 1941. Was mit der von ihrem Mann geerbten Privatsammlung „Deutsche Literatur“, die sie 1935 zum Verkauf angeboten hat, geschah, ist ungewiss. Möglicherweise wurde sie nach Erscheinen des Katalogs 76 geschlossen verkauft oder auch zerstückelt verhökert. 1961 meinte sich Schulte Strathaus zu erinnern, dass die Halle’sche Sammlung „nach dem Tod des Eigentümers Julius Halle in die Schweiz überführt, dort noch geschlossen aufgestellt sein“ soll.75 Was genau an der Erinnerung Schulte Strathaus’ stimmt, ist nicht zu belegen. Sicher war die Sammlung noch sieben Jahre nach dem Tod des Eigentümers 1935 im Besitz von dessen Witwe in München und wurde von Schulte Strathaus noch 1932 benutzt. Was danach geschah, liegt im Dunkeln. Auf ihrer Flucht in die Schweiz konnte Ida Halle wenn überhaupt nur ausgewählte Teile der Sammlung selbst mitnehmen.
74 Der Hinweis, dass Ida Halle nach ihrer Emigration ein Antiquariat in Zürich betrieb,
geht auf Erinnerungen Fritz Homeyers zurück, vgl. ders.: Deutsche Juden als Bibliophilen und Antiquare. 2. Aufl. Tübingen 1966, S. 139. Ernst Fischer konnte nach eigenen Angaben über Ida Halles Antiquariatstätigkeit in Zürich nichts näheres ermitteln. Vgl. ders.: Verleger, Buchhändler und Antiquare aus Deutschland und Österreich in der Emigration nach 1933 (wie Anm. 28), S. 182, s. v. ‚Halle, Ida‘. Möglicherweise war sie lediglich in Zürich in einem Antiquariat angestellt und betrieb kein eigenes oder verkaufte als Privatperson einige Stücke, die sie mit in die Emigration nehmen konnte. Das British Museum verzeichnet etwa in seiner Datenbank den Ankauf zweier Drucke Jacques Fabien Gautier d’Agotys von Ida Halle im Jahr 1937, vgl. https://www.britishmu seum.org/collection/term/BIOG238811 (zuletzt eingesehen: 19. 11. 2020). Sie war bei ihrer Emigration immerhin bereits 55 Jahre alt. 75 Schulte Strathaus [Erinnerungen zum 80. Geburtstag] (wie Anm. 27), S. 66 f.
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Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass die Sammlung 1935/36 von den Nationalsozialisten auf irgendeine Weise konfisziert wurde. Schulte Strathaus arbeitete damals im Stab Heß’ und ‚profilierte‘ sich später ab 1938 im Zuge seiner Tätigkeit dort als „Hitlers Kunstagent“, indem er vor allem das „Vorkaufsrecht“ für beschlagnahmten jüdischen Kunstbesitz ausübte und damit zu einem der Protagonisten im NS -Kunstraub wurde.76 Schulte Strathaus wusste wie kein zweiter um den Wert der Halle’schen Sammlung und betrachtete sie gar als sein geistiges Eigentum: „Die Sammlung war mein Werk und eine Rüstkammer für meine eigenen Arbeiten“ schrieb er noch 1961.77 Er könnte sie daher möglicherweise auch als Privatperson von Ida Halle erworben haben. In der Sammlung befand sich unter anderem der siebte Band der bei Göschen 1790 erschienen Goethe-Ausgabe mit dem Erstdruck des Faust, der für die buchwissenschaftliche Untersuchung Schulte Strathaus’ zum Faust von zentraler Bedeutung war und von ihm noch 1940 verwendet wurde.78 Am 7. Januar 1945 verlor Schulte Strathaus bei einem Bombenangriff „etwa 1500 Bände, in der Hauptsache ein Teil meiner Handbibliothek“.79 Es ist nicht bekannt, welche Bände Schulte Strathaus in seiner Privatbibliothek bei seinem Tod 1968 hinterlassen hat. Im Zuge des Spruchkammerverfahrens gegen Schulte Strathaus meinte sich der Münchner Buchhändler Hans Koch 1947 zu erinnern, dass ihm Ida Halle in einem Gespräch mitgeteilt habe, dass Schulte Strathaus „sich als Parteifunktionär dafür eingesetzt hat, daß die sehr wertvolle Privatbibliothek ‚Deutsche Literatur‘ des verstorbenen Isaak Halle geschlossen in die Schweiz überführt werden durfte“. Wann dieses Gespräch stattgefunden haben soll und ob die Überführung der Sammlung zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden hatte oder nur geplant war und möglicherweise gescheitert ist, lässt sich nicht eruieren. Es ist allerdings auffällig, dass in der 222 seitigen Akte zum Spruchkammerverfahren zwar regelmäßig die Mitarbeit Schulte Strathaus’ im Antiquariat J. Halle zum Beweis seiner Judenfreundlichkeit angeführt wird, bis auf die vage Erinnerung Kochs allerdings an keiner Stelle von Schulte Strathaus eine Unterstützung Ida Halles auch nur angedeutet wird. Und das, obwohl Schulte Strathaus im Zuge dieses Verfahrens
76 Birgit Schwarz: Geniewahn. Hitler und die Kunst. Köln 2009, S. 238. 77 Ernst Schulte Strathaus [Erinnerungen zum 80. Geburtstag] (wie Anm. 27), S. 66 f. 78 Antiquariat J. Halle, München: Originalausgaben (wie Anm. 70), Nr. 110 und Ernst
Schulte-Strathaus: Goethes Faust-Fragment. Eine buchkundliche Untersuchung. München u. a. 1940. Eine Vorstudie erschien in 85 Exemplaren bereits 1932: Ders.: Die echten Ausgaben von Goethes Faust. München 1932. 79 Schulte Strathaus [Erinnerungen zum 80. Geburtstag] (wie Anm. 27), S. 68.
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jede noch so kleine Hilfe, die er einem Juden oder einem Nichtparteimitglied im Zuge seiner Mitarbeit im Stab Heß zugute kommen ließ, zur Verteidigung ausführt. Diese Spekulationen zum Weg der Privatsammlung Halles beziehen sich allerdings zunächst nur auf die 1935 im Katalog 76 annoncierten 502 Erstausgaben Ida Halles. Unter diesen findet sich auffälligerweise jedoch kein einziger HamannBand. Im Zuge der Liquidation der Lagerbestände wurden diese ebenfalls nicht angeboten.80 Möglicherweise beabsichtigte Ida Halle 1935 die vergleichsweise schmalen, aber wertvollen sieben Bände mit in die Emigration zu nehmen (und tat dies vielleicht auch). Möglicherweise waren sie zu diesem Zeitpunkt aber auch schon nicht mehr in ihrem Besitz. Schulte Strathaus hatte Mitte 1932 die sieben Bände aus der Sammlung herausgesucht und zu Kippenberg nach Leipzig geschickt, um sie in der Deutschen Bücherei photographieren zu lassen. Dokumente, ob, wann und an wen die Bände zurückgegeben wurden, fehlen allerdings. Ab 1933 hätten Ida Halle als jüdischer Geschäftsfrau faktisch keine Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, von einem einflussreichen NS -Funktionär wie Schulte Strathaus die Bände zurückzufordern. Sicher tauchen Bände der Sammlung erst wieder 1978/1997 (Kreuzzüge), 1992 (Ritter von Rosencreuz, Zwo Recensionen) und 1999/2019 (Sokratische Denkwürdigkeiten) auf. Möglicherweise entstammte das 1984 bei Hauswedell auktionierte Exemplar der Wolken ebenfalls der Sammlung Halles.81 In den Auktionsverzeichnissen sind Hamann-Erstdrucke äußerst selten:82 Erstdrucke der Wolken und Golgatha und Scheblimini! wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nur eine handvoll Mal verkauft. Ein Verkauf von einem Erstdruck der Essais à la Mosaique ist kein einziges Mal in einem Auktionskatalog vermerkt. Die Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen erwarb die beiden Drucke aus der ehemals Halle’schen Sammlung allerdings nicht auf einer Auktion, sondern im Frühjahr 1992 im Rahmen der „Sammlung deutscher Drucke 1701–1800“ von einer Pri-
80 Vgl. Graupe 144 (1935) (wie Anm. 65) und Karl & Faber 12 (1935) (wie Anm. 67). Im
Katalog von Karl & Faber sind die Titel des Antiquariats Halle mit der Sigle ( M) versehen. Es wurden bei der Auktion zahlreiche (auch handschriftlich annotierte) Erstdrucke Hamanns versteigert. Diese stammten jedoch alle aus der Bibliothek Franz G. Messows aus Aachen sowie der Fürstlich Oettingen-Wallersteinsche Bibliothek (Maihingen), vgl. die Übersicht über die Beiträge im Auktionskatalog. 81 Vgl. hierzu auch Anm. 49. 82 Ich danke Adrian Braunbehrens für die Hilfe bei der Recherche durch das Dickicht der Auktionsverzeichnisse.
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vatperson.83 Es bleibt daher die Hoffnung, dass die anderen ‚vermissten‘ annotierten Hamann-Drucke sich ebenfalls noch irgendwo im Privatbesitz befinden und irgendwann auf dem Antiquariatsmarkt wieder auftauchen und von einer öffentlichen Einrichtung erworben werden können.
83 So Dietlind Willer (Bibliothekarin der SUB Göttingen) in einer E-Mail an mich vom
30. Oktober 2020. Für ihre Hilfe bei der Recherche sei ihr an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Zum Projekt der „Sammlung deutscher Drucke“ vgl. Arbeitsgemeinschaft Sammlung deutscher Drucke 1450–1912 (Hg.): Das deutsche Buch. Die Sammlung deutscher Drucke 1450–1912. Bilanz der Förderung durch die Volkswagen-Stiftung. Wiesbaden 1995.
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Abb. 2: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 54: Photographierte Photographie aus der ULB Münster, N. Hamann, Bd. 118
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Abb. 3: Sokratische Denkwürdigkeiten, S. 54: Scan des Originals der Theodor Springmann Stiftung Heidelberg
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Abb. 4: Kreuzzüge des Philologen, S. 21: Photographierte Photographie aus der ULB Münster, N. Hamann, Bd. 117
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Abb. 5: Kreuzzüge des Philologen, S. 21: Scan der Abbildung im Katalog des Verkaufs 1997 (Tenschert: Katalog 39 [wie Anm. 51], S. 75)
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Abb. 6: Zwo Recensionen, S. 14: Photographierte Photographie aus der ULB Münster, N. Hamann, Bd. 118
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Abb. 7: Zwo Recensionen, S. 14: Scan des Originals der SUB Göttingen, Sign. DD 92 A 33812 Rara
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Abb. 8: Ritter von Rosencreuz, S. 12: Photographierte Photographie aus der ULB Münster, N. Hamann, Bd. 118
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Abb. 9: Ritter von Rosencreuz, S. 12: Scan des Originals der SUB Göttingen, Sign. DD 92 A 33813 Rara
Luca Klopfer (Heidelberg) Hamanniana in Krakau
Im Rahmen des Heidelberger Forschungsprojekts „Kommentierte HamannAusgabe“1 wurden die bedeutenden Hamann-Materialien, die seit dem Zweiten Weltkrieg in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden, eingesehen.2 Sie sind Teil des ehemaligen, während des Zweiten Weltkrieges zerstreuten Berliner Hamann-Nachlasses, der mittlerweile teils in Krakau, teils in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird. Ihre aktuelle Provenienz soll hier beschrieben werden, denn die für viele Hamanniana nach wie vor maßgebliche Verzeichnung von Josef Nadler ist bezüglich des Berliner Hamann-Nachlasses veraltet.3 Der Grund für die Zerstreuung des Berliner Hamann-Nachlasses sind die unterschiedlichen Auslagerungsorte der Autographenbestände, die man 1941– 1945 als Schutz vor Bombenangriffen auf Berlin in ländliche und scheinbar sichere Regionen brachte.4 So landete etwa der Nachlass von Friedrich Nicolai und damit auch Briefe von Hamann in Tübingen; der Nachlass wurde nach der Gründung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1962 nach Westberlin zurückgeführt. Auch Hamanns Briefe an Franz Kaspar Bucholtz, der Briefwechsel mit Christian Hill und einige einzelne Briefe befinden sich als Teil der Lessing-Sammlung nach wie vor in Berlin.5 – Ein Großteil der ehemals in Berlin als Teil der Sammlung 1 Vgl. www.hamann-ausgabe.de. 2 Für die freundliche Hilfe bei der Bereitstellung der Manuskripte sei Frau Baster in
Krakau sehr herzlich gedankt.
3 Vgl. Josef Nadler: Die Hamannausgabe. Vermächtnis – Bemühungen – Vollzug. Halle
(Saale), S. 185–186.
4 Zum „Schicksal“ der Sammlung Autographa vgl. Die Sammlung Autographa der ehe-
maligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, bearbeitet von Helga Döhn. Wiesbaden 2005, S. 20–25. 5 Die Berliner Hamann-Bestände sind über den Kalliope-Verbundkatalog gut einsehbar.
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Autographa verwahrten Hamanniana wurde aber in verschiedene Schlösser und Klöster in Schlesien transportiert, fiel somit nach dem Krieg an Polen und war während des Kalten Krieges kaum erreichbar.6 Noch heute werden sie als eine Art Depositum in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau aufbewahrt, sind aber Dank der freundlichen Unterstützung durch Bibliothekare der Jagiellońska und nicht zuletzt durch den Katalog von Helga Döhn (2005) gut erreich- und benutzbar.7 So hat sich etwa für die umfangreiche Korrespondenz zwischen Hamann und Herder die verwirrende Situation ergeben, dass die 160 in einen Codex eingeklebten Briefe des Ms. germ. qu. 1304 in Berlin aufbewahrt werden, 43 andere Briefe dagegen in Krakau; im Falle von HKB 607 (ZH IV, 241 ff.) befindet sich sogar eine Hälfte des Briefes in Berlin, die andere in Krakau. Die für die Hamannforschung lange Zeit nicht erreichbaren Autographen aus Krakau können dieser auf vielerlei Art nutzen. Sei es durch die Richtigstellung von Lesefehlern in ZH für die „Kommentierte Briefausgabe“ (HKB): So bezeichnet etwa Herder in einem Brief an Hamann vom 5. September 1767 sein Examen nicht als ein „Lungen mageres Ding“,8 sondern als ein „Lumpen mageres Ding“ (vgl. Abb. 1). Sei es dadurch, dass man – gegenüber Hamanns bisher tradierter Reaktion auf den Tod Friedrichs II. im Brief an Jacobi vom 23. August 17869 – nun in einem bisher nirgends edierten Briefentwurf vom 22. August eine alternative Formulierung finden kann: Gestern frühe erscholl auf einmal die Nachricht, daß der König todt wäre. Da jetzt Thore würden geschloßen, und die Regimenter huldigten. Auf den Sontag trete ich in mein 57stes Jahr. Ich habe mir vorgenommen diese ganze Woche mich nicht aus dem Hause zu Ruhen. Den Tumult in meinem Gemüth kannst du dir leicht vorstellen, und was es mir für Gewalt kostet, so mannigfaltigste sich widersprechende Bewegungen die an neuen Hirngespinsten fruchtbar sind, nicht unterzuliegen.
6 Viele der in ZH angegebenen Berlin-Provenienzen waren zum Zeitpunkt des Erschei-
nens also bereits veraltet oder falsch. Vgl. etwa ZH VII , 574 (zu Brief Nr. 1172): „Früher Berlin, Staatsbibl., Sammlung Meusebach“ oder ebd., 551 (zu Brief Nr. 1128): „Berlin, Staatsbibliothek der DDR , Autographa-Herder“: Beide Briefe waren zu dem Zeitpunkt und sind noch heute in Krakau. 7 Die Verlässlichkeit des Katalogs ist allerdings eingeschränkt: Er wurde nicht oder kaum auf Grundlage der tatsächlichen Krakauer Bestände erstellt, sondern anhand von Berliner Autographenkatalogen. Der Eintrag zu Hamann („ca. 19 Br., einige Br.-konz., 1 Ms., 3 Dok., 1 Fotokopie […]“) ist nicht sehr präzise. 8 HKB 346 (ZH II , 400,10). 9 Vgl. HKB 1011 (ZH VI , 529,31–530,16).
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Abb. 1: Ausschnitt aus einem Brief von Herder an Hamann, 5. September 1767 (Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 5). Vgl. HKB 346 (ZH II , 400,10)
Eine besondere Kuriosität ist ein Briefumschlag mit Notizen Hamanns in verschiedene Richtungen (vgl. Abb. 2). Er wurde von Jacobis Sekretär Heinrich Schenk am 4. Juli 1786 zu Hamann nach Königsberg gesandt, wo er am 15. Juli eintraf, und enthielt – neben dem Brief von Schenk und Korrekturbögen für den Fliegenden Brief 10 – die erste Nachricht von Jacobi aus Richmond bei London.11 Hamann, der sich schon vorher Sorgen um Jacobi gemacht hatte,12 war zunächst durch das schwarze Siegel alarmiert: „Das schwarze Siegel Ihres Briefes machte mich anfängl. ein wenig aufmerksam und unruhig.“13 Schließlich verwendete er den Briefumschlag für Exzerpte einer polemischen Rezension von Jacobis Spinozabüchlein in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“.14 Nach Hamanns Tod gelangte der Umschlag mit einigen anderen Briefen und Manuskripten in den Besitz des Handschriftensammlers Hartwig Gregor von Meusebach, dessen umfangreiche Sammlung 1850 an die Berliner Königliche Bibliothek ging.15 Von dort wurde er mit großen Teilen des Berliner Hamann-Nachlasses während des Zweiten Weltkrieges nach Schloss Fürstenstein, später in das Benediktinerkloster Grüssau in Schlesien ausgelagert; nach dem Zweiten Weltkrieg und noch heute befindet er sich in der Jagiellońska.
10 Vgl. HKB 989 (ZH VI , 453,15–19). 11 Vgl. HKB 986 (ZH VI , 447 f.). 12 Vgl. HKB 991 (ZH VI , 457,15–17): „Das Stillschweigen von Ihnen und der Mangel an
Nachrichten von unsers Freundes glückl. Fortgang, wie auch aus Münster vermehrt meine Unruhe. […]“. 13 HKB 996 (ZH VI , 474, 11–13). 14 Vgl. [Anonym]: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 68 (1786), S. 330–337. 15 Vgl. Döhn: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (wie Anm. 3), S. 12.
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Abb. 2: Briefumschlag mit Exzerpten von Hamann aus einer anonymen Rezension von Jacobis Spinozabüchlein, 15. Juli 1786 (Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, ehemalige Berliner Signatur: Slg. Meusebach)
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Hamanniana in der Jagiellonenbibliothek, Krakau, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin: Briefe
37 Briefe von Johann Gottfried Herder (sowie später Caroline Herder) an Hamann (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53): Konvolut Riga: -- Nr. 1[a]: o. D. (vmtl. August 1764, ZH Nr. 271) -- Nr. 1[b]: o. D. (vmtl. Februar 1765, ZH Nr. 294) -- Nr. 2: 4. Mai 1765 (ZH Nr. 299) -- Nr. 3: 21. Mai 1765 (ZH Nr. 302) -- Nr. 4: 27. August 1766 (ZH Nr. 331) -- Nr. 5: 5. September 1767 (ZH Nr. 346) -- Nr. 6: o. D. (vmtl. April 1768, ZH Nr. 349) -- Nr. 7: o. D. 1768 (vmtl. November 1768, ZH Nr. 353) -- Nr. 8: o. D. (vmtl. März 1769, ZH Nr. 358) -- Nr. 9: 22. Mai 1769 (ZH Nr. 360)
Konvolut Bückeburg:
-- Nr. 10: 2. Januar 1773 (ZH Nr. 382) -- Nr. 11: o. D. (vmtl. September 1773, ZH Nr. 394) -- Nr. 12: 29. Juli 1775 (ZH Nr. 454) -- Nr. 13: 25. August 1775 (ZH Nr. 456) -- Nr. 14: 20. Juli 1776 (ZH Nr. 466)
Konvolut Weimar:
-- Nr. 15: 13. Januar 1777 (ZH Nr. 479) -- Nr. 16: o. D. (vmtl. August 1777, ZH Nr. 509) -- Nr. 17: 29. Dezember 1778 (ZH Nr. 539) -- Nr. 18: 9. April 1779 (ZH Nr. 549) -- Nr. 19: 9. September 1780 (ZH Nr. 600, Teil 1) -- Nr. 20: 9. September 1780 (ZH Nr. 600, Teil 2) -- Nr. 21: 18. Dezember 1780 (ZH Nr. 607, Teil 2) -- Nr. 22: o. D. / 11. Mai 1780 (ZH Nr. 615, Teil 1) -- Nr. 23: o. D. / 21. Mai 1780 (ZH Nr. 615, Teil 2) -- Nr. 24: 31. Dezember 1781 (ZH Nr. 639) -- Nr. 25: o. D. (vmtl. Anfang März 1782, ZH Nr. 643) -- Nr. 26: 11. Juli 1782 (ZH Nr. 655) -- Nr. 27: 17. Februar 1783 (ZH Nr. 691)
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Luca Klopfer
-- Nr. 28: 23. August 1784 (ZH Nr. 759) -- Nr. 29: o. D. (vmtl. Ende Oktober 1784, ZH Nr. 777) -- Nr. 30: 14. Februar 1785 (ZH Nr. 810) -- Nr. 31: 23. April 1785 (ZH Nr. 830) -- Nr. 32: 28. Oktober 1784 (ZH Nr. 778) -- Nr. 33: 2. Januar 1786 (ZH Nr. 914) -- Nr. 34: o. D. (vmtl. Anfang Oktober, ZH Nr. 875) -- Nr. 35: o. D. (Ende Januar 1787, ZH Nr. 1042) -- Nr. 36: 17. Dezember 1787 (ZH Nr. 1128)
6 Briefe von Hamann an Johann Gottfried Herder (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 10787): -- Nr. 1: 18. August – 1. September bzw. 15. Oktober 1776 (Beilage zu ZH Nr. 470) -- Nr. 2: 2. / 3. Februar 1780 (ZH Nr. 580, beiliegend im Zensurmanuskript zu „Zwey Scherflein zur neusten deutschen Litteratur“, 1780) -- Nr. 3: 5. Februar 1780 (ZH Nr. 581) -- Nr. 4: 25. August 1782 (ZH Nr. 661) -- Nr. 5: 1. August 1785 (ZH Nr. 862) -- Nr. 6: 13. Dezember 1785 (ZH Nr. 905)
4 Briefe und 1 Briefentwurf aus der ehemaligen Slg. Meusebach: -- Hamann an Unbekannt, 25. März 1773 (ZH Nr. 387; beiliegend im Entwurfsmanuskript zu „Le Kermes du Nord“) -- Hamann an Hans Jakob von Auerswald, o. D. (vmtl. Anfang 1782, ZH Nr. 640) -- Hamann an Fürstin Amalia von Gallitzin, 15. Mai 1788 (ZH Nr. 1160) -- Hamann an Fürstin Amalia von Gallitzin, 8. Juni 1788 (ZH Nr. 1172) -- Briefentwurf an Friedrich Heinrich Jacobi, 22.–28. August 1786 (nicht in ZH)
4 Briefe aus anderen Sammlungen: -- Hamann an Friedrich Nicolai, 22. Dezember 1776 (ehemalige Berliner Sign.: Acc. ms. 1910. 90, ZH Nr. 475) -- Hamann und Johann Gottlieb Kreutzfeld an Johann Heinrich Voß, 23. August 1781 (ehemalige Berliner Sign.: Slg. v. Radowitz 5873, ZH Nr. 630) -- Hamann an Johann George Scheffner, 25. August 1785 (ehemalige Berliner Sign.: Slg. v. Radowitz 5874, ZH Nr. 869) -- Theodor Gottlieb Hippel (vmtl.) an Hamann, 1. Oktober 1785 (ehemalige Berliner Sign.: Slg. Parthey, ZH Nr. 876)
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1 Stammbuchblatt: Hamann für Elisa von der Recke, 18. Juli 1784 (ehemalige Berliner Sign.: Acc. ms. 1901, 144, ZH Nr. 749)
Werke
Manuskripte: -- Le Kermes du Nord: Entwurfsmanuskript mit Einleitungsbrief vom 25. März 1773 (ehemalige Berliner Sign.: Slg. Meusebach) -- Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur (1780): Zensurmanuskript mit einem Brief an Herder, 2. / 3. Februar 1780 (ehemalige Berliner Sign.: Acc. ms. 10787)
Drucke: -- Zwey Scherflein zur neusten Deutschen Litteratur (1780): Handexemplar mit Randnotizen und Notizen auf dem Umschlag vmtl. von Hamann (ehemalige Berliner Signatur: Slg. Meusebach) -- Zwo Recensionen nebst einer Beylage, betrefend den Ursprung der Sprache (1772): Unbeschnittener Druckbogen mit 16 Oktavseiten ohne handschriftliche Randbemerkungen (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886, bei Konvolut Bückeburg)
Exzerpte: -- Schmaler Einzelzettel mit Notizen Hamanns zu Karl Philipp Moritz: Vom Unterschiede des Akkusativs und Dativs oder des mich und mir, sie und ihnen u.s.w., nebst einigen andern kleinen Schriften die deutsche Sprache betreffend, für solche, die keine gelehrte Sprachkenntnis besitzen. Auf der Rückseite: Abschrift eines Dankesschreibens von Friedrich II. für Karl Phillip Moritz, 20. Februar 1781, für dessen Sechs deutsche Gedichte dem Könige von Preussen gewidmet von C.P. Moritz Berlin 781 (ehemalige Berliner Signatur: Slg. Meusebach) -- Briefumschlag mit Exzerpten aus einer anonymen Rezension von Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, 15. Juli 1786 (vgl. die Anmerkungen oben; ehemalige Berliner Signatur: Slg. Meusebach)
Personenregister
Achermann, Eric 40, 44, 46, 48, 53, 55, 60, 84, 87, 93, 94, 96, 99, 101, 102, 113, 114, 118, 123, 183, 309, 342, 343, 362, 422, 423 Adelung, Johann Christoph 230, 246, 247, 252 Adorno, Theodor W. 258, 259, 448 Agricola, Rudolf 22 Aischylos 212 Al-Taie, Yvonne 100 Alberti, Agathe 177, 178 Albrecht, Jörg 202, 203 Albrecht, Michael von 109 Albus, Vanessa 182 Alexander der Große 190 Alkaios 64 Alkibiades 271 Allemann, Beda 70 Amalie von Gallitzin 407, 408, 500 Angehrn, Emil 257 Ansel, Michael 354 Antonius Verus 394 Apollonios von Tyana 402 Archilochus 64 Aristophanes 212, 235 Aristoteles 34, 40–43, 49, 50, 58–60, 66, 89, 124, 145, 147, 151, 200, 284, 306, 316, 319, 329, 330, 373, 374, 430, 460 Armstrong, David 104 Arto-Haumacher, Rafael 361 Assmann, Aleida 91 Assmann, Jan 369 Auerbach, Erich 342
Auerswald, Jakob v. 500 Augustinus 122–124, 126, 127, 323, 426 Ausonius 106, 107 Bacon, Francis 272, 423, 426, 430, 431 Bacon, Roger 340 Baeumer, Max L. 208 Balke, Friedrich 146 Bar, Georg Ludwig von 64 Barchas, Janine 222–224 Barchiesi, Alessandro 101, 108 Baronius, Caesar 393 Barner, Wilfried 22 Barthes, Roland 20 Bartsch, Shadi 109 Bassenge, Galerie Gerda 476 Batteux, Charles 25, 26, 34, 376 Bauer, Richard 479 Baumbach, Manuel 139 Baumgarten, Alexander Gottlieb 26, 34, 242, 409–411, 416, 422 Baumlin, James S. 42 Baur, Wolfgang-Dieter 432 Bayer, Oswald 39, 45, 50, 64, 57, 65, 92, 117, 128, 256, 268, 298, 317, 353, 454 Bayle, Pierre 64 Beetz, Manfred 62, 86, 102, 288, 290 Behrens, Rudolf 29, 377 Beierwaltes, Werner 283 Bellarmin, Robert 393 Benjamin, Walter 157 Benzi, Laura 182
504
Berens, Johann Christoph 135, 260 Berkeley, George 317, 452 Berlin, Isaiah 187, 197, 206, 348, 417, 450 Bernhard von Clairvaux 386 Bernhardi, Karl 389 Bertram, Georg W. 300, 302 Betz, John 451 Bidermann, Jakob 420 Blanke, Fritz 229 Blechschmidt, Stefan 134 Blum, Claude 99 Blumenberg, Hans 27, 127, 181, 182, 185, 351, 415 Bobrowski, Johannes 269 Boehlich, Walter 241 Böhl, Meinrad 257 Boehm, Gottfried 341 Böhme, Jacob 195 Böhr, Christoph 354 Boriaud, Yves 40 Bornkamm, Heinrich 71 Bornmann, Fritz 34 Bracht Branham, R. 93 Brandt, Rüdiger 199, 200 Brant, Sebastian 264 Bräutigam, Bernd 228 Bredekamp, Horst 333, 342 Bredel, Ursula 246 Breitinger, Johann Jakob 284 Brenner, Michael 479 Brentano, Clemens 365 Brüggemann, Diethelm 361 Bucholtz, Franz Kaspar 287, 407, 495 Büchsel, Elfriede 92, 263, 265 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 77, 82, 183 Buruma, Ian 450 Büsching, Anton Friedrich 384 Butzer, Günter 60–62, 65 Caesar, Julius 404 Campe, Rüdiger 33 Cantor, Georg 418 Carpitella, Mario 34 Cassirer, Ernst 341, 420, 448
Personenregister
Castelvetro, Lodovico 374 Celan, Paul 69, 70 Cervantes, Miguel de 91, 262, 264 Chahoud, Anna 107 Char, René 207 Charpentier, François 99, 137 Chartres, Bernard de 331 Christ, Kurt 359 Christian VII. 389 Cicero 23, 32, 34, 35, 53, 61, 143, 149, 296, 320, 324, 325, 327, 328, 330, 331, 342, 409–411 Cioran, Emil 207 Clifford, Baron de 385 Cluse, Christoph 480 Cucchiarelli, Andrea 101, 108 Cudworth, Ralph 55 Curtius, Ernst Robert 329 Czernin, Franz Josef 202 Dacier, André 63 Damm, Christian Tobias 47, 49 Dannowski, Hans Werner 298 Dell’Anno, Sina 100 Demosthenes 53, 295, 296, 334 Derrida, Jacques 181, 194, 256, 258, 302, 303 Descartes, René 186, 275, 277, 411 Dessen, Cynthia S. 109 Deupmann, Christoph 95, 119 Di Cesare, Donatella 312 Dick, Uwe 206 Dickson, Gwen Griffith 248 Diderot, Denis 59, 407 Dijn, Annelien 448, 449 Dilthey, Wilhelm 302 Diogenes Laertios 93 Dockhorn, Klaus 17, 27, 28 Döhn, Helga 496, 497 Dölger, Franz Joseph 190, 194 Döring, Detlef 350 Duden, Anne 202 Dunn, James D. G. 269 Dyck, Joachim 27
505
Personenregister
Eberhard, Johann August 347–352, 366, 367, 394 Eberlein, Undine 362 Edward, Leopold Charles 385 Egger, Oswald 202 Eggs, Ekkehard 326 Ehlers, Martin 305 Eichner, Hans 219 Eisenhut, Werner 152 Elisabeth Petrowna von Russland 371 Engels, Friedrich 327 Ennius, Quintus 104, 106, 110, 111 Epiktet 53, 227 Erasmus von Rotterdam 23, 95, 427 Erler, Michael 135 Eschenburg, Johann Joachim 25 Eucken, Christoph 150 Euler, Leonhard 431 Euripides 425 Eusebius von Caesarea 394 Fabricius, Andreas 32 Faivre, Antoine 389 Famula, Marta 100 Fanning, Christopher 226 Fechner, Jörg-Ulrich 39, 174 Felsch, Philipp 204 Ferdinand von Braunschweig 387, 389 Ferrer, Javier Roca 93 Festus, Porcius 263 Fichtelberger, Ida 471 Ficino, Marsilio 275 Fischart, Johann 95 Fischer, Ernst 480, 482 Fleury, Claude 395 Flögels, Carl Friedrich 124 Forssman, Friedrich 220 Franz von Fürstenberg 407 Freudenburg, Kirk 101 Freytag, Wiebke 139 Friedrich von Preußen 437 Friedrich Wilhelm I. 172 Friedrich II. 65, 280, 284, 395, 396, 398, 400, 402–404, 456, 457, 459, 460, 496, 501
Friedrich VI. 389 Fuhrmann, Manfred 20, 141, 195, 336 Fürst, Franz 120 Gadamer, Hans-Georg 258, 302 Gajek, Bernhard 50 Gaier, Ulrich 221, 274–276, 279, 284 Garbe, Burckhard 247 Garve, Christian 355 Gautier d’Agotys, Jacques Fabien 482 Gawlina, Manfred 347 Geerken, Hartmut 206 Gellert, Christian Fürchtegott 361, 362 Genette, Gérard 83 Giacone, Franco 99 Gildemeister, Carl Hermann 176, 177 Giordano Bruno 185, 187, 283, 321 Giuriato, Davide 194, 201 Göbel, Walter 360 Goethe, Johann Wolfgang von 58, 74, 160, 194, 248, 256, 306, 364, 473, 474, 476, 483 Goldstein, Jürgen 298 Goldt, Reiner 265 Gottsched, Johann Christoph 17, 24, 25, 32–34, 246, 409–411, 472 Gowers, Emily 104 Graubner, Hans 17, 71, 80, 87, 355, 356, 363 Graupe, Paul 480, 481, 484 Griffith-Dickson, Gwen 248 Grimm, Jacob & Wilhelm 191, 310 Groddeck, Wolfram 182, 189 Gründer, Karlfried 229, 358, 359, 407 Gualdo, Federico 387 Guischard, Karl Gottlieb 403, 404 Habermas, Jürgen 302, 303 Hagemann, Tim 313 Hahne, Nina 355 Halle, David 471 Halle, Ida 471, 473, 475, 478–484 Halle (geb. Rosenthal), Jette 471 Halle, Julius [Isaak] 465, 468–473, 475, 478, 479, 481, 482 Halle, Lessy 482 Haller, Albrecht von 223
506
Hamacher, Werner 328 Hamann, Johann Michael 176, 177, 465–469, 476, 478, 479 Hambsch, Björn 199 Hammermayer, Ludwig 388, 389 Happel, Eberhard W. 263 Hartknoch, Johann Friedrich 288 Hartley, David 278, 283 Hartung, George Friedrich 133 Hauswedell, Ernst L. 476 Hechelhammer, Bodo 472 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26, 157, 159, 255, 258, 259, 294, 299, 306 Heidegger, Martin 258 Heilmann, Jan 339 Heimann, Willy 471 Heimsoeth, Heinz 473, 474 Heinz, Andrea 134 Helcks, Johann Christian 58 Helvétius, Claude Adrien 77, 316 Hempelmann, Heinzpeter 417, 419 Hemsterhuis, Franz 407 Heraklit 184, 195, 196, 260 Herder, Caroline 499 Herder, Johann Gottfried 34, 35, 52–54, 65, 70, 74, 75, 80, 85, 128, 159, 170, 178, 182, 185, 187, 189, 199, 211, 248, 271, 272, 276–278, 289, 290, 295–299, 303, 304, 308, 311, 313, 316, 317, 331, 335, 348, 356, 357, 362, 368, 382, 414, 458, 460, 473–476, 496, 497, 499–501 Herodes Agrippa II. 263 Herodot 374, 375 Herz, Marcus 353 Hess, Gottlob 471 Hetzel, Andreas 83 Hilbert, David 431 Hilgendorf, Eric 50, 140 Hill, Christian 495 Hippel, Theodor Gottlieb 500 Hirsch, Emil 471 Hobbes, Thomas 275, 277, 278, 351, 438 Hoenen, Maarten F. M. 153 Hoffmann, Thomas Sören 298 Hoffmann, Volker 84, 102, 205, 432
Personenregister
Hogarth, William 75 Hogrebe, Wolfram 333 Holbach, Paul Henri Thiry, Baron de 55 Hölderlin, Friedrich 262, 274, 279, 362 Holzhey, Helmut 354 Homer 151, 168, 187, 188, 297, 336 Homeyer, Fritz 482 Horaz 46, 57, 62–64, 100–102, 104–108, 110, 111, 188, 336, 374, 428, 432, 433 Horkheimer, Max 448 Horstmann, Rolf-Peter 365 Horwitz, Ernst 480 Hübner, Johann 24 Huetius [Pierre Daniel Huet] 173 Huizing, Klaas 157, 158 Humboldt, Wilhelm von 258, 299, 302 Hume, David 52, 73, 308, 317, 326, 354, 360, 382, 449 Hund, Karl Gotthelf von 385, 387 Huß, Bernhard 138 Hyogo Kurihara 250 Irrlitz, Gerd 287, 288, 305, 306 Ismard, Paulin 140 Israel, Jonathan 449 Iwaya, Sazanami 249, 250, 252 Jackson, Hendrik 202, 203 Jacobi, Friedrich Heinrich 114, 160, 184, 186, 193, 201, 261, 297, 305, 314, 315, 321, 348, 357–359, 407, 497, 498, 500, 501 Jandl, Ernst 206 Jean Paul [Richter] 83, 84–88, 94–98, 112, 121, 182, 219, 415, 416, 422 Jens, Walter 18, 21, 22 Johannes von Salisbury 328, 330, 331 Johnson, Samuel 114, 115 Jørgensen, Sven-Aage 84, 85, 90, 91, 94, 99, 101, 116, 124, 125, 198–200, 208, 229, 246, 248, 381, 418, 426 Julian Apostata 400 Jüngel, Eberhard 269 Jurieu, Pierre 393
507
Personenregister
Kaldewey, Gunnar 477 Kalkbrenner, Anja 55, 351, 431 Kant, Immanuel 69, 74–76, 87, 101, 135, 182, 184, 189, 192, 202, 249, 260, 263, 272, 275–277, 280, 281, 287–290, 295, 298, 300, 304, 305, 308, 312, 330, 347, 349, 356, 358, 359, 367, 368, 377, 382, 409–412, 415, 416, 418, 420, 422, 424, 437–439, 444, 452–461 Kanter, Johann Jakob 382 Karl von Hessen-Darmstadt 389 Karl von Hessen-Kassel 389 Kawanago, Yoshikatsu 249, 250, 251 Keller, Gottfried 472 Kemper, Hans-Georg 360 Kennedy, George A. 41 Kenney, Edward John 109 Kerényi, Karl 171 Kern, Gabi 149 Kienzler, Klaus 140 Kierkegaard, Søren 259, 264, 313 Kilmarnock, Lord 385 Kinder, Sabine 466 Kippenberg, Anton 473–475, 485 Kita-Huber, Jadwiga 83 Kleist, Heinrich von 205 Klopstock, Friedrich Gottlob 111, 182, 242, 284, 372 Knape, Joachim 21, 23, 24 Knigge, Adolph Freiherr 36 Knoll, Renate 39, 117 Knörer, Ekkehard 83 Knudsen, Christian 117 Koch, Hans 483 Kocziszky, Eva 128, 171, 173 Koepp, Wilhelm 170, 172 Köhler, Barbara 202 Kondylis, Panajotis 361 Kopperschmidt, Josef 28 Kording, Inka K. 361 Korzeniewski, Dietmar 109 Kraus, Christian Jakob 280, 444, 454–456, 459 Kreutzfeld, Johann Gottlieb 39, 500 Kreuzer, Johann 44, 55, 298, 320, 323, 413 Krouglov, Alexei N. 347
Kumagai, Takayuki 248 Kurihara, Hyogo 250–252 Kurz, Gerhard 191 Laclos, Pierre-Ambroise-François Choderlos de 362, 363, 364 Laermann, Klaus 348 Lagrange, Joseph-Louis 431 Lambert, Johann Heinrich 415 Lamy, Bernard 29, 30, 31, 32, 33, 34, 409 Landmann, Michael 207 Lapacherie, Jean Gérard 228 Lauer, Gerhard 357 Lausberg, Heinrich 19, 22, 137, 142, 147, 155, 198, 199, 206, 246, 274, 372, 375 Lavater, Johann Caspar 70, 157, 158, 159, 175, 176, 178, 179, 187, 273 Lehnert, Christian 202 Leibniz, Gottfried Wilhelm 276, 411 Lennhoff, Eugen 388 Lentz, Michael 203–207, 213, 214 Leontinoi, Gorgias von 313, 314 Lessing, Gotthold Ephraim 35, 355, 357–359, 364, 387, 393, 495 Lévinas, Emmanuel 258 Lewitscharoff, Sibylle 202 Lichtenberg, Georg Christoph 205 Liebert, Wolf-Andreas 416 Lilienthal, Christoph Theodor 383, 405 Lilienthal, Michael 165 Lindner, Gottlob Immanuel 94, 168 Lindner, Johann Gotthelf 43, 45, 53, 54, 71, 77, 78, 92, 94, 130, 158, 159, 165, 170–172, 175, 183, 185, 199, 244, 267, 271, 306, 308, 309, 311, 312, 371–379, 383, 384, 500 Locke, John 185, 275, 277, 278, 285, 442, 449 Löffelmeier, Anton 470, 471 Longin [Pseudo-Longinos] 183, 191 Lovejoy, Arthur 28 Lowth, Robert 102, 103, 189, 243, 244 Lucilius, Gaius 100, 104, 106, 107, 108 Lukian 101 Lumpp, Hans-Martin 91, 102, 122, 228, 242, 243, 290
508
Lüpke, Johannes von 43, 44, 45, 50, 51, 55, 119, 317, 431, 432 Luther, Martin 72, 120, 123, 165, 208, 244, 266, 267, 269, 383, 398, 401, 405, 426, 427 Mack, Peter 22–24 Maistre, Joseph de 450 Majetschak, Stefan 298 Makoto Yanaike 250 Man, Paul de 256 Marc Anton 55 Margalit, Avishai 450 Maruotti, Amaranta 104 Marx, Karl 327, 439, 440 Mayröcker, Friederike 206 Mazzoni, Sebastiano 374 Mehtonen, Paivi 200, 201 Meier, Georg Friedrich 347 Meier, Heinrich 369 Meinl, Susanne 472 Melanchthon, Philipp 17, 418 Melesino/Melissino, Peter 384 Mendelssohn, Moses 102, 103, 159, 160, 162, 165, 187, 188, 189, 195, 201, 236, 291, 325, 326, 328, 349–352, 357–359, 365, 382, 394, 403, 427, 436–440, 442 Menke, Bettine 83 Mersch, Dieter 257, 258, 260 Merton, Robert K. 331 Mesch, Walter 43 Messow, Franz G. 484 La Mettrie, Julien Offray de 55 Meyer, Ilse Johanna 167, 241, 243 Meyer, Michael 417 Michaelis, Johann David 102, 118, 119, 122, 123, 124, 126, 127, 129, 169, 242–244, 246, 334, 337, 384, 392, 393, 399, 400, 403, 409, 424–433 Michelangelo 173 Michelsen, Martina 248 Miller, Norbert 83, 352 Milton, John 373, 374, 378 Miranda-Justo, José 334 Mitchell, Philipp Marshall 24 Montaigne, Michel de 101
Personenregister
Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 428, 449 Moretti, Gabriella 109, 110 Morgan, John Davis 108 Moritz, Karl Philip 501 Moser, Friedrich Carl von 174 Mosheim, Johann Lorenz von 401 Moss, Roger B. 225 Moustakas, Ulrich 294, 414 Müller, Götz 83 Müller, Klaus-Detlef 58, 141 Münch, Paul 26 Nadler, Josef 90, 91, 176–179, 228, 229, 241, 466–469, 473–476, 478, 479, 495 Nagaya, Daizo 251 Nancy, Jean-Luc 321 Negt, Oskar 298 Nero 108, 109, 374 Neu, Lessy 482 Neu, Willy 482 Neuffer, Christian Ludwig 362 Neuhauser, Walter 21 Neumann, Uwe 51 Newton, Isaac 430 Nicolai, Friedrich 57, 61, 62, 65, 77, 165, 426, 495, 500 Niehues-Pröbsting, Heinrich 26, 93 Nietzsche, Friedrich 34, 165, 262, 302, 421, 439, 440 Nikolaus von Kues (Cusanus) 274, 283, 321, 322 Noille-Clauzade, Christine 30 Norton, Robert 450, 451 Oberhelman, Steven 90 Offenbacher, Emil 466 Ofner, Gertrud 87, 94 Overberg, Bernhard Heinrich 393 Pascal, Blaise 118 Pastior, Oskar 206 Pataky, Ildikó 43, 91 Paulin, Roger 151 Peirce, Charles Sanders 285
509
Personenregister
Pernot, Laurent 21 Persius 100, 108–110, 112, 134, 155, 195 Petersen, Julius 473, 474, 475 Petron 79, 101, 374 Pfanner, Tobias 383 Pfenninger, Johann 159 Prediger, Susanne 417 Picard, Hans Rudolf 361 Pinker, Steven 417 Platon 25, 35, 54, 55, 95, 138, 140, 145, 152, 196, 231, 235, 275, 282, 283, 292, 302, 304, 325, 337, 338, 407, 430 Plautus 427, 428 Plett, Heinrich 143 Plotin 275, 283, 286 Pola, Thomas 366 Pollio, Gaius Asinius 168, 169 Poncet, François 116, 121 Pope, Alexander 119, 173 Poschmann, Brigitte 80 Poschmann, Marion 202 Posner, Oskar 388 Posselt, Gerard 83 Pound, Ezra 207 Price, Steven R. 221 Prochaska, Roman Alfred 101, 102, 106 Proclus 275 Pröhl, Ilse 472 Protagoras 306 Proust, Marcel 278 Quintilian 21, 23, 32–35, 88–90, 98, 99, 142, 199, 200, 296, 334, 336, 342 Rabelais, François 101 Raible, Wolfgang 340 Rapp, Christoph 200 Rapp, Wolfgang 415 Rauchstein, Maike 332 Raulff, Ulrich 204 Recke, Elisa von der 501 Reibold, Janina 44, 45, 188, 196, 198, 232, 295, 348–350, 352, 366, 368, 370, 384, 467, 479 Reichert, Stefan 70
Reimarus, Hermann Samuel 393 Reiser, Marius 139 Relihan, Joel S. 101 Renger, Almut-Barbara 139 Reuß, Roland 87 Reuter, Christina 113, 119, 191, 422 Richardson, Samuel 221–234, 226, 227, 360 Ricoeur, Paul 413 Ringleben, Joachim 45, 310, 432 Röck, Tina 298, 304 Rosenthal, Jacques 470 Rosenthal (verh. Halle), Jette 470 Rosenthal, Ludwig 470 Rosenthal, Nathan 470 Roth, Friedrich 229, 241 Rousseau, Jean-Jacques 327 Rudolph, André 84, 137, 153, 156, 161, 363 Runkel, Ferdinand 384, 388 Saenger, Paul 339, 340 Sauder, Gerhard 360 Schanze, Helmut 22 Scheffner, Johann Georg 500 Schenk, Heinrich 497 Schirren, Thomas 297 Schlaffer, Hannelore 361 Schlaffer, Heinz 190 Schlegel, Adolf 26 Schlegel, Friedrich 205, 256, 422 Schleiermacher, Friedrich 258, 261, 418, 422 Schmidt, Jochen 198, 199 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 111, 350, 385, 389 Schmidt-Dengler, Wendelin 152 Schmitt, Arbogast 145 Schmitter, Amy M. 114 Schmitz-Emans, Monika 85, 87, 99, 103, 107 Schneider, Ute 349 Schnur, Harald 209, 210 Schnyder, Peter 338 Scho, Sabine 202 Schönaich, Christoph Otto von 242 Schöne, Albrecht 370
510
Schönherr-Mann, Hans-Martin 257, 259 Schonhooven, Evert Jansen 186, 381, 391 Schorch, Grit 187, 189 Schouler, Bernard 40 Schreiner, Lothar 173 Schröder, Christian Simon 261, 262 Schröder, Joachim Heinrich von 386 Schulte, Susanne 201 Schulte Strathaus, Ernst 468, 471, 472, 473, 475, 478, 482, 483, 484 Schultz, Maria Albertine 388 Schulz, Franz Albert 388 Schumacher, Eckhard 154, 156, 193, 197, 205, 228, 229, 244, 256, 261, 262, 265, 307 Schurz, Robert 257, 258–260, 270 Schüttpelz, Erhard 88 Schwarz, Bertold 404 Schwarz, Birgit 483 Scotus, Duns 340 Seidel, Heilwig 472 Seidel, Ina 472 Seils, Hans Martin 229, 256, 381 Sello, Erich 468–470 Sembritzki, Johannes 172 Semler, Johann Salomo 394 Sennewald 176, 177 Shaftesbury 57, 60–63, 67, 114, 115, 128, 129 Shakespeare 151 Sharland, Suzanne 104 Shaw, Stephan 444 Sheridan, Thomas 117, 125, 426 Sidney, Philipp 186 Simon, Frank 126 Simon, Josef 50, 229, 298, 317, 335, 337, 343 Simon, Ralf 35, 83, 92 Simonis, Linda 98, 198, 263 Šklovskij, Viktor 84, 85 Slavs and Tatars 203, 210–214 Sloane, Thomas O. 23 Smend, Rudolf 432 Sokrates 39, 94, 95, 120, 134, 137–156, 161, 169, 184, 187, 196, 235, 260, 277, 278, 283, 286, 308, 325, 337, 431, 433 Spalding, Johann Joachim 399 Spencer, John 393
Personenregister
Spinoza, Baruch de 71, 365, 449 Stanitzek, Georg 204, 205 Starck, Johann August 382–394, 397, 398, 400, 401, 404, 405 Steinthal, Heymann 418 Stellmacher, Alexandra 139 Sterne, Laurence 101, 224, 225, 226, 227, 282 Steudel, Johann Gottlieb 45 Stiening, Gideon 123, 347, 349–351, 355, 356, 358, 360, 363, 367 Stinglin, Martin 220, 236 Stockhammer, Robert 88 Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu 408 Stolterhoft, Ulf 202 Strauß, Botho 181, 194, 203, 206–210, 213, 214 Striedter, Jurij 85 Strub, Christian 418 Stuart, Charles Edward 385 Stünkel, Knut Martin 139, 187, 198 Sudhof, Siegfried 178, 179 Sulzer, Johann Georg 276, 354, 355 Swift, Jonathan 117, 119, 124, 125 Tacitus 21, 24, 118 Taeuber, Hans Werner 471 Talmon, Jacob 448 Tasso, Torquato 374 Tenschert, Heribert 477, 478 Thiel, Udo 350 Thomas von Aquin 323, 340 Thouard, Denis 127 Till, Dietmar 18, 19, 24, 25, 28, 30, 32, 35 Tissot, Samuel Auguste 274 Titzmann, Michael 26 Tornau, Christian 135 Trabant, Jürgen 323 Trunz, Erich 74 Ueding, Gert 40, 50, 51, 118 Ueno, Hideo 250 Unger, Rudolf 114, 176, 377, 378, 423 Usher, James 393
511
Personenregister
Van den Daele, Antonii 393 Veitenheimer, Bernhard 228–231, 233–237, 241 Veldhuis, Henri 412 Vellusig, Robert 355 Vergil 161, 167–170, 359, 372, 428 Vesper, Michael 388 Vettius Epagathus (Märtyrer) 394 Vickers, Brian 29 Vischer, Friedrich Theodor 26 Vitringa 393 Volanges, Cécile 362 Vollhardt, Friedrich 350, 360 Volzhin, Sergei 275 Voltaire 403, 449 Vorländer, Karl 349 Vossius, Gerhard Johannes 23, 28, 393 Wagenknecht, Christian Johannes 119 Warburton, William 393 Warda, Arthur 466, 468, 473 Warren, Howard C. 360 Waterhouse, Peter 202 Weber, Heinrich 298 Wehde, Susanne 231 Weihe, Richard 144 Weimar, Klaus 368 Weinrich, Harald 146 Weiß, Gebrüder 471 Weischedel, Wilhelms 69 Weise, Christian 22, 24 Weishoff, Axel 101
Werenfels, Samuel 34 Wieland, Christoph Martin Wieland 34, 35, 105 Wiener, Gustav Adolf 229 Wiethölter, Waltraud 83 Wild, Rainer 192 Wilhelm von Ockham 340 Willberg, Hans-Peter 220 Wille, Holger 411 Willer, Stefan 86, 230, 232, 237 Winnacker, Ernst-Ludwig 411 Wisse, Jakob 42 Wittmann, Reinhard 470, 471, 479 Wohlfart, Günter 86 Wolf, Ror 206 Wolff, Christian 25, 185, 353, 357 Wolff, Jens 103 Wordsworth, William 27 Wörner, Markus 41, 49, 50 Wühr, Paul 202 Xenophon 137, 138, 140 Young, Edward 130, 131, 277, 281 Zabarella, Jacopo 430 Zedler, Johann Heinrich 119 Ziegert, Max 471 Ziegra, Christian 160, 170, 195, 242–244, 262 Zimmermann, Ruben 149